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Manfred Scharrer Der Aufbau einer freien Gewerkschaft in der DDR 1989/90 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Manfred Scharrer
Der Aufbau einer freien Gewerkschaft in der DDR 1989/90 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
De Gruyter
Gefördert mit großzügiger Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung
ISBN 978-3-11-025432-7 e-ISBN 978-3-11-025433-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data: Scharrer, Manfred. Der Aufbau einer freien Gewerkschaft in der DDR 1989/90 : ÖTV und FDGBGewerkschaften im deutschen Einigungsprozess / Manfred Scharrer. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-025432-7 (alk. paper) -- ISBN 978-3-11-025433-4 (e-ISBN) 1. Labor unions--Germany (East) 2. Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. 3. Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. 4. Germany-History--Unification, 1990. I. Title. HD8460.5.A5G49 2010 331.880943‘109048--dc22 2011007992 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Im Jahr 1989/90 geschah mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR schier Unvorstellbares. Über die politische Geschichte dieser „friedlichen Revolution“, über die Bürger- und Menschenrechtsbewegung, die SED und ihre Staatssicherheit liegen mittlerweile zahllose Darstellungen vor. Es gibt jedoch viele gesellschaftliche Bereiche des Einigungsprozesses, denen weit weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde. Dazu zählen die Gewerkschaften. In die grenzenlose Freude über das Ende der SED-Diktatur, die Wiedergewinnung bürgerlicher Freiheiten und Rechte und die Aussicht auf Wiedervereinigung mischte sich allerdings früh Nachdenklichkeit, als sich die unvermeidlichen, gravierenden Veränderungen für die DDR abzuzeichnen begannen. Sie betrafen nicht nur die politischen, sondern auch die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. In die große Erleichterung und Hoffnung mischten sich bei den abhängig Beschäftigten sogleich Befürchtungen vor Rechtlosigkeit im Betrieb, Benachteiligung bei den materiellen Lohnund Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit. Dazu kamen Ängste vor sozialem Abstieg und Verarmung. Eine unabhängige gewerkschaftliche Interessenvertretung, die den Arbeitnehmern in der DDR verwehrt worden war und die es deshalb nicht gab, war nötiger denn je, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Allergrößte Erwartungen wurden deshalb auf die Gewerkschaften der Bundesrepublik gerichtet. Die vorliegende Untersuchung stellt am Beispiel der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) exemplarisch die Geschichte der Gewerkschaften in der Wendezeit vom Herbst 1989 bis Sommer 1990 in Ost und West dar. Dabei wird neben der ÖTV auf die für sie wichtigsten FDGB-Gewerkschaften IG Transport, Gewerkschaft Gesundheit und der Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und Beschäftigten der Kommunalwirtschaft (MSK) eingegangen. Diese Geschichte ist Teil des allgemeinen deutschen Vereinigungsprozesses. Der Zusammenbruch der SED, die Implosion der staatlichen Institutionen und das erzwungene Ende der Staatssicherheit bedeuteten zwangsläufig auch das Ende des FDGB als Massenorganisation der SED. Dieses war nicht gleichbedeutend mit der Auflösung der Organisationsapparate mit Tausenden von ehren- und hauptamtlichen Funktionären. Aus ihren Reihen wurde versucht, den FDGB in einen Dachverband wirklich autonomer Einzelgewerkschaften zu transformieren, um so das verlorene Vertrauen der Mitglieder zurückzugewinnen. Dies war nahe liegend, solange die politische Entwicklung eine selbständige Existenz der DDR realistisch erscheinen ließ und unabhängige Gewerkschaftsinitiativen außerhalb des FDGB schon im Ansatz scheiterten. Spätestens mit der Volkskammerwahl am 18. März war jedoch entschieden, dass die Bürger der DDR ein schnelles Ende der DDR und den Beitritt zur Bundesrepublik wollten. Sowohl für die FDGB- als auch die DGB-Gewerkschaften war damit rasch klar, dass gesamtdeutsche Gewerkschaften gebildet werden müssten. Regionalgewerkschaften im Osten und Westen eines vereinten Deutschlands waren unvorstellbar. An eine – theoretisch denkbare – Weiterexistenz der FDGB-Gewerkschaften als kommunistische Richtungsgewerkschaften in Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften dachte niemand. Es ging für die FDGB-Gewerkschaften nur noch darum, einen möglichst großen Einfluss auf die Modalitäten der Vereinigung zu gewinnen. Dass die gesamtdeutschen Gewerkschaf-
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Vorwort
ten nach dem bewährten Modell der freien und unabhängigen Einheitsgewerkschaften der Bundesrepublik gebildet würden, war dabei nicht nur für die DGB-Gewerkschaften selbstverständlich, sondern wurde grundsätzlich auch von den FDGB-Gewerkschaften anerkannt. Die DGB-Gewerkschaften waren vor eine einmalige Situation gestellt: Es gab keinen Präzedenzfall für die Aufgabe, unabhängige freie und demokratische Gewerkschaften in einem zusammenbrechenden Staat aufzubauen. Sie hatten realistisch betrachtet drei Optionen: mit den FDGB-Gewerkschaften zu kooperieren und zu fusionieren, neue demokratische Gewerkschaften als Filialen der West-Gewerkschaften in der DDR zu errichten oder ihre Satzungen zu öffnen und ihren Organisationsbereich auf das Gebiet der DDR auszudehnen. Die Ansichten darüber, welcher Weg der richtige wäre, gingen auseinander. Einig waren sich alle DGB-Gewerkschaften aber darin, dass es nicht in Frage kam, die Rechtsnachfolge der FDGB-Gewerkschaften anzutreten. Die ÖTV versuchte sowohl die Kooperation mit den FDGB-Gewerkschaften als auch die Gründung einer ÖTV in der DDR, bevor sie schließlich entschied, ihre Satzung zu öffnen und eine handlungsfähige Gewerkschaft auf dem denkbar schnellsten und einfachsten Weg aufzubauen. Diese unterschiedlichen Verfahren mögen teilweise widersprüchlich anmuten. Sie gehorchten alle dem einen Ziel, eine freie demokratische Gewerkschaft in der DDR und eine „einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland“ aufzubauen. Seit Oktober 1990 war ich zuständig für die Aus- und Weiterbildung der ÖTVBeschäftigten in den neuen Bundesländern. Kern dieser Arbeit war die Qualifizierung der neueingestellten Kolleginnen und Kollegen aus der ehemaligen DDR. Dabei ergaben sich vielfältige Gelegenheiten, um über die jüngste Geschichte der Wendezeit zu sprechen. Die Erzählungen waren für mich so faszinierend, dass ich begann, Interviews mit jenen Personen zu führen, die sich – sowohl auf der FDGB-Seite als auch auf der ÖTV-Seite – besonders für den Aufbau einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland engagiert hatten. Diese Interviews ermöglichen einmalige Einblicke in die entscheidende Umbruchzeit in der DDR – und zwar aus einem gesellschaftlichen Bereich, der in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung findet. Mir war daran gelegen, diese Erfahrungen in Form von Interviews als historische Quelle zu bewahren. Über eine weitere Verwendung machte ich mir damals keine Gedanken. Erst 20 Jahre später stellte sich mir diese Frage. Sie gab den Anstoß für ein Forschungsprojekt über den Aufbau der ÖTV in der DDR und der Suche nach einer Möglichkeit, diese Interviews als historische Quelle zu publizieren. Das Projekt beschreibt den deutschen Einigungsprozess zwischen Mauerfall und 3. Oktober und dem Beitrag, den Gewerkschafter aus Ost und West erbracht haben. Ich bedanke mich bei allen Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen (FDGB und ÖTV), die mir Auskunft über ihre Erfahrungen, Empfindungen und Reflexionen im Einigungsprozess gegeben haben, besonders bei Monika Wulf-Mathies, der damaligen ÖTVVorsitzenden, die mir in einem aktuellen Interview rückschauend Rede und Antwort stand. Zu danken habe ich der IVG (Immobilienverwaltungsgesellschaft der ver.di mbH), die die vollständige Transkription der Interviews ermöglicht hat und die damit half, die erste Hürde für das Zustandekommen des Projektes zu überwinden. Besonders bedanken möchte ich mich bei der Hans-Böckler-Stiftung. Sie hat die vorliegende Arbeit gefördert und die Drucklegung unterstützt. Ohne diese Förderung wäre diese Untersuchung kaum durchgeführt worden.
Vorwort VII
Ich danke Hartmut Simon, dem Leiter des ver.di-Archivs, der mich unbürokratisch unterstützt, der mir bei der Recherche geholfen und mir die im Berliner Westhafen verbliebenen, nur noch ihm bekannten ÖTV-Materialen zugänglich gemacht hat. Dank schulde ich Jutta Schmidt und Walter Eberhardt für die Durchsicht des Manuskripts unter dem jeweiligen Blickwinkel Ost und West. Jutta Schmidt war in der Wendezeit 1989/90 BGL-Vorsitzende und hat die ÖTV in der DDR und in den neuen Bundesländern als Hauptamtliche in verschiedenen Funktionen mit aufgebaut: als Sekretärin in einer Kreisverwaltung, im Bezirksvorstand und als stellvertretende Vorsitzende der ÖTV. Sie gab mir ihr Einverständnis, ihre Sammlung aller Vorgänge der Vorstandssekretariate der ÖTV-Hauptverwaltung, die den Aufbau der ÖTV in der DDR betrafen, einsehen zu dürfen. Das hat mir die Recherche in einem Maße erleichtert, die erahnt werden kann, wenn man das Volumen des ÖTV-Aktenbestandes kennt, der jetzt im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung lagert. Walter Eberhardt war langjähriger Sekretär des gHV. Ihm verdanke ich Einsichten in innerorganisatorische Abläufe, Strukturen und Wirkungsmächte jenseits der Protokoll- und Beschlusslage. Vor allem danke ich meiner Tochter Jenny. Sie hat das Rohmanuskript mit mir diskutiert, sprachlich und inhaltlich kritisiert und mir geholfen, hoffentlich viele unvermeidliche Blindheiten eines Spezialisten zu vermeiden, der sich viele Jahre wissenschaftlich mit Gewerkschaftsgeschichte befasst hat und über institutionelle Erfahrungen verfügt. Vieles erscheint aus einer solchen Perspektive selbstverständlich, was es nicht ist. Sollte mir eine verständliche und schlüssige Darstellung und Erzählung gelungen sein, dann ist es maßgeblich ihr Verdienst. Berlin, Januar 2011
Manfred Scharrer
Inhalt Vorwort ......................................................................................................................
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Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................. XIII Teil I: ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess 1. Das Ende der SED-Diktatur .................................................................................
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Glasnost und Perestroika ..................................................................................... Der „Runde Tisch“: Paradigma des friedlichen Übergangs ................................. Der Eiserne Vorhang fällt .................................................................................... Das Ende der Breshnew-Doktrin ......................................................................... Das Ende der SED-Herrschaft ............................................................................. Fluchtbewegung ................................................................................................... Neuformierung der Opposition und allgemeiner Bürgerprotest .......................... Wirtschaftsbankrott .............................................................................................. Der 9. November ................................................................................................. Deutschland einig Vaterland ................................................................................
3 4 5 6 7 7 9 10 11 13
2. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) ................................................
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Gewerkschaft als kommunistische Massenorganisation ...................................... Gewerkschaft als Interessenvertretung des Unternehmers ................................... Gewerkschaft als Interessenvertretung abhängig Beschäftigter ........................... Gewerkschaft als Feriendienst ............................................................................. Gewerkschaft als zentralistische Einheitsorganisation ........................................ Gewerkschaft als Partei ....................................................................................... FDGB-Gewerkschaften im Sommer 1989 ........................................................... Der Zusammenbruch des FDGB ..........................................................................
15 16 17 20 21 23 24 26
3. Autonome FDGB-Einzelgewerkschaften ............................................................
31
Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK) ............................................................................... Berichtswesen ............................................................................................... Auflehnung im Vorstandssekretariat ............................................................. Personelle Veränderung ................................................................................ Strukturelle Reformansätze ........................................................................... Aus MSK wird GÖD .................................................................................... Gewerkschaft Gesundheitswesen ......................................................................... IG Transport- und Nachrichtenwesen (IG TN) .................................................... IG Bergbau-Energie (IG B-E) ..............................................................................
31 32 34 35 37 38 39 42 44
4. Initiative für Unabhängige Gewerkschaften (IFUG) ...........................................
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Inhalt
5. ÖTV – Erste Schritte in die DDR ........................................................................
51
Selbstverständnis zwischen Gegenmacht und Feindbild Kapitalismus ............... ÖTV in der Wendezeit ......................................................................................... Erste Kontakte ..................................................................................................... Das Ziel: Einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland ....................................... Die Berater ........................................................................................................... Betriebsräte oder BGL? ....................................................................................... Umgang mit den FDGB-Gewerkschaften ............................................................
51 56 59 62 64 68 70
6. Kontakte der FDGB-Gewerkschaftsvorstände nach Westen ...............................
73
Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK) ......................................................................... Industriegewerkschaft Transport- und Nachrichtenwesen (IG TN) ..................... Gewerkschaft Gesundheitswesen (GSW) ............................................................
74 75 76
7. Grenzstreitigkeiten zwischen DGB-Gewerkschaften ..........................................
81
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) – Industrie- gegen Berufsverbandsprinzip .............................................................. IG Bergbau und Energie (IGBE) – Bereichs-Zuordnung gegen Mitgliedsentscheidung ......................................................................................... Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) – privater gegen öffentlicher Bereich .....................................................................
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8. Kooperationsabkommen mit FDGB-Gewerkschaften .........................................
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81 83
Kritik am FDGB und seinen Folgegewerkschaften ............................................. 91 Kooperationsvereinbarung mit der IG Transport ................................................. 92 Gescheiterte Kooperation mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste (GÖD) ........................................................... . . 98 9. Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR ........................................ 101 Initiativen für eine ÖTV in der DDR .................................................................... Planung einer ÖTV in der DDR „von oben“ ........................................................ Satzungsöffnung – Die grundsätzliche Entscheidung vom 10. Mai 1990 ................................................................................................ Pro Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften ........................................ Verpflichtung zur Selbstauflösung der FDGB-Gewerkschaften .......................... Die Gründungsversammlung der ÖTV in der DDR ............................................. Der Gründungskongress der ÖTV in der DDR ....................................................
101 106 108 110 110 112 115
10. Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften ........................................................... 119 Die Vereinbarung vom 30. Mai 1990 .................................................................. Wachsende Verärgerung bei den FDGB-Funktionären ....................................... 1. Sitzung des zentralen Organisationsausschusses am 18. Juni 1990 ................. Presseerklärung der FDGB-Gewerkschaften vom 4. Juli .................................... 2. Sitzung des zentralen Organisationsausschusses am 10. Juli ...........................
119 120 121 124 125
Inhalt
XI
Tarifverhandlungen des Öffentlichen Dienstes .................................................... 127 Nachspiel zur Presseerklärung vom 4. Juli .......................................................... 129 Selbst- und Fremdwahrnehmung ......................................................................... 131 11. ÖTV-Anfang und FDGB-Ende ............................................................................ 133 Hauptamtliche Beschäftigung von DDR-Mitgliedern ......................................... Organisationsaufbau der ÖTV ............................................................................. Das Ende der FDGB-Gewerkschaften – Finanz- und Mitgliederentwicklung ......................................................................................... Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (GSW) .................................. MSK/Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) ........................................... IG Transport (IGT) ....................................................................................... Das Ende des Dachverbandes FDGB .................................................................. ÖTV im vereinten Deutschland ...........................................................................
133 134 137 138 140 143 145 148
Teil II: Dokumentation Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview JÜRGEN ANGELBECK ÖTV-Beratungssekretär in Halle ......................................................................... DIETER BAUER Geschäftsführer der ÖTV-Kreisverwaltung Hof, und ECKHARD STADE ÖTV-Beratungssekretär in Plauen ...................................................................... KARL-HEINZ BIESOLD Vorsitzender der IG Transport ............................................................................. KLAUS BÖHM ÖTV-Beratungssekretär in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz ..................................... REINHARD BÜTTNER ÖTV-Beratungssekretär in Gera .......................................................................... ASTRID CLAUS und DORIS SCHMID ÖTV-Beratungssekretärinnen in Dresden ............................................................ MATHIAS FELDMANN Vorsitzender des Gesamtgewerkschaftsrats der BVB .......................................... MARGARETA FOHRBECK Persönliche Referentin der ÖTV-Vorsitzenden ................................................... FRANZ FUCHS Sekretär im zentralen Organisationsbüro der ÖTV-Hauptverwaltung ................. WILLI HANSS gHV-Mitglied und u.a. zuständig für Tarifpolitik im öffentlichen Dienst ........... PETER HEROLD Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen ................. CONNY HINTZ ÖTV-Beratungssekretärin in Frankfurt/Oder ....................................................... WOLFGANG KURTH Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen .................
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166 178 195 206 221 235 247 263 273 277 294 304
XII Inhalt VERONIKA MANTEL Kreisgeschäftsstellenleiterin der MSK/GÖD in Plauen ....................................... WILLI MÜCK Stellvertr. Vorsitzender der ÖTV und u.a. zuständig für Organisation, Personal und Vermögen ................................................................ WERNER RUHNKE Leiter der Informationsstelle des ÖTV-Hauptvorstandes in der DDR ................. JUTTA SCHMIDT BGL-Vorsitzende, Institut für Halbleiterphysik, AdW, Frankfurt/Oder .............. GERTRAUDE SINN Vorstandsmitglied der MSK und GÖD ................................................................ JÖRG VIRCHOW ÖTV-Beratungssekretär in Ost-Berlin ................................................................. MONIKA WULF-MATHIES ÖTV-Vorsitzende ................................................................................................ Quellen- und Literaturverzeichnis .............................................................................. Ungedruckte Quellen ........................................................................................... Gedruckte Quellen ............................................................................................... Dokumentensammlungen .................................................................................... Interviews und Gespräche .................................................................................... Ausgewählte Literatur .........................................................................................
317 329 345 359 370 387 399 413 413 413 415 415 416
Zeitleiste ..................................................................................................................... 419 Personenregister ......................................................................................................... 425
Abkürzungsverzeichnis AdsD ADN AdW AGB AgF AGL AP BAG BDVP BBZ BEWAG BGL BGO BIZ BKV BRD BVB BV BV BVG CDA CDU CGT DAF DAG DLH DDR DKP DPA DVU EDV Fakulta
FDGB FDJ FDP
Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Akademie der Wissenschaften Arbeitsgesetzbuch Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen Abteilungsgewerkschaftsleitung Associated Press Bundesarbeitsgericht Bezirksdirektion der Volkspolizei Bildungs- und Begegnungszentrum (der ÖTV in Berlin) Berliner Städtische Elektrizitätswerke AG Betriebsgewerkschaftsleitung Betriebsgewerkschaftsorganisation Bildungs- und Informationszentrum (der GÖD in Erfurt) Betriebskollektivvertrag Bundesrepublik Deutschland Berliner Verkehrsbetriebe (Ost) Bezirksverwaltung Bezirksvorstand Berliner Verkehrs AG (West) Christlich Demokratische Arbeiternehmerschaft Christlich Demokratische Union Deutschlands Confédération général du travail Deutsche Arbeitsfront Deutsche Angestellten Gewerkschaft Deutsche Lufthansa Deutsche Demokratische Republik Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Presse Agentur Deutsche Volksunion Elektronische Datenverarbeitung Ursprünglich: Fakultative Rechtsschutz- und Haftpflichtunterstützung des Transportarbeiterverbandes, nach 1945 als Unterstützungseinrichtung des FDGB wieder gegründet Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei
XIV Abkürzungsverzeichnis GASAG GdS GdVP GEW gHV GG GGLF GO Gew. GÖD GSW GUE GUV
GW HBV HBV/DDR HNG HV IFEP IFUG IG IG B-E IGBE IGBEW IGM/DDR IGCPK IGT IG TN IÖD IUG IVG KPdSU KPD KV LDPD MIBEV ML MMM MSK
Berliner Gaswerke AG Gewerkschaft der Sozialversicherung (Fachgewerkschaft) Gewerkschaft der Volkspolizei (FDGB) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (DGB) Geschäftsführender Hauptvorstand (der ÖTV) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (DGB) Grundorganisation Gewerkschaften Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (FDGB) Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (FDGB) Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (FDGB) Gewerkschaftliche Rechtsschutz- und Haftpflichtunterstützungseinrichtung der Verkehrsberufe aller Wirtschaftszweige in Rahmen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Alte Fakulta Gewerkschaft Wissenschaft (FDGB) Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (DGB) Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen der DDR (FDGB) Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuß (FDGB) Hauptvorstand der ÖTV Institut für empirische Psychologie Initiative für unabhängige Gewerkschaften Industriegewerkschaft Industriegewerkschaft Bergbau-Energie (FDGB) Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (DGB) Industriegewerkschaft Bergbau-Energie-Wasserwirtschaft (FDGB) Industriegewerkschaft Metall (FDGB) Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (DGB) Industriegewerkschaft Transport (FDGB) Industriegewerkschaft Transport- und Nachrichtenwesen (FDGB) Internationale der Öffentlichen Dienste Initiative Unabhängiger Gewerkschaften Immobilienverwaltungsgesellschaft der ver.di mbH Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Deutschlands Kreisverwaltung Liberal Demokratische Partei Deutschlands Mitgliederbestandsverwaltung (der ÖTV) Marxismus-Leninismus Messe der Meister von Morgen Gewerkschaft der Mitarbeiter in Staats- und Kommunalbetrieben (FDGB)
Abkürzungsverzeichnis XV
ND NRW NVA ÖD ÖTV ÖPNV ÖVW PDS PersVG PVAP RIAS RKV RGO SAPMO SBZ SED SFB SJS SMS SPD Stamo TdL TU USAP VEB VKA VS VS ZÖD ZK ZV ZDK
Neues Deutschland – Zentralorgan der SED Nordrhein-Westfalen Nationale Volksarmee Öffentlicher Dienst (Gewerkschaft Öffentlicher Dienst) Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (DGB) Öffentlicher Personennahverkehr Örtliche Versorgungswirtschaft Partei des Demokratischen Sozialismus Personalvertretungsgesetz Vereinigte Polnische Arbeiterpartei Rundfunk im amerikanischen Sektor Rahmenkollektivvertrag Revolutionäre Gewerkschaftsopposition Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR im Bundesarchiv Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sender Freies Berlin Sammlung Jutta Schmidt (ver.di-Archiv) Sammlung Manfred Scharrer (ver.di-Archiv) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsmonopolistischer Kapitalismus Tarifgemeinschaft deutscher Länder Technische Universität Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Volkseigener Betrieb Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Verband deutscher Schriftsteller Vorstandssekretariat (der ÖTV-Hauptverwaltung Zukunft durch Öffentliche Dienste Zentralkomitee Zentralvorstand Zentraldelegiertenkonferenz
Teil I ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
1. Das Ende der SED-Diktatur Bevor über die Rolle der ÖTV in der DDR im Zusammenhang mit der Auflösung des FDGB und dem Aufbau neuer autonomer DDR-Gewerkschaften gesprochen werden kann, muss der Zerfall der SED-Herrschaft betrachtet werden. Nur im Kontext der „friedlichen Revolution“ wird die gewerkschaftliche Entwicklung in der DDR der Wendezeit verständlich. Dem Ende der SED wiederum ging der Selbstauflösungsprozess kommunistischer Diktaturen vor allem in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn voraus.
Glasnost und Perestroika Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU ernannt. Er wollte das Beste für seine Partei, für sein Land und für das sowjetische Imperium. Doch als er abtrat gab es keine KPdSU mehr, sie wurde am 24. August 1991 vom Obersten Sowjet verboten, es gab keine UdSSR mehr, sie wurde am 31. Dezember 1991 für beendet erklärt, und es gab auch keine DDR oder andere sowjetische Satellitenstaaten in Mitteleuropa mehr. Ein welthistorisches Experiment, das einst fast rund um den ganzen Globus große Hoffnungen geweckt hatte, war gescheitert. Schon am 3. Juli 1986 wurde im Politbüro der KPdSU eine folgenschwere Erkenntnis artikuliert: „Uns allen ist bewusst, dass unsere Beziehungen zu den sozialistischen Ländern in eine neue Etappe eingetreten sind. Wie es war, so kann es nicht weitergehen. Die Methoden, die wir gegenüber der Tschechoslowakei und Ungarn anwendeten, sind unannehmbar (...) Wir können keine administrative Methode in der Führung der Freunde anwenden ... das bedeutet nämlich, dass wir sie uns auf den Hals laden.“1
Im Kern bedeutete dies die Abkehr von der Breshnew-Doktrin, die eine Intervention androhte, sollte ein sozialistisches Land sich der „Restauration der kapitalistischen Ordnung“ zuwenden wollen. Die Bestandsaufname und Analyse der obersten Ökonomen, Politiker und Militärs der Sowjetunion hatte vor dem Hintergrund der eigenen ökonomischen Krise zu einer Neubewertung des Nutzens der Satellitenstaaten für das Imperium geführt. Ihre maroden sozialistischen Volkswirtschaften waren wirtschaftlich abhängig von Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion und zunehmend im Westen verschuldet. Dies ließ es ratsam erscheinen, nicht auch noch für die Sanierung dieser Gesellschaften und zur Herrschaftssicherung ihrer altersstarren Eliten zur Kasse gebeten und zur Verantwortung gezogen zu werden. Zudem würde ihr geopolitischer und militärstrategischer Nutzen schwinden, wenn es gelänge, eine Verständigung mit den Amerikanern (und dem Westen) herbeizuführen. Der Sowjetführung war zu diesem Zeitpunkt auch klar geworden, dass sie sich im Rüstungswettlauf übernommen hatte. Durch eine Reduzierung der Militärausgaben hoffte 1
Zit. n. György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009, S. 88.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
sie, finanziellen Spielraum für innere Reformen zu gewinnen. Gorbatschow setzte auf Entspannung und Abrüstung. Diese konnten nur durch einvernehmliche Regelungen mit der Regierung in Washington erreicht werden. Im Dezember 1987 einigten sich die USA und die Sowjetunion darauf, die atomaren Mittelstreckenraketen in Europa abzubauen. Erst wenige Jahre zuvor hatte die Sowjetunion die Aufstellung der SS 20 als unabdingbar für ihre Sicherheit erklärt. Im Sommer 1988 ordnete Gorbatschow den Rückzug aus Afghanistan an. Das waren spektakuläre Zeichen einer Zeitenwende. Auf der UNVollversammlung am 7. Dezember 1989 bekannte er sich zum Gewaltverzicht, zur Selbstbeschränkung des Stärkeren, zum Prinzip freier Wahlen und zur Akzeptanz unterschiedlicher Entwicklungen in den einzelnen Satellitenstaaten. In die Reden des Generalsekretärs der KPdSU mischten sich von Anfang an völlig neue Töne. Reformbedarf, vor allem im wirtschaftlichen Sektor, wurde öffentlich eingeräumt. Wirtschaft und Gesellschaft seien im Vergleich mit dem Westen hoffnungslos rückständig. Die Demokratie habe man nötig wie die Luft zum Atmen, erklärte er seinen Parteifreunden und den Menschen im Lande, die bislang gewohnt waren, im Geiste der Diktatur zu denken und zu handeln. Als im Politbüro der KPdSU 1986 der strategische Kurswechsel diskutiert wurde, herrschte in den Ländern, in denen man Jahre zuvor noch mehr oder weniger mit Waffengewalt „für Ordnung“ gesorgt hatte, noch Ruhe – zumindest an der gesellschaftlichen Oberfläche. In Polen herrschte Jaruzelski, in Ungarn Kádár, in der CSSR Husák und in der DDR Honecker. Hier schauten die Machthaber eher mit Erstaunen, Unverständnis und Misstrauen auf die Vorgänge, die sich seit dem Amtsantritt Gorbatschows beim „Großen Bruder“ abzuspielen begannen. Es war eine im Sowjetreich unerhörte Begebenheit, dass aus dem Zentrum der Macht Mängel überhaupt öffentlich eingeräumt und thematisiert wurden. Doch welche Reformen waren nötig und wie sollten sie durchgeführt werden? Die kommunistische Erziehungsdiktatur, die eine jahrhundertelange Konditionierung in passiven Eigenschaften verstärkt hatte, forderte nun plötzlich Eigenverantwortung, Eigeninitiative und individuelle Leistung. Marktwirtschaftliche Mechanismen sollten diese Denk- und Verhaltensmuster fördern helfen. Gorbatschow dachte anfangs, dies alles könne geschehen, ohne die Heiligen Kühe des Kommunismus schlachten zu müssen, also das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln, die zentrale Planwirtschaft und die führende Rolle der Kommunistischen Partei. Zwei Begriffe, Glasnost und Perestroika, begannen Karriere zu machen und Hoffnungen zu wecken. Die konkreten Maßnahmen waren widersprüchlich und unübersichtlich. Sie führten zu einer chaotischen Desorganisation im Wirtschaftsbereich und waren dort am erfolgreichsten, wo sie es gerade nicht sein sollten, bei der Auflösung kommunistischer Macht.
Der „Runde Tisch“: Paradigma des friedlichen Übergangs Als erstes begann die Führung der kommunistischen Partei Polens (PVAP) zu ahnen, dass im Falle eines Konflikts nicht mehr mit „brüderlicher“ Hilfe aus Moskau gerechnet werden konnte. Ein 1981 war nicht wiederholbar. Die Zerschlagung von SolidarnoĞü und die Verhängung des Kriegsrechts hatten damals zwar die Diktatur der kommunistischen Partei gerettet, jedoch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes nicht gelöst. Die Krise der Wirtschaft verstärkte sich noch, während SolidarnoĞü im Untergrund weiter aktiv war. Im April und im August 1988 kam es wieder zu heftigen Streiks. Da eine Rückendeckung für ein gewaltsames Vorgehen gegen die Streikenden durch Moskau un-
Das Ende der SED-Diktatur
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wahrscheinlich geworden war, sahen sich die Kommunisten gezwungen, auf die Opposition zuzugehen. Sie boten zuerst Gespräche und dann Verhandlungen am „Runden Tisch“ an. Am 16. Februar 1989 begannen die Gespräche, sie endeten am 5. Mai. Alle wichtigen Fragen der polnischen Gesellschaft wurden verhandelt. Von vornherein stand fest, dass SolidarnoĞü wieder zugelassen werden und freie Wahlen zu Sejm und zum Senat stattfinden sollten. Das Ergebnis der Wahlen vom 4. Juni 1989 war für die Kommunisten vernichtend. Bei den Parlamentswahlen, in denen sie sich mit den Blockparteien von vornherein 65% der Mandate sicherten, erhielten sie von den 35 Direktmandaten nur eines und bei den wirklich demokratischen Wahlen zum Senat gewann SolidarnoĞü 99 von 100 Sitzen. Die Wahl fand am selben Tag statt, an dem die KP Chinas in Peking mit ihrer Volksbefreiungsarmee ein Massaker unter den Demonstranten der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz anrichtete. Das Zeichen wurde weltweit verstanden: Kommunisten können auch anders. Dies war vor allem bei den Menschen in Polen, in der DDR, in Ungarn und in der CSSR ohnehin noch im Gedächtnis. Doch der „Runde Tisch“ in Warschau weckte Hoffnung. Ein Modell für die friedliche Transformation kommunistischer Diktaturen in demokratisch verfasste Gesellschaften war gefunden.2
Der Eiserne Vorhang fällt In Ungarn stellten sich für die kommunistische Partei (USAP) ähnliche Probleme wie in Polen. Auch dort befand sich die Wirtschaft in einem beklagenswerten Zustand. Ab dem 1. Januar 1988 gestand die Kommunistische Partei den Menschen ein Freiheitsrecht zu, das besonders bei den Bürgern der DDR einen überragenden Stellenwert hatte: Jeder ungarische Staatsbürger hatte von nun an Anspruch auf einen Pass und konnte das Land jederzeit verlassen – und auch wieder zurückkehren. Außerdem versuchte die Partei, die oppositionellen Gruppen, die schon längere Zeit halblegal existierten, ins Gespräch und in die Verantwortung zu ziehen. All dies geschah jedoch halbherzig und unter Ausklammerung der Kernfrage: Was geschieht mit der „führenden Rolle der Partei“? János Kádár zeigte sich uneinsichtig gegenüber der Forderung nach wirklichen Reformen. Er hatte dazu einen besonderen Grund. Die Geister der tabuisierten jüngsten Geschichte begannen sich zu regen: Der Name Imre Nagy wurde immer öfter genannt. Ihn hatte Kádár 1958 ermorden lassen. Im Zeichen von „neuem Denken“ wurde die Forderung nach einer Rehabilitierung von Nagy und den Aufständischen von 1956 immer lauter. Die Kommunisten mussten schließlich eingestehen, dass sie 1956 keine Konterrevolution sondern einen Volksaufstand niederschlagen ließen. Kádár wurde, mit sanftem Druck der Sowjets, am 20. Mai 1988 zum Rücktritt gezwungen. Schließlich stimmten die Kommunisten Gesprächen am „Runden Tisch“ zu. Insgesamt versuchten sie, sich an die Spitze der demokratischen Bewegung zu setzen. So beschloss das Politbüro im Februar 1989 die Beseitigung der Grenzanlagen zu Österreich. Im Mai wurde mit dem Abbau des Stacheldrahts, der Wachtürme und der Millionen Tretminen begonnen. Diese bedeutsame Aktion fand weltweit nicht die Aufmerksamkeit, die ihr gebührte. Schließlich inszenierten Regierungsvertreter einen Fototermin: Am 27. Juni 1989 zerschnitten die Außenminister Österreichs und Ungarns ge2
Vgl. György Dalos, a.a.O., S. 46.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
meinsam den Stacheldraht. Der Eiserne Vorhang bekam ein sichtbares Loch. Erst diese Bilder gingen um die Welt. Man begann wahrzunehmen, dass sich im Osten Unerhörtes vollzog. Vor allem die Menschen in der DDR realisierten, dass sich in Ungarn ein Weg in den Westen aufgetan hatte, der nicht mehr mit Gefahr für Leib und Leben verbunden war.
Das Ende der Breshnew-Doktrin Vor diesem Hintergrund trafen sich die Spitzen der Warschauer-Pakt-Staaten am 7. und 8. Juli 1989 in Bukarest zu einer Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses. Polen und Ungarn waren bestrebt, sich in ihren Reformkursen nicht behindern zu lassen. Vor allem die DDR und die CSSR wollten das genaue Gegenteil, nämlich den freiheitlichen Reformen in diesen Ländern den Garaus machen. Gerade Ungarn sollte zur alten Pakträson zurückgeführt werden. Für Gorbatschow war es die Nagelprobe, ob seine schönen Reden ernst gemeint waren. Sie waren es offensichtlich. Er distanzierte sich in unmissverständlichen Worten von der Breshnew-Doktrin von 1968. Im Kommuniqué lauten die entscheidenden Sätze: „(...) Insbesondere geht es darum, ein neues Niveau der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu erreichen, (...) in dem Länder mit unterschiedlicher sozialer und staatlicher Ordnung existieren und die entstandenen territorialen und politischen Realitäten, die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, die Souveränität sowie das Recht eines jeden Volkes geachtet werden, sein Schicksal frei zu bestimmen. (...) Die Teilnehmer der Tagung informierten einander über die innere Entwicklung in ihren Ländern, über Verlauf und Probleme des Aufbaus des Sozialismus (...) Sie unterstrichen die Kraft des Einflusses der sozialistischen Ideen, die Bedeutung der Veränderungen in den verbündeten Staaten, die auf die Vervollkommnung und Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft (...) sowie auf die Entwicklung der Demokratie gerichtet sind, um (...) die Grundrechte und –freiheiten des Menschen zu gewährleisten. Sie gehen davon aus, dass es keinerlei universelle Sozialismusmodelle gibt und niemand das Monopol auf die Wahrheit besitzt. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft ist ein schöpferischer Prozess. Er entwickelt sich in jedem Land entsprechend seinen Bedingungen, Traditionen und Erfordernissen. (...) Es wurde ebenfalls die Notwendigkeit unterstrichen, die Beziehungen zwischen ihnen auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechts eines jeden, selbständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten, zu entwickeln.“3
Das ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Dokument. Mit der Auffassung, dass es keinerlei universelle Sozialismus-Modelle gäbe und kein Monopol auf Wahrheit, wurden Dogmen des Marxismus-Leninismus beiseite gewischt, die wesentlich zur Legitimation der kommunistischen Diktaturen gedient hatten. Für Auffassungen, wie Gorbatschow sie verkündete, war man unter Stalin erschossen, unter Ulbricht, Honecker und anderen stalinistischen Potentaten eingesperrt worden. Es scheint daher nicht zufällig, dass Honecker eine Gallenkolik erlitt und die Tagung vorzeitig verlassen musste. Das Kommuniqué ließ noch immer viele Fragen offen, u.a. blieb unklar, ob die neue Freiheit der Mitgliedsstaaten das Recht beinhaltete, den Warschauer Pakt zu verlassen oder gar sich einem neuen Bündnissystem anschließen zu dürfen. Eine Überlegung, die in Ungarn bereits diskutiert wurde. Überhaupt blieben die Menschen in den Paktstaaten vorsichtig gegenüber Moskau. Vor allem in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und 3
Europa Archiv, 20/1989, D 596–660, zit. n. www.forost.ungarisches-institut.de.
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der DDR war die jüngste Vergangenheit noch nicht vergessen. Schöne Worte hatte man aus Moskau oft genug gehört. So hatte Stalin auf dem Höhepunkt des Terrors eine Verfassung verabschieden lassen, in der Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und auch die Unverletzlichkeit der Person garantiert waren.
Das Ende der SED-Herrschaft Die Entwicklung in der Sowjetunion, Polen und Ungarn und vor allem die Reden des Generalsekretärs der KPdSU alarmierten die SED-Führung. Die SED reagierte sensibel: Sie verbot im November 1988 die sowjetische Monatszeitschrift Sputnik und sowjetische Filme, die begonnen hatten, sich der Aufarbeitung des Stalinismus zu widmen. Damit glaubte sie, ähnliche Entwicklungen wie in den genannten Ländern von vornherein unterbinden und die ohnehin schwache Bürger- und Menschenrechtsbewegung in Schach halten zu können. Von ca. 160 oppositionellen Gruppen mit insgesamt etwa 2.500 Mitgliedern wusste die Staatssicherheit im Juni 1989 zu berichten. Von einer organisierten Opposition waren sie weit entfernt. Ihre demonstrative Friedfertigkeit machte es jedoch schwierig, polizeilich gegen sie vorzugehen. Kerzenlichter waren ihr Kennzeichen, die Kirche ein Schutzschirm. Alle Versuche, diesen Gruppen das Handwerk zu legen, scheiterten. Letztlich waren es aber nicht die Zusammenkünfte und Aktionen dieser Gruppen, die dem Image des SED-Regimes schadeten, sondern erst die unverhältnismäßigen Unterdrückungsmaßnahmen der Stasi wie der Überfall auf die Umweltbibliothek und das Vorgehen gegen eine kleine Gruppe, die das weltbekannte Zitat Rosa Luxemburgs von der Freiheit der Andersdenkenden auf Transparenten beschwor.
Fluchtbewegung In den Bürger- und Menschenrechtsgruppen versammelten sich Personen, die überwiegend auf eine demokratische Reform des politischen Systems der DDR drängten. Daneben gab es eine weitaus größere Zahl von DDR-Bürgern, die alle Hoffnung auf Verbesserung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in der DDR aufgegeben hatten und die DDR so schnell wie möglich verlassen wollten. Über 100.000 hatten allein bis zum Sommer 1989 Ausreiseanträge gestellt, obwohl dies in der Regel mit erheblichen Schikanen seitens des SED-Regimes verbunden war. Ungezählt sind diejenigen, die auf andere Fluchtmöglichkeiten sannen. Die jüngste Gewährung von Freiheitsrechten in Polen und Ungarn und die hartnäckige Weigerung der SED, ähnliche Reformen einzuleiten, verstärkte die schon 27 Jahre währende, permanente Demütigung durch das Eingesperrtsein. „Die Erfahrung des Individuums, geachtet oder verachtet zu werden, hatte sich auf die Frage reduziert, reisen zu können.“4 Es waren diese Menschen, die – ermutigt durch die Entwicklung in der Sowjetunion, Polen und Ungarn – beschlossen alles auf eine Karte zu setzen, um der SED-Diktatur den 4
Günter Schabowski in: Hans-Hermann Hertle/Theo Pirker/Rainer Weinert, „Der Honecker muss weg!“, Protokoll eines Gespräches mit Günter Schabowski am 24. April 1990 in Berlin/West, Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Nr. 35, Freie Universität Berlin, Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung (weiter zitiert als Berliner Arbeitshefte), Berlin, Juni 1990, S. 39.
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Rücken zu kehren. Sie versetzten der SED-Herrschaft den ersten Schlag. Mit Staunen, Hoffnung und Misstrauen dürften sie die Nachrichten aus Ungarn vernommen haben, dass die Sperranlagen beseitigt würden. Zunächst zögerlich machten sich einige, die in Ungarn ihren Urlaub verbrachten, auf den Weg zur Grenze oder in die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest. Am 1. August meldete die Tagesschau, dass sich 100 DDRBürger in die Botschaft geflüchtet hätten. Wenige Tage später suchten die ersten DDRBürger in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag Zuflucht. Bis zum 6. August hatten sich weitere 100 Personen in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin festgesetzt. Gleichzeitig überquerten immer mehr Menschen die ungarische Grenze nach Österreich. Innerhalb von drei Tagen waren es allein über 300 Personen. Sie wurden im Zug nach Frankfurt/Main gebracht. Das Fernsehen zeigte Bilder von überglücklichen Menschen. Am 19. August nutzten Hunderte ein „Paneuropäisches Picknick“ in Sopron für die Flucht nach Österreich. Ein schier unaufhaltsamer Flüchtlingsstrom begann sich zu entwickeln. Je größer die Diskrepanz zwischen den demokratischen Entwicklungen in Ungarn und Polen und dem verordneten Stillstand in der DDR wurde, umso unerträglicher mussten die Verhältnisse im eigenen Land erscheinen. Im August, als in der DDR noch alles seinen sozialistischen Gang zu gehen schien, waren in Polen schon freie Wahlen abgehalten worden und der Nichtkommunist Mazowiecki Ministerpräsident geworden. Immer mehr Menschen versuchten, dem Herrschaftsbereich der SED zu entkommen. Es waren überwiegend gut ausgebildete junge Leute, im Durchschnitt jünger als 27 Jahre, darunter viele junge Familien mit Kindern, die der DDR den Rücken kehrten. Sie alle waren in der DDR geboren und erzogen worden. Jeden Tag waren es Hunderte, die diesen Weg gingen. In der Tagesschau wurde die Frage gestellt: „Wie lange kann die DDR dies verkraften?“ Erstaunlich spät versuchte die SED-Führung, auf ihre ungarischen Genossen Einfluss zu nehmen und die vertraglich vereinbarten Verpflichtungen einzuklagen, flüchtende DDR-Bürger aufzugreifen und an die DDR auszuliefern. Doch Ungarn hatte sich entschieden, den Weg in die Demokratie und nach Westen zu gehen. Am 31. August teilte der ungarische Außenminister Gyula Horn der DDR-Regierung mit, dass für Ungarn durch die DDR-Bürger, die nicht mehr in die DDR zurückgehen wollen, eine „unhaltbare Situation“ entstanden sei, und Ungarn „aus humanitären“ Gründen keine andere Wahl habe, als am 11. September die Grenzen zu öffnen.5 Versuche der SED, via Moskau durch die Einberufung der Außenministerkonferenz der Warschauer-PaktStaaten, Ungarn von diesem Schritt abzuhalten, wurden von Moskau abgelehnt. Die SED war machtlos. Noch fehlte es ihr an der Vorstellungskraft, dass dies das Ende ihrer eigenen Herrschaft und das ihres Staates bedeuten sollte. Am 10. September verkündete Außenminister Horn im Fernsehen die sensationelle Entscheidung seiner Regierung, ab Mitternacht die Grenzen Ungarns für DDR-Bürger zu öffnen. Dies sei nicht nur eine einmalige Maßnahme, sondern gelte bis auf weiteres. Der „Eimer DDR“ (Biermann) begann auszulaufen, keine Minen und MP-Garben auf unbewaffnete Flüchtlinge konnten dies mehr verhindern. Bis zum Ende des Monats September passierten über 30.000 Menschen die Grenze nach Österreich, und ein Abreißen des Flüchtlingsstroms war nicht abzusehen. 5
Vgl. Vermerk über das Gespräch des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED, Genossen Mittag, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, in: Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 109ff.
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Neuformierung der Opposition und allgemeiner Bürgerprotest Die Fluchtbewegung nahm immer größere Ausmaße an. Das musste auch diejenigen stärken, für die eine Flucht keine Alternative darstellte, sondern die eine Veränderung der DDR-Gesellschaft anstrebten. Obwohl sie die Fluchtbewegung überwiegend missbilligten, verstanden sie die dadurch hervorgerufene Schwächung der SED-Herrschaft zu nutzen.6 Innerhalb der oppositionellen Strömungen war die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR ein radikaler Schritt. In ihrem programmatischen Aufruf vom 28. August 1989 stellte sie das Machtmonopol der SED und den DDR-Sozialismus in Frage. Gleichzeitig forderte sie Rechtsstaat und Gewaltenteilung, parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft, Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht der Arbeiter. „Die meisten noch verängstigten DDR-Bürger sahen sich angesichts der durch die Sozialdemokraten gestellten Machtfrage überfordert.“7 Vorsichtiger agierten die Gründer des Neuen Forums. Sie dachten streng legalistisch, forderten die Einhaltung allgemeiner Werte wie „Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur“ und waren beherrscht vom Misstrauen gegenüber jeglicher Parteipolitik. Sie lehnten bewusst eine Parteigründung ab und setzten auf eine eher basis- bzw. versammlungsdemokratische Politik- und Organisationsform. Die am 9. September gegründete Organisation wurde für kurze Zeit zum weitaus größten und bedeutendsten oppositionellen Sammelpunkt. Das von ihr praktizierte gewaltfreie Versammeln, Diskutieren und Demonstrieren im öffentlichen Raum gehörte zum wirkungsvollsten Mittel der Zerstörung der SED-Macht.8 Fluchtbewegung, Neuformierung der Bürgerbewegung und Verbreiterung des gesellschaftlichen Protestes gingen nun Hand in Hand. Am Montag, dem 4. September, kam es in Leipzig unmittelbar nach Eröffnung der Herbstmesse im Anschluss an das „Friedensgebet“ zur ersten größeren Demonstration von mehreren hundert Menschen. Unter die Sprechchöre „Wir wollen raus“ mischten sich jetzt erstmals auch die Rufe „Wir bleiben hier“. Damit war der erste Schritt zum selbstbewussten Aufstand gegen die SED getan. Am 25. September demonstrierten bereits über 6.000 Menschen nach dem montäglichen Friedensgebet. Mit diesen Menschen musste sich die SED auseinandersetzen. Noch glaubte sie, die Menschen mit massivem Polizeieinsatz und Verhaftungen einschüchtern zu können. Doch sie provozierte damit nur die Verbreiterung des Protestes. Immer mehr Bürger begannen, auf die Straße zu gehen. Noch bestimmten die Flüchtlinge die Dynamik der Entwicklung und die Aufmerksamkeit der Politik. Nachdem die SED keine weiteren Genehmigungen für Ungarnreisen erteilte, verlagerte sich der Kern des Geschehens nach Prag. Die dortige bundesrepublikanische Botschaft war schon seit dem 23. August geschlossen. Doch die DDR-Bürger ließen sich dadurch nicht abhalten und verschafften sich Zutritt auf das Gelände. Bis zum 26. September stieg die Zahl der „Besetzer“ auf über 1.000 und vier Tage später bereits auf über 6.000. Honecker befand sich in einer misslichen Situation. Schon jetzt verhagelten ihm die Bilder aus Prag und Ungarn die Vorfreude auf die Feierlichkeiten zum Jubiläum des 40. Jahrestages der DDR. Er sah sich schließlich gezwungen, die Ausreise der Botschafts6 7 8
Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 386. Erhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 77. Vgl. ebd., S. 78ff.
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flüchtlinge zu gestatten. Doch kaum waren die Flüchtlinge abgereist, füllte sich die Botschaft wieder. Erneut musste Honecker in ihre Ausreise einwilligen. Jetzt schloss die SED-Führung die Grenze zur CSSR. Dies steigerte die Verzweiflung und den Mut derjenigen, die es nicht mehr nach Ungarn oder in die CSSR geschafft hatten. In Dresden versuchten sie, auf die Transitzüge in den Westen aufzuspringen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Wirtschaftsbankrott Die von Honecker propagierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ sollte den Wohlstand der „Werktätigen“ garantieren. Doch das Zurückbleiben der Produktivität, die Abnahme der Investitionen, der zunehmende Verschleiß und die Überalterung der Anlagen führten von Beginn an dazu, dass die DDR über ihre Verhältnisse lebte. Anfangs glaubte sie, dies mit Krediten aus dem Ausland ausgleichen zu können. Laut Einschätzung des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission (SPK) Gerhard Schürer stand die DDR dabei schon immer am „Rande der Zahlungsunfähigkeit“.9 Diese Situation eskalierte 1988. Schürer wollte dem Staatsratsvorsitzenden mitteilten, dass die DDR „pleite geht“, wenn nicht einschneidende Maßnahmen ergriffen würden. Zu dieser offenen Aussprache kam es nicht mehr.10 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Kreditaufnahme schon ausschließlich dazu verwandt, die Zinsen der alten Kredite zu begleichen. Dieses Verfahren konnte nicht endlos weitergeführt werden. Hilfe von den sozialistischen Bruderländern war nicht zu erwarten. Diese hatten vergleichbare, wenn nicht sogar noch größere Schwierigkeiten. Es blieb nur ein politischer Handel mit der Bundesrepublik oder ein Austerity-Programm für die Bevölkerung. Beides schien Honecker undurchführbar. Er vertagte die Lösung des Problems. Ein Jahr später hatte sich die ökonomische Zwangslage weiter zugespitzt. Die erste Amtshandlung von Egon Krenz als Generalsekretär war, nachdem er und seine Freunde Honecker am 17. Oktober 1989 gestürzt hatten, Schürer mit der Erstellung einer schonungslosen Bestandsaufnahme zu beauftragen. Dessen Bericht ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Schulden waren auf 20 Milliarden Dollar angewachsen, der DDR drohte die Zahlungsunfähigkeit. Dies bedeutete nach Einschätzung Schürers Folgendes: „Die Konsequenzen der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre (sic!) ein Moratorium (Umschuldung), bei der der internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat. Solche Auflagen setzen Untersuchungen des IWF in den betreffenden Ländern zu Fragen der Kostenentwicklung, der Geldstabilität u.ä. voraus. Sie sind mit der Forderung auf den Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen, der Reprivatisierung von Unternehmen, der Einschränkung der Subventionen mit dem Ziel, sie gänzlich abzuschaffen, den (sic!) Verzicht des Staates, die Importpolitik zu bestimmen, verbunden. Es ist notwendig, alles zu tun, damit dieser Weg vermieden wird.“11 9 Protokoll eines Gesprächs über den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft mit Gerhard Schürer, ehem. Mitglied des Politbüros, des ZK der SED und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR, am 9. August 1991 in Berlin, Berliner Arbeitshefte Nr. 63, August 1991. 10 Ebd., S. 18. 11 Gerhard Schürer/Gerhard Beil/Alexander Schalck/Ernst Höfner/Arno Donda,͒ Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen,͒Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, 30.10.1989, zit.n.: www.chronik-der-mauer.de.
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Zunächst hoffte die SED auf die finanzielle Unterstützung der Bundesregierung. Zu diesem Zweck schickte Krenz den Fachmann für Devisen- und Kreditbeschaffung im Westen Alexander Schalck-Golodkowski am 24. Oktober 1989 nach Bonn. Die Bonner verhielten sich hinhaltend und machten keine Zusagen. Am 1. November fuhr Krenz nach Moskau zu Gorbatschow und schilderte ihm die katastrophale Lage. Zwar zeigte sich dieser davon beeindruckt, doch statt Zusagen für wirtschaftliche Hilfe gab er den kostenneutralen Ratschlag, die Führung der SED „müsse jetzt in allgemeiner Form einen Weg finden, um der Bevölkerung mitzuteilen, dass man in den letzten Jahren über seine Verhältnisse gelebt habe.“12 Krenz musste mit leeren Händen aus Moskau zurückkehren. Zu diesem Zeitpunkt war sich Bundeskanzler Kohl über die Bedingungen klar geworden, zu welchen er der SED finanzielle Unterstützung gewähren würde. Er wollte, dass Krenz öffentlich erkläre, „dass die DDR bereit sei, die Zulassung von oppositionellen Gruppen und die Zusage von freien Wahlen in zu erklärenden Zeiträumen zu gewährleisten“ und dass die SED auf ihren „absoluten Führungsanspruch“ verzichte.13
Der 9. November Während die politische Führungsspitze versuchte, die ökonomische Misere in den Griff zu bekommen, hielt die Dynamik der Fluchtbewegung und der Oppositions- und Demonstrationsbewegung unvermindert an. Daran hatte auch die Ablösung von Honecker und seinen zwei engsten Vertrauten Mittag und Hermann nichts geändert. Es war – wie sich zeigen sollte – ein vergeblicher Versuch, Sündenböcke zu kreieren, um die SED an der Macht zu halten. Krenz als neuer Generalsekretär und ab 24. Oktober auch als Staatsratsvorsitzender war wenig geeignet, Vertrauen zu wecken. Am 16. Oktober demonstrierten in Leipzig bereits 120.000 Menschen. „In der Woche vom 23. bis 30. Oktober waren es DDR-weit mit 140 Demonstrationen schon 540.000 Teilnehmer.“14 Am 6. November demonstrierten allein in Leipzig 400.000 Menschen. Zwei Tage vorher, am 4. November, fand in Berlin eine Demonstration mit einer halben Million Teilnehmern statt. Die Bürger der DDR erkannten ihre Macht und die Schwäche der SED. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass weder die Wortführer der Bürgerbewegung noch die Wendehals-Kommunisten eine Lösung für die angehäuften Probleme der DDR hatten. Die Aufforderung an die Menschen, zu bleiben und ein neues sozialistisches Experiment zu wagen, weckte keine Hoffnung, sondern verstärkte die Furcht. Der Tag auf dem Alexanderplatz, der Tag der größten Demonstration gegen das SED-Regime, war gleichzeitig ein Tag, an dem sich tausende DDR-Bürger über die CSSR auf den Weg in die Bundesrepublik machten. Diejenigen, die im Land bleiben wollten oder mussten begannen, die Solidarität ihrer „Brüder und Schwestern“ im Westen einzuklagen, die ein so viel besseres Los nach 1945 gezogen hatten. Sie ahnten, dass die
12 Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1. November 1989 in Moskau, zit. n.: Stephan, a.a.O, S. 208. 13 Zit. n.: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996, S. 108. 14 Ehrhart Neubert, a.a.O., S. 165.
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nötige Solidarität, um die DDR-Gesellschaft auf das materielle Niveau der Bundesrepublik zu heben, nur in einem geeinten Deutschland aufgebracht werden konnte. Am 1. November hatte die DDR die Visumpflicht für die CSSR wieder aufgehoben. Am 4. November öffnete die CSSR ihre Grenzen zur Bundesrepublik. Die Grenze der DDR zur Bundesrepublik und zu West-Berlin hatte ihren Sinn verloren. Über das Wochenende vom 4./5. November verließen 23.200 DDR-Bürger via CSSR ihre Heimat. Christa Wolf appellierte im Fernsehen, die Menschen mögen doch bitte bleiben. Am 6. November veröffentlichte das ND einen bürokratischen und halbherzigen Reisegesetzentwurf und entfachte damit nur neuen Protest. Die SED-Führung stand mit dem Rücken zur Wand. Am 7. November entschied das Politbüro, dass für die „ständige Ausreise“ eine Durchführungsbestimmung sofort in Kraft zu setzen sei. Am 8. November „bat“ die CSSR die DDR, „die Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD direkt und nicht über das Territorium der CSSR abzuwickeln“.15 Derweilen zerfiel die SED. Erich Mielke berichtete, es lägen Hinweise „über eine erhebliche Zunahme von Parteiaustritten, besonders aus dem Bereich der materiellen Produktion, aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt der DDR, Berlin, vor.“16 Mächtige Bezirkssekretäre und kleinere Würdenträger der SED mussten zurücktreten. Noch vor Beginn der ZK-Sitzung am 8. November waren weitere Politbüromitglieder, wie der Stasi-Chef Mielke und der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch, zurückgetreten. Vom 8. bis 10. November versammelte sich die SED zu ihrem ZK-Plenum. Zum Auftakt hielt Krenz ganz im Stil vergangener Zeiten ein stundenlanges Grundsatzreferat, dessen Hauptinhalt die schonungslose Offenlegung der katastrophalen ökonomischen Lage der DDR sein sollte. Er sprach vom problematischen Zustand von rund einer Million Wohnungen in privaten städtischen Mietshäusern. In Görlitz, Meißen, Brandenburg und Leipzig sei der „Erhaltungszustand von Teilbereichen dieser Städte“ sogar besorgniserregend. Tausende Wohnungen seien nicht mehr bewohnbar. Das Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion, zwischen Zuliefererindustrie und Finalproduktion sei „aus dem Lot“ geraten und die Technik verschlissen. Ein ausgeglichener Haushalt sei nur deshalb zustande gekommen, weil er mit Krediten finanziert sei. Das Prinzip, „wonach nur verbraucht werden kann, was vorher erwirtschaftet wurde“, sei verletzt worden. Die Delegierten waren schockiert. Dabei hatten sie noch nicht einmal die ganze Wahrheit erfahren. Die 20 Milliarden Dollar Schulden im „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (NSW) verschwieg Krenz. Auch die Tatsache, dass die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit und dem Staatsbankrott stand, blieb unerwähnt. Krenz verbreitete wider besseres Wissen die Zuversicht, das Problem lösen zu können. Der Export sollte erhöht werden, um mit dem Erlös Zinsen bedienen und Kredite tilgen zu können. Eine Kürzung des Lebensstandards schloss er indes aus. Unbeirrt sprach er davon, dass die genannten Schwierigkeiten „kein Beweis für das Scheitern der Planwirtschaft“ seien.17 Die Delegierten der chaotisch verlaufenden ZK-Tagung fällten dann en passant am 9. November eine historische Entscheidung: Sie stimmten außerhalb der Tagesordnung und ohne große Debatte der vom Politbüro vorgeschlagenen Durchführungsbestimmung für die „ständige Ausreise“ zu. Darin hieß es: „Ab sofort“ könnten „Reisen und ständige
15 Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls, a.a.O., S. 114. 16 „Ich liebe euch doch alle...“, Befehle und Lageberichte des MfS, Januar-November 1989, hrsg. von Armin Mitter und Stefan Wolle, Berlin 1990, S. 149. 17 Vgl.: Egon Krenz, 10. Tagung des Zentralkomitees der SED, 8. – 10. November 1989, zit.n.: www.2plus4.de.
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Ausreisen aus der DDR in das Ausland“ ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden, und Genehmigungen würden „kurzfristig erteilt.“ Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, unausweichlich geworden. Täglich strömten über 10.000 DDR-Bürger über die offene Grenze der CSSR in die Bundesrepublik. Nur in diesem Kontext ergeben die Worte „ab sofort“ in der Beschlussvorlage einen Sinn. Erst die missglückte Bekanntmachung dieser Entscheidung durch Schabowski ermöglichte, dass die Maueröffnung am 9. November als das erscheinen konnte, was sie war: eine von den Bürgern der DDR erzwungene Maßnahme. Die SED wollte aus sichtbarer Bedrängnis heraus den Bürgern die Reisefreiheit gestatten, die Bürger der DDR nahmen sich die Freiheit selbst und schleiften die Mauer.18 Etwas Unvorstellbares war geschehen. „Ich kriege heute noch eine Gänsehaut, wenn ich mir die Fernsehbilder vergegenwärtige. Wenn ich morgens auf den Fernsehknopf gedrückt habe und sah, dass die Mauer offen war, hatte ich manchmal das Gefühl zu träumen. Das alles war meiner Meinung nach nicht fassbar.“19
Die ZK-Delegierten setzten am nächsten Tag ihre Tagung fort, als wäre nichts geschehen. Kein Delegierter nahm auf die nächtliche Maueröffnung mit ihren unvergesslichen Bildern auch nur mit einem Wort Bezug. Währenddessen feierten die DDR-Bürger zusammen mit ihren bundesdeutschen „Brüdern und Schwestern“ das Ende der SED-Herrschaft und die Überwindung einer menschenverachtenden Grenze.
Deutschland einig Vaterland Nur vereinzelt war vor dem 9. November die Forderung nach deutscher Einheit zu hören gewesen. Als mit dem Fall der Mauer das Unwahrscheinliche geschah, schlug die Stimmung um. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk.“ Zum ersten Mal ertönte auf der Montagsdemonstration in Leipzig der Ruf „Deutschland einig Vaterland“. Zwei Wochen später war daraus die zentrale Parole der Demonstranten geworden.
18 Vgl. Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls, a.a.O., S. 141ff. 19 Interview mit Jutta Schmidt vom 26. Februar 1992, Dokumentation, S. 369.
2. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) Gewerkschaft als kommunistische Massenorganisation Der FDGB war die wichtigste „Massenorganisation“ der SED. Er war erklärtermaßen keine unabhängige und freie Interessenvertretung der lohnabhängig Beschäftigten, sondern hatte sich willentlich der Führung der SED unterworfen und dies auch in seiner Satzung freudig bekundet. Wie das praktisch auf personaler Ebene funktionierte, beschreibt der Vorsitzende des FDGB Harry Tisch wie folgt: „Ich war Mitglied des Politbüros, der Vorsitzende des FDGB im Bezirk war Mitglied des Sekretariats der Bezirksleitung. Im Kreis war der Kreisvorsitzende des FDGB Mitglied des Sekretariats der Kreisleitung der Partei. Dadurch waren die Funktionäre eingeordnet in die Parteilinie und die Parteibeschlüsse waren bindend für mich, ich hatte den Parteibeschluss in der Gewerkschaft umzusetzen. Das wurde auch von mir erwartet, sonst wäre ich gar nicht im Politbüro gewesen.“1
„Massenorganisation“ war eine im Dogmengebäude des Marxismus-Leninismus verankerte Art von Hilfsorganisation für die Kommunistische Partei. Welche Funktion sie hatte, verdeutlicht Lenins Metapher vom „Transmissionsriemen“ immer noch anschaulich. Es galt das Prinzip der „führenden Rolle der Partei“ und das Prinzip von Befehl und Gehorsam, „demokratischer Zentralismus“ genannt. Es ging um die Aufrechterhaltung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei auf allen Ebenen. In diesem Denken und in den davon geschaffenen Strukturen ging es immer um Führung, Anleitung und Kontrolle. Es störte Kommunisten, die Lenin und Stalin bewunderten, nicht, dass dies im Widerspruch zur ideologischen Verherrlichung der Arbeiterklasse in der Marxschen Geschichtsphilosophie stand. Damit alles reibungslos im Sinne der Partei funktionierte, hatte die strikte Befolgung der „Parteidisziplin“ oberste Priorität. Alle Zweifel hatten hier ein Ende. Dahinter stand die Erfahrung von Jahrzehnten leninistischer und stalinistischer Praxis. Unzählige Opfer sind auf dem Altar dieser Disziplin erbracht worden. Die Folgen waren zerstörerisch und oft auch selbstzerstörerisch. Häufig wurde die geforderte Verleugnung der eigenen Überzeugung als „sacrificium intellectus“ beschrieben. Besonders wenn es Intellektuelle wie z. B. Lukács und Bloch betraf. „Opfer“ klingt dabei zu sehr nach Weihrauch. Vielfach ging es nicht um intellektuelle Opfer, sondern schlicht nur um Opportunismus und Angst. Zu Stalins Zeiten gingen diejenigen, die diese „Opfer“ brachten, oft über Leichen. Dennoch waren Millionen Kommunisten, wie auch Harry Tisch, davon überzeugt, dass ihr System „richtig“ sei.2 Seit der Zwangsvereinigung von KPD und SED galten die stalinistischen Verhaltensnormen auch für viele ehemalige sozialdemokratische Gewerkschafter. Als sie im Auftrag der SED die Umwandlung der Gewerkschaften in eine abhängige Hilfsorganisation der Partei betreiben mussten, wurden sie vor die Wahl gestellt, ihre Überzeugung zu verleugnen oder den Bruch mit der SED zu vollziehen. Für Funktionäre war Letzteres nur
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Gespräch mit Harry Tisch, Berlin, 9.12.1993, in: Theo Pirker, et al., Der Plan als Befehl und Fiktion, Opladen 1995, S. 137. Ebd., S. 120.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
unter Gefahr für Leib und Leben möglich. Nicht wenige wurden eingesperrt, viele gingen in den Westen. Am Anfang hielten es die Kommunisten noch für geboten, den FDGB, den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, als Einheitsgewerkschaft erscheinen zu lassen. Also als eine überparteiliche und parteiunabhängige Gewerkschaft. Besonders das Prädikat frei im Namen – es hatte sich schon vor der Jahrhundertwende (1900) als Bezeichnung für sozialdemokratische Gewerkschaften im Unterschied zu den christlichen und liberalen eingebürgert und wurde so bis zum Ende der Weimarer Republik verwandt – sollte nun eine deutliche Abkehr von der Zwangsorganisation DAF der Nazis und dem stalinistischen Konzept der RGO signalisieren sowie überhaupt demokratische Absichten bekunden. Vertreter von Parteien und Repräsentanten der vier Gewerkschaftsrichtungen, Sozialdemokraten, Christlich-Soziale, Liberale und Kommunisten, erließen am 15. Juni 1945 den Gründungsaufruf für den „Wiederaufbau freier, demokratischer Gewerkschaften“.3 Doch schon vor dem Gründungskongress des FDGB im Februar 1946 hatten KPD und SPD abgesprochen, den FDGB als untergeordnete Organisation der SED zu führen. Bernhard Göring, vormaliges Mitglied im Bundesvorstand des AfA-Bundes und zukünftiger 2. Vorsitzender des FDGB, fasste die Absprache wie folgt zusammen: „Wenn ich dann am Rande sage: das bedeutet, dass wir (als Gewerkschafter, M.S.) Befehlsempfänger sind, so möchte ich unterstreichen, dass das die Auffassung der beiden politischen Parteien und der künftigen Arbeiterpartei ist.“4
Nach außen führte die SED den FDGB noch eine Zeitlang als Einheitsgewerkschaft und benutzte dabei die Vertreter der ehemals christlichen (Jakob Kaiser) und liberalen (Ernst Lemmer) Richtungsgewerkschaften im FDGB-Bundesvorstand als Aushängeschilder.5 Als die SED entschied, gemäß sowjetischem Vorbild den Sozialismus in der DDR aufzubauen, bedurfte es der Tarnkappe Einheitsgewerkschaft nicht mehr. Der FDGB bekannte sich auf seinem Kongress 1950 „zur führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei“.6 Dem FDGB wurde die Aufgabe zugewiesen, im Dienste und im Auftrag der Partei vor allem die ideologische Bearbeitung seiner Mitglieder zu betreiben. Diese sollte er auf die Diktatur der SED einschwören und dabei das Feindbild des Kapitalismus und Imperialismus im Allgemeinen und das der Bundesrepublik im Besonderen pflegen. Er lehrte seine Mitglieder, die „bürgerliche“ Demokratie zu verachten.
Gewerkschaft als Interessenvertretung des Unternehmers Gebraucht wurde der FDGB im System der sozialistischen Planwirtschaft vor allem für die Umsetzung der zentralen Volkswirtschaftspläne. Er betrieb Propaganda für die von der SED vorgegebenen Normen und sollte damit die Arbeitsmoral der Beschäftigten stärken. Im Arbeitsgesetzbuch (AGB) wurde seine Aufgabe wie folgt festgeschrieben: 3 4 5 6
Aufruf des vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin, zit.n.: Geschichte des FDGB, a.a.O., S. 171. Stenographische Niederschrift der Sechziger Konferenz am 20./21. Dezember 1945 in Berlin, zit. n.: Gert Gruber/Manfred Wilke (Hrsg.), Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit, München 1981, S. 185. Vgl. Manfred Scharrer, Die Anfänge des FDGB, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 2’92. Zit. n.: Geschichte des FDGB, Hg. Bundesvorstand des FDGB, Berlin (DDR) 1982, S. 361.
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB)
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„Der sozialistische Wettbewerb ist auf die Erfüllung und gezielte Überbietung der Volkswirtschaftspläne gerichtet, die von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen und der Effektivität der Produktion sind. Er dient der Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten und der Herausbildung einer sozialistischen Lebensweise. Mit dem sozialistischen Wettbewerb lenken die Gewerkschaften die Initiative der Werktätigen darauf, die Intensivierung der Produktion zu vertiefen, die Produktions- und Effektivitätsziele des Planes allseitig zu erfüllen und weitere Reserven für die Erhöhung der Leistungsfähigkeit und für die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erschließen. Dazu richten sie die Wettbewerbsziele vor allem auf die Beschleunigung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts, auf die sozialistische Rationalisierung, rationelle Nutzung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, hohe Qualitätsarbeit, den sparsamen Einsatz von Material, Energie, Roh- und Hilfsstoffen, die Senkung der Kosten sowie auf die Festigung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit.“7
Klarer lässt sich die Umwidmung einer Gewerkschaft, die ihrem Begriff nach die Interessen der Arbeiter und Angestellten gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten hatte, in eine Organisation, die nunmehr die Interessen des staatlichen Monopolunternehmers gegen die weiterhin abhängig Beschäftigen vertrat, nicht formulieren. In dieser Funktion, der Legitimierung der staatlichen Vorgaben durch die Zustimmung der Gewerkschaften, liegt die Wehrlosigkeit der abhängig Beschäftigten in der DDR begründet. Die Gewerkschaften waren dem Diktat der Partei unterworfen und setzten ihren gewaltigen Apparat für die Organisation von Zustimmung für die SED und den Staat ein. Dies blieb bei den Betroffenen nicht unbemerkt und provozierte Widerstand. Anfangs sammelte er sich in den Betriebsräten. Diese wurden demokratisch von allen Beschäftigten gewählt und waren ihnen gegenüber verantwortlich. Bei den Betriebsratswahlen 1948 zeichnete sich ab, dass die FDGB-Kandidaten eine Schlappe erleiden würden. Daraufhin beschloss die SED die Zerschlagung der Betriebsräte. Sie brauchte in den Betrieben für die Durchsetzung ihrer Wirtschaftspolitik im System des zentralen Volkswirtschaftplans eine ihr ergebene Organisation. Dazu eigneten sich die betrieblichen Gewerkschaftsgliederungen, die – anders als die Betriebsräte – den Weisungen des FDGB und damit der SED unterworfen waren. Auf der Bitterfelder Funktionärskonferenz des FDGB am 25./26. November 1948 wurden formal „alle Rechte und Pflichten“ der Betriebsräte auf die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) übertragen. Seit diesem Zeitpunkt waren die abhängig Beschäftigten der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR ohne wirkliche Interessenvertretung und ohne wirkliche Schutzorganisation. Spätestens seit dem 17. Juni 1953 konnte dieser Sachverhalt kaum mehr übersehen werden. Der 17. Juni begann als Streik der Berliner Bauarbeiter gegen eine verordnete Normerhöhung, die faktisch einer Lohnkürzung gleichkam, und als Protest gegen den FDGB, der dieser Normerhöhung zugestimmt hatte. Der Streik mündete in einem Aufstand gegen die SED-Herrschaft. Die Rote Armee griff daraufhin mit Panzern und Maschinengewehren ein. Die Ohnmachtserfahrung der Menschen in der DDR war überwältigend. Jeder wusste nun um seine Rechtlosigkeit. Der FDGB wurde fortan als Hilfsorganisation und Sprachrohr der SED-Herrschaft hingenommen.
Gewerkschaft als Interessenvertretung abhängig Beschäftigter Eine freie Gewerkschaft zu sein, wie es der Name FDGB suggerierte, nahm dieser Organisation niemand mehr ab. Gleichwohl wurde ein riesiger Aufwand betrieben, um gerade 7
AGB, § 32,2.
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diesen Anschein zu erwecken. Der FDGB wurde dargestellt, als würde er die klassische gewerkschaftliche Aufgabe, die Lohn- und Arbeitsbedingungen seiner Mitglieder auszuhandeln, wahrnehmen. In der DDR wurden Löhne und Gehälter, Arbeitszeit, Urlaubsansprüche, Eingruppierung, Erschwerniszulagen etc. sowohl für Wirtschaftbereiche als auch für Berufsgruppen in sogenannten Rahmenkollektivverträgen (RKV) festgelegt. Auf betrieblicher Ebene kamen Betriebskollektivverträge (BKV) hinzu, die jedoch den Rahmenkollektivverträgen untergeordnet waren. Der FDGB hatte bei beiden ein Mitspracherecht. Für die RKV war im Arbeitsgesetzbuch (AGB) festgelegt: „Die Minister und die Leiter der anderen zentralen Staatsorgane haben gemeinsam mit den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften für die Werktätigen ihrer Verantwortungsbereiche die notwendigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen in Rahmenkollektivverträgen zu vereinbaren.“8
Die Entscheidung, ob eine Vereinbarung rechtskräftig wurde, lag indes einseitig bei dem „zentralen Staatsorgan“, d.h. beim zuständigen Ministerium. Dieses achtete darauf, dass die Festlegungen nicht im Widerspruch zu anderen gesetzlichen Bestimmungen der DDR standen. Der FDGB hatte im Kernbereich gewerkschaftlicher Interessenvertretung damit nur ein Mitspracherecht, nicht aber ein Mitbestimmungsrecht. Er war kein selbständiger Tarifpartner. Tarifautonomie gab es nicht und folglich auch kein Streikrecht. Die Rahmenkollektivverträge wurden in der Tribüne noch im Januar 1990 zustimmend als „Ausdruck des demokratischen Zentralismus auf dem Gebiet des sozialistischen Wettbewerbs“9 bezeichnet. Der Rahmenkollektivvertrag (RKV) galt unbefristet. Notwendige Änderungen wurden in Nachträgen vorgenommen. So war z.B. der RKV für die Eisenbahner „in der Fassung des 51. Nachtrages rechtswirksam.“10 Aufgrund der Vielzahl der Nachträge herrschte eine erhebliche Unübersichtlichkeit über die jeweils geltenden Bestimmungen. Hinzu kam die oft undurchsichtige Verschränkung von Bereichs- und Berufsgruppenverträgen innerhalb desselben RKV. Allein für den Transportbereich galten elf unterschiedliche Rahmenkollektivverträge. Hier kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Beschäftigten und Betriebsleitungen, gerade was die Eingruppierung betraf, die man in „Schiedskommissionen“ zu schlichten versuchte. Die Rahmenkollektivverträge waren die wichtigste Rechtsvorschrift für jeden betrieblichen Gewerkschaftsfunktionär. U.a. war hier der Mindesttariflohn festgelegt. Die tatsächlichen Löhne wurden – laut AGB – jedoch auf betrieblicher Ebene unter Beteiligung der BGL in Form von jährlichen Betriebskollektivverträgen (BKV) ausgehandelt. Der Lohn bestand mithin aus dem im RKV geregelten Mindest-Tariflohn und den betrieblich festgelegten kollektiven und individuellen Prämien im Rahmen der BKV. Die Differenz zwischen beiden Lohnteilen war erheblich. Im Produktionsbereich sollen die Mindest-Tariflöhne teilweise nur 40% des tatsächlichen Einkommens betragen haben. Theoretisch hätte in diesem Bereich ein breiter Gestaltungsspielraum für die betriebliche Gewerkschaftsarbeit bestanden. Tatsächlich gab es für die BGL jedoch auch hier nichts zu verhandeln. In den Planvorgaben für den Betrieb war die Höhe des betrieblichen Lohn- und Prämienfonds bereits durch die SED festgelegt. Betriebsleiter und BGL bestätigten im BKV nur ihren Willen, den Plan zu erfüllen, bzw. die Gewerkschaft versuchte 8 AGB, § 10,2. 9 Tribüne vom 17. Januar 1990. 10 Informationsblatt des Zentralvorstandes Transport- und Nachrichtenwesen, 5’89, S. 7.
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„gleichsam, den bereits erteilten ‚Planbefehl’ nachträglich in eine Willensentscheidung der Belegschaft umzusetzen, um die Anordnung von oben als Initiative von unten zu wiederholen.“11 Darüber hinaus sorgte das durch die SED kontrollierte Dreigestirn BGL, Betriebsparteileitung und Betriebsleiter dafür, dass es nicht zu Widersprüchen zwischen den verschieden Ebenen oder zu Eigenmächtigkeiten der Betriebe kommen konnte. Die BGLVorsitzenden waren in der Regel Parteimitglieder und in Personalunion Mitglied der betrieblichen Parteileitung. Die Aufgabe der BGL und des FDGB bestand nicht darin, die Beschäftigten gegen die Beschlüsse der Partei zu mobilisieren, sondern ihre Zustimmung für die Beschlüsse der Partei bzw. des Staates zu sichern. Sinn und Zweck der Prämie war nicht, im Interesse der Beschäftigten eine Lohnerhöhung zu erreichen, sondern im Interesse des Betriebs oder der Einrichtung, genauer der Planerfüllung, die Arbeitsleistung zu stimulieren. Für diesen Zusammenhang steht der Name des Bergmanns Adolf Hennecke, der die Norm um 387% „übererfüllte“. Der FDGB ließ sich auch hier für die Interessen des staatlichen Unternehmers missbrauchen: „Zur materiellen Stimulierung und Anerkennung hoher individueller und kollektiver Leistungen bei der Erfüllung und gezielten Überbietung der Volkswirtschaftspläne im sozialistischen Wettbewerb, vor allem bei der Intensivierung der Steigerung der Arbeitsproduktivität, der Erhöhung der Qualität und Effektivität der Arbeit, der Durchsetzung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts und der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, werden den Werktätigen Prämien aus dem Prämienfonds entsprechend den dafür geltenden Rechtsvorschriften gewährt.“12
Es gab eine Vielzahl von Prämien: auftragsgebundene Prämien, Initiativprämien und Zielprämien. Unter ihnen nahm die „Jahresendprämie“ einen herausragenden Stellenwert ein. Es gab auch attraktive individuelle Auszeichnungen wie z.B. „Verdienter Arzt des Volkes.“ Der so Geehrte erhielt noch im Frühjahr 1990 eine Prämie von immerhin 7.000 Mark. Diese Zahlungen wurden, da der Prämienfonds vorgegeben war, nicht als Ergebnis gewerkschaftlichen Handelns erkannt und anerkannt. Die Festlegung der Tarife durch RKV und BKV stand im Schatten eines verordneten jährlichen Großereignisses, der Diskussion über die Volkswirtschaftspläne. Hier wurden die Kennziffern festgelegt, die u.a. auch über die Höhe des Lohnfonds bis hinunter zu den einzelnen Betrieben und Einrichtungen entschieden. Aufgabe des FDGB war es, diese Diskussion zu organisieren. Tausende Versammlungen fanden statt, noch mehr Vorschläge wurden gemacht. Es sollte der Eindruck einer demokratischen Mitwirkung entstehen. Die Logik einer zentralen Planwirtschaft, einer Kommandowirtschaft, wie sie von der SED selbst seit Oktober bezeichnet wurde, folgte jedoch anderen Kriterien. Die Plandiskussion an der Basis, in den Betrieben, war ein Ritual. Frustration bei Mitgliedern, aber auch bei den Funktionären, die dieses Ritual befolgen mussten, war – auch wenn sie es durchschauten und nicht ernst nahmen – unvermeidlich: „Die Plandiskussionen, die gemacht wurden, gingen ja immer direkt über die Bezirke, und da wurde gesagt, die Lohnentwicklung geht nicht. Es gab erhebliche Unruhe, weil es große Differenzen in einem Großbetrieb gab bei der Bezahlung. Solche Dinge wurden diskutiert. Kann 11 Hartmut Zimmermann, Der FDGB als Massenorganisation und seine Aufgaben bei der Erfüllung der betrieblichen Wirtschaftspläne, in: Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, hrsg. von Peter Christian Ludz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 8, Köln 1964, S. 130. 12 AGB, § 116,1.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess man da was unternehmen, können wir als Gewerkschaften was tun? Wir mussten in den BGLen – theoretisch zumindest – diesen Plan unterschreiben. Wir haben als Rostocker in der Vergangenheit, in den letzten zwei Jahren, `87 und `88, dem Plan nicht zugestimmt. Da gab es auf der Parteiebene viel Ärger. Es hat nichts bewirkt, das muss man eindeutig sagen. Ob die Unterschrift darunter war oder nicht, es wurde sowieso anders gemacht, aber zumindest war dieses demokratische Mäntelchen nicht mehr da.“13
Gleichwohl scheint die Betriebsebene noch am ehesten der Ort gewesen zu sein, an dem gewerkschaftliches Engagement im Interesse der Beschäftigten möglich war. Besonders bei kleineren Konflikten im betrieblichen Alltag, bei ungerecht empfundener Behandlung durch den Vorgesetzten, bei Einstufung, Prämien, Zulagen, Urlaub, Freistellung und der Zuteilung von Ferienplätzen dienten die Vertreter des FDGB auf betrieblicher Ebene als Ansprechpartner. Viele der meist ehrenamtlichen FDGB-Funktionäre versuchten. sich in den dafür vorgesehenen „Konfliktkommissionen“ um die Belange der Beschäftigten zu kümmern.
Gewerkschaft als Feriendienst Betrachtet man nur die Hilfsfunktionen des FDGB für die SED und seine beschränkte Funktion als Gewerkschaft, dann bleibt unerklärlich, warum über Jahrzehnte hinweg knapp 100% der abhängig Beschäftigten Mitglieder in dieser Organisation waren. Nachvollziehbar wird dies erst, wenn man seine drei anderen Hauptfunktionen beachtet: Der FDGB verwaltete die Sozialversicherung, d.h. er konnte bei der Vergabe von Kurplätzen mitreden, er hatte die Bewilligungskompetenz bei Heil- und Hilfsmitteln, und er betätigte sich als Wohnungsvermittlung. Vor allem aber war er das Monopolreiseunternehmen der DDR und Besitzer der Ferienheime. Ein Ferienplatz war gerade nach dem Bau der Mauer ein besonders wertvolles und knapp bemessenes Gut. Um überhaupt die Chance auf einen Ferienplatz zu bekommen, war die Mitgliedschaft im FDGB die Mindestvoraussetzung. Doch durch das nie ausreichend vorhandene Angebot gab es immer Ärger. Es war für viele eine zusätzliche Demütigung, für Urlaubsplätze in einem FDGB-Ferienheim anstehen zu müssen und dabei nicht einmal über das Wann und das Wohin mitentscheiden zu können. Umgekehrt war in der BGL der „Posten des Feriendienstes (...) ziemlich verpönt, weil die Nachfrage viel größer war als wir Plätze anbieten konnten. Damit hatte man, wie auch im Wohnungswesen, genauso viele Feinde wie Freunde. Einen Ferienplatz konnten wir vermitteln und zehn mussten wir ablehnen.“14
Hinzu kam das Wissen um die Privilegierung von einigen wenigen Glücklichen, die einen Auslandsferienplatz oder gar einen Platz auf einem Urlauberschiff wie der MS Arkona erhielten. Es war schon fast ein Akt des Aufbegehrens, wenn ein Beschäftigter sich beschwerte, zumal noch bei der Vorsitzenden einer Einzelgewerkschaft und Präsidiumsmitglied im FDGB-Bundesvorstand: „Sehr verehrte Kollegin Gerboth, Ich wende mich an Sie als unsere Vorsitzende der IG Gesundheitswesen der DDR mit der Bitte um Auskunft, was ich noch unternehmen könnte, um zu einem Auslandsaufenthalt für das nichtsozialistische Ausland oder Jugoslawien, Albanien, Mongolei, Korea, China etc. zu kommen. 13 Interview mit Karl-Heinz Biesold vom 17. September 1992, Dokumentation, S. 179. 14 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 278.
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Ich habe durch das Reisebüro im vorigen Jahr und auch in diesem Jahr nur Absagen bekommen. Die Wartezeit auf Reisen in die VR Mongolei, Korea etc. beträgt 8 Jahre, wobei ich schon 3 Jahre hinter mir habe. Auf der Warteliste der Ferienplätze für das nichtsozialistische Ausland beim Bezirksarzt war ich ebenfalls ein Stück nach vorn gerückt, in diesem Jahr lautete allerdings der Absagebrief lakonisch: „vom Minister habe ich keinerlei Auslandsferienplätze erhalten.“ (...) So lobenswert der zusätzliche Urlaub von 5 Tagen für mich ist, (...) weiß ich doch nicht recht, wie ich diesen ohne Datsche in der DDR verbringen soll. (...) Ich möchte Sie bitten, mir mitzuteilen, wie wir Ärzte der Peripherie (...) zu einem ausgesuchten Ferienplatz kommen können.“15
Trotz dieser unerfreulichen Begleiterscheinungen hatte der FDGB nicht als Gewerkschaft sondern in seiner Funktion als Reisebüro eine herausragende Bedeutung für die Menschen der DDR: „Ferienplätze, Betriebsferienlager und Feiern, Jubiläen und Veteranenbetreuung zählten häufig zu jenen gewerkschaftlichen Leistungen, die vorrangig Beachtung fanden. Wir haben uns damit als Gewerkschaft von einer Kampforganisation der Arbeiter und Angestellten zu einer Sozialhilfeorganisation der Werktätigen deformiert.“16
Der FDGB war keine formelle Zwangsorganisation, doch zur Entscheidung, ihm nicht beizutreten, gehörte offenkundig ein hohes Maß an Sensibilität, Mut und die Bereitschaft, sowohl materielle Verluste als auch Nachteile beim beruflichen Fortkommen in Kauf zu nehmen. In einer Mangelgesellschaft wohlfeil angebotene Vergünstigungen auszuschlagen, wollte gut überlegt sein. Mit einer solchen Haltung machte man sich verdächtig, da damit jene 97% beschämt wurden, die dem „gewerkschaftlichen Claqueur-Dienst“ (Schütt) für die SED, sei es aus Überzeugung oder mit zusammengebissenen Zähnen, nachkamen.
Gewerkschaft als zentralistische Einheitsorganisation Nach Kriegsende wurden die Gewerkschaften sowohl in den westlichen Besatzungszonen als auch in der sowjetischen Besatzungszone als Einheitsgewerkschaften aufgebaut. Der ideologische Streit unter den bis 1933 existierenden Richtungsgewerkschaften, den sozialdemokratischen, christlichen, liberalen und den 1929 gegründeten kommunistischen Gewerkschaften (RGO), war als eine Ursache für die katastrophale Niederlage im Nationalsozialismus erkannt worden. Der Kampf gegeneinander schien wichtiger als der gemeinsame Kampf gegen den Nationalsozialismus. Besonders verhängnisvoll war das Verhalten der Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten, die sie sogar vorrangig als „Hauptfeind“ und „Sozialfaschisten“ bekämpften.17 . Mit der Entscheidung für das Konzept Einheitsgewerkschaft glaubten viele Funktionäre, die das Dritte Reich überlebt hatten, eine Lehre aus der Niederlage zu ziehen. Die Entscheidung für die Einheitsgewerkschaft bedeutete im Kern eine Entscheidung für eine 15 Schreiben, Dr. med. U. Pfeiffer, Leiterin innere Abteilung, Betriebs-Poliklinik, Kombinat VEB Keramische Werke Hermsdorf an Kollegin Dr. med. Gerboth, Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen vom 24.04.89, SAPMO, DY41/750. 16 Joachim Wegrad, Bericht an die 8. ZDK der GÖD, 8./9. Juni 1990, SAPMO, DY 45/1635. 17 Vgl. Manfred Scharrer (Hg.), Kampflose Kapitulation. Arbeiterbewegung 1933. Reinbek 1984.
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parteipolitisch und weltanschaulich unabhängige Gewerkschaft. Die Transformation des FDGB in eine kommunistische Massenorganisation war das genaue Gegenteil. Der Begriff Einheitsgewerkschaft muss dabei von dem Begriff der Einheitsorganisation unterschieden werden. Letztere bezieht sich auf die Organisationsform, also auf die Frage des Verhältnisses von Dachverband zu den Einzelverbänden. Diese Organisationsfrage ist zunächst keine ideologische sondern eine Frage nach der besten Organisationsform, sei es im Sinne umfassender demokratischer Mitwirkung der Mitglieder oder im Sinne einer ergebnisorientierten Effizienz. Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der deutschen Facharbeitergewerkschaften entschied sich in der Frühphase der Gewerkschaften 1892 in Halberstadt für autonome, zentralistische Einzelverbände – sei es als Industrie- oder Berufsverband – und einen schwachen Dachverband.18 In den Westzonen knüpften die späteren DGB-Gewerkschaften daran an. Der FDGB in der sowjetischen Besatzungszone ging einen anderen Weg. Auch hier vollzog er einen radikalen Bruch mit der Tradition der freien (sozialdemokratischen) deutschen Gewerkschaften. Die vormals autonomen Einzelverbände wurden zu unselbständigen Fachabteilungen einer straff zentralistischen, alles bestimmenden Einheitsorganisation umgewandelt bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Fiktion von Einzelgewerkschaften. Dem Namen nach gab es weiter eine IG Metall, eine IG Transport- und Nachrichtenwesen, eine IG Bergbau-Energie, eine Gewerkschaft MSK und andere. Diese Scheinexistenz war jedoch eine von Gnaden der zentralistischen Einheitsorganisation FDGB. Der Organisationsbereich dieser Gliederungen und ihr Name wurden ebenfalls vom FDGB bestimmt. Die Einzelverbände hatten weder eine eigene Satzung noch waren sie finanziell selbständig. Die Finanzhoheit lag beim Dachverband. Die hauptamtlichen Funktionäre der Einzelgewerkschaften in Zentral-, Bezirks- oder Kreisvorständen waren Beschäftigte des FDGB. Die Spitzenfunktionäre der Einzelgewerkschaften waren in Personalunion auch Mitglied in den Gremien des FDGB. Z.B. waren alle ihre Vorsitzenden Mitglied im FDGB-Bundesvorstand (und in der SED). Die „Werktätigen“ wurden Mitglied im FDGB, zahlten den Mitgliedsbeitrag an den FDGB und wurden gleichzeitig formal einer Einzelgewerkschaft zugeordnet. Innerhalb der Bedeutungslosigkeit der Einzelgewerkschaften im FDGB gab es eine Hierarchie zwischen Industriegewerkschaften (IG) und Gewerkschaften (Gew). Die Industriegewerkschaften wie die IG Bergbau-Energie oder die IG Metall waren im kommunistischen Selbstverständnis „etwas Besseres“ im Vergleich zu den „bloßen“ Gewerkschaften wie z.B. die MSK oder Gesundheitswesen. Industrie hatte mit Produktion zu tun, und hier war in der marxistischen Theorie der magische Ort, wo bevorzugt Werte und Mehrwerte geschaffen wurden. Hier sollte sich die fleißige und allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit entfalten. Unabhängig von dieser Gewichtung bestimmte der FDGB bei allen Gewerkschaften auch über deren materielle und personelle Ausstattung. So wurde einigen Gewerkschaften eine eigene Zeitung, anderen nur ein Informationsblatt und wieder anderen überhaupt keine eigene Publikation zugestanden. Diese Publikationen waren „Organe“ der jeweiligen Zentralvorstände. Obwohl die inhaltliche Verantwortung formal bei den Zentralvorständen lag, war Herausgeber der Bundesvorstand des FDGB:
18 Vgl. Manfred Scharrer, Die Entstehung des freigewerkschaftlichen Dachverbandes, in: Die Entstehung des freigewerkschaftlichen Dachverbandes. Reprint des Protokolls der Verhandlungen des ersten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Halberstadt vom 14. bis 18. März 1892, Köln 1991.
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„Wir finanzierten das nicht, sondern das finanzierte alles der Bundesvorstand (des FDGB, M.S.), der druckte es auch, der genehmigte es auch, und wehe, es stand etwas Falsches drin.“19
Natürlich zierte das Emblem des FDGB die Titelseiten. Im Ganzen gesehen waren die Publikationen kaum mehr als dürftige Blättchen, die in der Regel nur acht Seiten stark waren und bestenfalls 14-tägig erschienen. Sie verbreiteten hauptsächlich Jubel über die Erfolge im sozialistischen Wettbewerb und berichteten über das kollektive und individuelle Auszeichnungswesen, dem ein erstaunlich ausdifferenziertes Ordens- bzw. Medaillensystem zugrunde lag. Es gab Ehrenbanner, Aktivistenabzeichen, eine Fritz-HeckertMedaille in Bronze, Gold und Silber, eine Hermann-Duncker-Medaille, einen „Verdienten Arzt des Volkes“, usw. Daneben nahmen die Verlautbarungen des Zentralvorstandes, die Reden seiner Vorstandsmitglieder und die Beschlüsse seiner Tagungen viel Raum ein. Teilweise gab es aber auch Informationen mit gewissem Gebrauchswert, wie beispielsweise Rechtsberatung zu Fragen der Anwendung des Arbeitsgesetzbuches und der Betriebskollektivverträge. Karl Kalauch, der Vorsitzende des Zentralvorstandes der IG Transport- und Nachrichtenwesen, meinte in seinem Abschiedsbrief, dass sein Informationsblatt von den BGLen „als hilfreich anerkannt“ worden sei. Gemessen am Inhalt scheint dies nicht sehr wahrscheinlich. Wer sich über die FDGB-Politik informierten wollte, las das zentrale Organ des FDGB, die Tribüne, die in Form einer Tageszeitung erschien. Es hatte einen ausführlichen Kultur- und Sportteil und kostete 15 Pfennige. 1979 wurde eine Auflage von 405.800 Exemplaren ausgewiesen. Selbst wenn man unterstellt, dass jedes Exemplar mehrere Leser hatte, so scheint das bei über 9,5 Millionen Mitgliedern eher gering. Nicht einmal alle 2,6 Millionen ehrenamtliche Funktionäre, vom Vertrauensmann bis zum BGL-Mitglied, dürften das „Organ des Bundesvorstandes“ gelesen haben.
Gewerkschaft als Partei Die SED beanspruchte, in der DDR eine „Diktatur des Proletariats“ auszuüben und gleichzeitig eine „Volksdemokratie“ verwirklicht zu haben. Sie glaubte, dass Letzteres auch einen institutionellen Ausdruck finden müsse. So gab es Volksvertretungen und Parlamente auf den unterschiedlichen Ebenen, angefangen bei der Gemeindevertretung bis hin zur Volkskammer. Hier ging es nicht um Entscheidungen, sondern um die Beschaffung einer formalen Legitimation von Beschlüssen, die die Partei an anderer Stelle bereits getroffen hatte. Zu diesen Parlamenten konnten Kandidaten unterschiedlicher Parteien und „gesellschaftlicher Organisationen“ gewählt werden. Zu den gesellschaftlichen Organisationen zählte auch der FDGB. In der Volkskammer, laut Verfassung das höchste staatliche Organ, stellte der FDGB 61 bzw. 68 Abgeordnete und bildete damit die zweitstärkste Fraktion. Insgesamt stellte der FDGB in den Volksvertretungen der DDR „weit über 30.000 Parlamentarier“.20 Diese waren in der Regel SED-Mitglieder und trugen mit dazu bei, dass die SED in den Parlamenten immer eine Mehrheit stellte, obwohl die Abgeordneten der Partei selbst nur ca. ein Drittel der Mandate innehatten.
19 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 370. 20 Ullrich Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), Opladen 1989, S. 327.
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Die FDGB-Abgeordneten bildeten keine selbständige Fraktion, sondern waren eingebunden in den „demokratischen Block“ innerhalb der „Nationalen Front“, dem Dachverband aller Parteien und gesellschaftlichen Organisationen – davon abgesehen, dass sie ohnehin der Parteidisziplin unterlagen. Zur Wahl stellten sich keine konkurrierenden Parteien oder Kandidaten, sondern „Einheitslisten“ der Nationalen Front. Es gab niemanden in der DDR, der nicht um die Bedeutungslosigkeit der Parlamente wusste.
FDGB-Gewerkschaften im Sommer 1989 Die im Sommer 1989 einsetzende Fluchtbewegung versuchten SED wie auch FDGB anfangs zu ignorieren. Folgt man den Gewerkschaftszeitungen, fieberten die Mitglieder zu dieser Zeit in freudiger Erregung den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR entgegen. Sie beteiligten sich in überwältigender Zahl an der Plandiskussion, eiferten im „sozialistischen Wettbewerb“ um Auszeichnungen, Medaillen und Prämien und waren dabei, die Planziele wieder einmal zu „erfüllen und überzuerfüllen“. Die bereits erzielten Erfolge der „Neuererbewegung“ samt der „Messe der Meister von Morgen“ (MMM) wurden angemessen gewürdigt. Sonderschichten zu Ehren des 40. Jahrestages der Gründung der DDR wurden besonders herausgestellt und die Lichtgestalt des FDGB Adolf Hennecke wie gewohnt beschworen. Während bereits Tausende die Flucht gen Westen antraten und die Westmedien ausführlich von dem Exodus berichteten, überschlugen sich in den Gewerkschaftszeitungen die Erfolgsmeldungen aus der sozialistischen Produktion. Längst hatte ihre Propaganda „Kurs auf den XII. Parteitag“ genommen, der für 1991 geplant war. Bis Anfang Oktober hätte man nur mit Blick in die Gewerkschaftszeitungen nicht vermutet, dass die Fundamente des Sowjetreiches im Allgemeinen und des SED-Staates im Besonderen bereits bedenklich schwankten. Auch die zunehmend größer werdenden Demonstrationen gegen die Diktatur der SED und für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nahm der FDGB in seinen Publikationen nicht zur Kenntnis. Für die Gewerkschaftsapparate ging alles weiter seinen gewohnten sozialistischen Gang: „1. Das Kernstück unserer gewerkschaftlichen Arbeit ist und bleibt die politisch-ideologische Arbeit mit unseren Mitgliedern. (...) 2. Im sozialistischen Wettbewerb gilt es, weitere wirksame Initiativen zur Erfüllung und Übererfüllung der Ziele des Plans 1989 zu entwickeln und somit stabile Voraussetzungen für einen guten Planablauf 1990 zu schaffen.“21
Sofern überhaupt auf die aktuellen Ereignisse Bezug genommen wurde, geschah dies entlang der vorgegebenen Parteilinie und offiziellen Sprachregelung: „Während aus der BRD ein wüstes Geschrei nach Reformierung und Demokratisierung der DDR zu uns herübertönte, waren wir gerade dabei, die Aufgabe des Planes 1990 in den Arbeitskollektiven als auch in aller Öffentlichkeit sachlich-kritisch zu beraten. Kollegen (...) unterbreiteten 40.733 Vorschläge. (...) Die sozialistische Demokratie setzt die politische Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln sowie die Durchsetzung des Prinzips des Demokratischen Zentralismus voraus. (...)
21 Auswertung der 10. Tagung des Zentralvorstandes der IG Transport- und Nachrichtenwesen vom 13.09.1989, (verfasst am 10.10.89, M.S.), SAPMO, DY 50/1300.
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„Alle Diskussionsredner verurteilten aufs Schärfste die Machenschaften der westlichen Massenmedien, die Angriffe des Klassengegners auf die DDR in Form gezielter, provokatorischer Abwerbung von Bürgern unseres Staates nach der BRD.“22
Oder: „Doch wir lassen uns unsere Erfolge nicht wegdiskutieren oder gar wegreformieren. Da möge ihnen gelingen, einige tausend Menschen mit verbrecherischen Mitteln und der Hilfe des Verrats von Dritten aus der Heimat wegzulocken. Es wird ihnen niemals aber gelingen, unsere sozialistische Heimat in die Knie zu zwingen. Davon zeugen die auf dieser Zentralvorstandssitzung abgerechneten Ergebnisse zum 40. Jahrestag der DDR. Davon zeugt auch die Entschlossenheit, jetzt erst recht unter dem Banner des Marxismus/Leninismus, unter Führung unserer Partei gewerkschaftliche Interessenvertretung zur Stärkung des Sozialismus durchzuführen.“23
Fast zeitgleich zu diesen Kommentaren musste die SED über 6.000 DDR-Bürger, die in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag Zuflucht gesucht hatten, mit Sonderzügen in die Bundesrepublik ausreisen lassen. Erich Honecker rief ihnen im SED-Zentralorgan zu: „Wir weinen euch keine Träne nach“. Je heftiger der DDR-Sozialismus und die Herrschaft der SED durch die Flüchtlinge und die Bürgerbewegung in Frage gestellt wurden, umso inniger wurden zunächst die Huldigungen der FDGB-Gewerkschaften an die Partei. Der Vorsitzende der IG Transport- und Nachrichtenwesen würdigte den Anteil der Gewerkschaften an der 40jährigen DDR mit den Worten: „Wir konnten das schaffen, (...) weil wir von Anfang an diesen Staat als unseren mit aufgebaut und ausgestaltet haben, als Staat der Arbeiter und Bauern und als Macht der Arbeiter und Bauern, zum ersten Mal und für immer auf deutschem Boden. Und weil wir mit unserer marxistisch-leninistischen Partei ein großes Glück hatten, zu jeder Zeit und an jedem Wendepunkt unserer 44jährigen Geschichte.“24
In ähnlichem Tenor waren alle Stellungnahmen des FDGB und der Vorstände der Einzelgewerkschaften gehalten. Dabei war es nicht so, dass die verantwortlichen Funktionäre nicht über die wahren Zustände in der DDR und die Gründe für die Fluchtbewegung informiert gewesen wären. Stellvertretend für andere Berichte sei hier die vertrauliche Information für Harry Tisch genannt: „Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass Kritiken und Forderungen zu Problemen, die nicht im eigenen Verantwortungsbereich lösbar sind, stärker und dringender werden. Das betrifft fehlende Investitionen, überalterte Technik, Mängel in der Bereitstellung von Materialien und Ersatzteilen sowie Lücken in der Versorgung der Bevölkerung. Verärgerung und Unverständnis gibt es vor allem auch deshalb, weil teilweise seit Jahren Versprechungen gemacht worden sind, die nicht eingehalten werden.“25
22 Referat der 9. Tagung des ZV zum Thema: „Die Ergebnisse der gewerkschaftlichen Mitgestaltung am Plan 1990 ...in Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED. (12.10.89, Ms = 49 Seiten, Referentin: Kollegin Dr. Christa Uebel, Sekretär für Sozialpolitik), SAPMO, 41/741. 23 Günther Wolf, Schlusswort, 12. Tagung des Zentralvorstandes der IG Bergbau-Energie, in: GLÜCK AUF, Nr. 18/89, 2. Oktober 1989. 24 Karl Kalauch, Schlusswort auf der 10. Tagung des Zentralvorstands der IG Transport- und Nachrichtenwesen, 13.09.1989, in: Informationsblatt des Zentralvorstandes Transport und Nachrichtenwesen, Nr. 11’89, S. 2. 25 Abteilung Organisation, Vertrauliche Information, 22.09.1989, zit. n.: Theo Pirker et al., Wende zum Ende. Auf dem Weg zu unabhängigen Gewerkschaften, Köln 1990, S. 123ff.
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Der Zusammenbruch des FDGB Am gleichen Tag – dem 11. September -, an dem Ungarn die Grenze öffnete, besuchte Harry Tisch den DGB in der Bundesrepublik. Auf der Pressekonferenz interessierte sich kein Journalist für gewerkschaftliche Fragen, sondern nur dafür, was Tisch zum Flüchtlingsstrom, vor allem junger DDR-Bürger, zu sagen hatte. Er wiederholte die Propagandaphrasen der SED, u.a., dass die Ursache für die Flucht die “Kampagne der BRD“ und dass „die Obhutspflicht aller Deutschen“, auf die sich die Bundesregierung immer berufe, nur ein „Getöse“ sei. Am 29. September wandten sich – ein bislang einmaliger Vorgang – 20 Gewerkschaftsmitglieder, Vertrauensleute und AGL-Funktionäre, in einem Offenen Brief an Harry Tisch und kritisierten ihn wegen seiner Äußerungen zu den Gründen für die Fluchtbewegung: „In Diskussionen ist eine nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise festzustellen, wie Presse, Rundfunk und Fernsehen tiefgreifende und die Werktätigen bewegende aktuelle politische Probleme abhandeln oder zum Teil verschweigen. Dabei wird in keiner Weise der Tatsache Rechnung getragen, dass es sich bei unseren Menschen um politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten handelt, die einen Anspruch auf objektive Informationen haben. Besonders krass kommt im Zusammenhang mit der legalen und illegalen Ausreise vieler unserer Mitbürger in die BRD zum Ausdruck, wie weit Realität und Propaganda voneinander entfernt sind. Inzwischen sind auch aus unseren Reihen schmerzliche Verluste zu beklagen. Verlassen haben uns Menschen, die in unseren Schulen eine sozialistische Erziehung erhielten und die in unserem Land eine gesicherte Existenzgrundlage hatten. Es trifft nicht im Entferntesten die Überzeugung und Empfindung der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen.“26
Wenige Tage zuvor war Erich Honecker aus einem langen Genesungsurlaub zurückgekehrt und hatte die Amtsgeschäfte wieder aufgenommen. Die wochenlange politische Lähmung der Partei schien nun ein Ende zur finden. Honecker erwies sich jedoch als unfähig, die Zeichen der Zeit zu verstehen. Seine Rede auf der Festveranstaltung am 7. Oktober war wohl der letzte Tropfen, der das Fass im engsten Kreis des Politbüros zum Überlaufen brachte. Krenz und Schabowski waren nun endgültig entschlossen, Honecker abzulösen. Harry Tisch schloss sich den Verschwörern im Politbüro an. Am 18. Oktober wurde Honecker abgesetzt. Egon Krenz wurde sein Nachfolger. Die neue Führung um Krenz versprach eine „Wende“ zu mehr Demokratie und Reformen. Dem konnte oder wollte sich auch der FDGB nicht länger verschließen. Wie die Partei versuchte auch er, den Dialog von oben zu organisieren. Harry Tisch mutierte zum Aufwiegler: „Jetzt gilt es in engem vertrauensvollen, überlegten, vernünftigen Dialog mit allen Werktätigen die vorhandenen Probleme zu erörtern, (...) Kritik muss geübt werden, wo Kritik notwendig ist. Kritik muss aber auch zur Kenntnis genommen werden. Widersprüche dürfen nicht zugedeckt, sie müssen in geeigneter Weise produktiv gemacht werden.“27
26 Offener Brief von Gewerkschaftsmitgliedern des VEB Bergmann-Borsig an den Vorsitzenden des FDGB Harry Tisch, Berlin, den 29.09.1989, in: „Wir sind das Volk“ – Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Charles Schüddekopf (Hg.), Reinbek 1990, S. 45f. 27 In: Tribüne vom 13. Oktober 1989.
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Tisch ging in die Betriebe, forderte mehr Eigenständigkeit für den FDGB, verkündete das Ende der schematischen Zusammenarbeit zwischen SED, Betriebsleitung und BGL und verlangte von den Funktionären, entschiedener für die Interessen ihrer Kollegen einzutreten. Dieser Versuch, sich an die Spitze der Reformer zu stellen, scheiterte jedoch gründlich. Doch die Schleuse der Kritik war geöffnet. Die Tribüne wurde von einer Flut von Leserzuschriften überrollt.28 Tisch wurde seine „Wende“ nicht abgenommen. Die Rücktrittsforderungen wurden immer lauter. Tisch stellte auf der Präsidiumssitzung des FDGB am 29. Oktober 1989 schließlich die Vertrauensfrage. Alle Präsidiumsmitglieder bis auf eine Ausnahme waren dafür, Harry Tisch im Amt zu halten. Sie lösten damit einen Proteststurm in den Betrieben aus. Schon zwei Tage später musste das Präsidium erneut zusammentreten, um dem Druck der Basis Rechnung zu tragen und den Rücktritt von Harry Tisch vom Vorsitz des FDGB zu akzeptieren. Die „Kaderfrage“, d.h. die Entscheidung über seine Nachfolge, hätte der alten Logik der Massenorganisation zufolge die SED durch das Sekretariat des ZK entscheiden müssen. Tatsächlich versuchten die zuständigen Genossen auch, dieses Procedere einzuhalten. Doch die Delegitimierung der alten Herrschaft und die mentale Zerrüttung ihrer Entscheidungsträger waren schon zu weit fortgeschritten.29 Schließlich musste das FDGB-Präsidium eigenständig entscheiden und wählte Annelies Kimmel aus der FDGBBezirksverwaltung Berlin zur neuen Vorsitzenden. Der FDGB geriet in den Sog des Zusammenbruchs der SED, deren willfähriges Instrument er über Jahrzehnte gewesen war. Völlig entwöhnt, eigenständig zu handeln, waren die führenden Funktionäre des FDGB ohne Weisung und Anleitung der SED hilflos. Die Organisation und ihre Repräsentanten hatten jegliches Vertrauen verspielt. Verständlicherweise klammerten sich die alten Funktionäre an ihre Organisation und ihren Arbeitsplatz. Ausgerechnet der Lehrkörper der zentralen Kaderschmiede des FDGB in Bernau, der jahrzehntelang die geistige Entwaffnung der Gewerkschaften in der DDR betrieben hatte, fand als erster die Sprache wieder. Er besann sich auf einen Grundsatz, der offensichtlich bislang unbemerkt in der Verfassung der DDR gestanden hatte: „Die Gewerkschaften sind unabhängig. Niemand darf sie in ihrer Tätigkeit einschränken.“ Die Dozenten behaupteten nun, es gehe „um die Rettung und Bewahrung der Einheitsgewerkschaften als wirkliche Interessenvertreter der Werktätigen.“ Sie wollten „Schluss machen mit dem rapiden Autoritätsverfall“ und sprachen sich für die Erweiterung der Rechte der Einzelgewerkschaften aus, „insbesondere in der Tarif- und Sozialpolitik“. Der FDGB solle „größere Entscheidungsbefugnisse“ bekommen, damit „das Kompetenzprinzip“ durchgesetzt werden könne – was immer damit gemeint war. Die spezielle Vereinnahmung des FDGB für das scheinparlamentarische Leben der DDR wurde nicht in Frage gestellt, sondern nur vorsichtig und indirekt kritisiert. Man forderte lediglich, dass die FDGB-Abgeordneten in den Parlamenten selbständig werden sollten. Der FDGB als Massenorganisation wurde indes an keiner Stelle grundsätzlich in Frage gestellt. Auch der erneuerte FDGB sollte unverdrossen weiter „auf dem Boden des gesellschaftlichen Eigentums“ stehen und „sich eng mit der Partei der Arbeiterklasse verbunden (fühlen).“30 28 Vgl. Günter Simon, Tischzeiten. Aus den Notizen eines Chefredakteurs, 1981 bis 1989, Berlin 1990, S. 129ff. 29 Vgl. Rainer Weinert/Franz-Otto Gilles, Der Zusammenbruch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Opladen 1999, S. 63. 30 Diskussionspapier der Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“, in: Tribüne vom 1. November 1989.
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Letzteres könnte als ein vorsichtiges Abrücken von der führenden Rolle der Partei gedeutet werden, denn die Führungsrolle der Partei zu akzeptieren bedeutet etwas anderes, als sich ihr nur verbunden zu fühlen. Annelies Kimmel machte sich die Vorschläge der Dozenten aus der FDGBHochschule zu eigen, besonders die der Stärkung der Eigenständigkeit der Einzelgewerkschaften, und versuchte damit den FDGB zu retten. Jedoch hinkte dieser Versuch der wirklichen Entwicklung schon weit hinterher. Während der FDGB begann, strukturelle Reformen zu diskutieren, wurde sukzessive das Ausmaß an Korruption und Selbstherrlichkeit der SED- und FDGB-Spitzenfunktionäre bekannt. Die moralische Empörung schlug hohe Wellen und drängte inhaltliche Reformbemühungen in den Hintergrund. Das Jagdrevier von Harry Tisch, die Ausstattung einer komfortablen Jagdhütte, exklusive Gästehäuser, eine Devisenkasse in Millionenhöhe zur ausschließlichen Verfügung von Tisch und besonders die Spende von 100 Millionen Mark des FDGB für die PfingstJubelfeier der FDJ bewegten die Gemüter. Letzteres vor allem deshalb, weil das Geld aus dem Solidaritätsfonds des FDGB für „in Not geratene Völker“ zweckentfremdet worden war. Es handelte sich dabei um Spenden von Mitgliedern. Nicht nur Harry Tisch, sondern der gesamte Bundesvorstand war in Korruption und Amtsmissbrauch verwickelt. Es hagelte Proteste. Mitglieder begannen reihenweise auszutreten oder die Beitragszahlungen einzustellen. Der FDGB als Institution war kaum mehr zu retten. Kimmel und der gesamte Bundesvorstand traten am 10. Dezember geschlossen zurück. Annelies Kimmel erkannte jetzt drei Ursachen, die zur „schlimmen Situation“ für den FDGB führten: „1. Der bisherige Führungsstil im FDGB, angefangen bei der kritiklosen Übernahme der Politik der Partei und der damit verbundenen Aufgabe der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Gewerkschaften. Ein Führungsstil, der die Wirksamkeit und Rolle der IG/Gew. auf ein niedriges Niveau brachte und den Dirigismus von oben, der glaubte, alles reglementieren zu können. 2. Fragen der Moral – die mit Aufdeckung der Tatsachen, ja sogar Verbrechen, scheibchenweise ans Tageslicht kamen (... ) 3. Wir waren vor sechs Wochen angeteten zur Erneuerung des FDGB (...) muß ich als Vorsitzendes feststellen, dass ich diese Erwartungen nicht erfüllt habe.“31
Zu diesem Zeitpunkt war der Führungsanspruch der Partei bereits von dieser selbst aufgegeben und schon aus der Verfassung der DDR gestrichen worden. Die Dreieinigkeit von Betriebsleiter, SED-Betriebsorganisation und BGL war zerbrochen. In den Zentralvorständen, den BGL und bei den Mitgliedern war offensichtlich die Meinung entstanden, die Gewerkschaftsbewegung könnte in der DDR nur noch gerettet werden, wenn autonome Einzelgewerkschaften an die Stelle des FDGB treten würden. Allenfalls ein schwacher Dachverband sei noch denkbar. Die 12. Tagung des Bundesvorstandes am 10. Dezember 1989 war auch das Ende des alten FDGB. Der entscheidende Beschluss lautete: „Eine grundlegende Schlussfolgerung besteht darin, dass beschlossen ist, den IG/Gew. künftig die Finanzhoheit zu übertragen (...).“32
Gemäß der Verfassung des FDGB konnte eine solche Entscheidung jedoch nicht durch den Bundesvorstand allein getroffen werden. Es bedurfte eines außerordentlichen FDGBKongresses, um die grundlegenden Entscheidungen zu bestätigen. Zu diesem Zwecke 31 Zit. n. Theo Pirker et al., Wende zum Ende, a.a.O., S. 35. 32 Tribüne vom 11. Dezember 1989.
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wurde auf der Bundesvorstandssitzung ein Vorbereitungskomitee aus 33 Mitgliedern gegründet. Die Einzelgewerkschaften waren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend sich selbst überlassen – lässt man die nach wie vor bestehende finanzielle Abhängigkeit vom FDGB-Apparat unberücksichtigt. Der FDGB war am Ende. Es rührte sich keine Hand, die diese Art von Gewerkschaft verteidigt hätte. Der außerordentliche FDGB-Kongress versammelte sich Ende Januar 1990 noch einmal in alter Pracht mit 2.100 Delegierten, um den Schritt von einer kommunistischen Massen- und zentralistischen Einheitsorganisation zu einem Dachverband freier, autonomer Einzelgewerkschaften zu beschließen. Gleichzeitig wurde jedoch deutlich, dass überwiegend bewährte Funktionäre der zweiten Reihe in die freigewordenen Spitzenfunktionen des FDGB und der Einzelgewerkschaften drängten: „Bis auf ein Mitglied des neuen gewählten Vorstandes haben alle Mitglieder bislang eine ‚normale Funktionärslaufbahn’ durchlaufen, das heißt, dass sie bereits früher höhere Funktionärsposten im FDGB innehatten und der SED angehörten. Dagegen sind Kandidaten durchgefallen, die z.B. vorher unter das Berufsverbot gefallen waren.“33
Dies konnte kein neues Vertrauen begründen. Es beschleunigte lediglich den Vertrauensverlust der alt/neuen Organisationen in den Reihen der eigenen Mitglieder und bei den DGB-Gewerkschaften im Westen. Die Sensation des Kongresses kam von außen: „Das größte Ereignis auf dem Kongress war die Verlesung von Modrows Telegramm Deutschland einig Vaterland.“34 Was die Strategen des Kongresses zu beschließen gedachten war getragen von der Gewissheit, dass die DDR trotz aller aktuellen Turbulenzen doch weiter als ein selbständiger Staat existieren würde, sei es in einer Vertragsgemeinschaft, sei es in einer Konföderation. Das Modrow-Bekenntnis veränderte die Situation schlagartig. So schnell konnten oder wollten die FDGB-Funktionäre indes nicht umdenken. „Der Modrow-Brief wurde verlesen, weil man erwartete, dass Empörung aus dem Saal kommt. Doch es kam Beifall.“35 Die Kongressregie hatte die Stimmung der Delegierten gründlich verkannt. Doch war man zu verblüfft, um sich auf die neue Lage noch einstellen zu können. In den Augen der Funktionäre war der wichtigste Beschluss des Kongresses neben der Verabschiedung der Finanzhoheit der nunmehr autonomen Einzelgewerkschaften die Verabschiedung des Entwurfes eines Gewerkschaftsgesetzes, in dem das Recht auf Streik und sogar Generalstreik bei gleichzeitigem Aussperrungsverbot (ein lang gehegter Wunsch der bundesrepublikanischen Gewerkschaften), das Recht, Gesetze vorzuschlagen und ein Vetorecht gegenüber der Volkskammer sowie weitere Privilegien festgeschrieben waren. Das alles sollte sich auf die bisherige Struktur der BGL und der betrieblichen Grundorganisationen stützen. Damit wollten sie verloren gegangenes Vertrauen bei den Mitgliedern wieder herstellen. Die Funktionäre wollten demonstrieren, zu welcher Machtentfaltung der FDGB in neuer Form von autonomen Einzelgewerkschaften in der Lage war. „Es war der Höhepunkt des Kongresses, das Konstruktivste, das er zustande gebracht hat.“36
33 Werner Milert (Bericht über den Kongress des FDGB, M.S.), Protokoll der Arbeitsgruppensitzung zur deutschlandpolitischen Situation mit den Beauftragten der Gewerkschaften am 16.02.1990 in Düsseldorf, DGB-Bundesvorstandsverwaltung, Düsseldorf den 20.02.1990, SMS. 34 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 284. 35 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 378. 36 Ebd., S. 377.
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Doch dieser Beschluss bewirkte das Gegenteil. Es entstand der Eindruck, der FDGB wolle die SED um einen letzten Liebesdienst bitten, nämlich das Gesetz noch kurz vor den ersten freien Wahlen zu verabschieden, was dann auch geschah. Das Misstrauen, vor allem bei demokratietheoretisch wachen Gewerkschaftern in der Bundesrepublik, wurde dadurch erheblich verstärkt. Doch es gab auch viele West-Gewerkschafter, die das Gewerkschaftsgesetz der DDR gar nicht so bedenklich fanden, da es maximale Mitbestimmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten „bei allen Fragen des betrieblichen Reproduktionsprozesses“ enthielt. In Verbindung mit dem Arbeitsgesetzbuch und einer geänderten Verfassung der DDR, zu der der FDGB-Kongress ebenfalls Vorschläge verabschiedete, hätte das eine weltweit einmalige Machtkonzentration (Vetorecht gegen Gesetze) für einen gewerkschaftlichen Interessenverband geschaffen, die mit den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik 40 Jahre lang praktiziert worden war, und wie sie die große Mehrheit der DDR-Bürger anzustreben begann, unverträglich war. Zum Zeitpunkt, als der FDGB-Kongress tagte, hatte die SED bereits eingestanden, dass nicht nur ihr politisches System verfehlt war, sondern auch ihr sozialistisches Eigentums- und Wirtschaftssystem. Sie hatte sich vom System der zentralen Planwirtschaft verabschiedet. Sie wollte Privateigentum an Produktionsmitteln wieder zulassen und ausländisches Kapital einladen, in der DDR zu investieren. Das Zauberwort der Zeit war „Joint Venture“. Die SED leitete den Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung selbst ein. Sie wollte keine kommunistische Partei mehr sein, sondern nur noch Partei des demokratischen Sozialismus. Gewerkschaften als Massenorganisation im Dienste einer kommunistischen Partei wurden nicht mehr gebraucht. Vielmehr benötigten die Menschen der DDR Gewerkschaften, die fähig waren, kompetent die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern zu vertreten. Die nun wieder selbständigen Einzelverbände des FDGB wollten sich selbst in solche Interessenverbände transformieren. Die Chancen dafür standen schlecht. Ihre Funktionäre waren nie in die Verlegenheit gekommen, selbständig Tarifverhandlungen zu führen, und ihre Organisationen sahen keine Struktur für eine wirklich demokratische Mitwirkung der Mitglieder vor.
3. Autonome FDGB-Einzelgewerkschaften Während in den Jahrzehnten zuvor scheinbar keinerlei Zweifel an dem FDGB und seinen verschiedenen Funktionen im Herrschaftssystem der SED bestanden hatten, waren sich nun plötzlich alle einig, dass der FDGB bislang überhaupt keine Gewerkschaft gewesen sei. Diese Einsicht manifestierte sich im rasanten Tempo von nur wenigen Wochen. Angefangen von den obersten Funktionsträgern bis hinunter zu den Betriebsgewerkschaftsorganisationen (BGO) distanzierten sich ausnahmslos alle vom FDGB und seiner 44jährigen Geschichte. Im Lichte dieser veränderten Wahrnehmung beschlossen die eigenen Funktionäre, vornehmlich aus der zweiten und dritten Reihe, den FDGB zu zerschlagen, um nunmehr „wirkliche“ Gewerkschaften aufzubauen. Wie selbstverständlich griffen sie dabei auf das Prinzip der autonomen Einzelgewerkschaft zurück, für das historische Erfahrungen vorlagen und das sich in der Bundesrepublik als äußerst erfolgreich bewährt hatte. Diese Selbstverständlichkeit ist erstaunlich. Für eine kommunistische Gewerkschaft wie den FDGB hätte es eher nahe gelegen, sich kommunistische Richtungsgewerkschaften wie die CGT in Frankreich zum Vorbild zu nehmen und als Richtungsgewerkschaft der SED/PDS in einer demokratischen Gesellschaft den Wettbewerb mit freien Gewerkschaften aufzunehmen. Doch davon war nirgends die Rede. Motor dieser Transformation des FDGB waren die Funktionäre der bislang nur als Fachabteilungen vorhandenen Einzelgewerkschaften. Am Beispiel der drei für den Organisationsbereich der ÖTV wichtigsten FDGB-Gewerkschaften: Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK), Gewerkschaft Gesundheitswesen und der IG Transport- und Nachrichtenwesen sowie teilweise der IG Bergbau-Energie soll exemplarisch gezeigt werden, wie es zum Aufbau der autonomen Einzelgewerkschaften kam. Die Anfänge dieses Prozesses liegen dabei schon vor der Bundesvorstandssitzung des FDGB vom 10. Dezember.
Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK) Auf ihrer Vorstandstagung am 18. September 1989 war die Welt für die MSK noch weitgehend in bester sozialistischer Ordnung, zumindest nach außen hin. Der langjährige Vorsitzende Rolf Hößelbarth kam in seinem Schlusswort auf die aktuelle Fluchtbewegung von Bürgern aus der DDR lediglich in verklausulierter Form zu sprechen: „Erstes und wichtigstes Anliegen aller gewerkschaftlichen Leitungen und Vorstände muss es sein, in einer politisch so bewegten Zeit, wo in der internationalen Klassenauseinandersetzung der Kampf um die Köpfe der Menschen an Schärfe gewinnt, die politisch–ideologische Arbeit noch eindringlicher zu gestalten und jederzeit über die Stimmungen und Meinungen der Mitglieder im Bilde zu ein.“1
Einen konkreten Handlungsbedarf konnte er nicht erkennen, musste er auch nicht, denn ein eigenständiges Handeln seiner Gewerkschaft war im FDGB-System nicht vorgesehen. 1
Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, 10’89, S. 1.
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Hößelbarth wollte daher zunächst nur verstärkt das Augenmerk auf die „Stimmungen und Meinungen“ der Mitglieder richten. Dies wirkte in einer Situation, in der Handeln erwartet und gefordert wurde, ausgesprochen hilflos. Hößelbarth wollte die Zeit überbrücken, bis die SED und der FDGB-Bundesvorstand Direktiven erließen.
Berichtswesen Berichte über „Stimmungen und Meinungen“ der Mitglieder zu verfassen war eine Hauptaufgabe des gesamten FDGB. Sie war systematisch und aufwändig organisiert, aufsteigend von den Berichten der Vertrauensleute aus den Grundorganisationen über die BGL, Kreis- und Bezirksvorstände, Zentralvorstände der Einzelgewerkschaften bis hin zum Bundesvorstand des FDGB. Hier wurden sie dann zusammengeführt und für höhere Zwecke an das zuständige Sekretariat beim ZK der SED weitergeleitet. Besonderes Augenmerk wurde auf das ideologisch-politische Befinden gerichtet. Diese Berichte strotzten jahrelang von vorgegebenen Propagandafloskeln und rituellen Erfolgsmeldungen. Die SED und der FDGB hatten sich eine Scheinwelt aufgebaut, ein Sprachgefängnis aus Stereotypen und vorgestanzten Formeln. In dieser Welt stürmte die DDR-Volkswirtschaft in Einheit mit der sozialistischen Sozialpolitik von einem Gipfel des Erfolgs zum anderen und die „Werktätigen“ standen unverbrüchlich fest an der Seite der SED. Es konnte keine Rede davon sein, dass diese Berichte darüber informierten, was die Mitglieder tatsächlich dachten. Vielleicht ist die Sprachlosigkeit der SED zu Beginn der Wendezeit auch damit zu erklären, dass sie ihrer eigenen Propaganda geglaubt hatte und vom Aufstand gegen ihre Herrschaft deshalb völlig überrascht wurde. Diese Berichte änderten sich bereits vor dem Herbst 1989. Zunehmend begannen realistische Beschreibungen über die katastrophalen Zustände der Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Beschäftigten in die Berichterstattung einzufließen. FDGB-, SED- und StasiFührung waren im Herbst 1989 mithin gut über die Probleme in den Betrieben und Einrichtungen unterrichtet. Doch da war es bereits zu spät, um noch reagieren zu können. Die SED zog es vor, die Wirklichkeit zu leugnen. In ihren Medien, in der Kommunikation nach außen kamen diese Informationen über Mangel, Zerfall, Rückständigkeit und politische Verzweiflung ohnehin nicht vor. Dieses Verleugnen der Wirklichkeit zeichnet auch die Berichterstattung und Kommentierung in den Zeitungen des FDGB aus. In den internen Berichten der Gewerkschaften wie auch der MSK lässt sich das Umschlagen von Propaganda in wirkliche Information gut nachvollziehen. Zunächst versuchten die Funktionäre der MSK noch, sowohl den Huldigungsritualen gegenüber der Partei als auch der zunehmend kritischer werdenden Stimmung ihrer Mitglieder zu genügen. So ist dem Bericht für das zweite Quartal 1989 zu entnehmen, dass die Kollegen kein Verständnis für den „Verzicht der USAP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, M.S.) auf die Macht“ hätten und auch „der Regierungsbildung in der VR Polen“ generell skeptisch gegenüber stünden. Die Entwicklung in der Sowjetunion sähen sie bei aller grundsätzlichen Zustimmung kritisch. Vor allem fragten sie sich, ob nicht „Perestroika und Glasnost die Ursache für die Unruhen in einigen Nationalitäten sind oder ob die Partei und Staatsführung der UdSSR die Lage auf die Dauer noch beherrschen kann.“ Ganz im Sinne der Parteilinie waren Teile der überlieferten Stellungnahmen zur Fluchtbewegung abgefasst. Die Berichterstatter behaupteten, dass „die Mehrheit der Werktätigen“ darin verantwortungsloses Handeln sehe und empört darüber sei, dass fast ausschließlich junge Leute fliehten. Gleichzeitig verbanden die Berichterstatter ihre Aus-
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sagen aber auch mit Formulierungen, die eine mehr oder weniger deutliche Kritik an die Adresse der SED enthielten: „Die durch die BRD-Medien entfachte Kampagne gegen die DDR verunsichert viele Kollegen und fördert besonders bei auftretenden Versorgungsproblemen bzw. unkontinuierlichen Produktionsabläufen Unzufriedenheit, vor allem im Bereich der Gebäudewirtschaft und örtlichen Versorgungswirtschaft. Gleichzeitig wird unsere Medienpolitik, Informationsniveau scharf kritisiert. Die Messeberichterstattung sei stereotyp und ginge am Leben vorbei.“2
Der Abschlussbericht für das 3. Quartal war bereits geprägt von den Unübersichtlichkeiten der politischen Entwicklung. Die FDGB-Funktionäre wollten sich noch loyal gegenüber der Partei verhalten, konnten sich einer offiziellen Parteilinie jedoch nicht mehr sicher sein. So hielten sie teilweise an alten Positionen fest und schlossen sich gleichzeitig aktueller Kritik aus den Reihen der SED an. Der MSK-Bericht sprach davon, dass nunmehr „das massenhafte illegale Verlassen von Bürgern der DDR über die UVR und ihr widerrechtlicher Aufenthalt in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau“ zum „übergreifenden Diskussionsgegenstand“ geworden sei. Dabei würden die Mitglieder der MSK keinerlei Verständnis für die „Republikflüchtlinge“ zeigen und sogar das zu lasche Verhalten der Partei und der Regierung kritisieren. So werde die zugesicherte „Straffreiheit“ für die Botschaftsbesetzer „nicht verstanden“ und ihr Transport mit der Reichsbahn in die Bundesrepublik „nicht gebilligt“. Das „zeitweilige Aussetzen des pass- und visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der CSSR“ werde „mit Bedauern für notwendig gehalten,“ habe es doch geplante Ferienreisen platzen lassen. In diesem Zusammenhang sei es zu Äußerungen gekommen wie: „Nun kommen wir uns vor wie in einem Gefängnis.“ Zwar seien sie gegen die „Schaffung von oppositionellen Gruppen und Parteien“, jedoch riefe das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die „inszenierten Provokationen“ zum 40. Jahrestag Empörung, „Betroffenheit, mitunter auch Angst“ hervor. Im Widerspruch dazu wurde dann wieder betont, dass, bis auf wenige Ausnahmen, die Meinung vertreten werde: „Auf einen groben Klotz gehört eine grober Keil.“ Die Medienpolitik, ihre Aktualität und ihr Informationsniveau wie „z.B. auch die fehlenden Informationen zum Neuen Forum“ würden bemängelt. Die Reaktion auf das Bekanntwerden der Korruption von Spitzenfunktionären findet sich in folgender Formulierung: „Mit wachsender Schärfe wird jedoch subjektives Verhalten von Staats- und Wirtschaftsfunktionären, besonders im Zusammenhang mit der Diskussion zum Plan 1990 sowie der Materialund Versorgungsfrage kritisiert.“3
Das ist noch keine grundsätzliche Kritik, sondern folgt der Linie der Partei, die Misere zu personalisieren und zu hoffen, mit dem Austausch von Personen ließe sich die Entwicklung wieder beruhigen. Das Vorstandssekretariat der MSK reagierte auf die sich dramatisch verändernde Situation und vor allem auf das zunehmend furchtlose Verhalten der Menschen der DDR gegenüber dem SED-Regime in gewohnter Weise: Das Berichtswesen sollte noch weiter ausgebaut werden. Dem Vorsitzenden waren ab sofort zweimal wöchentlich (dienstags 2
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Vorlage für das Sekretariat vom 7.09.1989, Betreff: Schriftliche Einschätzung der inhaltlichen Gestaltung und Teilnahme an den gewerkschaftlichen Mitgliederversammlungen im 2. Quartal 1989 sowie der Realisierung der Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Mitglieder, Ms., SAPMO, DY 45/1660. Vorlage für das Sekretariat vom 12.10.1989, Betreff: Schriftliche Einschätzung der inhaltlichen Gestaltung des gewerkschaftlichen Mitgliederlebens im III. Quartal 1989, Abt.: Org./Kader, SAPMO, DY 45/1586.
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und donnerstags) „tendenzielle Kurzinformationen über Stimmungen und Meinungen im Organisationsbereich zu übergeben.“4 Zu diesem Zeitpunkt gingen andere Gewerkschaften schon den umgekehrten Weg und schafften das Berichtswesen ab.5 Ob bei der MSK der Beschluss einer intensiveren Berichterstattung noch umgesetzt werden konnte, scheint fraglich. Bereits drei Wochen später wies der neue FDGB-Bundesvorstand, der immer noch weisungsbefugt gegenüber den Einzelgewerkschaften war, die generelle Abschaffung des Berichtswesens an: „Deshalb entfallen ab sofort alle schriftlichen Berichte und Statistiken aus den gewerkschaftlichen Grundorganisationen an die übergeordneten Leitung:“6 Damit war der FDGBZentrale das Informationsmonopol „als Basis ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit“ entzogen worden.7 In der Entscheidung des FDGB-Bundesvorstands drückt sich die Einsicht aus, dass das Berichtswesen nur innerhalb der Aufgabenstellung einer kommunistischen Massenorganisation sinnvoll war. Sie ist ein weiteres Indiz für den Grad der Zerrüttung der SEDHerrschaft und das Streben von Einzelgewerkschaften nach Selbständigkeit.
Auflehnung im Vorstandssekretariat Nicht nur die Bürger der DDR und die Mitglieder des FDGB verloren die Scheu, zu äußern, was sie dachten. Auch die hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre wurden mutiger. In früheren Jahren verliefen die Plandiskussionen stets wie folgt: „Der Abteilungsleiter legte die Kennziffern dar, die Arbeiter schimpften und sagten, das geht nicht, weil wir dies und jenes nicht haben – was meistens auch stimmte, dann ging das Ergebnis zum Ministerium und heraus kam ein höherer Plan. (...) man schimpfte zwar, aber man sagte, ich kann sowieso nichts ändern.“8
Dies hatte sich im Herbst 1989 geändert. Einige Belegschaften verweigerten die Zustimmung zu den erhöhten Planvorgaben. Dies wiederum ermutigte das Vorstandssekretariat der MSK seinerseits, im September 1989 eine gar nicht schönfärberische, kritische Stellungnahme zu verfassen: „Wir weisen erneut nachdrücklich darauf hin, dass Probleme zur Materialbereitstellung, zu Ersatzteilen, technischen Ausrüstungen und Fahrzeugen, zur Bereitstellung von DK und VK sowie zur Sicherung des Arbeitskräftebedarfs weiter zugenommen haben und die Werktätigen dafür kein Verständnis mehr aufbringen. Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Werktätigen einiger Betriebe und Kollektive (z.B. Stadtwirtschaft Rostock, Bestattungs- und Friedhofswesen Leipzig, Schuhmacher des DLK Frankfurt) der geplanten Leistungssteigerung wegen fehlender materiell-technischer Voraussetzungen nicht ihre Zustimmung geben. (...) Ausgehend von den zunehmenden Kritiken unserer Werktätigen – vor allem der Textilreinigungs- und Stadtwirtschaftsbetriebe – zur seit Jahren notwendigen Modernisierung, Rekonstruktion und Neubau von Anlagen, Gebäuden und sozialen Einrichtungen, erwarten wir vom Ministerium (...), gegenüber der Staatlichen Plankommission darauf Einfluss zu nehmen, dass 4 5 6 7 8
Vorlage für das Sekretariat, 17.10.1989, SAPMO DY 45/1586. Vgl. Manfred Martin, 01.11.89, Erste Gedanken zur Neugestaltung der inhaltlichen Tätigkeit des ZV der IG Bergbau-Energie und seines Sekretariats, SAPMO DY 37/3374. Tribüne vom 06.11.1989. Vgl. Weinert/Gilles, a.a.O., S. 68. Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 373.
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die dem Planentwurf der Bezirke zugrunde liegenden Investitionen von 528,2 Mio. Mark in voller Höhe eingeordnet werden.“9 Der Vorstand stimmte dem Planentwurf „nur unter der Voraussetzung“ zu, „dass (...) die zur Sicherung der Versorgungsaufgaben notwendigen materiell-technischen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden.“10
Nach Lage der Dinge konnte das nur Ärger bedeuten: „Beim Bundesvorstand (FDGB, M.S.) ist es nicht sehr gut angekommen und es gab auch massiven Druck von der Partei. Es gab ja jeweils Abteilungen im Zentralkomitee, die für die Bereiche zuständig waren. Unsere war die Abteilung Leicht-, Lebensmittel- und bezirksgeleitete Industrie. Die hat von uns verlangt, die Stellungnahme im September ’89 zu ändern.“11
Doch im September, und vor allem im Oktober, war die Lage für den FDGB bzw. die SED schon dergestalt, dass sie ein solches Verlangen nicht mehr erzwingen konnte. Die Furcht vor ihren Sanktionsmöglichkeiten war auch in den Betrieben und in den Gewerkschaftsapparaten geschwunden, noch bevor die SED formell am 1. Dezember auf ihre „führende Rolle“ verzichtete. Diese unübliche Verweigerungshaltung des MSK-Vorstandes mag sich im Nachhinein wie ein Mosaiksteinchen in der Aufstandsbewegung gegen die SED-Diktatur ausnehmen, jedoch war es von den Funktionären der MSK sicherlich nicht so gemeint. Noch am 12. Oktober 1989 wurden folgende Parolen ausgegeben: „Die politisch-ideologischen Aufgaben der gewerkschaftlichen Vorstände und Leitungen zur Stärkung des Sozialismus und Sicherung des Friedens, für die Abwendung von Provokationen und konterrevolutionären Attacken, gegen die Einmischungsversuche und Hetzkampagnen der imperialistischen BRD und für neue Taten zur Stärkung unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht in unserer sozialistischen DDR.“12
Am 19. Oktober 1989 gratulierte das Sekretariat Egon Krenz zu seiner Wahl als Generalsekretär und versicherte, die MSK werde als „Kampfgefährte der Partei der Arbeiterklasse“ ihren „Beitrag zum XII. Parteitag der SED“ erbringen.13 Und im Informationsblatt des Zentralvorstandes wurden ganz im gewohnten Stil die nichts sagenden Erfolgsmeldungen verbreitet: „In 13195 Arbeitskollektiven, das sind 97,2% aller Kollektive unseres Organisationsbereiches, die die Plandiskussion durchzuführen hatten, fand die demokratische Beratung der Ziele und Aufgaben des Volkswirtschaftsplanes 1990 statt. 25,9% der Kollektivmitglieder meldeten sich zu Wort und unterbreiteten 22.562 Vorschläge.“14
Personelle Veränderung Mit dem Aufdecken von Privilegien, Korruption und Amtsmissbrauch unter den Spitzenfunktionären des FDGB gerieten auch die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften in die 9 Stellungnahme des ZV der MSK zum Entwurf des VWP 1990, Teil örtliche Versorgungswirtschaft, Vorlage für das Sekretariat des Zentralvorstandes, 11.09.1989. SAPMO, DY 4571660. 10 Ebd. 11 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 373f. 12 Vorlage des Sekretariats vom 12.10.1989, SAPMO, DY 45/1586. 13 Erklärung des Sekretariats des Zentralvorstandes der Gewerkschaft MSK zu den Beschlüssen der 9. Tagung des ZK der SED, 19.10.1989, SAPMO. DY/1586. 14 Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, 10’89, S. 2.
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Kritik, die ja vor allem als FDGB-Funktionäre wahrgenommen wurden und die in Personalunion auch Mitglieder des FDGB-Bundesvorstandes bzw. Präsidiums waren. Es war schwer vorstellbar und den Mitgliedern kaum zu vermitteln, dass diese Funktionäre, die überwiegend Jahrzehnte der SED und dem FDGB treu gedient hatten und deren Politik mit verantworten mussten, sich glaubhaft von der Geschichte distanzieren und eine Reform des FDGB durchführen konnten. Nicht nur beim FDGB-Bundesvorstand, sondern auch in allen Einzelverbänden wurden daher mehr oder weniger schnell personelle Konsequenzen gezogen. Man entschied sich, die Vorsitzenden und in wenigen Fällen sogar die gesamten Vorstände auszuwechseln. Rolf Hößelbarth, langjähriger Vorsitzender der MSK und Mitglied im Bundesvorstand und Präsidium des FDGB, war dem Wendegeschehen an der Spitze des FDGB sehr nahe, ohne sich als Reformer hervorzutun. Zur 12. Tagung des Zentralvorstandes der MSK am 27. November 1989 wurde er von der „GO (Grundorganisation, M.S.) des Rates des Kreises Hoyerswerda“ zum Rücktritt aufgefordert, ebenso wie sein Stellvertreter Klaus Umlauf. Dieser Antrag erhielt jedoch keine Zustimmung. Hößelbarths Autorität war indes erheblich angeschlagen. Insgesamt war der allgemeine Stimmungsumschwung zum Thema FDGB jedoch auch beim Zentralvorstand der MSK angekommen. Dieser forderte jetzt die “Eigenständigkeit der Gewerkschaften“ und eine „Stärkung der Basis“, während er die „Führung der Gewerkschaften durch die Partei der Arbeiterklasse“ nunmehr ablehnte.15 Hößelbarth schloss sich dieser Linie an.16 Dieser Stimmungsumschwung schlug sich indes noch nicht in der Personalpolitik nieder. Der MSK-Zentralvorstand weigerte sich zu diesem Zeitpunkt noch mehrheitlich, personelle Konsequenzen zu ziehen. Hößelbarth wurde trotz seiner geringen Reformverdienste und seiner angeschlagenen Autorität am 9. Dezember in das Vorbereitungskomitee für den außerordentlichen FDGB-Kongress Ende Januar gewählt. Diese Personalentscheidung – wie viele andere gleichgeartete – verstärkte den Eindruck bei den Mitgliedern und bei Außenstehenden, dass die alten FDGB-Funktionäre sich mit allen Mitteln an der Macht halten wollten, dass sie Wendehälse waren und dass eine wirkliche Reform des FDGB nicht stattfinden würde. Zu Personalentscheidungen gezwungen wurde der MSK-Vorstand schließlich durch den plötzlichen Tod des Vorsitzenden Hößelbarth am 16. Dezember 1989. Zwei Tage später fand eine außerordentliche Sekretariatsbesprechung statt. Hier kam es zu einer Auseinandersetzung über die kommissarische Nachfolge Hößelbarths und zu einer Kampfabstimmung zwischen dem bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden Klaus Umlauf und dem Sekretariatsmitglied und Vorsitzenden der Organisationsgliederung „Kreisvorstand Zentrale Staatsorgane“ Dr. Joachim Wegrad. Beide Kandidaten hatten die klassische Partei- und Gewerkschaftskarriere vorzuweisen. Mit 5 gegen 4 Stimmen bei 1 Enthaltung wurde Wegrad beauftragt, das Sekretariat zu führen. Diese Entscheidung war eine Vorentscheidung für die Wahl Wegrads zum Vorsitzenden des Zentralvorstandes der MSK auf dessen außerordentlicher Tagung am 3. Januar 1990. Klaus Umlauf behielt weiter den stellvertretenden Vorsitz und durfte wenig später seine Karriere beim FDGB-Bundesvorstand fortsetzen. Er wurde Ende Januar auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress in den Bundesvorstand gewählt und dort zuständiges 15 Information über Verlauf und Ergebnis der 12. Tagung des Zentralvorstandes vom 27.11.1989. SAPMO, DY 45/1587. 16 Vgl. Interview mit Rolf Hößelbarth, „Alle Fragen selbst entscheiden“, ÖTV-dialog, Dezember `89/Januar `90.
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Mitglied für Vermögen und Finanzen. Durch seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, Licht in das Dunkel der verworrenen Finanz- und Vermögensangelegenheiten zu bringen, trug er unfreiwillig zur Auflösung des FDGB-Bundesvorstandes durch die Einzelgewerkschaften am 19. Mai 1990 bei (s.w.u.). Neben der Personalie Wegrad gab es nur wenige „Kaderveränderungen“ im Zentralvorstand und im Sekretariat. Auch die Ablehnung des Zentralvorstandes, die Vertrauensfrage für das Sekretariat zu stellen, war kein Zeichen eines wirklichen Neubeginns.17 Erst im Februar rang sich der Vorstand der MSK dazu durch, eine „Zentraldelegiertenkonferenz“ zum 30. Juni 1990 einzuberufen, die letztlich die Erneuerung der MSK formell zum Abschluss bringen sollte.18
Strukturelle Reformansätze Noch bevor sich die MSK mit der Frage der Personalveränderungen auseinandersetzen musste, sah sie sich mit der Notwendigkeit struktureller Reformen konfrontiert. Ein letzter Bericht der MSK über „Stimmungen und Meinungen“ wirft ein Schlaglicht auf das Ausmaß eines dramatischen Verfalls ihrer gewerkschaftlichen Organisation und die Unvermeidbarkeit von grundsätzlichen Veränderungen: „Etwa ein Viertel der BGL-Vorsitzenden können die Forderung der Werktätigen nicht gegenüber den staatlichen Leitungen durchsetzen und werden zunehmend zum Rücktritt aufgefordert. Damit und durch die wachsende Ignoranz der staatlichen Leiter gegenüber der BGL verbindet sich generell ein starkes Absinken der Bereitschaft zur weiteren Arbeit in der Gewerkschaft bzw. zur Kandidatur. (...) Schätzung zufolge sind etwa 10 % der Mitglieder der MSK aus dem FDGB ausgetreten, besonders im Bereich der Dienstleistungsbetriebe und Gebäudewirtschaftsbetriebe. Mehr als ein Drittel bezahlen keinen bzw. von ihnen selbst festgelegten (satzungswidrigen) Beitrag. Den Solidaritätsbeitrag können über drei Viertel eingestellt haben. (...) Über die Inkonsequenz des inzwischen zurückgetretenen ZK bzw. Politbüros wurde Enttäuschung und erneute Empörung geäußert. Nach wie vor wird die Forderung erhoben, dass die Betriebsparteienorganisationen aufzulösen sind. Die Streichung der führenden Rolle der Partei aus der Verfassung findet Zustimmung. (...) Zunehmend werden Fragen nach den Erfüllungsgehilfen gestellt. Dabei werden die jeweiligen Apparate der SED, des Staates und des FDGB (bis in die Kreise hinein) angegriffen, aber auch Blockparteien zur Offenlegung aufgefordert. (...) Gleichzeitig gibt es Zweifel am Fortbestand des Sozialismus in der DDR, (...) Insgesamt wird die Erneuerung verstanden als 1. tiefgreifende strukturelle (Branchen, Kommissionen, Anzahl der Funktionäre in Leitungen), konzeptionelle, juristische und personelle Veränderungen auf allen Leitungsebenen. 2. Die Schaffung von starken, freien und unabhängigen (von Parteien) Einzelgewerkschaften mit hoher Eigenständigkeit in der Basis und einer vermittelnden Dachorganisation (keine politische Leitung). 3. Ein Demokratisierungsprozess, der sichert, dass die Interessen der Mitglieder der Gewerkschaft (nicht aller Werktätigen) tatsächlich vertreten werden können.“19
Auf der außerordentlichen Sitzung des Zentralvorstandes der MSK am 3. Januar 1990 berichtete der neu gewählte Vorsitzende Wegrad, dass im Organisationsbereich der MSK 17 Vgl. Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, 1/2’90. 18 Vgl. ebd., 3’90. 19 Informationen über Stimmungen und Meinungen im Berichtszeitraum vom 17.11. bis 07.12.1989, SAPMO, DY 45/1587.
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„etwa ein Fünftel der Gewerkschaftsleitungen, etwa 30 Kreisvorstände und der Bezirksvorstand Suhl gezwungen waren zurückzutreten.“20 Dies war kein Befund, der auf Personen zielte, sondern auf das demokratische Defizit der gewerkschaftlichen Organisation und ihre Unfähigkeit, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Bereits auf der 12. Tagung des Zentralvorstandes der MSK am 27. November, hatte dieser beschlossen, eine Organisationsreform einzuleiten. Im Kern ging es darum, den unterschiedlichen Branchen innerhalb des Organisationsfeldes der MSK ein eigenes organisatorisches Gewicht zu verleihen, um eine „grundlegend verbesserte Vertretung der bereichs- und berufsbezogenen Interessen“ gewährleisten zu können. Diese Organisationsgliederungen, genannt „Fachverbände“, sollten zukünftig den Unterbau der MSK bilden.21 Anfang Februar hatten sich sechs Arbeitsgruppen gebildet, u.a. für die Bereiche „Örtliche Versorgungswirtschaft (ÖVW)“, „Wohnungswirtschaft“ und „Banken, Sparkassen und Versicherungen“, die den Umbau organisieren sollten. Erst nachdem die Konstituierung dieser Fachverbände abgeschlossen war, wollte man die Zentraldelegiertenkonferenz am 30. Juni stattfinden lassen. Das mag den Beteiligten wie ein erstaunlich rasches Vorankommen erschienen sein. Im Vergleich zum rasanten Tempo des Zerfalls der DDR gerieten sie mit ihren Reformbemühungen jedoch hoffungslos ins Hintertreffen.
Aus MSK wird GÖD Ohne wirkliche personelle Erneuerung und aktuelle Legitimation versuchten die zumeist langjährigen Funktionäre der MSK ihre Gewerkschaft zu erneuern. Selbstbewusst formulierten sie: „Wir sind eigenständig und in unserem Wirken unabhängig vom Staat, von der Wirtschaft, von politischen Parteien, Organisationen und Bewegungen. (...) Wir sind offen für alle Werktätigen, unabhängig von ihrer politischen oder religiösen Bindung, verbunden durch das gemeinsame Eintreten für Demokratie und Frieden.“22
Um ein deutlich sichtbares Zeichen für einen Neuanfang zu setzen, beschloss der Zentralvorstand am 15. März 1990 eine Namensänderung: Aus MSK wurde „Gewerkschaft Öffentliche Dienste“ (GÖD).23 Gewirkt hat dieses Zeichen nicht. Unabhängig von dem Vertrauensverlust, den alle FDGB-Organisationsgliederungen hinnehmen mussten, war die Gewerkschaft MSK mit einem zusätzlichen Makel behaftet, der mit dem Begriff „Staatsorgane“ zusammenhing. Bereits der Name „Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane“ hörte sich wenig vertrauenserweckend an und führte bei Mitgliedern wie Funktionären zu dem Verlangen, diesen Namen schnellstmöglich loszuwerden: „Keiner war stolz darauf, MSK-Gewerkschafter zu sein. Es war ein unmöglicher Name. (...) Das hing auch damit zusammen, dass diese Gewerkschaft, glaube ich, sechsmal den Namen gewechselt hat, immer auf Beschluss des Bundesvorstandes.“24
20 21 22 23 24
Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, 1/2’90, S. 2. Vgl. ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, Nr. 4’90, S. 2. Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 376.
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Noch vor der Namensänderung schien die MSK bereits erneut die Vorurteile gegen ihre Organisation zu bestätigten. Sie schloss mit der Modrow-Regierung am 8. Dezember 1989 eine „Vereinbarung zur Regelung der arbeitsrechtlichen Fragen für die Mitarbeiter der Staatsorgane, die im Zusammenhang mit Strukturveränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen eine andere Arbeit aufnehmen“. U.a. war darin die Zahlung eines dreijährigen Überbrückungsgeldes geregelt. In der Öffentlichkeit kam dieser „Erfolg“ gar nicht gut an. Nicht einmal bei den anderen FDGB-Gewerkschaften. Diese protestierten lauthals und drohten mit Streikaktionen. Es war der Eindruck entstanden, die „Staatsorgane“ und vor allem die unmittelbar vor der Auflösung befindliche Staatssicherheit hätten sich in letzter Minute noch einmal bedient, und die Gewerkschaft der Staatsorgane wäre ihnen dabei auch noch behilflich gewesen. Die MSK kommentierte die Proteste wie folgt: „Geschürte Emotionen, Wahlkampfziele von Parteien und Gruppierungen, Aversionen gegen Staatsorgane, Verquickung mit Regelungen für die Sicherheitsorgane sowie unzureichende Informationen und Argumentationen führten zu den Forderungen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften.“25
Die MSK klagte daraufhin ihr Recht auf „Tarifautonomie“ ein. Den Verdacht, eine „Stasigewerkschaft“ zu sein, wurde sie indes nicht mehr los, obwohl die Stasimitarbeiter gar nicht Mitglied der MSK sein konnten, weil sie sich nicht gewerkschaftlich organisieren durften.
Gewerkschaft Gesundheitswesen Für den Bereich Gesundheits- und Sozialwesen war im Rahmen des FDGB eine eigene Gewerkschaft zuständig, die Gewerkschaft Gesundheitswesen. Außer im Fachlichen unterschied sie sich in nichts von den anderen FDGB-Gewerkschaften. Im Sommer 1989 übermittelte sie dem FDGB die üblichen nur quantitativen Erfolgsmeldungen zu den gerade abgeschlossenen Gewerkschaftswahlen: „In 1.851 Betriebsgewerkschaftsorganisationen wurden 27.414 Gewerkschaftsgruppen gebildet, in denen 455.626 Mitglieder organisiert sind. (...) 1989 wählten 3.932 Betriebsgewerkschaftsorganisationen ihre Leitungen, (...) Sie vertreten die Interessen von 535.005 Mitgliedern, das sind 15.609 mehr als 1986/87. (...) In die Leitungen der BGO wurden 31.570 Mitglieder gewählt. (...) Die Führungsrolle der Arbeiterklasse und der SED kommt in den BGLen durch 6.568 SEDMitglieder = 20,8% (...) und 22.980 Arbeiter = 72,8% (...) zum Ausdruck. Von unseren 3.932 BGL-Vorsitzenden (...) beträgt der Anteil der Mitglieder der SED 33,3 %.“26
Vervollständigt wurde dieses Bild durch die Ergebnisse aus dem Sozialistischen Wettbewerb und den Schulen der Sozialistischen Arbeit:
25 Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, Nr. 1/2’90, S. 4. 26 Sekretariatsvorlage zum 22.06.1989, Betrifft: Organisations- und kaderpolitische Ergebnisse der Gewerkschaftswahlen 1989 in den GO der Gewerkschaft Gesundheitswesen (Stempel: Dienstsache des FDGB), SAPMO, DY 41/820.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess „19.610 Kollektive (führten) mit 304.000 Mitarbeitern den Kampf um den Ehrentitel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit. 17.715 Kollektive (...) wurden 1981 mit dem Ehrentitel ausgezeichnet (...) 278.200 Gewerkschaftsmitglieder erweitern in 16.594 Schulen der sozialistischen Arbeit ihre marxistisch-leninistischen Kenntnisse.“27
Im Sommer 1989 wurden insgesamt 648.144 Mitglieder gezählt (einschließlich „Rentnern und Veteranen“). Diese Zahlen gaben keinerlei Anlass zu irgendwelchen Befürchtungen. Im Herbst, als sich der politische Wind für alle spürbar gedreht hatte, verhielt sich die Gewerkschaft Gesundheitswesen ebenso wie die Gewerkschaft MSK, die IG Transport und Nachrichtenwesen und der gesamte FDGB: Bis zuletzt versahen die Funktionäre des Vorstandes als treue Gehilfen der Partei ihren Dienst. Erst als die SED ihr Ende eingestand und den Gewerkschaften die Mitglieder davonliefen, begann ein Umdenken. Elfriede Gerboth, seit 1968 Vorsitzende des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Gesundheitswesen, Mitglied im FDGB-Bundesvorstand und seit 1987 im Präsidium, legte ihrem Vorstand genau eine Woche nach dem Fall der Mauer ihre Sicht auf die aktuelle Entwicklung dar. Mit Verweis auf die Auswertung „sehr vieler Zuschriften“ versuchte sie, ihren Kollegen Mut zu machen. Das Ergebnis zeige nämlich, dass die Gewerkschaft Gesundheit vor keinem „Scherbenhaufen“ stünde, obwohl der Vertrauensverlust in der Gewerkschaft generell und in der Gewerkschaft Gesundheit sehr groß und sehr schwer sei. Eine eigene Mitverantwortung dafür sah sie nicht. Diese versuchte sie ungenannten Anderen zu geben: „Ich fühle mich genauso betrogen wie ihr euch das fühlt.“ Die Gewerkschaft Gesundheit wolle „den Prozess der Erneuerung für einen besseren Sozialismus in unserem Land“ mitgestalten. Als konkreten ersten Schritt nannte sie dabei eine „Erhöhung der Eigenständigkeit“ der Gewerkschaft. Sie forderte nun die „absolute Tarifhoheit“ und sah in diesem Kontext vor allem die Notwendigkeit, die Kompetenzen der BGL drastisch auszuweiten. „Die BGL’en sind das A und O.“ Der FDGB solle als Dachorganisation weiter mit koordinierenden Funktionen bestehen bleiben, jedoch seine Abgeordneten-Mandate in den Parlamenten abgeben. Am Feriendienst gelte es festzuhalten: „Es wäre ein Wahnsinn, wenn wir den ganzen Feriendienst zerschlagen würden.“ Sogar die Fortführung der Verwaltung der Sozialversicherung konnte sie sich vorstellen.28 Diese Ausführungen der Vorsitzenden, insbesondere zur Eigenständigkeit der Gewerkschaften, entsprachen ganz der Meinungsbildung im FDGB insgesamt. Auch in der Gewerkschaft Gesundheitswesen. „Der ehrenamtliche und hauptamtliche Zentralvorstand haben dem FDGB bis zuletzt die Stange gehalten. In der Gewerkschaft Gesundheitswesen setzten sich die Reformkräfte erst spät durch.“29 Die Führung der Gewerkschaft Gesundheit machte zwar verbale Zugeständnisse an Reformen, dachte im November jedoch nicht daran, irgendwelche Konsequenzen ziehen zu müssen. Erst nachdem im FDGB-Bundesvorstand die Entscheidung für autonome Einzelgewerkschaften gefallen war und die Zuschriften keinen Anlass zur Zuversicht mehr boten, sah man sich zum Handeln gezwungen. Die Entwicklung in der Gewerkschaft Gesundheit steuerte im Dezember auf einen „Scherbenhaufen“ zu: „Die Situation (...) ist sehr angespannt. Empörung, Enttäuschung, Resignation, Austritte oder ruhende Mitgliedschaft kennzeichnen die Lage in unserem Kreis. 3 von 15 BGL’s sind zu-
27 Gewerkschaft Gesundheitswesen in Zahlen und Fakten, SAPMO, DY 41/820. 28 Ausführungen der Vorsitzenden des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Gesundheitswesen anlässlich der 9. Tagung des Zentralvorstandes am 16.11.1989, SAPMO, 41/725. 29 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli. 1991 Dokumentation, S. 281.
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rückgetreten. Vertrauensleute, Kassierer und eine Reihe anderer Gruppenfunktionäre haben unsere Republik verlassen. Drohungen von Dagebliebenen, wenn sich nichts grundlegend und schnell ändert, auch die Republik zu verlassen, kommen massiv aus unseren Einrichtungen.“30
Wie beim Vorstand der MSK konnte sich auch bei der Gewerkschaft Gesundheit das Sekretariat selbst nicht dazu durchringen, die Vertrauensfrage zu stellen. Als erste personelle Maßnahme wurde lediglich das Sekretariat erweitert, u.a. mit Richard Klatt, dem Chefarzt der Poliklinik des Kernkraftwerks Greifswald und bisherigen Mitglied des Zentralvorstandes, der später zum Vorsitzenden gewählt werden sollte.31 Doch im Unterschied zur MSK berief der Vorstand eine außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz schon zum 29. Januar 1990 ein, um sich neu legitimieren zu lassen. Auf dieser Zentraldelegiertenkonferenz zogen die 300 Delegierten dann vergleichsweise radikale personelle Konsequenzen. Dort ging es „(…) gleich die ersten fünf Minuten ganz spontan los. Eine ehemalige hauptamtliche Kollegin sollte den Rechenschaftsbericht geben. Da sind gleich welche aufgestanden und haben gesagt, also diesen Quark wollen wird nicht mehr hören. Wir haben jetzt eine andere Zeit. Das ging drunter und drüber. Jedenfalls konnten wir gar nicht so schnell gucken, wie auf einmal alle alten Funktionäre abgewählt wurden.“32
Die Vorsitzende und vier weitere „leitende Kader“ mussten ausscheiden. Prof. Dr. Siegfried Treibmann (Sportmediziner) wurde in einer Kampfabstimmung zum Vorsitzenden und Richard Klatt zu seinem Stellvertreter gewählt. Auf dieser Zentraldelegiertenkonferenz gab es „ein markantes Beispiel in puncto Demokratieausübung: Jeder Kandidat für den neuen Zentralvorstand (die Mitgliederzahl wurde übrigens von 135 auf 45 reduziert) musste sich den Delegierten kurz vorstellen, auch die Parteizugehörigkeit nennen. Das Misstrauen gegen die lange ausgeübte Vormundschaft der SED sitzt noch tief.“33
Die Konferenz erklärte sich zu einer „freien und unabhängigen Gewerkschaft“ und beschloss ebenfalls eine Namensänderung. Aus der Gewerkschaft Gesundheitswesen wurde die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (GSW). In einem Schreiben an die Mitglieder verkündete der neue Vorsitzende. „Ab sofort sind wir nur noch ‚Mitglieder der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen’ und nicht mehr Mitglieder des Dachverbandes FDGB.“ Anders als die MSK hatte die Gewerkschaft Gesundheit mit der schnellen Einberufung einer Zentraldelegiertenkonferenz – dem höchsten Organ der nun selbständigen Einzelgewerkschaft – und dem personellen Austausch der gesamten Spitze ein deutliches Zeichen für einen Neuanfang gesetzt. Der Prozess der Erneuerung gestaltete sich dennoch außerordentlich schwierig, wie weiter unten zu zeigen sein wird.
30 Zuschriften von Mitgliedern, Zentralvorstand, SAPMO, DY 41/608. 31 Vgl. Diskussionsbeiträge zur 10. Tagung des ZV der Gewerkschaft Gesundheitswesen am 13.12.1989, SAPMO, DY 41/608. 32 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 282. 33 Humanitas vom 15. Februar 1990.
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IG Transport- und Nachrichtenwesen (IG TN) Die Industriegewerkschaft Transport- und Nachrichtenwesen (IG TN) war ähnlich wie andere FDGB-Verbände ein durch den FDGB herbeigeführter Zusammenschluss von vorher getrennten Gewerkschaften der Bereiche Transport, Post- und Nachrichtenwesen und den Eisenbahnern. Die Zusammenlegung scheint seinerzeit wenig Begeisterung bei den Beteiligten ausgelöst zu haben, obwohl es im Prinzip egal gewesen sein dürfte, in welcher Form sie innerhalb des FDGB unselbständig waren. Zusätzlich hatte sich ein allgemeiner Unwillen in den Branchengewerkschaften über ihr Schattendasein im FDGB und ihre allgemeine Ohnmacht aufgebaut. Besonders die folgenlose Beschäftigung mit der Plandiskussion erregte Unwillen: Die Gewerkschaften mussten obligatorisch und kampagnenmäßig die Diskussion unter den Mitgliedern über die Erstellung des Volkswirtschaftsplans organisieren, phantastische Diskussionsergebnisse und -erfolge melden und abschließend erfahren, dass die Vorschläge keine Beachtung fanden. Im letzten Bericht des Zentralvorstandes der IG Transport- und Nachrichtenwesen liest sich dieser Sachverhalt wie eine „Kapitulationsurkunde“: „Grundlegende Forderungen zur Lage der Verkehrsarbeiter, die wir gegenüber der SPK (Staatliche Plankommission, M.S.) und auch im Bundesvorstand sowie der Regierung erhoben, wurden ignoriert oder vom damaligen Vorsitzenden des Bundesvorstandes, Tisch, ebenso wie vom Vorsitzenden der SPK, Schürer, administrativ in die Verantwortung der IG zurückdelegiert.“34
Im Grunde ging es jedoch darum, Verantwortlichkeiten abzuschieben. Im Transport-, genauer im Kraftverkehrsbereich kam zur generellen Frustration noch ein spezielles Unbehagen hinzu. Funktionäre und Mitglieder fühlten sich im Verhältnis zu den Eisenbahnern und Postlern nicht ausreichend anerkannt. Dieses Gefühl speiste sich auch aus der Tatsache, dass die Spitzenpositionen im Zentralvorstand mit Kollegen aus dem Postbereich besetzt waren. Einige Funktionäre aus dem Kraftverkehrsbereich begannen daher im Herbst zu beraten, wie man sich von der IG Transport- und Nachrichtenwesen unabhängig machen könne. Dieser Prozess sollte geordnet und offiziell in die Wege geleitet werden, also mit Antragstellung an den Zentralvorstand und den FDGB. Schon früh wurde ein Mitglied des Zentralvorstandes zu den Gesprächen hinzugezogen und sogar der Vorsitzende Kalauch eingeweiht.35 Auf einem Treffen von Mitgliedern des Organisationsbereiches Transport in Lychen vom 13. bis 16. November 1989 kam es dann zu einer Übereinkunft: Zur „besseren spezifischen Interessenvertretung der Mitglieder unseres Bereiches“ sollte die Bildung einer „eigenständigen Industriegewerkschaft Transport“ angestrebt werden. Inzwischen hatten die Kollegen aus dem Kraftverkehr auch mit den Eisenbahnern Kontakt aufgenommen und dort Verbündete gewonnen, da auch die Eisenbahner an einer eigenständigen Gewerkschaft interessiert waren. Auf der 11. Tagung des Zentralvorstandes der IG Transport- und Nachrichtenwesen am 15. Dezember 1989 wurde dann der Beschluss gefasst, die IG TN aufzulösen und drei selbständige Industriegewerkschaften zu gründen. In leidenschaftslosen, dürren Worten teilte der Vorsitzende Karl Kalauch diesen Beschluss im Informationsblatt des Zentralvorstandes mit: „Wirksame und erfolgreiche Vertretung der Interessen der Werktätigen, unser Grundanliegen also, das geht nur durch aktive, unabhängige, von jeglichem Fremdeinfluss freie Betriebsge34 Zusammenfassende Information über die Tätigkeit des Zentralvorstandes (Bereich Transport), Zeitraum März 1987 – Dezember 1989, SAPMO, DY501621. 35 Vgl. Interview mit Karl-Heinz Biesold am 17. September 1992 Dokumentation, S. 180.
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werkschaftsleitungen, die ihrerseits dazu die Unterstützung und Vertretung von Industriegewerkschaften und Gewerkschaften brauchen. Deshalb auch am 15. Dezember der Beschluss, (...) außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenzen einzuberufen, um drei selbständige Industriegewerkschaften zu bilden.“36
Noch am gleichen Tag traten die Vorstandsmitglieder des Transportbereichs gesondert zusammen und wählten ein Arbeitssekretariat mit Günther Kuhn als Leiter. Es sollte die Zentraldelegiertenkonferenz zum 22./23. Februar 1990 „inhaltlich sowie technisch– organisatorisch“37 vorbereiten, auf der die neue und eigenständige IG Transport gegründet werden sollte. Er übernahm die Aufgabe, die notwendigen Amtsgeschäfte der Gewerkschaft bis dahin zu führen. Außerdem wurde festgelegt, dass 192 Delegierte zu wählen seien, davon 45 aus Bezirksvorständen. Aus der Erbmasse der alten Gewerkschaft hatte die IG Transport 295.000 Mitglieder übernehmen können. Sie waren in den Bereichen „örtlich geleitetes Verkehrswesen“ (im wesentlichen ÖPNV), „des zentralgeleiteten Verkehrswesens“ (Binnenschifffahrt, Deutrans, Seeverkehr, zivile Luftfahrt) und in privaten Betrieben beschäftigt. Im Januar 1990 wurde in der letzten Ausgabe des Mitteilungsblatts der IG TN ein Vorstellungs- und Werbe-Text der IG Transport veröffentlicht. Politische Aussagen enthielt er – bis auf die Forderung nach einem Gewerkschaftsgesetz – kaum noch. Nicht einmal vom demokratischen Sozialismus war mehr die Rede. Nur streng materielle, gewerkschaftliche Forderungen in allgemeiner Form wurden erhoben. So sollte das Leistungsprinzip verwirklicht, die Prämien erhöht und generell die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert werden. Die neue IG Transport versprach, die bestehenden Rahmenkollektivverträge (RKV) zu überarbeiten und die darauf basierenden Betriebskollektivverträge (BKV) zukünftig nur mit Zustimmung der BGL und Betriebsleitung abzuschließen. Sie stellte die Ausarbeitung eines Satzungsentwurfs in Aussicht und machte sogar schon Vorschläge für die zukünftige Struktur der Gewerkschaft. So sollte der geschäftsführende Vorstand nunmehr direkt gewählt werden und die BGL der Betriebsgewerkschaftsorganisation rechenschaftspflichtig sein. Die 52 Kreisvorstände seien ersatzlos aufzulösen und nur noch Bezirksvorstände beizubehalten. Es wurde gefordert, dass „die Beiträge der Mitglieder umgehend in die Kassen der IG Transport gehören,“38 ohne dass schon konkrete Angaben für eine vorläufige Beitragsordnung gemacht bzw. ein Konto genannt wurden. Anfang Februar wurde ein Satzungsentwurf veröffentlicht. Dort wurde die IG Transport als freie, demokratische, unabhängige Organisation, die Mitglied im „Dachverband der Gewerkschaften in der DDR“ ist, definiert. Sie „ist für einen demokratischen Staat, der sozial gerecht, wirtschaftlich leistungsstark und ökologisch ausgewogen sowie rechtsstaatlich und pluralistisch ist, (...)“ Bemerkenswert ist der umfangreiche Katalog der Leistungen, übernommen aus der alten Satzung, die einem Mitglied versprochen wurden, u.a.: „1. (...) kostenlose Rechtshilfe materielle Unterstützung in Notfällen bevorzugte Unterbringung der Kinder in betriebseigenen Kinderferienlagern 36 Mitteilungsblatt des Zentralvorstandes der IG TN, o.D., o. N., (wahrscheinlich Januar 1990, M.S.). 37 Festlegungsprotokoll über die Tagung des Zentralvorstandes des Bereiches Transport vom 15.12.1989 in Berlin, SAPMO, DY50/1621. 38 Ebd.
44
ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Teilnahme an kulturellen, sportlichen und sonstigen Veranstaltungen Unfallsterbegeld 2. (…) Nach ununterbrochener einjähriger Mitgliedschaft: Fahrpreisermäßigung Finanzielle Unterstützung bei längerer Krankheit Finanzielle Unterstützung bei Geburt von Kindern Sterbegeld Beantragung eines Ferienplatzes des Reisebüros der Gewerkschaften sowie gegen Vorlage des Mitgliedsdokuments für sich einmal im Jahr eine Fahrpreisermäßigung der Deutschen Reichsbahn von 33 1/3% zu erhalten.“39
Auf der außerordentlichen Zentraldelegiertenkonferenz am 22./23. Februar wurde schließlich die IG Transport gegründet und Karl-Heinz Biesold zum Vorsitzenden eines 5-köpfigen „geschäftsführenden Vorstandes“ gewählt.
IG Bergbau-Energie (IG B-E)40 Bei der IG Bergbau-Energie wurden die Zeichen der Zeit relativ früh erkannt. Bereits am 10. November 1989 veröffentlichte der Zentralvorstand einen Entwurf „zur Erneuerung der gewerkschaftlichen Arbeit“. Er besann sich dabei auf „die Traditionen eines hundertjährigen Kampfes“ der Bergarbeitergewerkschaft und wusste jetzt: „Das setzt voraus, dass wir so handeln, wie es unabhängigen und freien Gewerkschaften zukommt. Wir dulden keine Gängelei, Bevormundung und Eingriffe in die Gewerkschaftsarbeit.“ Zum Zeitpunkt dieser Überlegung ging er gleichzeitig noch davon aus, dass es die Aufgabe seiner Gewerkschaft sei, „basierend auf den Interessen der Mitglieder zur Erneuerung des Sozialismus beizutragen.“41 Nähere, konkretere Angaben, wie das zukünftige Verhältnis von Einzelgewerkschaft zu einem Dachverband FDGB gestaltet werden sollte, wurden nicht gemacht. Die Freude der Mitglieder über diesen Vorstoß hielt sich in Grenzen: „Der Entwurf ist nach unserer Auffassung ungeeignet als Positionspapier zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit und wird von uns in dieser Form abgelehnt. (...) Eine Wiedererlangung des Vertrauens ist nicht möglich, da der ZV der IG B-E ein für uns imaginäres, nicht gewähltes gewerkschaftliches Organ ist, (..). Der alte überkommene ZV der IG Bergbau-Energie muss sofort zurücktreten. (...) Laut Beschluss unserer Gewerkschaftsgruppe wird bis zur Wiederherstellung sauberer und geordneter Verhältnisse in der Gewerkschaft ab sofort die Beitragszahlung eingestellt.“42
Als dieses Schreiben beim Zentralvorstand eintraf, war dort die Erkenntnis gereift, dass nur ein radikaler, insbesondere auch ein personeller Bruch die Gewerkschaft retten könne. An die Spitze der Reformer stellte sich Manfred Martin, bislang schon Mitglied des Sekretariats. Seine Erklärung im Namen des Sekretariats zur 14. Vorstandssitzung am 9. Dezember ging davon aus, die IG Bergbau als Teil „eines einheitlichen FDGB zu erhal39 Vorläufige Satzung der IG Transport, SAPMO, DY 50/1623. 40 Die IG Bergbau-Energie wird deshalb hier kurz behandelt, weil sie für den Bereich leitungsgebundener Energie, das meint die Kraftwerke und die Wasserwirtschaft, zuständig war. Beide Bereiche gehörten in der Bundesrepublik zum Organisationsfeld der ÖTV. 41 GLÜCK AUF, Nr. 21/89 vom 10. November 1989. 42 Schreiben: VEB Energiekombinat Berlin, Abt. Anlagentechnik-Wärme, an IG B-E, Zentralvorstand vom 07.12.1989, SAPMO, DY37/3374.
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ten“ und forderte eine „baldmögliche Einberufung einer Zentraldelegiertenkonferenz.“ Das Sekretariat wollte einen „Neubeginn ohne Wenn und Aber“. Martin bekannte sich – als einer der wenigen Funktionäre – zur eigenen Verantwortung am Desaster: „Auch für uns gilt, dass wir eine Deformierung der Kollektivität zugelassen und geduldet haben, dass Duckmäusertum und Anpasserei um sich greifen konnten und durch ein zu starkes Linieren mit Parteiorganen der SED Eigenständigkeit aufgegeben wurde. In den letzten Jahren war anstelle einer vom Mandat der Mitglieder getragenen Interessenvertretung zu oft Erklärung und Begründung staatlicher Entscheidungen getreten. Kritische Meinungen zu diesem Arbeitsstil wurden nicht gehört.“43
Im Unterschied zur MSK und Gewerkschaft Gesundheit stellten die Mitglieder des Sekretariats der IG Bergbau die Vertrauensfrage und forderten den Zentralvorstand auf, darüber zu entscheiden, wer bis zur außerordentlichen Zentraldelegiertenkonferenz die Gewerkschaft vertreten sollte. Auf der Zentralvorstandssitzung musste Günther Wolf, der langjährige Vorsitzende des Zentralvorstandes und gleichzeitig Mitglied im Präsidium des FDGB, mit dem gesamten Sekretariat zurücktreten. Ein „Arbeitssekretariat“ aus zehn Kollegen wurde gebildet. Dessen hauptsächliche Aufgabe bestand darin, die außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz vorzubereiten. Manfred Martin wurde zu ihrem Leiter bestimmt. Neben drei weiteren bisherigen Mitgliedern des alten Sekretariats wurden fünf BGL-Vorsitzende in dieses Gremium gewählt. Der Zentralvorstand beschloss zugleich eine revidierte Fassung zur „Neugestaltung der gewerkschaftlichen Arbeit.“ Das Verhältnis von Einzelgewerkschaft zu Dachverband blieb indes weiter ungeklärt. Auf der einen Seite hieß es, die Interessen der Werktätigen könnten „am wirksamsten in einem freien, einheitlichen und starken Gewerkschaftsbund – dem FDGB – vertreten werden, der unabhängig ist, sich keinem Führungsanspruch einer Partei unterordnet (...)“
Auf der anderen Seite hieß es: „Eigenständigkeit der IG Bergbau-Energie erfordert eine konsequente Ausrichtung der Tätigkeit auf die berufsspezifischen Aufgaben (...) Wir fordern volle Tarifautonomie als Industriegewerkschaft.“44
Erst nachdem einen Tag später auf der FDGB-Bundesvorstandsebene die Grundsatzentscheidung für autonome Einzelgewerkschaften gefallen war, herrschte diesbezüglich Klarheit. Auffällig an dieser Erklärung ist jedoch, dass jegliche Verantwortung für den Niedergang des FDGB nun auf die Führung geschoben wurde: „Wir befinden uns als FDGB in einer tiefen Krise, in die uns die alte Führung gestürtzt hat. Verbrecherische Handlungen, Verrat an den Idealen des arbeitenden Volkes und Aufgabe der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Gewerkschaften waren Inhalt und Tätigkeit eines Tisch und anderer.“
Dieses Muster findet sich durchgängig auch in den Erklärungen der anderen Einzelgewerkschaften. Eine ernsthafte Analyse der eigenen Geschichte und der Verantwortlichkeiten fand nirgends statt. 43 Erklärung des Sekretariats des ZV der IG B-E, 7.12.89, SAPMO, DY 37/3374. 44 GLÜCK AUF, Nr. 24/89 vom 19. Dezember 1989.
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Der Zentralvorstand beschwor die Mitglieder, trotz dieses "abscheulichen" Verhaltens ihres Führungspersonals, nicht aus der Gewerkschaft auszutreten, denn: „Wer, wenn nicht wir selbst, soll den demokratischen Sozialismus aufbauen.“45
45 Ebd.
4. Initiative für Unabhängige Gewerkschaften (IFUG) Die Kritik am FDGB, die ab November 1989 allenthalben artikuliert wurde, mündete in die Abschaffung des FDGB als kommunistische Massenorganisation. Der Schwerpunkt zukünftiger Gewerkschaften in der DDR sollte auf autonomen Einzelverbänden liegen. Diese Umformung des FDGB war eine interne Angelegenheit von überwiegend lang gedienten, erfahrenen FDGB-Funktionären der unterschiedlichen Ebenen des Organisationsapparates. Dieser Prozess bzw. die angewandten Verfahren bewegten sich in den hergebrachten institutionellen Formen. Einzig die frühen Bestrebungen, die BGL durch Betriebsräte nach bundesrepublikanischem Muster zu ersetzen, zielten auf einen Systembruch. Doch diese Versuche blieben vereinzelt. Ohne nennenswerten Zuspruch blieben auch die Versuche, einen radikalen Bruch mit dem FDGB und seinen Funktionären zu vollziehen, d.h. freie, demokratische und unabhängige Gewerkschaften außerhalb der alten Strukturen und mit neuen Personen aufzubauen. Gemessen an der Ablehnung des FDGB und seiner 44jährigen Tätigkeit im Dienste der kommunistischen Partei und dem Misstrauen, das den internen Reformen des FDGB und seiner Einzelgewerkschaften entgegengebracht wurde, ist dies erstaunlich. Es ist umso erstaunlicher, als die Frage der Ausdehnung der Westgewerkschaften in die DDR zunächst nicht auf der Tagesordnung stand, und die Hoffnung auf eine Lösung von außen damit unbegründet erscheinen musste. Nur vereinzelt gab es Bemühungen, außerhalb des FDGB gewerkschaftliche Organisationen zu gründen. Vor dem 4. November, der großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz, war nur eine Initiative in dieser Richtung bekannt geworden. Auf der „Protestkundgebung Berliner Künstler“ waren ca. 500.000 Menschen versammelt, als Heiner Müller den Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften verlas. Einen günstigeren Ort und einen besseren Botschafter hätte sich die Initiative kaum wünschen können. Der Auftritt von Heiner Müller war jedoch denkbar unglücklich. Er zog einen Zettel aus der Tasche und begann, sichtlich verunsichert, den Text einer „Initiative für Unabhängige Gewerkschaften“ vorzulesen. Darin wurden einige Versäumnisse des FDGB in allgemeiner Form aufgelistet und zusammenfassend festgestellt: „40 Jahre ohne eigene Interessenvertretung sind genug.“ Zunehmend wurden aus der Menge Stimmen lauter, die „Aufhören“ skandierten. Müller beherzigte diese Aufforderung, verkürzte seinen Vortrag und schloss mit dem Aufruf: „Gründet unabhängige Gewerkschaften!“1 Müller wurde dafür in den SED-Medien, die immer noch ihre Monopolstellung behaupteten, scharf kritisiert. Später begründete er sein Engagement für unabhängige Gewerkschaften im Neuen Deutschland damit, „endlich den Sprachlosen“ Gehör verschafft zu haben. Warum Müller so gar keine positive Resonanz mit seinem Beitrag erzielte, ist schwer zu sagen. Die „Sprachlosen“, denen er zu Hilfe geeilt war, waren zu diesem Zeitpunkt eine Handvoll Leute, die versuchten, unabhängige Gewerkschaften in DDR-Betrieben aufzubauen. Als sie den Aufruf erließen, wussten sie selbst noch nicht, ob der FDGB reformierbar sei und „Neugründungen überflüssig werden.“2 1 2
Vgl. Audiodatei unter: www.dhme.dhm.de/ausstellungen/4november1989. Für eine unabhängige Interessenvertretung der Werktätigen, o. D., SJS, zu 4.178.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Am 17. Oktober 1989 war es im Reglerwerk „Wilhelm Pieck“ zur Gründung einer unabhängigen Betriebsgewerkschaft gekommen, deren Aufruf ganzseitig in der TAZ publiziert wurde.3 Einen Tag vorher war diese Gründung der Tagesschau eine Nachricht wert gewesen und wurde somit DDR-weit bekannt. Am 20.Dezember 1989 kam es in Berlin zu einem Treffen von „Kolleginnen und Kollegen aus 40 Betrieben und Einrichtungen“, die jetzt die Überzeugung einte, „dass der FDGB nicht ausreichend reformierbar ist und wir eine völlig neue Organisation brauchen.“4 Sie riefen erneut zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft auf und versprachen, bis zum 15. Januar 1990 einen Satzungsentwurf vorlegen zu wollen. Der knappe Text, wenig mehr als eine halbe Seite, blieb denkbar unkonkret. Hier wie in weiteren Stellungnahmen wurde deutlich, dass diese Initiativen von zweierlei getragen waren: negativ von der konkreten Erfahrung, dass alles „von oben dirigiert“ wurde und positiv von der basisdemokratischen Idee einer Selbstbestimmung, in der alles „von unten nach oben“ geregelt werden sollte. Im Satzungsentwurf hieß es dazu: „Aufbau und Struktur der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung gründet sich auf Basisgruppen in Betrieben und Einrichtungen, deren sämtlich gewählte Vertreter in diesen verankert bleiben und damit nicht als hauptamtliche Funktionäre tätig sind.“5
Außerdem hingen sie einer umfassenden Mitbestimmungsvorstellung an, die jedoch teilweise noch im alten Denken verhaftet war: „- Wir wollen die Ziele und Formen der Produktion – vom Betrieb bis zur Volkskammer – mitbestimmen. Dazu gehört die Wählbarkeit und Abwählbarkeit von staatlichen u.a. Leitern.“6
Es verwundert nicht, dass sie deshalb auch den Entwurf für ein Gewerkschaftsgesetz des FDGB unterstützten, der ein Vetorecht gegen Parlamentsentscheidungen vorsah und den FDGB ausgerechnet dann kritisierten, als er Abstriche bei eben diesem – unter demokratischen Gesichtpunkten besonders bedenklichen – Paragraphen vornahm.7 Ende Dezember 1989 veröffentlichten die Initiativen eine Einschätzung der bisherigen Resonanz auf ihren Gründungsaufruf. Sie beklagten das schwache Echo und gaben die Schuld daran den DDR-Medien, in denen er „auf wenig Gegenliebe“ gestoßen sei.8 Zu den Versuchen, eine vom FDGB unabhängige Interessenvertretung aufzubauen, zählt auch der Aufruf einer „Betriebsgruppe der Initiative für eine vereinte Linke“. Es ist eines der wenigen Beispiele, in denen versucht wurde, an die deutsche Geschichte anzuknüpfen. Die Beschäftigten wurden mit Verweis auf das Beispiel der Novemberrevolution 1918 aufgerufen, „Räte in den Betrieben“ zu bilden.9 Auch dieser Ruf verhallte ungehört. Es bildeten sich keine Räte, weder im betrieblichen noch im politischen Bereich. Die Geschichte wiederholte sich nicht. Anfang Februar hatte sich in Berlin ein Gründungsausschuss für neue unabhängige Gewerkschaften gegründet. Wie viele Initiativen bzw. Einzelpersonen sich dahinter verbargen, bleibt unklar. Es können nicht viele gewesen sein. Der Text selbst wirft ein bezeichnendes Licht auf ihre Schwäche: 3 4 5 6 7 8 9
TAZ vom 24. Oktober 1989. Gründungsaufruf, Initiative für unabhängige Gewerkschaften, o. D., SJS, 4.178. Satzungsentwurf, o. D., o. Verf., SJS, 4.177. Gründungsaufruf, SJS, 4.178. IUG, Initiative für Unabhängige Gewerkschaften, INFO-Nr. 6, 19.03.1990, SJS, 4.176. IFUG, Initiative für Unabhängige Gewerkschaften, Info-Nr. 2, o. D., SJS, 4.187a. Wählt Räte in den Betrieben, Betriebsgruppe der Initiative für eine Vereinte Linke, SJS, zu 4.187.
Initiative für Unabhängige Gewerkschaften (IFUG)
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“Interessenten – aber wer macht die Arbeit? Das ist das Problem. In der Regel bezieht ein großer Teil der Arbeiter und Angestellten Warteposition. Sie wollen erst einmal sehen was passiert. (...) Die Hand voll Leute, die etwas tun, sind schnell ausgelastet, müssen ‚nebenbei’ auch noch Geld verdienen. Was also tun mit der Gründung, wenn Gründer fehlen?“10
Vor diesem Hintergrund trafen sich am 24. Februar 1990 Vertreter der Initiativen für unabhängige Gewerkschaften in Dresden zu einer Tagung. Im Bericht heißt es, sie hätten „zum Schluss“ noch einiges geklärt: Betriebsräte seien „unbedingt zu befürworten und zu unterstützen“ und unabhängige Gewerkschaften „unbedingt nötig“. Einige der anwesenden Gruppen machten sogleich einen Anfang und schlossen sich zur „Unabhängigen Gewerkschaftsbewegung UGB zusammen.“11 Insgesamt zwölf Kontaktadressen aus unterschiedlichen Städten der DDR wurden genannt. Weitere Aktivitäten dieser Gruppierung sind nicht bekannt. Im Grunde hatten sie gar kein Konzept für eine Gewerkschaft vorgelegt, sondern ein radikal betriebliches Mitbestimmungsmodell in allgemeiner Form – und gehofft, die Selbsttätigkeit der Menschen werde alles Weitere richten.12 Die Idee einer eigenen, vom FDGB unabhängigen DDR-Gewerkschaft hatte ihre Berechtigung in der Zeit von November 1989 bis März 1990. Der 18. März veränderte die allgemeine politische Situation einschneidend und damit auch die Möglichkeit für die Entstehung einer vom FDGB unabhängigen DDR-Gewerkschaft. Die Wiedervereinigung wurde eine realistische Perspektive für die nächste Zukunft. Es stellte sich spätestens jetzt die Frage nach der Herstellung gesamtdeutscher Gewerkschaften. Auf dem Feld gewerkschaftlicher Interessenvertretung begannen die bundesrepublikanischen Gewerkschaften, sich zunehmend in das Geschehen einzumischen und die Hoffnungen all jener auf sich zu lenken, die weder mit den alten Gewerkschaften des FDGB etwas zu tun haben wollten, noch die Kraft oder den Mut aufbrachten, selbständige und unabhängige, basisdemokratische Initiativen zu ergreifen, oder die eine solche Form der Organisierung ablehnten, weil sie wussten oder ahnten, dass es nun galt, Institutionen mit demokratisch legitimierten Verfahren aufzubauen. Vielleicht lag der Grund dafür, dass aus den Betrieben heraus in dieser Zeit keine rebellische oder gar revolutionäre Bewegung entstand, aber auch ganz profan darin, dass die Beschäftigten die Zuwendungen des FDGB nicht verlieren wollten, an erster Stelle die Zuteilung eines subventionierten Ferienplatzes: „Die hatten alle Angst um ihren Ferienplatz, den der FDGB ja zugewiesen hat und deshalb wollten die keine zweite Gewerkschaft ‚Reform.’“13 Wie auch immer. Die große Mehrheit der Beschäftigten in der DDR war neuen Experimenten gegenüber abgeneigt, insbesondere, wenn diese einen sozialistischen Anstrich hatten. Nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur und 40 Jahren kommunistischer Diktatur war die Entscheidung für die Gewerkschaften der Bundesrepublik eine Entscheidung für die erprobte und bewährte, über 100jährige Tradition unabhängiger, verbandsdemokratischer Gewerkschaften. Der Versuch, direkt- oder basisde10 IUG, INFO-Nr. 6, 19.03.1990, SJS, 4.176. 11 Ebd. 12 Vgl. Hürtgen, Renate, „Die Erfahrung laß ick mir nicht nehmen! Demokratieversuche der Belegschaften in den DDR-Betrieben zwischen Oktober 1989 und Januar 1990, in: Das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende“, Hrsg.: Bernd Gehrke/Wolfgang Rüddenklau, Münster 1999. 13 Regina Röhrig, zit. nach: Martin Jander/Stefan Lutz, „Die Gründung des Betriebsrates war eigentlich ein Mißverständnis. Von der gescheiterten Idee der Betriebsgewerkschaft ‚Reform’ zur Gründung eines ohnmächtigen Betriebsrats in GRW-Teltow (Herbst 1989 – Sommer 1990), Berliner Arbeitshefte, Nr. 77, Dezember 1992, a.a.O., S. 17.
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mokratische Gewerkschaften aufzubauen, hatte sich damit erledigt. Die Menschen der DDR wollten keine Utopie mehr, auch keine basisdemokratische. Theoretisch blieb die Alternative denkbar. Allein sie fand keine Anhänger. Die Initiativen blieben Randerscheinungen.14 Im Bedauern von Sympathisanten der basisdemokratischen Gewerkschaftsinitiativen, dass diese keinen Zuspruch fanden, wird nicht zur Kenntnis genommen, dass dieses Konzept historisch in Deutschland schon einmal gescheitert war, weil es für die deutschen Facharbeiter keine überzeugende Alternative für eine verbandsdemokratisch aufgebaute Gewerkschaft darstellte.15 In diesem Bedauern liegt auch ein Festhalten an einem scheinbar unbeschädigten Revolutions- oder Sozialismusmodell, das im vorindustriell inspirierten Wunschtraum einer „freien Assoziation der Produzenten“ (Marx) einen ebenso verheißungsvollen wie unbestimmten Ausdruck fand. So wenn Heiner Müller die umfassende geistige Entwaffnung der Arbeiter durch die Phrasen der SED bzw. des MarxismusLeninismus bedauerte: „Wo die Benennungen nicht mehr greifen, greift keine Praxis. Das Leben in der Phrase statt auf dem Boden der Tatsachen hat zur einzigen Überschussproduktion in unserer Mangelwirtschaft die Produktion von Staatsfeinden gemacht, die den Mangel reproduziert.“16
Tatsächlich war eine an Marx orientierte „Produzentenrevolution“ angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das die SED im Namen von Marx und Lenin hinterlassen hatte, unvorstellbar geworden. An die Revolution in der DDR die Messlatte der Alternative zwischen „Produzentenrevolution“ und einer „passiven Konsumentenrevolution“ anzulegen, ist jedoch verfehlt. Es wird so getan, als wisse jemand, was eine wirkliche Produzentenrevolution sei. Gleichzeitig wird sowohl der politische Aufstand gegen die SEDDiktatur als auch die freie Entscheidung der DDR-Bürger, sich positiv am Demokratieund Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik zu orientieren, abgewertet. Die damit einhergehende Denunziation des Strebens der DDR-Bürger nach materiellem Wohlstand ist gänzlich unangemessen: „Zugleich macht der Begriff der Konsumentenrevolution darauf aufmerksam, dass es weniger die positive Orientierung am bundesdeutschen Demokratiemodell war, die die Menschen zum Handeln veranlasste, sondern vielmehr die Erwartung, am materiellen Output des westdeutschen Systems partizipieren zu können. (...) Somit lässt sich der Umbruch in der DDR als passive Konsumentenrevolution verstehen, die das Vehikel der Wiedervereinigung benutzte, um den Weg einer selbst zu verantwortenden Transformation nicht gehen zu müssen.“17
14 Vgl. Martin Jander, Formierung und Krise der DDR-Opposition. „Die Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ – Dissidenten zwischen Demokratie und Romantik, Berlin 1996. 15 Vgl. Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, Berlin 1989. 16 Neues Deutschland vom 14. Dezember 1989. 17 Wolfgang Schroeder, Fallbeispiel IG Metall: Weder Selbsttransformation noch Fusion, in: Rainer Weinert/Franz-Otto Gilles, a.a.O., S. 143.
5. ÖTV – Erste Schritte in die DDR Während in der DDR die Verhältnisse zum Tanzen gebracht wurden, verhielten sich in der Bundesrepublik der DGB und seine Einzelgewerkschaften auffallend zurückhaltend. Die Ereignisse und die Entwicklung im Osten verschlugen nicht nur den Gewerkschaften die Sprache. Politikern aller Couleur und den meisten Bürgern erging es ebenso. Freie Gewerkschaften neigen mit gutem Grund dazu, in politischen, insbesondere außenpolitischen Fragen zurückhaltend zu sein, da deren Beantwortung nicht zu ihrer Kernkompetenz zählt. Dabei hätte es nicht gegen das Grundsatzprogramm des DGB verstoßen, sich mit den Flüchtlingen zu solidarisieren und die Bürger- und Menschenrechtsbewegung in der DDR in ihrem Anliegen nach demokratischen Reformen entschieden zu unterstützen. Stattdessen empfing der DGB-Vorsitzende Ernst Breit im September, als Ungarn bereits die Grenzen geöffnet hatte und täglich Tausende der DDR für immer den Rücken kehrten, den Vorsitzenden des FDGB Harry Tisch zu einem turnusmäßigen Besuch. Tisch war als gleichzeitiges Politbüromitglied der SED einer der Hauptverantwortlichen der SED-Diktatur. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz war sein Kommentar zu den Flüchtlingen: „(...) was habe ich mit diesen Leuten zu schaffen.“ Der DGB-Vorsitzende saß mit versteinertem Gesicht daneben und fand keine Worte. Die Peinlichkeit dieses Bildes war kaum zu überbieten. Die Teilnahmslosigkeit des DGB gegenüber dem Geschehen in der DDR und sein mangelndes Interesse an der Bürgerbewegung haben mancherlei Gründe. Ob sie monokausal damit zu erklären sind, dass der DGB 17 Jahre lang eine fruchtlose Spitzendiplomatie mit dem FDGB betrieben hatte, „fernab von den demokratischen Bewegungen in der Gesellschaft der DDR“,1 scheint jedoch fraglich. In dieser These wird dem DGB zuviel Gewicht zugemessen. Er war als schwacher Dachverband, als ein Bund von autonomen Einzelverbänden konstruiert. Er sollte nicht selbständig agieren. Die grundsätzlichen politischen Entscheidungen traf einmal im Monat der DGB-Bundesvorstand, dem alle Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften angehörten. Der geschäftsführende Vorstand des DGB sollte in gewerkschaftspolitischen Fragen lediglich ein Gremium zur Ermittlung des kleinsten gemeinsamen Nenners der Einzelgewerkschaften sein. Eine eigenständige gewerkschaftspolitische Position des DGB im Widerspruch zu den Einzelgewerkschaften war nicht erwünscht. Fast jede gewerkschaftspolitische Äußerung eines DGBVorsitzenden musste daher sorgfältig abgestimmt werden. Die Sprachlosigkeit des DGBVorsitzenden in den Anfängen der Wendezeit war mithin der Zurückhaltung und der Sprachlosigkeit der Einzelgewerkschaften geschuldet.
Selbstverständnis zwischen Gegenmacht und Feindbild Kapitalismus Das Verhalten der DGB-Gewerkschaften zu den Ereignissen in der DDR wird bestimmt durch tradierte Einstellungen und Mentalitäten der Mitglieder und vor allem der hauptund ehrenamtlichen Funktionäre. Das Spektrum reichte von Verbrüderung mit FDGB1
Hans-Hermann Hertle, Nicht-Einmischung. Die DGB/FDGB-Beziehungen von 1972 bis 1989, Berliner Arbeitshefte Nr. 50, Berlin 1990, S. 15.
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Funktionären bis zu deren strikter Ablehnung. Für Anhänger und Funktionäre einer freien Gewerkschaft verstand sich die Ablehnung des FDGB und seiner Funktionäre von selbst, hingegen wirkten die Bestrebungen von Funktionären der DGB-Gewerkschaften, mit den Funktionären einer der „diskreditiertesten“ Organisationen in der DDR zusammenzuarbeiten, auf die Oppositionellen in der DDR verstörend. Diese merkwürdige Widersprüchlichkeit, dass Funktionäre einer freien Gewerkschaft, die der Demokratie verpflichtet ist, mehr oder weniger offen mit Funktionären einer kommunistischen Diktatur sympathisierten, ist erklärungsbedürftig. Nach dem Verhängnis, das die Nationalsozialisten über so viele Menschen und Nationen gebracht hatten, verständigten sich die überlebenden Funktionäre der verschiedenen Richtungsgewerkschaften, die Gewerkschaften als Einheitsgewerkschaft wieder aufzubauen. Dies war die Lehre, die sie aus ihrer Niederlage gegenüber den Nationalsozialisten glaubten ziehen zu müssen. Es war im Wesentlichen ein historischer Kompromiss zwischen der weitaus größten sozialdemokratischen und der kleineren christlichen Gewerkschaftsbewegung. Die Kommunisten hingegen hatten mit der Traditionslinie der Einheitsgewerkschaft nichts zu tun. In der Weimarer Republik bekämpfte die KPD die sozialdemokratischen Gewerkschaften als „sozialfaschistisch“ und versuchte, sie zu spalten, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Doch auch die KPD propagierte 1945 zunächst die Einheitsgewerkschaft. Anfangs sowohl in der östlichen als auch in den westlichen Besatzungszonen. Doch rückte sie davon in der Ostzone umgehend – noch bevor der FDGB seinen Gründungskongress 1946 abhalten konnte – wieder ab. Im Marxismus-Leninismus spielen Gewerkschaften grundsätzlich eine untergeordnete Rolle. Sie sind hier allenfalls als „Transmissionsriemen“ der kommunistischen Partei gefragt. Anhänger dieser Weltanschauung in die Ahnenreihe der Einheitsgewerkschaft aufzunehmen, gliche einem Schildbürgerstreich. 1945 gab es besonders in den Reihen der Gewerkschaften einen verbreiteten antikapitalistischen Konsens. Sozialistische Forderungen nach einer Vergesellschaftung der Banken und Schlüsselindustrien waren nicht nur eine Vorstellung sozialdemokratischer Gewerkschafter, sondern reichten bis weit in die Reihen der christlichen Gewerkschaftsbewegung. Selbst im Grundgesetz Artikel 14 Absatz 3 GG findet sich ein schwacher Abglanz dieses Gedankens. Das Eigentum wird dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet. In der Bundesrepublik fanden sich für sozialistische Experimente jedoch zu keinem Zeitpunkt demokratische Mehrheiten. In der DDR wurde das sozialistische Experiment angeordnet und die Enteignung des privaten Kapitals mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Der beginnende Aufbau des Sozialismus in der Sowjetischen Besatzungszone hatte auch unter Gewerkschaftern im Westen, besonders bei den sozialdemokratisch orientierten, viele Sympathien. Sie wären noch größer gewesen, wenn dieser Aufbau nicht unter stalinistischen Vorzeichen verlaufen wäre und die SPD nicht gleich zu Beginn mit der KPD zwangsvereinigt worden wäre. Viele bekannte Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler ließen sich jedoch auch davon nicht abschrecken. Schon bevor das von der CDU verfolgte Konzept einer sozialen Marktwirtschaft seine Überlegenheit gegenüber einer zentralen Planwirtschaft beweisen konnte, waren die Menschen dort, wo sie frei wählen konnten, vom Sozialismusmodell sowjetischer Prägung nachhaltig abgeschreckt. Die KPD erhielt 1949 in der Bundesrepublik 5,2% und 1952 nur noch 2,2% der Stimmen, bevor sie als verfassungsfeindliche Partei 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde. Der beispiellose Erfolg der marktwirtschaftlichen Ordnung in der Bundesrepublik ließ auch in der Sozialdemokratie die Heilsversprechung einer sozialistischen Ökonomie verblassen. Die Wahlergebnisse legten nahe, dass
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mit dem Konzept einer proletarischen Klassenpartei keine Mehrheiten zu gewinnen waren. Mit dem Godesberger Programm versuchte die SPD schließlich, Anschluss an die neue Zeit zu finden. Ein Anhänger der sozialen Demokratie musste nun kein demokratischer Sozialist mehr sein. In den Gewerkschaften hielt sich bei Teilen des sozialdemokratisch orientierten Funktionärskörpers dennoch hartnäckig eine dezidiert antikapitalistische Grundströmung, die in den Anfangsjahren vor allem durch den Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (WSI), Victor Agartz, theoretisch geprägt wurde und lange nachwirkte. Diese Strömung bekam durch den Interessenskonflikt zwischen Kapital und Arbeit und durch die praktische Erfahrung, dass selbst große Erfolge in der Tarifpolitik die gehegten Erwartungen meist nicht erfüllen konnten, immer neue Nahrung. Auch die Vorstellungen zur Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen gingen weit über das Erreichte hinaus. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wurde dabei oft nicht funktional betrachtet, sondern ideologisch. Eine normativ aufgeheizte Klassenkampfrhetorik lieferte häufig die Begleitmusik. Vor dem Hintergrund der jüngsten historischen Erfahrung verbreitete die Parole „Kapitalismus führt zu Faschismus“ eine nicht hinterfragbare Evidenz, die permanent als Hintergrundschwingung wirkte. Die große Mehrheit der Funktionäre zog daraus demokratische Konsequenzen. Für eine Minderheit aber war hier eine ideologische Brücke gebaut, die es erlaubte, in der Bundesrepublik Funktionär einer DGBGewerkschaft zu sein und gleichzeitig mit dem diktatorischen Sozialismusmodell der Sowjetunion bzw. der DDR zu sympathisieren. An diese verbreitete antikapitalistische Grundstimmung vermochte die KPD, die nach ihrem Verbot illegal weiterexistierte und 1968 als DKP zugelassen wurde, innerhalb der Gewerkschaften wieder anzuknüpfen. Im demokratischen parteipolitischen Wettbewerb war sie jedoch unbedeutend. Sie bekam bei der ersten Bundestagswahl, an der sie sich beteiligte, lediglich 0,3% und in den folgenden Wahlen 0,2% der Stimmen. Sie war letztlich eine von der SED ausgehaltene Sekte, was aber erst nach dem Ende der DDR und der SED eingestanden werden musste. Ihr politischer Einfluss schien vernachlässigbar. Erstaunlicherweise gewann sie jedoch unter Studenten, an Universitäten und in den Gewerkschaften einen erheblichen Einfluss, der weit über ihren Zuspruch in der Gesamtbevölkerung hinausging. Daran gemessen erregte der Anteil an Posten und Mandaten, den die DKP in Gewerkschaften und Gremien einiger Universitäten besetzte, immer wieder Aufmerksamkeit.2 Der Schlüssel für ihren tatsächlichen Einfluss lag in ihrer „Bündnispolitik“. Sogar herausgehobene Funktionäre, die zwar Mitglied der Sozialdemokratie waren, zogen die Nähe zur DKP einer Verteidigung der Grundsätze ihrer eigenen Partei vor. Detlev Hensche, ehemaliger Leiter der gesellschaftspolitischen Abteilung in der DGB-Bundesvorstandsverwaltung und Vorstandsmitglied der IG Druck, betrieb diese Politik besonders offensiv. Er verkündete, zwischen kommunistischer und sozialdemokratischer Tarifpolitik bestünde kein Widerspruch. Der damalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder widersprach ihm in der ÖTV-Mitgliederzeitung.3 Als späterer Vorsitzender der IG Medien nutzte Hensche seine Möglichkeiten, um den Einfluss der DKP zu verharmlosen. Hensche deckte den Kurs des Schriftstellerverbandes (VS), der kollektives Mitglied in seiner Gewerkschaft geworden war und den Opfern von SED und Stasi die Solidarität verweigerte. Dieses Verhalten gegenüber
2 3
Vgl. Ossip K. Flechtheim et al., Der Marsch der DKP durch die Institutionen, Frankfurt/M. 1980. Vgl. Gerhard Schröder, Unterschiede nicht verwischen, in: ÖTV-magazin, 8/79.
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Schriftstellern, die in der DDR verfolgt, eingesperrt, gequält oder ausgebürgert wurden, war Hensche erst nach dem Fall der Mauer peinlich. In der IG-Metall gewannen die DKP und ihre Anhänger vor allem im Bildungsbereich großen Einfluss. Beinahe wäre es ihnen gelungen, die Geschichtsschreibung Walter Ulbrichts zur Deutschen Arbeiterbewegung als verbindliche Schulungslektüre durchzusetzen. In dieser ging es darum, einen durchgängigen Verrat der Sozialdemokratie nachzuweisen und die verhängnisvolle Politik der KPD schönzureden oder zu verschweigen.4 In der Mitgliederzeitung metall wurde eine Geschichtsserie, die dieser Interpretation verpflichtet war, erst gestoppt, nachdem Heinz Brandt, KPD-Mitglied, Häftling der Nazis und der SED,5 diese Geschichtsklitterung kritisiert hatte.6 Auch im Bereich der Jugendbildungsarbeit scheiterten sie nur knapp mit dem Ansinnen, ihre dogmatische Schulungskonzeption samt einem entsprechenden Geschichts- und Gesellschaftsbild durchzusetzen. Nur vordergründig ging es dabei um einen unterschiedlichen pädagogischen Ansatz: Leitfadenpädagogik contra Erfahrungsansatz. Letzterer orientierte sich am Konzept des exemplarischen Lernens von Oskar Negt, war also ebenfalls darauf angelegt, Einsichten in die „böse“ Natur des Kapitals zu vermitteln.7 Den DKP-Anhängern ging es vorrangig um die Bekämpfung einer undogmatisch sozialistischen Richtung. Diese Auseinandersetzung erfolgte nicht über Inhalte, sondern vornehmlich über Personalpolitik. Nur mit Mühe hat die DGB-Jugendschule Oberursel mit ihrem Leiter Hinrich Oetjen und seinen pädagogischen Mitarbeitern Margareta Fohrbeck, Lothar Kamp, Nik Simon u.a. die Auseinandersetzung überstanden. Der Einfluss der DKP-Anhänger bei der Gewerkschaft HBV, der Gewerkschaft Holz und Kunststoff und der DPG war ebenfalls erheblich. Auch in der Jugendarbeit der ÖTV hatten sie Einfluss gewonnen, und zwar neben den Bezirken Berlin und Baden-Württemberg vor allem im mitgliederstarken Bezirk Nordrhein-Westfalen II (NRW II). Dort gelangte ab Mitte der 70er Jahre verstärkt Nachwuchspersonal mit DKP-Fixierung in haupt- und ehrenamtliche Jugendfunktionen. Entsprechende Sorgen der ÖTV-Spitze wurden wiederholt im engen Führungskreis des geschäftsführenden Hauptvorstandes und der Bezirksleiter thematisiert, ohne dass es gelang, den Bezirk zu einer anderen Politik zu bewegen. Für ebenfalls bedrohlich wurde der Einfluss auf den hauptamtlichen Nachwuchs der ÖTV durch die DKP-nahe Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen (AgF) in Marburg angesehen. Hier beschloss der gHV, dass die Programmatik des Arbeitskreises unvereinbar mit den Grundwerten und Zielen der Gewerkschaft ÖTV sei. Ein wichtiges publizistisches Gegengewicht in der ideologischen Auseinandersetzung mit den DKP-Anhängern bildete das ÖTV-magazin mit seinem Chefredakteur Dieter Schneider. Über die Diskussion der Geschichte der Gewerkschaften und die der deutschen Arbeiterbewegung versuchte er, gegen die Geschichtsklitterung der kommunistischen Geschichtsschreibung aufklärerisch zu wirken. Er war es auch, der die grundlegenden Umwälzungen in der Sowjetunion schon im Frühjahr 1989 kommentierte: 4 5 6 7
Manfred Scharrer, „Durch Halbwahrheiten aus der Geschichte lernen“, in: Frankfurter Rundschau vom 2. Januar 1979, Dokumentation. Vgl. Knud Andresen, Widerspruch als Lebensprinzip: Der undogmatische Sozialist Heinz Brandt (1909–1986), Bonn 2007. Vgl. Heinz Brandt, Vorwärts ... vergessen, in: Langer Marsch. Zeitung für eine Neue Linke, Nr. 40/41, Januar 1979, S. 23f. Vgl. Diskussionspapier zur Strategie der DKP und SDAJ im gewerkschaftlichen Jugendbereich, in: Frankfurter Rundschau vom 5. und 7. Mai 1979 („Oberurseler Papier“, M.S.).
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„Es sind fürchterliche Wahrheiten, die in diesen Monaten beinahe pausenlos auf die Gläubigen niederhageln: Wahrheiten über den Terror unter Stalin, über die Millionen Opfer in der Sowjetunion, über die Kumpanei des roten Zaren mit dem Nazi-Ungeheuer Hitler, über die spezielle Rolle, die deutsche Kommunisten in entscheidenden Jahren als Helfershelfer Stalins spielten. Viele Kommunisten spüren, wie unter ihnen der Boden wankt, wie sich tiefe Risse auftun.“8
Politisch bildeten sich in den Gewerkschaften im Wesentlichen zwei Lager: auf der einen Seite die Kommunisten samt ihren Mitläufern und Sympathisanten, für die sich das Akronym „Stamos“9 einbürgerte, auf der anderen Seite die Sozialdemokraten und die Christlich-Sozialen. Für die einen gab es das Etikett „klassenkämpferisch“, für die anderen das Etikett „sozialpartnerschaftlich“. Bis weit in die Reihen der Sozialdemokratie hinein stand Ersteres für das Gute, Letzteres für das Verwerfliche. Die geschichtspolitische Auseinandersetzung wurde von der DKP offensiv betrieben. Zum fast offenen Schlagabtausch kam es in der Diskussion über den Entwurf des DGBGrundsatzprogramms 1981. Es ging dem DKP-Lager vor allem um die Aufnahme der Kommunisten in die Traditionslinie der Einheitsgewerkschaft. Sozialdemokraten und Christlich-Soziale konnten sich mit ihrer Auffassung, die Einheitsgewerkschaft habe ihre Wurzeln „vor allem“ in den „freiheitlich-sozialistischen“ und den „christlich-sozialen Richtungen“ der deutschen Arbeiterbewegung, nur knapp behaupten.10 Dieter Wunder, der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, war der erste Verantwortliche einer DGB-Gewerkschaft in der Wendezeit, der das Scheitern des realen Sozialismus zum Anlass nahm, das gewerkschaftliche Selbstverständnis bundesrepublikanischer Gewerkschaften in Frage zu stellen. Gemeint hat er damit die antikapitalistische Grundstimmung vieler Funktionäre, die einer vagen Vorstellung von „demokratischem Sozialismus“ anhingen und der „nicht einflusslosen Minderheit“, die sehr konkret ihr Vorbild im antidemokratischen Sozialismus der DDR hatte. Er zog folgenden Schluss aus dem Zusammenbruch der DDR: „Weder Vergangenheit noch Gegenwart, weder Idee noch Praxis lassen es berechtigt erscheinen, an der bisherigen Vorstellung vom Sozialismus festzuhalten. Für die Gewerkschaften gibt es keinen Grund mehr, ihren Beschlüssen die Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsordnung zugrunde zu legen.“11
Dieter Wunder löste bei einigen seiner Kollegen einen Proteststurm aus, obwohl es kurz so ausgesehen hatte, als wären die Liebhaber des realen Sozialismus zu neuen Einsichten fähig. Der Zusammenbruch des Ost-Block-Kommunismus, die nun eingeräumten Verbrechen und Mängel, sowie das Eingeständnis, dass man die Länder in den Bankrott gewirtschaftet und den Menschen fundamentale Menschenrechte vorenthalten hatte, drängte auch sie zu selbstkritischen Äußerungen. Hensche gestand jetzt ein, es sei ein Fehler gewesen, dass er und seinesgleichen zu den „negativen Erscheinungen“ in der DDR und den anderen stalinistischen Diktaturen geschwiegen hätten. Als Entschuldigung 8 Dieter Schneider (er), Rang abgelaufen, Glosse des Monats, in: ÖTV-magazin, 3/89. 9 Staatsmonopolistischer Kapitalismus, ein Begriff der SED, mit dem sie versuchte, die erstaunliche Produktivität des Kapitalismus in der Bundesrepublik und in anderen demokratisch verfassten Staaten zu erklären, bzw. warum der Kapitalismus immer noch nicht zusammengebrochen war, wie es doch von Marx vorhergesagt war. 10 Vgl. Hans-Hermann Hertle/Martin Jander, Toleranz und Härte, Die Entstehungsgeschichte des DGB-Grundsatzprogramms 1989, Dokumentation FU-Berlin, ZI 6, Berlin 1982. 11 Dieter Wunder, Der Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ und das Selbstverständnis der Gewerkschaften, GMH, 12/89.
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für dieses Verhalten führte er an, man habe nicht ins gleiche Horn wie Springer und Strauß „tuten“ und in den Verdacht des „Antikommunismus“ geraten wollen. Damit sprach er einen Sachverhalt an, der auf den wirkungsvollsten Kampfbegriff der Kommunisten verwies. Jegliche Kritik an den Scheußlichkeiten, die sie besonders unter Stalin begangen hatten, versuchte man damit zu unterbinden. Gelingen konnte das nur, weil bis in bürgerliche Kreise hinein nichts mehr gefürchtet war als in den Geruch des Antikommunisten zu geraten. Wer wollte schon die „Grundtorheit des Jahrhunderts“ (Thomas Mann) begehen? Versteht man diese Einlassung Hensches recht, dann hat er dazu geschwiegen, weil er Angst hatte, ausgegrenzt zu werden – wohlgemerkt von den Stalinisten, nicht von den Sozialdemokraten. „Den Verdacht der Kumpanei“ mit den Tätern nahm er billigend in Kauf.12 Um die Opfer scherte er sich nicht. Die Äußerungen Hensches bedeuteten indes keineswegs, dass nunmehr grundsätzlich über das eigene Selbstverständnis nachgedacht werden sollte. Für ihn galt nach wie vor: „Ein demokratischer Sozialismus bietet weiterhin Perspektiven.“13 Wie diese aussehen könnten, vermochte er indes nicht zu sagen. Entscheidend war, ein „Abschied von antikapitalistischen Zielen ist keineswegs geboten.“14 Das Feindbild „Kapitalismus“ blieb durch die Ereignisse im Osten unerschüttert. Nur der positive Bezug auf die reale sozialistische Wirtschaftsordnung, jetzt „Kommandowirtschaft“ genannt, war schwierig geworden. Doch diese Leerstelle konnte durch Berufung auf die Utopie des demokratischen Sozialismus gefüllt werden, der angeblich nach wie vor seiner Verwirklichung harrte. Der IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler, der viel eindeutiger die „stalinistische Schreckensherrschaft“ kritisierte, sah die „Idee eines humanen und demokratischen Sozialismus“ ebenfalls als von der Wende unbeschädigte „Zielorientierung zwischen staatsbürokratischem Kommunismus“ und „dem inhumanen Kapitalismus westlicher Prägung.“15 Diejenigen, die in der DDR die Diktatur der SED stürzten, konnten nicht damit rechnen, dass ihnen aus den DGB-Gewerkschaften einhellige Zustimmung entgegenschlug. Es verwundert in Kenntnis der unterschiedlichen politischen Richtungen auch nicht, dass Funktionäre aus DGB-Gewerkschaften den Schulterschluss mit FDGB-Funktionären suchten.
ÖTV in der Wendezeit Im sozialdemokratisch gesinnten Lager war die Freude über den Zusammenbruch der SED-Diktatur zunächst groß und die Sympathie für die Bürgerbewegung ungeteilt. Als aber aus dem Slogan „Wir sind das Volk!“ dann „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“ wurde, schwand diese Freude rapide. Man fürchtete, mit der Thematisierung der Wiedervereinigung könnte ein neuer Nationalismus aufflammen. Eine Wiedervereinigung war in Teilen der SPD und der Gewerkschaften auch deshalb unerwünscht, weil es die verbreitete Auffassung gab, die Deutschen hätten durch die Verbrechen, die die Nationalsozialisten begangen hatten, ein für alle Mal das Recht auf eine nationale Einheit verspielt. Bekannte Präzeptoren des deutschen Volkes wie Habermas und Grass wurden auch deshalb nicht müde, vor dem Unheil der staatlichen Vereinigung zu warnen. 12 13 14 15
Detlev Hensche, in: Frankfurter Rundschau vom 2. März 1990. Ders., in: Der Spiegel 12/90. Ders., in: GMH, Sonderdruck Sozialismus-Debatte, 1990. Protokoll, 16. Ordentlicher Gewerkschaftstag der IG Metall, 22. bis 28.11.1989. S. 320ff.
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SPD und Gewerkschaften sahen ihre Aufgabe zunächst nicht darin, zum Gelingen der deutschen Einheit in einer vielleicht einmaligen historischen Konstellation beizutragen. Ihre große Sorge war der Zusammenbruch der DDR oder die Sorge um die Kosten für den Arbeitnehmer. Sie begannen Trauer und Bedenken zu tragen. Die Freude über das Ende einer Diktatur überließen sie anderen. Die Bürger der DDR stellten ihnen bei der ersten freien Wahl am 18. März 1990 für diese Haltung die Rechnung aus und wählten mit großer Mehrheit das von der CDU unterstützte Parteienbündnis, das sich für die schnellstmögliche Herstellung der deutschen Einheit, und zwar durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG, ausgesprochen hatte. Die ÖTV unterschied sich in ihrer abwartenden Haltung zu dem Geschehen in der DDR und in ihrer politischen Zerrissenheit nicht wesentlich von anderen Gewerkschaften. Zudem quälte sie sich 1989 mit zwei riesigen Projekten: dem Vorhaben „Zukunft durch öffentliche Dienste“ und einer Organisationsreform, die beide erhebliche Ressourcen banden. Das Projekt „Zukunft durch öffentliche Dienste“ (ZÖD) war ein groß angelegter Versuch der Modernisierung der Gewerkschaft, bei dem sich Initiativen vor Ort wie in Frankfurt, Hagen oder Dortmund mit Strategien der ÖTV-Spitze verbündeten. Es setzte darauf, dass sich verantwortliche Akteure der ÖTV am Arbeitsplatz und im Betrieb an der Modernisierung des öffentlichen Dienstes beteiligen sollten. Hintergrund dieses Reformvorhabens war vor allem die Privatisierungspolitik vieler Kommunen. Mit eigenen positiven Vorschlägen sollte die ÖTV agieren und nicht nur reagieren. Von vielen Funktionären wurde diese Politik als Angriff auf tradierte gewerkschaftliche Mentalitäten und Verhaltensmuster des Nein-Sagens verstanden. Es traf von Beginn an auf heftige Gegenwehr derer, die Gewerkschaften nur als Gegenmacht und nicht als Co-Management verstanden. Zudem verlangte ZÖD ein anderes gewerkschaftliches Organisationsmodell und offenere und flexiblere gewerkschaftliche Betriebsstrukturen. Insgesamt hätte die Umsetzung dieses Projekts erhebliche Folgewirkungen für die tradierte gewerkschaftliche Organisations- und Tarifpolitik gehabt. Dieses anspruchvolle, umstrittene und letztlich ungeliebte Vorhaben wurde von den Ereignissen in der DDR jedoch überrollt. Ebenso erging es dem Projekt einer umfassenden Organisationsreform. Sie wollte verknöcherte Strukturen aufbrechen, die Organisationsabläufe schlanker und effizienter machen und die Betreuungsstrukturen verbessern. Neben diesen Reformen, die erheblichen Arbeitsaufwand verlangten, war das Kerngeschäft einer Gewerkschaft, die Tarifarbeit, besonders für den zentralen Öffentlichen Dienst, nicht zu vernachlässigen. Die ÖTV war im Herbst 1989 erheblich mit sich und ihren Aufgaben beschäftigt. Die ÖTV befasste sich auf ihrer Hauptvorstandssitzung am 10. und 11. Oktober 1989 zum ersten Mal grundsätzlich mit der Entwicklung in der DDR. Der Hauptvorstand der ÖTV war der Ort, an dem der geschäftsführende Hauptvorstand (gHV) Rechenschaft ablegte und sich für anstehende wichtige Entscheidungen Zustimmung sicherte. Im Oktober ging es zunächst nur um eine politische Einschätzung zu den Ereignissen im Osten und in der DDR. Eine solche offizielle politische Einschätzung der ÖTV barg erheblichen Sprengstoff, denn die oben erwähnten politischen Lager trennte gerade die Haltung zur DDR. Innerhalb der ÖTV herrschte eine permanente, meist verdeckt geführte Auseinandersetzung, die das Betriebsklima erheblich vergiftete. Schon bei Heinz Kluncker und zunehmend auch bei Monika Wulf-Mathies gehörte das ständige Austarieren ideologisch gegensätzlicher Positionen zum permanenten Geschäft der Vorsitzenden. Es bedurfte einer immensen Integrationsleistung, die ÖTV politisch zusammenzuhalten. Politische Erklärungen waren daher das Werk umsichtiger Stabsarbeit. Die Aufgabe der Vorsitzenden war es, die unterschiedlichen Positionen im Vorfeld so auszutarieren und in einen
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gemeinsamen Entwurf zu integrieren, dass ihm möglichst alle zustimmen konnten. Diesen Kompromisscharakter trägt auch die „Entschließung zur Situation in der DDR“. An den allgemeinen Formulierungen fällt vor allem auf, dass die Notwendigkeit eigenen Handelns entweder noch nicht gesehen wurde oder dass konkrete Aussagen dazu vermieden werden sollten. Der Appell zum Handeln richtete sich an andere: an die Regierung der DDR, an den FDGB und an die Bundesregierung. Die ÖTV war bestürzt über die Flüchtlingswelle und zeigte Sympathie für die Opposition, die unter der Parole „Wir bleiben hier“ für „Freiheit und Demokratie“ demonstrierte. Die Gewalt von Polizei und Staatssicherheit gegen friedliche Demonstranten verurteilte sie. Von den Regierenden der DDR verlangte sie, „endlich den Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen, Menschenrechte zu achten, die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger zu garantieren und demokratische Entwicklungen zuzulassen.“
Die Bundesregierung wurde aufgefordert, eine Deutschlandpolitik zu betreiben, die den Reformprozess in der DDR fördere, und „Wiedervereinigungsillusionen und Grenzdebatten“ zu vermeiden. Von den FDGB-Gewerkschaften erwartete sie, „dass sie die Sorgen der Menschen aufgreifen und sich am Demokratisierungsprozess beteiligen“.16 In den Ausführungen zur Begründung der Vorlage machte die ÖTV-Vorsitzende deutlich, dass die Aufmerksamkeit der ÖTV in erster Linie nicht der Entwicklung in der DDR galt, sondern den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Bundesrepublik. Sie befürchtete, dass das „Versagen des Staatskapitalismus im Ein-Parteien-System“ in der DDR zur „Seligsprechung des Privatkapitalismus“ in der Bundesrepublik genutzt werden könnte. Sie ängstigte sich vor dem Aufkommen einer Wiedervereinigungsdiskussion und warnte ihre Kollegen davor, sich daran zu beteiligen. „Wir sollten nicht zu denen gehören, die die Wiedervereinigung auf dem Boden der Bundesrepublik erwähnen.“ Überhaupt sah sie die Zukunft der Bundesrepublik in einem eher düsteren Licht: Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes „werde zunehmend in Frage gestellt,“ und „der Prozess der Vermögenskonzentration habe sich verschärft.“17 Die Entschließung wurde ohne große Diskussion verabschiedet. Die ÖTV warnte im Oktober vor einer Wiedervereinigungsdiskussion in dem Bewusstsein, dass diese ohnehin nicht auf der Tagesordnung stehe. Die Entwicklung in der DDR wurde als innere Angelegenheit dieses Staates betrachtet. So war es zwar ein Zufall aber doch irgendwie bezeichnend, dass sich der geschäftsführende Vorstand der ÖTV am Tag, als die Mauer fiel, fern der Heimat auf der Konferenz der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) in Harare aufhielt. Die ÖTV konnte jetzt gegenüber den Ereignissen in der DDR nicht mehr tatenlos bleiben. An die „Stallwache“ zu Hause wurde die Anfrage herangetragen, ob die ÖTV zur Bewältigung des befürchteten Ansturms von Flüchtlingen die Bildungsstätten als Notunterkünfte zur Verfügung stellen könne. Sie entschied, dies nicht zu tun. Um ein Zeichen zu setzen, dass die ÖTV dennoch ihren Beitrag zu den aktuellen Ereignissen leisten wolle, wurde die Bildungsstätte in Berlin als Übernachtungsquartier für westdeutsche Busfahrer zur Verfügung gestellt, die nach Berlin geeilt waren, um der BVG zu helfen, den Nahverkehr aufrechtzuerhalten. Auf der nächsten Hauptvorstandsitzung im Dezember 1989 stellte die ÖTVVorsitzende fest, dass die Entschließung vom 11. Oktober „im Kern“ immer noch gelte 16 ÖTV-Hauptvorstand, Entschließung zur Situation in der DDR, ÖTV-INTERN, 3/89, S. 43–45. 17 HV-Sitzung vom 10./11. Oktober, Wortprotokoll, S. 226, AdsD, 51 ÖTV B, 130117.
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und eine weitere Beschlussfassung daher nicht erforderlich sei. In ihrer Rede ging sie nun ausführlich auf die Situation in der DDR ein. Sie konstatierte einen Vertrauensverlust bei den „Staatsgewerkschaften“ und war beunruhigt über das „gesellschaftliche Vakuum“, das dadurch entstanden sei. Sie beklagte die Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme und vermutete, dass der FDGB sich „eingeigelt“ habe. Ferner ging sie davon aus, dass die Opposition um das Neue Forum herum sich nicht für gewerkschaftliche Belange interessiere. Kurzum, die ÖTV wolle zwar helfen, könne diese Hilfe aber nicht aufdrängen – schon gar nicht als „besserwisserische Einmischung von außen.“ Eine Wiedervereinigung, die nun immer häufiger thematisiert wurde, lehnte sie weiter ab. Für „eine engere Zusammenarbeit“ beider deutscher Staaten spreche allerdings das vorhandene „Zusammengehörigkeitsgefühl.“ Sogar den zehn Punkten von Helmut Kohl attestierte sie „viel Vernünftiges,“ obwohl sie den Verdacht nicht loswerde, dahinter könne sich „Großmachtdenken“ verbergen. Eine zusätzliche Belastung für westdeutsche Arbeitnehmer lehnte sie ab. Allerdings wollte sie „auch Kleinmut und Wohlstandschauvinismus in den eigenen Reihen bekämpfen.“18 Und immer noch gingen alle Appelle zum Handeln nicht an die eigene Adresse.
Erste Kontakte Die Wirklichkeit in Deutschland hatte die ÖTV zu diesem Zeitpunkt bereits eingeholt. Es waren wieder die Menschen der DDR, von denen die Initiative ausging. Nachdem die Mauer gefallen war, strömten sie nicht nur in die Kaufhäuser. Manche fanden auch den Weg in die Gewerkschaftshäuser der grenznahen Kreisverwaltungen und in die ÖTVBezirksverwaltung Berlin (West). „Gleich nach der Maueröffnung sind wir geradezu von den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ostteil der Stadt überrannt worden.“19 Vielfach gingen die Ost-Berliner Kollegen jedoch gar nicht erst ins Gewerkschaftshaus, sondern direkt in die West-Berliner Betriebe und Einrichtungen. „Die sind zum Personalrat der BVG oder zum Personalrat der Stadtreinigung gegangen, sozusagen zu ihren Leuten.“20 Auf Seiten der DDR-Gewerkschafter bestand in allen Bereichen und Regionen großer Informationsbedarf. „Wir haben es zuerst einmal am Büroablauf gemerkt, dass vermehrt Kollegen und Kolleginnen aus den grenznahen Gemeinden Thüringens und Sachsens selber vorbeigeschaut und sich über die ÖTV informiert haben. In der Regel waren es auch Betriebsvertretungen (...). Immer mit dem Ziel, dass der zweite Schritt eine Versammlung im Betrieb sein sollte. Also sie wollten mit uns Kontakt knüpfen und dann diese Informationen an die Belegschaft im Betrieb herantragen.“21
Die Kollegen wollten wissen, wie die Gewerkschaften im Westen, wie das Tarifvertragswesen und die Sozialversicherung, wie das Arbeitsrecht und vor allem die betriebliche Mitbestimmung funktionierten. Es waren in der Regel nicht die einfachen Mitglieder, die nach solchen Informationen verlangten, sondern ehrenamtliche Funktionäre, die als Vertrauensleute oder BGL-Mitglieder unter der gewerkschaftlichen Unmündigkeit und 18 19 20 21
HV-Sitzung vom 7./8. Dezember, Wortprotokoll, S. 50–61, ebd. Interview mit Werner Ruhnke vom 10. September 1991, Dokumentation, S. 345. Ebd, S. 349. Interview mit Eckhard Stade und Dieter Bauer vom 8. November 1993, Dokumentation, S. 116.
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Ohnmacht gelitten hatten und jetzt die Chance sahen, eine wirkliche Gewerkschaft aufzubauen. Darunter waren auch hauptamtliche BGL- und andere Funktionäre, die den Wind des Zeitenwechsels früh verspürten. Ihre Motive waren dabei durchaus nicht immer uneigennützig. Vielen ging es schlicht um das Sichern der eigenen Position. Vielen Westkollegen waren diese Interessenten oft nicht geheuer. Die Vermutung, dass die alten Funktionäre verlorenes Vertrauen bei ihren Mitgliedern wieder erlangen wollten, indem sie freundliche Kontakte zu West-Funktionären vorwiesen, war nicht abwegig. „Da wurde man möglicherweise auch von ihnen missbraucht.“22 In der ÖTV-Bezirkverwaltung Berlin führte die Situation nach der Maueröffnung bald zu einer personellen Überbelastung. Der Informations- und Beratungsbedarf wuchs in dem Maße wie die FDGB-Strukturen zusammenbrachen. Am 21. November stellte die Bezirksverwaltung Berlin den Antrag auf personelle Unterstützung und schlug vor, eine gesonderte Informationsstelle für DDR-Kollegen einzurichten. Der gHV konnte sich nicht entscheiden. Schließlich schrieb der Berliner Bezirksleiter Kurt Lange einen Brief an Wulf-Mathies, in dem er dringend den Aufbau eines „DDR-Verbindungsbüros“ forderte, da diese „mit den zunehmenden Besuch von Kolleginnen und Kollegen aus der DDR verbundenen zeitraubenden Beratungen und Hilfen von unserer Bezirkverwaltung nicht mehr nebenbei erfolgen (können).“23 Vor allem solle die Form der Zusammenarbeit mit den „Schwestergewerkschaften“ ermittelt und die Umsetzung organisiert werden. „Notwenig wären z.B. Seminare, Veranstaltungen, Beratungsgespräche, Informationsmaterialien sowie die Vermittlung betrieblicher Partnerschaften.“ Er verlieh seinem Vorschlag besonderen Nachdruck mit dem Hinweis, dass die Beschäftigten in der DDR begännen, sich für Standesorganisationen besonders der Berufsgruppen „Ärzte, Richter, Wissenschaftler“ zu interessieren. Das waren Berufsgruppen, die für die ÖTV schwer zu erreichen waren und wo es ernsthafte Konkurrenzorganisationen wie z.B. den Marburger Bund bei den Krankenhausärzten gab. Am 12. Januar 1990 beschloss der gHV die Einrichtung dieser Informationsstelle, und zwar als „Informationsbüro des Hauptvorstandes“. Seine Hauptaufgabe war es, die Kontakte zu den DDR-Gewerkschaften zu koordinieren. Am 15. Februar nahm Werner Ruhnke, vorher vor allem für die Pressearbeit des Berliner ÖTV-Bezirks zuständig, seine Arbeit in Berlin-Mitte, Kleine Auguststraße 6, auf. Doch nicht nur in Berlin und entlang der offenen Grenze wurden Kontakte geknüpft, sondern auch in grenzfernen Städten der DDR. Oft wurden bereits bestehende Verbindungen der „Städtepartnerschaften“ genutzt, die sich im Zuge der Entspannungspolitik entwickelt hatten: „Da hat sich gezeigt, dass eine Zusammenarbeit möglich ist zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, die sonst in Gegensätzen leben. Also, dass auf einmal die Stadtverwaltung, Unternehmer und die ÖTV gesagt haben, wir wollen etwas gemeinsam aufbauen, das ist ein ganz neues Erlebnis gewesen. Die Interessengegensätze wurden einfach mal ein Stück weit zurückgestellt.“24
So wurden Kontakte zwischen Bochum und Nordhausen, zwischen Saarbrücken und Cottbus oder zwischen Hamburg und Dresden aufgebaut. Es herrschte ein buntes Treiben. Z.B. ließ Wolfgang Rose, stellvertretender Bezirksvorsitzender der ÖTV in Hamburg und SPD-Politiker, über Verbindungen aus der Städtepartnerschaft zwei Gewerkschafter aus Dresden zur SPD-Kreisdelegiertenkonferenz nach Hamburg mit der Begrün22 Interview mit Jörg Virchow vom 16. Oktober 1991, Dokumentation, S. 391. 23 Schreiben, Kurt Lange an Monika Wulf-Mathies vom 21.12.1989, SJS, 4.18. 24 Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 333.
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dung einladen: „Also Leute, wenn wir schon SPD sind, dann möchten wir an die Gewerkschafter denken (....) Aber bitte welche mit einer Vergangenheit, die man auch vorzeigen kann.“ Einer von ihnen, Peter Herold, war ehrenamtliches Mitglied der BGL im Bezirkskrankenhaus Dresden/ Friedrichstadt. Über Hamburg wurde er an Kollegen der Hauptverwaltung in Stuttgart weitervermittelt. Dann bekam er überraschend WestBesuch aus Stuttgart, dessen Gastgeschenke einer außerplanmäßigen Weihnachtsbescherung gleichkamen: „Jetzt ist der Knoll (Sekretär der Hauptverwaltung der ÖTV in Stuttgart, M.S.) aber mit einem VW-Bus angekommen und hatte einen Kopierer, 10.000 Blatt Papier, zwei elektrische Schreibmaschinen und alles was dazugehört, mitgebracht, dazu stapelweise Betriebsverfassungsgesetze.“25
Der rege Besuch aus der DDR nach der Maueröffnung in Berlin und den grenznahen Kreisverwaltungen hatte – wie auch die Beratungstätigkeit – spontanen Charakter. Der gHV in Stuttgart gab nun seine Zurückhaltung auf und unterstützte das ungewohnte Treiben zunächst in allgemeiner Form: „wir (…) haben immer wieder gesagt: Macht und helft.“26 Doch schon im Dezember 1989 versuchte er orientierend einzugreifen. Die Kreis- und Bezirksverswaltungen sollten alle Kontaktmöglichkeiten nutzen, „die Entwicklung hin zu freien, unabhängigen Gewerkschaften zu unterstützen.“27 Das war eine allgemeine, aber klare Ansage, nicht mit dem FDGB zu kooperieren. Es hatten sich die Meldungen gehäuft, dass die Geschäftsführer und Sekretäre sich sehr unterschiedlich gegenüber den FDGB-Funktionären verhielten. Eine Klärung politischer Grundsatzfragen drängte sich auf. Zum 13. Februar wurden die Geschäftsführer von 16 grenznahen Kreisverwaltungen zum Erfahrungsaustausch nach Stuttgart eingeladen. Vor allem in Berlin gab es eine Entwicklung, die es dringend geboten erscheinen ließ, sich eingehender mit der „Situation in der DDR“ auseinanderzusetzen: Anfang Januar informierte Kurt Lange das für Organisation zuständige gHV-Mitglied Willi Mück, dass der BGL-Vorsitzende des Berliner Energiekombinats Peter Witte (IG BergbauEnergie) samt seiner 8.000 Kolleginnen und Kollegen in die ÖTV eintreten wollten. Das Thema einer direkten Einmischung der ÖTV war damit auf dem Tisch. In Berlin wäre ein Beitritt von Ost-Kollegen satzungsrechtlich ohne Probleme möglich gewesen, denn die ÖTV-Satzung galt für ganz Berlin. Dieser Passus stammte noch aus der Zeit, als Berlin nicht durch eine Mauer getrennt war. Ob nur vergessen worden war, die Satzung zu ändern, oder ob die Berliner ÖTV tatsächlich noch gehofft hatte, eines Tages wieder für ganz Berlin zuständig zu werden, ist unklar. Doch die ÖTV schreckte vor den scheinbar immensen Schwierigkeiten zurück, die sie organisatorisch hinter einem solchen Massenbeitritt vermutete. Wie sollten die 8.000 neuen Mitglieder betreut, wie ihre Interessen vertreten, wie der Rechtsschutz gewährleistet werden etc. Das Zögern der ÖTV war jedoch auch politisch begründet. Sie wollte unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, auf Mitgliederfang in der DDR aus zu sein. „Dagegen sprach auch das Argument der Landnahme, jetzt kommen die Wessis und nehmen uns ein.“28
25 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 285. 26 Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 330. 27 Schreiben, Monika Wulf-Mathies u. Willi Mück an alle Kreis- und Bezirksverwaltungen vom 20.12.1989, SJS, 5.10. 28 Ebd.
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Das Ziel: Einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland Anfang Februar war die Beschaulichkeit in der ÖTV-Hauptverwaltung in Stuttgart, die DDR-Entwicklung betreffend, endgültig vorbei. Die allgemeinen politischen Ereignisse begannen sich zu überschlagen, und die Informationen über unabgesprochene und ungesteuerte Aktivitäten der ÖTV auf örtlicher Ebene schafften Unruhe. Handlungsdruck baute sich auf. Den letzten Anstoß, dass es höchste Zeit war, ein gewerkschaftliches Handlungskonzept zu erstellen, lieferte die Erklärung von Modrow am 1. Februar nach seiner Rückkehr aus Moskau: Er sprach sich überraschend für ein „Deutschland einig Vaterland“ aus. Über den Zwischenschritt einer Konföderation sollte das Ziel eines vereinten, jedoch militärisch neutralen Deutschlands erreicht werden. Als schließlich Kohl am 10. Februar von Gorbatschow die Zusicherung erhielt, die Sowjetunion werde sich nicht gegen die deutsche Einheit stellen, war klar, dass eine staatliche Vereinigung relativ schnell erreicht werden könnte. Noch Wochen und Tage vorher war eben dies geradezu undenkbar erschienen. Schon am 14. Februar trafen sich am Rande der Abrüstungskonferenz in Ottawa die Außenminister der vier Siegermächte und die zwei deutschen Außenminister, um Gespräche („2 + 4“) über die außenpolitischen Modalitäten der deutschen Vereinigung zu vereinbaren. Unerwartet schnell stellten sich den Gewerkschaften damit sehr konkrete organisatorische und organisationspolitische Fragen. Der ÖTV war bekannt, dass die anderen Gewerkschaften des DGB jeweils ihre eigenen Wege gingen. Auf DGB-Ebene hatten die Gewerkschaften einen Arbeitskreis gebildet, um sich gegenseitig über ihr jeweiliges Vorgehen zu informieren. Laut eines Vermerks über die Berichterstattung in diesem Arbeitskreis reichte das Spektrum von der freundlichen Kooperation mit den FDGBGewerkschaften bis zur weitgehenden Ablehnung einer Zusammenarbeit. So habe die IG Metall früh eine Kooperation mit der Metallgewerkschaft des FDGB angestrebt und feststellen müssen, dass sie dabei gleich zwei Irrtümern aufgesessen sei: der Reformierbarkeit des Apparates der IGM/DDR und der Belastbarkeit des Vertrauens der Mitglieder in die FDGB-Funktionäre. Sie habe daher beschlossen, „Einfluss auf die Basisstrukturen der IGM/DDR zu nehmen“ und „sich nicht für die BGL’n stark zu machen.“ Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hingegen setze nur auf neue Strukturen und arbeite mit oppositionellen Gewerkschaften zusammen, die aufgerufen wurden, eine neue Organisation zu gründen. „Der Zentralvorstand der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung sei nur noch Gesprächspartner, kein Verhandlungspartner mehr.“ Die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) schloss einen Kooperationsvertrag und sah die Erneuerung der FDGB-Gewerkschaft als „gelungen“ an, als sie ein Fusionsangebot der FDGB-Gewerkschaft vorliegen hatte.29 Aus den Berichten ließ sich auch entnehmen, dass das Engagement anderer Gewerkschaften in der DDR weiter gediehen war als das der ÖTV. So hatte z.B. die IG ChemiePapier-Keramik (IG CPK) schon Anfang Januar ein Büro in Leipzig eröffnet. Hinzu kamen die zunehmende Werbetätigkeit bundesdeutscher Berufs- und Standesorganisationen sowie drohende Neugründungen von FDGB-Gewerkschaften wie z.B. der Volkspolizei, der Feuerwehr und einer HBV. Dies alles waren Entwicklungen, die für den Zusammenhalt des Organisationsbereichs der ÖTV bedrohlich werden konnten. Allein das Organisationsinteresse der ÖTV, die mit den anderen Einzelgewerkschaften des DGB im ständigen Wettbewerb um Mitglieder stand, verlangte nach stärkerem 29 Werner Ruhnke, Vermerk über die Sitzung der Mitglieder der Arbeitsgruppe deutsch-deutsche Beziehungen beim DGB-Bundesvorstand am 16.02.90, SJS, 4.17.
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Engagement in der DDR. Der gHV reagierte entsprechend. Am 12. Februar beschloss er, für jeden DDR-Bezirk ein Beratungsbüro aufzubauen und 15 Berater zu entsenden. Gleichzeitig wurde eine „politische Steuerungsgruppe für Kontakte in die DDR“ eingerichtet, bestehend aus der Vorsitzenden, ihren beiden Stellvertretern und Mitarbeitern dieser drei Vorstandssekretariate und zwar Margareta Fohrbeck, Regine Erhard, Peter Schmidt und Werner Ruhnke. Sie sollten die Entscheidungen des gHV in puncto DDR vorbereiten. Die Koppelung dieser drei Sekretariate ermöglichte eine schnelle und optimale Informationsvermittlung und Entscheidungsfindung. Die Ergebnisse der Gruppe erhielten fast schon „Beschlusscharakter“. Im „Verhältnis zu dem, was im Hause oft nicht klappt, war es erstaunlich, was klappte, wenn die Steuerungsgruppe die Vorgabe machte.“ Sie wurde schon als „Neben-gHV, als eine schreckliche Zentrale beäugt.“30 Es ging dabei hauptsächlich um Organisatorisches. Ihr erster Auftrag war es, die Kostenerstattung für den Einsatz der Berater in der DDR vorzubesprechen. Es wurden jedoch auch politische Fragen diskutiert, sofern „das Organisatorische politisch war, also z.B. die Fragen, will man jetzt die ÖTV in der DDR gründen, will man die Satzung öffnen oder will man die Kooperation mit den Einzelgewerkschaften.“31 Die Entscheidung, Berater zu entsenden, also organisationspolitisch massiv in der DDR zu intervenieren, musste vom Hauptvorstand beschlossen werden. Dabei war der gHV sich nicht sicher, eine Mehrheit für seinen Vorschlag zu erhalten. Die entscheidende Sitzung fand am 14./15. Februar statt. Die politischen Ereignisse im Vorfeld halfen, die Zustimmung zu sichern: Modrow war am 13. Februar mit einer Regierungsdelegation nach Bonn gekommen, um 15 Milliarden DM Soforthilfe zu fordern. In der Öffentlichkeit vermittelten Modrow und seine Delegation den Eindruck, als ob die DDR kurz vor dem Bankrott stünde. Die Zeichen, dass die DDR-Bürger ihr Heil in der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik suchen würden, verdichteten sich. Dieser politische Wille der DDR-Bürger konnte durch die Bürger der Bundesrepublik schlechterdings nicht zurückgewiesen werden. Die Beschlüsse des Hauptvorstandes der ÖTV markieren eine politische Wendemarke im deutschland- und organisationspolitischen Kurs der ÖTV. Sie bekannte sich nun als eine der ersten Gewerkschaften zur „Deutschen Einheit“, wenngleich noch unter vielen Vorbehalten. Sie sorgte sich besonders um die Befindlichkeit der Menschen in der DDR. Sie fürchtete, eine „Kapitulation der DDR“ oder eine „Übernahme“ durch die Bundesrepublik könne die Würde der Menschen in der DDR verletzen. Sie hielt es für geboten, dass diese „ihre Identität bewahren“ und ihre kulturellen und sozialen Vorstellungen einbringen können und sie beschwor die Werte Solidarität, Toleranz, soziale Demokratie und Frieden. Der grundsätzliche politische Kurswechsel der ÖTV schlug sich sogleich in ihren Forderungen nieder. Sie forderte von der Bundesregierung ein konkretes Konzept, „das die praktischen Schritte zur Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft benennt“, soziale Garantien beachtet und die Gewerkschaften beteiligt. Die Idee der Währungsunion stammte ursprünglich von der SPD, die hoffte, dadurch ein „Signal zum Bleiben“ für die Menschen in der DDR zu setzen.32 Die CDU war anfänglich dagegen, wusste aber gegen den anhaltenden Flüchtlingsstrom auch kein anderes Mittel, als der DDR die Übernahme der DM anzubieten. Die Idee der Währungsunion war immer schon politisch begründet, nicht ökonomisch. Doch die ökonomischen Probleme lagen sogleich auf dem Tisch. 30 Interview mit Margareta Fohrbeck vom 18. Juni 1991, Dokumentation, S. 256. 31 Ebd., S. 255. 32 Vgl. Ingrid Matthäus-Maier, Signal zum Bleiben, in: Die Zeit vom 19. Januar 1990.
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Kernpunkt war der Umtauschkurs. Die SPD hatte eine Zahl von 1:5 genannt. Das hätte aufgrund der damit zusammenhängenden ökonomischen Konsequenzen den Vorstellungen der ÖTV erheblich widersprochen. Diese erwartete von der Bundesregierung, dass im Vereinigungsprozess keine „Anpassung an das niedrigere Sozialniveau der DDR erfolgt“ und verhindert wird, „die DDR zum Billiglohnland und zum Modell für den Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten“ zu machen. Als Eigenleistung im Vereinigungsprozess versprach sie, ihre Hilfen „zum Aufbau freier, unabhängiger und demokratischer Gewerkschaften in der DDR“ fortzusetzen und zu intensivieren. Zugleich erhöhte sie den Druck auf die FDGB-Gewerkschaften: Sie erwarte „vom FDGB und von den Einzelgewerkschaften in der DDR, dass sie endlich Konsequenzen aus dem Vertrauensverlust ziehen, auf bisherige Sonderrechte verzichten und sich auf allen Ebenen demokratischen Wahlen stellen.“ Nicht zuletzt sollte das Bildungs- und Begegnungszentrum in Berlin (BBZ) zu einer Ost-West-Begegnungsstätte werden, um DDR-Kollegen in Seminaren und Veranstaltungen zu qualifizieren, unabhängige Gewerkschaften aufzubauen.33 Schon knapp zwei Wochen nach dem Beschluss des Hauptvorstandes präzisierte der gHV seine Organisationspolitik gegenüber der DDR und fällte eine Grundsatzentscheidung: Das Ziel der Unterstützung von Gewerkschaften und Initiativen in der DDR sei „eine einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland.“34
Die Berater Der Beschluss vom 15. Februar, 15 Sekretäre in die DDR als Berater zu schicken, war für den gHV „ein Experiment, dessen „Ausgang keiner von uns kennt, aber zu dessen Gelingen wir gemeinsam beitragen wollen.“35 Der Beschluss war das eine. Viel schwieriger war es, in kürzester Zeit Personen zu finden, die bereit und fähig waren, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Diese Personen mussten aus dem vorhandenen Personal, aus den Kreis- und Bezirksverwaltungen oder der Hauptverwaltung abgezogen werden. Eine Personalreserve gab es für solche Aufgaben nicht. Jeder Bezirk sollte einen Sekretär und die Hauptverwaltung drei Sekretäre stellen. Abkommandieren war in der ÖTV kein Instrument der Personalführung. Es galt, geeignete Personen für die neue Aufgabe zu gewinnen. Dazu mussten die Bezirksleiter, die Kreisgeschäftsführer und der Betriebsrat „eingebunden“ werden. Die Beteiligung der Bezirke sicherte sich der gHV, indem er sie bei der Personalauswahl beteiligte und sie in die Verantwortung für die Unterstützung der Beratungssekretäre in der DDR einbezog. So wurde Weser-Ems für Neu-Brandenburg zuständig, Rheinland-Pfalz für den Bezirk Karl-Marx-Stadt, Niedersachsen für Magdeburg, Baden-Württemberg für den Bezirk Dresden, NW II für Frankfurt/Oder usw.. Die Hauptverwaltung übernahm die Bezirke Potsdam und Halle. Die Bezirksleitungen hatten erheblichen Einfluss darauf, wie erfolgreich der ihnen anvertraute Berater arbeiten konnte. Das fing bei der Ausstattung mit Material an und hörte bei personeller Unterstützung auf. Manche Bezirke kümmerten sich mehr, andere weniger. Eine Reihe Berater fühlte sich dabei alleingelassen und als „Einzelkämpfer.“ 33 Beschluss des Hauptvorstandes zur Lage in der DDR, 14./15. Februar 1990, in: ÖTVINTERN, 1/90, S. 1ff. 34 Protokoll, gHV-Sitzung vom 26.2.1990, SJS, 1.07. 35 Monika Wulf-Mathies, Rede anlässlich des Seminars für Beratungssekretäre vom 26.2. – 2.3.1990 im BBZ, Berlin, AdsD, Dep. Wulf-Mathies, Reden.
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Nach der Vorstellung der ÖTV-Führung sollten die Berater möglichst im alltäglichen Organisations- und Betreuungsgeschäft erfahrene Sekretäre sein. Und nicht nur das: Es sollten die Besten sein. Bei der Personalauswahl stand die ÖTV unter enormem Zeitdruck. In einem ersten Schritt wandte sich das zuständige Vorstandssekretariat mit der Bitte an die Bezirksleitungen, Interessenten aus Kreis- und Bezirksverwaltungen möchten sich in Stuttgart melden. Mancherlei Kompromisse mussten geschlossen werden: Mal hatte man die Einwilligung der Person, dann stimmte der Kreisgeschäftsführer nicht zu. Mal lehnte die gewünschte Person ab, und mal wurden Kollegen vorgeschlagen, die man nicht haben wollte. Vereinzelt meldete sich jemand unabgesprochen und das Abstimmungsprocedere begann erneut. Tatsächlich versammelten sich in der Woche vom 26. Februar bis 2. März 14 Sekretäre in Berlin zu einem Vorbereitungstraining. Nur der Bezirk Hamburg hatte noch keinen Anwärter nominiert. Im Zentrum stand praxisnahe Informationsvermittlung. Dazu zählte die Auswertung bisheriger Erfahrungen aus Kontakten mit DDR-Kollegen und die Erfahrung eines einwöchigen Testlaufs in Frankfurt/Oder, den der gHV hatte durchführen lassen: Zwei Kollegen hatten erkundet, ob und wie in der DDR eine Beratertätigkeit aufgenommen werden könnte, angefangen von praktischen Fragen der Unterbringung, Büroanmietung bis hin zu rechtlichen Fragen der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.36. Es ging um handfeste Fragen einer Beratung zu Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen in DDR-Betrieben, um Praktisches, wie die Ausstattung der Büros, Materialbeschaffung, Öffentlichkeitsarbeit, und das Kontakte knüpfen zu Parteien, Betriebsleitungen und zu Standes- und Berufsorganisationen und um vieles andere mehr. Verschiedene Referenten informierten über das politische und wirtschaftliche System der DDR und über den FDGB und seine Strukturen. Die ÖTV-Vorsitzende selbst referierte über die Beschlüsse der ÖTV und über Aufgaben und Funktion der Beratungstätigkeit.37 Sie konnte dabei die vom gHV zeitgleich beschlossene Generallinie, eine „geeinte ÖTV im vereinten Deutschland“ aufzubauen, erläutern. Welche praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen wären, konnte sie jedoch noch nicht sagen. Zu viele Unwägbarkeiten gab es auf dem Weg zur Einheit. Auch der Zeitpunkt war ungewiss. Eine Zeitspanne von zwei bis fünf Jahren schien noch realistisch. Doch war die strategische Zielrichtung der ÖTV benannt und eine potentielle Veränderung der Beratertätigkeit angedeutet. In Berlin stand das Training noch unter der ursprünglichen Absicht, Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Die Beratungssekretäre verabredeten, sich einmal wöchentlich zu treffen, um die Erfahrungen auszutauschen und in gemeinsamer Diskussion Lösungen für auftretende Probleme zu finden. Die Vorbereitung und Koordination der Beratertätigkeit lag bei der Informationsstelle des Hauptvorstandes in Berlin. Am 6. März sollte es losgehen. Der Einsatz Ost war zunächst befristet auf sechs Monate. Die Berater hatten nicht nur den Auftrag, „Gewerkschaften und gewerkschaftliche Initiativen in der DDR in tarifrechtlichen und sozialpolitischen Fragen“ sowie „bei der Organisation demokratischer und unabhängiger gewerkschaftlicher Grundstrukturen“ zu beraten, sondern sie sollten auch den gHV über ihre Erfahrungen und die aktuellen Entwicklungen in der DDR informieren. Mitglieder des gHV waren bei fast allen Beratertreffen anwesend. Die Berichte und Diskussionen in diesem Kreis waren ein wichtiger Bestandteil der Meinungsbildung über das Vorgehen der ÖTV. Noch vor den allgemeinen Volkskammerwahlen am 18. März sollten die Berater dem gHV über die betriebliche 36 Vgl. Interview mit Conny Hintz vom 12. Dezember 1991, Dokumentation, S. 294. 37 Vgl. Arbeitsplan-Übersicht für die Arbeitstagung zur Vorbereitung der Arbeit von ÖTVSekretärInnen in der DDR (26.02. – 02.03,1990 im BBZ), SJS, zu 4.141.
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Arbeit, gewerkschaftliche Strukturen vor Ort, den Zustand der FDGB-Einzelgewerkschaften im Organisationsbereich der ÖTV, unabhängige Arbeitnehmerinitiativen und Oppositionsgruppen berichten. Der gHV selbst wollte beraten werden, was am ehesten dem Ziel einer vereinten ÖTV dienlich wäre. Er hoffte zu diesem Zeitpunkt noch, es könnte sich in der DDR eine vom FDGB unabhängige gewerkschaftliche Bewegung entwickeln, die dann der ideale Partner für Zusammenarbeit und spätere Vereinigung mit der ÖTV wäre. Dass die Berater selbst initiativ würden, war vorerst ausdrücklich nicht gewünscht. Seine Vorgabe lautete, „die Initiativen müssen von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der DDR ausgehen.“ Die Frage, „ob der Beraterkreis Initiativen zur Gründung einer ÖTV in der DDR mit dem Ziel ihrer Vereinigung mit der ÖTV in der Bundesrepublik aktiv unterstützen soll,“38 wollte er erst nach der Volkskammerwahl entscheiden. Zu diesem Zeitpunkt war die Möglichkeit, über Kooperationsabkommen mit den FDGB-Gewerkschaften die gewerkschaftliche Einheit anzustreben, auch in den Reihen der ÖTV schon thematisiert. Der gHV versuchte mit einem Beschluss vorsorglich, ein eigenmächtiges Vorgehen von Organisationsgliederungen zu unterbinden: „Kooperationsabkommen mit Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Initiativen auf allen Ebenen sind vom gHV zu genehmigen.“39 Wenn überhaupt, sei eine solche Kooperation nur dann vorstellbar, wenn die FDGB-Funktionäre neu gewählt, d.h. demokratisch legitimiert wären. Obwohl seit dem 26. Februar die Weichen für eine „einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland“ gestellt, und die drei möglichen Wege dazu benannt waren – auch die dritte Option der Satzungsöffnung hatte der gHV schon rechtlich prüfen lassen und verworfen – schien dem gHV seine Informationsbasis zu schwach, um schon eine endgültige Entscheidung für einen der Wege zu treffen. Man wusste noch zu wenig über die tatsächlichen Zustände im gewerkschaftlichen Bereich der DDR und war sich nicht sicher, welcher Weg der richtige sei. Die meisten Berater machten sich am 6. März in eine terra incognita auf. Viele hatten die Städte, in die sie gesandt wurden, noch nie gesehen, manchmal noch nicht einmal deren Namen gehört. Die einwöchige Vorbereitung im BBZ konnte dieses Manko kaum beheben. Einige hatten Ost-Verwandtschaft und waren leidlich vorinformiert. Alle wussten, dass sie erst einmal abgeschnitten von der Dienststelle eigenständig agieren mussten, vor allem in den grenzfernen Bezirken. Eine Telefonverbindung in den Westen zu bekommen, war ein Glücksfall. Sie sollten Büros aufbauen und waren sich nicht sicher, ob die DDR-Behörden ihre Beratertätigkeit überhaupt dulden würden. Manche machten sich auf den Weg, ohne die Antwort auf die Frage zu wissen: „Können sie uns wieder rausschmeißen, d.h. des Landes verweisen?“40 Sie hatten ein riesiges Aufgabenpaket, von dem klar war, dass es von einem Ein-Mann-Unternehmen kaum zu bewältigen war. Alleine sieben FDGB-Einzelgewerkschaften, die sämtlich im Organisationsbereich der ÖTV aktiv waren, wären potentiell zu kontaktieren gewesen. Dazu kam eine unbekannte Anzahl von Betrieben, Einrichtungen und Ämtern, deren Beschäftigten Beratung angeboten werden sollte. Es war weitgehend unklar, wie man empfangen werden würde und wie und mit wem man Kontakt aufnehmen konnte. Es gab in der Regel lediglich eine oder zwei Kontaktadressen und den Ratschlag, zu versuchen, in der Lokalzeitung eine Meldung unterzubringen. In Karl-Marx-Stadt scheint dies funktioniert zu haben:
38 Protokoll, gHV-Sitzung vom 26.02.1990, SJS, 1.07. 39 Ebd. 40 Interview mit Astrid Claus und Doris Schmid vom 23. August 1993, Dokumentation, S. 222.
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„Ich habe die Freie Presse aufgesucht und mich mit dem sogenannten Wirtschaftsredakteur, Günter Sonntag, telefonisch verabredet und ihn zum Essen eingeladen, damit wir Ruhe haben, ein Gespräch zu führen. Ich habe ihm mein Akkreditierungsflugblatt gegeben, dass die Gewerkschaft ÖTV hier ist mit einem Beratungsbüro. Wir haben ein Interview gemacht und erstaunlicherweise – dies war für mich erstaunlich – hat er dann gesagt, er werde in den nächsten zwei Tagen den Artikel fertig stellen. Er werde mich anrufen, dann könne ich ihn lesen und wenn ich ihn für gut befinde, dann werde er ihn abdrucken. So ist er dann auch abgedruckt worden.“41
Insgesamt verlief die Kontaktaufnahme letztlich jedoch viel einfacher als gedacht. Die Nachricht, dass ein ÖTV-Berater in der Stadt sei, verbreitete sich wie von selbst: „Es hat sich seltsamerweise unheimlich schnell herumgesprochen, dass wir da waren. Es war gar nicht so, dass wir immer Kontakte aufnehmen mussten. (...) Es war irre, wie die Leute auf uns zugekommen sind. Und unheimlich wissbegierig. Wenn wir in eine Veranstaltung gegangen sind, haben wir zentnerweise Material verteilt, und es wurde uns aus der Hand gerissen. Sie haben es auch gelesen. Bei uns verteilst du viel und dann haben die Leute die Schränke und Schreibtische voll, aber keiner liest. Aber sie haben gelesen und sind anschließend gekommen und haben Fragen gestellt.“42
Die Berater wurden in kürzester Zeit mit Einladungen zu Betriebs- und Belegschaftsversammlungen überhäuft und mit individuellen Anfragen überschüttet. Sie erlebten eine durchaus zweischneidige Anerkennung: „Aber das war herrlich, das war wunderschön. Was wir gesagt haben, war eben der Katechismus. Das stimmte. Da haben wir einiges bewegen können.“43
Am 6. März, dem Tag also, an dem die Berater in die DDR ausschwärmten, waren die FDGB-Einzelgewerkschaften damit befasst, sich als unabhängige Einzelgewerkschaften zu organisieren. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung, eine selbständige Existenz führen zu können, noch keineswegs aufgegeben. Bis zum 18. März war die Frage, welche Entwicklung die DDR nehmen würde, letztlich noch offen. Eine längere Phase der Selbständigkeit im Rahmen einer Konföderation schien durchaus realistisch. Allein die Tatsache, dass eine Westgewerkschaft Berater schickte, musste sich kontraproduktiv auf die Bemühungen der FDGB-Gewerkschaften auswirken, ein eigenständiges Bestehen der FDGB-Gewerkschaften zu sichern. Die Berater wurden von vielen Funktionären dementsprechend als Bedrohung aufgefasst. Bei Mitgliedern und Funktionären, die den FDGB abschaffen wollten, weckten sie indes Hoffnung. Die ÖTV demonstrierte mit der Entsendung von Beratern, dass sie in der DDR einen Beratungsbedarf in gewerkschaftlichen Angelegenheiten vermutete und dass sie es den FDGB-Gewerkschaften nicht zutraute, diesen zu decken. Die FDGB-Gewerkschaften selbst gestanden dies ein, indem sie bei den West-Gewerkschaften um Hilfe und Unterstützung baten. Mit dem Beschluss vom 26. Februar, eine einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland anzustreben, hatte die ÖTV entschieden, eventuelle Kooperationsvereinbarungen mit FDGB-Gewerkschaften zu schließen. Dies geschah indes nicht, um diese zu retten, sondern um sie überflüssig zu machen. Das Weiterexistieren von selbständigen FDGBGewerkschaften in einem vereinten Deutschland hätte der Organisationsräson der ÖTV widersprochen. Im vereinten Deutschland konnte es nur eine Gewerkschaft für den Öf-
41 Interview mit Klaus Böhm vom 21. April 1993, Dokumentation, S. 199. 42 Interview mit Astrid Claus und Doris Schmid vom 23. August 1993, Dokumentation, S. 225. 43 Ebd., S. 230.
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fentlichen Dienst geben – und das war die ÖTV. Das Ergebnis der Volkskammerwahl hatte diese Entscheidung bestärkt. Als die Berater in die DDR aufbrachen, waren zwei mögliche Wege zu einer einheitlichen ÖTV benannt: die Kooperation mit FDGB-Gewerkschaften einerseits und der Aufbau einer ÖTV in der DDR andererseits. Eine Festlegung war jedoch nicht erfolgt. Diese Unentschiedenheit eröffnete den Spielraum für unterschiedliches Verhalten der ÖTV-Berater vor Ort. Dies zeigte sich exemplarisch im Verhalten gegenüber den Versuchen, Betriebsräte in DDR-Betrieben zu wählen.
Betriebsräte oder BGL? Noch bevor die Berater ihre Tätigkeit in der DDR aufnahmen, war in den Betrieben und Einrichtungen das Interesse an der bundesrepublikanischen Form der betrieblichen Mitbestimmung, den Betriebs- und Personalräten, geweckt worden, jedoch wurden nur wenige Betriebsräte gewählt. Gewichtige Gründe sprachen gegen die Bildung von Betriebsräten. Für sie gab es in der DDR keine Rechtsgrundlage. Noch galten die Rechte der BGL im Rahmen des Arbeitsgesetzbuches (AGB) der DDR und das System der Rahmen- und Betriebskollektivverträge. Es gab aber eine breite Diskussion über die Alternative Betriebsrat oder BGL. „Die Berliner Akademie wollte keine Betriebsgewerkschaftsleitung mehr, sondern Betriebsräte haben. Wir Frankfurter Kollegen haben beschlossen, solange das Arbeitsgesetzbuch gilt und die BGL die einzig demokratisch legitimierte Arbeitnehmervertretung ist, solange bleiben wir bei unserer BGL. Was nutzte uns ein Betriebsrat, der im Betrieb zwar anerkannt wird, jedoch vor Gericht keinen Bestand hat? Wir haben uns in unserem Institut auf einer Belegschaftsversammlung entschieden gegen einen Betriebsrat ausgesprochen. Als die Wirtschafts- und Währungsunion kam und das Betriebsverfassungsgesetz ab 1. Juli galt, haben wir sofort einen Betriebsrat gewählt.“44
Die Bereitschaft, neues Recht zu setzen, wie es für Revolutionen selbstverständlich ist, hielt sich in der DDR in Grenzen. Von den FDGB-Funktionären, selbst den reformwilligen, konnte nicht erwartet werden, dass sie Bestrebungen zur Wahl von Betriebs- und Personalräten unterstützten, schon alleine deshalb nicht, weil es ihre Macht- und Organisationsbasis unterhöhlt hätte. Sie setzten neuerdings ihre Hoffnung auf das Gewerkschaftsgesetz, das die von der SED dominierte Volkskammer knapp zwei Wochen vor ihrer Auflösung noch verabschiedet hatte. „Wir haben am Anfang eine ablehnende Haltung (zu den Betriebsräten, M.S.) bezogen. Das konnte in den ÖTV-Kontaktbüros auch keiner verstehen. (...) Es gab bei uns eine Entwicklung, (...) dass Äußerungen laut wurden, wozu brauchen wir überhaupt noch Gewerkschaften? Wir machen Betriebsräte, und die waren gewerkschaftsfrei. Also die Betriebsräte wurden gebildet, um die Gewerkschafter aus dem Betrieb zu drängen.“45
Diese Erfahrung gab es. Frisch gewendete Betriebsleiter wollten den FDGB und eine betriebliche Mitbestimmung der Beschäftigten überhaupt ausschalten, aus welchen Gründen auch immer. Es gab jedoch auch andere Erfahrungen. Belegschaften wählten Betriebsräte als Form der Auflehnung gegen die BGL und den FDGB, also gegen eine Ge44 Interview mit Jutta Schmidt vom 25. Februar 1992, Dokumentation, S. 365f. 45 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 377.
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werkschaft, die gar keine war und der sie nicht zutrauten, dass sie plötzlich eine werden konnte. Daneben gab es auch Mischformen wie z. B. bei den Berliner Verkehrsbetrieben: „Die entsprechende Gewerkschaftsleitung hat praktisch auf Druck von Kolleginnen und Kollegen sich dazu durchgerungen, dass sie zurücktritt und Gewerkschaftsräte wählen lässt. Der Ausdruck wurde bewusst gewählt, damit man merkt, hier fängt irgendwie Neues an. Das fing bei mir persönlich auch an. Von meiner Dienststelle bin ich für den Runden Tisch gewählt und dort zum Sprecher der Arbeitnehmervertreter gewählt worden. Dann bin ich entsprechend in den Gewerkschaftsrat Straßenbahn gewählt worden. Wir haben in meinem Bereich eine Persönlichkeitswahl gehabt, die ich gewonnen habe. So bin ich in den Vorstand vom Gewerkschaftsrat gekommen und darüber in den Gesamtgewerkschaftsrat.“46
Dass die FDGB-Gewerkschaften sich an die BGL klammerten, nachdem der FDGB auf zentraler Ebene alle Macht verspielt hatte, war verständlich. Genauso wie die Verblüffung derjenigen DDR-Kollegen, die in die Verwaltungsstellen der Westgewerkschaften kamen, in der Hoffnung, Unterstützung beim Aufbau von Betriebsräten zu bekommen, um die alten Machtstrukturen des FDGB auszuhebeln. Sie mussten erleben, wie WestKollegen, ähnlich wie FDGB-Funktionäre, diese demokratische Institution betrieblicher Mitbestimmung ebenfalls gering achteten. In der ÖTV hatte die Führung selbst zu dieser bizarren Situation beigetragen, als sie beschloss, dass bei der Weitergabe von Informationen zum Komplex Betriebsverfassung und Personalvertretung „auf die geltende Rechtslage und auch auf weitergehende gewerkschaftliche Forderungen hingewiesen werden solle.“47 Sie spielte damit auf die Vorstellung der DGB-Gewerkschaften von einer erweiterten Mitbestimmung an, die insbesondere Zugriff auf wirtschaftliche Planungsabläufe und Arbeitsinhalte forderte. Dies führte zu einer denkwürdigen Situation in Plauen, die symptomatisch dafür war, in welche Verlegenheit Gewerkschafter (West) in der DDR kamen, wenn sie eine kritische Haltung zur Betriebsverfassung einnahmen. Lokale FDGB-Gewerkschafter, die mit dem betrieblichen Mitbestimmungsmodell der Bundesrepublik sympathisierten und die früh Kontakt zur grenznahen ÖTV-Kreisverwaltung in Hof gesucht hatten, luden den Geschäftsführer Dieter Bauer und den Vorsitzenden Eckhard Stade zu einer Informationsveranstaltung nach Plauen ein. Sie sollten aus erster Hand Fragen zur Betriebsverfassung beantworten. Laut dem Bericht in der Tribüne verwiesen sie dabei auf die Schwächen der Betriebsverfassung und fanden lobende Worte zum AGB und zur BGL: „Lasst euch Errungenes nicht wegnehmen, wenn die soziale Marktwirtschaft kommt. Verteidigt euer Arbeitsgesetzbuch. Hängt euch nicht einfach an das Gewerkschaftsmodell der Bundesrepublik an.“48
Statt diejenigen, die in Plauen ihre Hoffnungen auf das Modell der betrieblichen Mitbestimmung richteten, wie es in der Bundesrepublik institutionalisiert war, zu unterstützen, – was der Zweck der Einladung nach Plauen war – leiteten sie mit ihrer Kritik an der Betriebsverfassung ungewollt Wasser auf die Mühlen der Anhänger des FDGB. Doch es gab auch anderes Verhalten von Beratern, wie das Beispiel Chemnitz zeigt: „Wir haben übrigens sehr frühzeitig hier (...), nämlich im Mai (...), bei den Chemnitzer Verkehrsbetrieben den ersten Betriebsrat installiert. Das war eine sehr interessante Zeit, für einen Pragmatiker. Da hat man viel bewegt und viel machen können in diesem rechtsfreien Raum
46 Interview mit Mathias Feldmann vom 9. März 1992, Dokumentation, S. 240. 47 Protokoll, gHV-Sitzung vom 12.01.1990, SJS, 1.02a. 48 Guter Rat von drüben: Behaltet euer Buch!, Tribüne vom 15. Februar 1990.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess nach einer Revolution. Da gilt der eigene Gestaltungswille und den habe ich sehr freudig genutzt.“49.
Die Entwicklung in den Betrieben und Einrichtungen insgesamt war unübersichtlich. Vielfach lösten die alten Strukturen sich auf, ohne dass Neues an ihre Stelle trat. Als die Vorstände der FDGB-Gewerkschaften verstärkt dazu übergingen, Unterstützung und Zusammenarbeit mit den DGB-Gewerkschaften zu suchen, mussten sie ihre starre Ablehnung der Betriebsverfassung aufgeben, denn trotz aller Kritik wollten die DGBGewerkschaften die betriebliche Mitbestimmung, wie sie sich in der Bundesrepublik – vor allem in den Großbetrieben – bewährt hatte, letztlich nicht preisgeben: Trotz aller wirklichen oder vermeintlichen Mängel war diese Institution sowohl in öffentlichen wie in privaten Unternehmen real, erfahrungsgesättigt und vor allem einklagbar – unter der Voraussetzung, die Beschäftigten selbst wollten mitbestimmen und waren bereit, notfalls ihr Recht einzuklagen. Die FDGB-Gewerkschaften hielten grundsätzlich weiter an der BGL fest: „Wir sind dagegen, gut funktionierende Betriebsgewerkschaftsleitungen zu beseitigen, um Betriebsräte zu installieren.“ Andererseits hatten sie prinzipiell auch nichts mehr gegen Betriebsräte einzuwenden, vor allem dort, „wo es nicht gelingt, die Gewerkschaftsarbeit zu aktivieren, wo der Anteil gewerkschaftlich Organisierter deutlich unter 50% liegt.“50 Das System der dualen Interessenvertretung in der Bundesrepublik war für die FDGBFunktionäre noch ein Buch mit sieben Siegeln. Den Unterschied zwischen betrieblicher Mitbestimmung und gewerkschaftlicher Interessenvertretung kannten sie nicht. Für die Anhänger des Betriebsverfassungssystems in der ÖTV wurde die Frage „Wie hältst du es mit den Betriebsräten?“ zu einer „Lackmusfrage“51 gegenüber den FDGBGewerkschaftern und zum Streitpunkt unter den in der DDR engagierten ÖTV-Kollegen. Die einen unterstützten die Bildung von Betriebsräten, die anderen sympathisierten mit dem AGB und dem Gewerkschaftsgesetz und folglich mit der BGL: „Rein vom Gesetzestext her war das AGB ja wesentlich besser als das Betriebsverfassungsgesetz. 1. (…) Gerade wo es BGLen (...) gab, haben wir oft gesagt, Mensch, ihr habt da Mitbestimmungsregelungen. Die kannten oft gar nicht ihr AGB, weil sie es nie genutzt haben und danach haben sie gehandelt.“52
Umgang mit den FDGB-Gewerkschaften Trotz der klaren Zielbestimmung „einheitliche ÖTV“ herrschte große Unentschiedenheit in den Reihen der Berater und in Teilen der ÖTV insgesamt, wie man sich gegenüber den FDGB-Gewerkschaften verhalten sollte. Die einen mieden den FDGB „wie die Pest“, die anderen verhielten sich pragmatisch, mehr oder weniger distanziert, wieder andere verbrüderten sich. Mal spielten die Gegebenheiten vor Ort die ausschlaggebende Rolle, mal der Zufall von Personen, mal ideologische Präferenzen. Die Gewerkschaften des FDGB und ihre Funktionäre in den Verwaltungsstellen und den BGLen auf der anderen Seite waren keine geschlossene Truppe mehr. Sie verfolgten 49 Interview mit Klaus Böhm vom 21. April 1993, Dokumentation, S. 198. 50 Gertraude Sinn, Betriebsräte – ja oder nein, in: Informationsblatt des Zentralvorstandes MSK, 1/2’90, S. 11. 51 Interview mit Margareta Fohrbeck vom 18. Juni 1991, Dokumentation, S. 247. 52 Interview mit Astrid Claus und Doris Schmid vom 23. August 1993, Dokumentation, S. 231.
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unterschiedliche Überlebensstrategien. Einige setzten dabei früh auf eine Zusammenarbeit mit der ÖTV und suchten den Kontakt zu den Beratern. „Ich habe mich persönlich vorgestellt, habe gesagt, wer ich bin, dass ich von der ÖTV komme und dass ich als Berater für die Demokratie und die Umstrukturierung innerhalb der Gewerkschaftslandschaft tätig sein wolle. Dies stieß zwar auf etwas Skepsis, aber alle Gewerkschaftsfunktionäre, die ich im Laufe der Woche kennen gelernt habe, waren eigentlich hinter Westkontakten sehr hinterher. (...) Es begann damit, dass ich am späten Vormittag dort angekommen bin, mich um Quartier und solche Fragen gekümmert habe, dann im Gewerkschaftshaus herumgeführt wurde, sofort dem damals noch vorhandenen stellvertretenden FDGBVorsitzenden vorgestellt wurde und mir ein Büro der etwas besseren Kategorie zugewiesen wurde, wo eine Wohnzimmereinrichtung, Telefon, Vorzimmer und Ähnliches zur Verfügung standen. Das wurde mir kostenlos für meine Tätigkeit zur Verfügung gestellt.“53
Die Berater waren oft darauf angewiesen, freundliche Angebote zur Zusammenarbeit seitens des FDGB anzunehmen, um vor allem in Betrieben unmittelbaren Kontakt zu den Beschäftigten zu bekommen. Aus der Bürger- und Menschenrechtsbewegung interessierten sich nur wenige für Gewerkschaftsarbeit. Es war die Ausnahme, dass Berater – wie in Karl-Marx-Stadt – von Mitgliedern des Neuen Forums maßgeblich unterstützt wurden. Doch selbst hier wollte der Berater nicht auf die Kontakte zu den FDGB-Gewerkschaften verzichten: „Ich habe diese Kontakte gesucht und gefunden und ich muss sagen, die Gespräche waren interessant. Ich drücke es positiver aus, die Gewerkschafter waren zugänglich. (...) Ich muss sagen, dass wir dann auch zu einem Gläschen Wein zusammengekommen sind. Ich wollte das Gefühl vermitteln, dass es nicht bei einem Gespräch bleiben sollte, und das hat sich wie gesagt bestätigt. Ich wollte ja auch von denen in die Betriebe geführt werden. Das hat wunderbar geklappt. (...) Später haben die uns kartonweise die Aufnahmescheine gebracht.“54
Ohne Unterstützung eines FDGB/BGL-Kollegen war es oft schwierig, in die Betriebe zu kommen: „Zum Beispiel hat der Kollege von der IGT mir beim Rat des Bezirkes die entsprechenden Türen geöffnet, und da merkte man sehr deutlich, welchen politischen Einfluss der FDGB bzw. die Einzelgewerkschaftsvertreter dort hatten und wie eng sie halt in diesem ganzen System verwurzelt waren.“55
Selbst Berater, die anfänglich gegenüber dem FDGB Berührungsängste hatten, sahen sich gezwungen, diese hintanzustellen. Die Haltung zu den FDGB-Gewerkschaften blieb innerhalb der ÖTV und im Beraterkreis umstritten. Sie wurde besonders heftig im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob man die Beratungsbüros in den FDGB-Häusern anmieten dürfe oder nicht. Sie konnte unerfreuliche Konsequenzen haben, wenn eine unterschiedliche Haltung in Bezug auf den FDGB zwischen den Beratern und ihren Heimatverwaltungsstellen vorlag, wie z.B. im Verhältnis zwischen der Bezirksleitung NW II und der Beratungssekretärin Conny Hintz, die nach Frankfurt/Oder entsandt worden war: „Ich geriet auch im Bezirk zunehmend unter Druck, weil damit der letzte noch fehlende Beweis angetreten war, dass ich ideologisch längst den Klassenstandpunkt verlassen hatte, indem ich die Dreistigkeit besaß, nicht mit den alten FDGB-Funktionären und den alten FDGB53 Interview mit Reinhard Büttner vom 16. Juli 1991, Dokumentation, S. 208f. 54 Interview mit Klaus Böhm vom 21. April 1993, Dokumentation, S. 197f. 55 Interview mit Reinhard Büttner vom 16. Juli 1991, Dokumentation, S. 210.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Gewerkschaften zu kooperieren, sondern immer wieder daran erinnerte, was die SED-Diktatur an Verbrechen gegen die Menschenrechte gebracht hatte. Es hat mich nicht umsonst mein Bezirk bis Juli da allein hängen gelassen. Andere Bezirke hatten längst Unterstützung geschickt, zumindest für die Organisation von Veranstaltungen. Das hat mein Bezirk rigoros verweigert und mein Bezirksleiter hat zwei Sekretären, die bereit waren mich zu unterstützen, verboten hinzufahren.“56
56 Interview mit Conny Hintz vom 12. Dezember 1991, Dokumentation, S. 302.
6. Kontakte der FDGB-Gewerkschaftsvorstände nach Westen Die erste Kontaktaufnahme von Gewerkschaftern aus der DDR mit gewerkschaftlichen Verwaltungsstellen in grenznahen Städten war überwiegend individuell motiviert und erfolgte unkoordiniert. Oft war sie getragen von dem Bemühen, Unterstützung für den Aufbau einer wirklichen betrieblichen oder gewerkschaftlichen Interessenvertretung der Beschäftigten zu finden. Als solches waren sie der Sache nach unmittelbar gegen den FDGB gerichtet. Auch die Vorstände einiger FDGB-Einzelgewerkschaften bemühten sich bereits kurz nach der Grenzöffnung, offizielle Kontakte zu den Hauptvorständen der DGBGewerkschaften herzustellen. Ihr Bemühen zielte umgekehrt auf die Stärkung ihres Verbandes und den Ansehensgewinn ihrer Funktionäre ab. An eine mögliche Vereinigung mit Westgewerkschaften wurde dabei noch nicht gedacht. Als im Dezember 1989 die Entscheidung im FDGB-Bundesvorstand fiel, autonome FDGB-Einzelgewerkschaften aufzubauen, war die Vorstellung, man könne nun einen wirklich demokratischen Sozialismus anstreben, noch weit verbreitet. An ein baldiges Ende der DDR als selbständiger Staat mochten nur wenige glauben. Doch je mehr die SED-Herrschaft zerfiel, je deutlicher sich die Machthaber als unfähig erwiesen, die anstehenden Probleme zu lösen, und je größer die Zahl derjenigen wurde, die die DDR verließen, desto größer wurde die Hoffnung auf eine Vereinigung mit der Bundesrepublik. Als eine solche Entwicklung immer wahrscheinlicher wurde, waren die FDGBFunktionäre gezwungen Überlegungen anzustellen, wie sie das Verhältnis zu den Gewerkschaften der Bundesrepublik gestalten konnten. Spätestens als am 10. Dezember der alte FDGB am Ende war und Modrow fünf Tage später in seiner Antwort auf Kohls 10Punkte-Plan den Begriff „Vertragsgemeinschaft“ einführte, lag es auch für die FDGBGewerkschaftsvorstände nahe, den Blick entschieden nach Westen zu richten. Dort existierten seit Jahrzehnten erfolgreiche und unabhängige Gewerkschaften, die sich als Vorbild sowohl für den eigenen Versuch, autonome Verbände aufzubauen, als auch als Adressaten für die Bitte um Beratung, Unterstützung und Zusammenarbeit anboten. Warum sollten „wir das Fahrrad noch mal neu erfinden, wir holten uns Anregungen.“1 Das Lernen von den DGB-Gewerkschaften verlief oft ganz praktisch: „Aber wenn ich daran denke, wie wir unsere neue Satzung aufgebaut haben, dann hatten wir daneben immer die Satzung der ÖTV liegen.“2 Neben den organisatorischen und satzungsrechtlichen Fragen stellten sich für die FDGB-Gewerkschaften vor allem auch Fragen inhaltlicher Art. Mit der Perspektive auf die staatliche Einheit bei gleichzeitigem Bankrott der DDR-Wirtschaft wurde es immer wahrscheinlicher, dass die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik samt dem Regelwerk der industriellen und korporativen Beziehungen auf das Gebiet der DDR übertragen werden würde. Die FDGB-Gewerkschaften mussten sich darauf einstellen, die Arbeits- und Lohnbedingungen der Beschäftigten zukünftig in freien Verhandlungen mit privaten und öffentlichen Arbeitgebern auszuhandeln. Darin hatten sie aber keinerlei 1 2
Interview mit Getraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 376. Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 286.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Erfahrung. Die FDGB-Gewerkschaften suchten daher Rat und Unterstützung bei den Gewerkschaften ihres jeweiligen Organisationsbereiches in der Bundesrepublik.
Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK) Wenige Tage nachdem im FDGB-Bundesvorstand die Weichen für selbständige Einzelgewerkschaften gestellt worden waren, wandte sich die MSK an den ÖTV-Hauptvorstand in Stuttgart mit der Bitte um ein Gespräch. Diese Initiative des Zentralvorstandes der MSK war bereits getragen von der Einsicht, dass „die zwischen den Regierungen der DDR und der BRD angestrebte Vertragsgemeinschaft“ kommen würde und diese mit gewerkschaftlichen Aktivitäten auszufüllen sei.3 Der gHV der ÖTV schien von dieser Kontaktaufnahme nicht sonderlich begeistert gewesen zu sein. Er fand sich jedoch zu einem Gespräch am 20. Dezember 1989 in Stuttgart bereit, legte aber Wert auf Distanz. Kein gHV-Mitglied sollte an dem Gespräch teilnehmen, sondern nur bewährte Kollegen der „zweiten Reihe“. Dem MSK-Vorsitzenden Hößelbarth wurde dies in einem Telegramm vorab mitgeteilt.4 Der Schlusssatz: „Wir freuen uns auf euer Kommen“ klang nicht sehr überschwänglich. Dass diese Antwort nicht die Vorsitzende der ÖTV selbst unterzeichnete, sondern ihre persönliche Referentin Margareta Fohrbeck, war ebenfalls ungewöhnlich und deshalb ein deutliches Zeichen. Die MSK entsandte an Stelle des am 16. Dezember verstorbenen Vorsitzenden ihre Vorstandssekretäre Gertraude Sinn und Helmut Krause zum verabredeten Gespräch. Beide waren hauptamtliche Mitglieder im Sekretariat des Zentralvorstandes der MSK. Hierarchisch gesehen – und die „Kleiderordnung“ spielte in und zwischen den Gewerkschaften eine fast ebenso große Rolle wie an den Fürstenhöfen vergangener Zeiten – entsprach das ungefähr der Hierarchieebene von gHV-Mitgliedern in der ÖTV. Sie wurden indes von keinem gHV-Mitglied empfangen, sondern „nur“ von Sekretären der Hauptverwaltung, u.a. Margareta Fohrbeck und dem gHV-Sekretär Walter Eberhardt. Im Mittelpunkt des Interesses der MSK-Vertreter standen Organisations- und Satzungsfragen zum Aufbau der ÖTV und zum Verhältnis zwischen Einzelgewerkschaften und DGB. Beides waren Bereiche, in denen die MSK aktuelle Antworten auf Probleme in ihrer eigenen Organisation finden musste. Über dieses Gespräch verfassten die MSK-Kollegen einen genauen, siebenseitigen Vermerk. Darin wurden Daten zu der Organisationsstruktur der ÖTV aufgelistet, u.a. dass sich die ÖTV in sieben Vorstandssekretariate, acht Hauptabteilungen, 40 Abteilungen, einen Beirat sowie in zwölf Bezirks- und 147 Kreisverwaltungen gliedere und ihre Tarifarbeit über die Große Tarifkommission organisiere. Zum Verhältnis DGB-ÖTV wurde festgehalten: „Die Einzelgewerkschaften orientieren sich an den Beschlüssen des DGB, sind ihnen jedoch prinzipiell nicht verpflichtet. Die ÖTV fasst zu allen erforderlichen Fragen eigene Beschlüsse. Die Höhe der jährlichen Abführungen an den DGB betragen rund 12% des Beitragsaufkommens.“5 3 4 5
Informationen über das Gespräch mit Vertretern der ÖTV am 20.12.1989, SAPMO, DY 45/1636. Telegramm, ÖTV-HV an Herrn Rolf Hößelbarth, 14.12.1989, SJS 4.483. Informationen über das Gespräch mit Vertretern der ÖTV, a.a.O.
Kontakte der FDGB-Gewerkschaftsvorstände nach Westen
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Unter der Rubrik „Aus der Internationalen Arbeit“ berichtete der Zentralvorstand in seinem Informationsblatt über diese Beratung.6 Am 22. Februar folgte die Bitte des Zentralvorstandes der MSK, die ÖTV möge ihn in Fragen der Tarifarbeit unterstützen, „besonders (bei) Vorbereitung und Führung von Tarifverhandlungen, Tarifanalyse u.a.“7
Industriegewerkschaft Transport- und Nachrichtenwesen (IG TN) Sehr viel früher als die MSK – gemessen an dem Tempo der Veränderungen in der DDR – schrieb der Vorsitzende der IG Transport und Nachrichtenwesen Kalauch am 21. November 1989 an die Vorsitzende der ÖTV Wulf-Mathies. Er antwortete dabei auf ihr Schreiben an die drei wichtigen potentiellen Partnergewerkschaften im FDGB (MSK, Transport und Gesundheit), in dem sie die Entschließung des ÖTV-Hauptvorstandes „zur Lage der DDR“ vom Oktober übermittelte. Kalauch versicherte, dass sich sein Zentralvorstand „sehr eingehend“ mit dieser Entschließung befasst habe und beteuerte, dass die DDR-Gewerkschaften „sehr intensiv daran arbeiten, ihren Platz und ihre Rolle in der Erneuerung“ zu bestimmen. Er bat um Verständnis, dass er noch nicht „mit einem ausgereiften Konzept“ aufwarten könne, kündigte jedoch an, dass die FDGB-Gewerkschaften viel „konsequenter und hartnäckiger als bisher die Interessen unserer Kollegen gegenüber staatlichen und Wirtschaftsleitern“8 vertreten wollten. Eine Zusammenarbeit mit der ÖTV schien ihm noch nicht dringlich. Nur vage sprach er sich dafür aus, über alle angesprochen Fragen mit der ÖTV im Gespräch bleiben zu wollen. Beachtet werden muss bei dieser Antwort, dass zu diesem Zeitpunkt die IG Transport- und Nachrichtenwesen bereits am Auseinanderbrechen war und Kalauch nicht damit rechnen konnte, weiter in einer Spitzenfunktion zu verbleiben. Fast scheint es, als ob die ÖTV, genauer gesagt ein bestimmter Bereich der ÖTV, ein stärkeres Interesse an Kontakten zur IG Transport und Nachrichtenwesen hatte als umgekehrt. So schrieb der Leiter der Abteilung Luftverkehrsgesellschaften/Verkehrsflughäfen der ÖTV Hauptverwaltung, Manfred Hölzel, am 21. Dezember 1989 einen Brief an einen Kollegen in der DDR, von dem er erfahren hatte, dass er sich bei der DDRFluggesellschaft INTERFLUG um eine eigenständige Organisierung der Piloten kümmerte. Von sich aus bot er an, ihm die ÖTV-Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, und legte seinem Schreiben Tarifverträge bei, die die ÖTV mit der Lufthansa geschlossen hatte.9 Zeitgleich schrieb er dem Vorsitzenden der IG Transport- und Nachrichtenwesen in gleicher Angelegenheit. Er betonte dabei, dass die ÖTV es zweckmäßig fände, direkt mit seiner Gewerkschaft Kontakt aufzunehmen, „um die Frage der gewerkschaftlichen Organisierung der INTERFLUG-Beschäftigten miteinander besprechen zu können.“10 Am 11. Januar führte Manfred Hölzel ein erstes Gespräch mit Vertretern der INTERFLUG-Beschäftigten in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bei INTERFLUG bereits eine Interessengemeinschaft für das Cockpitpersonal (IVCP) gebildet, die sich als Vorhut einer Luftfahrtgewerkschaft verstand.11
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Vgl. Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, 1/2'90, S. 13. Schreiben, Gertraude Sinn an Hauptvorstand der ÖTV vom 22.02.1990, SJS, 4.511. Schreiben, Karl Kalauch an Monika Wulf-Mathies vom 21.11.1989. SJS, 4.236. Schreiben, Manfred Hölzel an Joachim Streit vom 21.12.1989, SJS, 4.652. Schreiben, Manfred Hölzel an Karl Kalauch vom 21.12.1989, SJS 4.653. Schreiben, Manfred Hölzel an Margareta Fohrbeck vom 12.01.1990, SJS 4.654.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Wenige Tage später erhielt er ein Antwortschreiben von der IG Transport – so lautete der neue Name –, die sich mittlerweile auf dem Weg in die Eigenständigkeit befand. Der Leiter des Arbeitssekretariats und damit fungierender Übergangsvorstand, Günter Kuhn, erklärte sein Interesse an einem Konsultationsgespräch.12 Hölzel bot daraufhin umgehend ein Treffen für den 7. Februar in Berlin an.13 Seinem Vermerk über dieses Gespräch ist zu entnehmen, dass „andere Organisationen“, sprich die Vereinigung Cockpit, eine Konkurrenzgewerkschaft der ÖTV, „sich auch um den Flugbegleiterbereich bei INTERFLUG aus der Bundesrepublik heraus bemühen.“ Hier drohte sehr konkret die Gefahr, dass diese Berufsgewerkschaft der ÖTV den Rang bei der zukünftigen Mitgliederwerbung ablaufen könnte. Beide Gewerkschaften begannen, sich um die Gunst der IG Transport zu bemühen. Ein probates Mittel, sich als die geeignetere Partnergewerkschaft darzustellen, war, materielle Unterstützung anzubieten. Hölzel schlug deshalb vor, dass es „sehr vorteilhaft“ wäre, wenn die ÖTV helfe, ein großes Problem der mangelnden gewerkschaftlichen Infrastruktur zu lösen, d.h. den Kollegen von der IG Transport einen Fotokopierer zur Verfügung zu stellen.14 Es war auffällig, wie schnell und freundlich die ÖTV im Bereich Luftverkehr reagierte. Dieses Verhalten lässt sich nur verstehen, wenn man den Wettbewerb konkurrierender Gewerkschaften innerhalb der Bundesrepublik selbst mit beachtet. Das galt für das Verhältnis der ÖTV zu der „feindlichen“ DAG genauso wie für das Verhältnis zu verbündeten DGB-Gewerkschaften. Auch mit diesen ergaben sich teilweise bittere „Grenzstreitigkeiten“, wie weiter unten gezeigt wird. Doch nicht nur wegen der Konkurrenz mit anderen Gewerkschaften war für die ÖTV der Transportbereich eine besonders sensible Angelegenheit. Dazu kamen lang bestehende Spannungen innerhalb der ÖTV. Vor allem der private Transportbereich sah sich nicht ausreichend anerkannt und vertreten, da der Schwerpunkt der ÖTV im Bereich Öffentlicher Dienst lag. Um dieses Spannungsverhältnis nicht eskalieren zu lassen, musste eine besondere Balancearbeit geleistet werden. Vor diesem Hintergrund war das Entstehen einer selbständigen Transportgewerkschaft in der DDR keineswegs geeignet, Freude bei der ÖTV hervorzurufen. Vielmehr weckte es Befürchtungen für den Zusammenhalt der ÖTV. Sollte in der DDR eine selbständige Transportgewerkschaft entstehen und eventuell sogar nach der Wiedervereinigung bestehen bleiben, könnte diese attraktiv für aktuelle oder potentielle ÖTV-Mitglieder werden. Als Karl-Heinz Biesold sich am 20. Januar mit Monika Wulf-Mathies in Berlin traf, um voller Stolz von den Fortschritten beim Selbständig werden seiner IG Transport zu berichten, musste er enttäuscht erfahren, dass sie „sehr vorsichtig“ reagierte.15 Die Funktionäre der IG Transport erkannten jedoch schnell die heikle Gemengelage innerhalb der ÖTV und begannen, sie für ihre Interessen zu nutzen.
Gewerkschaft Gesundheitswesen (GSW) Die Kontaktaufnahme der Gewerkschaft Gesundheitswesen zur ÖTV gestaltete sich schwierig. Wie die MSK und IG Transport und Nachrichtenwesen bekam auch die Gewerkschaft Gesundheitswesen von der ÖTV-Vorsitzenden im Oktober die „Entschlie12 13 14 15
Schreiben, Günther Kuhn an Manfred Hölzel vom 15.01.1990, SJS 4.597. Schreiben, Manfred Hölzel an Günther Kuhn vom 22.01.1990, SJS, zu 4.597. Vermerk, Manfred Hölzel für Eike Eulen, 12.02.1990, SJS, 4.655. Interview mit Karl-Heinz Biesold vom 17. September 1992, Dokumentation, S. 183.
Kontakte der FDGB-Gewerkschaftsvorstände nach Westen
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ßung des Hauptvorstandes der ÖTV zur Lage in der DDR“ zugesandt. Im Anschreiben fand sich der freundliche Satz: „Ich würde mich freuen, wenn ihr diese Entschließung bei Euren Mitgliedern bekannt machen und in Euren Gremien diskutieren würdet.“16 Dies konnte nur ironisch gemeint sein, denn Wulf-Mathies konnte im Oktober 1989 nicht ernsthaft davon ausgehen, dass FDGB-Gewerkschaften ihre Mitglieder über die Haltung der ÖTV zu den Ereignissen in der DDR informieren würden. Es gibt auch keinen Hinweis, dass dies geschehen ist. Am 19. Januar 1990 lud Wulf-Mathies die drei Vorsitzenden der für die ÖTV wichtigsten FDGB-Gewerkschaften MSK, Gesundheit und Transport, (Wegrad, Gerboth und Kalauch) zu einem Gespräch in das Berliner Hotel Mondial ein. Über den Inhalt dieses Gesprächs ist nichts bekannt, außer dass Wulf-Mathies weitere Gespräche angeboten haben soll. Am 13. Februar – die Spitze der Gewerkschaft Gesundheitswesen war kurz vorher ausgewechselt worden – griff der neu gewählte Vorsitzende der Gewerkschaft Gesundheitswesen, Siegmar Treibmann, dieses Angebot auf und bekundete Interesse an einem „Gedankenaustausch“. Er äußerte u.a. die Bitte, sich mit dem Vertreter des Bereiches Gesundheitswesen der ÖTV zu treffen.17 Erst fünf Wochen danach, am 21. März, kam es zu diesem Gespräch. Es verlief für die Gewerkschaft GSW „insofern ... deprimierend, weil eindeutig zum Ausdruck kam, dass seitens der ÖTV unsere eigenständige Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen in einem vereinten Deutschland nicht in Frage käme.“18 Das widersprach dem Gefühl der eben erst errungenen Selbständigkeit der Gewerkschaft und dem von Anfang an bekundeten Bestreben, die Entstehung von Berufsverbänden zu begrüßen, bzw. eng mit ihnen zusammenarbeiten zu wollen.19 Das Bestreben des neuen Vorstandes der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, sich nicht einseitig an die ÖTV zu binden, bzw. ausschließlich mit ihr zusammenzuarbeiten, ist vor diesem Hintergrund und den beruflichen Interessen von Ärzten nachvollziehbar. Es widersprach jedoch den Organisationsinteressen der ÖTV. Die Entscheidung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Gesundheitswesen vom 29./30. März, sowohl mit der ÖTV als auch mit der DAG eine Zusammenarbeit anzustreben, war für die ÖTV ein Affront. Sie ging zum Vorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen auf Distanz, während Treibmann seinerseits von seinem Zentralvorstand beauftragt wurde, der ÖTV „ein Kooperationsangebot zu unterbreiten.“ Sein Schreiben an Wulf-Mathies klang dementsprechend unterkühlt. Er konnte nicht ganz verbergen, dass die bisherigen Kontakte zur ÖTV enttäuschend verlaufen waren und versuchte, Selbstbewusstsein zu demonstrieren: „Wir sollten uns auch darüber verständigen, dass auch unsere Gewerkschaft in den Prozess der Vereinigung beider deutscher Staaten Wesentliches und Bewährtes einzubringen hat: die berufsspezifische Interessenvertretung unserer Mitglieder und die bürgerfreundlichen Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens.“20
Wulf-Mathies reagierte sachlich. Man sei an einer guten Zusammenarbeit interessiert, jedoch: von
16 Schreiben, Monika Wulf Mathies an Gewerkschaft Gesundheitswesen, Zentralvorstand, vom 28.10.1989. SJS, 4.746. 17 Schreiben, Siegmar Treibmann an Monika Wulf-Mathies vom 13.02.1990, SJS, 4.146. 18 Bericht des Zentralvorstandes an die außerordentliche ZDK der Gewerkschaft GSW am 2. und 3. Mai 1990, SAPMO, DY 41/535. 19 Vgl. Schreiben an Mitglieder vom 6.02.1990, in: Info Nr. 3., SJS, 4.56 und 57. 20 Schreiben, Siegmar Treibmann an Monika Wulf-Mathies vom 04.04.1990, SJS, 4.247.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess „unseren Beratern und Beraterinnen wissen wir, dass sich bereits örtlich und bezirklich eine gute Zusammenarbeit entwickelt hat und viele ihrer Mitglieder unser Ziel unterstützen, zu einer einheitlichen ÖTV im vereinigten Deutschland zu kommen. Diesem Ziel widerspricht eine Zusammenarbeit mit der DAG. Wir bitten Sie deshalb, diesen Punkt noch einmal zu überdenken.“21
Im Unterschied zur ÖTV reagierte die DAG zuvorkommend und sofort auf das Angebotschreiben der FDGB-Gewerkschaft und lud sie zu einem Gespräch nach Hamburg ein. „Auf diesem Treffen wurde unser Kooperationsangebot angenommen mit der Zusicherung, uns auch im vereinten Deutschland beim Erhalt einer eigenständigen Gewerkschaft GSW zu unterstützen.“22 Die DAG orientierte sich mit diesem Zugeständnis am Modell ihrer Zusammenarbeit mit dem „Marburger Bund“, der Standesorganisation (Gewerkschaft) der Krankenhausärzte. Diese Organisation war der DAG durch ein Freundschaftsabkommen verbunden und hatte einen Sitz in ihrer Tarifkommission, war dabei jedoch weitgehend selbständig geblieben. Diese Perspektive war sicherlich für viele Funktionäre der Gewerkschaft Gesundheit attraktiv. Die Eigenständigkeit zu bewahren, die man gerade mal seit drei Monaten kannte, war verlockend – wenngleich nicht sehr realistisch. Die ÖTV versuchte dieses Angebot der DAG als unglaubwürdig hinzustellen und mit dem Pfund ihrer Größe zu wuchern, nicht nur der eigenen, sondern auch mit der des DGB. In der Gewerkschaft Gesundheit- und Sozialwesen war zu diesem Zeitpunkt längst ein heftiger Streit darüber entbrannt, ob die ÖTV oder die DAG der richtige Kooperationspartner sei. Dieser Streit fand auch in den Basisgliederungen (Grundorganisationen) und Bezirken statt. Dort mischten sich sowohl Verteter der DAG als auch der ÖTV in die Diskussionen mit ein. Der Bericht eines ÖTV-Kollegen vermittelt einen Eindruck über diese Auseinandersetzungen: „Auf einer Versammlung von etwa 70 BGL aus den Einrichtungen des Bezirks Schwerin tauchten außer den eingeladenen ÖTV- und DAG-Vertretern zusammen mit der Sekretärin des Zentralvorstands drei Vertreter des DAG-Bundesvorstands auf und argumentierten in der oben beschriebenen Weise (Selbständigkeit, M.S.).“23
Doch auch die ÖTV intervenierte massiv. Ihr für Gesundheit und Sozialwesen zuständiges gHV-Mitglied, Ulrike Peretzki-Leid, machte sich vom 26. Februar bis 2. März zu einer „Kontaktreise“ durch die DDR auf, die sie über Halle, Leipzig, Rüdersdorf, Magdeburg, Quedlinburg und Weimar nach Berlin führte. Sie besuchte Einrichtungen und Geschäftsstellen der Gewerkschaft GSW und erkundete das Terrain. Interessant ist ihre Einschätzung des Gesprächs mit Vertretern des jüngst gegründeten Virchow Bundes an der Charité. Sie schätzte die Motive der Charité-Ärzte „weniger berufsständisch als elitär“ ein und glaubte, eine „Organisierbarkeit der Ärzte in der DDR durch die ÖTV ist bei denen, die noch nicht die Niederlassung im Auge haben, z.Zt. noch gegeben.“24 Gemeint hatte sie damit, dass die ÖTV gegenüber dem Marburger Bund durchaus noch Chancen hatte, die Krankenhausärzte als Mitglieder zu gewinnen. Unterhalb der Führungsebene waren auch andere Organisationsgliederungen nicht untätig. Es gab vielfältige Kontakte auf bezirklicher, örtlicher und betrieblicher Ebene. 21 22 23 24
Schreiben, Monika Wulf-Mathies an Siegmar Treibmann vom 09.04.1990, SJS, 4.248. Bericht des Zentralvorstandes ..., a.a.O. Vermerk, Wolfgang Rose, Kooperation mit der GSW, 09.05.1990, SJS, 4.252. Vermerk, Bereich Gesundheitswesen, Informationsgespräche in der DDR, 22.02.1990, BerlinCharité, SJS, 3.15.
Kontakte der FDGB-Gewerkschaftsvorstände nach Westen
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Besonders weit war die Zusammenarbeit zwischen den drei ÖTV-Bezirken Nordwest, Hamburg und Weser Ems mit den GSW-Bezirken Rostock, Schwerin, Neubrandenburg gediehen. Bereits am 10. April 1990 hatten sie sich auf eine unterschriftsreife Kooperationsvereinbarung geeinigt, die die weitgehende Grundsatzentscheidung enthielt, im Rahmen des deutschen Einigungsprozesses auf Bezirksebene einen Zusammenschluss voranzutreiben. Neben allgemeinen Aussagen zu Tarifautonomie, Streikrecht, Angleichung der Einkommen und Arbeitsbedingungen hatten sich die Gewerkschafter aus Ost und West darauf verständigt, das Gesundheitswesen der Bundesrepublik nicht als Modell zu akzeptieren. Beide Gewerkschaften waren gegen eine Privatisierung der ambulanten Patientenversorgung. Sie favorisierten den Erhalt der Polikliniken und lehnten das „Versorgungsmonopol niedergelassener Ärzte“ ab.25 Gerade Ärzte in der DDR dürften diese Politik ihrer Gewerkschaft nicht durchgängig begrüßt haben, hatten sie doch große Hoffnung, dass sich mit der staatlichen Vereinigung die Chance auf Selbständigkeit ergeben würde. Für sie ging es umgekehrt eher darum, das Fast-Monopol der Polikliniken zu brechen. Die Zahl der niedergelassenen Ärzte hatte sich unter dem SED-Regime drastisch dezimiert. Während 1955 in der DDR ca. 5.000 Ärzte und ca. 5.500 Zahnärzte in eigener Praxis tätig waren, waren es 1989 nur noch ca. 400 Ärzte und ca. 600 Zahnärzte.26 Auch diese Interessenlage mag die Vorliebe von Teilen des Zentralvorstandes für berufsständische Organisationen wie den Marburger Bund und die DAG erklären. Anders als die Ärzte, hatte die große Mehrheit der Mitglieder aus dem Pflege- und technischen Bereich kein Interesse an einer Mitgliedschaft in Berufsorganisationen von Ärzten und befürwortete deshalb eine Zusammenarbeit mit der ÖTV. Der Konflikt innerhalb der GSW, ob man besser mit der ÖTV oder der DAG kooperieren solle, hatte sich schon auf der erwähnten Zentralvorstandssitzung Ende März gezeigt. Die große Mehrheit votierte mit 47 zu 11 Gegenstimmen für ein Kooperationsangebot sowohl an ÖTV wie auch an DAG.27 Ausgetragen und entschieden wurde der Konflikt schließlich nach einem „erbitterten Kampf“ auf der Zentraldelegiertenkonferenz am 2. und 3. Mai 1990. Der Vorsitzende Treibmann spitzte die Auseinandersetzung auf die Alternative zu: Entweder wir wollen „weiterhin eine eigene berufsspezifische Gewerkschaft GSW mit der erforderlichen Konsequenz eines Kooperationspartners (sein)“, oder wir geben „unsere Eigenständigkeit auf und werden – analog der Struktur im DGB – Teil einer Sammelgewerkschaft, einer ÖTV.“28 Sein Bericht ließ erkennen, dass er mit der DAG als Kooperationspartner sympathisierte. Laut seiner Angabe hätte die DAG ihm eine selbständige Existenz der Gewerkschaft Gesundheitswesen im vereinten Deutschland zugesagt.29 Wahrscheinlich teilte die Mehrheit des Zentralvorstandes seine Neigung. Die ÖTV-Bezirksverwaltung Berlin befürchtete, dass der Zentralvorstand auf der Konferenz die Mehrheit für eine Zusammenarbeit mit der DAG erhalten könnte. Die
25 Kooperationsvereinbarung zwischen der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (GSW), Bezirk Rostock, Bezirk Schwerin, Bezirk Neubrandenburg und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Bezirk Nordwest, Bezirk Hamburg, Bezirk WeserEms, Entwurf, Stand 10.04.1990, SJS, 4.58. 26 Pressemitteilung an ADN, 27.02.1990, SAPMO, DY 41/747. 27 Protokoll der 3. Tagung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen am 29./30. März 1990, SAPMO, DY 41/535. 28 Bericht des Zentralvorstandes an die außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz der GSW am 2./3. Mai 1990 in Berlin, SJS, 4.253, S. 26. 29 Ebd.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Konsequenzen wären erheblich gewesen. Der ÖTV hätte das „die Tarifführerschaft im Gesundheitswesen“ gekostet.30 Die Befürchtungen der ÖTV erwiesen sich jedoch als unbegründet. Die große Mehrheit der Delegierten (92%) auf der ZDK am 2. und 3. Mai stimmte für ein Zusammengehen mit der ÖTV. Dieses Ergebnis verwundert nur, wenn man ausschließlich die bisherigen Stellungnahmen des Vorstandes oder des Vorsitzenden betrachtet. Richtet man den Blick dagegen auf die berufliche Zusammensetzung der Gewerkschaft Gesundheitswesen, liegt die Erklärung auf der Hand. Die Gewerkschaft war eine Organisation, die von Akademikern, den Ärzten, geführt wurde. Diese stellten jedoch nur 11% der Mitglieder. Die überwältigende Mehrheit kam aus dem Pflegebereich, der Verwaltung und dem gewerblichen Bereich. Diese Mitglieder wussten, dass die ÖTV im Gesundheitsbereich vor allem ihre Berufsgruppen organisierte, und sie versprachen sich von der ÖTV folglich die kompetentere Interessenvertretung. Es gab jedoch noch einen anderen Grund für das eindeutige Abstimmungsergebnis: „Das Selbständige hatte überhaupt keinen Sinn, keine Zukunft mehr (...). Der unheimliche Mitgliederschwund bedeutet, dass eine selbständige Gewerkschaft Gesundheit ein kleines Grüppchen wäre. Bei den eigenen Mitgliedern war die Euphorie, zu einer bundesdeutschen Gewerkschaft zu gehören, viel größer als das Festhalten an der Eigenständigkeit einer alten FDGB-Gewerkschaft. Die Mitglieder wollten alles abwerfen, was alte Identität war.“31
Die Mitglieder der GSW lehnten sowohl eine eigenständige Gewerkschaft Gesundheit innerhalb des DGB wie auch eine Zusammenarbeit mit der DAG ab.32 Sie wollten die Vereinigung mit der ÖTV. Der Vorsitzende Siegmar Treibmann trat daraufhin von seinen Ämtern zurück. Wie bitter die Auseinandersetzung gewesen sein muss, zeigt der Abschiedsgruß des Vorsitzenden an den Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitsund Sozialwesen: „Ich bedanke mich für die Einladung zur ZV-Tagung am 21.6.90. Ich war bereit, meine ganze Kraft für den Aufbau einer eigenständigen berufsspezifischen Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen einzusetzen. Leider wurde dieser Auftrag – den wir ZV-Mitglieder alle durch unser Mandat mitbekommen haben – auf das Schändlichste verraten. Deshalb habe ich ja bereits auch am 2.5.90 mein Amt als Vorsitzender niedergelegt. Da ich mich mit einer Gewerkschaftsleitung, die sich und unsere Gewerkschaftsmitglieder skrupellos verkauft, nicht identifizieren kann, erkläre ich hiermit auch meinen Austritt aus dem ZV.“33
30 Schreiben, BV-Berlin, Bereich Gesundheitswesen an Kollegin Peretzki-Leid vom 26. April 1990, SJS, 4.249. 31 Interview mit Peter Herold vom 7. Juli 1991, Dokumentation, S. 287f. 32 Vgl. INFO Nr. 5, Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, o. D., SJS, 4.677. 33 Schreiben, Siegmar Treibmann an den Zentralvorstand der GSW vom 11.06.90, SAPMO, DY 41/535.
7. Grenzstreitigkeiten zwischen DGB-Gewerkschaften Spätestens seit Modrow sich am 1. Februar 1990 dazu bekannt hatte, dass Deutschland wieder „einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation“ werden sollte, zeichnete sich ab, dass es zu einer Vereinigung beider deutscher Staaten kommen könnte. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es den FDGB-Gewerkschaften nicht gelingen würde, das Vertrauen ihrer Mitglieder zurückzugewinnen. Die Hoffnungen der Beschäftigten in der DDR richteten sich daher zunehmend auf eine Ausdehnung der DGB-Gewerkschaften auf das Gebiet der DDR. Die bundesrepublikanischen Gewerkschaften konnten diese Entwicklung nicht ignorieren und begannen, vielfältige Aktivitäten zu entwickeln, um sich den Zulauf potentieller Mitglieder aus der DDR zu sichern. Für kleinere Gewerkschaften der Bundesrepublik bot sich dabei scheinbar en passant die Chance, ihren Organisationsbereich auszuweiten, da die FDGB-Gewerkschaften zum Teil andere Organisationsgrenzen gezogen hatten als die Gewerkschaften der Bundesrepublik. Streitigkeiten untereinander über neue Grenzen der Organisationsbereiche waren unvermeidlich. Diese „Grenzstreitigkeiten“ gibt es, seit es Gewerkschaften gibt. Noch nie in der Geschichte der freien Gewerkschaften wurde von einer Gewerkschaft ein Organisationsgrad erreicht, der es ihr erlaubt hätte, großzügig auf Mitglieder zu Gunsten einer anderen Gewerkschaft zu verzichten. Immer gab es Bereiche, in denen verschiedene Gewerkschaften mehr oder weniger zu Recht gleichermaßen Anspruch auf Zuständigkeit erhoben. Mit dem Übergang von Berufs- zu Industrieverbänden und dem Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“, das später vor allem gegen Standesorganisationen wie die gesonderte Organisation von Angestellten gerichtet war, wurde das Streitfeld relativ übersichtlich, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Vor allem Gewerkschaften, die vom Niedergang bedroht waren, entwickelten eine erstaunliche Phantasie, um in fremden Organisationsbereichen zu „wildern“. Die ÖTV mit ihren vielen Branchen war dabei zwangsläufig den Begehrlichkeiten mehrerer anderer Gewerkschaften ausgesetzt. Sie reagierte ihrerseits äußerst sensibel, wenn sie sich mit derartigen Bestrebungen konfrontiert sah. Die Gefahr, dass es zu Streitigkeiten bei der Mitgliederwerbung in der DDR kommen könnte, wurde früh erkannt. Auf DGB-Ebene versuchten die Gewerkschaften, dem einen Riegel vorzuschieben. Sie verständigten sich darauf, Mitglieder in der DDR nur entlang der bestehenden Organisationsgrenzen der DGB-Gewerkschaften aufzunehmen. Doch an diese Absprache fühlten sich nicht alle Gewerkschaften gebunden. Die ÖTV bekam vor allem mit drei DGB-Gewerkschaften Streit: mit der GEW, der HBV und der IG Bergbau und Energie.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) – Industrie- gegen Berufsverbandsprinzip In einem Teilbereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft war es schon immer schwierig, eine klare Organisationsgrenze zwischen den Gewerkschaften GEW und ÖTV zu ziehen. Das Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ bot hier keine eindeutige Orien-
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tierung. Die GEW war ursprünglich eine reine Lehrer-Gewerkschaft, genauer eine Gewerkschaft der Volksschullehrer. Diese Kernzuständigkeit der GEW für die Lehrer an den Schulen war nicht umstritten. Streit gab es im Bereich der Zuständigkeit für Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten, einem klassischen Bereich der ÖTV im kommunalen Sektor und über die Organisation von Wissenschaftlern an Hochschulen und anderen Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Auch hier kam die GEW der ÖTV ins Gehege, die dort ebenfalls beanspruchte, die Beschäftigten zu organisieren. Beide Gewerkschaften verständigten sich schließlich darauf, dass die ÖTV die zuständige Gewerkschaft für die Beschäftigten in der Verwaltung und im technischen Bereich sein sollte, während das wissenschaftliche Personal sich in beiden Gewerkschaften organisieren konnte. Der Beschäftigte konnte frei entscheiden, welcher Gewerkschaft er angehören wollte. In der DDR gab es für den genannten Bereich zwei Gewerkschaften, einmal die Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE) für die Lehrer und die Gewerkschaft Wissenschaft (GW), die vor allem die Beschäftigten der Hochschulen und Akademien organisierte. Am 26. März 1990 unterrichtete Dieter Wunder, der Vorsitzende der GEW, WulfMathies von einem Beschluss seines Hauptvorstandes, die Gründung einer freien und unabhängigen GEW in der DDR mit dem Ziel zu unterstützen, eine einheitliche GEW zu bilden. Dies ließ noch keinen Anlass für Streit erkennen, da dieses Vorgehen vor allem gegen die alte FDGB-Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE) gerichtet war. Für die Frage des Umgangs mit Mitgliedern der Gewerkschaft Wissenschaft bot er an, mit der ÖTV über die „Abgrenzung von Organisationsinteressen“ Einvernehmen herzustellen.1 Am 23. April verständigten sich die Vorstände der ÖTV und GEW darauf, gemäß den bestehenden Absprachen ein „gleichgerichtetes Vorgehen in der DDR“ anzustreben.2 Die Gewerkschaft Wissenschaft hatte im Januar erste Reformschritte eingeleitet und Dr. Günter Eiselt zum neuen Vorsitzenden gewählt. Fast zeitgleich begannen GEW und GW eine Zusammenarbeit hochschulpolitischer und gewerkschaftlicher Art, die am 12. Juni 1990 zu einem förmlichen Kooperationsabkommen führte. In diesem ging es allerdings im Wesentlichen nur noch darum, die Modalitäten der Auflösung der FDGBGewerkschaft festzulegen. Den daran Beteiligten war bewusst, dass damit Organisationsinteressen der ÖTV berührt waren. In einer Protokollnotiz wurde deshalb die Organisationsgrenze zwischen GEW und ÖTV bestimmt. „Danach soll das wissenschaftliche Personal in Hochschulen und Forschungseinrichtungen der GEW, das technische und Verwaltungspersonal der ÖTV beitreten.“3 Dies räumte der Berufszugehörigkeit Vorrang gegenüber der Betriebszugehörigkeit ein und verstieß gegen die geltenden Absprachen, wonach das wissenschaftliche Personal auch der ÖTV beitreten konnte. Zwar organisierte die ÖTV an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vor allem Beschäftigte aus der Verwaltung und dem technischen Bereich, jedoch hatte die ÖTV nie darauf verzichtet, auch unter den Wissenschaftlern Mitglieder zu werben. Am Rande des DGB-Kongresses am 21. Mai hatten ÖTV und GEW noch vereinbart, gemeinsam mit der Gewerkschaft Wissenschaft kooperieren zu wollen. All diese Absprachen konnten den Streit beim Wettbewerb um Mitglieder indes nicht verhindern. 1 2 3
Vgl. Schreiben, Dieter Wunder an Ernst Breit, Monika Wulf-Mathies u.a. vom 26.03.1990, SJS, 4.48. Ergebnis des Gesprächs mit dem Hauptvorstand der GEWE, 23.04.1991, SJS, 1.14. Kooperationsvereinbarung zwischen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Gewerkschaft Wissenschaft, 12.06.1990, SJS, 4.47.
Grenzstreitigkeiten zwischen DGB-Gewerkschaften
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Vor allem die FDGB-Gewerkschaft Wissenschaft stützte sich auf die Protokollnotiz und versuchte, den Eindruck zu erwecken, die GEW sei die allein zuständige Gewerkschaft für Wissenschaftler. Die Gründe dafür nannte der Vorsitzende Eiselt in einem Offenen Brief an seine Mitglieder: „ÖTV ist Tarifführer für den gesamten öffentlichen Dienst. Darin ist die GEWE (sic!) eingeschlossen, Absprachen in Tarifkämpfen funktionieren sehr gut. Der Bereich Hochschule und Wissenschaft der ÖTV organisiert vornehmlich technisches und Verwaltungspersonal. Die ÖTV ist die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft, die äußerst unterschiedliche Interessenlagen koordinieren muss und deshalb zentralistisch geleitet wird. Gemessen an der Gesamtmitgliederzahl ist der Bereich Hochschule und Wissenschaft in der ÖTV unbedeutend.“
Hingegen die GEW: „Die GEWE (sic!) ist aus Lehrerverbänden hervorgegangen, leistet aber seit langem für hochschul– und wissenschaftspolitische Bereiche engagierte Denkarbeit (...). Der Wissenschaftsund Hochschulbereich der GEWE öffnet sich für Mitglieder aus der DDR in dem Bestreben, eine wirksame Interessenvertretungspolitik gerade dieses Bereichs zu formieren. GEWE strukturiert sich durch weitgehend autonome Landesverbände, die der Kulturhoheit der Länder ein sehr effektives Pendant gegenüberstellen.“4
Es lässt sich unschwer erkennen, welche Gewerkschaft Eiselt seinen Mitgliedern empfiehlt.
IG Bergbau und Energie (IGBE) – Bereichs-Zuordnung gegen Mitgliedsentscheidung Während die ÖTV versuchte, die aufgebrochenen Konflikte mit der GEW einvernehmlich zu lösen, verlief der Streit mit der IG Bergbau und Energie (IGBE) und der HBV um neue Mitglieder von Anfang an konfrontativ. In der Bundesrepublik war die ÖTV zuständig für die „leitungsgebundenen“ Energiebetriebe und die Wasserwirtschaft (Ver- und Entsorgung). In der DDR gehörten diese Bereiche zum Organisationsfeld der FDGB-Gewerkschaft IG Bergbau-Energie (IG B-E). In der Bundesrepublik hatte die DGB-Gewerkschaft IG Bergbau und Energie (IGBE) schon vorher versucht, der ÖTV vor allem im Energiebereich Mitglieder streitig zu machen. Als die allgemeine politische Auseinandersetzung über die Nutzung der Atomkraft auch das Lager der Gegner der Kernenergie in der ÖTV verstärkte, liebäugelten Betriebsräte von Atomkraftwerken mit dem Übertritt in die IGBE. Bundesweites Aufsehen erregte dabei die Belegschaft des AKW Biblis, die sich geschlossen der IGBE anschließen wollte. Im Schiedsverfahren des DGB wurde festgestellt, dass die ÖTV für die leitungsgebundene Energie, und damit auch für die Atomkraftwerke, die zuständige Gewerkschaft ist (Frühjahr 1989). Der IGBE wurde untersagt, Mitglieder aus Kernkraftwerken aufzunehmen. Wäre es nach dem DGB-Schiedsspruch gegangen, hätten die Gas- und Elektrizitätswerke (Energiekombinate) sowie die Wasserwirtschaft der DDR fraglos zum Organisationsbereich der ÖTV gehört. Dieser Bereich zählte immerhin ca. 140.000 Mitglieder in 4
Offener Brief des Vorsitzenden der Gewerkschaft Wissenschaft an alle Mitlieder, in: Informationsdienst, Gewerkschaft Wissenschaft, 25. Juni 1990, SJS, 4.499.
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der FDGB-Gewerkschaft IG Bergbau-Energie. Den Funktionären dieser Gewerkschaft war diese Zuordnung durchaus bewusst. So knüpfte der BGL-Vorsitzende vom Energiekombinat Berlin, Peter Witte, früh Kontakte zur ÖTV-West und wurde als Referent gern gesehener Gast bei ihren Bildungsveranstaltungen. Witte führte zudem die Beschäftigten des Ost-Berliner Energiekombinats an, die bereits zu Beginn des Jahres 1990 in die Berliner ÖTV eintreten wollten. Die ÖTV zögerte damals, Ost-Berliner Kollegen aufzunehmen. „Andere haben aus dem Zögern, das wir an den Tag legten, Vorteile gezogen. Das war nicht gut. Der Organisationsstreit mit der IG Bergbau und Energie hat auch dort seinen Ausgangspunkt.“5 Peter Witte wandte sich vielleicht auch deshalb von der ÖTV ab. Jedenfalls trat er ab März plötzlich als entschiedener Fürsprecher eines Anschlusses der Energiebereiche an die IGBE auf. Es ist zu vermuten, dass ihm die Bedingungen, unter denen die ÖTV eine geeinte Gewerkschaft anstrebte, missfallen haben. Seitens der ÖTV wurde nicht nur ein kollektiver Übertritt von FDGB-Mitgliedern ausgeschlossen, sondern es bestanden auch erhebliche Bedenken gegen eine Übernahme von hauptamtlichen FDGB-Funktionären. Witte „hat sehr schnell gespürt, dass er bei uns nicht in offene Arme läuft, dass wir bestimmte Bedingungen stellen.“6 Auf dem 1. Kongress (vorher Zentraldelegiertenkonferenz genannt) der IG BergbauEnergie vom 5. -7. April 1990 wurde Peter Witte zum Vorsitzenden gewählt. Die Gewerkschaft nutzte den Kongress, sich in IG Bergbau-Energie-Wasserwirtschaft (IGBEW) umzubenennen, um damit ein deutliches Zeichen für ihren Anspruch auf Organisationsbereiche der ÖTV zu setzen. Angeblich erfolgte die Umbenennung, weil die „mehr als 38.000 Wasserwirtschaftler sich auch äußerlich sichtbar mit ihrer Organisation identifizieren (wollten).“7 Dies wurde von der ÖTV zu Recht als Kampfansage verstanden. Es war unwahrscheinlich, dass diese Entscheidung ohne Zustimmung und Ermutigung der IGBE erfolgt war. Der 2. Vorsitzende der IGBE (West) Berger hielt auf dem Kongress nicht nur eine Grundsatzrede, sondern wurde in einem Interview der Mitgliederzeitung GLÜCK AUF in Wort und Bild gefeiert. Auf die Frage: „Die ÖTV der Bundesrepublik geht innerhalb der IG Bergbau-Energie-Wasserwirtschaft auf Stimmenfang. Wie beurteilst du das?“ antwortete er: „Wer aus welchem Bereich sich für welche IG entscheidet, liegt allein bei den Mitgliedern.“8 Dieses Ordnungsprinzip hätte das gesamte bisherige Industrieverbandsprinzip der DGB-Gewerkschaften obsolet gemacht. Vor allem im Berliner Energiekombinat, deren Beschäftigte Peter Witte noch zu Beginn des Jahres geschlossen in die ÖTV überführen wollte, kam es zu Einsprüchen gegenüber seinem neuen Kurs für den Energie- und Wasserbereich. In Berlin hatte das Energiekombinat inzwischen Rahmenvereinbarungen mit den Berliner Eigenbetrieben GASAG und Bewag geschlossen, so dass die Zuständigkeit der ÖTV auch aus sachlichen Gründen des Industrieverbandsprinzips „ein Betrieb eine Gewerkschaft“ geboten war. Vertrauensleute der Gasversorgung des VEB Energiekombinats Berlin und der ÖTV aus GASAG und Bewag begannen eine Unterschriftenaktion zugunsten der ÖTV im Bereich der leitungsgebundenen Energiebetriebe: „Wir (...) sind dafür, in der Gewerkschaft ÖTV um unsere Rechte zu kämpfen.“9 Darauf reagierte der 5 6 7 8 9
Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 332. Interview mit Werner Ruhnke vom 10. September 1991, Dokumentation, S. 356. GLÜCK AUF, Nr. 7/90, 2. Aprilausgabe. GLÜCK AUF, Nr. 8/90. Aufruf an alle Kolleginnen und Kollegen in den Bereichen Strom, Gas, Wasser und Fernwärme, o. D., SJS, zu 4.50.
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Vorsitzende der IGBEW mit einem scharfen Protestschreiben an die Vorsitzende der ÖTV, das in Pressemitteilungen und Flugblättern verteilt wurde. Darin hieß es u.a.: „Die IG Bergbau-Energie-Wasserwirtschaft protestiert mit aller Entschiedenheit gegen den Mitgliederfang der ÖTV in den Betrieben und Einrichtungen der Energie- und Wasserwirtschaft.“
Die ÖTV versuche, „die neue Einheitsgewerkschaft zu spalten“ und die noch bestehenden Ländergrenzen zu missachten.10 Die IG Bergbau stilisierte sich als Hüterin der Einheit und argumentierte nicht ungeschickt: „Die ÖTV der Bundesrepublik wird als einzig wahrer Interessenvertreter der Beschäftigten der Energiewirtschaft dargestellt. Tatsache aber ist, dass nur etwa 8 Prozent der ÖTV-Mitglieder aus dem Energiebereich kommen. In der riesigen Palette der ÖTV, vom Seemann bis zum Müllwerker, von der Krankenschwester bis zum Lufthansapiloten, stellt der Energiebereich nur einen kleinen Anteil. Insgesamt hat die ÖTV weniger als die Hälfte der Beschäftigten in ihrem gesamten Zuständigkeitsbereich organisiert.“
Hingegen: „Die IGBE ist eine entscheidende Kraft der Energiepolitik der Bundesrepublik. 93 Prozent aller Beschäftigten in Bergbau und Energiewirtschaft (...) sind Mitglied der IGBE.“11
Fälschlich wurde behauptet, die ÖTV verletze Absprachen im Rahmen des DGB über Abgrenzungen der Zuständigkeiten. Wulf-Mathies protestierte umgehend beim Vorsitzenden der IGBE Heinz-Werner Meyer gegen diese „unhaltbaren Vorwürfe“ und forderte eine Richtigstellung.12 Auch Ralf Zimmermann, zuständiges gHV-Mitglied der ÖTV für den Energiebereich, wies gegenüber dem Vorsitzenden der IGBEW, Peter Witte, die erhobenen Vorwürfe entschieden zurück. „Die Gewerkschaft ÖTV betreibt weder Mitgliederfang, noch versucht sie die Gewerkschaftsbewegung zu spalten.“ Sie helfe und berate in allen Bereichen, „in denen die Gewerkschaft ÖTV nach verbindlichen Absprachen im DGB zuständig ist. Dazu gehört auch die leitungsgebunde Energieversorgung, die Wasserver- und entsorgung.“13 Der Konflikt schlug hohe Wellen und wurde mit einigem publizistischen Aufwand begleitet. Innerhalb der Betriebe und Einrichtungen kam es zwischen Mitarbeitern der ÖTV und der IG Bergbau teilweise zu einem unschönen Wettbewerb. Doch die IGBE beharrte auf ihrem Anspruch. Sie beschloss am 7. September 1990 sogar eine Satzungsänderung, die die Ausweitung ihres Organisationsbereiches auf Einrichtungen der leitungsgebundenen Energie und der Wasserwirtschaft festschrieb. Die ÖTV konterte. Sie konnte die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der wichtigsten Energieunternehmen der Bundesrepublik, die mittlerweile auch in der ehemaligen DDR aktiv waren, für sich gewinnen. In einem gemeinsam unterzeichneten Aufruf an die Beschäftigten in den neuen Bundesländern wurde für eine „einheitliche Interessenvertretung im vereinten Deutschland“ durch die ÖTV geworben.14 10 11 12 13 14
Information der IGBE-Pressestelle, 10.04.1990, ebd. IGBEW Informationen, Urabstimmung im Energiekombinat Berlin, SJS, 4.160. Schreiben, Monika Wulf-Mathies an Heinz-Werner Meyer vom 11. April 1990, SJS, 4.49. Schreiben, Ralf Zimmermann an Peter Witte, o. D., SJS, 4.481. Gemeinsamer Aufruf der Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Bayernwerk AG, EnergieVersorgung Schwaben AG, Preussen-Elektra AG, RWE Energie AG, Vereinte Elektrizitätswerke Westfalen AG, der Betriebsratsvorsitzenden der Berliner Kraft und Licht AG (BEWAG) und der Gewerkschaft ÖTV, o. D., SJS, 40.15.
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Der Streit eskalierte. Sogar ein Ausschluss der IGBE aus dem DGB war im Gespräch.15 Am 6. November 1990 hatte zunächst der DGB-Bundesvorstand förmlich beschlossen, dass die Organisationsabgrenzungen, die bisher innerhalb des DGB bestanden, auch für die Beschäftigten der ehemaligen DDR galten. Ein daraufhin eingeleitetes Vermittlungsverfahren zwischen der ÖTV und der IGBE scheiterte im Dezember. Schließlich erklärte das Schiedsgericht des DGB am 4. Februar 1991 die selbstherrliche Ausdehnung des Organisationsbereichs der IGBE für unwirksam.16 Formal beugte sich die IGBE diesem Schiedsspruch, praktisch handelte sie jedoch nach der etwas scheinheiligen Devise: Die Beschäftigten entscheiden, wo sie Mitglied werden wollen. Ein Teil der Beschäftigten aus Kraftwerken und regionalen Stromversorgungsbetrieben dürfte sich für die IGBE entschieden haben. Dieses Verhalten wurde von der ÖTV zähneknirschend akzeptiert. Dass die IGBE für einige Mitarbeiter die attraktivere Gewerkschaft war, mag zum einen damit zusammenhängen, dass ihre energiepolitische Konzeption überzeugender schien als die der ÖTV. Die ÖTV favorisierte ursprünglich die kommunalen Energiebetriebe, die IGBE hingegen die regionalen und überregionalen Stromerzeuger. Es mag aber auch generell an einem Strukturproblem der ÖTV gelegen haben: „Ja, leider setzten sich die Organisationskonflikte mit anderen DGB-Gewerkschaften im Osten fort. So auch der Streit darum, ob eine reine Energiegewerkschaft die Interessen der Mitglieder in der Energiewirtschaft besser vertreten kann als der „Vielvölkerstaat ÖTV“, wo dieser Wirtschaftszweig nur ein Teil der Gesamtorganisation ist.“17
Die FDGB-Gewerkschaft IGBEW löste sich zum 1. November auf. Peter Witte wurde auf dem „gesamtdeutschen“ Kongress der IGBE vom 7. Bis 11. Mai 1991 in den Vorstand der IGBE gewählt.
Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) – privater gegen öffentlicher Bereich Die Zuständigkeiten der MSK und späteren Gewerkschaft Öffentliche Dienste (GÖD) für die Bereiche Wohnungswirtschaft, Banken bzw. Sparkassen und Krankenkassen eröffneten der HBV die Gelegenheit, der ÖTV Mitglieder streitig zu machen. In der Bundesrepublik gehörten diese Einrichtungen, sofern sie öffentlich-rechtlich waren, zum Organisationsbereich der ÖTV. Die HBV war für die privaten Banken, Versicherungen und Unternehmen der Wohnungswirtschaft zuständig. In der GÖD waren demgegenüber sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Einrichtungen organisiert, wobei der Prozess der Privatisierung in der DDR gerade erst begonnen hatte und es durchaus strittig war, wie die Aufteilung letztlich aussehen würde. Die MSK erkannte beim Versuch, sich über die Bildung von Fachverbänden strukturell zu erneuern, dass sie in der Bundesrepublik sowohl die ÖTV als auch die HBV als Ansprechpartner hatte. Sehr früh begann sie deshalb, sowohl zur ÖTV als auch zur HBV 15 Vgl. die Darstellung des Konflikts bei Manfred Wilke/Hans-Peter Müller, Zwischen Solidarität und Eigennutz. Die Gewerkschaften des DGB im deutschen Vereinigungsprozess, Melle, 1991, S. 122ff. 16 Vgl. Der Schiedsspruch im Wortlaut, in: Gewerkschaft ÖTV zuständig für Energieversorgung und Wasserwirtschaft, Flugschrift, o. D., SJS, 40.29. 17 Interview mit Monika Wulf-Mathies vom 22. Juli 2009, Dokumentation, S. 403.
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Kontakte aufzunehmen. Im Bereich Banken und Versicherungen, aber auch der Wohnungswirtschaft gab es Überschneidungen mit dem Organisationsbereich der ÖTV. Der private und öffentliche Sektor hätten getrennt werden müssen. Daran zeigten jedoch weder die GÖD noch die HBV Interesse. Vor allem im Bereich Wohnungswirtschaft und Sparkassen waren damit Grenzstreitigkeiten zur ÖTV vorprogrammiert. Der Streit ging hier um die Zuständigkeit von ca. 100.000 Beschäftigten. In einem Gespräch am 14. März 1990 vereinbarten die Vorstandsvertreter von GÖD und HBV die Herstellung der „Gewerkschaftseinheit“ und „intensivere Begegnungen“ zwischen der GÖD und der HBV.18 Am 22. Mai 1990 riefen jene Teile der GÖD, die glaubten, die HBV wäre ihre Partnergewerkschaft in der Bundesrepublik – es waren die Organisationsgliederungen Banken, Sparkassen und Versicherungen, Wohnungswirtschaft, Tourismus, Datenverarbeitung sowie gesellschaftliche Organisationen und Parteien – ihre Mitglieder dazu auf, eine Gewerkschaft HBV/DDR zur gründen. Auf der Zentralen Delegiertenkonferenz der GÖD am 8. Juni 1990 wurde die Trennung dieser Fachverbände von der GÖD beschlossen. 158 Delegierte von 428 verließen den Kongress und die GÖD.19 Sie vereinigten sich am 23./24. Juni mit großen Teilen der FDGB-Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss (HNG) zur HBV/DDR in Vorbereitung einer Vereinigung mit der HBV (West). Joachim Wegrad, der ehemalige Vorsitzende der GÖD, wurde neuer Vorsitzender der HBV/DDR. Die ÖTV hatte zunächst das Nachsehen. Die Gründe dafür, dass die Fachverbände der GÖD einseitig die HBV als ihre zukünftige Gewerkschaft favorisierten, waren sicherlich, dass die HBV im Unterschied zur ÖTV Konditionen der Vereinigung anbot, die den Vorstellungen der GÖD-Fachverbände weit entgegenkamen. Anders als die ÖTV akzeptierte sie sowohl den kollektiven Übertritt der Mitglieder nach dem Zwischenschritt der Gründung einer HBV/DDR als auch die Mitsprache bei Übernahme hauptamtlicher Funktionäre. Dass die Entscheidung der GÖD-Fachverbände damit zu tun hatte, dass die HBV gegenüber den FDGB-Gewerkschaftern – im Unterschied zur ÖTV – nicht als „Oberlehrer der Nation“ aufgetreten sei, ist eine beschönigende Interpretation.20 Ob der Sachverhalt des kollektiven Übertritts einer FDGB-Gewerkschaft positiv zu werten ist, scheint durchaus fraglich. Die ideologische Nähe von Teilen des HBV-Vorstandes zur DKP und damit zum DDR-Sozialismus der Vorwendezeit dürfte ebenfalls zum guten Einvernehmen mit den FDGB-Funktionären beigetragen haben. Bei der Eröffnung der GÖD-Konferenz waren als Gäste der stellvertretende Vorsitzende der ÖTV Wolfgang Warburg und der Vorsitzende der HBV Lorenz Schwegler zugegen. Sie kamen in die missliche Lage, zu den Grenzstreitigkeiten Stellung nehmen zu müssen. Warburg war bemüht, möglichst allgemein und unverbindlich zu bleiben, da es sich verbot, coram publico mit Schwegler zu streiten: „Die Sparkassen sind ja auch so ein Problem, ... Wie das mit der Wohnungswirtschaft ist, kann man nicht vorhersagen.“21 Doch Schwegler ließ durchaus die Absicht seiner Gewerkschaft erkennen, Grenzfragen neu aufzuwerfen: „Falsch beraten wären wir, wenn wir als DGB-Gewerkschafter herge18 GÖD, Extrablatt, Redaktionsschluss 23.03.1990, SMS. 19 Vgl. Protokoll, 8. Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD, 8./9. Juni 1990 in Berlin, notariell beglaubigt, SAPMO. DY 45/1635. 20 Vgl. Michael Fichter/Maria Kurbjuhn, Spurensicherung. Der DGB und seine Gewerkschaften in den neuen Bundesländern, 1989–1991, Hg. Hans-Böckler-Stiftung, Manuskripte 120, Düsseldorf 1993, S. 21. 21 Protokoll, 8. Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD, a.a.O.
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hen würden und sagen, wir verlangen die Auflösung bestimmter gewachsener Strukturen.“22 Zum offenen Streit zwischen HBV und ÖTV, bzw. zwischen ihren potentiellen DDR-Partnern kam es erst unmittelbar nach der Konferenz anlässlich der Frage der Tarifzuständigkeit bei den Sparkassenbeschäftigten. Eine Groteske in Sachen Grenzstreitigkeiten und ein in der Tarifgeschichte einmaliger Vorgang waren die Folge: Der ehemalige Vorsitzende der GÖD und aktuelle Vorsitzende des Arbeitsausschusses GÖD/HBV Wegrad unterzeichnete am 18. Juni 1990 einen Tarifvertrag mit dem Sparkassenverband, wohl im Vorgriff auf den fünf Tage später stattfindenden Gründungskongress der HBV/DDR, auf dem er zum Vorsitzenden gewählt werden würde. Dass potentielle Vorsitzende einer noch nicht gegründeten Gewerkschaft Tarifverträge abschließen, ist ungewöhnlich. Für die GÖD hatte er jedoch keine Prokura mehr. Daraufhin intervenierte der neue Vorsitzende der GÖD Jürgen Kaiser und zweifelte die Rechtmäßigkeit der Unterschrift von Wegrad an. Für die Beschäftigten der Sparkassen sei der geschäftsführende Zentralvorstand der GÖD „und nicht etwa Einzelpersonen ohne Vollmacht“ zuständig.23 Drei Tage später, am 21. Juni 1990 unterzeichnete der Präsident des Sparkassenverbandes einen weiteren Tarifvertrag für die Beschäftigten der öffentlich-rechtlichen Sparkassen, diesmal mit der ÖTV in der DDR und der GÖD. Er sah u.a. eine Gehaltserhöhung um durchschnittlich 50% des Ist-Gehaltes, aber mindestens 300 DM, und 50 % des IstGehaltes als Urlaubsgeld vor.24 Jetzt verlagerte sich der Streit auf die Ebene der Vorstände von ÖTV und HBV, die formal für die DDR gar nicht zuständig waren. Der Vorsitzende der HBV Schwegler beschwerte sich bei der ÖTV-Vorsitzenden Wulf-Mathies darüber, dass die ÖTV ihre neu gegründete ÖTV in der DDR benutzt habe, um sich Einfluss in einem ihr nicht zustehenden Organisationsbereich zu verschaffen. Für Wulf-Mathies war hingegen klar, dass es die HBV gewesen sei, die Organisationsgrenzen missachtet hatte, denn die ÖTV organisiere „die Beschäftigten der öffentlich-rechtlichen Sparkassen.“ Sie drohte: „Dies werden wir nicht hinnehmen.“25 Die Welt kommentierte: „Zwei Gewerkschaftsbrüder keilen sich um 20 000 neue Mitglieder in den DDR-Sparkassen.“26 Auch hier wurde der DGB befasst und musste einen Schiedsspruch fällen. Der Ausgang der Grenzstreitigkeiten hing oft auch schlicht damit zusammen, welche Personen zufällig den entscheidenden Einfluss in den FDGB-Gewerkschaften hatten. Joachim Wegrad beispielsweise hatte eine klassische SED-Karriere durchlaufen, bevor er in der MSK Vorsitzender der „Kreisverwaltung Zentrale Staatsorgane“ wurde. Wegrad erkannte, dass seine Zukunft nicht in der ÖTV liegen würde, da diese ihre Abneigung gegen eine Übernahme von hauptamtlichen FDGB-Funktionären offen bekundete. Daraufhin engagierte er sich plötzlich ungewöhnlich stark für eine Zusammenarbeit mit der HBV, und zwar so stark, dass es auffiel und kritisiert wurde: „Kollege Dr. Wegrad, wenn Ihr Name auftaucht, dann immer in Verbindung mit Vergünstigungen für den Bereich HBV.“27 22 Ebd. 23 Schreiben, Willi Hanss an die Mitglieder der großen Tarifkommission und DDRBeratungsbüro vom 22.6.1990, SJS, 6.15. 24 Vgl. Tarifinformation für die Mitglieder in den öffentlich-rechtlichen Sparkassen der ÖTV in der DDR und der GÖD, o. D., SJS, 6.14. 25 Schreiben, Monika Wulf-Mathies an Lorenz Schwegler vom 09.07.1990, SJS, 4.564. 26 Der Deal hinter dem Paravent, in: Die Welt vom 28.06.1990. 27 Protokoll, 8. Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD, a.a.O.
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Wegrad wurde nach der Vereinigung zur gesamtdeutschen HBV Sekretär der HBVHauptverwaltung. Noch später lieferte er als PDS-Staatssekretär in der Regierung von Mecklenburg-Vorpommern Schlagzeilen für einen Korruptionsskandal. Die Grenzstreitigkeiten der ÖTV sowohl mit der IGBE, der GEW als auch der HBV machen deutlich, dass die ÖTV ihre Politik in der DDR nicht nur nach den eigenen Vorstellungen einer demokratischen Erneuerung der Gewerkschaften in der DDR ausrichten konnte. Die Erfahrung, dass die IG Bergbau und die HBV keine Bedenken hatten, mit alten SED/FDGB-Funktionären zu kooperieren, wenn es darum ging, Mitgliederbestände, die potentiell zum Organisationsbereich der ÖTV gehörten, zu übernehmen, beeinflusste die Politik der ÖTV gegenüber den FDGB-Gewerkschaften. Die ÖTV sah sich gegen ihre politische Überzeugung gezwungen, mit FDGB-Gewerkschaften zu kooperieren: „Rein unter dem Gesichtspunkt Organisationsbestandswahrung gab es einen starken Druck (...) Es gab immer wieder neue Schreckensmeldungen, wer irgendwo reiste und hier tat und da tat. So wurde auch das Verhältnis zu den Einzelgewerkschaften des FDGB immer wieder neu bestimmt. Was machst du denn, wenn die HBV gerade den Wegrad freundlich streichelt und ihm sagt, du bist ein guter Wegrad, du gibst uns die Hälfte deiner Organisation? Und wir sagen, du bist ein schrecklicher Wegrad, wir wollen euch überhaupt nicht haben, ihr seid die letzten Stasiheuler, bleibt ja weg. Und dann schleppt dieser womöglich noch Teile des Organisationsbereiches, der üblicherweise zur ÖTV gehört, zur HBV. Das konnte man sich nicht gefallen lassen. (...) Diese Taktiererei mit den Altgewerkschaften ist uns zum Teil von den eigenen DGB-Organisationen aufgezwungen worden. Wenn die HBV eine andere Politik gemacht hätte, dann hätten wir auch nicht so mit der MSK umgehen müssen. Wenn es eine Solidarität im DGB gegeben hätte, die lautete, wir machen alle den Organisationsaufbau von unten, dann hätte es diese Probleme nicht gegeben. Doch das hier existierende Kräfteverhältnis, die verschiedenen politischen Richtungen von Leuten in den Einzelgewerkschaften wie der ÖTV, hat sich in unterschiedlichem Verhalten in der DDR ausgedrückt.“28
28 Interview mit Margareta Fohrbeck vom 18. Juni 1991, Dokumentation, S. 257.
8. Kooperationsabkommen mit FDGB-Gewerkschaften Im Februar 1990 wurde deutlich, dass eine große Mehrheit der DDR-Bürger immer ungeduldiger auf eine rasche Vereinigung mit der Bundesrepublik drängte. Eine Stimmung entstand, als ginge es nur noch um das Wie und Wann. Doch die Spekulation darüber, wie lange eine mehr oder weniger souveräne DDR noch bestehen würde, bewegte sich in zeitlicher Hinsicht zwischen zwei und fünf Jahren. Die FDGB-Gewerkschaften agierten noch in dem Bewusstsein, dass sie für diese Zeitspanne selbständig existieren und agieren könnten, falls es ihnen gelänge, den Zerfall der Organisationen aufzuhalten. Zu diesem Zwecke suchten sie die Unterstützung der Westgewerkschaften. In der Folge sah sich die ÖTV mit FDGB-Gewerkschaften konfrontiert, die verstärkt um Unterstützung und Kooperation nachsuchten, dabei aber auf Selbständigkeit pochten und als gleichwertige Partner akzeptiert werden wollten. Gleichzeitig zeichnete sich ab, dass die Initiativen für den Aufbau unabhängiger Gewerkschaften außerhalb des FDGB keine Anhänger fanden und inhaltlich weit vom Selbstverständnis einer DGBGewerkschaft entfernt lagen. Die Idee, eine ÖTV in der DDR als eine Art Filiale der ÖTV (West) zu gründen, steckte noch in den Anfängen. Andere DGB-Gewerkschaften und die DAG, der Beamtenbund sowie Berufsverbände begannen, mit den FDGBGewerkschaften Gespräche über eine Zusammenarbeit zu führen. Ein unschöner Wettbewerb setzte ein. Die ÖTV-Führung, die sich festgelegt hatte, den Aufbau demokratischer Gewerkschaften in der DDR zu unterstützen, steckte in einem Dilemma. Einerseits wollte sie eine Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften vermeiden, weil sie dadurch ihre eigene Glaubwürdigkeit gefährdet sah, andererseits konnte sie nicht länger zusehen, wie andere Gewerkschaften unbekümmert ob solcher Skrupel zukünftige Mitglieder im Organisationsbereich der ÖTV warben.
Kritik am FDGB und seinen Folgegewerkschaften Auf der ÖTV-Hauptvorstandssitzung am 14./15. Februar hatte die Vorsitzende WulfMathies eine Analyse des FDGB vorgetragen, die alle Argumente zusammenfasste, die gegen eine Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften sprachen. Ausgehend von der sich zunehmend verschlimmernden Lage in der DDR konstatierte sie, dass dort, wo „starke Gewerkschaften“ jetzt dringend notwendig wären, „ein gefährliches Vakuum herrsche.“ Der FDGB und seine Einzelgewerkschaften gehörten nach der SED „zu den diskreditiertesten Organisationen in der DDR.“ Seine Rolle am Runden Tisch zeige, dass er immer noch „als verlängerter Arm der SED“ betrachtet werden müsse. Der Kongress habe zwar versucht, organisatorische Strukturen zu retten, sei aber ein wirkliches Signal zu einer demokratischen Erneuerung schuldig geblieben. Die kategorische Ablehnung von Betriebsräten, das Festhalten an der BGL und das Vetorecht gegen ein frei gewähltes Parlament, das alles zeuge von altem Denken. „Da helfen auch neue Köpfe oder schnellgewendete Altfunktionäre wenig.“ Ihr Misstrauen galt nicht nur dem reformierten Dachverband FDGB, sondern auch seinen autonomen Einzelgewerkschaften:
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Auf der Sitzung rührte sich kein Widerspruch gegen diese Einschätzung. Die logische Konsequenz aus dieser Analyse wäre eine strikte Ablehnung jeglicher Unterstützung und Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften und ein entschiedener Schritt hin zu einer eigenständigen ÖTV in der DDR gewesen. Genau dies wurde auch von einem Hauptvorstandsmitglied gefordert. „Warum denken wir eigentlich nicht darüber nach, eine ÖTV-Mitteldeutschland zu gründen?“2 Diesen Schritt wollte oder konnte der gHV jedoch nicht gehen: Zum einen vermutete er „etliche“ beim FDGB, die „vernünftige Lösungen“ wollten, zum anderen – und dies war vermutlich entscheidend – gab es Mitte Februar unter den Beschäftigten in der DDR keine wirkliche Bewegung hin zu einer selbständigen ÖTV oder anderen FDGB-unabhängigen Gewerkschaften. Die Frage einer Satzungsöffnung hatte der gHV bereits rechtlich prüfen lassen und verworfen. Andererseits konnte der Hauptvorstand die Türen zur Zusammenarbeit mit den FDGBGewerkschaften nicht vollends zuschlagen, um diese nicht in die Arme der Konkurrenzgewerkschaften zu treiben oder deren Selbständigkeitsbestrebungen zu stützen. Die ÖTVFührung wollte nicht unnötig den potentiellen Mitgliederbestand reduzieren. Sie musste zwischen ihren demokratischen Überzeugungen einerseits und ihrem pragmatischem Organisationsinteresse andererseits abwägen. Hinzu kam, dass eine harsche Ablehnung der FDGB-Gewerkschaften zu noch heftigerem politischen Streit mit dem DKP-nahen Flügel innerhalb der ÖTV geführt hätte. Die Kompromissformel sah vor, dass eine Kooperation mit den alten FDGB-Gewerkschaften zwar nicht gewünscht, aber auch nicht völlig ausgeschlossen sei. Wulf-Mathies verhehlte dabei nicht, wo ihre Sympathien lagen. Die offizielle Botschaft der Entschließung, die „Hilfen zum Aufbau freier unabhängiger und demokratischer Gewerkschaften“ zu intensivieren, ließ jedoch viele Möglichkeiten offen. Die ÖTV konnte keine Prinzipienpolitik betreiben. Sie war gezwungen zu taktieren.
Kooperationsvereinbarung mit der IG Transport Die erneuerte IG Transport hatte sich auf ihrer außerordentlichen Zentraldelegiertenkonferenz am 22./23. Februar 1990 konstituiert. Zum Gründungskongress der IG Transport entsandte die ÖTV-Hauptverwaltung Jürgen Bühn, den Leiter der Abteilung Luftverkehrsgesellschaften und Verkehrsflughäfen. Er fertigte einen ausführlichen Bericht über diesen Kongress. Sein Resümee lautete: „In ihrer Hilflosigkeit waren meines Erachtens alle Delegierten bemüht, demokratische Verhältnisse in den Konferenzablauf einzubringen.“ Und der ÖTV schlug er vor:
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Wulf-Mathies, Rede auf der HV-Sitzung vom 14./15.2.1990, Wortprotokoll, AdsD, a.a.O., S. 16. Kollege Möricke, Wortprotokoll, ebd., S. 38.
Kooperationsabkommen mit FDGB-Gewerkschaften
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„Sofern ein Sinn darin gesehen wird, eine Organisation mit über 300.000 Gewerkschaftsmitgliedern im Transportwesen zu unterstützen, halte ich es für unabdingbar, (...) auf allen Ebenen (...) personell, finanziell und mit Sachmitteln schnellstens behilflich zu sein. Dies umso mehr, da die DAG versucht, in den Betrieben Fuß zu fassen.“3
Seinem Bericht angefügt war eine umfangreiche Liste mit Kontaktadressen aus der IGTransport mit Angaben, für welchen Bereich die jeweiligen Personen zuständig waren und wie viele Mitglieder sie repräsentierten. Zwei Tage später hatte er schon grünes Licht seiner Sekretariatsleitung, der IG Transport im Gegenzug eine Liste der Fachsekretäre der ÖTV-Hauptverwaltung zukommen zu lassen mit der Angabe, dass diese als direkte Ansprechpartner zur Verfügung stünden. Außerdem legte er eine Liste mit Anschriften und Telefonnummern aller zuständigen Sekretäre der ÖTV-Hauptverwaltung bei. Am 9. März 1990 fand ein weiteres Gespräch zwischen dem neuen Vorsitzenden der IG Transport Karl-Heinz Biesold und Manfred Hölzel statt. Laut Aktenvermerk sei das Gespräch sehr konstruktiv verlaufen. Man habe vereinbart, „kurzfristig 5 Seminare mit zweitägiger Dauer durchzuführen, die von Vertretern der Belegschaften besucht und von der IG Transport organisiert werden. Die ÖTV wird entsprechende Referenten zur Verfügung stellen. Der betriebliche Kontakt wird intensiviert. Dazu habe ich mit dem Betriebsratsvorsitzenden der PanAm (...) vereinbart, dass er zur Verfügung steht.“4
Auch habe man die Einladung einer INTERFLUG-Delegation besprochen, die von KarlHeinz Biesold geführt werde. Nur wenige Tage später nahm der Hauptabteilungsleiter Nahverkehr Schmidt-Kohlhaas Kontakt mit seinem Kollegen von der IG Transport, Gericke, auf. Er berichtete, dass die ÖTV bemüht sei, Kontakt mit den neu gewählten Funktionären der IG Transport aufzunehmen, „da uns bekannt ist, dass diverse Unternehmensverbände mit den Betriebsdirektoren schon sehr intensive Kontakte haben.“5 Vom 27. bis 30. März weilte eine Delegation – bestehend aus dem Vorstand der IG Transport und Gewerkschaftern, die bei der staatlichen Fluglinie der DDR INTERFLUG beschäftigt waren – unter Leitung von Biesold in der Bundesrepublik. Eingeladen hatte die ÖTV. Sie tat alles, um ihren Gästen den Aufenthalt so angenehm und interessant wie möglich zu gestalten. Sie vermittelte ein Gespräch mit dem Lufthansa-Chef Ruhnau und Mitgliedern aus dem Wirtschaftsausschuss der Lufthansa, besichtigte die Flugsicherung und Einrichtungen des LH-Service in Frankfurt und Düsseldorf und organisierte Diskussionen mit den Betriebsräten. Die Lufthansa hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein Joint Venture mit der INTERFLUG geschlossen, d.h. 26% der Anteile erworben – nachdem die von Modrow geführte SED-Regierung am 1. März 1990 durch eine Verordnung die Umwandlung Volkseigener Betriebe in Kapitalgesellschaften, polemisch formuliert, das Verscherbeln von Staatseigentum ermöglicht hatte. Es war abzusehen, dass es bei 26% Anteilen nicht bleiben würde. Die DDR-Gewerkschafter hatten allergrößtes Interesse, aus erster Hand zu erfahren, welche weitergehenden Vorstellungen die Lufthansa hatte: „Mit Beachtung wurden die Zusicherungen des Vorstandsvorsitzenden der DLH AG, Herrn Ruhnau, im Rahmen des Joint Ventures die INTERFLUG GmbH als Ganzes zu erhalten und durch Leistungsveränderung/-erweiterung Arbeitsplätze nicht zu vernichten, aufgenommen.“
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Jürgen Bühn, Bericht, Außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz zur Gründung der IG Transport, 26.02.1990, SJS, 4.361. Aktenvermerk, Manfred Hölzel, 12.03.1990, SJS, 4.258. Schreiben, Hilmar Schmidt-Kohlhaas an Erhard Gericke vom 13.03.1990, SJS, 5.549.
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Ebenso wichtig war die Fortführung der Spitzengespräche über die „Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Leitungen der IG Transport und der Gewerkschaft ÖTV zu konkreten Themenkreisen.“6 Biesold hatte dafür den Entwurf eines "Arbeitsprogramms" mitgebracht. Darin wurde als Ziel genannt, „das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten aktiv mitzugestalten“ und „eine einheitliche, starke, unabhängige Gewerkschaft zu entwickeln“. Vorgeschlagen wurde konkret, Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen wie Betriebsverfassung und Personalvertretung zu bilden und ein Mitbestimmungsmodell für die INTERFLUG zu entwickeln. Ein Bildungssausschuss sollte Vorschläge zur Qualifizierung erarbeiten und Fachkontakte sollten aufgenommen sowie die „Zusammenarbeit auf materiell-technisches Gebiet“ verstärkt werden. Damit wurde schamhaft die Bitte um Unterstützung, konkret um einen Fotokopierer, umschrieben.7 Der Besuch der IG-Transport bei ÖTV und Lufthansa fand zehn Tage nach der ersten freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 statt. Das Ergebnis dieser Wahl (CDU = 40,8%, SPD = 21,9%, PDS/SED = 16,4%, DSU = 6,3%, FDP = 5,3%, Bündnis 90 = 2,9%) war ein überwältigender Sieg für das CDU-Wahlbündnis. Für die SPD, die sich im Vorfeld der Wahl ihres Sieges sicher gewähnt hatte, war es eine herbe Enttäuschung. Die Beurteilung des Ergebnisses für die Nachfolgepartei der SED, die PDS, hängt vom politischen Standpunkt des Betrachters ab. Für die Gegner dieser Partei, die das Land in den Ruin geführt und so viel Leid über die Menschen gebracht hatte, war es zwiespältig: In die Freude über ihre Abwahl mischte sich das Erstaunen und Erschrecken, dass diese Partei immer noch so viele Stimmen erhalten konnte. Die Anhänger des SED-Regimes dürfte der Verlust der Macht kaum mehr überrascht haben. Sie konnten erleichtert aufatmen, dass sie nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, deutlicher zur Verantwortung gezogen wurden – und dies nicht nur im Wahllokal. Ernüchternd war vor allem das katastrophale Abschneiden der Bürger- und Menschenrechtsgruppen um das Neue Forum, die das Aufbegehren gegen die SED-Diktatur begonnen und getragen hatten. Dieses Wahlergebnis brachte den Wunsch der DDR-Bevölkerung nach einer schnellstmöglichen Vereinigung mit der Bundesrepublik eindeutig zum Ausdruck. Während das CDU-Wahlbündnis die schnelle Vereinigung nach Artikel 23 GG versprochen hatte, favorisierte die SPD das Verfahren nach Artikel 146 GG, was die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und damit einen längerfristigen Prozess bedeutet hätte. Das Bündnis um das Neue Forum hatte demgegenüber die staatliche Einheit in jeglicher Form abgelehnt. Die Volkskammerwahl hatte den Charakter eines Plebiszits über die deutsche Einheit und den Weg dahin. Auch weltweit wurde das Wahlergebnis dahingehend verstanden. Die Gewerkschaften in Ost und West mussten diesem Ergebnis Rechnung tragen. Für die FDGB-Gewerkschaften bedeutete dies, sich von der Vorstellung einer längeren Selbständigkeit zu verabschieden, da eine in politische Richtungen gespaltene Gewerkschaftsbewegung im vereinten Deutschland nicht vorstellbar war. Ihnen musste daran gelegen sein, ihr Gewicht in die Gestaltung des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses einzubringen. Auch für die ÖTV stellte sich das Ziel einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland jetzt viel konkreter und drängender. Ihr ging es primär darum zu verhindern, dass kommunistische Gewerkschafter Einfluss auf die zukünftig geeinte Organisa6 7
Presseinformation Nr. 1/90 der IG Transport vom 02.04.1990, SJS, 4.280. Entwurf, Arbeitsprogramm zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit IG Transport in der DDR und der Gewerkschaft ÖTV in der BRD, (Vermerk: vom Kollegen Biesold am 29.03.1990 erhalten, Handzeichen Eulen), SJS, 4.293.
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tion bekamen, und darum, ihr zukünftiges Organisationsfeld in der DDR zu verteidigen. Die ÖTV präzisierte ihre Schritte zu „einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland“ und entschied sich am 1./2. April 1990 für eine Art Doppelstrategie: Geeignete Wege zur einheitlichen ÖTV sind „einerseits zentrale Vereinbarungen mit DDR-Gewerkschaften ..., andererseits die Unterstützung von Initiativen zur Gründung einer ÖTV in der DDR.“8 Den FDGB-Gewerkschaften, „die sich im Prozess der Erneuerung befinden“, sollten Vereinbarungen angeboten werden, „in denen konkrete Schritte für die Bildung einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland festgelegt werden.“ Als Gegenleistung bot die ÖTV ihnen inhaltliche und personelle Unterstützung „in allen gewerkschaftlichen Fragen, insbesondere zur Tarifpolitik, zur betrieblichen Interessenvertretung, zur Sozialpolitik und zu Fragen der Verwaltungsreform“ an und versprach ein demokratisches Verfahren für den Prozess der Integration der Mitglieder in eine einheitliche ÖTV. Sie bestand darauf, dass die Vereinigung nicht durch einen Vorstandsbeschluss, sondern durch eine Entscheidung der Mitglieder herbeigeführt würde. Die „DDRGewerkschaften“9 sollten sich verpflichten, unter ihren Mitgliedern eine Urabstimmung durchzuführen, sowohl über das Ziel, eine einheitliche ÖTV herzustellen, als auch über „die Bereitschaft, dieser ÖTV beizutreten“. Die Vereinbarung enthielt für die FDGB-Gewerkschaften die Verpflichtung, ihre hauptamtlichen Funktionäre durch neu gewählte Organe bestätigen zu lassen und eine schriftliche Zusicherung einzuholen, „dass sie nicht für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben“.10 Damit versuchte der gHV einzulösen, was der Hauptvorstand zwei Wochen vorher beschlossen hatte, nämlich, dass der Aufbau von demokratischen Gewerkschaften in der DDR „von unten nach oben“ erfolgen müsse. Die Doppelstrategie der ÖTV – Kooperationsabkommen einerseits und ÖTV in der DDR andererseits – war eine höchst widersprüchliche und zu Missverständnissen Anlass gebende Strategie. Zum einen bestanden die Vorbehalte gegenüber FDGBGewerkschaften und ihren Funktionären, wie sie Wulf-Mathies im Februar entwickelt hatte, unvermindert fort. Die Absicht, eine ÖTV in der DDR aufzubauen, entsprach dieser Linie, da sie den FDGB-Gewerkschaften unmittelbar Konkurrenz machte. Andererseits wurden diese Vorbehalte mit der Bereitschaft der ÖTV, Kooperationsabkommen mit den FDGB-Gewerkschaften zu schließen, zumindest teilweise aufgegeben. Die praktische Umsetzung der Doppelstrategie durch die Berater in der DDR verlief dementsprechend uneinheitlich. Die einen setzten auf die Zusammenarbeit mit FDGBGewerkschaften, die anderen bekämpften sie und engagierten sich für den Aufbau einer ÖTV in der DDR, wieder andere verfuhren wie vorgesehen zweigleisig. Als die IG Transport am 29. März 1990 ihren eigenen Vorschlag für eine engere Zusammenarbeit mit der ÖTV vorlegte, traf dies die ÖTV nicht unvorbereitet. Im Unterschied zu den Vorstellungen der ÖTV wollte die IG Transport ein „Arbeitsprogramm zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit“ vereinbaren, in dem das Ziel, „eine einheitliche starke, unabhängige Gewerkschaft zu entwickeln,“11 nur allgemein benannt war. Die ÖTV hingegen hatte schon in ihrem Beschluss vom 14./15. Februar definiert, was sie unter einer einheitlichen Gewerkschaft verstand, nämlich „eine einheitliche ÖTV im 8 Protokoll, gHV-Sitzung vom 1./2.04.1990, Schritte zu einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland, Anlage, SJS, 1.11. 9 Die ÖTV änderte ab diesem Zeitpunkt ihre Sprachregelung: hieß es vorher immer FDGBGewerkschaften, sprach sie nunmehr von: DDR-Gewerkschaften. 10 Ebd. 11 Entwurf, Arbeitsprogramm zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit..., a.a.O.
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vereinten Deutschland“. Daran hielt sich der gHV in seinem Vorschlag für eine Kooperation mit FDGB-Gewerkschaften.12 Nur unter der Voraussetzung, dass die FDGBGewerkschaften dem Ziel „einheitliche ÖTV“ zustimmen, sagte er umfängliche Unterstützung in Fachangelegenheiten und materiellen Beziehungen sowie bei der Bildungsarbeit zu. Als die IG Transport der ÖTV die Zusammenarbeit anbot, entschied sich die ÖTV – anders als bei den Gewerkschaften MSK und Gesundheit – umgehend dafür, das Angebot aufzugreifen, obwohl Misstrauen gegenüber der IG Transport und ihrem Führungspersonal gleichermaßen begründet gewesen wäre. Nicht nur die rasante politische Entwicklung und die Konkurrenz vor allem zur DAG drängten sie dazu.13 Hinzu kam, dass die Gefahr einer selbständigen Transportarbeitergewerkschaft gebannt werden sollte. Der Transportbereich war innerhalb der ÖTV zwar ein eher kleiner Bereich, doch hatte der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in der ÖTV eine große Bedeutung, weil er hochgradig organisiert war und so zum Kern der streikfähigen Belegschaften zählte. Auch waren durch die Fachkontakte bereits Fakten der Zusammenarbeit geschaffen worden: „Die Details sind, so hat die Monika es festgelegt, immer mit der Fachabteilung besprochen worden, also mit Eike Eulens Vorstandssekretariat. Da entwickelte sich ein sehr enger Kontakt über alle Abteilungen, die bei Eike sind, zu unseren Leuten, zu unserem Sekretariat, zu den Hauptamtlichen bis zur Betriebsebene. Mit gemeinsamen Schulungsveranstaltungen, mit gemeinsamem Auftreten bei uns im Vorstand, von Eike Eulen persönlich, bis zur abgestimmten Politik. So ist es im März vorbereitet worden (…).“14
Schon eine Woche nach der grundsätzlichen Entscheidung für Kooperationsabkommen beschloss der gHV am 9. April 1990 den Entwurf einer „Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Gewerkschaft ÖTV der Bundesrepublik und der Industriegewerkschaft Transport der DDR.“ Am 10. April 1990 wurde dem Vorsitzenden der IG Transport, Biesold, durch das zuständige gHV-Mitglied für Tarifwesen und ÖPNV Willi Hanss, dieser Vereinbarungsvorschlag unterbreitet. Biesold soll, nachdem er den Text kurz gelesen hatte, spontan erklärt haben, „er habe persönlich keine Schwierigkeiten damit und denke, dass der Vorstand der IGTransport die gleiche Auffassung vertrete. Der Vorstand tage am 18.04.1990 in Berlin. Er sei aber bereit und ermächtigt, diese Woche (evtl. am 12.04.1990) das Kooperationsabkommen zu unterzeichnen.“15
Die IG Transport hatte gegen den Entwurf nur einen schwerwiegenden Einwand. Er richtete sich gegen die Forderung der ÖTV, die Funktionäre der IG Transport sollten schriftlich erklären, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben. Am 12. April verständigten sich Wulf-Mathies und Biesold in Stuttgart darüber, diesen Passus in der endgültigen Vereinbarung zu streichen und in einer gesonderten Protokollnotiz festzuhalten.16 Der ansonsten leicht veränderte Vereinbarungstext konnte nun unterzeichnet werden. Bereits am 30. April sollte die 1. Sitzung des gemeinsamen Arbeitsauschusses stattfinden.
12 Protokoll, gHV-Sitzung vom 9.04.1990, Anlage, SJS, 1.12,. 13 Vgl. Vermerk Manfred Rosenberg, Gespräch mit dem Kollegen Karl-Heinz Biesold, 29.03.1990, SJS, 4.607. 14 Interview mit Karl-Heinz Biesold vom 17. September 1992, Dokumentation, S. 189f. 15 Vermerk, HA Nahverkehr im VS 2, Gespräche in der DDR, 15.04.1990, SJS, 4.21. 16 Protokoll des Gesprächs zwischen der Vorsitzenden der Gewerkschaft ÖTV Monika WulfMathies und dem Vorsitzenden der IG Transport Karl-Heinz Biesold, 12.04.1990, SJS, 4.309.
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Am 18. April nahm Eike Eulen, gHV-Mitglied und zuständig für den Bereich Transport, an der Zentralvorstandssitzung der IG Transport in Bernau teil und stellte zusammen mit Biesold das Kooperationsabkommen vor. Sein Bericht fasste kurz und trocken das Ergebnis zusammen: „Diskussion und Erläuterungen über einen längeren Zeitraum. Schließlich grundsätzliche Zustimmung des Zentralvorstandes zur Vereinbarung bei überwiegend hoffnungsvoller Stimmungslage.“17
Während auf der Vorstandsebene bereits die Zusammenarbeit zwischen ÖTV und IG Transport eingeleitet wurde, verfolgten einige der gerade erst eingesetzten Berater weiter die ursprüngliche Position der ÖTV, die darauf abzielte, Distanz zu den FDGBGewerkschaften zu halten und sie am besten zu meiden. Es verwundert nicht, dass es zu Unstimmigkeiten kam. Auf der Vorstandssitzung der IG Transport am 12. März, also erst knapp eine Woche nach Tätigkeitsbeginn der Berater, klagten Vorstandsmitglieder, dass diese Berater in sehr unterschiedlicher Form tätig geworden waren. „Während in einigen Bezirken eine gute Zusammenarbeit mit den Vertretern unsere Geschäftsstellen zu verzeichnen ist, weigern sich in anderen Bezirken die Berater, mit unseren Gewerkschaftsvertretern zusammenzuarbeiten (Potsdam, Cottbus, Leipzig). Es geht in einigen Fällen so weit, dass sie an unsere Kollegen Aufnahmeanträge für Mitgliedschaft in der ÖTV ausgeben! Der Vorsitzende, Kollege Biesold, hat das beim Treffen mit dem Leiter der Abteilung Luftverkehrsgesellschaften der ÖTV (Manfred Hölzel) am 9.3.1990 kritisiert. Durch die Vorsitzende der ÖTV, Monika Wulff-Mathies, wurde inzwischen mitgeteilt, dass der Hauptvorstand solche Praktiken seiner Berater nicht billigt. Sie seien vielmehr an einer engen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit mit ‚demokratisch entstandenen Organisationen in der DDR’ interessiert.“18
In Wismar hatte es Ärger gegeben, weil der hauptamtliche Kreisvorsitzende der IG Transport „ein alter Stalinist“ sein solle, der mit „dem (sic!) Stasi in Verbindung gebracht wird. (....) Für die örtliche Partnerschaft mit Wismar kommt hinzu, dass wir uns auf einer Vertrauensleutevollversammlung alten Stils durch die 2 Verhandlungsführer der BGL eine Lehrstunde in Stalinismus anhören mussten. Es wurde über den BKV diskutiert, eine Änderung der Tagesordnung wurde nicht zugelassen. Wir als Gäste aus Lübeck durften erst reden, nachdem wir aufgestanden waren und den Raum verlassen wollten. Die IG Transport hat in Wismar im Seehafen ungeachtet aller Bestrebungen neue BGLWahlen durchgeführt, um sich eine entsprechende Scheinlegitimation zu geben.“19
Überhaupt scheint durch die Zusammenarbeit der ÖTV-Spitze mit den FDGBGewerkschaften Unklarheit über die Politik der ÖTV unter den Beratern vor Ort in der DDR entstanden zu sein. „Nach Berichten der hauptamtlichen Kollegen, die in der DDR arbeiten und Teilnehmern von Seminaren im BBZ ist eine Unsicherheit aufgekommen, wie die ÖTV beabsichtigt vorzugehen. Während der DGB und einige andere Gewerkschaften Wege der Kooperation mit Einzelgewerkschaften und/oder dem FDGB anstreben, ging ich bisher davon aus, dass wir diesen 17 Eike Eulen, Unterrichtungsvorlage, Arbeitsbesuch beim Zentralvorstand der IG Transport (DDR ) am 17./18.04.1990, SJS, 1.14. 18 Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes, SAPMO, DY 50/1624. 19 Schreiben, Detlev Räthke an Manfred Rosenberg (Geschäftsführer der Abt. Seehäfen und Fischmarkt, M.S.) vom 11.04.90, SJS, 4.730.
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ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Weg nicht gehen wollen. Mit Zustimmung der zuständigen Kollegen des Hauptvorstandes findet aber offensichtlich eine informelle Zusammenarbeit mit alten Gewerkschaftsstrukturen statt. Der Kollege aus unserem Bezirk, der seinen Sitz in Erfurt hat, wird sein Büro zunächst (vorübergehend) in der zentralen Schule der Gewerkschaft Öffentliche Dienste einrichten. Wir sind darüber nicht glücklich. Eine andere Lösung hatte sich aber offensichtlich nicht angeboten.“20
Die Kooperation mit der IG Transport war jedoch eingeleitet. Am 10. Mai wurde KarlHeinz Biesold eingeladen, zur Feier der Zustimmung zur Kooperationsvereinbarung eine Rede vor dem Hauptvorstand der ÖTV zu halten. Er wusste diese Anerkennung durchaus zu schätzen und wohl auch, was der Hauptvorstand von ihm hören wollte. So trug er eine rundum rosige Zustandsbeschreibung der neuen IG Transport vor: Er sprach von einem deutlichen „Trennungsstrich zu alten FDGB-Strukturen und -machenschaften“, von 290.000 Mitgliedern und „184 direkt bzw. basisdemokratisch gewählten Delegierten“ zum Gründungskongress, von einem 90%igen Organisationsgrad, von einer schrittweisen Erhöhung des Vertrauens und von neuen Anträgen auf Mitgliedschaft.21 Auch im ÖTV-magazin wurde die Kooperationsvereinbarung gewürdigt. Gemessen an den alten Vorbehalten gegenüber den FDGB-Gewerkschaften war dies eine erstaunlich wohlwollende Geste. Die IG Transport wurde im Vergleich zu den anderen FDGBGewerkschaften geradezu hofiert. Umgekehrt setzte auch die IG Transport anders als andere Gewerkschaften frühzeitig und entschieden auf eine Zusammenarbeit mit der ÖTV.
Gescheiterte Kooperation mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste (GÖD) Der Entwurf der Kooperationsvereinbarung vom 9. April mit der IG Transport war als Modellvereinbarung für ähnliche Vereinbarungen mit anderen Einzelgewerkschaften des FDGB gedacht, die ebenfalls in den Organisationsbereich der ÖTV fielen. Dennoch zögerte man, diesen Schritt auch in Richtung der Gewerkschaften MSK (seit dem 15. Februar nunmehr GÖD) und Gesundheits- und Sozialwesen zu tun. Gegenüber der GÖD gab es – wie bereits erwähnt – allgemein starke Vorbehalte hinsichtlich ihres Rufes als Gewerkschaft der Staatsorgane und ihrer demokratischen Erneuerung. Besonders deutlich wurden diese vom Pressesprecher der ÖTV Hillgärtner formuliert. Er äußerte die generelle Einschätzung, dass eine Kooperation mit FDGBGewerkschaften „die vorhandene hohe Glaubwürdigkeit der ÖTV schwer beeinträchtigen würde“. Dies galt besonders für eine Zusammenarbeit mit der GÖD. Er spielte damit auf eine Stasi-Belastung dieser Gewerkschaft und ihre Reformunfähigkeit an. Der neu gewählte Vorstand habe sich der ÖTV „auf dem Silbertablett offeriert“, um seine „beschädigte Reputation durch seine Zusammenarbeit mit der ÖTV aufzumöbeln. Von diesen Altstalinisten (...) will die ÖTV Abstand halten.“22 Der Versuch des neu gewählten Vorsitzenden Wegrad, mit der ÖTV Kontakt aufzunehmen, verlief von Anfang an denkbar unglücklich. Von einem Gespräch zwischen 20 Schreiben, Herbert Mai, ÖTV-Bezirksvorstand Hessen, an Monika Wulf-Mathies vom 19.03.1990. SJS, 4.88. 21 Vgl. HV-Sitzung vom 10./11. Mai 1990, Wortprotokoll, AdsD, 51 ÖTV B, 130118, S. 26ff. 22 „Eine schwierige Kiste“, Südkurier vom 5. April 1990, SJS, 4.368.
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Wulf-Mathies und verschiedenen DDR-Gewerkschaftern am 27. Januar veröffentlichte die Tribüne eine Notiz mit der Überschrift „Arbeitskontakt MSK und ÖTV“. Berichtet wurde, dass sich Wegrad und Wulf-Mathies „im Sinne einer ‚Vertragsgemeinschaft’“ auf eine Zusammenarbeit ihrer beiden Gewerkschaften verständigt hätten und dass die ÖTV der MSK „kameradschaftliche Unterstützung“ zugesichert habe.23 Das verstimmte die ÖTV. Sie distanzierte sich: „Von einer Zusage in Form einer ‚Vertragsgemeinschaft’ mit der Gewerkschaft MSK war keine Rede.“24 Die MSK/GÖD ließ sich von solchen Äußerungen in ihrem Kurs, eine Zusammenarbeit mit der ÖTV anzustreben, indes nicht beirren. Sie trat weiter „für eine breite, konstruktive und von Partnerschaft geprägte Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften des DGB, besonders mit der ÖTV und HBV ein.“ Als ersten konkreten Schritt schlug sie der ÖTV vor, „gemeinsame Arbeitsgruppen bzw. Expertengruppen zu bilden“, und benannte eine Reihe konkreter Aufgaben.25 In einem internen Vermerk des GÖD-Zentralvorstandes wird davon gesprochen, dass die GÖD „unverzüglich“ konkrete Schritte zur Vereinigung der Gewerkschaften ÖTV und GÖD einleiten möchte. Allerdings nur „entsprechend den Prinzipien innergewerkschaftlicher Demokratie und der Souveränität der Mitglieder.“26 Die GÖD verabschiedete eine Erklärung zur deutschen Frage, in der sie sich nachdrücklich für die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung, für eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie für die Einführung der Marktwirtschaft aussprach. Sie zog damit unverzüglich die Konsequenzen aus dem Ergebnis der Volkskammerwahl vom 18. März. Wegrad erhielt das Mandat, mit der Vorsitzenden der ÖTV zu verhandeln. Dabei sollte er auch die Kritik des Vorstandes an dem Versuch der ÖTV vortragen, eine ÖTV in der DDR zu initiieren: „... dieser Weg führt zur Spaltung der Gewerkschaft.“ Damit war keine grundsätzliche Ablehnung des Vorhabens gemeint sondern nur die Art des Vorgehens, die ÖTV in der DDR ohne Beteiligung der GÖD gründen zu wollen. Die GÖD schlug vor, solche Initiativen in Zukunft gemeinsam vorzunehmen.27 Das Gespräch fand am 21. März statt. Über eventuelle Ergebnisse ist nichts bekannt geworden. Die Gespräche wurden zunächst nicht weitergeführt. Die ÖTV verhielt sich abwartend, ohne dass sie der GÖD Gründe dafür genannt hätte. Erst am 2. Mai, also nach fast sechs Wochen, kamen die GÖD- und ÖTVRepräsentanten wieder zusammen. Gegenstand der Diskussion war der Entwurf der Kooperationsvereinbarung, der auch der IG Transport vorgelegt worden war. Wie die IG Transport lehnte auch die GÖD den Passus über die schriftliche Erklärung von hauptamtlichen Funktionären, nicht für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, ab. „Es gab viele Gründe, aber es schien uns kein demokratisches Herangehen, so wie wir uns das vorgestellt hatten. (...) Das hatte nichts damit zu tun, dass wir angenommen haben, unsere Mitarbeiter wären bei der Staatssicherheit beschäftigt gewesen, überhaupt nicht. Das ist zwar anschließend so interpretiert worden, aber das hatte ganz einfach mit unserem Selbstbewusstsein zu dieser Zeit zu tun und auch mit der Vorgeschichte. Es gab beim Bundesvorstand einen Be23 24 25 26
Tribüne vom 31. Januar 1990. Schreiben, ÖTV-HV 1, Vorsitzende an Dr. Joachim Wegrad vom 14.02.1990, SJS, 4.51. Zur deutschen Einheit, in: Extrablatt der GÖD, 22. März 1990, SMS. GÖD-Zentralvorstand, Vorschläge für Schritte der Gewerkschaften ÖTV der Bundesrepublik und GÖD der DDR zur Herstellung der gewerkschaftlichen Einheit, 20.03.1990, SJS, 4.86. 27 Protokoll der außerordentlichen Sekretariatsbesprechung am 20.03.1990, SAPMO, DY 45/1589.
100 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess schluss S 5, in dem stand, dass jeder, der Westkontakte hatte, das regelmäßig melden musste. Jeder, der Westverwandtschaft hatte, musste dazu immer eine Erklärung abgeben. Jetzt kommt von einer demokratischen Gewerkschaft als erstes wieder die Forderung, eine Erklärung abzugeben. Wir haben das nicht alleine entschieden, wir haben das im großen Kreis diskutiert. Alle haben gesagt, das ist doch unmöglich, so was kann man doch nicht zulassen. Also haben wir gesagt, das unterschreiben wir nicht. Dadurch kam das ganze Kooperationsabkommen natürlich in Gefahr.“28
Wolfgang Warburg, der stellvertretende Vorsitzende der ÖTV, der das Gespräch führte, berichtete, man habe sich verständigt, dass beide Seiten „über den Entwurf noch einmal nachdenken wollten“, eine „konkrete Zusammenarbeit bei Sachthemen“ könne aber schon jetzt beginnen. Der gHV beschloss, den Absatz aus dem Text zu streichen.29 Wie schon zuvor bei der IG Transport war der gHV auch gegenüber der GÖD zu Zugeständnissen bereit. Der Druck, gegenüber der GÖD nachgiebig zu sein, war jedoch anders gelagert. Im Bereich Transport hatte die ÖTV die Konkurrenz der Nicht-DGBGewerkschaft DAG und Selbständigkeitsbestrebungen gefürchtet; im Fall der GÖD wollte sie primär verhindern, dass die Neigung bestimmter Bereiche der GÖD, zur HBV überzulaufen, noch verstärkt würde. Zu einem Kooperationsabkommen mit der GÖD sollte es indes nicht mehr kommen. Die politische Entwicklung hatte sich durch das Ergebnis der Volkskammerwahl und die Regierungserklärung von de Maizière am 12. April, dass seine Regierung die schnelle Vereinigung nach Art. 23 GG anstrebe, entscheidend weiter in Richtung deutsche Einheit bewegt. Im Mai 1990 verdichteten sich die Anzeichen, dass die DDR noch im selben Jahr der Bundesrepublik beitreten könnte: Bonn und Ost-Berlin erzielten am 2. Mai den Durchbruch in den Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, durch den wesentliche Entscheidungen über die deutsche Einheit vorweggenommen wurden. Besonders in der schwierigen Frage des Umtausches der DDR-Mark in die D-Mark hatte man sich geeinigt. Die Tatsache, dass diese Union bereits am 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte, zwang die ÖTV zu einer Revision ihrer bisherigen Doppelstrategie. Sowohl das Konzept der Kooperationsabkommen als auch das Konzept des Aufbaus einer ÖTV in der DDR gingen davon aus, dass der Prozess der Vereinigung noch einige Jahre dauern würde. Mit der Aussicht auf nationale Einigung innerhalb der nächsten Monate stellte sich die Notwendigkeit einer handlungsfähigen Gewerkschaft – und die einheitliche ÖTV war der Name dafür – mit unvorhergesehener Dringlichkeit. Einen Vorschlag für die veränderte Situation hatte die ÖTV noch nicht, doch zog sie schnell die Konsequenz, keine Kooperationsabkommen mehr abzuschließen. Die laufenden Verhandlungen mit der GÖD als auch mit der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen wurden dilatorisch behandelt.
28 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 380. 29 Vgl. Protokoll gHV-Sitzung vom 03.05.1990, SJS 1.16.
9. Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR Die ÖTV hatte im Februar 1990 als allgemeines Ziel ihres Engagements in der DDR die Herstellung einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland formuliert. Dafür hatte sie von Anfang an drei Optionen: Erstens: die Satzungsöffnung. Diese war im Januar 1990 geprüft und wegen rechtlicher, aber auch politischer Bedenken verworfen worden. Die ÖTV wollte nicht als Kolonisator auftreten. Zweitens: die Gründung einer eigenständigen, allerdings zeitlich befristeten ÖTV in der DDR. Diese sollte eine authentische Gründung einer Gewerkschaft durch DDR-Beschäftigte mit Unterstützung der ÖTV sein. Und drittens: der Abschluss von Kooperationsvereinbarungen mit FDGB-Gewerkschaften zur Überführung derselben in die ÖTV. Wie das Kooperationsabkommen mit der IG Transport zeigt, war von Seiten der ÖTV weder an eine Fusion noch an einen kollektiven Beitritt der Mitglieder gedacht. Alle drei Optionen zielten auf eine einheitliche ÖTV. Sie bezeichneten nur unterschiedliche Wege zu diesem Ziel und funktionierten unter der Prämisse unterschiedlicher Zeithorizonte. In keinem der drei Szenarien wäre es der ÖTVFührung in den Sinn gekommen, die eigenen Organisationsprinzipien zur Disposition zu stellen. Einheitliche ÖTV hieß von Anfang an, die ÖTV vergrößert sich territorial. Geeinte ÖTV hieß immer, den angestammten Organisationsbereich auch im vereinten Deutschland zu behaupten und zu verhindern, dass auf dem Gebiet der DDR dauerhaft eigenständige andere Gewerkschaften, seien es Berufs- oder Branchengewerkschaften, entstehen. Die ÖTV formulierte von Anfang an einen Führungsanspruch. Die FDGB-Gewerkschaften auf der anderen Seite hatten das Ziel, nicht nur Mitglieder und Vermögen sondern auch möglichst viel hauptamtliches Personal in eine geeinte ÖTV einzubringen. Weitergehende Vorstellungen, wie bei der IG Transport oder bei der Gewerkschaft Gesundheit und Sozialwesen, sie könnten in einem vereinten Deutschland als selbständige Gewerkschaften weiter bestehen und sogar die ihrem Organisationsbereich entsprechenden Teile aus der ÖTV übernehmen, waren für die ÖTV indiskutabel. Während die ÖTV mit der IG Transport, der Gewerkschaft GÖD und Gesundheitsund Sozialwesen Verhandlungen über die Art der Zusammenarbeit führte, verfolgte sie parallel das Ziel, eine vom FDGB unabhängige Gewerkschaft ÖTV in der DDR aufzubauen. Es entstanden erste lokale Initiativen zur Gründung einer ÖTV in der DDR.
Initiativen für eine ÖTV in der DDR Die erste konkrete Anregung, eine ÖTV in der DDR aufzubauen, kam im März 1990 von den Berufsfeuerwehrleuten in der DDR. Diese waren 1949 in die Volkspolizei eingegliedert worden, deren Mitglieder sich nicht gewerkschaftlich organisieren durften. Am 20. Januar 1990 gründeten sie zusammen mit Volkspolizisten die Gewerkschaft der Volkspolizei (GdVP), und in dieser eine „Berufsvertretung Feuerwehr“. Noch vor ihrem Kongress am 31. März 1990 trennten sich die Feuerwehrleute wieder von der Volkspolizei und benannten sich – in Hoffnung auf eine noch zu gründende ÖTV in der DDR – in „Abteilung Feuerwehr der ÖTV/DDR“ um. Diese Entscheidung war umstritten und wur-
102 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess de letztlich über eine Mitgliederabstimmung herbeigeführt, zu der eine Initiativgruppe „ÖTV in der DDR“ am 6. März aufgerufen hatte.1 „An der Abstimmung beteiligten sich von 8192 Koll. der BVF in der GdVP 6229 Koll. = 76,04%, davon stimmten 4254 Koll., das sind 68,29% der abgegebenen Stimmen, für die Bildung einer Abt. Feuerwehr der ÖTV der DDR.“2
Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits eine enge Zusammenarbeit zwischen den Feuerwehrleuten (Ost), den Kollegen der Abteilung Feuerwehr des ÖTV-Bezirks Berlin und dem Abteilungsgeschäftsführer Feuerwehr bei der ÖTV-Hauptverwaltung, Werner Wiegand. Die Berufsfeuerwehrleute wollten mit ihrer Trennung von der FDGB-Gewerkschaft Volkspolizei und der Namensgebung ÖTV/DDR ganz bewusst eine „Signalwirkung“3 setzen: „Ziel ist nicht die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung in diesem Organisationsbereich, sondern die Überwindung der Zersplitterung, damit endlich alle Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, von Transport und Verkehr in einer Einheitsgewerkschaft zusammenfinden.“4
Sie gaben sogleich ein eigenes, monatliches Informationsblatt heraus, das sie „Mitteilungsblatt der Abteilung Feuerwehr der ÖTV/DDR“ nannten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand das Tempo der weiteren politischen Entwicklung. Weder war klar, wie und wann man sich über eine Währungsunion einigen würde, noch wann und wie die schwierigen internationalen Fragen gelöst werden könnten. Die Feuerwehrleute waren jedoch eine viel zu kleine Gruppe, um ein wirkliches Zeichen für die Gründung einer ÖTV in der DDR setzen zu können. Die Idee, eine ÖTV in der DDR5 zu gründen, zog jedoch weitere Kreise. Mit Datum vom 14. März kursierte bereits ein Aufruf zur Mitwirkung beim Aufbau einer ÖTV in der DDR. Dieser war unterschrieben von 14 Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen des Öffentlichen Dienstes, des Transport- und Verkehrswesens, u.a. von Peter Becker, dem Mitglied des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE), und Wolfgang Ullmann, dem Mitbegründer der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ und zeitweiligen Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow. Der Aufruf war getragen vom Misstrauen gegenüber den gewendeten FDGB-Gewerkschaften und vom Bestreben, die verschiedenen Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes der DDR nach dem Muster der ÖTV zusammenzuschließen: „Reform von oben reicht nicht! Namensänderungen von bestehenden Gewerkschaften lösen unsere Probleme nicht! Reform von unten bleibt Stückwerk, wenn wir nicht über unsere Initiativen zu gemeinsamer Arbeit finden. Öffentliche Dienste sind mehr als der Bereich Staatsorgane und Kommunalwirtschaft.“6
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Aufruf zur Bildung einer ÖTV in der DDR, Frankfurt/O., Berufsvertretung Feuerwehr, Bezirksvorstand Frankfurt/0, 06.03.1990, SJS, 4.154. Brand aktuell, Mitteilungsblatt der Abteilung Feuerwehr in der ÖTV/DDR, Nr. 1, April 1990, SJS, 4.208. Schreiben, Bezirksabteilung Feuerwehr der ÖTV-DDR, Bezirksgruppe Dresden, Der Vorsitzende, an H.T., vom 01.04.1990, SJS, 4.690. Brand aktuell, Mitteilungsblatt der Abteilung Feuerwehr in der ÖTV/DDR, Nr. 1, April 1990, SJS, 4.208. Anmerkung zur Schreibweise: Immer wenn „ÖTV in der DDR“ kursiv geschrieben wird, ist der Eigenname gemeint, nicht kursiv hingegen meint Aktivitäten der ÖTV (West) in der DDR. Aufruf, Berlin, 14.03.1990, SJS, 4.166.
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Die Unterzeichner riefen „die Basis auf, sich umfassend zu informieren, sich auf die Bildung einer starken Gewerkschaft ÖTV in der DDR vorzubereiten und sich für diesen Weg zu entscheiden.“7 Sehr viel entschiedener gingen Initiativen zur Gründung einer ÖTV in Halle/Merseburg und in Plauen vor. Auch hier waren ÖTV-Funktionäre von Anfang an beteiligt. Die Hallenser verfassten einen „Merseburger Appell“ für eine „Initiative: Gewerkschaft Öffentlich Dienste Transport und Verkehr (ÖTV-DDR).“ Sie rückten das Ziel einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland in den Vordergrund, wie es die ÖTV vorgegeben hatte. Ihr Hauptargument, warum man mit einer einheitlichen Gewerkschaft der Öffentlichen Dienste in der DDR nicht bis zur Wiedervereinigung warten könne, lautete, dass sich die marktwirtschaftlichen Elemente und Machtverhältnisse bereits vorher durchsetzen würden und es deshalb einer tariffähigen, kompetenten Gewerkschaft bedürfe. Denn „leider“ gehörten zur Erbschaft einer gescheiterten Politik in der DDR auch „große Defizite der gewachsenen gewerkschaftlichen Strukturen.“ Die Initiatoren rechneten dabei „fest mit der Unterstützung der ÖTV.“8 Diese Unterstützung schien greifbar nahe, nachdem Wulf-Mathies signalisiert hatte, dass sie die politische Linie des Aufrufs teile. Die Hallenser Initiatoren schritten nun ohne weitere Absprache zur Tat und gründeten am 5. April die ÖTV-DDR. Auffällig an der Gründungserklärung war die milde Behandlung der FDGB-Gewerkschaften. Eine Doppelmitgliedschaft wurde akzeptiert und in solchen Fällen sogar „von der Beitragspflicht in der ÖTV-DDR abgesehen“. Die endgültige Satzung sollte auf einem Gewerkschaftskongress beschlossen werden, zu dessen Vorbereitung ein Arbeitsausschuss gegründet wurde.9 Der „Merseburger Appell“ fand zunächst nur in Chemnitz10 und in Magdeburg publizistische Resonanz.11 Unabhängig von den „Merseburgern“ war auch in Plauen die Idee entstanden, eine ÖTV in der DDR zu gründen. Am 6. April wurde unter Verwendung des ÖTV-Logos zu einer „Mitgliederversammlung und Gründungsversammlung der Gewerkschaft ÖTV der DDR“ eingeladen. Unterzeichnet hatte den Aufruf Veronika Mantel, die neu gewählte Geschäftsstellenleiterin der GÖD. Der GÖD-Vorstand in Berlin erfuhr von diesem Vorhaben seiner Beschäftigten und war alarmiert. Zur gleichen Zeit, in der er sich um Anerkennung und Zusammenarbeit mit dem ÖTV-Vorstand bemühte, betrieb eine lokale Organisationsgliederung eigenmächtig die Gründung einer ÖTV in der DDR. Eine Gewerkschaft nach dem Vorbild der bundesrepublikanischen ÖTV in der DDR aufzubauen, lag indes schon aus pragmatischen Gründen nahe: Es war vernünftig, die Zersplitterung in acht verschiedene Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes der DDR aufzuheben, um eine einheitliche Tarifpolitik betreiben und eine Zusammenarbeit mit der ÖTV effektiv gestalten zu können. Die Idee einer solchen Gründung war auch an anderen Orten schon entstanden. Der Vorstand der GÖD selbst war dabei bereits initiativ geworden, jedoch gescheitert: „Dann dachten wir, man müsste auf dem Gebiet der DDR die Gewerkschaften zusammenschließen, die der Struktur der ÖTV entsprechen. Also, im Vorhinein eine Struktur vorbereiten, die eine Fusion oder Vereinigung mit der ÖTV ermöglicht. (...) Unser Vorsitzender Achim 7 8 9 10 11
Ebd. Merseburger Appell, 23.03.1990, in: ÖTV-INTERN, April 3/90. Gründungserklärung, ÖTV-DDR, Halle/Saale, 05.04.1990, SJS, 4.23. Vgl. Chemnitzer Initiative, Aufruf vom 18.04.1990, SJS, 4.83. Vgl. Magdeburger Initiative, ÖTV-DDR, o.D., SJS, 4.22.
104 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Wegrad hatte den Vorsitzenden der Gewerkschaft Gesundheitswesen eingeladen, Wissenschaft war dabei, Unterricht und Erziehung, Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der NVA, Gewerkschaft der Armeeangehörigen, Transport. Also alle, die in Teilen oder insgesamt zur ÖTV gehört hätten. Dort haben wir das erste Mal diese Gedanken diskutiert. Leider muss ich heute sagen, fand das überhaupt keine Resonanz. Ich weiß nicht, ob ich den Vorsitzenden Unrecht tue, aber manchmal hatte ich den Eindruck, sie wollten ihre Pfründe nicht verlieren.“12
Der GÖD-Vorstand war also nicht grundsätzlich gegen die Gründung einer ÖTV in der DDR, sondern fürchtete nur, durch diese Initiative an den Rand des Geschehens gedrückt zu werden. Er wollte beteiligt werden. Er entsandte seinen Vorsitzenden Wegrad samt drei weiteren Vorstandsmitgliedern nach Plauen, um die eigenmächtige Gründung einer ÖTV in der DDR zu verhindern.13 Dem gleichen Zweck diente eine vom Vorstand initiierte Flugblattaktion. Im Flugblatt hieß es zur beabsichtigten Gründung einer ÖTV in der DDR: „Ja aber mit uns! (...) Vorschnelle Schritte, wie die Gründung einer Gewerkschaft ÖTV/BRD in Plauen schaden uns und der Vereinigungsbewegung, spalten Partner, die zusammengehen wollen, machen Äußerungen führender ÖTV-Funktionäre unglaubwürdig.“14
Mit letzterer Aussage spielte er auf Äußerungen von Werner Ruhnke an, der ebenfalls vor einer zu schnellen Gründung einer ÖTV in der DDR gewarnt hatte. Nicht nur der Vorstand der GÖD in Berlin (Ost) war alarmiert, sondern auch der gHV der ÖTV in Stuttgart. Die Gründung der ÖTV in der DDR in Halle am 5. April und die bevorstehende Gründung in Plauen veranlassten den gHV, den Leiter des zentralen Organisationsbüros, Peter Schmidt, nach Plauen zu entsenden. Auch er hatte den Auftrag, die Kollegen in Plauen von der Gründung einer ÖTV in der DDR abzuhalten. Das ging nur durch Überzeugung, denn untersagen konnte die ÖTV den Bürgern auf dem Gebiet der DDR nichts. Rein rechtlich gesehen war nicht einmal der Name ÖTV in der DDR geschützt. Dennoch war den Beteiligten klar, dass ohne Unterstützung der ÖTV (West) die Gründung einer ÖTV in der DDR nicht in Frage kam. Nach einer erbitterten internen Diskussion wenige Stunden vor der Gründungsversammlung konnten die Plauener Initiatoren der Gewerkschaft ÖTV in der DDR und ihre Unterstützer aus Hof überzeugt werden, vorerst keine eigenständige ÖTV in der DDR zu gründen: „Er hat mir gesagt, so wie wir uns das gedacht hätten, könnten wir es nicht machen. Das liefe nicht. Stuttgart sei nicht bereit, Unterstützung für eine Gewerkschaft ÖTV in der DDR zu leisten. Ich war natürlich am Boden zerstört.“15
Doch die Beschäftigten in Plauen waren bereits zur Gründungsversammlung geladen. Dies konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, da zwischen der Entscheidung, auf eine Gründung zu verzichten, und dem Beginn der Veranstaltung nur wenige Stunden lagen. 56 Kolleginnen und Kollegen versammelten sich am Freitag um 16.00 Uhr im Speisesaal des Bezirkskrankenhauses Plauen, um die ÖTV in der DDR zu gründen.16 Alles war veranstaltungstechnisch bis ins Kleinste vorbereitet worden: Ein Satzungsentwurf war ausgearbeitet, ein Tagesordnungsvorschlag, eine Geschäftsordnung, Finanzbeschlüsse, Wahlvorschläge und sogar eine Presseerklärung waren vorsorglich verfasst 12 Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 379. 13 Vgl. Beschlussprotokoll über die Sekretariatssitzung am 5.04.1990, SAPMO, DY45/1589. 14 Gewerkschaft ÖTV in der DDR?, Flugblatt des Zentralvorstands der GÖD, 6.4.1990, SAPMO, DY 45/1637. 15 Interview mit Veronika Mantel vom 29. Januar 1993, Dokumentation, S. 326. 16 Vgl. Die ÖTV in der DDR lädt ein, in: Vogtland Anzeiger vom 6. April 1990.
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worden. In dieser hieß es: „Seit dem 6.4.1990 gibt es in der DDR eine Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr.“17 Die Initiatoren und der Vertreter der Hauptverwaltung hatten nach einer Lösung gesucht, die es den Plauener Kollegen erlaubte, gesichtswahrend die Gründung einer ÖTV in der DDR abzusagen. Sie verständigten sich darauf, aus der Gründung der ÖTV in der DDR die Gründung eines Komitees zu machen, das die Aufgabe hatte, „mit allen (an einer ÖTV in der DDR, M.S.) Interessierten zu diskutieren und Aktivitäten mit anderen Initiativen zu koordinieren.“18 Es war abzusehen, dass durch diese Manipulation der Veranstaltungsablauf schwierig zu steuern sein würde. Tatsächlich verlief die Veranstaltung chaotisch. Die Teilnehmer, die teilweise aus Betrieben delegiert worden waren, waren gekommen, um die ÖTV in der DDR zu gründen. Die Zentralvorstandsmitglieder der GÖD aus Berlin waren gekommen, um genau dieses zu verhindern. Beide wussten nicht, wie ihnen geschah, als die Einlader überhaupt nicht vorschlugen, eine ÖTV in der DDR zu gründen. Die einen kritisierten, dass keine Gründung stattfand, die anderen argumentierten noch gegen eine Gründung, die gar nicht mehr vorgesehen war. Hinzu kam, dass bei der Einladung zur Veranstaltung offensichtlich selektiv verfahren worden war. Eine Reihe von Teilnehmern war gekommen, um sich zu beschweren, dass sie nicht oder nicht rechtzeitig informiert worden waren. Sie verlangten, dass vor einer ÖTV-Gründung ein Diskussionsprozess an der Basis hätte stattfinden müssen. Dabei wurde offenkundig, dass insbesondere die Kollegen der Gewerkschaft Gesundheitsund Sozialwesen und die der IG Transport nicht eingeladen worden waren und dass die Gründung somit nur aus dem Bereich der MSK bzw. GÖD erfolgen sollte. Eine disparate gespannte Stimmung lag über der Versammlung. Keinerlei Aufbruch oder gar Euphorie waren zu spüren. Die Video-Dokumentation der Veranstaltung legt nahe: Das Ganze war ein Fiasko.19 Die Presse bemerkte davon jedoch nichts. Der Vogtland-Anzeiger berichtete über die Veranstaltung unter der Überschrift: „Einhelliges Ja zur ÖTV“ und fasste wie folgt zusammen: „P. Schmidt, der Stuttgarter Vertreter, begrüßte sowohl die Plauener Initiativen als auch den hier gefassten Beschluss zur Gründung einer ÖTV in der DDR. Im Ergebnis dieser Zusammenkunft wurde ein fünfköpfiges ÖTV-Gründungskomitee gewählt.“20
Dass damit die Gründung einer ÖTV in der DDR verhindert wurde, hatte man übersehen. Inzwischen hatten auch die Hallenser Initiatoren den Bescheid aus der Hauptverwaltung bekommen, dass ihre Gründung seitens des gHV nicht gewünscht sei und damit faktisch nicht realisierbar. Werner Ruhnke überbrachte die Botschaft: „das geht nicht, (…), dafür braucht ihr die Genehmigung vom geschäftsführenden Hauptvorstand.“21 Auch bei den Hallensern gab es Empörung. Die Merseburger haben sich „dann natürlich kleinkriegen lassen und gesagt, o.k., wir stellen die Sache erst einmal zurück.“ Allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, „dass unter den gegebenen Umständen die Gründung der ÖTV-DDR nicht mehr rückgängig gemacht sowie geleugnet werden kann.“22
17 18 19 20 21 22
Presserklärung der ÖTV in der DDR vom 06.04.1990, SJS, 4.156, Anlagen. Ebd. Vgl. Video-Aufzeichnung der Veranstaltung, 120 min, o. D., privat, SMS. Vogtland-Anzeiger, 10. April 1990. Interview mit Jürgen Angelbeck vom 10. Dezember 1992, Dokumentation, S. 160. Schreiben, Dr. Manfred Jank, ÖTV-Büro, an Werner Ruhnke vom 11.04.1990, SJS, 4.372.
106 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Sowohl die Plauener wie auch die Hallenser Initiative hatten etwas Handstreichartiges. Um eine ÖTV in der DDR zu gründen, wäre es nur angemessen gewesen, Interessenten aus ein paar mehr Städten und Bezirken einzubeziehen und sich der Unterstützung der ÖTV-Führung vorher zu versichern. Nur Sympathiebekundungen für eine Idee sind etwas anderes als die Zustimmung zur Gründung einer Gewerkschaft.
Planung einer ÖTV in der DDR „von oben“ Für die Beteiligten in der DDR kam diese harsche Abfuhr durch den gHV überraschend. In Anbetracht der offiziellen Äußerungen der ÖTV hatten sie durchaus annehmen dürfen, dass die ÖTV-Führung ihr Tun wohlwollend betrachtete. Schließlich hatte sogar die Vorsitzende Sympathien für die Idee einer ÖTV in der DDR bekundet. Die Ablehnung der lokalen Gründungen durch den gHV dürfte primär der Tatsache geschuldet sein, dass er nicht zusehen wollte, wie voreilig Organisationsformen ins Leben gerufen würden, die einer späteren Vereinigung möglicherweise im Wege hätten stehen können. Satzungsfragen, verfahrensmäßige und organisationstechnische Fragen mussten vor einer Gründung rechtlich einwandfrei geklärt werden. Deshalb beschloss der gHV am 9. April: „2. Der Hauptvorstand wird sich in seiner Sitzung am 10./11. Mai 1990 mit der Gründung der ÖTV in der DDR beschäftigen. Bis dahin ist von Gründungsakten über die Bildung von Initiativen hinaus abzusehen. (...) 3. Die Benutzung des Namens ÖTV ohne Genehmigung der demokratisch legitimierten Gremien der ÖTV ist ein Eingriff in unsere Satzungsautonomie und bedarf daher der Zustimmung des geschäftsführenden Hauptvorstandes.“23
Gleichzeitig wurde der Justitiar beauftragt, den Namen ÖTV in der DDR urheberrechtlich schützen zu lassen. Damit sollte verhindert werden, dass FDGB-Gewerkschaften sich des Namens bemächtigten. Für den gHV war die Gründung einer ÖTV in der DDR grundsätzlich eine Option. Es war für ihn eher enttäuschend, dass nur wenige Initiativen entstanden und diese wenigen viel zu schwach blieben, um daraus in absehbarer Zeit eine handlungs- und tariffähige Gewerkschaft entwickeln zu können. Der Funke ÖTV in der DDR war bislang nicht übergesprungen. Gleichwohl war der gHV weiter an einer ÖTV in der DDR interessiert. Einerseits gab es enttäuschte FDGB-Mitglieder, denen er eine Organisationsmöglichkeit bieten wollte, andererseits hoffte er die FDGB-Gewerkschaften unter zusätzlichen Druck setzen zu können. In dieser Zeit war für den stellvertretenden ÖTV-Vorsitzenden Willi Mück die Gründung einer ÖTV in der DDR „das Entscheidende“.24 Der gHV beschloss, die Gründung der ÖTV in der DDR selbst und systematisch in die Hand zu nehmen. Das zuständige Sekretariat erarbeitete zunächst einen Satzungsentwurf. Dieser wurde zusammen mit den Änderungsvorschlägen der Steuerungsgruppe am 3. Mai 1990 im gHV diskutiert und beschlossen. Der kritische Punkt in dieser Satzungsdiskussion war die Frage, ob man einen „kollektiven Beitritt“ der FDGB-Gewerkschaften ermöglichen sollte. Dagegen sprach die Logik der Gründungsidee einer ÖTV in der DDR, die gerade für jene Beschäftigten gedacht war, die mit den alten FDGB-Gewerkschaften nichts mehr zu tun haben wollten. 23 Protokoll, gHV-Sitzung vom 09.04.1990, SJS, 1.12. 24 Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 339.
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Bei einem Übertritt oder einer Vereinigung der FDGB-Gewerkschaften mit der neuen Gewerkschaft ÖTV in der DDR hätte diese schnell ihren untadeligen Ruf verlieren können. Vor allem aber stand zu befürchten, dass die zahlenmäßig viel stärkeren FDGBGewerkschaften mit ihren bewährten Funktionären die ÖTV in der DDR faktisch übernommen hätten. Als die FDGB-Gewerkschaften kollektiv in die ÖTV in der DDR eintreten wollten, wurde dies vom gHV abgelehnt: „Als wir in Stuttgart waren, sagte Monika Wulf-Mathies, wir sollten Abstand nehmen, wir würden dieses zarte Pflänzchen ÖTV in der DDR ja mit unserem Übergewicht erdrücken.“25 Dies wird von Wulf-Mathies bestätigt: Mit der Integration der FDGB-Gewerkschaften in die neue ÖTV in der DDR „Damit hätten wir leider nichts gewonnen, weil das dazu geführt hätte, dass wir mehr oder weniger ganze Apparate und ganze Funktionärskörper in der ÖTV in der DDR gehabt hätten. Etwas, was wir ja gerade vermeiden wollten. Die „echten“ unabhängigen Gewerkschafter wären dann von Anfang an völlig marginalisiert und in der Minderheit gewesen.“26
Die FDGB-Gewerkschaften sollten jedoch nicht offen brüskiert werden. Deshalb verständigte sich der gHV darauf, die Entscheidung, ob FDGB-Gewerkschaften der ÖTV in der DDR beitreten können, vorerst aufzuschieben. In seinem Satzungsentwurf für eine ÖTV in der DDR hieß es zu der Beitrittsfrage daher lediglich: „Der Beitritt von Organisationen bedarf der Zustimmung des Ausschusses nach § 22 der Satzung.“27 Während die zuständigen Kollegen der Hauptverwaltung die Satzung für eine ÖTV in der DDR entwarfen, ging die politische Entwicklung in rasantem Tempo weiter. Das Vorantreiben der Gründung der ÖTV in der DDR basierte dabei auf der Einschätzung, die DDR würde noch eine Weile weiter existieren. Die Vorstellung war, eine „ÖTV in der DDR entwickelt sich kontinuierlich, führt eigenen Kongress durch, gibt sich Strukturen, stellt Personal ein, kooperiert zwar eng mit der ÖTV in der BRD, sieht sich aber als solange notwendigerweise selbständig, solange der tatsächliche Vereinigungsprozess nicht abgeschlossen ist und in der DDR noch eigene Strukturen (Wirtschaftsgebiete mit Sonderstatus, Rechtsanpassungs-Zeiträume etc.) bestehen.“28
Mit der Einigung über die Währungsunion am 2. Mai hatte sich die Situation schlagartig verändert. Der gHV stand jetzt vor der Frage, ob es überhaupt noch lohne, eine funktionsfähige Gewerkschaft ÖTV in der DDR aufzubauen, bzw. wie überhaupt auf die jüngsten Entwicklungen zu reagieren sei. Die Hauptvorstandssitzung war bereits für den 10. Mai anberaumt. Bis dahin konnte diese Frage nicht geklärt werden. Der gHV wollte sich daher zunächst alle Optionen offen halten und legte der Hauptvorstandssitzung einen entsprechend allgemeinen Vorschlag zu Abstimmung vor: „Der Hauptvorstand ist damit einverstanden, dass eine ÖTV in der DDR gegründet wird und erteilt seine Zustimmung zur Benutzung des Namens ‚ÖTV’“.
Und:
25 26 27 28
Interview mit Gertraude Sinn vom 1. Halbjahr 1991, Dokumentation, S. 382. Interview mit Monika Wulf-Mathies vom 22. Juli 2009, Dokumentation, S. 409. Protokoll, gHV-Sitzung vom 03.05.1990, SJS, 1.16. Notizen zur Sitzung der Steuerungsgruppe am 02.05.1990, handschriftlich, Handzeichen, Sc., SJS, 4.437.
108 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess „Der Hauptvorstand nimmt die Vereinbarung mit der IG Transport zustimmend zur Kenntnis und beauftragt den gHV auch mit anderen Gewerkschaften, die sich erneuert haben, vergleichbare Vereinbarungen zu treffen.“29
Satzungsöffnung – Die grundsätzliche Entscheidung vom 10. Mai 1990 Der Hauptvorstand versammelte sich am 9./10. Mai in Stuttgart, um über die eingeschlagene Doppelstrategie des gHV zu diskutieren und zu entscheiden. Eigens dazu eingeladen waren je ein Repräsentant des Kooperationsabkommens mit der IG Transport und der Initiativen für eine ÖTV in der DDR. Karl-Heinz Biesold sprach für die IG Transport und Peter Becker für die Initiativen. Zu diesem Zeitpunkt waren sowohl Kooperationsabkommen als auch der Aufbau einer ÖTV in der DDR im Grunde überholt. Mit der Einführung der Währungs- und Wirtschaftsunion zum 1. Juli war ein viel schnelleres Konzept zur Verwirklichung einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland gefordert. Aus diesem Grund sah sich der Hauptvorstand nunmehr gezwungen, sich auch mit der Option Satzungsöffnung auseinanderzusetzen. In der Entschließungsvorlage hieß es dazu: „Zur Förderung des Vereinigungsprozesses wird die ÖTV zu gegebener Zeit ihre Satzung für alle Mitglieder in der DDR öffnen.“30
In der Diskussion zu diesem Tagesordnungspunkt sprachen sich verschiedene Redner für diese einfachste und schnellste Variante zur Herstellung einer einheitlichen ÖTV aus. Am klarsten argumentierte der Berliner Bezirksleiter, der jedoch in seinem Bezirk ohnehin schon dabei war, die Satzung zum 1. Juni für die Ost-Berliner zu öffnen: „Ich halte die Satzungsöffnung für den besten Weg, denn Mitte dieses Jahres wird es die DDR als eignen Staat nicht mehr geben.“ Dagegen wandte sich Willi Mück mit dem Argument, man dürfe den Kolleginnen und Kollegen in der DDR das West-Modell nicht einfach überstülpen. „...Eine Bevormundung haben die Kolleginnen und Kollegen lange genug drüben gehabt, das wollen sie nicht. (...) Ich fürchte, wenn wir einfach mit einem Knalleffekt die Satzung öffnen und sagen, hier sind wir, dann geht vieles an Vertrauen und an guten Beziehungen kaputt.“
Ebenfalls gegen eine Satzungsöffnung sprach sich Peter Becker aus: „Ich weiß nicht, ob ihr nachempfinden könnt, was sich in unseren Köpfen abspielt bei der Situation und ich denke, auch aus diesem Grund brauchen wir diesen Übergang (ÖTV in der DDR, M.S.).“31
Schließlich wurde eine Kampfabstimmung dadurch verhindert, dass man alle drei Wege zum Ziel der Vereinigung für gangbar erklärte: „Der Hauptvorstand ist damit einverstanden, dass eine ÖTV in der DDR gegründet wird und erteilt seine Zustimmung zur Benutzung des Namens ‚ÖTV’. (…) Der Hauptvorstand nimmt die Vereinbarung mit der IG Transport zustimmend zur Kenntnis und beauftragt den gHV
29 Protokoll, gHV-Sitzung vom 03.05.1990, a.a.O. 30 Erklärung des Hauptvorstandes zur Situation in der DDR, zit. n.: ÖTV-intern, 4/90, S. 15. 31 Wortprotokoll, 8. HV-Sitzung am 10./11.05.1990, AdsD, 130118.
Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR 109 auch mit anderen Gewerkschaften, die sich erneuert haben, vergleichbare Vereinbarungen zu treffen.“32
Aus der Doppelstrategie war so eine Triplestrategie geworden. Der stellvertretende ÖTVVorsitzende Wolfgang Warburg hatte später die undankbare Aufgabe, auf der Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD am 9. Juni 1990 den verwirrten Delegierten die innere Logik dieser drei Wege zur vereinten ÖTV zu erklären. Dazu war ein argumentativer Eiertanz notwendig: Die Gründung der ÖTV in der DDR verteidigte er mit dem Vertrauensverlust des FDGB, die Kooperation mit der IG Transport mit der Notwendigkeit, eine große Anzahl an Mitgliedern zu gewinnen, und die Satzungsöffnung mit dem Tempo der politischen Entwicklung.33 Die politische Entwicklung war tatsächlich so rasant verlaufen, dass auf der Hauptvorstandssitzung am 10. Mai nur die grundsätzliche Entscheidung für eine Satzungsöffnung getroffen werden konnte. Einen Termin für die Satzungsöffnung konnten die Organisationsexperten des gHV noch nicht nennen, da die Planungen für dieses Projekt gerade erst anliefen. Die nächsten Schritte wollten gut überlegt sein. Vor allem war das Problem der Einbindung der FDGB-Gewerkschaften in den Aufbauprotess der ÖTV nach wie vor ungelöst. Einerseits wollte die ÖTV nicht mit ihnen kooperieren. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie ohne die FDGB-Gewerkschaften den schnellen Aufbau von ÖTV-Strukturen in der DDR bewerkstelligen sollte. Immer noch waren hunderttausende Beschäftigte in FDGB-Gewerkschaften organisiert. Sie kannten die Betriebe und Einrichtungen und hatten Organisationserfahrung. Bis zum 30. Mai waren die grundsätzlichen Überlegungen, wie die Satzungsöffnung umgesetzt werden konnte, geklärt. Der gHV entschied: „Um auf dem schnellsten Weg zu einer einheitlichen ÖTV zu kommen, soll zum 1. November 1990 die Satzung der ÖTV der Bundesrepublik geöffnet werden.“34 Es galt nun alles darauf zu konzentrieren, die Satzungsöffnung organisatorisch vorzubereiten. Eine Satzungsöffnung bedeutete zunächst nur, dass Beschäftigte aus der DDR Mitglied in der ÖTV werden konnten. Der Aufbau handlungsfähiger Strukturen in der DDR zur Verwaltung der neuen Mitglieder war hingegen ein gigantisches Organisationsprojekt, das nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen war. Als erstes waren Kreisverwaltungen zu bilden. Kollegen mussten gesucht werden, die bereit waren, Verantwortung als Delegierte und in den Gremien zu übernehmen, d.h. für Wahlen zur Kreisdelegiertenkonferenz, zum Kreisvorstand, zur Tarifkommission usw. zu kandidieren. Gleichzeitig galt es, Kandidaten für die gesetzliche Mitbestimmung in Betriebs- und Personalräten, für die Unternehmensmitbestimmung sowie für die Selbstverwaltungsorgane der Arbeitsämter und der Sozialversicherungen (Krankenkassen, Renten- und Unfallversicherungsträger) zu finden und zu qualifizieren. Ein riesiger Bedarf an Mitbestimmung und Mitgestaltung in zahllosen Institutionen und Gremien tat sich auf.
32 Protokoll, gHV-Sitzung vom 03.05.1990, a.a.O. 33 Vgl. Protokoll, 8. Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD, a.a.O. 34 Protokoll, gHV-Sitzung vom 30.05.1990, Anlage, SJS, 1.119.
110 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess
Pro Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften Die Entscheidung, über eine Satzungsöffnung die einheitliche ÖTV herzustellen, war gleichzeitig die denkbar schroffste Ablehnung organisationspolitischer Kompromisse mit den FDGB-Gewerkschaften. Der kommunistische Flügel und seine Mitläufer in der ÖTV lehnten diese Entscheidung strikt ab. Michael Wendl, ein Wortführer dieser politischen Richtung, warf der ÖTV-Führung vor, sie betreibe damit die „Spaltung des FDGB“. Dass der FDGB als kommunistische Hilfsorganisation keine Einheitsgewerkschaft war, dass er zerfiel, weil die Mitglieder froh waren, dieser politischen und sozialen Zwangsorganisation entfliehen zu können, dass der FDGB tief in das System der SED-Diktatur verstrickt war und das meiste Vertrauen verspielt hatte, darüber verlor er kein Wort. Ebenso wenig kam es ihm in den Sinn, dass das Verschwinden dieser Organisation im Interesse einer freien und demokratischen Gewerkschaft liegen müsse. Stattdessen verwies er auf den hohen Organisationsgrad der FDGB-Gewerkschaften von angeblich immer noch 80 Prozent und erachtete dies als ausreichend für die Behauptung, damit ginge die DDR „gut gerüstet in das Abenteuer der Marktwirtschaft.“ Er begründete die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften mit dem absurden Argument, dass erst damit wahrhaft die „Einheitsgewerkschaft“ geschaffen werden könne.35 Umso erstaunlicher war es, dass auch dieser Flügel am Ende die Satzungsöffnung akzeptierte, bedeutete sie doch die Zurückweisung und das endgültige Aus für die FDGB-Gewerkschaften.
Verpflichtung zur Selbstauflösung der FDGB-Gewerkschaften De Maizière hatte am 12. April bekundet, dass seine Regierung die schnelle Vereinigung nach Art. 23 GG anstrebe. Am 18. Mai wurde der 1. Staatsvertrag zwischen den Regierungen der DDR und der Bundesrepublik unterzeichnet. Die Entscheidung, Löhne, Gehälter, Renten und Mieten und kleinere Sparguthaben im Verhältnis 1:1 umzutauschen, ist bis heute umstritten. Ökonomisch gesehen war sie verheerend für die DDR-Industrie, doch politisch gab es kaum eine andere Möglichkeit. Der Strom der Übersiedler wollte trotz der Perspektive auf eine staatliche Einheit kein Ende nehmen. Viele Menschen in der DDR wollten nicht länger Deutsche zweiter Klasse sein und drohten: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sollte zum 1. Juli in Kraft treten. Der Hauptvorstand hatte sich auf seiner Sitzung am 10. Mai neben den Organisationsfragen vor allem mit der Kritik an dem Entwurf der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (1. Staatsvertrag) befasst. Er führte Klage, dass die Gewerkschaften an den Vertragsverhandlungen bisher nicht beteiligt worden waren und stellte weitergehende Forderungen an die Bundesregierung, unter anderem, dass der Vereinigungsprozess sozialverträglich gestaltet und die Tarifautonomie garantiert werde. Die Klage, nicht einbezogen worden zu sein, gerade bei den Regelungen zur Sozialunion, war unter formellen Gesichtspunkten nicht unbegründet. Die Kohl-Regierung betrieb die Einigung als ihre ureigenste Angelegenheit. Jedoch hatte sie grundsätzliche
35 Michael Wendl, Gewerkschaftskannibalismus? Zum Verhältnis der BRD- zu den DDRGewerkschaften, Sozialismus, 4–90, S. 44ff.
Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR 111
gewerkschaftliche Positionen weitgehend berücksichtigt: Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, usw.36 Für die FDGB-Gewerkschaften bedeutete die Einigung über die Währungsunion das endgültige Aus. Das Arbeitsgesetzbuch und die formalen Mitbestimmungsregelungen der BGL wurden außer Kraft gesetzt. Ab 1. Juli galt bundesrepublikanisches Recht in der betrieblichen Mitbestimmung und im Tarifvertragswesen in der DDR. Das waren beides Felder, auf denen die FDGB-Funktionäre keine Erfahrung hatten und keine Kompetenzen vorweisen konnten. Umso drängender stellte sich das Problem eines schnellen Aufbaus von handlungsfähigen Gewerkschaften, die genau diese Kompetenzen besaßen. Angesichts der verbleibenden Zeit bis zum Inkrafttreten bundesrepublikanischer Regeln blieb als einziger Weg nur die Übertragung der ÖTV-Strukturen auf die DDR mittels Satzungsöffnung. Alles andere hätte einen längeren Lernprozess der DDR-Beschäftigten mit ungewissem Ausgang bedeutet. Solange konnten und wollten die DDR-Bürger nicht warten. Auch die Gewerkschaften der Bundesrepublik konnten sich ein solches Abwarten nicht leisten. Sie mussten im eigenen Interesse versuchen, die Lohn- und Arbeitsbedingungen im Osten an den westlichen Standard anzugleichen, um zu vermeiden, dass das Ostniveau Vorbild für den Westen wurde. Für die ÖTV ging es darum: „Entweder du versuchst alles zu tun, um den Belangen der Beschäftigten tatsächlich Rechnung zu tragen oder du machst einen taktischen Schritt und sagst, lasst die doch erst einmal den Karren in den Dreck fahren und dann kommst du als der große Retter.“
Die ÖTV entschied sich, schnell und wirksam zu helfen. „Wir konnten nicht nach der Verelendungstheorie verfahren.“37 Dies ist der wesentliche politische Hintergrund der Entscheidung, die einheitliche ÖTV letztlich über eine Satzungsöffnung herbeizuführen. Eine Kooperation mit den FDGB-Gewerkschaften war hinfällig geworden. Der Vereinbarungsentwurf mit der GÖD wurde zurückgezogen.38 Als die GÖD-Delegation am 29. Mai in Stuttgart anreiste, gab es schon nichts mehr zu verhandeln. Stattdessen wurde ihr und den anderen FDGBGewerkschaften eine Vereinbarung angeboten, in der festgelegt war, dass die ÖTV die gewerkschaftliche Einheit über ihre Satzungsöffnung herzustellen gedachte. Die vorgelegte Vereinbarung „Auf dem Weg zur geeinten ÖTV“ war im Kern die Verpflichtung der FDGB-Gewerkschaften zur Selbstauflösung.39 Auch mit der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (GSW) kam es zu keiner Kooperationsvereinbarung mehr. Sie war lange durch den internen Konflikt, ob sie lieber mit der DAG oder der ÖTV zusammenarbeiten sollte, gelähmt. Als sie auf ihrer Zentraldelegiertenkonferenz am 2./3. Mai schließlich die Entscheidung gegen die DAG und für die ÖTV als Kooperationspartner getroffen hatte, war in der ÖTV die Bereitschaft, Kooperationsvereinbarungen zu schließen, bereits nicht mehr gegeben. Auch der Vorsitzende der GSW Richard Klatt reiste am 30. Mai schließlich resigniert nach Stuttgart, um die Verpflichtung zur Auflösung seiner eigenen Gewerkschaft zu unterschreiben.
36 Vgl. Gemeinsames Protokoll über Leitsätze zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag), 18.05.1990. 37 Interview mit Willi Hanss vom 18. Juni 1992, Dokumentation, S. 276. 38 Protokoll, gHV-Sitzung vom 28.05.1990, SJS, 1.18. 39 Vgl. Auf dem Weg zur geeinten ÖTV, in: ÖTV-INTERN, 5/90, S. 67.
112 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Selbst die IG Transport, die als einzige FDGB-Gewerkschaft ein Kooperationsabkommen hatte, sah sich gezwungen, am 30. Mai die Selbstverpflichtung zu ihrer Auflösung zu unterschreiben. Ebenfalls am 30. Mai legte der gHV den 1. November 1990 als Stichtag für die Öffnung der Satzung fest. Die Entscheidung für das Verfahren des Einzelbeitritts neuer Mitglieder aus der DDR und gegen einen Kollektivbeitritt begründete die ÖTV mit satzungsrechtlichen Schwierigkeiten: Ein kollektiver Beitritt sei in der aktuellen Satzung der ÖTV nicht vorgesehen. Im Wesentlichen ging es ihr jedoch darum, dass die künftigen Mitglieder eine „positive Erklärung“ zur ÖTV abgeben sollten. Es war der ÖTV ein Anliegen, zu demonstrieren, dass eine demokratische und unabhängige Gewerkschaft eine freiwillige Veranstaltung war, die auf der freien individuellen Entscheidung eines jeden Mitglieds beruhte. Auch wollte man sich nicht verpflichten, über einen Automatismus die alten FDGB-Funktionäre übernehmen zu müssen. Die Angst, sich dabei alte SED-Parteikader und Mitarbeiter der Staatssicherheit in die Organisation zu holen, war weit verbreitet und nicht unberechtigt. Indem sie einen kollektiven Eintritt ablehnte, nahm sie bewusst Mitgliederverluste in Kauf. Sie unterschied sich damit deutlich von anderen DGBGewerkschaften, die die Mitglieder der FDGB-Gewerkschaften en bloc übernahmen und auch gegenüber hauptamtlichen Funktionären weniger strenge Maßstäbe anlegten. Eine grundsätzliche Entscheidung blieb von diesen Verfahrensunterschieden indes unberührt: Alle DGB-Gewerkschaften hatten sich darauf verständigt, unter keinen Umständen in eine Rechtsnachfolge für die FDGB-Gewerkschaften einzutreten. Zu groß und unkalkulierbar erschien ihnen die politische und materielle Belastung. Die Öffnung der Satzung war das entscheidende organisationspolitische Datum für die ÖTV.
Die Gründungsversammlung der ÖTV in der DDR Die Einführung der Währungsunion zum 1. Juli hätte logischerweise für das Projekt Aufbau der ÖTV in der DDR den sofortigen Abbruch bedeuten müssen. Diese Konsequenz wurde nicht gezogen. Die Vorbereitungen zur Gründung einer ÖTV in der DDR waren zum Zeitpunkt der Entscheidung, die vereinte ÖTV über eine Satzungsöffnung zu schaffen, bereits zu weit gediehen, um noch problemlos gestoppt werden zu können. Es gab auch ein paar gute sachliche Gründe, das Projekt in modifizierter Form weiter zu betreiben. Die Regie der Hauptverwaltung sah ursprünglich vor, dass eine Versammlung aus Vertretern der bestehenden Initiativen für den Aufbau einer ÖTV in der DDR einen Gründungsaufruf erlassen sollte. Dem entsprach, dass Peter Becker von der Berliner Initiative zu einem Treffen aller Initiativen am 30. April nach Berlin einlud, mit dem Ziel, die Gründung der ÖTV in der DDR zum 1. Juni 1990 vorzubereiten.40 Weder das Vorbereitungstreffen noch diese Gründungsveranstaltung fanden letztlich statt. Stattdessen lud Werner Ruhnke zum Treffen der Initiativen am 7. Mai nach Hohenschönhausen ein. Im Einladungsschreiben ist von einer Gründung der ÖTV zum 1. Juni nicht mehr die Rede. Nur „weitere Maßnahmen für die Gründung einer ÖTV/DDR“ sollten besprochen werden.41
40 Peter Becker, Einladung vom 21.4. 1990, SJS, 4.20. 41 Schreiben, Werner Ruhnke an alle Kolleginnen und Kollegen in Initiativen für eine ÖTV in der DDR, 26.04.1990, SJS, 4.140.
Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR 113
Was immer die Gründe für die Absage der Veranstaltungen vom 30. April und 1. Juni gewesen sein mögen, die Tatsache, dass für die Initiativen-Treffen nicht mehr Peter Becker als Einlader zeichnete, sondern der Leiter des Informationsbüros der ÖTVHauptverwaltung, signalisierte, dass der gHV die Federführung im Projekt ÖTV in der DDR übernommen hatte. Auf der Veranstaltung am 7. Mai – die Satzungsöffnung war noch nicht beschlossen – trafen sich jedoch nicht nur die Vertreter der ursprünglichen Initiativen aus Berlin, Halle und Plauen, sondern auch Vorstandsmitglieder der FDGB-Gewerkschaften von GÖD, Gesundheits- und Sozialwesen, Wissenschaft und der IG Transport, die Einfluss auf die Gründung einer ÖTV in der DDR gewinnen wollten. Dies war nicht im Sinne der ÖTV-Führung. Überraschend verkündete Wulf-Mathies am 10. Mai, drei Tage nach der Sitzung in Hohenschönhausen und im Anschluss an die Hauptvorstandssitzung vom 9./10. Mai, vor der Presse, dass am nächsten Tag die Gründung der ÖTV in der DDR in Magdeburg stattfinden würde.42 Auslöser für diese Ankündigung war die Information, dass die MSK/GÖD beabsichtige, selbst eine ÖTV in der DDR zu gründen, um so den Namen zu belegen: „Ich habe noch Informationen bekommen, dass Anfang Juni eine Delegiertenkonferenz der Gewerkschaft Öffentliche Dienste die ÖTV in der DDR ausrufen wollte. Also, die Gewerkschaft Öffentliche Dienste wollte sich den Namen ÖTV in der DDR geben. Da habe ich den Eckhard Stade und den Dieter Bauer informiert. Daraufhin ist ruckzuck diese Veranstaltung in Magdeburg entstanden.“43
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Information, die GÖD wolle den Namen der ÖTV für die DDR okkupieren, tatsächlich zutraf. In den Akten gibt es dafür keine Hinweise. Interessant ist daran jedoch, dass die ÖTV-Führung der GÖD ein solches Vorgehen offensichtlich zutraute und entsprechend hektisch reagierte. Das Verhalten der ÖTV zeigt, wie groß das Misstrauen gegenüber dieser Gewerkschaft – mit der sie sich offiziell in Kooperationsverhandlungen befand – gewesen sein muss. Am Samstag, dem 11. Mai fand in Magdeburg eine Versammlung aus Vertretern einer Magdeburger Initiative unter Beteiligung des örtlichen Beraterbüros der ÖTV und des Bezirks Niedersachsen statt und gründete „umgehend“ die ÖTV in der DDR. Genau genommen war dies nur eine lokale Magdeburger Gründung einer ÖTV in der DDR, denn eine DDR-weite Gründung konnte nur auf einem Kongress erfolgen, zu dem gewählte Delegierte aus dem ganzen Land zusammenkommen sollten, wie es ursprünglich geplant war und später auch nachgeholt wurde. Laut Gründungsprotokoll haben „von 177 Anwesenden 147 Teilnehmer ihre Aufnahme in die ÖTV in der DDR durch Unterschrift erklärt.“44 Sie wählten einen 20-köpfigen Vorstand und Robert Knauth, einen Rettungssanitäter, zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des vorläufigen geschäftsführenden Vorstands. Auf dieser Versammlung, die noch nicht einmal zwei Stunden dauerte, wurde nur eine Rede gehalten. Nicht von einem Vertreter der DDR-Initiativen, sondern vom ÖTVVorsitzenden des Bezirks Niedersachen, Horst Fricke, aus Hannover, dessen Bezirk für Magdeburg zuständig war. Er gab zum Schluss auch bekannt, dass der eigentliche Gründungskongress der ÖTV in der DDR am 9. Juni ebenfalls in Magdeburg stattfinden wer42 Ap-Meldung, telex, SJS, 4.222. 43 Interview mit Veronika Mantel vom 29. Januar 1993, Dokumentation, S. 327. 44 Protokoll zur Gründungsveranstaltung zur Bildung einer Gewerkschaft ÖTV in der DDR am Freitag, den 11.05.1990 in Magdeburg, SJS, 4.29.
114 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess de. Ein knapper Gründungsaufruf wurde nach “kurzer Diskussion“ einstimmig angenommen.45 Diese Veranstaltung hatte alle Anzeichen einer überstürzten Aktion. Später wurde von ihr gesagt, sie sei „spontan“ erfolgt.46 Davon kann jedoch keine Rede sein. Sie erfolgte nicht spontan, sondern vielmehr überhastet. „Hintergrund für diese Hektik war, dass wir befürchteten, dass Funktionäre der alten MSK den Namen der ÖTV okkupieren.“47
Nur „drei oder vier Leute (haben) gewusst, dass Manfred Bartsch den Auftrag erhalten hatte, aus der Initiative in Magdeburg, auf der Veranstaltung am 11. Mai abends, die ÖTV in der DDR zu gründen, weil das Risiko für uns, noch abzuwarten, zu groß wurde.“48
Manfred Bartsch war Beratungssekretär in Magdeburg und hatte die Initiativen zu einem Treffen nach Magdeburg am 11. Mai eingeladen. Dies erfolgte ursprünglich jedoch keineswegs in der Absicht, die ÖTV in der DDR zu gründen. Es sollten nur „weitere Maßnahmen für die Gründung einer ÖTV/DDR besprochen werden“.49 Der Ablauf der Veranstaltung wurde von der Zentrale in Stuttgart, so gut es in der Eile ging, vorbereitet. Fricke meldete im Anschluss an die vollzogene Gründung nach Stuttgart und an die Bezirke: „Der von uns, den Koll. Mück und Ruhnke sowie dem Rechtsreferat gemeinsam erarbeitete Gründungsaufruf wurde von den Kolleginnen und Kollegen in Magdeburg voll inhaltlich übernommen.“50
Neben der Bekanntgabe der „allgemeinen Gründungsversammlung“ in Magdeburg am 9. Juni ist an der Gründungsveranstaltung vor allem bedeutsam, dass den Beratungsbüros eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. Über sie wurde die Einladung zur Gründungsversammlung „an die Initiativen weitergegeben“ und in Zusammenarbeit mit ihnen sollten die Delegierten gewählt werden. Praktisch hieß das, dass die bestehenden Beraterbüros der ÖTV (West) die Funktion von Verwaltungsstellen für die ÖTV in der DDR übernahmen. Obendrein baten die Initiativen die Kollegen der ÖTV (West), ihnen bei der Ausarbeitung der Satzung und der Vorbereitung der Versammlung zu helfen.51 Der Peinlichkeit dieser Bitte hätte es nicht mehr bedurft. Aus der Initiative von DDR-Kollegen war längst ein Organisationsprojekt der ÖTV (West) geworden.
45 Vgl. ÖTV-Report DDR, 11. Mai 1990, Gründung der ÖTV in der DDR in Magdeburg, o.D., zu: SJS, 4.328. 46 Vgl. Robert Knauth, Begrüßung, in: Protokoll des Gründungskongresses der Gewerkschaft ÖTV in der DDR am 09./10. Juni 1990 in Magdeburg, S. 5. 47 Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 339. 48 Interview mit Franz Fuchs vom 22. Februar 1993, Dokumentation, S. 309. 49 Vgl. Initiativgruppe der ÖTV in der DDR, Einladung vom 2.05.90, SMS. 50 Schreiben, Horst Fricke an Bezirksvorsitzende, VS 6 – Koll. Mück, u.a. am 15.05.1990, SJS, 4.328. 51 Gründungsaufruf, 11.05.1990, verantwortlich, ÖTV Niedersachsen/ Beratungsbüro Magdeburg, SMS.
Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR 115
Der Gründungskongress der ÖTV in der DDR Obwohl die Gründung einer ÖTV in der DDR mit der Entscheidung, die Satzung der ÖTV zum 1. November zu öffnen, im Grunde gegenstandslos geworden war, betrieb der gHV nach der Gründungsversammlung am 11. Mai die Vorbereitungen für den Gründungskongress am 9. Juni weiter. Um diese Widersprüchlichkeit aufzulösen, hatte man sich darauf verständigt, lediglich eine „Minisatzung“ für eine Mini-ÖTV in der DDR zu verabschieden: „Die Satzung könne also auf das beschränkt werden, was vereinsrechtlich notwendig und zum Handeln unverzichtbar ist.“52 Eine handlungsfähige Struktur für eine ÖTV in der DDR aufzubauen war dafür nicht erforderlich. Die vorher so strittige Frage, ob man einen kollektiven Beitritt der FDGB-Gewerkschaften erlauben sollte, hatte sich damit ebenfalls erledigt. Die FDGB-Gewerkschaften sollten der ÖTV in der DDR fernbleiben und ihre Mitglieder auffordern, direkt in die ÖTV einzutreten.53 Um die Bedeutung dieses Gebildes möglichst klein zu halten, durfte der Vorstand der ÖTV in der DDR seinen Sitz nun nicht mehr – wie ursprünglich geplant – in Berlin nehmen, sondern musste seine Zelte in Potsdam aufschlagen. Nach der voraussichtlichen Lebensdauer von gerade mal fünf Monaten sollte sich die ÖTV in der DDR geräuschlos auflösen: „Die ÖTV in der DDR ist mit der Ausweitung des räumlichen Tätigkeitsbereichs der Gewerkschaft ÖTV auf das Gebiet der DDR aufgelöst.“54 Die Mitglieder wurden automatisch in die geeinte ÖTV übernommen. Die Entscheidung, eine ÖTV in der DDR als temporäres Projekt der ÖTV (West) aufzubauen, musste zunächst dem Beraterkreis „verklart“ werden. Diese erfahrenen Organisationssekretäre brauchte man, um überhaupt einen halbwegs geordneten Kongress zustande zu bringen. Die Berater mussten in ihren jeweiligen Bezirken die Wahl von Delegierten in Zusammenarbeit mit den bestehenden Initiativen organisieren. Dass es dabei nicht immer mit demokratischen Dingen zugegangen sein kann, ist wahrscheinlich und wurde von FDGB-Beobachtern auch moniert. Wolfgang Warburg hat dies später eingestanden: „Die Delegierten aus den Gründungsinitiativen konnten der Natur der Sache nach gar nicht auf breiter Basis demokratisch legitimiert sein.“55 Auf den Beratertreffen gab es in den Diskussionen um den Satzungsentwurf erhebliche Auseinandersetzungen. Vor allem die „Merseburger“ taten sich hervor. Sie protestierten grundsätzlich gegen eine „Minisatzung“, weil sie nicht damit einverstanden waren, dass die ÖTV in der DDR mit ihrer Gründung zugleich ihre Auflösung beschließen und nur als ein kurzzeitiges Provisorium installiert werden sollte. Sie wollten eine selbständige und handlungsfähige ÖTV in der DDR, die auch nach der staatlichen Vereinigung noch eine Zeitlang weiterexistierten sollte. „Eine Gewerkschaft, die auf eine eigenständige Tarifpolitik verzichtet, ist keine Gewerkschaft. Eine Gewerkschaft, die keinen hauptamtlichen Beschäftigten einstellt, ist nicht arbeits- und kampffähig.“56
52 Vermerk, Diskussion in der Steuerungsgruppe vom 29.05.1990, handschriftlich, (Sc), SJS, 4.440. 53 Vgl. Entwurf einer „Minisatzung", Stand 29.05.90, SMS. 54 Ebd. 55 Sitzung des Organisationsausschusses DDR am 10. Juli 1990 in Stuttgart, S. 11, SMS. 56 Positionspapier zum Entwurf der Minisatzung, Teilnehmer des Bezirks Halle an der Gründungskonferenz, o. D., SJS, 4.24.
116 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Angelbeck spitzte die Kritik auf die Frage zu: „Warum wird unter diesen Umständen die ÖTV (West) nicht sofort und ohne Vorschaltung einer unselbständigen Filiale (...) hier tätig?“ Und er forderte „radikal Schluss zu machen mit dem Gerede von der Eigenständigkeit unserer Kolleginnen und Kollegen in der DDR.“57 Diesen Diskussionen waren zeitlich enge Grenzen gesetzt, da der endgültige Entwurf erst mit Datum vom 29. Mai verschickt werden konnte und der Kongress bereits zehn Tage später stattfinden sollte. Die Argumente der Merseburger fanden letztlich keine Mehrheit. Eine ÖTV in der DDR neben der ÖTV im vereinten Deutschland für eine begrenzte Zeit weiter bestehen zu lassen, war nicht überzeugend. Die Kritik tatsächlicher Unselbständigkeit der ÖTV in der DDR war jedoch in der Sache berechtigt. Die ÖTV hatte sich in eine verzwickte Lage manövriert. Sie versuchte, die Fiktion aufrechtzuerhalten, die Gründung der ÖTV in der DDR sei das Werk von DDR-Beschäftigten, obwohl sie längst ein Organisationsprojekt der ÖTV war. Sie gründete eine auf dem Papier voll funktionsfähige Gewerkschaft mit Satzung, Vorstand, Ausschuss, Beirat, Revision und allgemeinem Aktionsprogramm, ohne jedoch die Absicht zu haben, diese wirklich ins Leben treten zu lassen. In der Wirklichkeit bestand die Gewerkschaft nur aus drei hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern. Die Gründung wurde dennoch groß inszeniert: ÖTV-Prominenz war angereist und die ÖTV-Vorsitzende hielt eine Rede. Ob ihr Versuch erfolgreich war, jenen Delegierten Mut zu machen, die „ein wenig traurig waren, weil sie mit dem Neuanfang praktisch gleichzeitig die Auflösung beschlossen hatten“58, ist eher unwahrscheinlich. Einige Beteiligte hatten ein ungutes Gefühl. Jene, die den Aufbau einer ÖTV in der DDR als ihr ureigenes Projekt betrachtet hatten, fühlten sich vor den Kopf gestoßen: „Wir brachten von Anfang an immer wieder zum Ausdruck, dass diese Unterstützung nur den Charakter einer Hilfe zur Selbsthilfe haben kann, denn insgesamt betrachtet sind wir sowohl willens als auch fähig, die anstehenden spezifischen Aufgaben und Probleme selbständig zu lösen. (...) Es wurde eine Satzung verabschiedet, die mit dem neu entwickelten Demokratieverständnis unserer Kolleginnen und Kollegen nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann (...) Wir möchten nicht verschweigen, dass in Magdeburg zwar bestimmte koloniale Bestrebungen einiger Funktionäre des geschäftsführenden Hauptvorstandes der ÖTV/BRD durchgesetzt wurden, aber dies ist weder im Interesse der Beschäftigten in der DDR noch der Arbeitnehmer in der BRD.“59
Doch sie täuschten sich in einem entscheidenden Punkt. Das Interesse der überwiegenden Mehrheit der Beschäftigten in der DDR war nicht auf eine eigenständige ÖTV in der DDR gerichtet, sondern auf das Original. Sie wollten die ÖTV (West), und zwar möglichst schnell. Dass dem Gründungskongress nur fünf Initiativgruppen für eine ÖTV in der DDR bekannt waren (Plauen, Berlin, Merseburg, Magdeburg und Feuerwehr), ist ein Indiz dafür. Auch die insgesamt schwache Mitgliederentwicklung lässt auf deutliches Desinteresse schließen. Über den kurzen Sommer der ÖTV in der DDR gibt es folglich wenig zu berichten. Der dreiköpfige hauptamtliche Vorstand war zu eigenständigen gewerkschaftspolitischen 57 Schreiben, Jürgen Angelbeck, ÖTV-Beratungsbüro Halle/S. an ÖTV-Hauptvorstand, VS 6, Zentrales Organisationsbüro vom 04.06.1990, SJS, 4.343. 58 Protokoll des Gründungskongresses der Gewerkschaft ÖTV in der DDR am 09./10. Juni 1990 in Magdeburg, S. 64. 59 Schreiben, Manfred Jank (Sprecher des Arbeitsauschusses Halle, ÖTV in der DDR) an Monika Wulf-Mathies vom 21.06.1990. SJS, 4.319.
Satzungsöffnung und Gründung der ÖTV in der DDR 117
Aktivitäten viel zu schwach. Ihm wurde der Magdeburger Beratungssekretär Bartsch zur Seite gestellt, der im Hintergrund darauf achtete, dass keine Interessenskonflikte zur ÖTV (West) entstanden. Pro forma wurden die Beratungsbüros zu Verwaltungsstellen der neuen Gewerkschaft ernannt, damit Interessierte einen Ansprechpartner hatten. Ein Engagement der Berater in den Bezirken, Mitglieder für dieses kurzzeitige Gebilde zu werben, war unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten. Genaue Zahlen, wie viele Mitglieder bis zum 3. Oktober aufgenommen wurden, sind nicht bekannt. Robert Knauth, der Vorsitzende der ÖTV in der DDR, schätzt, dass es zwischen 40.000 und 50.000 waren. Die gleiche Zahl nennt Willi Mück.60 Ein abschließender Geschäfts- und Finanzbericht liegt nicht vor. Eine eindeutige Bilanz zu ziehen, fällt dementsprechend schwer. Für die einen war das Projekt ÖTV in der DDR „rausgeschmissenes Geld“, für die anderen hat es sich alleine deshalb gelohnt, weil so der Name gesichert wurde. Für Willi Mück war die Gründung dieser Organisation, unabhängig von ihrer realen Mitgliederstärke, der „entscheidende Knüppel“ gegen die Altgewerkschaften. „Sie hat dazu geführt, dass die Altgewerkschaften weich wurden.“61 Rückblickend scheint die ÖTV in der DDR vor allem deshalb nützlich gewesen zu sein, weil sie die Teilnahme der ÖTV (West) an Tarifverhandlungen in der DDR ermöglichte. Die ÖTV konnte kein Interesse daran haben, dass in der DDR noch kurz vor Torschluss Vereinbarungen zwischen FDGB-Gewerkschaften und staatlichen Stellen geschlossen wurden, die bei einer Vereinigung ihrem Tarifgefüge widersprechen würden. Die wenigen Tarifverhandlungen, die noch zu DDR-Zeiten stattfanden, darunter die für den gesamten Öffentlichen Dienst, führte die ÖTV (West) – formal beauftragt von der ÖTV in der DDR. Doch sollten jene nicht vergessen werden, für die die ÖTV in der DDR ursprünglich gedacht war: die Beschäftigten, die mit dem FDGB nichts mehr zu tun haben, sich aber trotzdem gewerkschaftlich organisieren wollten. „Inzwischen wuchs unsere Unzufriedenheit mit der Gewerkschaft Wissenschaft, die sich wie der alte FDGB verhielt. Weil wir nicht mehr einsahen, dass die Kollegen Beiträge für diese Gewerkschaft zahlen sollten, begannen wir, uns nach Alternativen umzusehen. (...) Irgendwann im April habe ich dann Conny Hintz kennengelernt. Conny erzählte mir von der Gründung einer ÖTV in der DDR. (...) Ab Juli waren aus meinem Institut schon wahnsinnig viele Leute Mitglieder in der ÖTV in der DDR.“62
60 Vgl. Interview mit Willi Mück vom 17. Oktober 1992, Dokumentation, S. 339. 61 Ebd. 62 Interview mit Jutta Schmidt vom 26. Februar 1992, Dokumentation, S. 366f.
10. Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften Die Vereinbarung vom 30. Mai 1990 Der gHV hatte am 30. Mai beschlossen, dass die „geeinte ÖTV“ im vereinten Deutschland über eine Satzungsöffnung der ÖTV (West) zum 1. November herbeigeführt werden solle. Die Vorstandsmitglieder der sechs FDGB-Gewerkschaften, die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, die IG Transport, die Gewerkschaft Wissenschaft, die Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der NVA und die Gewerkschaft der Armeeangehörigen, die am gleichen Tag in der Hoffnung nach Stuttgart angereist waren, sie könnten die gewerkschaftliche Einheit in Form von Kooperationsabkommen mitgestalten, wurden bitter enttäuscht. Die Vereinbarung „Auf dem Weg zur geeinten ÖTV“, die ihnen am 30. Mai vorgelegt und von ihnen unterzeichnet wurde, war keine Kooperationsvereinbarung, sondern die Verpflichtung zur Selbstauflösung der FDGB-Gewerkschaften. Sogar das Verfahren wurde in wichtigen Grundzügen festgelegt: „Die Vorstände der o.g. DDR-Gewerkschaften empfehlen ihren zentralen Delegiertenkonferenzen folgendes zu beschließen: a) Die zentrale Delegiertenkonferenz fordert die Mitglieder auf, der Gewerkschaft ÖTV zum 1. November 1990 beizutreten. b) Die zentrale Delegiertenkonferenz beauftragt den Vorstand, die satzungsgemäßen Voraussetzungen vorzubereiten, um die Gewerkschaftseinheit zu verwirklichen.“1
Damit war entschieden, dass es keinen kollektiven Beitritt der FDGBGewerkschaften zur ÖTV geben würde. Eine lang gehegte Vorstellung der FDGBGewerkschaften war vom Tisch. Alles deutet darauf hin, dass die Vorsitzenden von ihren Vorständen gar nicht ermächtigt waren, eine solch weitgehende Verpflichtung zu unterschreiben. Erhebliche Kritik lässt sich für die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen nachweisen: „Die Mehrzahl der ZV-Mitglieder kritisierte die Unterschriftenleistung des Vorsitzenden unter die Vereinbarung mit der ÖTV in der jetzt vorliegenden Form.“2 Die Zustimmung der FDGB-Gewerkschaften zu der Vereinbarung vom 30. Mai lässt sich vor allem mit der zum 1. Juli geplanten Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion erklären und mit der absehbaren Entscheidung der Volkskammer, der Bundesrepublik nach Art. 23 GG beizutreten. Mit diesen bevorstehenden Veränderungen war ein großer Zeitdruck für den Aufbau handlungsfähiger Gewerkschaften entstanden. Auch die FDGB-Funktionäre wussten, dass jetzt „zügig“ gehandelt werden musste. Resignierend antwortete der GSW-Vorsitzende Richard Klatt auf die Frage, warum die Vereinigung mit der ÖTV über Einzelbeitritte vollzogen werde: „Wir schließen uns staatlich nach Paragraph 23 an, also bleibt uns gewerkschaftlich nichts anderes übrig.“3 Dies war jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die FDGB-Funktionäre wussten um den desolaten Zustand ihrer Organisationen. Ihnen war klar, dass ihre Mitglieder darauf 1 2 3
Vereinbarung „Auf dem Weg zur geeinten ÖTV“, 30.05.1990, in: ÖTV-INTERN, 5/90, S. 67. Protokoll der Tagung des Zentralvorstandes der GSW am 21.06.1990, SAPMO, DY 41/535. Es blieb kein anderer Weg: Einig – schneller als gewollt, Tribüne vom 5.06.1990.
120 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess drängten, auf schnellstem Wege Mitglied der ÖTV (West) zu werden. Die „Basisbefragung“ der GÖD hatte ergeben, dass knapp 93 Prozent der abstimmenden Mitglieder für einen direkten Zusammenschluss der GÖD mit der ÖTV „zu einem baldmöglichen Termin“ votierten.4 Wie viele Mitglieder sich an der Befragung beteiligt haben, ist nicht bekannt, doch gibt es keinen Grund, warum der Vorstand ein Interesse daran gehabt haben sollte, die Zustimmung zu einem Beitritt zur ÖTV nach oben zu manipulieren. Der Vorstand der GÖD fühlte sich an dieses Votum gebunden. Ein ähnliches Bild bot sich bei der IG Transport. In seinem Bericht an den Auflösungskongress der IG Transport sprach Biesold davon, dass von ca. 150.000 Mitgliedern 80.000 an der Urabstimmung teilgenommen und davon 98 Prozent für die Vereinigung mit der ÖTV gestimmt hätten.5 Auch hier bleiben Fragen zum Verfahren der Abstimmung. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine Abstimmung durchgeführt werden konnte, die den Ansprüchen an eine Urabstimmung genügt hätte. Zur Abstimmung hatte die IG Transport außerdem nicht den Einzelbeitritt ihrer Mitglieder in die ÖTV, sondern den „gemeinsamen und geordneten Beitritt“ aller Mitglieder gestellt.6 Doch auch in der IG Transport fühlte sich der Vorstand durch das Votum legitimiert, die Mitglieder zum Eintritt in die ÖTV aufzufordern. In der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen hat es den Versuch einer Art Urabstimmung nicht gegeben. Allerdings lässt das Abstimmungsergebnis auf der Zentraldelegiertenkonferenz vom 2./3. Mai auf die große Zustimmung zur Vereinigung mit der ÖTV schließen. Unabhängig von diesen Fragen demokratischer Legitimation bleibt die Feststellung, dass die Vorstände der DDR-Gewerkschaften am 30. Mai keine Möglichkeit mehr sahen, die Unterschrift unter die vorgelegte Vereinbarung über ihre Selbstauflösung zu verweigern.
Wachsende Verärgerung bei den FDGB-Funktionären Es lässt sich nur erahnen, welche Gefühle die FDGB-Funktionäre beschlichen haben müssen, als sie ihre Unterschriften unter ihre Selbstauflösungsverpflichtung setzten. Schon im Vorfeld hatte sich Verärgerung über das Vorgehen der ÖTV ausgebreitet, das sogar von Teilen der ÖTV selbst als „kolonialistischer Eingriff“ gewertet wurde. Besonders durch die Entscheidung des ÖTV-Hauptvorstandes, eine ÖTV in der DDR aufzubauen, ohne die FDGB-Gewerkschaften zu beteiligen, fühlten sich die FDGBGewerkschafter vor den Kopf gestoßen. Sogar die besonders bemühte IG Transport hatte protestiert: Ihr Vorsitzender Biesold teilte Wulf-Mathies mit, dass in seiner Organisation und im Zentralvorstand mit „Widerspruch und Unverständnis zur Bildung einer ÖTV in der DDR“ reagiert werde.7 Die IG Transport wollte „am 1.6. mit einer Urabstimmung aller Mitglieder“ ein Votum für das Zusammengehen mit der ÖTV einholen und den „Antrag auf Fusion der Gesamtorganisation mit der ÖTV per 1.7.1990“ stellen.8 Dieser 4 5 6 7 8
Ergebnis der Basisbefragung, in: die aktuelle, 6’90. Vgl. Ablauf des Kongresses am 29.09.1990, 3. Bericht des Zentralvorstandes der IG Transport, (handschriftliche Mitschrift), SAPMO, DY 50/1626. Flugblatt, Urabstimmung, o. D., SJS, 4.672. Schreiben, Karl-Heinz Biesold an Monika Wulf-Mathies vom 28.05.1990, SJS, 4.34. Beschlussprotokoll der 2. Zentralvorstandssitzung der IG Transport vom 22. und 23. Mai 1990 in Güsen, SJS, 4.665.
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 121
am 22. Mai gefasste Beschluss ist ein anschaulicher Beleg für die Stimmungslage bei den FDGB-Gewerkschaften, auch wenn er die Möglichkeiten der IG Transport erheblich verkannte. Eine Fusion mit der ÖTV konnte sie nicht durchsetzen. Auch sie musste am 30. Mai die Verpflichtung zur Selbstauflösung unterschreiben. In der GÖD mehrten sich die Anzeichen, dass man mit dem Vorgehen der ÖTV zunehmend unzufrieden war. Das fing mit der gescheiterten Kooperationsvereinbarung an und gipfelte in der Gründung der ÖTV in der DDR. Die GÖD hätte zwar an einer solchen Gründung Gefallen finden können, jedoch keineswegs in der von der ÖTV (West) vorgegebenen Form.9 Ihre Hoffnungen, sie könne der ÖTV in der DDR kollektiv beitreten und dann über diesen Umweg in die geeinte ÖTV gelangen, zerschlugen sich. Der GÖD wie auch den anderen Gewerkschaften wurde beschieden, sie mögen der ÖTV in der DDR fernbleiben. Die Selbstauflösungsverpflichtung muss die GÖD besonders hart getroffen haben. Sie hatte bereits geplant, sich auf der am 8./9. Juni stattfindenden Zentraldelegiertenkonferenz als erneuerte Gewerkschaft zu präsentieren und demokratisch bestätigen zu lassen. Stattdessen musste sie nun die Zustimmung der Delegierten zur Selbstauflösung einholen. In der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, die mit ihrem neuen Vorsitzenden Richard Klatt einen Befürworter der Kooperation mit der ÖTV erhalten hatte, wuchs die Verstimmung über die Art und Weise, wie die ÖTV sich gegenüber den erneuerten FDGB-Gewerkschaften verhielt, ebenfalls stetig. Um den Unmut der FDGB-Gewerkschaften zu besänftigen und sie in den Aufbauprozess der einheitlichen ÖTV mit einzubeziehen, wurde zunächst eine weitere Vereinbarung zwischen der ÖTV und den FDGB-Gewerkschaften geschlossen. Es wurde dort u.a. die Bildung gemeinsamer Ausschüsse auf Vorstandsebene verabredet, die den Übergang zur ÖTV organisatorisch und inhaltlich regeln sollten.10 Damit konnten die FDGBGewerkschaften auf eine halbwegs angemessene Beteiligung hoffen. Es kam jedoch umgekehrt. Das Fass der Verstimmung zum Überlaufen brachte die 1. Sitzung des Organisationsauschusses.
1. Sitzung des zentralen Organisationsausschusses am 18. Juni 1990 Am 18. Juni fand die erste Sitzung des zentralen Organisationsausschusses statt. Die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der ÖTV, Willi Mück und Wolfgang Warburg, leiteten die Sitzung. Hier erfuhren die FDGB-Gewerkschaftsvertreter, wie sich die ÖTV die nächsten Schritte zur Bildung der einheitlichen ÖTV am 1. November konkret vorstellte. Es scheint, als erkannten sie erst jetzt, auf welches Verfahren sie sich eingelassen hatten. Geklärt werden sollten Fragen des Verhältnisses der ÖTV in der DDR zu den bestehenden Gewerkschaften, die Anerkennung der Vormitgliedszeiten in FDGBGewerkschaften durch die ÖTV und Personalfragen. Außerdem wurden von der ÖTV Formblätter für eine Bestandsaufnahme der DDR-Gewerkschaften vorgelegt. Die wirklich heikle Frage war der zukünftige Umgang mit den hauptamtlich Beschäftigten der FDGB-Gewerkschaften. Hierzu erklärten die ÖTV-Vertreter, dass eine Fusion der Organisationen nicht stattfinden könne, 9 Beschlussprotokoll über die Sekretariatssitzung der GÖD am 19.04.1990, SAPMO, DY 45/1589. 10 Vereinbarung über die Bildung einer gemeinsamen Kommission vom 11.06.1990, ÖTVINTERN, 5/90. S. 70f.
122 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess „und die Gewerkschaft ÖTV auch keine Rechtsnachfolge für die Gewerkschaften der DDR antreten wird. Demzufolge kann es auch keinen Personalübergang geben.“
Damit in diesem Punkte keine Missverständnisse aufkommen konnten, hieß es noch zusätzlich: „Die Gewerkschaft ÖTV kann den Beschäftigten der Gewerkschaften der DDR keine Einstellungszusagen machen.“11
Jedoch gelte selbstverständlich für DDR-Kollegen wie für andere Kollegen auch, dass sie sich auf vakante Stellen bewerben könnten. Sobald die Mitgliederzahlen bekannt seien, würden die Angebote für Planstellen in der DDR öffentlich in der Mitgliederzeitschrift ausgeschrieben und im Wege des satzungsgemäßen Einstellungsverfahrens vergeben. Allerdings folgte die unklare Bemerkung: "Ob und gegebenenfalls welche ehemaligen Beschäftigten der DDR-Gewerkschaften ein (neues) Beschäftigungsverhältnis mit der Gewerkschaft ÖTV begründen, ist in jedem Einzelfall zu prüfen und zu beraten."12
Sie empfahl den FDGB-Gewerkschaftern „dringend“, eine Personalplanung zur Auflösung aller Arbeitsverhältnisse zu entwickeln und konsequent umzusetzen. Um dies „sozialverträglich“ zu gestalten, solle sie aus dem Vermögen einen Sozialfonds bilden. Die Vertreter der DDR-Gewerkschaften erklärten, dass diese Vorgaben auf Akzeptanzprobleme bei ihren Kolleginnen und Kollegen stoßen würden. Rainer Lorenz, Vorstandsmitglied der GÖD, meinte, die Kündigung der hauptamtlichen Gewerkschaftsangestellten berücksichtige nicht, „dass der Prozess der Mitgliedergewinnung ohne Funktionäre oder mit gekündigten Mitarbeitern nicht läuft bzw. erhebliche Probleme entstehen, unsere Mitglieder ständige Hilfe und Unterstützung vor Ort (...) fordern, (...).“13
Der Vorstand der GSW wollte sich vor allem nicht mit dem Einzelbeitritt seiner Mitglieder in die ÖTV abfinden. Dies sei für ihn „die schlechteste Variante“. In einem Kritikpapier wurden die negativen Auswirkungen dieses Verfahrens detailliert aufgelistet: „ (...) 1. Demoralisierung für alle GSW-Mitglieder, insbesondere die haupt- und nebenamtlich Tätigen. 2. Mitgliederverlust: Viele Mitglieder werden keinen neuen Aufnahmeantrag stellen. 3. Es gibt Andeutungen, nach denen die ÖTV nicht bereit ist, die Zeit der bisherigen Mitgliedschaft unserer Mitglieder voll anzuerkennen. 4. In der Vorbereitungskommission befinden sich unsere Vertreter in der Position von Bittstellern. 5. Das Eigentum unserer Gewerkschaft müsste als eine Art Schenkung abgegeben werden. 6. Soll so auch mit den Kassen der GO verfahren werden? 7. Die hauptamtlichen Mitarbeiter werden bezüglich ihres Arbeitsplatzes völlig verunsichert. 8. Neuwahlen auf allen Ebenen. 9. Möglicherweise keine Vertretung der DDR-Gewerkschafter in den Leitungsgremien.“14
11 Ergebnisprotokoll über die 1. Sitzung des Organisationsausschusses, 22.06.1990, Anlage zum Protokoll, gHV-Sitzung vom 22.06.1990, SJS, 1.22. 12 Ebd. 13 Hauptaussagen aus der Beratung des Organisationsausschusses in Stuttgart am 18. Juli 1990, SAPMO, DY45/1636.
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 123
Der GÖD-Vorstand schlug vor, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Unter anderem sollte ein Flugblatt unter dem Motto: „Wollt ihr Duckmäuser oder aufrechte Mitarbeiter?“ erstellt und Wulf-Mathies aufgefordert werden, erneut „in Verhandlungen über einen Kooperationsvertrag einzutreten.“15 Das Flugblatt wurde nicht erstellt und auch von erneuten Verhandlungen ist nichts bekannt. Bekannt ist jedoch, dass es schwierig war, alle FDGBGewerkschaften unter einen Hut zu bekommen. Böses Blut gab es auch in der Frage der Anerkennung von Mitgliedschaftszeiten im FDGB. Ideelles vermischte sich hier mit Materiellem. ÖTV-Mitglieder erhielten, gestaffelt nach Mitgliedsjahren, beim Ausscheiden aus dem Berufsleben ein so genanntes „Treuegeld“. Die Anrechnung von Vormitgliedschaften hätte sich für FDGB-Mitglieder hier entsprechend ausgewirkt. Die ÖTV war zwar bereit, die Mitgliedsjahre im FDGB anzuerkennen, wollte bei der Höhe des Leistungsanspruchs aber nur eine „schrittweise Angleichung“ an das Niveau der Bundesbürger gewähren. Dieser Vorschlag löste bei seinem Bekanntwerden einen Sturm der Entrüstung aus. Die Ost-Gewerkschafter sahen darin eine ideelle Kränkung und fühlten sich als „Mitglieder 2. Klasse“ behandelt. Umgekehrt war es für West-Gewerkschafter nur schwer verständlich, warum Mitgliedszeiten in der „Massenorganisation der SED“ von einer freien Gewerkschaft der Bundesrepublik anerkannt werden sollten. Dies erschien umso fraglicher, als die Einschätzung, der FDGB sei gar keine richtige Gewerkschaft gewesen, bei den FDGB-Leuten selbst bereits zum Allgemeingut geworden war. Die West-Mitglieder der ÖTV fragten sich kopfschüttelnd: „Wie kann ich von den DGB-Gewerkschaften verlangen, die Treue zum FDGB anzuerkennen?“16 Auf dem ersten Treffen des Organisationsausschusses war es der ÖTV ein besonderes Anliegen, verbindliche Absprachen zu treffen, wie und wann sie konkrete Angaben über den Zustand der FDGB-Gewerkschaften erhalten könne. Es war allgemein bekannt, dass die FDGB-Gewerkschaften über keine auch nur halbwegs verlässlichen Zahlen verfügten. Die ÖTV überreichte den Kollegen aus der DDR eine „Arbeitshilfe“ für eine systematische Bestandsaufnahme, die jedoch nur weiteren Ärger provozierte. Die ÖTV wollte umfassende Angaben über Personal, Büros, Finanzen, Vermögen und Mitgliederbestand, Organisations- und Verwaltungsstrukturen, Vergütung und Leistungen, Organe, Gremien, Geschäftstellen, Einrichtungen, etc.. Besonders das Formular eines Personalfragebogens und der darin angeschlagene bürokratische Ton, erregten die Gemüter: „1. Es werden keine neuen Organisations- und Verwaltungsstrukturen mehr gebildet. Im Gegenteil. Die vorhandenen Strukturen sind abzubauen. 1.1. Vorhandene Verträge (Büroräume, Maschinen etc.) kündigen. 1.2. Personalplanung / Auflösung aller Arbeitsverhältnisse / Sozialfonds aus Vermögen für Sozialpläne bilden. 2. Es wird keine eigenständige Mitgliederbestandsverwaltung (MIBEV) aufgebaut. 2.1. MIBEV wird auf die Gewerkschaft ÖTV übertragen.“17
Man erwarte den „Rücklauf der Fragebögen bis zum 29.6.“ Das klang nun wahrlich nicht nach kollegialer Zusammenarbeit, sondern eher wie eine Anweisung.
14 Kritik an Vereinbarung „Auf dem Weg zur geeinten ÖTV“ (18.06.1990, Ms. o. N.), SAPMO, DY 41,535. 15 Ebd. 16 Interview mit Margareta Fohrbeck vom 18. Juni 1991, Dokumentation, S. 258. 17 Gewerkschaft ÖTV, VS 6, Arbeitsunterlagen zu Ziff. 4 der Vereinbarung ‚Auf dem Weg zur geeinten ÖTV’ vom 30.05.1990, Stuttgart, 11. Juni 1990, SMS.
124 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Schon vor der Tagung des Organisationsausschusses hatte sich in allen Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes der DDR Unmut über die Behandlung durch die ÖTV und „ihre derzeit betriebene Einvernahmepolitik“ angestaut. Sie waren sich nun einig, das Vorgehen der ÖTV nicht länger widerspruchslos hinzunehmen. Sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen, war jedoch nicht einfach. Besonders die Einbindung der IG Transport, der es gelungen war, eine Kooperationsvereinbarung mit der ÖTV abzuschließen, und die sich ihre bevorzugte Behandlung nicht verscherzen wollte, bereitete Schwierigkeiten. Bevor es zu einer Verständigung kam, reisten die Vorsitzenden der sechs FDGB-Gewerkschaften zur Kommissionssitzung am 25. Juni nach Stuttgart. Das gab ihnen nochmals Gelegenheit, ihre Kritik und ihre Bedenken am Verfahren der Einigung vorzutragen. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Verhandlungsposition gegenüber der ÖTV jedoch bereits so geschwächt, dass ihre Kritik kein Gehör fand. Obendrein waren sie gezwungen, eine Verpflichtung zu unterschreiben, „dass alle Beschäftigungsverhältnisse durch die DDR-Gewerkschaften bis spätestens 31. Oktober 1990 beendet werden.“18 Besonders für jene, die der Vorstellung anhingen, sie könnten als gleichberechtigte Partner der ÖTV die gewerkschaftliche Vereinigung mitgestalten, dürften die Verhandlungsergebnisse ernüchternd, wenn nicht sogar demütigend gewesen sein. Die FDGBGewerkschaften schlossen sich daraufhin zu einer Notgemeinschaft zusammen, um den Aufstand gegen die ÖTV zu proben.
Presseerklärung der FDGB-Gewerkschaften vom 4. Juli Am 4. Juli traten die beiden Vorsitzenden Günter Eiselt (Wissenschaft) und Richard Klatt (GSW) vor die Presse und kritisierten im Namen aller Vorsitzenden der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes und der Transportgewerkschaft der DDR scharf die bisherigen Verhandlungsergebnisse und den Verhandlungsverlauf: Sie äußerten die Vermutung, „dass es einzelnen Vertretern des geschäftsführenden Vorstandes der ÖTV weniger um die Interessenvertretung geht als vielmehr um die Aufnahme in Beschäftigung stehender Mitglieder. Sie setzten demokratisch gewählte Gewerkschafter aller Ebenen mit dem alten FDGB-Klüngel gleich.“
Sie befürchteten, dass am Tag nach der Satzungsöffnung ein gewerkschaftliches „Vakuum vorprogrammiert“ sei, das der Interessenvertretung schade. Sie verwiesen auf die Unruhe unter ihren Mitgliedern über die ungeklärten Fragen zur „vollwertigen Mitgliedschaft“. Sie forderten, dass, nachdem ihre Mitglieder „endlich Demokratie erfahren“ hatten, sie diese auch beim Zusammenwachsen der Gewerkschaften „gewahrt wissen“ wollten. Sie wollten die Brücken zur ÖTV jedoch nicht gänzlich abbrechen und schlugen abschließend versöhnliche Töne an. So sollte die „gute und kameradschaftliche Zusammenarbeit, die sich auf vielen Ebenen zwischen ÖTV und unseren Gewerkschaften entwickelt hat,“ fortgesetzt und an der Vereinbarung zur Herstellung der Gewerkschaftseinheit vom 30. Mai festgehalten werden.19 18 Formlose Erklärung vom 25. Juni 1990 mit Unterschriften der Vorsitzenden aller sieben DDRGewerkschaften und der Vorsitzenden der ÖTV, SJS, 4.507. 19 Vorsitzende der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes erwarten von der ÖTV-Spitze konstruktive Zusammenarbeit. Presseerklärung, 04.07.1990, Informationsdienst der Gewerkschaft Wissenschaft, SJS, 4.498.
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 125
Letzteres klingt widersprüchlich, denn tatsächlich hatten sie keine sang- und klanglose Auflösung ihrer Organisationen gewollt, sondern eine Fusion mit der ÖTV angestrebt. Dass sie nun beteuerten, an der Vereinbarung vom 30. Mai festhalten zu wollen, macht deutlich, dass sie sich mit dieser Verpflichtung abgefunden hatten oder hatten abfinden müssen. Es macht aber auch deutlich, wie schwach der Protest der FDGBGewerkschaften – von der Außenwirkung einmal abgesehen – inhaltlich war. Mit dem Festhalten an der Vereinbarung vom 30. Mai blieb letztlich auch das Hauptärgernis der FDGB-Gewerkschafter bestehen, nämlich die Weigerung der ÖTV, die hauptamtlichen Funktionäre zu übernehmen. Dieser Ärger wurde nicht mit dem verständlichen individuellen Interesse an einer Weiterbeschäftigung begründet, sondern weil damit angeblich die Interessenvertretung ihrer Mitglieder nicht mehr gewährleistet werden könne. Diese Presseerklärung blieb nicht unbeachtet. Das Handelsblatt berichtete neutral, aber unter falscher Überschrift „Streit um Formierung der DDR-ÖTV“. Um eine DDRÖTV ging es gerade nicht, sondern es ging um die Formierung der Gesamt-ÖTV. Hingegen polemisierte ausgerechnet die Tribüne unter der Schlagzeile „Schüsse auf die ÖTV“ gegen die Haltung der FDGB-Gewerkschafter. Zusammenfassend hieß es: „Was also steht tatsächlich auf dem Spiel, wenn man das Feld der ÖTV überlässt? Mehr als Gewerkschaftsposten, die in ein paar Monaten sowieso flöten sind?“20
2. Sitzung des zentralen Organisationsausschusses am 10.Juli So gelassen wie die Tribüne konnte die ÖTV-Führung die Presseerklärung der FDGBGewerkschaften nicht nehmen. Am 10. Juli trat der Organisationsausschuss erneut zusammen. Warburg eröffnete die Sitzung und nahm Stellung zum Tagesordnungspunkt „Zusammenarbeit gestört, Materialien zur Bestandsaufnahme nicht vorgelegt.“ Sollten die Äußerungen auf der Pressekonferenz sich als richtig bestätigen, „müsse die Vertrauensbasis als gestört angesehen werden“. Außerdem könne die Grundsatzdebatte über mögliche Organisationsstrukturen nicht stattfinden, da die DDR-Gewerkschaften die zugesagten Materialien für die Bestandsaufnahme nicht abgegeben hätten. Für ihn stelle sich damit grundsätzlich die Frage: „Sind wir noch gemeinsam auf dem Wege der getroffenen Vereinbarungen?“ Die Vertreter der FDGB-Gewerkschaften erklärten übereinstimmend, dass es auch ihrerseits Irritationen gegeben hätte. Sie verwahrten sich gegen Behauptungen, ihre Grundorganisationen würden sich auflösen, und forderten dringend Klarheit und Konsens in einer Reihe von Fragen. Dies betraf insbesondere die Rechtsnachfolge der abgeschlossenen Tarifverträge, die betriebliche Gewerkschaftsarbeit, die Qualifizierung für Betriebs- und Personalratsmitglieder, den Rechtsschutz und die volle Anrechnung der Vormitgliedschaftszeiten beim FDGB. Besondere Aufmerksamkeit der ÖTV weckte die Information, in der IG Transport werde diskutiert, „einen eigenständigen starken Transportarbeiterverband zu bilden.“ Für die ÖTV-Seite konterten die Bezirksleiter von Niedersachsen und BadenWürttemberg, Fricke und Arndt, mit Hinweisen auf Reaktionen von ÖTV-Mitgliedern im Westen. Die Pressekonferenz habe erheblichen Unwillen hervorgerufen und zu der Forderung geführt, „jetzt unverzüglich ohne die DDR-Gewerkschaften den Organisationsaufbau lediglich mit der BRD-ÖTV zu organisieren.“ Die „Grenzen des Schmerzes“ 20 Tribüne vom 5. Juli 1990.
126 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess seien überschritten worden. Es stelle sich die Frage, ob es noch „einen Sinn ergibt, auf dem vereinbarten Weg weiterzuarbeiten.“ Das Protokoll vermittelt den Eindruck, als hätte die ÖTV ziemlich hoch gepokert, denn sie konnte sich nicht ernsthaft wünschen, die geschlossenen Vereinbarungen platzen zu lassen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sie die Schwäche der anderen Seite realistisch einschätzte. Die Antwort der Kollegen aus den FDGB-Gewerkschaften bestätigt dies. Sie griffen die ÖTV nicht weiter an, sondern begannen die Pressekonferenz ihrer Vorsitzenden zu relativieren. So seien nachweislich nicht alle Gewerkschaften vertreten gewesen, die Presse habe die Erklärung verfälscht und der Artikel in der Tribüne sei „ferngelenkt“ gewesen. Warburg genügte diese Erklärung nicht. Es gäbe zwar volles Verständnis für „Nervositäten“, nicht „jedoch für die ganz offenbar gezielt erhobenen Anwürfe und beleidigenden Unterstellungen.“ Damit hatte sich die Diskussion zum Thema Pressekonferenz erschöpft. Konsequenzen mussten offensichtlich nicht abgeleitet werden. Ein Eklat konnte aber vielleicht auch deshalb vermieden werden, weil die Vertreter der FDGB-Gewerkschaften trotz ihrer Kritik beteuerten, weiter „voll“ zur Vereinbarung vom 30. Mai zu stehen. Der Organisationsausschuss wandte sich jedenfalls – als wäre nichts geschehen – den anstehenden praktischen Organisationsfragen zu. Auch hier gab es erhebliche Kritik seitens der FDGB-Kollegen. Die Umwege beim Aufbau der Organisationsstrukturen seien hemmend, die FDGB-Gewerkschaften würden ausgeschlossen, und es gäbe keine Informationen über die Bildung von Organisationsausschüssen. Damit waren die örtlichen Ausschüsse in den 14 Bezirkshauptstädten gemeint, die vor allem den Aufbau der zukünftigen ÖTV-Kreisverwaltungen organisieren sollten. Mit dem Hinweis darauf, dass der demokratische Aufbau ihrer Organisationen zwischenzeitlich abgeschlossen werden konnte, forderten sie „namens und im Auftrag ihrer Zentralvorstände eine Beteiligung am Aufbau der Organisationsstrukturen“. Diese Kritik zielte nicht nur auf die Beteiligung an den vereinbarten Organisationsausschüssen, sondern auch auf das Maß des Einflusses, der den FDGB-Gewerkschaften zugestanden werden sollte. Es war beabsichtigt, diese Ausschüsse im September zu bilden. Im Grunde ging es auch hier wieder um die Weiterbeschäftigung der hauptamtlichen Funktionäre. Warburg entgegnete hierzu, dass die Einstellungen satzungsgemäß nach dem 1. November erfolgen würden und Beschäftigte der FDGB-Gewerkschaften davon grundsätzlich nicht ausgeschlossen seien, „sofern sie schriftlich erklären können, dass sie nicht für den Staatssicherheitsdienst tätig waren.“ Abschließend erstatteten die FDGB-Gewerkschaften noch Bericht über den aktuellen Stand der Kündigung ihrer hauptamtlichen Kollegen, zu der sie sich in der Vereinbarung vom 25. Juni verpflichtet hatten. Bei den kleineren Gewerkschaften, wie bei der Gewerkschaft der Armeeangehörigen und der Zivilbeschäftigten, gab es keine Probleme. Schwierigkeiten gab es bei der Gewerkschaft GÖD, der GSW, der Wissenschaft und der IG Transport: Wolfgang Mallok, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Wissenschaft, führte aus: „Ich habe moralische Skrupel bei der Durchsetzung dieses Auftrags. Es gibt wegen dieser Maßnahme erhebliche Widerstände im Zentralvorstand. Unsere ehrenamtlichen KollegInnen stellen die Frage, ob eine solche radikale Maßnahme sich mit gewerkschaftlichem Selbstverständnis vereinbaren lässt.“
Bei den Beschäftigten herrsche Unverständnis darüber, „dass die BRD-Gewerkschaften von den Gewerkschaften in der DDR fordern, so mit ihren Beschäftigten umzugehen.“
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 127
Rainer Lorenz, Vorstandsmitglied der GÖD, berichtete, dass seine Gewerkschaft die Kündigungen mitgeteilt und bereits mit dem „Sprecherrat“ des FDGB einen Sozialplan erarbeitet habe. Sowohl von ehrenamtlichen als auch von hauptamtlichen Kollegen gäbe es jedoch „ganz massive Proteste“. Peter Herold, Vorstandsmitglied der GSW, informierte den Ausschuss, dass es Proteste aus den Grundorganisationen gegen die Kündigung von „neu eingestellten, unbelasteten Hauptamtlichen“ gäbe. Besonders befähigte Kollegen hätten sich bereits eine andere Arbeit gesucht. „95% der ehrenamtlichen Hauptvorstandsmitglieder zeigen wenig Verständnis für diese Maßnahmen.“ Auch habe die DAG mehreren Bezirksstellenleitern „sehr günstige Angebote auf Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis unterbreitet.“ Andreas Heß, Vorstandsmitglied der IG Transport, verbreitete mit seinen Ausführungen Ratlosigkeit: Sein Vorstand habe über die bevorstehenden Kündigungen informiert, jedoch habe der ehrenamtliche Zentralvorstand „ein Verbot ausgesprochen, dem Personal zu kündigen.“ Welche Bedeutung dies habe, dazu machte er keine Angaben. Insgesamt schien es jedoch, als würden sich die Vorstände der FDGB-Gewerkschaften an die Vereinbarung halten und sich der schwierigen Aufgabe der Entlassung von Beschäftigten annehmen. Bekannt war, dass sie Sozialpläne erarbeiteten und ihren Beschäftigten „Hilfen für anderweitige Unterbringung“ anboten. Am Ende der Sitzung wurde von den FDGB-Kollegen ihre Bereitschaft signalisiert, weiter konstruktiv am Aufbau der geeinten ÖTV mitzuarbeiten, indem sie zusicherten, die Informationen über den Bestand ihrer Organisationen „bis 20. Juli 1990 an den Hauptvorstand der ÖTV zu schicken.“21
Tarifverhandlungen des Öffentlichen Dienstes Mit der Bekanntgabe der Einigung über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ergab sich die Notwendigkeit, die Arbeits- und Einkommensbedingungen für die Beschäftigten in Tarifverträgen zu regeln, bzw. die existierenden Regelungen der RKV und BKV in Tarifverträge zu überführen. Im Bereich des Öffentlichen Dienstes gab es für die Gewerkschaften zunächst jedoch keinen Ansprechpartner. Öffentliche Arbeitgeberverbände hatten sich in der DDR noch nicht gebildet. Verhandlungen der GÖD mit DDRRegierungsvertretern waren am 22. Juni an der Unklarheit von Zuständigkeiten und Kompetenzen gescheitert. Ähnlich verliefen die Gespräche mit ihnen am 2. Juli. Schließlich wurde der „Minister im Amt des Ministerpräsidenten“, Klaus Reichenbach, zum zuständigen Ansprechpartner für die Gewerkschaften ernannt. Einen Tag vor der Pressekonferenz der FDGB-Gewerkschaften am 4. Juli schrieb der Vorsitzende der GÖD, Jürgen Kaiser, einen vierseitigen, engzeilig beschriebenen Brief an den Ministerpräsidenten der DDR de Maizière, in dem er seine Vorstellungen zum Weiterführen der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in allgemeiner Form unterbreitete. Er trug darin die Bitte vor, de Maizière möge veranlassen, dass die ausgesetzten Tarifgespräche „ohne weiteren Zeitverzug“ wieder aufgenommen würden.22 Tatsächlich war Eile geboten, denn in Teilbereichen des Öffentlichen Dienstes – wie bei der Stadtreinigung in Ost-Berlin – war es bereits zu ersten Streiks 21 Alle Zitate aus: Thematisches Ergebnisprotokoll, Sitzung des Organisationsausschusses DDR am 10. Juli 1990 in Stuttgart, SMS. 22 Schreiben GÖD – Zentralvorstand an Ministerpräsident der DDR de Maizière vom 03.07.1990, SJS, 6.76.
128 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess gekommen. Auch in anderen Bereichen und Städten wurden betriebliche und lokal begrenzte Vergütungsvereinbarungen auf Druck der Belegschaften abgeschlossen. Der große Tarifbereich Öffentlicher Dienst mit 1,7 Millionen Beschäftigten drohte in eine unüberschaubare Anzahl lokaler und betrieblicher Bestandteile mit je eigenen Tarifverträgen auseinanderzufallen. Doch weder die Vorschläge des Vorsitzenden der GÖD noch die Form des Briefes an den Ministerpräsidenten der DDR dürften den Vorstellungen der ÖTV entsprochen haben. Dass die GÖD ihr Vorgehen nicht mit der ÖTV abgesprochen hatte, wurde in Stuttgart als nicht hinnehmbare Eigenmächtigkeit verstanden. Umgekehrt waren die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes der DDR noch nicht gewillt zu akzeptieren, dass mit ihrer Verpflichtung zur Selbstauflösung auch ihre Selbständigkeit dahin war. Die ÖTV war alarmiert. Nicht zu Unrecht beanspruchte sie eine Mitsprache bei den Tarifverhandlungen in der DDR – gerade mit Blick auf die Auswirkungen auf das in Kürze absehbare gemeinsame Tarifgebiet im vereinten Deutschland. Sie beanspruchte jedoch nicht nur eine Mitsprache, sondern die Tarifführerschaft. Die FDGBGewerkschafter reagierten gekränkt. Das mag zum einen daran gelegen haben, dass die FDGB-Gewerkschafter dieses in der Bundesrepublik geläufige Instrument der Tarifverhandlungen, bei denen mehrere Organisationen beteiligt sind, missverstanden, und zum anderen daran, dass sie den Anspruch der ÖTV auf Tarifführerschaft nicht akzeptierten. Diese Irritation oder Kränkung bildete den unausgesprochenen Hintergrund der öffentlichen Kritik an der ÖTV in der Pressekonferenz am 4. Juli. In der Sitzung des Organisationsausschusses vom 10. Juli wollten FDGB-Gewerkschafter wissen, ob es stimme, dass die ÖTV mit dem Minister Reichenbach eine Vereinbarung getroffen habe, wonach die ÖTV „die Tarifautonomie für sich allein in Anspruch nimmt“. Wolfgang Warburg beschied ihnen, dass die ÖTV „im Rahmen der Tarifautonomie die Tarifführerschaft für den Öffentlichen Dienst“ fordere.23 Es sollte noch vier Wochen dauern, bis die FDGB-Gewerkschaften bereit waren, eine solche Tarifführerschaft der ÖTV zu akzeptieren. Erst am 6. August konnte die ÖTVVorsitzende Minister Reichenbach mitteilen, dass sie mit den sieben FDGBGewerkschaften im Bereich Öffentlicher Dienst Einvernehmen dahingehend erzielt habe, der ÖTV „die Feder- und Verhandlungsführung für die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst zu übertragen“.24 Gewissermaßen eigenmächtig und im Vorgriff auf ihre Rolle als Tarifführer hatte sie bereits am 24. Juli 1990 Reichenbach die Entgeltforderungen der ÖTV mitgeteilt: „als Sofortmaßnahme die Anhebung der Einkommen um monatlich 350.- DM und einen Sozialzuschlag von 50.- DM pro Kind, (...) mindestens jedoch eine Erhöhung der Monatslöhne und Gehälter um 30%.“25
Die ÖTV wollte auf die Empfindlichkeiten der FDGB-Gewerkschaften keine Rücksicht mehr nehmen, da sie die Erwartungen der Beschäftigten auf Ergebnisse der Tarifverhandlungen nicht länger enttäuschen wollte. Willi Hanss zufolge waren diese Forderungen jedoch auch eine Reaktion auf vorangegangene unabgesprochene Forderungen der FDGB-Gewerkschaften, die von der ÖTV als „Putschversuch“ gewertet worden waren.
23 Sitzung des Organisationsausschusses DDR am 10. Juli 1990, a.a.O. 24 Schreiben, Monika Wulf-Mathies und Willi Hanns an Klaus Reichenbach, Minister im Amt des Ministerpräsidenten, vom 6. August 1990, SJS, 6.78. 25 Schreiben, Monika Wulf Mathies an Klaus Reichenbach vom 24. Juli 1990, SJS, 6.77.
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 129
„Die fünf Gewerkschaften, mit denen wir verbunden waren, haben vorbei an uns Tarifforderungen erhoben.“26 Die ÖTV war über das Aufbegehren der FDGB-Gewerkschaften derart verstimmt, dass sie es ablehnte, die publizistische Kampagne zu den Tarifverhandlungen gemeinsam mit den FDGB-Gewerkschaften zu führen. Nur die ÖTV in der DDR durfte in den Tarifinformationen als Verantwortliche neben der ÖTV genannt werden. Da die FDGBGewerkschaften noch nicht einmal annährend in der Lage waren, eine wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, konnte die ÖTV – bevorzugt durch ihre Rolle als Tarifführer – die öffentliche Aufmerksamkeit ganz auf sich lenken. In den Medien der DDR wurde nur die ÖTV als Akteur wahrgenommen. Nach schwierigen Verhandlungen konnte am 4. September ein Ergebnis erzielt werden, das u.a. eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 200.-DM und 50.-DM Kindergeld vorsah.27 Das Neue Deutschland behandelte das Ergebnis der Tarifverhandlungen unter der Schlagzeile: „ÖTV erfolgreich.“28 Dies sah die ÖTV ähnlich: „Ich behaupte, dass diese Kampagne ein ganz entscheidender Punkt war für das Vertrauen, das die ÖTV gewonnen hat.“29 Die erzielten Lohn- und Gehaltserhöhungen betrugen gemessen an den Vergütungen in der Bundesrepublik vielleicht nur bescheidene 50 Prozent. Doch bezogen auf das DDR-Niveau und den von der Regierung angebotenen 120.-DM plus 30.-DM Kindergeld, sowie vergleichbaren Abschlüssen im privaten Sektor – die HBV konnte für die Beschäftigten des Konsum nur 150.-DM durchsetzen – waren sie beispielgebend. Entscheidend war jedoch, dass dieser Abschluss durch die Einbeziehung des Innenministers der Bundesrepublik, der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VkA) Gültigkeit über den Tag der deutschen Vereinigung hinaus erhielt. Die Beschäftigten der DDR waren damit in das Tarifgefüge der Bundesrepublik aufgenommen. Die kurze Laufzeit des Tarifvertrages bis zum 31. Mai 1991 versprach außerdem, dass eine weitere stufenweise Angleichung an das Vergütungsniveau der Bundesrepublik absehbar war. Zugesagt war außerdem, dass Verhandlungen zum Schutz vor Arbeitslosigkeit und über manteltarifvertragliche Regelungen aufgenommen würden. Dieses Ergebnis wurde erzielt, als in der Presse bereits horrende Zahlen über den Abbau von Arbeitsplätzen im Öffentlichen Dienst der DDR diskutierte wurden. Die Berliner Zeitung spekulierte über den Abbau von 800.000 bis zu einer Million Beschäftigten.30 Die Tribüne wertete dieses Ergebnis zutreffend mit der Zeile: „ÖTV: Tarifvertrag sichert vorerst den sozialen Frieden.“31
Nachspiel zur Presseerklärung vom 4. Juli Mit der Sitzung des Organisationsausschusses am 18. Juni hätten die gegenseitigen Irritationen ausgeräumt sein können. Doch die Vorsitzende der ÖTV wollte die in der Pressekonferenz formulierten Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. Es kam zu einem Nachspiel. Sie wandte sich mit einem vierseitigen Brief an Klatt und die anderen Vorsitzenden 26 Interview mit Willi Hanss vom 18. Juni 1992, Dokumentation, S. 274. 27 Vgl. Tarifinformation Nr. 5 für die Mitglieder im Öffentlichen Dienst der DDR, Unser Einsatz hat sich gelohnt, ÖTV und ÖTV in der DDR, o.D. 28 Neues Deutschland vom 5. September 1990. 29 Interview mit Willi Hanss vom 18. Juni 1992, Dokumentation, S. 275. 30 Öffentlicher Dienst soll drastisch abgebaut werden, in: Berliner Zeitung vom 25./26.08.1990. 31 Tribüne vom 5. September 1990.
130 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess der FDGB-Gewerkschaften. Darin hieß es, Meinungsverschiedenheiten seien „etwas ganz Normales“, außerordentlich ungewöhnlich und befremdlich sei jedoch der Weg über die Presse, zumal die „Unterstellungen“ bereits in einem gemeinsamen Gespräch der Vorsitzenden „diskutiert und ausführlich widerlegt wurden.“ Sie bat die FDGB-Kollegen darum, das Wichtigste nicht aus den Augen zu verlieren: „Es waren und sind Eure Mitglieder, die den Weg zur einheitlichen ÖTV wollten und so schnell wie möglich Mitglied der ÖTV werden wollten.“32 Die GÖD hatte den Text der Presseerklärung vom 4. Juli in ihrer Zeitung unter der irreführenden Schlagzeile „Mit kontinuierlicher Interessenvertretung zur Marktwirtschaft“33 veröffentlicht und sich weiterer Kommentare enthalten. Dies lässt darauf schließen, dass die GÖD bemüht war, nicht zusätzlich Öl ins Feuer dieser Auseinandersetzung zu gießen. Jürgen Kaiser, der neu gewählte Vorsitzende der GÖD, beantwortete das Schreiben von Wulf-Mathies jedenfalls sehr freundlich. Er beklagte sich seinerseits über mangelnde Kooperation und nicht eingehaltene Zusagen der ÖTV (West) wie die, dass die ÖTV in der DDR im Organisationsbereich der GÖD nur passiv werben werde. Dieser Vorwurf war berechtigt. Einige Berater hatten eine massive Mitgliederwerbung für die ÖTV in der DDR betrieben. Vor allem forderte er, dass seine Kollegen „zu den speziellen Dingen der Noch-DDR gleichberechtigt einbezogen werden“. Er werde jedenfalls sein Versprechen, die Interessen seiner Mitglieder „würdig und umfassend zu vertreten“, einlösen.34 Dabei verwies er auch auf die Verhandlungskonzeption seiner Gewerkschaft, die diese am 16. Juli vorgelegt habe. Darin wurde gefordert, dass die Geschäftsstellen der Einzelgewerkschaften bezirkliche Koordinierungsausschüsse bilden sollten, deren Aufgabe „im Aufbau der Kreis- und Bezirksstrukturen entsprechend der Satzung der ÖTV“ bestünde. Nach Vorstellung der GÖD sollten die Beraterbüros zwar einbezogen werden, jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen.35 Dies versuchte die ÖTV gerade zu verhindern. Sie hatte bereits entschieden, dass die Federführung beim Aufbau der Kreisverwaltungen beim kommissarischen Geschäftsführer der in vorläufige Kreisgeschäftsstellen umgewandelten Beraterbüros liegen solle. Die örtlichen Organisationsausschüsse hatten hingegen nur beratenden Charakter. Günter Eiselt, der Vorsitzende der Gewerkschaft Wissenschaft, verwies u.a. auf den Erneuerungsprozess seiner Gewerkschaft und beklagte: „Nach einem solchen Anfang schmerzt es schon, dass immer wieder Repliken auf den FDGB mit uns in Zusammenhang gebracht werden und dass selbst persönliche Bürgschaftsangebote für wenige engagierte und leistungsfähige Mitarbeiter unbeantwortet blieben.“36
Der Vorsitzende der GSW, Klatt, hatte in seinem Informationsblatt vom Juli 1990 ebenfalls den Text der Presseerklärung veröffentlicht, jedoch in abgeänderter Form als Offenen Brief an seine Mitglieder. Darin hatte er die Kritik und die Vorwürfe an die ÖTV sogar noch verstärkt. Es hieß dort:
32 Schreiben, Monika Wulf-Mathies an Dr. Richard Klatt vom 16.07.1990 (gleichlautend an Eiselt – Wissenschaft, Jürgen Kaiser – GÖD, Bernd Nickel – Zivilbeschäftigte, M.S.), SJS, 4.101. 33 Die aktuelle, 7’90, SMS. 34 Schreiben, Jürgen Kaiser an Monika Wulf-Mathies vom 31.07.1990, SMS. 35 Verhandlungskonzeption der Gewerkschaften der Öffentlichen Dienste der DDR zur Herstellung der Gewerkschaftseinheit mit der ÖTV, 16.07.1990, SAPMO, DY, 45/1636. 36 Schreiben, Günter Eiselt an Monika Wulf-Mathies vom 28. August 1990, SMS.
Der Aufstand der FDGB-Gewerkschaften 131 „Wir wollen keinen neuen Zentralismus. Haben wir uns gerade von einem Apparat befreit, um uns mit noch weniger Rechten freiwillig in den nächsten zu begeben?“37
Die Vorsitzende der ÖTV Wulf-Mathies reagierte empört und schrieb daraufhin Klatt einen zweiten Brief. Sie forderte ihn auf, die „Ungeheuerlichkeiten“ zurückzunehmen. „Eine Zusammenarbeit mit jemandem, der die ÖTV mit dem FDGB vergleicht, wie du es im letzten Absatz dieses Infos tust, ist niemandem in der ÖTV zuzumuten.“38 Als dieser Brief geschrieben wurde, waren die Weichen auf Vereinigung nach den Vorstellungen der ÖTV allerdings bereits gestellt. Wirkliche Konsequenzen aus diesem erhitzten Briefwechsel waren daher nicht mehr zu erwarten. Klatts Antwort war entsprechend konziliant. Er bedankte sich herzlich für das Schreiben und verlieh seiner Freude Ausdruck, dass „die Sorgen, die uns damals zur Pressekonferenz getrieben“ haben, nicht mehr begründet seien. Jedoch sei „leider (...) auch das eingetreten, was ich prognostiziert habe, nämlich ein starker Mitgliederschwund auf gegenwärtig knapp 200.000. Wie viele davon in die ÖTV eintreten werden, ist noch unklar.“39
Im Sommer 1989 zählte die Gewerkschaft Gesundheit noch 648.114 Mitglieder. Sie hatte also binnen einen Jahres über zweidrittel ihrer Mitglieder verloren. Klatt verabschiedete sich mit den Worten: „Meine Gewerkschaftszugehörigkeit wird mit dem Auflösen unserer Gewerkschaft beendet sein.“
Selbst- und Fremdwahrnehmung Der Konflikt zwischen den FDGB-Gewerkschaften und der ÖTV wirft ein Schlaglicht auf die gegenseitige Wahrnehmung beider Seiten und den Charakter der gewerkschaftlichen Vereinigung. Die FDGB-Gewerkschafter, die sich in den vergangenen Monaten um die Erneuerung ihrer Gewerkschaft bemüht hatten und die sich zu freien und unabhängigen Gewerkschaften bekannten, waren überwiegend langgediente ehren- und hauptamtliche Funktionäre des alten FDGB. Nur wenige „Neue“ fanden sich zum gewerkschaftlichen Neuanfang in einer FDGB-Gewerkschaft bereit. Die Bürger- und Menschenrechtsbewegung der DDR interessierte sich kaum für Gewerkschaften. Nur wenige aus dem Neuen Forum oder anderen Gruppen fanden den Weg zur ÖTV, obwohl beim Aufbau der ÖTV in den neuen Bundesländern gerade in oppositionellen Kreisen neues hauptamtliches Personal gesucht wurde. Die Erneuerung der FDGB-Gewerkschaften war im Wesentlichen ein Projekt der „alten“ Funktionäre, die um ihr eigenes Überleben kämpften, und um ihre eigenen Arbeitsplätze. Viele stellten sich demokratischen Wahlen und ließen sich neu legitimieren. Sie waren stolz auf ihr Engagement und erwarteten, dass dies auch von den Gewerkschaften der Bundesrepublik gewürdigt und anerkannt würde. Dass den FDGB-Funktionären – ihrer Selbstwahrnehmung zufolge – keine gebührende Anerkennung für ihr Engagement gezollt wurde, muss sie verstimmt haben. Besonders bitter war es für diejenigen, die die Entscheidung, eine ÖTV in der DDR aufzubauen, aus voller Überzeugung geteilt hatten. Doch dieses Engagement wurde noch nicht einmal von den eigenen Mitgliedern gewürdigt. Während die Gewerkschaft ÖTV einen 37 INFO Nr.10, Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, o. D., S. 6, SJS, 4.102. 38 Schreiben, Monika Wulf-Mathies an Richard Klatt vom 08.08.1990, SJS, 4.255. 39 Schreiben, Richard Klatt an Monika Wulf-Mathies vom 10.09.1990, SJS, 4.60.
132 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess guten Ruf in der DDR besaß, hatten die FDGB-Gewerkschaften das Vertrauen ihrer Mitglieder verspielt. Die Mitglieder liefen davon oder zahlten keine Beiträge mehr und die noch vorhandenen Mitglieder warteten darauf, der ÖTV beitreten zu können. Dies wiederum war der ÖTV bekannt, so dass sie keine Notwendigkeit sah, sich kompromissbereiter zu verhalten. Hätten die Funktionäre den Rückhalt ihrer Mitglieder gehabt, dann hätte ihr Aufstandsversuch eine nennenswerte Resonanz bei den Mitgliedern haben müssen. Nichts dergleichen ist jedoch bekannt. Die Menschen in der DDR wollten keine FDGBGewerkschaften mehr, sie wollten nicht einmal eine eigene ÖTV in der DDR, sondern sie wollten die originale ÖTV (West). Dies ist der entscheidende Grund, warum die FDGBFunktionäre keine Chance hatten, sich mit ihrem Anspruch auf gleichberechtigte Mitgestaltung einer einheitlichen ÖTV durchzusetzen. Wie fast überall, so wurden auch im gewerkschaftlichen Bereich die Maßstäbe des Westens auf den Osten übertragen. West-Sekretäre besetzten die entscheidenden Funktionen. Sie gerieten fast unvermeidlich in die Rolle von Besserwissern. Doch sollte bei aller Kritik daran eines nicht übersehen werden: Wird die Frage gestellt, was bewahrenswert an der DDR war, dann gehörten der FDGB und seine Gewerkschaften sicherlich nicht dazu. „Die Abgrenzung von denen, die die Perversion sozialistischer Ideale zu verantworten haben, war notwendig, um deutlich zu machen, dass freie Gewerkschaften etwas anderes sind als das, was der FDGB in 40 Jahren SED-Komplizenschaft daraus gemacht hat.“40
Das kompromisslose Verhalten der ÖTV hängt mit dieser politischen Einschätzung des FDGB zusammen. Viele ÖTV-Verantwortliche konnten die Vergangenheit des FDGB im Dienste der SED-Diktatur nicht so schnell vergessen und auch nicht, dass Personen, die sich jetzt für die Erneuerung engagierten, vorher Jahre und Jahrzehnte brav dem FDGB gedient hatten. Der verblüffend schnelle Gesinnungswechsel vieler Funktionäre musste unvermeidlich Misstrauen hervorrufen. Es war schwer, „Wendehälse“ von wirklich überzeugten Anhängern demokratischer Gewerkschaften zu unterscheiden. Der Aufstand gegen die SED-Diktatur war nicht aus dem Funktionärskörper des FDGB erfolgt. Erst nachdem die SED am Ende war und die Massenorganisation FDGB ihren raison d’etre verloren hatte, regten sich im FDGB Reformkräfte. Sie haben weder das Vertrauen der Mitglieder zurückgewinnen, noch neues Vertrauen bei bundesrepublikanischen Gewerkschaftern erwerben können. Mit FDGB-Funktionären wollte und konnte die ÖTV keine neue Gewerkschaft aufbauen. Sie war jedoch aus ihrem Organisationsinteresse heraus gezwungen, kleinere Kompromisse mit den FDGB-Gewerkschaften zu schließen, nachdem sich abzeichnete, dass außerhalb der FDGB-Gewerkschaften keine unabhängige Gewerkschaftsbewegung entstehen würde. Der ursprüngliche Ansatz der ÖTV, primär Beratung und Hilfe für einen selbstbestimmten Lernprozess zu leisten, war damit hinfällig geworden. Sowohl die Kooperation mit den FDGB-Gewerkschaften als auch der Aufbau einer ÖTV in der DDR folgten schon einer anderen Logik. Es ging nun für die ÖTV darum, sich gegenüber den FDGB-Gewerkschaften und im Wettbewerb mit anderen Westgewerkschaften und ihren assoziierten Berufsverbänden zu behaupten. Aus dem Beratungskonzept war schon vor dem Beschluss der Satzungsöffnung ein Organisationsprojekt geworden.
40 Monika Wulf-Mathies, Rede, in: Protokoll, Außerordentlicher Gewerkschaftstag, Stuttgart 1991, S. 28.
11. ÖTV-Anfang und FDGB-Ende Nach den Verstimmungen über das Vorgehen der ÖTV und den Irritationen nach der Pressekonferenz vom 4. Juli musste beiden Parteien daran gelegen sein, den Konflikt nicht zu verschärfen.
Hauptamtliche Beschäftigung von DDR-Mitgliedern Die Entscheidung, keine hauptamtlichen FDGB-Funktionäre in die vereinte ÖTV zu übernehmen, die bei den FDGB-Gewerkschaften so viel Empörung ausgelöst hatte, wurde in der Sitzung des zentralen Organisationsausschusses am 14. August etwas abgemildert. Dies lag weniger an einem Sinneswandel auf Seiten der ÖTV als vielmehr an den praktischen Notwendigkeiten. Die ÖTV realisierte, dass sie nicht erst nach der Konstituierung der Kreisverwaltungen in den neuen Bundesländern mit Personaleinstellungen beginnen konnte, sondern dass sie bereits vorher Personal aus der DDR einstellen musste, um den Aufbau der Kreisverwatlungen überhaupt zu ermöglichen. Das war eine komplizierte Angelegenheit, denn Einstellungen setzten laut Satzung die Existenz von Kreisverwaltungen voraus. Willi Mück, das für Organisation und Personal zuständige gHVMitglied, führte in vorsichtigen Wendungen aus, dass zwar das satzungsgemäße Verfahren gelte, es jedoch „erste Überlegungen für eine qualifizierte anwendungsorientierte Einarbeitung von weiterbildungswilligen und -fähigen KollegInnen aus dem Gebiet der DDR“ gäbe. Seine nachfolgenden Angaben über allgemeine Konditionen solcher Einstellungen zeigen, dass nach einer Lösung gesucht wurde, die Einstellungen erlaubte, ohne dabei gegen die Satzung verstoßen zu müssen. So sollte es vorerst nur befristete Arbeitsverträge geben. Zudem wurde der Beruf des „gewerkschaftlichen Sachbearbeiters“ erfunden, der in der Satzung nicht existierte und für den es folglich auch keine Regelungen gab.1 Besonders dankbar wurde von den FDGB-Kollegen registriert, dass sie selbst geeignete Kollegen vorschlagen durften. Die FDGB-Gewerkschaften wussten, dass sie als eigenständige Kraft am Ende waren. Auch der ÖTV war das bekannt. Sie wusste aber, dass sie die noch vorhandenen Strukturen und das Know how der Funktionäre der FDGB-Gewerkschaften für den Organisationsaufbau einer einheitlichen ÖTV in den neuen Bundesländern dringend benötigte. Ohne die Mitarbeit der FDGB-Kollegen war es schwer vorstellbar, die Mitgliederaufnahme erfolgreich abzuschließen. Sie besaßen die Informationen über Betriebe und Einrichtungen, die notwendig waren, um örtliche Organisationsstrukturen aufzubauen. Eine Verständigung darüber ist offensichtlich bereits im Vorfeld der 3. Sitzung des Organisationsausschusses am 14. August erzielt worden. Die ÖTV ist den FDGB-Funktionären etwas entgegengekommen, und diese haben sich in der Folge loyal am Aufbau der geeinten ÖTV beteiligt. 1
Ergebnisprotokoll: Sitzung des Organisationsausschusses DDR am 14.08.1990, ÖTVHauptverwaltung, VS 6, Projekt Organisationsstruktur DDR, S. 7, SMS.
134 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Mit der Entscheidung, die Satzung zum 1. November 1990 zu öffnen, schlug die Stunde der Organisationsexperten. Um in der ehemaligen DDR handlungsfähig zu werden, musste der organisatorische Rahmen der ÖTV auf mehrere hunderttausend neue Mitglieder möglichst rasch übertragen werden. Bei der Branchenvielfalt, die die ÖTV vereinte und die in den Gremien der Organisation repräsentiert sein sollte, war dies ein aufwendiges Unterfangen. Durch die Satzung war das Verfahren des Organisationsaufbaus von unten nach oben festgeschrieben. Die Berücksichtigung der verschiedenen Branchen musste bereits bei der Wahl der Delegierten zur Urversammlung der Kreisdelegiertenkonferenz in den Mitgliederversammlungen beachtet werden. In der Wahlordnung hieß es dazu: „Dabei müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellten, Frauen und Jugend sowie die Bereiche entsprechend ihren Mitgliederzahlen berücksichtigt werden.“2 Unter Bereichen verstand man den Öffentlichen Dienst in Bund, Ländern und Gemeinden, Sozialversicherung und Arbeitsverwaltung, Gesundheitswesen, Kirchen und soziale Einrichtungen, Energie und Wasserversorgung, Nahverkehr sowie Transport und Verkehr. Unter hohem Zeitdruck mussten Ausnahme- und Übergangsregelungen gefunden und legitimiert werden. Doch zunächst mussten die neuen Mitglieder überhaupt erst einmal gewonnen werden.
Organisationsaufbau der ÖTV Durch die Beratungsbüros in den 14 Bezirken der DDR hatte die ÖTV bereits den Ansatz einer Grundstruktur geschaffen, die jetzt genutzt werden konnte. Die Büros konnten in vorläufige Kreisverwaltungen umgewidmet und die Berater zu kommissarischen Geschäftsführern ernannt werden. Eine sofortige Personalverstärkung aus dem Westen mit erfahrenen Organisationssekretären und Verwaltungsangestellten war dazu unabdingbar. Die ÖTV-Bezirke (West) sollten dafür in die Pflicht genommen werden. Der gHV schlug vor, mindestens drei Sekretäre pro Verwaltungsstelle mit den Arbeitsschwerpunkten Bildungsarbeit, Tarifarbeit und betriebliche Gewerkschaftsarbeit sowie fünf Verwaltungsangestellte, die Kasse, Buchführung und Mitgliederbestandsverwaltung (MIBEV) übernehmen konnten, einzusetzen. Hinzukommen sollte ein Jurist für die Rechtsberatung und -vertretung. Außerdem sollten ehrenamtliche Funktionäre, die sich von ihren Betrieben und Ämtern freistellen lassen konnten, und reaktivierte Ruheständler eingesetzt werden.3 Dies war die Theorie. In der Praxis verhielten sich die West-Bezirke jedoch sehr unterschiedlich. Nur wenige stellten die nötige quantitative und qualitative personelle Unterstützung zur Verfügung. Der Aufbau der Kreisverwaltungen verlief dementsprechend uneinheitlich. Ende November waren von ca. 700.000 vorliegenden Anträgen auf Mitgliedschaft 300.000 noch nicht einmal erfasst. Über die Betriebs- und Dienststellenstrukturen konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine abschließende Aussage gemacht werden, was erhebliche Probleme bei der Beitragskassierung verursachte. Da noch kein einheitli-
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Wahlordnung zur Wahl der Delegierten für die erste Delegiertenkonferenz und die Delegiertenversammlungen der ÖTV in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Beschluss des Hauptvorstandes vom 21./22.09.1990, ÖTV-INTERN, 6/90, S.32. Aktennotiz, Willi Mück vom 21.06.1990, Anlage zum Protokoll, gHV-Sitzung vom 22.06.1990, SJS, 1.22.
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cher Dienststellenschlüssel existierte, gab es erhebliche Fehler bei der Zuordnung.4 Zeitweilig sah es sogar so aus, als ob die Delegiertenkonferenzen gefährdet wären. Auf diesen für den Aufbau der Kreisverwaltungen der ÖTV entscheidenden Gründungsversammlungen sollten auch die Delegierten zum außerordentlichen Gewerkschaftstag (= Vereinigungskongress) der ÖTV im Februar 1991 gewählt werden. Der kommissarische Geschäftsführer aus Cottbus klagte: „Er könne die Einladungsfrist von 8 Tagen nicht einhalten. Weiterhin könne er nicht garantieren, dass alle Mitgliederversammlungen durchgeführt werden. Sein Hauptproblem ist, dass er nicht in der Lage ist, die Betriebe und Dienstellen zu betreuen. Er sagt in den Betrieben, dass er für die Betreuung niemand hat. Für die Kreisdelegiertenkonferenz lehnt er die Verantwortung ab.“5
Cottbus war keine Ausnahme. Es war erstaunlich, dass zum außerordentlichen Gewerkschaftstag schließlich Delegierte aus den neuen Kreisverwaltungen in den neuen Bundesländern in vorgesehener Anzahl anreisen konnten. Die Bildung der Kreisverwaltungen verlief trotz der enormen Schwierigkeiten erfolgreich. In einem ersten Schritt wurden unter dem Vorsitz der „geschäftsführenden Beratungssekretäre“ regionale Organisationsausschüsse gebildet, in die jede FDGB-Gewerkschaft einen Delegierten entsandte. Diese Organisationsausschüsse sollten die Beratungssekretäre u.a. bei der Durchführung von Mitgliederversammlungen unterstützen.6 Die Mitgliedererfassung war Sache der ÖTV, das Ausgeben und Einsammeln der Aufnahmeformulare überwiegend Sache der Betriebsfunktionäre und Geschäftsstellen der FDGBGewerkschaften. Bis Ende September sollten die „Beitrittserklärungsaktionen“ abgeschlossen sein. Der 1. November war der Stichtag. Die Zahl der bis zu diesem Tag aufgenommenen Mitglieder bestimmte die Zahl der Delegierten, die am geplanten außerordentlichen Gewerkschaftstag der ÖTV am 14./15. Februar 1991 teilnehmen konnten. Auf jeweils 2.000 Mitglieder kam ein Delegierter. Der außerordentliche Gewerkschaftstag schloss in einem ersten Schritt die Integration der Neumitglieder aus der ehemaligen DDR in die ÖTV formal ab. Am 23. August entschied die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990. Für die ÖTV war damit größte Eile angesagt. Die Kreisverwaltungen sollten nun statt bis zum 1. November bereits bis zum 3. Oktober errichtet werden. Das Personalkonzept sollte ebenfalls bis dahin umgesetzt sein. Den FDGBGewerkschaften empfahl die ÖTV dringend, ihre Auflösung bis zum 2. Oktober zu vollziehen. Anschließend sollte der Organisationsaufbau mit der Wahl von Kreisdelegierten für die 14 Kreisverwaltungen beginnen. 250 Kollegen waren für jede Kreisverwaltung zu wählen. Dies geschah auf den Mitgliederversammlungen in den verschieden Betrieben und Einrichtungen. Spätestens bis zum 5. Januar 1991 sollten Kreisdelegiertenkonferenzen abgehalten werden, um die Delegierten für den außerordentlichen Gewerkschaftstag rechtzeitig zu bestimmen. Der Anfang gestaltete sich schwierig. Ende August waren in verschiedenen Bezirken die regionalen Organisationsausschüsse noch immer nicht konstituiert. Willi Mück klagte 4 5 6
Aktennotiz, Hauptverwaltung, Hauptkasse, Interne Revision, Geschäftsführertagung der ÖTVKreisverwaltungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR 26./27. November 1990. SJS, zu 4.451. Stichwortprotokoll, Tagung der kommissarischen Geschäftsführer der neuen KV’en, 26./27.11.1990, Kollege Hufnagel, KV Cottbus, SJS, zu 4.451. Vgl. Ergebnisprotokoll, Sitzung Organisationsausschuss vom 14.08.1990, Organisationsstruktur DDR, SMS.
136 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess über „gegenseitige Vorurteile“, die dringend überwunden werden müssten. Die Vertreter der FDGB-Gewerkschaften boten an, „von ihren Beschäftigten vor Ort den Rückfluss der Beitrittserklärungen systematisch zu organisieren, diese auf Vollständigkeit zu prüfen, nach Betrieben/Dienststellen ordnen (...) zu lassen und ausgezählt an die Beratungsbüros zu übergeben.“7
Die ÖTV versprach im Gegenzug, sich um eine rasche Personalverstärkung, und zwar durch Ost-Kollegen, zu kümmern. Sie entschied, dass nach dem 3. Oktober sofort „gewerkschaftliche Sachbearbeiter“ eingestellt werden könnten. Mit den vorbereitenden Personalgesprächen könne unmittelbar begonnen werden. Noch im Oktober begannen die ersten Einstellungsrunden für Verwaltungsangestellte und gewerkschaftliche Sachbearbeiter. Bis September 1991 wurden ca. 170 Kolleginnen und Kollegen aus der ehemaligen DDR als Gewerkschaftssekretäre oder gewerkschaftliche Sachbearbeiter eingestellt. Nur 36 davon waren vorher bei den „Alt-Gewerkschaften“ beschäftigt gewesen.8 Das Bemühen der ÖTV, den gewerkschaftlichen Neuanfang in der DDR nicht mit alten FDGB-Funktionären zu belasten, war erfolgreich. Umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass auch Kollegen gezählt wurden, die erst in der Wendezeit hauptamtliche Beschäftigte des FDGB geworden waren. Mit der Einstellung von DDR-Kollegen stellte sich unmittelbar die gewerkschaftspolitisch hochsensible Frage, wie deren Vergütung geregelt werden sollte: Normalerweise hätte die Orientierung an dem Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ keine Fragen aufgeworfen. Da jedoch in der ehemaligen DDR das Lohn- und Gehaltsniveau erheblich unter dem der Bundesrepublik lag, wäre eine Bezahlung der Gewerkschaftsfunktionäre der ÖTV nach der West-Tabelle schwer zu vermitteln gewesen. Die ÖTV fürchtete, dass die Ost-Mitglieder für eine sofortige Angleichung an die West-Vergütung nicht das „geringste Verständnis“ aufbringen würden. Sie entschied deshalb, dass die Vergütung für Beschäftigte aus der DDR sich jeweils im Verhältnis zum Angleichungsprozess der Löhne der Mitglieder in den neuen Bundesländern richten sollte. Das führte zu einem weiteren Problem, da es nicht akzeptabel war, dass West-Kollegen, die in Kreisverwaltungen der neuen Bundesländer arbeiteten, höher vergütet wurden als ihre Ost-Kollegen. Diese Regelung führte innerhalb der ÖTV zu einem Konflikt zwischen gHV und Betriebsrat, der bis zum Bundesarbeitsgericht getragen wurde. Das BAG entschied zugunsten des Betriebsrats. Für alle Beschäftigten der ÖTV – auch für die neuen aus der ehemaligen DDR – galt danach die gleiche Vergütungstabelle. Bis zum Januar 1991 wurden in einem einmaligen organisatorischen Kraftakt die Kreisdelegiertenkonferenzen durchgeführt. Ihre Mitglieder wählten die Kreisvorstände, die Revisions- und Tarifkommissionen sowie die Delegierten zum außerordentlichen Gewerkschaftskongress. 311 Delegierte aus den 14 Kreisverwaltungen und Ost-Berlin9 konnten am 14. Februar nach Stuttgart reisen.
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Ergebnisprotokoll: Sitzung des Organisationsausschusses DDR am 24.08.1990, ebd. Vgl. Formlose interne Liste des ÖTV-Personalreferats, Stand 21. September 1991, aktenmäßig Bereich Ost, SMS. Die Ost-Berliner waren Mitglied der ÖTV Berlin, sie wurden für den Kongress eigens gezählt.
ÖTV-Anfang und FDGB-Ende 137
Das Ende der FDGB-Gewerkschaften – Finanz- und Mitgliederentwicklung Das Ende des FDGB als kommunistischer Massenorganisation wurde am 10. Dezember 1989 besiegelt. Die Frage, ob eine Transformation dieser Organisation in autonome Einzelgewerkschaften gelingen könnte, war am Anfang offen. Die Selbständigkeit der Einzelgewerkschaften zu beschließen, war eine Sache, tatsächlich selbständig zu werden, eine andere. Die FDGB-Gewerkschaften standen zur Jahreswende 1989/90 vor der Notwendigkeit, mehrere Aufgaben möglichst sofort und möglichst gleichzeitig bewältigen zu müssen: Sie mussten sich neu organisieren, eine eigene Beitragskassierung und Finanzverwaltung aufbauen sowie eine neue demokratische Legitimation für ihre Funktionäre durch Neuwahlen schaffen. Daneben mussten sie versuchen, das Vertrauen ihrer Mitglieder zurückzugewinnen und die massive Mitgliederflucht einzudämmen. Sie mussten sich darauf einstellen, sich um die materiellen Interessen der Mitglieder selbst zu kümmern statt sich dies, wie bisher, von der SED vorsagen zu lassen. Alleine die Umstellung der Beitragszahlung bereitete unerwartete Schwierigkeiten. Die Schaffung einer finanziellen Grundlage der Einzelgewerkschaften wurde zu einem zentralen Problem. Die bisherige Beitragszahlung lief noch bis zum 31. März 1990 auf das zentrale FDGB-Konto und wurde von dort umverteilt. Dieses Beitragsaufkommen schwand indes rapide. Schon zum Jahreswechsel meldete der FDGB einen dramatischen Mitgliederverlust. Werner Peplowski schloss einen Kollaps der FDGB-Gewerkschaften nicht mehr aus. Ende Januar konnte er noch 8.629.967 Mitglieder zählen. Das waren 983.092 Mitglieder weniger als noch im Vorjahr, was einem Verlust von rund 10% entsprach. Dieser Mitgliederschwund ereignete sich innerhalb von nur drei Monaten, und sein Ende war nicht absehbar. Mit der Umstellung der Beitragskassierung durch die Einzelgewerkschaften zum 1. April 1990 wurde gleichzeitig das veraltete und arbeitsaufwendige FDGB-System der Markenkassierung aufgegeben. Stattdessen versuchte man, die Beiträge über NachweisListen oder über Lohnabzug zu kassieren. Dies schuf zusätzliche Verwirrung und verringerte das Beitragsaufkommen weiter. Alleine das technische Verfahren zu installieren, bereitete größte Probleme. Hinzu kam das Hauptproblem des fortschreitenden Mitgliederschwunds: Die Mitglieder liefen auch den nun formal autonomen Einzelverbänden weiter davon. Beides zusammen führte dazu, dass die Einzelverbände bis zu ihrer Auflösung Ende September 1990 letztlich keine finanzielle Selbständigkeit erreichten und sich gegenüber der ÖTV nicht als wirklich gleichberechtigter Verhandlungspartner etablieren konnten. Um die Gehälter ihrer Beschäftigten bezahlen zu können, die Mieten für die Büros, die Kosten für Publikationen sowie die Tagungs- und Reisekosten der Funktionäre, waren sie weiter auf Zuwendungen aus der Kasse des FDGB-Dachverbandes angewiesen. Dementsprechend drehte sich der zentrale Streit zwischen den Vorständen der Einzelgewerkschaften und dem FDGB-Vorstand um die Ermittlung und Aufteilung der Finanz- und Vermögenswerte. Sucht man nach Beweisen für die These, dass die FDGB-Gewerkschaften vor dem Kollaps standen, ist es hilfreich, die Zahlen der Mitgliederentwicklung und des Beitragsaufkommens als Quelle zu kennen. Diese Zahlen – obwohl lückenhaft – sprechen eine deutliche Sprache. Nachdem am 23. August die Entscheidung für den Beitritt der DDR gefallen war, mussten die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes der DDR binnen fünf Wochen ihre Auflösungskongresse organisieren. Dafür mussten Geschäfts- und Finanzberichte
138 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess erstellt und die satzungsgemäße Mehrheit der Delegierten gewonnen werden. Allerdings ging es im Grunde nur noch um eine formale Zustimmung. Eine realistische Alternative zur Auflösung war nicht mehr in Sicht.
Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen (GSW) Die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen hätte ab 1. April 1990 mit der eigenen Beitragskassierung beginnen dürfen. Solange wollte sie indes nicht warten. Sie beschloss auf ihrer außerordentlichen Zentraldelegiertenkonferenz am 29. Januar, „mit sofortiger Wirkung ... die Finanzhoheit über die Beiträge ihrer Mitglieder“ zu übernehmen. Bereits die Februarbeiträge sollten auf ein eigenes Konto der Gewerkschaft eingezahlt werden. An den anders lautenden Beschluss des FDGB-Kongresses fühlte sie sich nicht mehr gebunden. Dieses Vorgehen wirft ein Schlaglicht auf den Autoritätsverlust des FDGBDachverbandes. Es ging der Gewerkschaft Gesundheit wie den anderen Gewerkschaften auch darum, ein deutliches Zeichen zu setzen, dass die Einzelgewerkschaften tatsächlich selbständig waren und einen Bruch mit dem alten FDGB vollzogen hatten. Ab April wurden von der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen die Beiträge statt über die gewohnte Markenkassierung über die neu eingeführte Listenkassierung eingesammelt. Dies erfolgte nach dem – nach eigenem Bekunden – „bewährten“ Verfahren der betrieblichen Kassierung durch die Grundorganisationen und die BGL.10 Zahlen dazu wurden jedoch ebenfalls nicht vorgelegt. Gemeint sein konnte damit nur das Verfahren und nicht das Ergebnis. Doch selbst für das Verfahren scheint diese Wertung übertrieben, denn die gewerkschaftlichen Strukturen in den Betrieben und Einrichtungen, über die die Beitragskassierung abgewickelt werden sollte, hatten bereits erheblich gelitten. Das für die Finanzen zuständige Vorstandsmitglied Wolfgang Kurth gibt folgende Information über den Zustand der BGL: „Von den Mitgliedern her hieß es jetzt, der BGL-Vorsitzende muss weg. Plötzlich hieß es, die alten Seilschaften und der BGL-Vorsitzende, der hat ja mehr die staatlichen Interessen vertreten als unsere Interessen, der muss weg. Plötzlich war dieses Glied zwischen Kreisvorstand und BGL-Vorsitzendem zerbrochen.“11
In dem Bericht an die außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz, die vom 2. bis 3. Mai 1990 tagte, wurde festgestellt, dass keine „exakten“ Angaben über die aktuelle Mitgliederstärke gemacht werden könnten. Jedoch ginge man von 460.000 Mitgliedern aus. Diese Zahl hatte eine Abteilungsleiterberatung im April per Beschluss festgelegt: „Es wird festgelegt, dass bei allen Fragen als Mitgliedergröße unserer Gewerkschaft GSW von 460.000 ausgegangen wird.“12 Vergleicht man diese Angaben mit den Zahlen des Beitragsaufkommens für April und Mai 1990 von je ca. einer Million Mark, dann scheint diese Mitgliederzahl maßlos übertrieben. Geht man von einem durchschnittlichen Monatsbeitrag von acht Mark pro Mitglied aus, hätte das Beitragsaufkommen einem Mitgliederbestand von lediglich 125.000 Mitgliedern entsprochen. Doch lassen sich solche Schlüsse nicht zwingend ziehen, da davon ausgegangen werden muss, dass etliche Mitglieder ihre Beiträge nicht mehr entrichteten, ohne jedoch die Mitgliedschaft formal zu kündigen. Es könnte auch sein, dass die Betriebsgewerkschaftsleitungen die Beiträge 10 Vgl. INFO Nr. 1, Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen, 13. März 1990, SMS. 11 Interview mit Wolfgang Kurth vom 9. Juli 1991, Dokumentation, S. 313. 12 Festlegungsprotokoll der Leiterberatung am 10.04.90, SAPMO, DY 41/535.
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schlicht nicht mehr abgeführt, sondern auf eigene Konten treuhänderisch überwiesen haben. „Wobei man sagen muss, dass sehr viele einfach nicht mehr bezahlt haben, weil soviel Frust dahinter stand: Jetzt haben wir zwar eine eigene Gewerkschaft und jetzt zahlen wir unseren Beitrag auf das Konto der Gewerkschaft Gesundheitswesen, aber wir wissen immer noch nicht, was ist denn nun mit dem Vermögen der Gewerkschaft. Bevor das nicht offengelegt ist, zahlen wir keine müde Mark. Es gab viele, die gesagt haben, wir zahlen auf unser BGL-Konto, da bleibt das liegen. Keine müde Mark geht da runter.“13
Ein Indiz dafür, dass die Mitgliederzahlen bereits im Mai deutlich unter den genannten 460.000 lagen, ist die erhebliche Reduzierung hauptamtlicher Funktionäre im Zentralvorstand von 28 auf 18 und die Reduzierung der ehrenamtlichen Mitglieder von 120 auf 45. Der Schlüssel für die Wahl von Zentralvorstandsmitgliedern war jedenfalls nicht geändert worden. Auch die Auflösung der Bezirks- und Kreisstellen – aus 217 Kreisvorständen wurden 83 Geschäftsstellen mit je ein bis zwei Mitarbeitern – scheint neben dem Motiv einer Strukturreform ebenfalls dem Mitgliederrückgang geschuldet gewesen zu sein. Neben dem Mitgliederschwund hatten die FDGB-Gewerkschaften damit zu kämpfen, dass mit dem Beitragssatz von 0,8% des Bruttogehalts das bestehende Leistungsangebot nicht mehr finanziert werden konnte. Dies lag vor allem auch daran, dass bestimmte Leistungen, die bisher als „gewerkschaftliche“ ausgewiesen wurden, gar nicht aus der Kasse der Gewerkschaften bezahlt worden waren: „... solche Leistungen, wie Zuschuss zum Ferienscheck, Unterstützung für Rentner bei langjähriger Mitgliedschaft, Sterbe- und Unfallsterbegeld (wurden) nicht vom FDGB, sondern aus dem Staatshaushalt bzw. von der Sozialversicherung finanziert.“14
Der Vorstand schlug vor, den Beitrag auf 1,25% (+ 0,25% für die Streikkasse) zu erhöhen. Eine Kürzung des Leistungskatalogs stand nicht zur Debatte, obwohl die Delegierten beschworen wurden, ihre Ansprüche an die neue Gewerkschaft nicht mehr an den Vergünstigungen zu messen, die sie vom FDGB erhalten hatten: „Vor der Wende wurde die Gewerkschaft im Wesentlichen nach drei Kriterien beurteilt: Ferienplatzvergabe Den finanziellen Leistungen (Geburten-, Kranken-, Sterbegeldzuschuss, Reichsbahnermäßigung, Prämienverteilung) Motor des Wettbewerbs. Von dieser Auffassung müssen wir alle uns in Zukunft lösen.“15
Eine Leistungskürzung hätte die Attraktivität der Gewerkschaft weiter reduziert. Doch ging der Mitgliederrückgang auch ohne Kürzung unvermindert weiter. Als sich die 81 Delegierten der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen am 22. September 1990 in der Gewerkschaftshochschule des FDGB in Bernau versammelten, um die Auflösung ihrer Gewerkschaft zu beschließen, zählte diese angeblich noch ca. 260.000 Mitglieder. Wolfgang Kurth schätzt hingegen, dass im September 1990 „vielleicht noch 120.000 bis 150.000 Mitglieder in der Gewerkschaft Gesundheitswesen“ waren. Angenommen die Gewerkschaft hätte noch 260.000 Mitglieder gehabt, wäre auch dies im Vergleich zum April (400.000) ein dramatischer Verlust gewesen. Ein Jahr zuvor hatte man sogar noch 13 Interview mit Wolfgang Kurth vom 9. Juli 1991, Dokumentation, S. 312. 14 Bericht des Zentralvorstandes an die außerordentliche ZDK der Gewerkschaft GSW am 2. und 3. Mai 1990 in Berlin, SAPMO, DY 41/535. 15 Ebd.
140 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess 648.000 Mitglieder gezählt. Der Bericht des Vorsitzenden Richard Klatt fiel dementsprechend nüchtern aus. Es war nicht mehr die Zeit für große Reden. Zusammenfassend stellte er fest, die GSW habe es nicht vermocht, sich zu einer kampfstarken Organisation zu entwickeln. Nicht verhehlen mochte er seine Kritik an der ÖTV. Überraschend war indes die Stoßrichtung dieser Kritik. Wurde die ÖTV vorher von den FDGB-Gewerkschaften wegen ihrer Einmischung in das Tarifgeschehen der DDR kritisiert, bemängelte Klatt nunmehr, dass sie sich nur zögerlich in die Tarifarbeit der DDR eingebracht habe. Lobend stellte er dagegen die Öffentlichkeitsarbeit der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen heraus. Als ihren Höhepunkt bezeichnete er „die Gesamtdeutsche Pressekonferenz am 4. Juli 1990, die von uns im Auftrage von sieben ÖTV (sic!) Gewerkschaften organisiert wurde“16 Dies war ein gezielter Tritt gegen die ÖTV, denn dort war ihr von den FDGB-Gewerkschaften eigensüchtiges Interesse vorgeworfen worden. Dass Klatt sich auf diese Pressekonferenz positiv bezog, ist ein Indiz dafür, wie stark die Kränkungen nachwirkten, die der von der ÖTV dominierte Einigungsprozess hinterlassen hatte. Bei vier Gegenstimmen und einer Enthaltung stimmten 76 Delegierte für den Antrag: „Die Gewerkschaft GSW zum 2. Oktober 1990, 24.00 Uhr aufzulösen.“ In einem Kommentar der Tribüne hieß es dazu: „Schwer zu sagen, ob diese Abschiedsvorstellung der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen ... mehr tragische oder mehr lächerliche Züge hatte.“ Auffallend sei gewesen, dass „ihre vierzigjährige Geschichte ... niemand mehr für erwähnenswert (hielt).“ Insgesamt lautete das Urteil: „Kläglicher Abgesang.“17
MSK/Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) Wie bei der Gewerkschaft Gesundheit stellte sich auch bei der MSK unmittelbar nach dem Beschluss, eine autonome Gewerkschaft aufzubauen, die Frage nach der Beitragskassierung. Die Überlegungen des Sekretariats zur Beitragskassierung waren jedoch konfus und hilflos: „Das bisherige Grundprinzip Marke gegen Geld sollte aufgehoben“ und durch „Listenkassierung und Formen der bargeldlosen Beitragskassierung (Lohnabzugsverfahren)“ abgelöst werden. Durch den Einsatz von Rechnertechnik hoffte man, die Beiträge direkt an den Zentralvorstand entrichten zu können.18 Doch das war Zukunftsmusik. Vordringlicher stellte sich das Problem, wie die Mitglieder überhaupt bewegt werden könnten, wieder Beiträge zu zahlen. Mitte Januar schätzte der neue MSKVorsitzende Wegrad, dass alleine „in der Kommunalwirtschaft mehr als zwei Drittel der Mitglieder nicht oder nicht satzungsgemäß zahlt.“ Er brachte dieses Verhalten in einen Zusammenhang mit dem Missbrauch von Gewerkschaftsgeldern durch den FDGB und hoffte, durch den Übergang der Beitragskassierung auf die Einzelgewerkschaft könne altes Vertrauen wieder hergestellt werden. „Deshalb hoffen wir, mit der Einrichtung des zentralen Kontos 6651-39-108 die Beitragszahlung zu fördern und zu sichern.“19 Hier
16 Thesen zum Geschäftsbericht für den 22.09.1990, DY 41/535. (Es hätte „Gewerkschaft ÖD der DDR“ heißen müssen, M.S.). 17 Ingrid Aulich, Kläglicher Abgesang, Tribüne vom 25. September 1990. 18 Vorlage für das Sekretariat des Zentralvorstandes vom 15.01.1990, Anlage, SAPMO, DY, 45/1588. 19 Informationsblatt des Zentralvorstandes der MSK, Nr. 1/2 ’90. S. 5.
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wird deutlich sichtbar, dass die Beitragskassierung nicht nur ein technisches Problem war. Wie bei der Gewerkschaft Gesundheit und der MSK bereitete die Umstellung von der gewohnten FDGB-Markenkassierung auf die Listenkassierung auch bei den anderen Gewerkschaften erhebliche Schwierigkeiten. Es entstand ein ziemlicher Wirrwarr um Marken und ein großes Kuddelmuddel. Die Listenkassierung stellte sich als nicht so einfach dar, wie ursprünglich gedacht. Der Teufel steckte im Detail. Die Tribüne machte schließlich folgenden Vorschlag: „Bis Mitgliedskarten vorliegen, ist folgendes rechtens. Der Vertrauensmann kassiert, trägt die Summe und Unterschrift in FDGB-Buch und Talonkarte ein; die BGL überweist die Gelder auf ein Konto der jeweiligen Gewerkschaft.“20
Dies klang unkompliziert. Doch diese Kassierung hätte ein Fortbestehen des funktionierenden alten Systems, bestehend aus Vertrauensleuten und BGL, vorausgesetzt. Dessen Desorganisation war in allen Bereichen jedoch im Februar 1990 bereits zu weit fortgeschritten. Viele BGL existierten nicht mehr. Sei es, dass sie – gezwungenermaßen oder freiwillig – zurückgetreten waren, sei es, dass Betriebsräte gewählt worden waren. Auch der anhaltende Flüchtlingsstrom hatte Lücken in den Funktionärskörper gerissen: Meldungen wie: „Der (...) neugewählte Vertrauensmann (sic!), Kollegin Anke (...), kam von einer Touristenreise in die VR Ungarn nicht wieder in die DDR zurück.“
und: „Kollege Peter (...), ehrenamtliches Mitglied der BGL, (...) hat die DDR illegal verlassen.“21
oder: „Empörung, Enttäuschung Resignation, Austritte oder ruhende Mitgliedschaft kennzeichnen die Lage in unserem Kreis. 3 von 5 BGL’s sind zurückgetreten. Vertrauensleute, Kassierer und eine Reihe anderer Gruppenfunktionäre haben unsere Republik verlassen“.22
stehen nicht vereinzelt. Im Finanzbericht zur Zentraldelegiertenkonferenz im Juni 1990, der faktischen Gründungskonferenz der autonomen Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD), wurden für das 1. Quartal „nur rund 49,2% des geplanten Aufkommens“ ausgewiesen. Das waren 9.168.900 Mark,23 d.h. pro Monat durchschnittlich 3.056.300 Mark. Im Juni selbst sank das Beitragsaufkommen nochmals um weitere 50 Prozent auf 1.534.100 Mark.24 Geht man von einem durchschnittlichen Mitgliedsbeitrag von 8 Mark aus, so entspricht dieser Betrag den Beitragszahlungen von ca. 200.000 Mitgliedern. Auch hier kann der Mitgliederverlust nur als dramatisch bezeichnet werden. In dem abschließenden Finanzbericht zur Auflösungskonferenz der GÖD drei Monate später im September 1990 wurde eingeräumt, dass die geplante Finanzhoheit zum 1. Juli 1990 nicht erreicht worden war. „Bis 31.8.1990 erfolgte die Finanzierung der Gewerkschaftsarbeit sowohl über die Guthaben beim Dachverband als auch durch Eigenfi-
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Tribüne vom 23. Februar 1990. Besondere Vorkommnisse, Eingaben, 22.08.1989 und 12.19.1989, SAPMO, DY 41/577. Zuschriften von Mitgliedern, 29.01.90, SAPMO, DY 41/608. Finanzbericht der 8. Zentraldelegiertenkonferenz, SAPMO, DY, 45/1589. Bericht der Zentralen Revisionskommission, Berlin 26.09.1990, SAPMO, DY, 45/1662.
142 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess nanzierung der eigenen Beitragseinnahmen.“25 Eine Aufschlüsselung wurde nicht vorgenommen. Expressis verbis wurde von der Revisionskommission erklärt: Die Vorgänge der finanziellen Ablösung vom Dachverband „sind nicht in die Prüfung einbezogen worden.“ Mitgliederzahlen wurden keine mehr genannt. Eine gesicherte Einschätzung über den Zustand der GÖD ist daher nicht möglich. Die genannten Angaben bestätigen jedoch hinreichend den Eindruck, dass die GÖD am Ende war. Wie auch der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen war es der GÖD nicht gelungen, sich als Einzelgewerkschaft zu etablieren. Realistisch betrachtet hätte das bis zur Entscheidung über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, spätestens zur Einführung der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion, geschehen sein müssen. Danach machte die Stabilisierung von FDGBGewerkschaften keinen Sinn mehr. Am 2. Oktober versammelten sich 151 Delegierte in der Fritz-Heckert-Str. 70, dem alten Vorstandsgebäude des Gesamtverbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter. Auf der Zentraldelegiertenkonferenz knapp drei Monate zuvor waren es noch 276 Delegierte gewesen. Eine Erklärung für diesen Rückgang wurde nicht gegeben. Aktuelle Mitgliederzahlen wurden weder im Geschäfts- noch im Finanzbericht erwähnt. Der Vorsitzende Jürgen Kaiser trug den Geschäftsbericht vor. Auch er ersparte sich einen historischen Rückblick und versuchte, den Blick nach vorne zu richten. Es gelte nun, den eingeschlagenen Weg zur geeinten ÖTV zu besiegeln, die Mitglieder der GÖD könnten „das ohne Wehmut tun. (...) Es gibt keinen Grund, nicht aufrecht und selbstbewusst in die deutsche Einheit zu gehen.“26 Es schloss sich eine „emotionsgeladene Diskussion“ an, die sich jedoch nicht am Grundsatzbeschluss der Auflösung entzündete, sondern an der vergleichsweise nebensächlichen Frage des „Treuegeldes“. Die ÖTV gewährte ihren Mitgliedern bei Eintritt in den Ruhestand oder Erwerbsunfähigkeit, gestaffelt nach Mitgliedsjahren, eine Geldzuwendung, genannt Treuegeld (nach 15 Jahren das 20fache, nach 20 Jahren das 30fache des Monatsbeitrages). Sie wollte den ehemaligen FDGB-Mitgliedern jedoch erst nach drei Jahren Mitgliedschaft in der ÖTV einen Anspruch auf Treuegeld gewähren. Das weckte Empörung. Ein Delegierter sah darin „eine zweitklassige Mitgliedschaft der ehemaligen DDR-Gewerkschafter“ und er drohte, „diesen Skandal“ öffentlich zu machen, indem er „jedes einzelne ÖTV-Mitglied“ aufforderte, „ab sofort seine Mitgliedschaft niederzulegen.“ Ein anderer hielt die beabsichtigte Regelung „politisch und moralisch echt für verwerflich“.27 Die ÖTV-Vertreter aus dem Westen versuchten, ihre Kollegen zu beschwichtigen. Ob dies mit dem vorgetragenen Argument, Gewerkschaften seien kein „Arbeitersparverein“ gelungen ist, lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Emotionen kamen ebenfalls hoch bei der Frage, wer die vergleichsweise großzügigen Sozialplanregelungen für ausscheidende hauptamtliche Funktionäre bezahlen sollte. Die einmaligen Abfindungen beliefen sich auf das sieben- bis neunfache des Nettomonatsverdienstes der ehemaligen FDGB-Funktionäre. Die Delegierten wollten hierzu Genaueres wissen. Jürgen Kaiser antwortete ausweichend: -
„Zwischenruf: Sag doch mal in welcher Höhe? Kaiser: (...) recht unterschiedlich (...) diese Abfindungen, (...), gehen auch aus unseren Mitgliedsbeiträgen hervor.
25 Finanz- und Vermögensbericht des Geschäftsführenden Vorstandes der GÖD für die Zeit vom 09.06.1990 bis 24.09.1990, SAPMO, DY 45/1662. 26 Außerordentliche ZDK der GÖD am 02.10.1990, Wortprotokoll, SAPMO, DY 45/1662. 27 Ebd.
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Kaiser: Nein, das stimmt nicht (...), sondern aus dem Verkauf von Immobilien.“28
Der Appell der Konferenz an die Mitglieder der GÖD, der ÖTV beizutreten, fiel sachlich aus. Dort hieß es, der Beitritt zur ÖTV sei „der beste Weg zur Schaffung einer starken Interessenvertretung.“ Angefügt wurde die Erwartung, die ÖTV werde „Gewähr für eine gleichberechtigte, wirksame Interessenvertretung all ihrer Mitglieder in Deutschland“ bieten. Dies war im Unterschied zur Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen eine sehr zurückhaltende Anspielung auf die Kritik an dem nicht gleichberechtigten Vereinigungsprozess.29 Mit sieben Gegenstimmen bei fünf Enthaltungen wurde beschlossen: „Auf der Grundlage der Satzung § 13 wird die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst mit Wirkung vom 2.10.1990, 24.00 Uhr aufgelöst.“30
Auch die GÖD fand keine Gnade mehr in der Berichterstattung der Tribüne, dem ehemaligen Zentralorgan des FDGB. Das geringe Interesse der Delegierten an der Arbeit ihrer Gewerkschaft wurde hervorgehoben und mit der abschließenden Bemerkung kommentiert: „Die Aufforderung, wenigstens noch dem geschäftsführenden Vorstand für seine bislang geleistete Arbeit zu danken, ging im vorzeitigen Türeklappern unter.“31 Dies scheint eine verzerrte Wahrnehmung des Geschehens gewesen zu sein. Die GÖD wies diese Berichterstattung jedenfalls entschieden zurück.32
IG Transport (IGT) Die ab Januar 1990 eigenständige IG Transport hatte aus der Erbmasse der alten IG Transport- und Nachrichtenwesen 250.000 Mitglieder übernommen. Im Bericht zum Auflösungskongress der Gewerkschaft am 29. September 1990 zählte sie indes nur noch 150.000 Mitglieder. Demnach hatte sie in den vergangenen neun Monaten 100.000 und damit 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Als Ursachen wurden genannt: „Entflechtung des zentralisierten Verkehrswesens: 30.000, Arbeitslosigkeit: 30–40.000, mangelhafte Org.-Strukturen: 30–40.000.“33 Im Bericht des Vorsitzenden Biesold an den Kongress wurde noch auf eine gewichtigere Ursache verwiesen. Die Zahlen zeigten auch, „wie groß der Vertrauensverlust in die Gewerkschaftsarbeit auch bei unseren Mitgliedern war und zum Teil heute noch ist“.34 Dieser Mitgliederschwund hinterließ Spuren im Beitragsaufkommen. Die erwarteten Einnahmen für den Zeitraum vom 1. März bis 30. Juni 1990 waren nicht annähernd erreicht worden. Von den geplanten vier Millionen Mark wurden nur 2,4 Millionen eingenommen. Das waren 800.000 Mark pro Monat. Als Ursache für den Einbruch des Beitragsaufkommens wurden die Umstellung auf „markenlose Kassierung“ und ein anhaltender Stopp in der Beitragszahlung genannt. Letzteres geschah deshalb, weil in „den 28 29 30 31
Ebd. Appell der Zentraldelegiertenkonferenz, die aktuelle, 14/9. Grundsatzantrag, ebd. Christina Fischer, Nun auch noch ÖTV-Mitglied zweiter Klasse, Tribüne vom 4. Oktober 1990. 32 Vgl. Gertraude Sinn, Vom Wert freier Presse, die aktuelle, 14/9. 33 Ordentlicher Gewerkschaftstag der IG Transport am 29.9.1990 in Bernau, Bericht, Reinschrift, SAPMO, 50/1620. 34 Ebd.
144 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Gewerkschaftsgruppen und BGLn große Unsicherheit über den Verbleib der Mitgliedsgelder“ bestand.35 Im anschließenden Zeitraum vom 1. Juli bis zum 7. September hätte man dieses Problem, wenn schon nicht beheben, so doch vielleicht verringern können. Doch verlorenes Vertrauen war so kurzfristig nicht zurückzugewinnen. Der Niedergang der IG Transport setzte sich dramatisch fort. Inzwischen wurden nur noch ca. 90.000 DM Beitragseinnahmen pro Monat erzielt. Das war gerade mal ein Neuntel der Summe, die noch im Juni eingenommen wurde. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Berliner Mitglieder der IG Transport bereits alle in die ÖTV eingetreten waren und außerhalb Berlins auch einige in die ÖTV in der DDR, ergibt dies – gemessen an der Mitgliederzahl von 110.000 und einem durchschnittlichen Beitrag von 8 DM – einen kaum vorstellbaren Fehlbetrag von 790.000 DM. Falls diese Zahlen richtig sind, dann war die IG Transport finanziell am Ende. Der Kommentar zu diesem Ergebnis, es würde „nachdenklich“ stimmen,36 konnte nur deshalb so gelassen ausfallen, weil die IG Transport wenige Tage später tatsächlich zu existieren aufhörte. Von 183 möglichen Delegierten der IG Transport versammelten sich 153 am 29. September 1990 in der Gewerkschaftshochschule Fritz Heckert in Bernau, um über die Auflösung zu entscheiden. Karl-Heinz Biesold begründete zunächst nochmals die Entscheidung, sich der ÖTV anzuschließen. Er ging dabei im Unterschied zu seinen Kollegen bei der GÖD und GSW auf Grundfragen des Zusammenbruchs des FDGB und seiner Gewerkschaften ein: „Ihr seid sicherlich mit mir einig, dass es nicht gerade der FDGB war, der sich an die Spitze für eine freiheitliche und demokratische Politik stellte. (...) Die Gründung unserer Industriegewerkschaft im Februar dieses Jahres war eine logische Fortführung des mit dem Vorbereitungsausschuss begonnenen Demokratisierungsprozesses. (...) Auf unserer Gründungskonferenz haben wir uns ausdrücklich dafür ausgesprochen, dass wir nie wieder einen FDGB im alten Stil mit einer verkrusteten und undemokratischen Machtstruktur und –apparat zulassen werden. Ihr wisst, wie groß der Vertrauensverlust in die Gewerkschaftsarbeit auch bei unseren Mitgliedern war und zum Teil heute noch ist. Es ist deshalb auch nicht zufällig gerade unser Vorstand, der im Juni d. J. den Misstrauensantrag gegen (...) den FDGB-Apparat gestellt und so das endgültige Grab für den FDGB geschaufelt hat.“37
Obwohl er eingestand, dass die IG-Transport seit der Wende 100.000 Mitglieder und damit rund 40 Prozent verloren hatte, dass die Organisationsstrukturen mangelhaft seien und dass das dramatisch gesunkene Beitragsaufkommen „nachdenklich“ stimme, beschwor er die Delegierten mit den Worten: „Wir lösen uns nicht aus Schwäche auf, sondern um gemeinsam stärker zu sein.“ In der nachfolgenden Diskussion machten einige Delegierte kein Hehl daraus, dass sie Befürchtungen plagten, dass die Entscheidung, der ÖTV beizutreten, nicht richtig sei. Bemerkenswert war vor allem, dass einige von ihnen erkennen ließen, dass sie nur schweren Herzens Abschied von ihrer Vergangenheit als kommunistische Massenorganisation nahmen: „Ich wollte an und für sich heute nicht reden, weil die gesamte Konferenz für mich sehr bedrückend ist, außerordentlich bedrückend, einmal weil sich doch die Industriegewerkschaft Transport auflöst (...) Aber viel mehr bedrückt mich, weil höchstwahrscheinlich die künftige
35 Finanzbericht des Geschäftsführenden Vorstandes, ebd. 36 Begründung des Finanz- und Vermögensberichtes, ebd. 37 Bericht, Ordentlicher Gewerkschaftstag der IG Transport am 29. September 1990, Protokoll, SAPMO, DY 50/1627.
ÖTV-Anfang und FDGB-Ende 145 Interessenvertretung durch die ÖTV für viele Mitglieder sehr fragwürdig sein wird. (...) Wir rechnen mit kommunistischer Vergangenheit ab. Das hat mich sehr erstaunt, bedrückt.“38
Dies zeigte auch der Versuch, eine vorsichtige Ehrenrettung der BGL zu formulieren: „Es muss ja nicht alles falsch gewesen sein, was bei uns gewesen ist. Jedenfalls die basisnahe Arbeit brauchen unsere Kollegen, sie sind nichts anderes gewöhnt. Wenn es Probleme gab, war der AGLer, war der Vertrauensmann, war der BGLer da. In welcher Qualität auch immer. Und wenn jetzt plötzlich keiner mehr da ist, der unseren Kollegen mal ein offenes Ohr schenkt, dann erleben wir ein Fiasko.“39
Der ÖTV wurde der Hinweis mitgegeben: „Nicht alle Kolleginnen und Kollegen, Funktionäre der IG Transport waren Befehlsempfänger der SED, und selbst wenn, es gab auch wirkliche Interessenvertreter unter ihnen.“40
Schließlich wurde der Antrag „Die IG Transport wird mit Wirkung vom 2.10. 1990, 24.00 Uhr, aufgelöst“, mit 138 Ja- und sechs Neinstimmen bei neun Enthaltungen angenommen und die Empfehlung an die Mitglieder gegeben, der ÖTV beizutreten.41
Das Ende des Dachverbandes FDGB Der im Februar neu gewählte Vorstand des Dachverbandes FDGB hatte vor allem den Auftrag, den riesigen Organisationsapparat des FDGB sowohl an der Spitze als auch in den Kreisen und Bezirken abzuwickeln. Ferner sollte er ein Konzept für den Reisedienst mit immerhin 18.000 Beschäftigten erstellen, der formal auf dem Kongress ausgegliedert worden war. Die Vermögensverhältnisse mussten offengelegt werden, um den umfangreichen Besitz an Immobilien, wie Gewerkschafts- und Gästehäuser etc, angemessen auf die Einzelgewerkschaften verteilen zu können. Der geschäftsführende FDGB-Vorstand war dieser Aufgabe nicht gewachsen, sei es, weil seine Mitglieder unfähig, sei es, weil sie unwillig waren, sei es, dass die Vermögensverhältnisse tatsächlich zu verworren waren, um sie transparent machen zu können. Vor allem die Eigentumsverhältnisse an vielen Immobilien waren in der Kürze der Zeit nicht aufklärbar. Zu willkürlich waren Enteignungen durch die SED und Übertragungen an den FDGB erfolgt. Beim FDGB gingen ab 1. April 1990 keine Beiträge mehr ein. Für das erste Quartal 1990 weist der Finanzbericht des FDGB 103,1 Millionen Mark Beitragseinnahmen aus. Damit lagen sie um 403,1 Millionen Mark unter dem Beitragsaufkommen im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Diese „stark rückläufige“ Entwicklung von ca. 80% wird „vor allem auf den großen Vertrauensverlust vieler Mitglieder zum FDGB“ zurückgeführt. Man nahm jedoch an, dass dies nicht nur durch Austritte sondern hauptsächlich durch „nicht satzungsgemäße Beitragszahlung“ verursacht wurde. Für den gesamten Berichtszeitraum 1. Halbjahr 1990 hatte der FDGB noch Einnahmen aus anderen Quellen von 46,2 Millionen Mark. Von den Gesamteinnahmen mussten für das erste Quartal noch die diversen Organisationsgliederungen samt Einzelgewerkschaften finanziert werden. Ab dem 1. April sollte 38 39 40 41
Aussprache, Horst Bergmann, ebd. Aussprache, Manfred Fehling, ebd. Aussprache, Felicitas Renke, ebd. Ordentlicher Gewerkschaftstag der IG Transport am 29. September 1990, handschriftliches Protokoll, SAPMO, DY 50/1626.
146 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess der FDGB umgekehrt von den Einzelgewerkschaften über einen Beitragsanteil von 12,5 % finanziert werden. Dieser Verpflichtung konnten die Einzelgewerkschaften indes nicht nachkommen. Ihre Beitragseinnahmen reichten nicht einmal aus, um ihre eigenen Aufwendungen zu bestreiten, geschweige denn, um Anteile an den Dachverband abzuführen. Sie waren im Gegenteil ihrerseits darauf angewiesen, vom FDGB finanzielle Unterstützung zu nehmen. Formal wäre dies problemlos möglich gewesen, da die Vorstände der Einzelgewerkschaften den FDGB seit Februar kontrollierten. Allein es fehlte an Verfügungsmasse. Dem FDGB standen im 1. Halbjahr nur 87,2 Millionen Mark von den benötigten 126,5 Millionen Mark zur Verfügung. Dazu kamen weitere 48 Millionen Mark, die er den Einzelgewerkschaften überwies, um deren Finanzierungslücken aufzufüllen. Doch woher kam das Geld? Der Finanzbericht spricht verschleiernd davon, dass die Differenzen „aus den finanziellen Beständen beim gewerkschaftlichen Dachverband finanziert“ wurden. Gemeint waren damit mehrere Millionen Mark, die noch im Solidaritätsfonds des FDGB schlummerten. Dieser Fonds wurde kurzerhand in einen „Ausgleichsfonds“ umbenannt und das Geld für die Finanzierung der laufenden Kosten der Gewerkschaftsapparate des FDGB wie die der Einzelgewerkschaften verwandt. Auch die relativ großzügigen Sozialpläne für die Beschäftigten wurden daraus finanziert. Die „Gewerkschaftsvorsitzenden erzwangen diesen Zugriff auf den Solidaritätsfonds, um den FDGB und die eigenen Apparate finanzieren zu können.“42 Es mag rechtlich strittig sein, wem das Geld im Solidaritätsfonds gehörte, eindeutig ist indes seine Herkunft aus Spenden der Mitglieder. Es wurde gesammelt, um den Armen der Welt zu helfen – und nicht, um Gewerkschaftsapparate zu finanzieren. In den Quellen finden sich keine Anzeichen von Unrechtsbewusstsein bei den Personen, die diese Zweckentfremdung vornahmen. Zum Ende des Berichtszeitraums konstatierte der FDGB für sich „eine ernste Finanzlage.“43 Der FDGB-Vorstand konnte sich nach dem Kongress im Februar nur schwer in seine neue, einflusslose Rolle hineinfinden Er glaubte, weiter selbständig gewerkschaftspolitisch agieren zu dürfen. Dies stieß bei den Einzelgewerkschaften auf wenig Gegenliebe. Das Fass zum Überlaufen brachte ein „Offener Brief“ des FDGB-Vorstandes vom 4. Mai 1990 an den Ministerpräsidenten de Maizière. Er forderte darin bei Einführung der Währungsunion eine 50%ige Lohnerhöhung sowie die Arbeitszeitreduzierung auf 38 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Er drohte sogar Warnstreiks zur Durchsetzung dieser Forderungen an. Diese Aktion war nur vom geschäftsführenden Vorstand ohne Abstimmung mit den Vorständen der Einzelgewerkschaften begonnen worden. Sie reagierten verständlicherweise erbost: „Man versuchte. Beschlüsse durchzubringen oder Entscheidungen vorzubereiten, von denen die Einzelgewerkschaften nichts wussten. Es war eigentlich schon eine Festlegung getroffen, dass dieses Gremium aus dem FDGB keine eigenen Beschlüsse fassen konnte. Und trotzdem sind solche Pressemitteilungen herausgegangen, die nicht abgestimmt waren, (...) und das hat dazu geführt, dass wir gesagt haben, jetzt ist Schluss, absolut Schluss.“44
Schluss bedeutete hier, dass die Einzelgewerkschaften entschlossen waren, den FDGB aufzulösen. Sie benötigten ihn nicht mehr, weil sie längst, jede auf eigene Faust, eine 42 Weinert/Gilles, a.a.O., S. 135. 43 Alle Zahlen aus: Finanz- und Vermögensbericht des Geschäftsführenden Vorstandes des FDGB für das 1. Halbjahr 1990, in: Gewerkschafts-Kongress zur Auflösung des FDGB, Berlin, 14. September 1990, Hg.: Bund der IG/Gew./Geschäftsführender Vorstand, September 1990. 44 Interview mit Karl-Heinz Biesold vom 17. September 1992, Rohmanuskript, S. 25, SMS.
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Kooperation mit ihren jeweiligen potentiellen Partnergewerkschaften im DGB anstrebten. Es gab noch einen anderen wichtigen Grund, sich des FDGB zu entledigen. Die Einzelgewerkschaften vermuteten nicht zu Unrecht, dass das katastrophale Image des FDGB auch an ihnen haftete: „Das Vertrauen der Mitglieder in den FDGB war verloren. Dadurch wurde auch die Arbeit der Einzelgewerkschaften existentiell gefährdet, solange sie den FDGB als Dachverband mitgetragen hatten.“45
Die Hoffnung, mit der Auflösung des FDGB-Dachverbandes den alten Stallgeruch loszuwerden, hatte jedoch getrogen. Ihre über 40-jährige Vergangenheit als FDGBGewerkschaften im Dienste der SED-Herrschaft wurden sie auch als formal unabhängige Einzelgewerkschaften nicht mehr los. Die IG-Bergbau (Ost) setzte das Signal zur Auflösung des FDGB im gleichen Augenblick, in dem sie entschlossen war, der IG Bergbau und Energie (West) beizutreten. Ihr Hauptvorstand forderte, dem geschäftsführenden FDGB-Vorstand das Misstrauen auszusprechen und ihn zu zwingen, die Finanzen kurzfristig offenzulegen. Sollte dies nicht bis zum 30. Juni 1990 geschehen, werde die IGBEW die Auflösung des Dachverbandes betreiben.46 Auch die IG Transport beanspruchte für sich das Verdienst, ein wichtiges Scherflein zur Entmachtung des FDGB-Vorstandes beigetragen zu haben: „Am 9. Mai ist jedenfalls auf Antrag der IG Transport der FDGB endgültig gekippt worden.“47 Die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften bestimmten am 9. Mai 1990 einen dreiköpfigen „Sprecherrat“ der Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften zur Wahrnehmung der übergreifenden gewerkschaftlichen Interessen gegenüber Regierung und Parteien der DDR und dem DGB. Sie wählten Peter Rothe, den Vorsitzenden der Eisenbahnergewerkschaft, zum maßgeblichen Mitglied und legten fest, „dass der Sprecherrat seine Aufgabe verliert, wenn sich die Einzelgewerkschaften der DDR und der BRD zusammengeschlossen haben.“48 Damit war das Ende des FDGB faktisch beschlossen. Verbandsrechtlich gesehen musste noch ein Kongress die Auflösung beschließen. Die vornehmliche Aufgabe des Sprecherrats bestand darin, im Vorfeld die undurchsichtigen Vermögensfragen des FDGB zu klären, Vorschläge für die Vermögensaufteilung zu entwickeln und den Auflösungskongress für den September vorzubereiten.49 Peter Rothe wurde bereits am nächsten Tag zum DGB nach Düsseldorf eingeladen. Im Gespräch mit dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit haben sich beide darauf verständigt, „dass sich die jeweiligen Einzelgewerkschaften möglichst schnell (...) unter dem Dach des DGB zusammenschließen“ und sich der FDGB bis Ende September auflösen sollte.50 Es klingt so, als sei die schnelle Auflösung der Einzelgewerkschaften eine Entscheidung zwischen den Vorsitzenden zweier Dachverbände gewesen. Diese Beschreibung verkennt jedoch die Machtverhältnisse zwischen dem DGB und seinen Einzelgewerkschaften und auch die zwischen dem FDGB und den mittlerweile autonomen Einzelgewerkschaften der DDR. Diese entschieden eigenständig über ihre Belange. 45 Auflösungsbeschluss des außerordentlichen FDGB-Kongresses vom 14.09.1990, in: Ulrich Gill, FDGB. Die DDR-Gewerkschaft von 1945 bis zu ihrer Auflösung 1990, Köln 1991, S. 137. 46 Protokoll, Hauptvorstandssitzung vom 23.04.1990, SAPMO, 37/3044. 47 Interview mit Karl-Heinz Biesold vom 17. September 1992, Dokumentation, S. 187. 48 Beschluss der Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften des FDGB über dessen Auflösung, 09.05.1990, in: Gill, a.a.O., S. 135. 49 Vgl. detaillierte Schilderung bei Weinert/Gilles, a.a.O., S. 127ff. 50 Ebd., S. 127.
148 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess Am 14. September fand der FDGB-Auflösungskongress statt. Ein kleines Häufchen von Delegierten versammelte sich im erst jüngst errichteten Protzbau des FDGBBundesvorstandes an der Jannowitzbrücke („Tischkasten“), um den FDGB zu Grabe zu tragen. „Keiner weinte ihm eine Träne nach. Es ging nur noch darum, das Vermögen in Sicherheit zu bringen.“51 Mit 112 Stimmen bei zwei Enthaltungen beschloss der Kongress: „Der FDGB wird mit Wirkung zum 30. September 1990 als Dachverband der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften – gemäß der beschlossenen Satzung vom 31.01./01.02, 1990 – aufgelöst.“52
In der Tribüne hieß es vorweg: „Nach dem vorliegenden Zeitplan soll in vierstündiger Konferenz der Schlusspunkt unter die 45jährige Geschichte einer Organisation gesetzt werden, die den Anforderungen der Zeit nicht standhielt. Es wird eine sang- und klanglose Beerdigung.“53
Das stimmte.
ÖTV im vereinten Deutschland Am Stichtag 1. November zählte die ÖTV in den neuen Bundesländern einschließlich Ost-Berlin 591.000 neue Mitglieder. Das dürfte in etwa dem Bestand der FDGBGewerkschaften aus dem Organisationsbereich der ÖTV entsprechen – einschließlich der nicht-zahlenden Mitglieder. Für die ÖTV war dies ein großer Erfolg. Befürchtungen, durch das Verfahren des Einzelbeitritts würden Beschäftigte im größeren Umfang der ÖTV fernbleiben, hatten sich nicht bestätigt. Zum 31. Dezember 1989 wurden im vergleichbaren ÖTV-Organisationsbereich in den neuen Bundesländern 1.474.000 Beschäftigte gezählt.54 Legt man den ursprünglichen Organisationsgrad des FDGB von 97% zugrunde, dann hatte der FDBG im Bereich Öffentlicher Dienst und Verkehr ca. 1.429.000 Mitglieder. Doch dies war der Organisationsgrad einer politischen und sozialen Zwangsorganisation. Die Mitgliederzahl der ÖTV in den neuen Bundesländern entsprach am 1. November einem Organisationsgrad von ca. 40 %. Das lag deutlich über Westniveau. Freie Gewerkschaften in der Bundesrepublik erreichten zu diesem Zeitpunkt einen Organisationsgrad von ca. 30 % und lagen damit im Vergleich der westlichen Industrieländer sogar noch an der Spitze. Daran gemessen lässt sich das Ergebnis in den neuen Bundesländern als überzeugender Vertrauensvorschuss für die ÖTV interpretieren. Dieser sollte sich in den kommenden Monaten sogar noch verstärken. Zum außerordentlichen Gewerkschaftstag am 14./15. Februar 1991 zählte die ÖTV in der ehemaligen DDR über 800.000 Mitglieder. Das entsprach, bezogen auf die Beschäftigtenzahl vom 31. Dezember 1989, einem Organisationsgrad von 54%. Er dürfte sogar noch höher gelegen haben, da die Beschäftigtenzahl zu diesem Zeitpunkt bereits abgenommen hatte. Die ÖTV hatte also Mitglieder zurückgewonnen, die vorher den FDGBGewerkschaften den Rücken gekehrt hatten. Darin drückte sich nicht nur großes Vertrau51 52 53 54
Vgl. Gill, a.a.O, S. 135ff. Zit. n. ebd., S. 137. Grablegung am Märkischen Ufer, Tribüne vom 13. September 1990. Schreiben, Werner Ruhnke an gHV, Steuerungsgruppe, BeraterInnen, 05.06.1990, SJS, 4.378.
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en aus, sondern eine vielleicht noch größere Erwartung: Die ÖTV werde den Übergang in die Ordnung der Bundesrepublik und in das System der sozialen Marktwirtschaft schon richten. Sie werde vor allem für eine schnelle Angleichung an das materielle Niveau Westdeutschlands sorgen und verhindern, dass Arbeitsplätze verloren gingen. Die Erwartungen der DDR-Bürger an die Gewerkschaften waren riesengroß und überstiegen weit die Möglichkeiten einer Gewerkschaft. Es war den Verantwortlichen der ÖTV klar, dass diese Erwartungen nicht zu erfüllen waren, dass es zu Enttäuschungen kommen würde und dass sich der hohe Organisationsgrad nicht würde halten lassen. Die Stimmungslage der ÖTV-Mitglieder (West) war eine andere. Sie begannen zu ahnen, dass die Angleichung in den neuen Bundesländern auch von ihnen einen Solidaritätsbeitrag verlangen würde. Sie sahen mittlerweile besorgt Richtung Osten. Als rund 1.000 Delegierte aus Ost und West sich am 14. Februar 1990 zum außerordentlichen Kongress der ÖTV in der Stuttgarter Messehalle versammelten, herrschte eine große Fremdheit zwischen ihnen, die zu keinem Zeitpunkt des Kongresses aufgebrochen oder gar überwunden werden konnte. Die Menschen aus Ost und West fanden nicht zueinander, sie hatten sich scheinbar nichts zu sagen. „Das war ziemlich schrecklich. Da konnte man deutlich sehen, dass im Saal zwei völlig unterschiedliche Gruppen von Gewerkschaftern saßen.“55 Nicht einmal Wolf Biermann vermochte es, das Eis zu brechen. Dabei hatte der Kongress sich vorgenommen, gemeinsam das Erreichte zu feiern und die Annährung zwischen den Ost- und Westmitgliedern zu fördern. Anlass dazu gab es ja überreichlich. Innerhalb eines Jahres hatte man etwas historisch Einmaliges erlebt: Der Kalte Krieg war vorbei, die Ost-West-Konfrontation gehörte der Vergangenheit an, das kommunistische Experiment russischer Prägung hatte sein vollständiges Scheitern vor aller Welt eingestanden und Deutschland war wiedervereinigt. Die westlichen Werte von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten im Verbund mit einer sozialstaatlichen und ökonomischen Marktordnung, die für Millionen Menschen, gerade auch für die abhängig Beschäftigten, einen einmaligen Wohlstand ermöglichte, hatten im Systemwettbewerb triumphiert. Doch von diesen weltbewegenden Ereignissen war wenig die Rede und von einer Feststimmung nichts zu spüren. Die Delegierten wurden nüchtern auf harte gewerkschaftliche Arbeit und drohende soziale Verwerfungen eingeschworen. Monika Wulf-Mathies begann ihre Eröffnungsrede mit der Feststellung: „Feiern zur deutschen Einheit sind beendet. Gesamtdeutscher Alltag ist in unser Leben eingezogen. Die Euphorie der ersten Tage ist verschwunden. Statt auf nüchternen Realismus stoßen wir mehr und mehr auf ein Gefühl der Benachteiligung und Enttäuschung: Unsicherheit und Angst um Arbeitsplatz und soziale Sicherheit lassen den Gewinn an Freiheit – die Freiheit zu reisen und seine Meinung frei zu äußern, frei zu wählen, frei zu sein von staatlicher Bespitzelung und Machtmissbrauch und freie und unabhängige Gewerkschaften bilden zu können – hinter der sehr realen Bedrohung der sozialen Existenz vieler neuer Bundesbürgerinnen und Bundesbürger zurücktreten.“56
Weder den Delegierten noch der ÖTV-Führung war zum Feiern zumute. Sie sahen sich mit extremen Herausforderungen konfrontiert, sowohl durch die Erwartungen der neuen Mitglieder aus der ehemaligen DDR als auch der alten West-Mitglieder. Beide erforderten einen Ausgleich. Es zeigte sich erst jetzt, in welch gigantischem Ausmaß die SED die DDR ökonomisch ruiniert hatte und welcher Anstrengungen und Opfer es bedurfte, um eine Angleichung der materiellen Lebensbedingungen im Osten zu erreichen – gerade 55 Interview mit Monika Wulf-Mathies vom 22. Juli 2009, Dokumentation, S. 410. 56 Protokoll, außerordentlicher Gewerkschaftstag, ÖTV, Stuttgart 1991 (14./15.2.1990), S. 27.
150 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess auch von den Arbeitnehmern der alten Bundesrepublik. Diese einfache Wahrheit war jedoch vielen Gewerkschaftsmitgliedern im Westen nicht zuzumuten. Solange es bei allgemeinen Solidaritätsbekundungen blieb, waren sie bereit zuzustimmen. Wenn es an die eigene Tasche ging, hörte der Spaß auf. Das Prinzip „Besitzstandswahrung“ war Gewerkschaftern heilig. Es kennzeichnete das Mindeste, was die Mitglieder von ihrer Gewerkschaft erwarteten. Doch darum ging es ihnen 1990 nicht. Sie wollten eine Lohnerhöhung ohne Rücksicht auf die jüngsten politischen und ökonomischen Veränderungen und ausschließlich bezogen auf die Lohnzurückhaltung zurückliegender Jahre. Die Einheit war noch gar nicht vollzogen, da musste die ÖTV-Vorsitzende bereits Ängste zerstreuen. Sie rief ihren Mitgliedern im September 1990 zu, was diese hören wollten: „Kein Anlass für lohnpolitische Vereinigungsopfer.“57 Die ÖTV forderte deshalb eine Steigerung der Westlöhne um „10 Prozent“. Als in der Tarifrunde für die alten Bundesländer die ÖTV-Vorsitzende nach hartem Streik 1992 einer Schlichtung zustimmte und die Erhöhung von 5,4% zuzüglich Sonderzahlungen akzeptierte, war das den Westmitgliedern zu wenig. Sie verweigerten ihr in einer Urabstimmung die erforderliche Zustimmung. Einen „Lohnabschlag“ zu Gunsten der deutschen Einheit lehnte die ÖTV „kategorisch“ ab. Sie bezweifelte, dass dieses Geld bei ihren Kollegen im Osten tatsächlich ankommen würde. Wie in der Auseinandersetzung über den richtigen Umtauschkurs der Währungen gab es auch in der Frage der Lohnniveaus in Ost und West einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem ökonomisch Vernünftigen und dem politisch Unvermeidlichen. Ein Niedriglohnsektor Ost – bezogen auf das dortige Produktivitätsniveau – hätte vielleicht verhindert, dass die industrielle Produktion in kürzester Zeit dramatisch zusammenbrach. Dies wäre jedoch den Menschen der ehemaligen DDR nicht vermittelbar gewesen und hätte vermutlich den personellen Exodus erheblich verschärft. Für eine Gewerkschaft wäre es gänzlich unmöglich gewesen, eine solche Politik gutzuheißen. Alleine die Tatsache, dass sie der lediglich schrittweisen Angleichung der Vergütung Ost an das Niveau im Westen zustimmte, war schon ausgesprochen mutig. Es widersprach dem gewerkschaftlichen Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Es fand sich dafür nur deshalb eine Mehrheit, weil die Angleichung in „Riesenschritten“ erfolgen sollte. Im September 1990 hatte die ÖTV eine durchschnittliche Erhöhung der Löhne und Gehälter um 30% durchgesetzt, für 1991 forderte sie „eine Erhöhung des Lohnniveaus um weitere 30 Prozent.“ Dies wäre einer Zweidrittel-Angleichung an das West-Niveau gleichgekommen.58 Neben der Selbstverständigung über die große gewerkschaftspolitische Linie der nun „einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland“ hatte der Kongress die Aufgabe, die neuen Mitglieder aus der ehemaligen DDR satzungsrechtlich einzugliedern. Zwölf zusätzliche Mitglieder für den Hauptvorstand und 18 Mitglieder für den Beirat, den beiden nach dem Gewerkschaftstag höchsten Gremien der ÖTV, waren zu wählen. Dies war alles organisatorisch wohl vorbereitet und verlief ohne größere Aufregung, auch weil sich der Kongress auf eine en-bloc-Abstimmung verständigt hatte. Nur kurz geriet die Kongressregie in Gefahr, als sich Widerspruch gegen die Wahl eines Kollegen erhob, der in der DDR Funktionär des FDGB gewesen war. Fast wäre an dieser Stelle eine inhaltliche politische Diskussion über die DDR entstanden. Doch eine solche war nicht vorgesehen. Nach kurzer Diskussion wurde der Kollege wie vorgesehen gewählt und der Kongress 57 Monika Wulf-Mathies, Kein Anlass für lohnpolitische Vereinigungsopfer, in: ÖTV-magazin, 9/90, S. 4f. 58 Monika Wulf-Mathies, Rede, Protokoll außerordentlicher Gewerkschaftstag der ÖTV, Stuttgart 1991, S.34.
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wie geplant fortgesetzt. Die Kollegen aus der ehemaligen DDR waren ab jetzt an allen Entscheidungen der ÖTV beteiligt. Die Delegierten stellten auch die Weichen für die weitere organisatorische Entwicklung der ÖTV in den neuen Bundesländern. Mit der Entscheidung, zusätzlich zu den Kreisverwaltungen fünf Bezirke zu errichten, glichen sie den Organisationsaufbau der dreigliedrigen Struktur – Kreis, Bezirk, Bund – der ÖTV im Westen an. Formal gesehen, hatte der Kongress damit sein Arbeitsprogramm erfolgreich abgeschlossen. Bei vielen Teilnehmern hinterließ der Kongress jedoch ein diffuses Unbehagen. Nicht nur gegenüber den großen politischen Umwälzungen und Ereignissen des letzten Jahres hatte auf dem Kongress eine freudlose Distanziertheit geherrscht, auch die eigene Leistung, der eigene Beitrag zum Gelingen der deutschen Einheit schien den meisten Delegierten kein Grund zum Feiern. Sowohl die ehren- und hauptamtlichen Funktionäre als auch die Mitglieder aus Ost und West hatten in kürzester Zeit eine neue Gewerkschaft in der DDR aufgebaut. Sie hatten in unzähligen Veranstaltungen Informationen, Beratung und Qualifizierung angeboten, tonnenweise Material (Gesetzestexte und Kommentare) zur Verfügung gestellt, beim Aufbau von Betriebs- und Personalräten geholfen, zum Aufbau der Selbstverwaltungsorgane in den Sozialversicherungen und Arbeitsämtern beigetragen und sich um die Beisitzer der betrieblichen Schiedsstellen gekümmert. Sie hatten Rechtsschutz angeboten, Kündigungs- und Rationalisierungsschutzabkommen und Sozialpläne verhandelt und Beschäftigungs- und Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt. Nicht zuletzt hatten sie mit dem zentralen Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der DDR eine materielle Sicherung für die Beschäftigten durchgesetzt, die beispielgebend war. Nicht nur beim Entgeltvertrag im September, bereits im November konnte die ÖTV für den Öffentlichen Dienst (ohne Post und Eisenbahn) manteltarifvertragliche Regelungen durchsetzten, die an das Niveau der Bundesrepublik heranreichten, wie die Einführung der 40-Stunden-Woche, Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen. Die ÖTV wie auch die anderen Gewerkschaften trugen entscheidend dazu bei, dass mit dem Zusammenbruch der DDR-Institutionen eben nicht Willkür und ManchesterKapitalismus Einzug hielten, wie diese befürchteten. Diese Leistung wird auch nicht dadurch geschmälert, dass die Gewerkschaften dem Zusammenbruch der DDR-Industrie letztlich machtlos gegenüberstanden. Fraglos war der Verlust des Arbeitsplatzes, der sich für viele abzuzeichnen begann, eine existentielle Bedrohung und eine Demütigung sondergleichen. Der Hinweis, dies sei das Erbe einer verfehlten Wirtschaftspolitik der SED, war kein Trost. Gerade vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der DDR-Industrie wird die große Bedeutung, die die Sicherungssysteme des Sozialstaats und die gewerkschaftliche Interessenvertretung für die Vermeidung von materiellem Elend hatten, deutlich. Diese Bedeutung konnte oft nicht gewürdigt werden, denn das Erreichte blieb häufig hinter den Erwartungen der Menschen zurück. Die Bürger der DDR verglichen ihren Lebensstandard mit dem Niveau der alten Bundesrepublik und nicht mit dem in Polen, der CSSR oder in Ungarn. Sieht man von den großen Tarifkonflikten ab, ist die gewerkschaftliche Interessenvertretung im Lebens- und Arbeitsalltag der lohnabhängig Beschäftigten unspektakulär. Sie ist jedoch von nachhaltiger Wirkung für die Beschäftigten insgesamt – auch für jene, die nicht Mitglieder einer Gewerkschaft sind. Dafür finden die Gewerkschaften nicht die ihnen gebührende öffentliche Aufmerksamkeit. In der unüberschaubaren Zahl von historischen Rückblicken zum 20. Jahrestag der Revolution in der DDR und der deutschen Einheit kommen sie so gut wie nicht vor. Nicht im Fernsehen, nicht in den Büchern, nicht
152 ÖTV und FDGB-Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess in den Zeitungen und Zeitschriften. Sie haben jedoch einen immensen Beitrag zum zwar schwierigen, aber doch gedeihlichen Zusammenwachsen von Ost und West geleistet.
Teil II Dokumentation Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview
Jürgen Angelbeck ÖTV-Beratungssekretär in Halle Interview vom 10. Dezember 1992 J.A.: Zu Beginn der Wende war ich in Florenz auf einer Fortbildung, die mit der ÖTV vereinbart war. Ich sollte italienisch lernen und mich mit einer Rechtsvergleichung befassen. Stichwort Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung in den EG-Teilnehmerstaaten. Ich habe dann von Florenz aus einen Vorstoß gemacht. Ich kann mich gut erinnern. Ich habe dem Kollegen Warburg [stellvertr. ÖTV-Vorsitzender] ein Fax geschickt und darum gebeten, doch mal zu überlegen, wieweit wir uns in den Prozess in der DDR einschalten könnten. Ich habe um Weihnachten herum zunächst die Geschichte in Florenz eingestellt und in Stuttgart Gesamtbetriebsratsarbeit gemacht. Da meine Fortbildung mit Europa zu tun haben sollte, mit der Perspektive, dass ich im Europamaßstab als Gewerkschaftssekretär tätig werde, habe ich mir gedacht, es sei nicht schlecht, wenn ich mich zeitweilig in diesen Prozess als Beratungssekretär der ÖTV einklinke. Ich habe mich gemeldet und wie der Zufall es wollte, bin ich dann nach Halle gekommen. Halle wurde mir empfohlen, weil in der Berichterstattung über die ökologische Situation im Bezirk Halle, Stichwort Bitterfeld und so, keiner eine große Neigung hatte, nach Halle zu gehen. Ich bin vorher zwar oft in der DDR gewesen, weil ich auch früher Verbindungen zum FDGB usw. hatte. Ich kannte also die DDR einigermaßen, auch die Strukturen dort drüben, war also nicht völlig unbeleckt – im Gegensatz zu anderen Kollegen, die rübergingen und die vorher noch nie das Territorium in der DDR betreten hatten. Die sogar bei Reisen nach Berlin nie den Transitweg benutzt hatten, sondern immer nur mit dem Flugzeug geflogen waren. Also ich kannte schon einiges in Sachen DDR, allerdings nicht Halle. Dort war ich zufälligerweise noch nie gewesen. Das war auch für mich völliges Neuland. Wir haben zunächst als Betriebsrat die Bedingungen für die Kollegen, die rübergehen sollten, geregelt. Was an Geld an die Kollegen gezahlt wurde, die Eingruppierung, wie ist das mit den Reisekosten usw. M.S.: Mit welcher Vorbereitung, mit welchen Vorgaben seid ihr in die DDR geschickt worden? J.A.: Also Vorbereitung: Es hat ein Seminar in Berlin gegeben, da wurden Fragen diskutiert, wie ist das dort drüben mit der Ostmark und der Westmark – es war ja noch DDR, wie ist das überhaupt, wo muss man sich polizeilich anmelden und dürfen wir drüben überhaupt tätig werden. Vieles blieb weitgehend offen. Wir sind sozusagen in ein schwarzes Loch geschickt worden. Ja ein schwarzes Loch auch deswegen, weil keine Telekommunikationsmöglichkeiten bestanden mit Stuttgart. Wir sind von einigen Experten geschult worden. Ich erinnere mich z.B. an Kollegen Hillgärtner [Pressesprecher der ÖTV]. Er hat uns beibringen wollen, in welcher Sprache, welcher Diktion wir uns in der DDR zu befleißigen hätten, um dort nicht anzuecken. Also bestimmte Begriffe sollten nicht benutzt werden. Ich erinnere mich z.B. an den Begriff „flächendeckend". Dann sind wir losgelassen worden auf die DDR. Ich hatte das Glück, dass das Terrain in Halle vorbereitet war durch einen älteren Kollegen, ein Rentner-Kollege, dem Hans-Günther Kempf. Er stammte selbst aus der DDR. Als junger Mann war er mal so ein richtiger Kämpfer beim Kombinat Wismut gewesen und ist dann seinerzeit mit seinen Genossen angeeckt. Er gehörte damals, wie er mir erzählte, der SED an. Aber er bekam wohl Probleme wegen seiner kritischen Grundhaltung und musste dann abhauen. Er hatte natürlich noch seine ganze Familie da drüben, er kannte noch alte Kader, die inzwischen
156 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview auch in Rente waren, aber vorher so etwas wie Vorsitzende des Rats des Kreises waren usw. Diese ganzen connections konnte er nutzen. Deswegen sind wir da sozusagen in ein gemachtes Nest gekommen. Wir hatten auch gleich eine Wohnung, die wir als Büro eingerichtet haben und sofort auch ein Telefon, waren also insofern privilegiert. Wir konnten da pennen, brauchten also nicht in Hotels gehen. Ich habe z.B. beim VEB Leichtmetallbaukombinat mehrere Wochen in Halle gewohnt. Andere Kollegen mussten für teures Geld bei völlig überhöhtem Preis in Interhotels wohnen, zum Teil über Monate. Das traf für uns alles nicht zu, insofern waren wir, ich sage es noch mal, privilegiert. M.S.: Wie waren die ersten Kontakte, was habt ihr am Anfang gemacht? J.A.: Erst mal haben wir uns natürlich bekannt gemacht. Wir mussten natürlich den Werktätigen in der DDR möglichst rasch mitteilen, dass wir da sind. Wir haben eine Pressekonferenz organisiert. Vorher haben wir Kontakt mit der frisch gegründeten SPD in Halle aufgenommen. Die Genossen von der SPD hatten bereits Pressekontakte und die haben sie uns zur Verfügung gestellt. Der Pressesprecher von der SPD hat dann eine Pressekonferenz arrangiert. Inzwischen ist er als hauptamtlicher Pressemann beim DGB in Halle gelandet. Es ging alles, durch unsere Wessi-Brille gesehen, natürlich sehr, sehr laienhaft zu, alles sehr primitiv. Ich habe das Bild wirklich noch vor Augen: Wir haben zunächst Kaffeekannen besorgt, Kaffeemaschinen, und sogar ein ganzes Kaffeegeschirr gekauft. Das haben wir der SPD nachher geschenkt. Damit wollten wir den richtigen Rahmen für die Journalisten herstellen. Sie kamen zahlreich. Ich weiß nicht, ob wir was Gutes oder ob wir einen Grundfehler gemacht haben. Ein Journalist fragte mich, und zwar der von der Freiheit, so hieß das zentrale Bezirksblatt der SED – heute nennt es sich Mitteldeutsche Zeitung, eine der größten Tageszeitungen in der Bundesrepublik: Ja, wollen sie ernsthaft, dass ihre Adresse und ihre Telefonnummer bekannt gegeben werden? Ich habe gesagt: Natürlich, das ist Sinn und Zweck der ganzen Übung hier. Er meinte, das wäre ganz sicher nicht ganz unproblematisch, weil wir – wenn dies veröffentlicht wird – überrannt werden würden. Genauso ist es dann gekommen. Die Telefonnummer und die Adresse: Werner-Lamberz-Str. 11, Halle-Silberhöhe, stand dann in der Zeitung, und daraufhin ging der Run los. Die Leute standen vor der Tür, und wir konnten uns nicht mehr retten. M.S.: Was wollten sie von euch? J.A.: Es herrschte eine große, eine riesengroße Unsicherheit vor. Zwar wurde zu der Zeit kein Mensch entlassen, insofern gab es keine Probleme, die Löhne wurden gezahlt, es lief alles im Prinzip so weiter wie bisher. Nur durch die Veränderungen in der politischen Landschaft waren die Leute erheblich verunsichert. Vor allem gab es eine Bewegung in Richtung Abwahl von bisherigen leitenden Kadern. Es sollten so genannte Vertrauensfragen gestellt werden. Dies sollte erzwungen werden. Es sollten Versammlungen stattfinden. Das hat es ja früher in dieser Dimension in der DDR nie gegeben. Die alten Betriebsleitungen sollten sich rechtfertigen für die große Schweinerei, die sie bisher angerichtet hätten, und sie sollten dann ersetzt werden durch andere. Die gesamte staatliche Leitung der Betriebe sollte weg. Dazu gehörte natürlich die Parteileitung. Die war sowieso toter als tot. Der Parteisekretär von diesem Dreigestirn war ohnehin schon abgetreten und verschwunden. Es ging meistens nur noch um die BGL, den BGL-Vorsitzenden, oder die BGL und den Direktor. Dann lief das ungefähr in die Richtung: Können wir hier nicht ein Betriebsverfassungsgesetz einführen und Betriebsräte gründen? Da waren wir in einigen Zusammenhängen schon hilfreich. Wir haben Versammlungen mitgemacht und erzählt, wie es nach
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dem Betriebsverfassungsgesetz in der Bundesrepublik läuft. Wir haben aber immer, jedenfalls ich habe das gemacht, darauf hingewiesen, dass auch das Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik nicht das Non plus ultra sei, sondern ständiger Verbesserung bedürfe. Und man solle doch bitte schön nicht davon ausgehen, wenn man hier Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz der BRD installiert, dass man dann eine totale Mitbestimmung habe, wie sich das vielleicht manche vorstellten. Mit dieser Kritik bin ich allerdings kaum gehört worden, sondern es wurde alles relativ undifferenziert hingenommen, man wollte alles übernehmen, Hauptsache es war aus dem Westen. Das war das Hauptfeld. Dann leisteten wir Beratungen in allen möglichen Fragen. Man kann sagen, wir waren eine Art Lebensberater. Die Leute kamen nicht mit den typischen Gewerkschaftsgeschichten, also arbeitsrechtlichen Fragen oder sozialrechtlichen, sondern die kamen mit allem, z.B. wie das jetzt mit Versicherungen liefe. Der Hintergrund war, dass die ersten Versicherungsvertreter auftauchten und den Ostmarkt abgrasten. Das war unsere Arbeit, zwölf, dreizehn, vierzehn oder noch mehr Stunden am Tag – und keine Verbindung nach Hause, weil wir nicht telefonieren konnten. M.S.: Seid ihr auch in die Betriebe gegangen? J.A.: Ja, wir sind in die Betriebe gegangen und haben dort an Versammlungen teilgenommen. Wir wurden sehr oft, muss ich sagen, von den bestehenden Betriebsgewerkschaftsleitungen eingeladen. Die suchten alle den Kontakt, und ich muss heute sagen, die waren auch nicht alle so negativ, wie das manchmal den Anschein hatte. Da waren sehr engagierte Leute dabei, die wohl auch ein schlechtes Gewissen hatten, was die Vergangenheit anging, und es jetzt besser machen wollten. In vielen Bereichen haben sie sich auch halten können. Damals jedenfalls. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Also die BGLer hatten uns eingeladen. Die Direktoren waren sehr zuvorkommend uns gegenüber, krochen uns fast in den Hintern. Eindrucksvoll ist auch Folgendes gewesen: Wenn man irgendwo im Westen in einen Betrieb kommt oder in eine Dienststelle des öffentlichen Dienstes, oder wenn man in eine Personal- oder Betriebsversammlung geht, da kann man relativ leicht erkennen, wer den Hut aufhat, wer der Boss ist. Ich weiß auch nicht genau, woran, aber man sieht es. Da drüben war das überhaupt nicht zu erkennen, sie waren alle gleich. Also man erkannte nicht, wer der Direktor war. Da stellte sich auf einmal einer vor als Direktor eines größeren Ladens. Der unterschied sich von den anderen aber überhaupt nicht. Die duzten sich auch alle untereinander. Also, der kleine Arbeiter duzte den Direktor. Das ist alles ganz anders gewesen als wir es aus dem Westen gewohnt waren. Beim FDGB am Marx-Engels-Platz in Halle gab es natürlich große Unruhe, große Ängste, große Unsicherheiten um die Arbeitsplätze der hauptamtlichen Funktionäre. Sie fürchteten um ihre Zukunft. M.S.: Habt ihr mit denen Kontakt gehabt? J.A.: Ja, wir haben mit denen Kontakt gehabt, und sie haben uns auch immer sehr zuvorkommend behandelt. M.S.: Wie war denn deine politische Linie damals? Warst du der Auffassung, man müsse mit den alten FDGB-Leuten zusammenarbeiten oder warst du eher der Auffassung, dass sie sich derart diskreditiert hatten und man mit ihnen nicht zusammenarbeiten dürfe? J.A.: Meine Linie war die, dass sie sich diskreditiert hatten und dass unabhängige Gewerkschaften aufgebaut werden müssten und zwar im DDR-Maßstab, ohne Besetzung durch Westorganisationen. Das führte später zum Konflikt mit Stuttgart. Also FDGB nein, Zusammenarbeit mit denen ja, soweit es um das Aufräumen dessen ging, was tat-
158 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview sächlich war. Teilweise auch mit Übernahme der Leute. Das ist schon meine Politik gewesen, da ich nicht alle über einen Kamm scheren wollte. Es gab, wie sich heute herausstellt, doch recht gute Leute. Das Maß der Verstrickung in der DDR, in das, was sich Arbeiter- und Bauernstaat nannte, war ja nun wirklich enorm. Ich habe nie Leuten folgen können, auch heute noch nicht, die mir weismachen wollten, dass die DDR nur aus Erich Honecker, Erich Mielke, dem Politbüro und dem MfS, vielleicht noch, bestanden habe und ansonsten 16 Millionen Widerstandskämpfer hatte. Also, diese Linie habe ich nie mitgemacht. Es gab beim FDGB wirklich sehr gute Leute, mit denen man zusammenarbeiten konnte. Auch waren die Funktionäre aus Vorwendezeiten, also vor dem November `89, schon weitgehend – was die Leitungsebene anging – ersetzt worden durch andere. Sie versuchten natürlich, sich bei uns anzubiedern, um ihr Überleben zu sichern. Das waren teilweise schlimme Szenen, wie sie uns in den Hintern gekrochen sind. Wir haben es z.B. immer abgelehnt, in das Gewerkschaftshaus zu ziehen, obwohl sie uns das immer wieder angeboten hatten. Wir wollten uns von ihnen abgrenzen. Das Gewerkschaftshaus war wie ein abschreckender Militärbunker, aber nicht wie ein Haus der Arbeiter. Schon deswegen wollten wir nicht einziehen. Dann gab es mal eine Demo. Da ging es um die Währungsunion zum 1. Juni, da ging es um die Frage des Umtausches bei den Löhnen 1:1, ja oder nein? Ich habe eine Rede gehalten auf dieser Demonstration. Es war sehr interessant. Immerhin waren 25 bis 30.000 Demonstranten da. Am Fahnenmonument in Halle war das, bei der stilisierten roten Fahne. Da hatten schon die Großkopfeten der DDR gequatscht. Ich habe eine Power-Rede gehalten für einen Umtauschkurs von 1:1 bei den Löhnen. Ich habe mir heute nichts vorzuwerfen, das war richtig. Das wurde dann auch so gemacht, 1:1, bis zu einer gewissen Obergrenze. M.S.: Wie hat sich die Position der ÖTV entwickelt in der Frage: Wie verhält man sich zum FDGB bis zur deutschen Einheit? J.A.: Erst mal gab es zwischendurch einen Hammer. Es gab doch die Volkskammerwahlen am 18. März. An diesem Tag war ich zu Hause und sah abends die Übertragung der Ergebnisse im Fernsehen. Ich war geschockt. Zu meiner Frau sagte ich spontan: Du, ich fahre da nicht mehr rüber. Meine Position war eigentlich nie die, dass wir zu einer schnellen staatlichen Einigung kommen sollten. Also, ich will mir wirklich nichts einbilden, aber dafür gibt es auch Zeugen: Ich hatte wirklich vorausgesehen, was ab jetzt an Schwierigkeiten läuft. Es war mir klar, dass es bei diesem Wahlergebnis unheimlich rasch zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen würde, mit allem Drum und Dran und dass es dann auch zu Verwerfungen kommt. Außerdem hatte ich es den Menschen da drüben nicht zugetraut, so zu wählen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass die Realsozialisten über 40 Jahre Menschen erziehen und dann solche Ergebnisse zustande kommen. Heute kann ich mir das alles erklären, aber ich gebe zu, damals nicht. Ich war einfach geschockt. Ich bin dann doch wieder rüber und habe mir sehr viele Volkskammerdebatten angeguckt. Wir hatten im Büro ständig das Fernsehen laufen. Es wurde alles übertragen und so hat man die Entwicklung weiter verfolgt. Wir haben das Schwergewicht darauf gelegt, neue Strukturen aufzubauen und haben dann mit der Zeit einen gewissen Kreis von Leuten um uns herum gehabt, die man teilweise sogar einsetzen konnte für Termine und so. M.S.: Wie groß war der Kreis? J.A.: Also in der Kartei – oder dieser Pseudokartei, es war ja alles chaotisch – die wir angelegt hatten, waren vielleicht 100 bis 200 Leute. Aber der harte Kern, der sich um uns geschart hatte, das waren vielleicht 30 Leute, höchstens. Sie haben sehr gut und engagiert
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mitgearbeitet, teilweise sind sie heute nicht mehr da. Z.B. erinnere ich mich an einen, an Manfred Jank, der kam von der technischen Hochschule Merseburg, ein sehr guter Mann, natürlich ist er in der SED gewesen bis Januar ’90. In der Betriebsgewerkschaftsleitung war er nicht. Er gehörte zu den kritischen Geistern, die für die Abwahl von alten Kadern gesorgt hatten. Ich hatte mit ihm einen sehr engen Kontakt. Aber er wurde in Stuttgart nicht akzeptiert. Von Stuttgart aus war im Prinzip jeder belastet, der in der SED gewesen war. Das war eine völlig unrealistische Position der ÖTV. Man hätte wissen müssen, dass bei 2,3 Millionen Mitgliedern, die die SED wohl hatte, einschließlich familiären Dunstkreises usw., ein Potential vorhanden war, was riesengroß war bei einer Bevölkerung von nur 16,5 Millionen. Wir haben dann ständig Tagungen gehabt. Es ging langsam los, dass die ÖTV (West) sich offiziell um uns kümmerte. Da gab es dann regelmäßig in Berlin Veranstaltungen. Wir aus dem Bezirk Halle hatten den Merseburger Appell entwickelt und dort vorgestellt, sind eingetreten für den Aufbau einer ÖTV in der DDR. M.S.: Wie kam dieser Merseburger Appell zustande? Wer hat diskutiert? Gab es nicht verschiedene Initiativen? J.A.: Wir waren wirklich die ersten. Wir haben sehr lange über diese Frage diskutiert in diesem Kreis von 20 bis 30 Leuten aus Halle, aus dem Bezirk Halle, nicht nur aus der Stadt, also einschließlich Merseburg, Dessau usw.. Die Überlegungen waren, dass wir eine ÖTV in der DDR im Sinne einer eigenständigen und formal von der ÖTV (West) unabhängigen, aber de facto politisch-inhaltlich nicht unabhängigen Gewerkschaft gründen wollten. Was im Einzelnen im Aufruf stand, daran erinnere ich mich konkret nicht mehr. Der Merseburger Appell ist grob formuliert worden von einigen Leuten in Halle und vor allem in Merseburg. Ich habe den Text ausformuliert, das war ja auch mein Job als Sekretär. Dann ist der Appell beschlossen worden von einer Versammlung, die wir abgehalten haben mit Leuten, mit denen wir bisher Kontakt hatten, die also in unserem Adressenstamm drin waren. Von denen ist dieser Appell beschlossen worden. Also, sehr viel waren das nicht, 40, höchstens. Dieser Merseburger Appell war zunächst ja nur ein Entwurf. Er rief zu einer Gründung der ÖTV in der DDR auf. Es war also noch keine ÖTV in der DDR damit gegründet. M.S.: War das mit dem gHV abgesprochen? J.A.: Das war nicht abgesprochen. Aber es passierte dann Folgendes: Der Appell wurde bekannt, diesen Text habe ich auch nach Berlin, zu einer Besprechung am Wannsee mitgenommen. Das ist auch eines meiner Schlüsselerlebnisse bei der ÖTV gewesen. Die Kollegen Beratungssekretäre aus den anderen Bezirken lehnten das natürlich völlig ab. Sie fassten diesen Merseburger Appell sozusagen mit Gummihandschuhen an. Ich erinnere mich, es gab eine Zigarettenpause, Monika [Wulf-Mathies] hatte inzwischen den Text gelesen und sagte: Du, hör mal, also das ist gar nicht so schlecht, diese Linie. Daraufhin habe ich ihr gesagt: Es ist wichtiger, wenn du das drinnen sagst und nicht hier draußen auf der Terrasse. Da sagte sie: Ja, ja, das mache ich auch. Und das hat sie gemacht. Ab sofort war dieser Merseburger Appell geadelt, weil die Vorsitzende das für gut befunden hatte und dann haben alle meine Kollegen mir die Exemplare aus den Händen gerissen. Der Appell war auch im ÖTV-INTERN abgedruckt. Damit war die Adelung natürlich perfekt. Die Kollegen haben dann auch in ihren Bezirken so etwas Ähnliches wie einen Merseburger Appell herausgegeben. Es gab ein Suhler Manifest, Karl-Marx-Städter Aufruf etc. Alle haben das Ding abgeschrieben oder haben denselben Text in ihren Bereichen herausgegeben.
160 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Es gab eine Initiative in Plauen. Hattest du mit der etwas zu tun? J.A.: Das kam später. Sie hat was mit uns zu tun gehabt. Zunächst mal war klar, diese Initiative Merseburger Appell lief. Monika hatte das für gut befunden, es wurde im ÖTVINTERN abgedruckt. Eines Tages bekamen wir einen Brief. Inzwischen war allerdings in Halle die Gründung der ÖTV in der DDR schon unheimlich vorangeschritten und es gab konkrete Vorstellungen, wie die Strukturen dieser Gewerkschaft aussehen sollten. Es gab sogar einen Satzungsvorschlag, den wir erarbeitet hatten, d.h. mehr oder weniger meine Wenigkeit, mit ungefähr 10 Leuten. Dann haben wir eine ÖTV in der DDR gegründet. M.S.: In Halle? J.A.: In Halle. Da gibt es auch eine Urkunde drüber, auf der die Unterschriften drauf sind. Das war im Mai. Jedenfalls erschien es mir, nachdem der Merseburger Appell sogar von der Vorsitzenden geadelt worden war, folgerichtig – und anderen auch – dass wir jetzt die ÖTV in der DDR gründen sollten. Es gab damals Bestrebungen, dass aus der alten Gewerkschaft Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft sich eine ÖTV in der DDR bildet. Von daher war ein Gefährdungspotential für uns erkennbar. Wenn du rechtlich an die Sache herangehst, hätte sie tatsächlich kein Mensch daran hindern können. Also wollten wir unseren Einfluss auf solche Prozesse nicht verlieren. Es gab damals noch die DDR, das war ein anderer Staat, und da hätte aus dem Westen keiner kommen und sagen können: Moment mal, das dürft ihr nicht. Das spielt gleich noch mal eine Rolle. Inzwischen, nachdem wir die ÖTV gegründet hatten, gab es einen Anruf von Werner Ruhnke, in dem er sagte: Ihr müsst das Ganze zurücknehmen, das geht nicht, dass ihr eine ÖTV gründet, dafür braucht ihr die Genehmigung vom geschäftsführenden Hauptvorstand. Daraufhin habe ich erwidert: Wieso braucht jemand in der DDR, wenn er eine Gewerkschaft gründen will, die Genehmigung des gHV in Stuttgart? Das war ein bisschen blauäugig von mir, aber so bin ich, und so bleibe ich auch hoffentlich. Heute kann sich das keiner mehr vorstellen. Dann hat Ruhnke mit rechtlichen Schritten gedroht. Ich habe gesagt: du wirst überhaupt kein Gericht in der DDR finden, bei dem du dich melden kannst mit deinem Anliegen. Was soll der Scheiß eigentlich? Mit Namensmissbrauch und solchen Dingen kam er mir dann. ÖTV in der DDR, das gehe deshalb nicht, weil da ÖTV drin wäre, und das sei nur mit Zustimmung aus Stuttgart, nur im Einvernehmen mit dem gHV, erlaubt. Das hat mich angekotzt. Weil das Politbürogehabe nach meiner Auffassung war, so wie ich es immer gehört hatte, aus SED-Zeiten, und das konnte ich nicht ab. Aber zu diesem Zeitpunkt haben sie noch nichts unternommen. Sie haben mich noch gewähren lassen. Wir haben uns dann aber doch kleinkriegen lassen und gesagt: Ok, die Sache stellen wir jetzt erst mal zurück. Wir bekamen allerdings auf einmal einen Brief aus Plauen, in dem mitgeteilt wurde, dass auch in Plauen eine ÖTV in der DDR gegründet werden sollte. Es gab Kontakte zwischen Plauen und uns, es gab eine Riesendiskussion mit Willi Mück usw. M.S.: Welche konkrete Form hatte diese Gründung? Gab es eine Gründungsversammlung? J.A.: Es gab eine Gründungsversammlung. Ich weiß nicht, wie viele Leute da waren. Es gab eine Unterzeichnung der Urkunde und es gab eine Pressemitteilung, dass sich die ÖTV in der DDR gegründet hatte. Das stand auch in den Zeitungen. M.S.: Sind erste Mitglieder bereits aufgenommen worden?
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J.A.: Ja, sicher, wir haben Mitglieder aufgenommen. Wir hatten Aufnahmescheine gedruckt, also abgezogen mit dem Rank-Xerox-Gerät. Wir haben das Aufnahmeformular der ÖTV (West) entsprechend verändert, mit Tipp-Ex und Kleberei. Ich bin da fast zum Grafiker geworden in der Zeit. Wir haben auch tolle Flugblätter gemacht auf unserer Rank-Xerox-Maschine. Wir haben auch Leute aufgenommen. M.S.: Und die haben auch schon Beitrag gezahlt bei euch? J.A.: Nein, sie haben noch keinen Beitrag gezahlt. Das soll ja auch bei einer gewachsenen, großen ÖTV vorkommen. M.S.: Wie viele Mitglieder hattet ihr? J.A.: Ich weiß das nicht mehr, wie viele es waren, auf jeden Fall einige, und es war auf jeden Fall so wichtig, dass es ein Riesengespräch gab. Es gab große Bahnhöfe auf einmal, und Willi Mück hat uns nach Berlin eingeladen, diese ganze Gruppe der Dissidenten. Uns wurde gesagt: Das könnt ihr alles nicht machen und das geht alles nicht. Na gut, es ging hart her. M.S.: Und dann habt ihr zurückgezogen? J.A.: Wir haben nicht zurückgezogen, sondern das ist nicht weiter verfolgt worden. Es kam dann die Einladung nach Magdeburg, d.h. es wurde vom gHV ganz schnell entschieden: Ok, wir machen eine ÖTV in der DDR und zwar von unseren Gnaden und nicht von Gnaden irgendwelcher ausgeflippter Typen in Halle. Wir machen das richtig schön offiziell, wir, das VS 6 und das VS 1. Wir entscheiden, wann sich in der DDR eine ÖTV in der DDR gründet. Na ja, es sollte so sein und ist auch so gemacht worden. Inzwischen gab es eine Versammlung in Halle und zwar eine offene Versammlung im Rathaussaal, zu der jeder kommen konnte. Wir haben dort unsere Delegierten gewählt für den Kongress in Magdeburg. Da bin ich ganz stolz drauf, in anderen Bezirken sind die Leute nicht gewählt, sondern ausgeguckt worden. Da hat der Beratungssekretär bestimmt, wer als Delegierter hingeht. Wir haben gewählt und ich wurde auch als Delegierter gewählt. M.S.: Als Wessi? Es gab aber doch eine Regel, dass nur Ostleute daran teilnehmen sollten? J.A.: Ja, wer hat denn die Regel bestimmt, der gHV hier in Stuttgart? Na klar, wir haben uns nicht daran gehalten, ich habe mich nicht daran gehalten. M.S.: Das hat sicher böses Blut gegeben? J.A.: Ja, ja. Aber die Kolleginnen und Kollegen in Halle meinten, ich sollte auf dem Kongress Delegierter sein, und wir haben frei nach kultivierten Demokratievorstellungen gesagt, das müsse gehen. Ich bin dann als Delegierter gewählt worden. Das hat einen Riesenaufruhr verursacht. Inzwischen wurde kolportiert, dass ich Vorsitzender der ÖTV in der DDR werden wollte. Da war überhaupt nichts dran, echt nicht, überhaupt nichts. Mich hat das amüsiert, aber gleichzeitig auch unheimlich mitgenommen. Das ging wirklich nicht nur so an mir vorbei. Es wurde mit den übelsten Methoden gearbeitet. Durch einen Zufall war ich DDR-Bürger geworden, durch einen Zufall, das muss ich jetzt mal an der Stelle einflechten: Als wir nämlich nach Halle in die Werner-Lamberz-Straße 11 kamen, guckte ich mal aus dem Fenster und sah den ABV, den Abschnittsbevollmächtigten der Deutschen Volkspolizei, da draußen herumlatschen. Das war ein paar Tage nachdem wir uns eingenistet hatten. Den habe ich angesprochen: Herr Oberleutnant – oder was der war – haben sie mal fünf Minuten Zeit? Der Mann ist fast zusammengebrochen:
162 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Wessis in dem Haus? Das war für den Mann unvorstellbar. Dann kam er in unsere Bude rein, das war so eine Zweiraumwohnung. Ich habe gesagt: Nehmen sie mal Platz und habe ihm Kaffee angeboten. Ich habe ihn gefragt, ob wir uns eigentlich hier anmelden müssen. Er sagte: Ach, das wisse er auch nicht. Er dachte, das sei mit dem Staat alles abgesprochen. Da habe ich gesagt: Nein, wir sind eine Gewerkschaft, wir sprechen doch nichts mit dem Staat ab. Es geht jetzt nur um polizeiliche Anmeldung. Ach, sagt er, ich weiß das nicht, was da jetzt läuft, aber ich sage ihnen Bescheid. Dann ist er abgehauen und nach fünf Minuten war er wieder da. Er hatte inzwischen von seiner Wohnung aus telefoniert und konnte mir sagen, ich sollte mich bei der Bezirksdirektion der Volkspolizei, der BDVP, Zimmer sowieso melden. Dort bekam ich ein Formular und das habe ich an Ort und Stelle ausgefüllt. Dann haben sie mir gesagt, ich sollte noch zwei Passbilder nachliefern. Es gab damals in der DDR für Ausländer, die sich in der DDR für dauernd angemeldet hatten, einen roten Ausweis. Den hatten z.B. die Polen, die Vietnamesen usw., aber auch Westdeutsche, im Einzelfall. Nach deren Verständnis waren wir als Westdeutsche ja Ausländer. Sie haben mir zunächst in meinen westdeutschen Reisepass einen großen Stempel hineingemacht: Aufenthaltsberechtigung für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik auf Dauer usw. Ich habe die zwei Passbilder irgendwann meiner Mitarbeiterin, die wir eingestellt hatten, einer Ossifrau, gegeben und gesagt: Gib das da ab. Das hat sie gemacht und ich bekam später eine Postkarte mit der Mitteilung, ich solle vorsprechen zur Klärung eines Sachverhaltes. Wir hatten damals keine Zeit und ich habe die Karte in den Papierkorb geschmissen. Dann kriegte ich eine Mahnung und dann noch eine Mahnung. Die war schon ein bisschen geharnischter formuliert. Ich bin dann hingegangen. Die Polizistin machte einen Kasten auf und sagte: Unterschreiben sie mal hier. Ich habe unterschrieben, aber gar nicht gewusst, was ich unterschreibe. Habe auch gar nicht genau hingeguckt. Dann sind wir gegangen und die Kollegin sagte dann draußen: Willkommen im Club. Ich fragte: Wieso? Ja, du bist jetzt Bürger der DDR. Du hast sogar einen Personalausweis. Erst auf dem Flur guckte ich rein: Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Dieser Personalausweis ist ihr wichtigstes Dokument usw., Personalausweis für Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, das Ganze war am 30. Mai 1990. Eigentlich ist es Quatsch, aber es ist ein Souvenir. Diese Geschichte habe ich natürlich auch am Biertisch bei einem Treffen der Beratungssekretäre am Wannsee erzählt und alle haben gedacht, der Angelbeck habe das ganz systematisch vorbereitet: Erst ist er DDR-Bürger geworden, was wirklich ein Zufall war, dann ist er Mitglied der ÖTV in der DDR geworden, jetzt ist er noch Delegierter auf diesem Kongress in Magdeburg, der will also bestimmt Vorsitzender der ÖTV in der DDR werden. Davon war wirklich gar nichts wahr. Dann hat man mich bearbeitet, das Delegiertenmandat nicht wahrzunehmen. Noch in der Nacht vor dem Kongress waren unheimliche Gespräche im Gange, mit Willi Mück und anderen. Das ging wirklich in Richtung Pression, ich sage das ganz offen. Es haben mich viele Leute angesprochen. Am Schluss haben wir uns dann darauf geeinigt, dass ich zwar mein Delegiertenmandat nicht niederlege, aber mich auch nicht eintrage als anwesender Delegierter, also mein Mandat nicht wahrnehme. Mir ist das sehr schwer gefallen. Es gab von mir keine Erklärung, dass ich mein Delegiertenmandat niederlege. Das war die gesichtswahrende Lösung auch für mich. Ich saß in dem Kongressraum bei unseren Delegierten, und wir sind unmittelbar neben dem gHV und den Bezirksleitern platziert worden. Wir waren also absolut unter Kontrolle. Diese Methoden sind ja so durchsichtig. Bei all den Schweinereien, die man mir zutraute, hat man natürlich auch damit gerechnet, dass ich mich an die Absprache nicht halte, irgendwann komme, mich eintrage, zu Wort melde und dann eine Brandrede halte gegen wen auch immer vom gHV. So etwas mache ich natürlich nicht, aber sie trauten es mir
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zu. Es ist alles so gelaufen wie von der Stuttgarter Führung geplant. Es gab dann noch eine Anekdote: Dieser Jank aus Merseburg kandidierte für den Vorsitzenden gegen den Menschen, den der gHV ausgesucht hat. Es wurde ja so eine Art Marionettenvorstand dieser ÖTV in der DDR installiert. M.S.: Meinst du das wirklich? J.A.: Ja. M.S.: Wie kommst du darauf? J.A.: Ich weiß, wie der Kollege Knauth zum Vorsitzenden der ÖTV in der DDR gemacht wurde. Auch Einzelheiten. Es sollten pflegeleichte und bequeme Leute an die Spitze dieser ÖTV in der DDR gewählt werden. M.S.: Wie hat sich die ÖTV in der DDR von dem unterschieden, was du gern gemacht hättest? J.A.: Sie hat sich dadurch unterschieden, dass schon im vorhinein festgelegt war, dass diese ÖTV in der DDR ihre Existenz kraft Statuts mit der staatlichen Einigung verliert, d.h. mit Wirkung vom 3. Oktober sollte es diese ÖTV in der DDR nicht mehr geben. Es gab dazu eine haarsträubende Satzungsdiskussion im Vorfeld des Magdeburger Kongresses und mehrere Termine in Berlin. Es gab einen Entwurf von Franz Fuchs, der spottete jeder Beschreibung. Der ist zurückgezogen worden. Das war ein absoluter Knebelungsentwurf. Das wäre keine Gewerkschaft gewesen, wenn sie sich nach diesem Entwurf gegründet hätte. Das wäre ein Verein gewesen, der überhaupt keine Eigenständigkeit gehabt hätte. Es wäre die offizielle Marionette der ÖTV in Stuttgart gewesen, und das hat Mück auch eingesehen. Das ging so nicht. Aber die Gewerkschaft, die sich nach der Satzung der ÖTV in der DDR gegründet hatte, hielt ich auch nicht für selbständig handlungsfähig. D.h. sie war vom ersten Tag an eine unselbständige Filiale der ÖTV-West mit Verfall am Tag des Beitritts der DDR zur BRD. M.S.: Aber das war doch legitim. Die wollten das doch haben? J.A.: Ja, die handverlesenen und in der Regel von den Beratungssekretären aus dem Westen bestimmten Delegierten wollten im Prinzip alles, was ihnen der gHV vorgeschlagen hat. Ich nehme es keinem übel. Scheindemokratisch ist das gelaufen. Das will ich gar nicht bestreiten. M.S.: Nein. Es war doch klar, dass die staatliche Einigung kommt. Damit war auch klar, dass es nur eine ÖTV geben kann. Zwei ÖTV wären doch sinnlos gewesen? J.A.: Nein. M.S.: Warum nicht? J.A.: Weil wir trotz der staatlichen Einigung eine Entwicklung in die Richtung stärkerer Differenzierung haben werden. Wir haben zwei völlig unterschiedliche tarifpolitische Bereiche. Das ist meine Überzeugung. Und es wäre besser gewesen, – in der Situation, in der wir jetzt hängen, und das wird sich noch verschärfen -, wenn wir dort eine eigenständige Gewerkschaft hätten, die eine Schwestergewerkschaft ist, die mit uns sehr eng zusammenarbeitet.
164 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Nein, das glaube ich nicht. Unter dem Gesichtspunkt von Solidarität, der Angleichung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse, wäre es verhängnisvoll für die Ostleute gewesen, wenn es zwei Gewerkschaften gegeben hätte. J.A.: Es gibt zwei Welten, und das wird eigentlich immer deutlicher. Wenn ich damals gesagt hätte, es gibt zwei Welten, und es ist unsinnig, auf diesem formal geeinigten Territorium der beiden Deutschlands eine einheitliche Gewerkschaft zu machen, weil es eben zwei Welten gibt, hätte man mich gesteinigt. Kein Mensch hätte mir das geglaubt. Die Entwicklung, mit der wir heute zu tun haben, bestätigt mich in meiner Kritik. Es geht in die Richtung zweier Deutschlands und es verschärft sich. Solidarität ist für mich ja super, finde ich wunderbar, aber im Moment driften die Dinge weiter auseinander, obwohl wir in einem Staat leben. Es hätte sehr vieles dafür gesprochen, die Reichsbahn-Lösung zu machen, also Bundesbahn – Reichsbahn, ein Verbund, aber mit unterschiedlichen Tarifen. M.S.: Ich denke, dass es bei der Gründung der ÖTV in der DDR noch nicht ganz ausgemacht war, wie es weitergeht. Aber dann hat die faktische Entwicklung gezeigt, dass die DDR-Leute nicht in diese Ersatz-ÖTV hineingehen wollten. Sie sind in den alten Verbänden geblieben und haben auf die Satzungsöffnung der ÖTV (West) gewartet. J.A.: Genau, du sprichst jetzt einen Punkt an, den ich vergessen hatte. Das spielt noch eine große Rolle, ob man kollektiv die Mitglieder übernimmt, also sozusagen per Dekret der alten Vorstände, oder ob man individuelle Einzelaufnahmen macht. Für das zweite hat man sich entschieden und das halte ich auch für richtig. Das spielte auch bei uns eine Rolle. Wir hatten die Position von Anfang an, dass es eine kollektive Übernahme nicht geben kann. Die Position war aber vom gHV nicht immer fest. Es hat Phasen gegeben, da hat der gHV auch rückverhandelt. Die haben herumverhandelt z.B. mit der Gewerkschaft Wissenschaft. Da war Wolfgang Mallok, der sich auch immer zwischen Baum und Borke befand. Einerseits eine sehr ausgeprägte DDR-Identität bei ihm auf Grund seiner Biographie und andererseits aber die große Unsicherheit im persönlichen Bereich. Er musste da schon ein bisschen parieren, was den gHV angeht. Mit solchen Leuten haben wir damals unheimlich zu tun gehabt. Ich glaube, es gab damals für unsere Position auch gute Gründe und diese guten Gründe haben eigentlich verboten, dass man uns mit allen möglichen Tricks und Hinterlistigkeiten ausgebootet hat. Das fand ich nicht in Ordnung. M.S.: Es war ein ziemlich scharfer Gegensatz zwischen dir und dem gHV? J.A.: Der ist nie offen ausgetragen worden. Jedoch zwei Tage nach dem Kongress kam ich ins Büro, und dann sagte mir Silvia Didicke: Du, Jürgen, du sollst den Mück in Stuttgart anrufen. Ich wusste als alter Fahrensmann sofort, ich bin ja über 19 Jahre bei der ÖTV, was läuft. Mir wurde gesagt, ich solle nach Stuttgart kommen am nächsten Tag. Ich habe gesagt: Das kann ich nicht, ich habe hier zu tun, aber übermorgen komme ich. Ich bin hingefahren, und da saßen der Warburg und der Mück. Wenn ich sage, der Mück, ist das gar nicht negativ gemeint, mit dem Mück kam ich immer sehr gut aus, im Unterschied zum Warburg. Da saßen der Mück und der Warburg und eröffneten mir, dass mein Einsatz in der DDR beendet sei und ich meine Arbeit dort einzustellen hätte. Das war’s, ohne jede Begründung, wirklich. M.S.: Hast du nicht gefragt? J.A.: Selbstverständlich habe ich gefragt. Ich habe auch gesagt: Das kommt jetzt überhaupt nicht in Frage, dass ich meine Arbeit dort einstelle, ich muss zumindest noch abwi-
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ckeln. Ich kann nicht einfach die Leute allein lassen, also ich brauche mindestens noch eine Woche. Das war natürlich von mir aus der Hinweis, dass ich damit einverstanden wäre, dass es jetzt keinen großen Terz gäbe. Da waren die beiden heilfroh und haben gesagt: Natürlich kannst du noch eine Woche dort bleiben. Danach machst du erst mal Urlaub. Es wusste ja kein Mensch, wie sie mich weiter beschäftigen sollten. Ich bin dann in Urlaub gegangen. Inzwischen hatten mich ein paar Leute in Sachen Landtagswahl in Sachsen-Anhalt angesprochen: Ob ich bereit wäre, für sie zu kandidieren. In der Situation habe ich natürlich gesagt, ich mache das. Habe das dann auch forciert. Ich bin bei der SPD auf Platz 8 der Liste gekommen, ein todsicherer Listenplatz, mit der Perspektive, Arbeitsminister zu werden, für den Fall, dass wir regierungsbeteiligt geworden wären. Der Rest ist bekannt. Seit der Wahl bin ich Landtagsabgeordneter.
166 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview
Dieter Bauer Geschäftsführer der ÖTV-Kreisverwaltung Hof Eckhard Stade ÖTV-Beratungssekretär in Plauen Interview vom 8. November 1993 D.B.: Zum Zeitpunkt der Wende war ich Geschäftsführer in der ÖTV-Kreisverwaltung Hof. E.S.: Und ich bin freigestelltes Personalratsmitglied im Arbeitsamt Hof gewesen und freigestellt über den Bezirkspersonalrat beim Landesarbeitsamt und war zum damaligen Zeitpunkt Kreisvorsitzender der ÖTV in Hof. M.S.: Wie habt ihr hier in Hof die Wende erlebt? Wann habt ihr gemerkt, dass da drüben etwas in Bewegung kommt, das letzten Endes auch für die ÖTV von Bedeutung sein könnte? D.B.: Wir haben es zuerst einmal im Büroablauf gemerkt, dass vermehrt Kolleginnen und Kolleginnen aus Thüringen, Sachsen und den grenznahen Gemeinden angerufen haben, selber vorbei geschaut und sich über die ÖTV informiert haben. In der Regel waren es auch Betriebsvertretungen, die dann ganz einfach Termine vereinbart haben, um mal Kontakt aufzunehmen. Immer mit dem Ziel, dass der zweite Schritt eine Versammlung im Betrieb gewesen wäre. Also sie wollten mit uns Kontakte knüpfen und dann diese Informationen an die Belegschaft im Betrieb herantragen. Alles mit der Richtung: Was wird sich verändern? Auch bei den Betriebsvertretungen, Betriebsverfassungsgesetz, Personalvertretungsrechte, Arbeit der ÖTV oder der Gewerkschaften in den neuen Bundesländern allgemein. M.S.: Was waren das für Leute, die rüber gekommen sind? Waren das FDGBler oder waren das Leute, die bislang wenig mit dem FDGB zu tun hatten? D.B.: Ich würde sagen, das war sehr gemischt. Es waren auch alte FDGBler dabei und auch, wie haben sie sich genannt im Betrieb, BGLer. Es waren aber auch sonst Unbedarfte dabei, die sich informiert haben. Es lag halt an uns, zu erkennen, aus welchen Motiven das Gespräch gesucht wurde. Das haben wir abgestimmt: Das wollen wir und das wollen wir nicht tun. E.S.: Es war ja so, dass gerade in der Nachwendezeit, Ende November/ Anfang Dezember, in sehr vielen Betrieben die BGLen abgesetzt wurden, dass neue BGLen gewählt wurden und dass gar nicht mehr so viele Alte dabei waren. Es gab zwar schon noch einen Teil, aber auch in den Kreisdienststellen des FDGB hat ein ziemlich schneller Wechsel stattgefunden, also zumindest in dem grenznahen Bereich, da ist fast alles ausgewechselt worden. Die Kontakte begannen vierzehn Tage, drei Wochen nach Grenzöffnung, als die erste Hochstimmung verflogen war. Die Kontaktaufnahme kam ab Ende ’89. D.B.: Praktisch schon mit den Begrüßungsgeldern... E.S.: Ja, ja. D.B.: Das waren in Hof die ersten Tage, wo in der Stadt nichts mehr ging. Da gab es die ersten Kontakte.
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M.S.: Wann seid ihr zum ersten Mal rüber gefahren? Seid ihr eingeladen worden von den Belegschaften? D.B.: Richtig. Also von den verschiedensten Einrichtungen. E.S.: Am 10. Januar `90 war das Gespräch hier. Da war die Veronika Mantel mit. Die war Kreisvorsitzende der GÖD, spätere GÖD, damals noch MSK, mit einigen Betriebsund Personalräten, also BGLern. Das war am 10. Januar hier im Büro und am 18./19. Januar war dann die erste große Versammlung in Plauen, wo wir drüben waren. M.S.: Und Veronika Mantel war eine von denen, die Kontakt mit euch gesucht hat? D.B.: Ja. M.S.: Was habt ihr beredet? In welche Richtung gingen die Beratungen? E.S.: Nun ja, es ging im Wesentlichen erst mal darum, dass alle sehr verunsichert waren. Dass im Endeffekt keiner gewusst hat, wie das jetzt alles weiter gehen soll. Dass diese ganze Umbruchsituation massiv in den FDGB hineingegriffen hat und dass man ganz einfach Hilfe gesucht hat, wie es weiter gehen soll, beratende Hilfe. Es war klar, dass neues Recht kommen wird, andere Dinge kommen werden, das war eigentlich der Hintergrund. Die Frage: Was macht ihr? Wie haben wir es gemacht? Da war auch ein bisschen Erfahrungsaustausch mit drin. D.B.: Es gab noch andere Hintergründe: Es ging nicht einmal darum, von uns aus jetzt alles rüber zu transportieren, sondern das Wesentliche in den Gesprächen und auch in den Versammlungen war: Was ist denn bei uns nicht alles so gut und wissen wir denn eigentlich alles, was bei uns sich eingespielt hat? Sollten wir denn alles auf drüben übertragen oder gäbe es nicht manches, was aus unserer Erfahrung auch bei uns verbesserungswürdig wäre um dann dieses vom Osten her auf den Westen zu übertragen. Alles nur so überstülpen wollten wir jedenfalls nicht. Was ja dann leider kam. Das waren die Grundüberlegungen, dass wir gesagt haben: Wir wollen euch mal unsere Erfahrungen sagen, was die Betriebsverfassungsgesetze und die Personalvertretungsgesetze anbelangt, überhaupt mit der Gewerkschaftsarbeit: Was wäre zu verbessern? In der Richtung haben wir zu helfen versucht. Es gab keine Tarife, es gab keine Betriebsvereinbarungen. Wir haben Seminare angeboten, also Betriebsvereinbarungen erarbeitet, Tarifverträge, Betriebsverfassungsrecht. Alles aus unserer Erfahrung bereits verbessert und weiterentwickelt. Also nie den Stand so vermittelt, wie er bei uns war, da wir wussten, das ist alles gar nicht so unbedingt das Gelbe vom Ei. M.S.: Und im Januar seid ihr dann zum ersten Mal rüber nach Plauen. Was war das für eine Versammlung? E.S.: Das war eine Versammlung von Vertretern aus den verschiedenen Betrieben. Wir hatten schon vorher eine Versammlung mit Leuten aus dem Bereich der Grenztruppen, der NVA, gehabt. Die waren total verunsichert nach dieser Wende. Für die war im Endeffekt alles zusammengebrochen. Vorher abgeschottet und privilegiert, und dann plötzlich lief nichts mehr. Die durften zu DDR-Zeiten nicht in Gewerkschaften eintreten, für die musste irgendetwas passieren. Wir haben sehr viele Betriebe gehabt, die vom organisatorischen Zuschnitt gar keine ÖTV-Betriebe waren, aber in der DDR diesem Bereich angehörten, weil sie eben kommunal organisiert waren und dort zur MSK gehörten. Und wir haben auch viele Verwaltungen gehabt, gerade Stadtverwaltungen usw. die zu uns kamen. Das waren teilweise einfache Mitglieder, teilweise BGLer, es waren auch teilweise
168 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview neue Leute aus dem Kraftverkehrsbereich, die zu DDR-Zeiten gar nichts gemacht haben und nach der Wende in Positionen kamen. M.S.: Ende Januar war der außerordentliche FDGB-Kongress. Wart ihr an den Diskussionen über eine Reform des FDGB beteiligt? E.S.: Da ist nicht viel diskutiert worden bei uns. Das war überhaupt kein Gesprächsthema. Überhaupt nicht. Auch bei den Leuten vom FDGB ist da nie drüber gesprochen worden. D.B.: Es war immer losgelöst. Es ging immer um Neuaufbau. Das war eigentlich immer das Ziel in allen Versammlungen und Gesprächen. Aber nie der Blick zurück... E.S.: Man war sich im Klaren, dass der FDGB in der Form genauso wenig reformierbar war wie die Einzelgewerkschaften. In den Diskussionen ist mal jemand gekommen, der allerdings nur den FDGB reformieren wollte, der hat auch erkannt, da muss was Neues, was Anderes kommen. M.S.: Wann habt ihr die ersten Seminare gemacht? E.S.: Im Februar haben wir die ersten Seminare gemacht. D.B.: Die ersten Seminare waren erst mal in die Richtung Betriebsvertretung. Wo man gesagt hat, ab jetzt haben wir Chancen an der Hand, und ihr müsst sie ganz einfach nutzen. Wir geben euch mal ein paar Hilfsmittel, die in etwa rechtlichen Bestand hätten. Das ist gelungen. Es hat aufgrund dieser Schulungen verschiedenste Betriebe gegeben, die solche Betriebsvereinbarungen abgeschlossen haben. M.S.: Ihr habt sie im Grunde ermutigt, Betriebsräte zu wählen, obwohl es noch keine rechtliche Grundlage gegeben hat? Wolltet ihr damit die BGLen in den Betrieben entmachten? E.S.: Ja, ganz einfach. Im Gegensatz zur BGL, die durch das AGB eigentlich schon Möglichkeiten gehabt hätte, aber das nicht gemacht hat. Es ging um das Erweitern über vertragliche Sachen. Man hat ganz einfach gesagt: Schließt einen Vertrag ab, wo geregelt ist, welche Funktionen ihr im Betrieb habt. Die gingen teilweise deutlich über das hinaus, was das Betriebsverfassungsgesetz im Endeffekt zulässt. M.S.: Habt ihr Wochenendseminare oder Abendveranstaltungen angeboten, sind die Leute rüber gekommen oder habt ihr das drüben gemacht? D.B.: Drüben haben wir das gemacht. M.S.: In welchem Umfang habt ihr das gemacht? Wie viele Leute waren da, und wie oft habt ihr das gemacht? E.S.: Im Zeitraum vom Februar bis Mitte Juli 1990. Das waren zwei große Seminare im Haus Vogtland oben und im Neulandshof. Der Neulandshof war ein Wochenende, Freitag bis Sonntag, in Plauen waren es Tagesseminare. Im April, Mai und Juni habe ich die ersten Seminare gemacht in Bad Elster, im ehemaligen Kurhaus, und es waren ungefähr 300–350 Leute, die da durch Schulungen gegangen sind, mit Betriebs- und Personalräteschulungen. Da waren teilweise Leute, die heute bei der ÖTV beschäftigt sind als Sekretäre. Und es sind Betriebsratswahlen durchgeführt worden, ganz ordnungsgemäß, nach dem Betriebsverfassungsgesetz, weil wir wussten, das kommt. Es war noch nicht verab-
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schiedet. Es kam erst zum 1. Juli 1990. Aber da waren die Betriebs- und Personalräte zu dem Zeitpunkt schon geschult. M.S.: Wie weit waren Eure Aktivitäten mit Stuttgart abgesprochen? Gab es eine Linie, wie die grenznahen Kreisverwaltungen sich verhalten sollten? Habt ihr euch mit anderen Kreisverwaltungen abgesprochen? Hat es Diskussionen gegeben oder habt ihr auf eigene Faust Politik gemacht? D.B.: Die grenznahen Kreisverwaltungen haben sich da mit Sicherheit informiert, denn auf uns kam das ja als erste zu. Wir konnten da gar nicht überlegen: Wollen wir das oder können wir das, sondern wir wurden überrollt. Wir wollten zunächst nur helfen, das war das Grundsätzliche. Zu dem Zeitpunkt gab es aus Stuttgart überhaupt noch keine Hilfen. Dass man von Stuttgart aus sagte, das wäre jetzt unsere allgemeine Linie, das würden wir gerne – das war nicht der Fall. E.S.: Dann kommt zwischendurch dieser Beschluss von Stuttgart über die Beratungssekretäre. Und ab Mitte März haben wir zwei an den Veranstaltungen in Berlin teilgenommen, an den Beratertreffen. Die Beratungssekretäre hatten diese vierzehntägige Einweisung. M.S.: Warst du bei dem ersten Beratertreffen in Berlin dabei? E.S.: Nein, bei dem ersten nicht. Wie gesagt, ich war damals noch beim Betriebsrat im Arbeitsamt beschäftigt. Wir haben das mehr oder weniger hier bei uns gemacht. Als dieser Beschluss bekannt wurde, das ging damals vom Franz Fuchs aus, dass die gesagt haben: Kommt mal mit, berichtet über Eure Erfahrungen. Und dann sind wir nach Berlin hochgefahren ins BBZ und haben die ersten Gespräche geführt. Zweite Sache, die war ja noch Ende März oder Mitte März, wo wir die Veronika Mantel mit hatten. Veronika Mantel durfte über die Dinge, die im Zentralvorstand der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit besprochen wurden, nicht vortragen. Sie hatte zu diesem Beratertreffen kein Rederecht bekommen. Das ist von Willi Mück klar untersagt worden. Veronika Mantel, mit der wir hier doch wirklich eng zusammengearbeitet hatten, die haben wir einfach mit hochgenommen. So wie wir zum Beispiel auch von Veronika zu Dienstbesprechungen der GÖD mitgenommen worden sind. Wir sind einfach eingefahren, da hat uns keiner eingeladen. Wir zwei sind einfach mit rüber gefahren und haben gesagt: So, wir sind da, wir sind von der ÖTV, wir nehmen jetzt an Euren Dienstbesprechungen teil. So haben wir uns da reingesetzt. Und die Veronika durfte auf unserem Beratertreffen nicht sprechen. Das war im März. Zu dem Zeitpunkt hatten wir in Plauen schon ein Büro, da stand der Kopierer schon. Da stand die Schreibmaschine schon. Die haben wir am Anfang noch bei der GÖD gehabt. Im März, da war bei uns schon alles gelaufen. Ich habe heute früh noch mal durchgeblättert. Wir haben im März schon ÖTV-Betriebsgruppen gehabt, die gesagt haben, wir machen nichts mehr für den FDGB. Entweder ihr tretet als ÖTV auf und leitet uns an, dann sind wir ÖTV-Betriebsgruppen, oder wir machen gar nichts mehr. Da haben wir schon in der Gebäudewirtschaft in Plauen im März 1990 Betriebsratswahlen durchgeführt, die es eigentlich gar nicht geben durfte. M.S.: Wann fing die Diskussion an, wie geht man vor, was macht die ÖTV in der DDR? E.S.: Diese Diskussion ging im März los, als wir zu dem ersten Beratertreffen in Berlin waren, der Dieter und ich. Wir waren der Auffassung, nach all dem, was wir gesehen und gehört hatten, auch in den alten FDGB-Gewerkschaften, es musste sofort was passieren.
170 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Die Gewerkschaften drüben sind nicht reformierbar, das war klar. Es musste was Neues kommen. Man konnte auch keine Umwandlung durchführen. Das ging einfach nicht. Wir haben uns gesagt: Es kann von uns aus keine Zusammenarbeit mit diesen Leuten geben. Kooperation ist nicht möglich, weil sie nicht kooperationswillig waren. Das hat sich ja auch gezeigt. Wir haben das auf dem Videoband. Sie waren weder kooperationswillig noch waren sie meines Erachtens kooperationsfähig. Das war unsere Meinung. Mit der sind wir auch hochgefahren und haben versucht, das durchzusetzen. Das ist von einigen der Beratungssekretäre, die, das muss man dazu sagen, zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht richtig vor Ort gewesen sind, abgeblockt worden. Der Klaus Böhm hat da eine Rolle gespielt, die eben nicht gut war. Während wir in den Betrieben draußen waren, hatte der Klaus seine Kontakte noch bis Ende 1990 auf die Bezirksleitung des FDGB und die Einzelgewerkschaften beschränkt. Betriebskontakte gab es so gut wie gar keine. Sicher, er hat sich die Leute gehalten und eingesetzt in seine Richtung, das ist schon richtig, aber er selber oder die ÖTV ist nicht in die Betriebe gekommen. Ich weiß, wir haben z.B. mit dem Willi Mück immer sehr trefflich gestritten, weil wir gesagt haben: Ihr wisst doch genau, was kommt. Holt doch einfach Leute rüber, aus den Betrieben raus und tut sie in die ÖTV-Kreisverwaltungen rein und schult die jetzt. Bildet Sekretäre aus. Das war zum damaligen Zeitpunkt billig zu haben. Die Leute wären mit ihrem damaligen DDR-Salär und mit kostenfreier Übernachtung zufrieden gewesen. Wir hätten damals schon ausbilden sollen. Das Chaos, das bei uns aufgetreten ist, mit allem Drum und Dran, auch die immensen Kosten, die das verursacht hat, die wären uns erspart geblieben. Das war eigentlich unser Vorschlag. Das ist von Willi Mück und von Monika [Wulf-Mathies] damals schlichtweg abgelehnt worden. M.S.: Habt ihr das schon so zugespitzt formuliert, dass ihr gesagt habt: Wir bauen eine ÖTV in der DDR auf? E.S.: Es ging eigentlich darum, neue Gewerkschaften zu gründen. Das heißt nicht, die alten bestehen zu lassen und umzubenennen, wie es passiert ist, sondern neue zu gründen. Der letzte Ausschlag dafür kam am 30. März 1990. Und zwar hatte die damalige Gewerkschaft ÖD in der Gewerkschaftshochschule, in Bernau draußen, eine Dienstbesprechung mit den Kreisgeschäftsstellenleitern und Bezirksverwaltungen. Dort hatte der Dr. Wegrad, der damalige Zentralvorstandsvorsitzende, die Devise ausgegeben: Wir gründen eine ÖTV in der DDR. Aber die wollte er gründen. Die alten FDGBler hätten im Prinzip den Namen ÖTV in der DDR belegt, Die hätten uns später schlicht und einfach dahingehend die Pistole auf die Brust gesetzt: Es gibt eine ÖTV in der DDR. Ihr könnt also nichts weiter machen. Es waren damals rechtlich noch zwei Staaten und wir hätten möglicherweise den ganzen Apparat übernehmen müssen. D.B.: Das war die GÖD, die Nachfolgeorganisation der MSK, wo der Wegrad eine ÖTV gründen wollte. Wo wir dann gesagt haben, jetzt müssen wir tätig werden. Da sind wir dann tätig geworden. E.S.: Wegrad hatte das echt vor. Ganz nach unserem Organisationsschema, mit Teilen von Transport und Verkehr und mit Teilen der Gewerkschaft Gesundheit sollte das gegründet werden. Ich war an dem Wochenende in Berlin, hatte die Veronika Mantel abgeholt, weil die damals noch kein Auto hatte. Auf dem Heimweg erzählte sie mir, was die vorhaben. Das hatte der Wegrad auf dieser Veranstaltung deutlich gesagt: Da war der Werner Ruhnke mit. Dem hatte man gesagt, Kooperation, das wollen wir machen. Wir machen Verträge, wir fahren nach Stuttgart zum Verhandeln. Und als Werner Ruhnke draußen war, war eigentlich klar, man wollte mit diesen Kooperationsverhandlungen
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Stuttgart ein Stück weit beruhigen. Und hatte vor, eine Gewerkschaft ÖTV in der DDR zu gründen. Dann sind wir heimgefahren und zum Dieter [Bauer] haben wir gesagt: Das kann nicht sein. Jetzt muss was passieren. Dann muss eine andere ÖTV in der DDR gegründet werden. Gibt es die Gründung der GÖD, dann kann kein anderer sie mehr gründen. Es ist egal, wo. Wir wussten von Jürgen Angelbeck, der so eine Initiative schon gestartet hatte. Was heißt gestartet. Jürgen Angelbeck hatte den Vorschlag gemacht. Und wir sind dann so weit gegangen, dass wir mit dem Jürgen Angelbeck uns zusammengesetzt und gesagt haben: Wir machen eine Mini-Satzung, ähnlich der ÖTV-Satzung, die auch kompatibel ist, und wir gründen einfach die ÖTV am 6. April 1990. Wir laden Mitglieder aus den Betrieben zu einer Gründungsversammlung ein. Wer kommt, kommt, und wir gründen eine ÖTV in der DDR. Diese Geschichte ist belegt. Das haben wir gemacht. Einen Fehler haben wir gemacht dabei... M.S.: Die Zentrale nicht informiert? E.S.: Nee. D.B.: Doch, sie wurde informiert. Nur, über dpa. E.S.: Über dpa. Wir hatten eine dpa-Meldung abgeschickt, mit einer Sperrfrist versehen. Die hatten wir also am Tag vorher abgesandt, und dpa hat sich das Ganze angeschaut und hat bei der Monika Wulf-Mathies rückgefragt. Das Ergebnis war, dass der Peter Schmidt [Leiter des zentralen Organisationsbüros der ÖTV-Hauptverwaltung] kam und wir mit einem 36stündigen Gewaltmarathon, im Endeffekt unter Androhung von Liebesentzug durch die große Vorsitzende, dazu gebracht wurden, dass wir das also nicht als ÖTVGründung gemacht haben, sondern dass wir gesagt haben, das wird eine Bewegung, eine Bekundungsbewegung zur Gründung einer ÖTV in der DDR. Ich meine, der Sprengstoff, der da drin war, erweist sich auch dadurch, dass der Herr Wegrad, der Zentralvorsitzende der ÖD mit seinem ganzen Mitarbeiterstab nach Plauen angereist war. Die wussten, um was es ging. Das war eben Stuttgart nicht recht, weil Stuttgart Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren. Das hat Willi [Mück] später zugegeben, Man wollte nicht plötzlich eine Gewerkschaft, die möglicherweise mit einer anderen Einstellung, gar nicht mal Zielsetzung, arbeitet, die man nur mit großen Schwierigkeiten mit der ÖTV hätte zusammenbinden können – auch mit organisatorischen Problemen. Diese Veranstaltung stand kurz vor dem Platzen. Ich war eingeladen. Wir haben bis nachts um 2.00 Uhr zusammengesessen und nach einem Kompromiss gesucht, wie wir das doch noch durchführen konnten. Dann hatten wir den Kompromiss. Peter Schmidt hat gesagt: Ist in Ordnung, gründen wir die ÖTV in der DDR. Machen wir die ganze Geschichte. Er hatte ja hier in Hof übernachtet. Wir sind dann nachts zurück gefahren und dann wollte er früh um neun Uhr wieder drüben sein. Um 16.00 Uhr oder so war die Veranstaltung geplant. Er wollte um neun Uhr wieder drüben sein. Soweit war alles klar. Er kam dann mittags um eins, sagte uns, er habe mit Monika [Wulf-Mathies] noch mal gesprochen und Monika verlangt, dass wir die Sache abblasen, völlig abblasen. Sollte es zur Gründung der ÖTV in der DDR kommen, werde sich die ÖTV in Stuttgart von dieser Gewerkschaft sofort distanzieren. Es werde keine Zusammenarbeit geben. Wir müssten dann mit den Konsequenzen rechnen, dort alleine gehen zu müssen. Das war also schon ziemlich massiver Druck, muss man sagen. Die Veronika [Mantel] war fertig. Sie wollte gar nicht mehr auftreten. Deswegen habe ich vieles gemacht, weil Veronika teilweise gar nicht mehr in der Lage war zu reden. Sie war fertig. Das war Psychoterror, ich sag das mal einfach so, das kannst du nicht
172 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview anders bezeichnen. Ich denke, das war ein Stück weit eine vertane Chance. Diese Gründung in Magdeburg, die kam schon viel zu spät. M.S.: Im Grunde genommen lief es ja schon in die Richtung einer ÖTV in der DDR? E.S.: Du hast ja gesehen, es ging nicht mehr. Die Leute sind vom FDGB davon gelaufen. Wenn man was machen wollte, musste das so gehen. Wir haben Gewerkschaften gehabt, die absolut unbelehrbar waren. Ich denke an Transport und Nachrichtenwesen. Die waren absolut unbelehrbar. Die sind eben mit ihrer alten FDGB-Vorstellung da rein gegangen. In den Betrieben lief nichts mehr, die Betriebe haben nicht mehr mitgemacht. Wir haben Ende April 1990 in Plauen 1.500 Mitgliedsanträge gehabt für eine ÖTV, die es noch nicht gab. Die lagen bei uns gestapelt. M.S.: Das heißt, du hast die Aufnahmeformulare der ÖTV benutzt? E.S.: Richtig. Die haben wir hier in Hof leicht umgeändert drüben verteilt. Wir hatten 1.500 Aufnahmeanträge, schon im April 1990. Wo noch keiner wusste, dass es so etwas überhaupt gab. M.S.: Wie war das Büro in Plauen besetzt? Wer hat das gemacht? E.S.: Das lief über die Kreisverwaltung. Dieter war sehr viel mit drüben, die Renate war viel mit drüben. Am Anfang war die Veronika Mantel oben und später haben wir uns gleich das Büro genommen. Wir hatten dann mit Stuttgart abgesprochen, dass wir dort unser Büro selber machen, also abgelöst von der Organisation in Chemnitz. M.S.: Bist du dann fest nach Plauen gegangen? E.S.: Ich bin seit dem 15. April drüben gewesen. Ich habe am 15. April Urlaub genommen, meinen Jahresurlaub. Vom 1. Mai an war ich für sechs Monate beurlaubt vom Arbeitsamt, ohne Bezüge, und hatte mit Stuttgart einen Zeitvertrag, und von dem Zeitpunkt an war ich permanent drüben. M.S.: Im Juni war die Gründung der ÖTV in der DDR in Magdeburg. Das heißt, ihr seid erst mal auf die Bremse getreten? E.S.: Nein, auf die Bremse sind wir nicht getreten. Wir haben weiter gemacht. D.B.: Diese Veranstaltungen haben halt nicht mehr den offiziellen Charakter gehabt. Ab dem Zeitpunkt hat es Treffen der Initiativen gegeben. Es gab praktisch daraus die Vorbereitung zu dem späteren, wirklichen Gründungskongress. E.S.: Es sind ja viele, die sich angehängt haben. Es gab dann diese Chemnitzer Initiative. Das war eine Sache, wo der Klaus Böhm gesagt hat: Was in Plauen ist, können wir in Chemnitz auch machen. Das kam zehn Tage nach unserer Geschichte. Da ging das in Chemnitz dann los. Nur mit dem Unterschied, dass das bei uns aus den Betrieben kam und in Chemnitz das von den Bezirksvorständen organisiert wurde. Das war nicht unseres. Wir hatten an dem Tag eine Satzung vorbereitet. Diese Satzung wurde in Magdeburg zu 85–90% übernommen. Das war alles fix und fertig. Es ging noch um ein paar inhaltliche Fragen. D.B.: Da war nichts, was organisatorisch nicht vorbereitet gewesen wäre. Von daher gab es auch von Stuttgart keine Möglichkeit irgendetwas abzublocken. Es hätte über die Bühne laufen können, genauso wie in Magdeburg und das wäre ordentlich veranstaltet gewesen. Wir haben uns in den Gesprächen mit Peter Schmidt nie darauf eingelassen, das
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sterben zu lassen. Sondern wir haben die Notwendigkeit gesehen, aus dem Druck der einzelnen Belegschaften heraus. Wir waren ja gezwungen, in der Richtung etwas zu tun. Das war gewollt. Wir haben von der offiziellen Gründung abgesehen, aber die Initiative musste sein, und das musste alles so schnell wie irgend möglich erfolgen. Das war unser Eindruck immer gewesen, dass für Stuttgart alles viel zu schnell aber für uns alles viel zu langsam ging. M.S.: Da seid ihr nicht typisch. Es gab auch Bezirke oder Städte, wo der Druck zu einer eigenständigen Gründung einer ÖTV gar nicht aus den Betrieben heraus gekommen ist. D.B.: Weil wir halt seit Januar in den Betrieben drin waren. Wir waren ja praktisch in allen Bereichen in unserem Organisationsgebiet. Ob das im Gesundheitswesen, ob das in den Rathäusern war oder ob das in den Verkehrsbetrieben war. Von dort kam der Druck vor allem. Die wollten Sicherheiten haben, auch die einer starken Gewerkschaft. M.S.: Aber warum ist in Chemnitz dieser Druck nicht da gewesen? E.S.: Das war sehr personengebunden. Du hast dort, wo du Beratungssekretäre hattest, die tatsächlich in den Sumpf rein gegangen sind, so wie wir, die haben es auch zugelassen, dass aus den Betrieben etwas kam. Ich denke an Manfred Bartsch in Magdeburg zum Beispiel, der war einer von denen, wo aus den Betrieben heraus eine ganze Menge Druck kam. Wir haben andere Bereiche gehabt, Halle zum Beispiel, mit Angelbeck. Wer unwahrscheinlich in Halle war, dass war der HGK [Hans-Günther Kempf]. Der hat dort unwahrscheinlich viel gemacht, vor allem in Betrieben. Es war auch unser Vorteil, dass wir uns im Prinzip von Anfang an auf den Bereich beschränkt haben, der die jetzige Kreisverwaltung ausmacht, Vogtland. Dass wir also von vornherein einen sehr kleinen Bereich betreut haben Dass wir mit einem Beratungssekretär und der Unterstützung der Kreisverwaltung wirklich viel geleistet haben. Wenn man sich das überlegt, was der Dieter [Bauer] und auch die Kolleginnen hier auf sich genommen haben. Ich sage mal, im Zuschnitt auf eine Kreisverwaltung, wo auch ein Sekretär da war, der permanenter Ansprechpartner war. Wo wir tatsächlich von Anfang an etwas machen konnten. Wenn wir, wie gesagt, Schulungen gemacht haben. Das ging von uns aus. Wir haben gesagt: Da muss etwas passieren. Dass wir uns Bildungsstätten angemietet haben, schon 1990. Wir haben 1990 schon Wochenschulungen gemacht in Richtung Personalvertretungsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz, Arbeitsrecht. Die wurden Anfang Juni verabschiedet von der Volkskammer, mit Kündigungsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz und was da alles war. Ende Juni haben wir die Leute schon geschult, damit die Bescheid wussten, wie das Ganze lief. D.B.: Ich habe da die Unterlagen vom 27. bis 29. April `90. Wo wir die Mitbestimmungsseminare unter Erarbeitung von Betriebsvereinbarungen gemacht haben. Das haben wir alles komplett gemacht bis zum Entwurf eines Tarifvertrages zum Beispiel. Mit dem konnten die dann drüben im Betrieb praktisch arbeiten. Solche Sachen wurden auch unterschrieben. Das war nicht nur heiße Luft, was wir da gemacht haben, sondern die hatten wirklich Erfolg damit. Das sind Sachen gewesen, die wir mit unseren Erfahrungen aus der Praxis heraus erarbeitet haben. Die wesentlich besseren Inhalts waren. Mit dem haben wir die Leute handlungsfähig gemacht. Das ist logisch, dass sich das dann so entwickelt hat in der Kürze. M.S.: Ihr habt weiter Mitglieder für die zukünftige ÖTV in der DDR gesammelt?
174 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview E.S.: Wenn wir in die Betriebe kamen, war das zwangsläufig. Ich denke jetzt mal an die Textilreinigung. Ein Betrieb, von dem wir von Anfang an wussten: Er wird nicht bei uns bleiben, wenn es einen anderen Zuschnitt gibt. Aber die waren eben alle Mitglieder in der ÖD. Wir haben dort eine Betriebsversammlung gemacht, wo uns die BGL eingeladen hat und dort hatten wir 20 Tage später 100% der Beschäftigten in der ÖTV. Nach der offiziellen Gründung der ÖTV in der DDR war alles sehr nebulös. Es lief im Prinzip nichts. Organisatorisch war nicht viel da. Stuttgart hatte keine Vorstellung, wie das Ganze gehen sollte. Das ging so weit, dass ich drüben in Plauen saß und plötzlich jemand rein kam, der hatte zwei Plastiktüten in der Hand, stellte mir die auf den Tisch und sagte: Das sind unsere Beiträge. Da haben wir nachgezählt, das waren 40.000,00 DM. Die hatten die im Betrieb kassiert – für die ÖTV. Wir durften zu dem Zeitpunkt kein Geld annehmen, aber die haben gesagt: Das sind ÖTV-Beiträge. Da haben wir gesagt: FDGB? Nein, nicht FDGB. Wenn ihr das Geld an den FDGB gebt, nehmen wir die Gelder wieder mit zurück. Das sind ÖTV-Beiträge. Da stand ich da. Die sind später an die ÖTV in der DDR weitergeleitet worden. So lief das, die kamen von sich aus. Das ging gar nicht anders. Veronika hat sich, bis kurz vor der fristlosen Kündigung, da hingewagt. Der haben sie mehrfach gedroht. Sie hat für ihre ÖD so gut wie nichts mehr gemacht. Sie ist nur noch unter der Fahne ÖTV gelaufen. Das war völlig klar, sie lief unter der Fahne ÖTV. Eine MSK oder ÖD, die gab es im Vogtland nicht mehr. Die war nicht mehr vorhanden. M.S.: Wart ihr an der Vorbereitung des Gründungskongresses beteiligt? E.S.: Das ging von Berlin aus. Wir waren in Hohenschönhausen zweimal zu einer Veranstaltung. Wir waren im BBZ zu zwei Veranstaltungen. Ich habe in der Satzungskommission mitgemacht, weil wir ja diesen Satzungsentwurf, auf den sich dann die Satzung der ÖTV in der DDR gestützt hat, in Plauen entworfen hatten. Wir waren vom ersten Moment an in die Organisation miteingebunden, schon sehr massiv. Wir sind teilweise mit zwei Autos in Berlin gewesen, zehn Leute von uns, die da in der Vorbereitung mitgemacht haben. M.S.: Ist von euch denn jemand in den Vorstand gewählt worden? E.S.: Nein, da sind persönliche Gründe ausschlaggebend gewesen, warum die Veronika Mantel sich dort nicht zur Wahl gestellt hat. Im Nachhinein hatte man überlegt, dass man das hätte machen sollen. Aber ich sag mal so, wie das angelegt war damals, am 9. Juni, war ja klar: Eine eigenständige ÖTV in der DDR sollte nicht laufen. Der Vorstand war absolut machtlos. Er hatte nichts zu sagen. Er hatte seine Stuttgarter Führungscrew. Die haben im Endeffekt nichts gemacht ohne Stuttgart. Das war das Kanalisieren dessen, was an Ideen kam, was von drüben kam, das musste irgendwie kanalisiert werden, damit die ÖTV nicht all zu sehr Federn lassen musste. Ich denke, dieses Federn lassen kommt noch, auch im Osten hier. Man hätte es damals einfacher haben können, einige Neuerungen aus dem Osten oder Vorschläge von Kollegen aus dem Osten mit zu übernehmen. M.S.: Das klingt recht pessimistisch. Im Grunde ist doch das gemacht worden, was ihr gewollt habt, eine selbständige ÖTV in der DDR. E.S.: Dagegen hatten wir ja nichts. M.S.: Wolltest du eine wirklich selbständige ÖTV in der DDR, sogar selbständig von Stuttgart? E.S.: Wir haben den gleichen Fehler gemacht, den die Politik gemacht hat, und der uns von vielen Kollegen auch heute vorgeworfen wird, wenn du in Diskussionen bist. Wir
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haben den Leuten da drüben ein System übergestülpt, wir haben sie nicht mehr gefragt. Sie haben abstimmen dürfen, die Hand heben dürfen für eine Gründung ÖTV in der DDR, und dann haben wir ihnen ein System übergestülpt. Da gab es einen Zentralvorstand oder Hauptvorstand, oder wie auch immer man das nennen will oder einen gHV, ist an sich auch egal, wer nach Stuttgart fuhr zum Befehlsempfang. Der weder eine eigene politische Aussage machen durfte in der damaligen DDR, noch der gar nichts machen durfte. Die haben von uns ein System übergestülpt bekommen. Sie haben nicht die Möglichkeit gehabt, sich einzubringen. Diese Möglichkeit ist ihnen durch das, wie wir es gemacht haben, genauso wie es die Politik gemacht hat, genommen worden. Ich denke, das ist das, was uns die Kollegen auch ein Stück weit nachtragen. Es gibt Kollegen, die sagen, wir hätten sie vergewaltigt. M.S.: Das überrascht mich jetzt. Willi [Mück] meinte gerade, das wäre das Positive gewesen an der Gründungsgeschichte der ÖTV in der DDR, dass die Ostkollegen die Möglichkeit hatten, diese Organisation selbständig zu machen. E.S.: Sie haben sie nicht selbständig gemacht, das war das Problem. Das war das Problem. Wenn du mal schaust: Die Satzung ist vom Willi Mück diktiert worden. M.S.: Aber du hast doch gesagt, zu 80–90% wäre das identisch gewesen mit dem, was ihr sowieso hier habt machen wollen? E.S.: Ist richtig, ist richtig. Wir in Plauen haben damals gesagt: Wir sind ja nur ein kleiner Kreis. Uns ging es darum, vereinsrechtlich sauber eine Gründung zustande zu bringen. Wir hatten uns deswegen, um niemandem vorzugreifen, beschränkt. Ich kann nicht in Plauen in so einem kleinen Kreis eine Gewerkschaft gründen, mit einer ausgefeilten Satzung, wo ich alles rein tue und dann verlangen, dass die Leute sich DDR-weit dazu zählen. Sondern uns ging es nur darum, dass wir erst mal den Begriff besetzen. Wir haben gesagt, wir machen jetzt was Eigenständiges. Jetzt werden Gruppen gebildet auf verschiedenen Kreisebenen und in dem Moment, in dem die verschiedenen Kreisebenen da sind, muss es zu der Veranstaltung kommen, wie soll diese Gewerkschaft aussehen? Das ist von Stuttgart aus in die Hand genommen worden. Stuttgart hat diesen Satzungsentwurf hier mitgenommen. Ich weiß, wir haben bis zum 9. Juni, dem Gründungstag der ÖTV in der DDR, bis früh um vier Uhr gesessen, da ist gerungen worden mit dem Willi Mück... M.S.: Was waren die entscheidenden Differenzen? E.S.: Die entscheidende Differenz war ein Stück weit die Möglichkeit des Selbständiglassens. Die Satzung, die dann verabschiedet wurde, hat eine Eigenständigkeit der Gewerkschaft nicht mehr zugelassen. M.S.: Ihr wolltet eine selbständig handelnde Einheit? E.S.: Bis zum Zeitpunkt der Vereinigung, ja. Bis dahin, dass diese ÖTV-Ost mit der ÖTV-West zusammen geht. M.S.: Lässt sich anhand der Satzung zeigen, wo die entscheidenden Knackpunkte sind? E.S.: Ja, die Satzung ist ja hier. Willi [Mück] hat um Punkt und Komma gestritten. Ich sage mal, wir haben mehrere Treffen in Berlin gehabt und das ging so weit, dass Willi am 8. abends gegen 23.00 Uhr gemeint hat, wenn wir den Entwurf nicht so hinkriegen, wie er den will, dann müsste notfalls der Gründungskongress platzen. Da saßen wir in Magdeburg zusammen. Da war Willi bereit, den Gründungskongress platzen zu lassen, wenn
176 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview seinen Vorschlägen nicht gefolgt werde an dem Abend. Die anderen Truppen schliefen zum Teil schon, wir hatten bereits 15 Stunden verhandelt, da habe ich mit dem Willi bis um 4.00 Uhr früh gesessen und gestritten. Trefflich gestritten. M.S.: Willi Mück sieht sich als Förderer dieser selbständigen ÖTV in der DDR, weil es offensichtlich starke Kräfte auch im gHV gegeben hat, die das überhaupt nicht gewollt haben? E.S.: Das ist richtig. Ich möchte auch nicht dem Willi die Bereitschaft oder die Förderung absprechen wollen. Nur, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, es gab im gHV eine ganze Menge Leute, es gab eine sehr starke Fraktion, ich glaube, zu der gehörte auch die Monika [Wulf-Mathies], die also der Meinung waren, man kann mit diesem FDGB Verträge abschließen. Wir haben aber festgestellt, das geht nicht. Das haben wir sehr spät festgestellt. M.S.: Du sagst, es wäre eine Enttäuschung für die Ostkollegen gewesen. Sie hätten empfunden, dass ihnen etwas aufgesetzt würde und sie hätten nur noch die Möglichkeit gehabt zu gehorchen oder nicht mitzumachen. Das ist mir in den Interviews, die ich gemacht habe, noch nicht so gesagt worden? E.S.: Mir haben das eine ganze Reihe von Kollegen, die in der Anfangszeit sehr aktiv mitgearbeitet haben, gesagt. Ich habe da beispielsweise einen in Bautzen getroffen, der stammte aus Meißen, der auch am Anfang mitgemacht hat, und der gesagt hat: Nee, das wäre nicht das, was er sich vorgestellt hätte. Sie wollten selber was bewegen, und sich nicht alles abnehmen lassen. Es sind viele ins zweite Glied zurückgetreten. Im Prinzip ging es wie bei Kohl: Wir haben okkupiert und Schluss. Es sind sehr viele Neue gekommen, die das mitgemacht haben mit uns, schon richtig. So wie in anderen Bereichen auch, die gemeint haben, das was vom Westen kommt, das machen wir mit. Aber die, die am Anfang aktiv waren, da sind einige ins zweite Glied zurückgetreten, sich ein Stück weit resigniert zurückgezogen haben. M.S.: Ab Oktober wurden die gewerkschaftlichen Sachbearbeiter eingestellt. Die Generallinie war, dass man hauptsächlich Leute aus dem Osten nimmt. Das war doch eine Möglichkeit mitzumachen, im vorgegebenen Rahmen. Es gab ja nur noch die ÖTV? E.S.: Es ist sehr unterschiedlich. Wenn du heute die Entwicklung siehst, dass wir im Oktober gewerkschaftliche Sachbearbeiter eingestellt haben, das ist richtig. Wenn man jetzt mal überlegt, Chemnitz zum Beispiel hat damals drei Leute eingestellt. Das heißt, von Chemnitz wurden drei gewerkschaftliche Sachbearbeiter eingestellt. Das war so der erste Schwung mit der Vereinigung. Die Einstellungsgespräche waren im September. Aber es gab im Bereich Chemnitz schon zehn Wessis, die im Prinzip alles besetzt, alles belegt hatten. Das ist ein Stück weit auch problematisch gewesen, dass man gesagt hat, wir wollen jetzt einen Teil aus dem Osten. Aber unwahrscheinlich vieles war belegt worden aus dem Westen, von vornherein belegt. Es waren ja nicht immer die Aufmüpfigen, sondern es waren auch sehr viele, die geschickt worden sind. Rund geschliffen, völlig ausgerichtet, die also auch dort wenig Spielraum, wenig Möglichkeiten gelassen haben. Ich denke, du siehst das auch in vielen Bereichen heute noch. Dort wo die Ossis das Sagen hatten, auch im ehrenamtlichen Bereich, geht es weitaus kritischer zu, auch in der Kreisverwaltung, in den Kreisvorständen, als dort wo sehr dominierende, prägende Wessis dran waren, die das System, wie es bei uns war, eins zu eins übertragen haben. M.S.: Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben?
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E.S.: Ja. M.S.: Welche? E.S.: Eine Möglichkeit wäre gewesen, das was ich am Anfang schon gesagt habe. Man hätte im April 1990 Leute aus den Betrieben herausholen und schulen müssen. Man hätte dann im Oktober einen fundierten geschulten Stab gehabt. Mit denen hätte man drüben anfangen können. M.S.: Die Rechtsschutzsekretäre, die eingestellt worden sind, musstest du im Grunde alle aus dem Westen nehmen. E.S.: Juristen. Gut, die Rechtssekretäre. Schau, ich bin ja nun auch ein Wessi. Ich bin auch ein Geschäftsführer einer Kreisverwaltung. Es gab sehr unterschiedliche Sachen. Die Vergewaltigung ging ja weiter. Selbst bis in den außerordentlichen Gewerkschaftstag, selbst bis dahin. Die Ossis wollten, wenn ich das so sagen darf, die Leute aus dem Osten wollten sehr schnell eine eigenständige Tätigkeit dort drüben haben. Das Ergebnis war, dass die Ehrenamtlichen aus dem Bereich Chemnitz, dann später aus dem ganzen Bereich Sachsen, zum außerordentlichen Gewerkschaftstag, 12./13. Februar in Stuttgart, einen Antrag eingebracht haben, der dahin gegangen wäre, dass Bezirke gebildet werden. Der außerordentliche Gewerkschaftstag, hätte den Ostländern Bezirke gegeben, mit dem Ergebnis, dass man da drüben schnellstmöglich Wahlen hätte durchführen müssen. Das wäre eine sehr sinnvolle Sache gewesen. Das hat aber Stuttgart nicht in den Kram gepasst, weil die Gefahr bestanden hätte, dass jetzt Leute gewählt werden, die möglicherweise gar nicht einschätzbar sind. Das hat uns zurückgeworfen, das hat uns so weit zurückgeworfen in so vielen Dingen. Die, die das damals blockiert haben, sagen heute, wir hätten es damals machen sollen.
178 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview
Karl-Heinz Biesold Vorsitzender der IG Transport Interview vom 17. September 1992 K.-H.B.: Ich bin in der DDR aufgewachsen, bin ein richtiger gelernter DDR-Bürger. Beruflich habe ich als Sachse an der Ostseeküste Seeverkehrswirtschaft gelernt und bin zur See gefahren. Auf dem Schiff kam ich mit der Gewerkschaft in Verbindung, in ehrenamtlicher Tätigkeit als Vertrauensmann einer 30köpfigen Schiffsbesatzung, was das auch immer sein mag. Das hatte keine Außenwirksamkeit, sondern mehr oder weniger Kulturcharakter. Ich habe mich darum gekümmert, dass man im Ausland irgendetwas besichtigen konnte und solche Dinge. Am Ende der Seefahrt, also nach dem Studium – solche Dinge unterbrechen natürlich – bin ich gewerkschaftlich kaum wirksam geworden. Als Student ist man ja nicht Gewerkschaftsmitglied. M.S.: Was hast du studiert? K.-H.B.: Seeverkehrswirtschaft. Ich habe das Kapitänspatent gemacht und habe wieder fachbezogen bei der Seefahrt angefangen. Von 1965 bis 1980 bin ich mit Unterbrechungen zur See gefahren. Dann hatte ich wegen meiner Familiengründung nicht mehr die rechte Lust zur Seefahrt, weil ich ja nie zu Hause war. Ich habe mich deshalb darum gekümmert, was man noch machen könnte. In dieser Zeit wurden in der DDR die Kraftverkehrskombinate aufgebaut, dies war ein Zusammenschluss von Kraftverkehrsbetrieben, auch in Rostock. Ich habe mich gemeldet und bin in den Kraftverkehr eingestiegen. Dort habe ich auch wieder ehrenamtliche Gewerkschaftsarbeit gemacht. M.S.: Was heißt „im Kraftverkehr eingestiegen"? Mit welcher Tätigkeit? K.-H.B.: In der Arbeitsökonomie, in einem Sozialbereich. Ich war in der, heute würde man sagen, Holding, praktisch in der Leitung. Das war jedoch keine Leitung, sondern gehörte zum Kraftverkehrsbetrieb für den gesamten Bezirk Rostock. Ich war auch in der BGL. Hier bin ich in die Gewerkschaftsarbeit aktiver eingestiegen und habe mir gesagt, da musst du was bewegen. Wir haben uns mit den einzelnen BGLen der Betriebe, es waren insgesamt acht Betriebe, die zu diesem Kombinat gehörten, zusammengerauft und haben uns gefragt: Was können wir machen? Wie können wir uns gegenüber der Kombinatsleitung durchsetzen? Solche Gedanken gab es schon, auch wenn die Spannweite gering war. M.S.: Und ehrenamtlich, was hieß dies? K.-H.B.: Ehrenamtlich war man als Vertrauensmann und als BGL-Mitglied. M.S.: Welchen Bereich hast du gemacht? K.-H.B.: Ich war immer mit Fragen des Sozialistischen Wettbewerbs und Arbeitsrechts befasst. Das war immer eins. Dann kam schon bald die Wendezeit. Durch die Tätigkeit dieser Kombinate in der DDR – es gab in jedem Bezirk so ein Kraftverkehrskombinat – hattest du Kontakte zu anderen Kombinaten, also von Suhl über Dresden bis Berlin. Auf dieser Strecke entstand eine kleine Gruppe – also es ist mir heute eigentlich noch nicht richtig bewusst, wie das eigentlich zusammenhängt, man müsste vielleicht mal ganz tief nachforschen. Das war im August/September 1989, nein, es war ja noch bevor die Leute aus Ungarn nach Österreich rübergelassen wurden. Als die Situation sich in der DDR
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zuspitzte mit der Ausreise über Ungarn, wurde in einer kleinen Gruppe von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Gewerkschaftern der Gedanke geboren, wir sind nicht richtig vertreten in der damaligen IG Transport und Nachrichtenwesen, eine Kraftfahrergewerkschaft gab es nicht. So entstand der Gedanke, man müsste sich anders organisieren. Wenn über Kraftverkehr gesprochen wird, redet man von der Eisenbahn, mehr oder weniger, die sehr stark war, oder von der Post. M.S.: Und Fernverkehr? K.-H.B.: Fernverkehr, die waren unter ferner liefen. Wir hatten immer unsere Probleme vor Ort. Daraus entwickelte sich die aktive Mitarbeit in der Gruppe bis hin zu der Gründung der lG Transport am 22./23. Februar 1990. In Berlin wurde ich als Vorsitzender gewählt und war dies bis zur Auflösung. M.S.: Du sagtest, ihr hättet, bevor die Wende richtig losging, angefangen über Strukturveränderungen zu diskutieren. K.-H.B.: Wir haben nach Potsdam eingeladen. Und dort trafen sich ein Kollege aus Leipzig, eine Kollegin aus Potsdam, meine Wenigkeit und noch ein Kollege aus Neubrandenburg. M.S.: Wer hat eingeladen? K.-H.B.: Eingeladen wurde von dieser Kollegin aus Potsdam. M.S.: War das eine informelle Einladung? K.-H.B.: Ja, eine informelle Einladung, ein informelles Treffen. Es waren allerdings alles Leute, die im Verkehrskombinat beschäftigt waren und sich kennen gelernt hatten, sei es als ehrenamtliche Gewerkschafter im Kombinat oder in den BGLen oder als Vertrauensmann. M.S.: Wann war das ungefähr? K.-H.B.: Das war in den 20er Tagen im September 1989. Dort wurde auch mal offen diskutiert. Es gab Unruhe in den Verkehrskombinaten, auch in Rostock. Wir hatten auf Rügen Probleme, weil eine fällige und vorgesehene Lohnentwicklung nicht gemacht wurde. Weil damals vom Wirtschaftsministerium gesagt wurde, das Geld stünde nicht zur Verfügung. Die Plandiskussionen, die gemacht wurden, gingen ja immer direkt über die Bezirke, und da wurde gesagt, die Lohnentwicklung geht nicht. Es gab erhebliche Unruhe, weil es große Differenzen in einem Großbetrieb gab bei der Bezahlung. Solche Dinge wurden diskutiert. Kann man da was unternehmen, können wir als Gewerkschaften was tun? Wir mussten in den BGLen – theoretisch zumindest – diesen Plan unterschreiben. Wir haben als Rostocker in der Vergangenheit, in den letzten zwei Jahren, `87 und `88, dem Plan nicht zugestimmt. Da gab es auf der Parteiebene viel Ärger. Es hat nichts bewirkt, das muss man eindeutig sagen. Ob die Unterschrift darunter war oder nicht, es wurde sowieso anders gemacht, aber zumindest war dieses demokratische Mäntelchen nicht mehr da. Und aus diesem Grunde entstand wahrscheinlich diese Diskussionsrunde hier in Potsdam. Wir wollten uns einfach unterhalten, wie geht das überhaupt weiter, müsste man andere Wege suchen oder müsste man an den FDGB herantreten und sagen, wir wollen eine andere Organisationsstruktur, wir fühlen uns als Verkehrsbetriebe unterbemittelt. Der ÖPNV gehörte ja mit dazu, und wir wollten raus aus der Eisenbahnergewerkschaft oder zumindest raus aus der Postgewerkschaft. Ich sage das, weil bei IG Transport und Nachrichtenwesen an der Spitze alles Postler waren. Das war wahrschein-
180 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview lich ein eigener Proporz. Unabhängig davon, ob das damals, wenn das wirklich geändert worden wäre, eine Veränderung der inhaltlichen Linie gegeben hätte. Das ist sehr zweifelhaft aus heutiger Sicht. Aber wir waren so phantastisch, um zu sagen, wir diskutieren wenigstens schon mal darüber. Ob eine solche Veranstaltung vielleicht unterwandert worden ist, mit Absicht ein Ventil zu öffnen, das vermag ich nicht einzuschätzen, da müsste man sich hinsetzen und mal die Hintergründe durchforsten. Dieses Treffen führte dazu, dass man sich regelmäßig traf und diese Gruppe sich ein bisschen erweiterte. Jemand sagte, den müssten wir noch nehmen und mit dem noch reden. In der zweiten Oktoberwoche – da wurde es mit der Ausreise ungeheuer dramatisch, da gingen schon die ersten Demos los – waren wir in dieser Gruppe soweit, dass wir sagten, jetzt werden wir einfach einen Antrag bei der IG Transport- und Nachrichtenwesen stellen, und fragen, ob die Organisationsstruktur so bleiben kann. Es war damals auch Günter Kuhn dabei, der war im Vorstand der IG Transport -und Nachrichtenwesen, und über diese Strecke ist ein Gespräch mit Karl Kalauch [Vorsitzender der IG Transport und Nachrichtenwesen] gesucht worden. Wir wollten seine Meinung hören, wie die Gewerkschaft zu solchen Fragen steht. Wir waren als Transporter mehr oder weniger direkt damit verbunden. Wir hatten z.B. als Rostocker mit ungarischen Verkehrsbetrieben über viele, viele Jahre ganz enge Kontakte und die fragten uns nun: Wie soll's nun weitergehen, was ist hier los? Wir versuchten also über diesen Weg Kontakt zu kriegen zum Vorstand und haben, noch bevor die Mauer gefallen ist, in den letzten Tagen im Oktober ein Gespräch gehabt. Karl Kalauch hat persönlich daran teilgenommen. Wir haben unsere Gedanken vorgetragen und haben gesagt, also wir sehen, dass wir so überhaupt nicht mehr arbeiten können und dass wir die gewerkschaftlichen Arbeiten nicht mehr umsetzen können. Die Leute glauben uns nicht mehr. Fällige Lohnveränderungen seien immer noch nicht entschieden, bzw. seien nicht mehr durchgeführt, obwohl von der Gewerkschaft verkündet. So ginge es nicht weiter. M.S.: Waren bei diesem Treffen ehrenamtliche Kollegen dabei? K.-H.B.: Nein, es waren nicht alles Ehrenamtliche. Die Kollegin aus Potsdam war hauptamtlich. Sie war in Potsdam im Vorstand des Bezirkes der lG Transport- und Nachrichtenwesen. Beim ersten Treffen waren es im Wesentlichen Ehrenamtliche bis auf sie. Beim zweiten Mal vor dem 18. Oktober war Günter Kuhn dabei. Das war praktisch jemand aus dem Vorstand. Nach diesem Gespräch mit Karl Kalauch ist unser Standpunkt eindeutig klar geworden: Die lG Transport- und Nachrichtenwesen kann überhaupt nicht so weiter existieren. Wir sagen als Transporter im Kraftverkehrsbereich, dass das nicht funktionieren kann. Es muss Lösungen geben und wenn wir die Lösung nicht finden, werden wir alles forcieren, damit unsere Leute sich hinter uns stellen und wir was anderes machen können. M.S.: Es ist doch ungewöhnlich, dass so ein informeller Kreis als Gesprächspartner überhaupt akzeptiert wird. Normalerweise hätten sie doch draufgeschlagen, wenn in diese Richtung sich was getan hätte? K.-H.B.: Das ist so ein Punkt, wo ich auch selbst mal im Rückblick nachgedacht habe: a) Warum ist damals so eine Einladung entstanden? Eigentlich hat das Treffen diese Frau selbst organisiert. Was ich nicht glaube, weil sie, wie sich später rausstellte, so stark gar nicht war. Oder hat man versucht von anderer Ebene, ich will nicht unbedingt die Stasi nennen, aus dem Dilemma rauszukommen? Es gab auch im FDGB eine Einschätzung, dass es eigentlich nur ein Mitlaufen sei und kein gewerkschaftliches Einsetzen – das Arbeitsrecht mal ausgeklammert oder Dinge im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten.
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Dass man also gesagt hat, wir müssen irgendwo doch Verbündete finden. Man hat das einfach so eingeschätzt. Verwunderlich ist es zumindest, dass Kuhn mit am Tisch saß. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das informell und konspirativ war. Wir haben diese Gruppe mehr oder weniger genutzt, um Schritte zur Gründung einer neuen Gewerkschaft einzuleiten. Für mich war wichtig, um noch einmal zurückzugehen, dass das Gespräch mit Karl Kalauch meistens auf sachlicher Ebene geführt wurde. Er hat im Wesentlichen nichts gegen unsere Argumente gehabt. Er hat natürlich die Meinung vertreten, die er sicherlich als Vorsitzender im FDGB vertreten musste, dass eine Spaltung der Gewerkschaften am Ende zu einer Zersplitterung führe und die Vertretung gegenüber der Wirtschaft usw. erschwere. Aber im Wesentlichen hat er keinen massiven Widerstand geleistet. Das war zumindest nicht spürbar. Es war eine sachliche Diskussion, es war keine böswillige Diskussion. Wir sind dann auseinander gegangen und waren unzufrieden, weil es kein Ergebnis gab. Wir wussten nicht, wie es nun weitergehen sollte. Haben wir eigentlich den richtigen Schritt getan, ausgerechnet den einzubeziehen, wo wir sagen müssten, der müsste seinen Hut nehmen? Die Ereignisse haben die ganze Sache überrollt. Im November ist durch den Mauerfall der FDGB mit den Einzelgewerkschaften offensichtlich vollkommen aus den Fugen geraten. Die bestehenden Einzelgewerkschaften haben gemerkt, dass sie, wenn sie jetzt nicht selbst neue Wege finden wollten, überhaupt nichts mehr läuft. Das war offensichtlich auch spürbar bei der IG Transport- und Nachrichtenwesen. Es lag nahe, die Gedanken aufzugreifen, die wir schon vorgetragen hatten. Entweder wir bauen mitgliedernahe Organisationen auf oder es wird überhaupt keine Organisation mehr geben. Vor Ort, in Rostock, selbst im Betrieb, war die Meinung vorherrschend, dass es ohne Gewerkschaft nicht geht. Wir wollten bloß nicht eine einflusslose Gewerkschaft. Wir ergriffen einfach die Initiative und versuchten mit unserer Gruppe etwas aufzubauen. Wir nahmen Kontakt mit den Eisenbahnern auf, mit Franz Klink, der ist noch in Dresden, der hat das damals bei der Eisenbahnergewerkschaft mitgemacht, oder mit Peter Rothe, der bei der Eisenbahnergewerkschaft aus Rostock war. M.S.: Vorsitzender des Sprecherrates? K.-H.B.: Ja, der Vorsitzender des Sprecherrates war. Er kam aus Rostock, wo wir Kontakt hatten. Die Trennung von der lG Transport- und Nachrichtenwesen wurde von den Transportern und von den Eisenbahnern forciert. Rigoros wurde gesagt, wir werden Mitgliederversammlungen einberufen und einfach verlangen, entsprechende Beschlüsse zu fassen. M.S.: Wann war das? K.-H.B.: Das war im November/Dezember. Aus der kleinen Gruppe, die ich genannt habe, wurde praktisch so etwas wie eine Redaktionsgruppe. Wir haben gesagt, wir machen jetzt Vorschläge, wir müssen an die Leute `ran, wir müssen Wege versuchen zu finden. So ist das dann organisiert worden. Das ging bis in den Dezember. Die Gruppe hat auch versucht mit dem Ministerium, mit dem damaligen Verkehrsminister und mit dem Staatssekretär, ins Gespräch zu kommen, um noch Verbesserungen auf lohnpolitischen und arbeitspolitischen Gebieten zu machen, aber nur für Teile von Transportern – die IG Transport- und Nachrichtenwesen existierte ja noch. Das wurde von dieser Gruppe und einigen Transportern, die im Zentralvorstand der IG Transport saßen, organisiert, wie z.B. von Günter Kuhn. Es gab damals im Dezember kein einheitliches Auftreten einer lG Transport- und Nachrichtenwesen mehr. Kalauch hat sich vollkommen rausgehalten. Die Eisenbahner und die Transporter waren für sich und haben ihr eigenes Vorgehen bei ihren Fachministerien organisiert.
182 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Aber ihr hattet doch gar keine Legitimation? K.-H.B.: Nein, aber wir wurden offensichtlich akzeptiert, weil wohl Leute aus dem Zentralvorstand dabei waren wie z.B. Günter Kuhn. Aber eine Legitimation hatte keiner, das ist klar. Der Verkehrsminister hätte uns eigentlich gar nicht empfangen brauchen. Wir haben in Berlin z. B. über Lohnveränderung diskutiert, weil es schon erste Streiks z.B. auf Rügen gab, im Kraftverkehr Bergen. Auf unsere Telexe ist reagiert worden und nicht auf die der IG Transport- und Nachrichtenwesen. Vielleicht auch, um den Deckel noch auf den Topf zu bekommen, da man durchaus einschätzte, dass alles außer Rand und Band gerät. Das war vor Weihnachten, um den 20./21. Dezember 1989, im Verkehrsministerium hier in Berlin über die Veränderung von Lohnstrukturen im Kraftverkehrssektor. Die Vorschläge von uns wurden akzeptiert und sind im Dezember rückwirkend für den Bereich Kraftverkehr/Personenverkehr wirksam geworden. Damit wurden z.B. die latent schwellenden Streiks in Bergen beendet, und ich glaube auch in Suhl. Das kann ich jetzt nicht genau sagen, also im Süden auf jeden Fall, in Gera oder Suhl war die Situation genauso hochgeputscht. Auf FDGB-Ebene waren wir überhaupt nicht einbezogen, weder in Rostock noch anderswo. In der Zwischenzeit wurden einige FDGB-Chefs abgewählt und schon Sprecherräte gebildet. In Rostock, weiß ich, war der Bezirkschef schon abgewählt. Aber da waren wir im Vordergrund nicht einbezogen. M.S.: Ihr habt euch auch nicht gekümmert, was auf FDGB-Ebene läuft? K.-H.B.: Das war von uns auch nicht angestrebt. Wir hatten mit uns selbst genug zu tun. M.S.: Im November hatte der Bundesvorstand des FDGB bereits den außerordentlichen Kongress für Ende Januar einberufen. K.-H.B.: Sicherlich, wir haben uns aber darum nicht gekümmert, weil die alten Strukturen noch bestanden: Betriebsgewerkschaftsleitungen und Bezirke etc. Es sind zwar die Delegierten für den außerordentlichen Kongress benannt/gewählt worden, aber unsere Arbeit hat das in keiner Weise tangiert. M.S.: Ist es nicht verwunderlich, dass der FDGB bei euch nicht eingegriffen hat? Die Gewerkschaften waren ja keine autonomen Einzelgewerkschaften, sondern Fachabteilungen des FDGB. Gab es nicht irgendwelche Versuche, euch wieder in den Griff zu bekommen? K.-H.B.: Nein, also bei mir persönlich nicht. M.S.: Habt ihr den außerordentlichen Kongress, der war am 31. Januar, vorbereitet? Habt ihr diskutiert, habt ihr Meinungen gebildet? K.-H.B.: Da waren wir schon in der konkreten Vorbereitungsphase, eine IG Transport zu gründen. Wir versuchten, Einfluss zu nehmen – das hört sich groß an. Wir wollten herauskriegen, wer die Delegierten für den außerordentlichen Kongress in unseren Betrieben sind und haben versucht, dort noch Einfluss zu nehmen. Wenn solche DelegiertenWahlen durchgeführt wurden auf bezirklicher Ebene, dann sind auch die Kreise noch aktiv geworden und es mussten die Einzelgewerkschaften nach dem Schlüssel Delegierte bestimmen. Eigentlich sind damals zu solchen Konferenzen nur noch solche Leute hingegangen, zumindest glaube ich das, die Lust gehabt haben, etwas Neues zu beginnen, neue Wege zu suchen. Darunter sicherlich Neues-Forum-Leute, die damals schon aktiv waren. Es waren natürlich auch welche dabei, die die Sache konspirativ unterwanderten, das will
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ich nicht ausschließen. Ich kann zwar keinen Namen nennen und wüsste momentan auch gar keinen, aber mit Sicherheit war das der Fall. Das war schon zu wichtig, glaube ich. Aber wir haben versucht Einfluss zu nehmen, dass zumindest unsere Leute, die Transporter waren, dort wirksam werden konnten, damit wir nicht wieder hinten runterrutschen. Wir waren immer die Benachteiligten innerhalb des Systems Transport- und Nachrichtenwesen, so glauben wir das zumindest. Zumindest aus der Rostocker Sicht kann ich das einschätzen. Es gab enormen Druck, der aus der Seeverkehrswirtschaft kam, also von den Seeleuten her und den Hafenarbeitern. Da hat es in Rostock übrigens eine gute Zusammenarbeit mit den Fischereileuten gegeben, obwohl die nicht bei Transport- und Nachrichtenwesen waren (die gehörten ja zur Nahrungs-, Genussmittelindustrie). Die haben zwar Seefahrt betrieben, waren aber nicht bei Transport- und Nachrichtenwesen. Aber dadurch, dass wir alle Seefahrer waren, gab es zu uns Kontakte. So ist das entstanden, dass wir gemeinsam in die konkrete Vorbereitung bis hin zur Ausarbeitung einer vorläufigen Satzung einer neuen Gewerkschaft IG Transport kamen. Alles noch vor dem außerordentlichen Gewerkschaftskongress FDGB. M.S.: Ihr wart finster entschlossen, euren eigenen Weg zu gehen? K.-H.B.: Wir waren finster entschlossen, unsere eigenen Wege zu gehen, das muss man so sagen. Wir hatten damals auch schon das erste Gespräch mit der Monika [WulfMathies] am 20. Januar 1991 hier in Berlin. In unserer Gruppe ging die Diskussion im Dezember/ Januar los: Es wird mit Sicherheit zu einer Konföderation kommen, also müssen wir Wege finden, wie wir mit der anderen deutschen Gewerkschaft, die Transporter organisiert, zusammenarbeiten. Das Naheliegendste war, Monika Wulf-Mathies einen Brief zu schreiben, dass sich hier eine Transportgewerkschaft bildet und zu fragen, wie die ÖTV dazu steht. Und so gab es ein erstes Kontaktgespräch. Wir konnten rüber, die Mauer war schon weg. Es gab zwar noch Grenzkontrollen, aber da gab es keine Probleme mehr. Es gab eigentlich mehr Fragen von Monika als von uns. Sie wollte etwas über die Gesamtsituation wissen: Wie schätzen wir den Bereich überhaupt ein, wie stehen die Leute zu diesen Problemen und, und, und. Gibt es überhaupt eine Akzeptanz zu etwaigen neuen Gewerkschaften, weil dort auch Leute drinnen sind, die vorher in der alten Gewerkschaft gearbeitet haben, wie z. B. ich, und solche Dinge. Es war ein offenes Gespräch. Monika war – wenn man das aus der heutigen Sicht bewertet – sehr vorsichtig. M.S.: Und ihr habt der ÖTV-Vorsitzenden vorgetragen, dass ihr im Begriff seid, eine eigenständige Gewerkschaft zu gründen? K.-H.B.: Ja, genau. Wir wussten noch nicht genau, wann wir das machen wollten und wo, aber wir hatten ins Auge gefasst, vorbehaltlich etwaiger Beschlüsse des außerordentlichen FDGB-Kongresses, zu prüfen, ob wir überhaupt noch Mitglied im FDGB sein können und ob wir unsere eigene Gründung noch im Februar durchführen. Es bedurfte doch einiger Vorbereitung. Wir hatten in dieser Zeit schon angefangen, in den Bereichen des Kraftverkehrs – damals noch über die Strukturen der IG Transport und Nachrichtenwesen, also praktisch der Bezirksstrukturen – Wege zu finden, wo wir Delegierte zum Gründungskongress einer neuen IG Transport und Nachrichtenwesen wählen könnten. Wir hatten die Unterlagen vom damaligen Zentralvorstand der IG Transport und Nachrichtenwesen, der de facto nicht mehr bestand und auch nicht wirksam wurde über die Mitgliederstrukturen. Wir haben organisiert und praktisch die Vorbereitung getroffen, für den Kongress, unabhängig davon, ob man ihn überhaupt bezahlen konnte. Es ging drunter und drüber deswegen. Das war auch der Monika [Wulf-Mathies) bekannt, das hatten wir ihr vorgetragen und sie hat das zur Kenntnis genommen. Sie hat damals versprochen,
184 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview uns, wenn notwendig, zu unterstützen. Man müsste aber die Zeit herankommen lassen, dann wisse man, wie das alles so Iiefe, noch gäbe es ja kein einheitliches Deutschland. Das konnte damals keiner abschätzen, wie das läuft, konföderativ oder nicht. Das war praktisch die Zeit bis zum außerordentlichen FDGB-Kongress Ende Januar. M.S.: Warst du da? K.-H.B.: Nein. Ich habe erst vor unserem eigenen Gründungskongress erfahren, dass sich dort die Transporter auch noch mal hingesetzt haben, also Teile von Delegationen aus dem Transport- und Kraftverkehrsbereich, Luftfahrt und Seeschifffahrt. Die haben gesagt, wir müssten Wege zu einer neuen Gewerkschaft finden. Das haben wir forciert. Das war eine noch breitere Basis von Leuten, die nicht mit unserer Gründungsgruppe zusammenarbeiteten, z.B. Günter Kressler aus Rostock, der Delegierter war und Leute wie z.B. Fehling hier aus Berlin von den Verkehrsbetrieben, der dann auch bei uns im Vorstand war. Der ist auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress aufgetreten und hat über neue Wege, Sprecherräte und solche Dinge gesprochen. Obwohl Kressler selbst nicht zur Vorbereitungsgruppe gehörte, sprach er ihn an, ob er denn nicht mitarbeiten wolle bei der Vorbereitung der IG Transport. Da die Beschlüsse des außerordentlichen FDGBKongresses weder Fisch noch Fleisch waren, haben wir gesagt, wir müssen jetzt die Vorbereitung einer eigenen Gründung forcieren. Wir wollten, dass die Eigenständigkeit der Einzelgewerkschaften stärker ausgeprägt wird, zumindest erst einmal formal. M.S.: Das war ja die zentrale Entscheidung. K.-H.B.: Genau, und wir wollten aus der FDGB-Vermögensmasse etwas bekommen. Das hat dazu geführt, dass wir auf jeden Fall erst mal Mitglied der FDGB-Gewerkschaft bleiben wollten, unabhängig von dem Namen und von der Vorgeschichte. Es sollte nichts verloren gehen, was unsere Leute einbezahlt haben. Und so kam es, dass wir über die Strukturen der alten IG Transport und Nachrichtenwesen für die Transportbereiche einen außerordentlichen Gründungskongress für eine Transportarbeitergewerkschaft am 23./24. Februar vorbereitet haben. Wir hatten rund 200 Leute eingeladen, mehr als hundert waren da. Hier in Berlin. Übrigens hat man die ÖTV eingeladen, und der Kollege Jürgen Bühn von den Verkehrsflughäfen hat teilgenommen. Wir hatten noch keinen Kontakt zur Fachabteilung der Hauptverwaltung, also VS 5, zumindest keinen persönlichen Kontakt. Die ÖTV hat beobachtet, was da passierte. Hinterher hat Eike Eulen [gHV-Mitglied, zuständig für den Bereich Verkehr] mir erzählt, dass es Bestrebungen gab, den Transportbereich zu spalten, in den Bereich Eisenbahn und den übrigen Transport. Wir hatten damals noch den Gedanken, gemeinsam mit den Eisenbahnern eine Transportarbeitergewerkschaft zu gründen, aber die Eisenbahner bestanden prinzipiell darauf, eine eigene Eisenbahnergewerkschaft ins Leben zu rufen. Das lag sicherlich auch daran, dass das Verkehrsministerium im Prinzip ein Eisenbahnerministerium war. Die Eisenbahner hatten sich übrigens bereits eigenständig gegründet, auch im Februar. Eine Woche vorher. Wir haben praktisch eine Woche später nachgezogen. M.S.: Welche Bereiche habt ihr organisiert? K.-H.B.: Wir haben die Bereiche organisiert, die nicht Eisenbahn waren, also Straßenverkehr, Nahverkehr, damals auch noch den Straßenbau und alles was heute Öffentlicher Dienst ist: Verkehrsflughäfen, die Luftverkehrsgesellschaft INTERFLUG, Schifffahrt, Binnenschifffahrt, Hochseeschifffahrt. In diesen zwei Kongresstagen wurde, nach langer
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kontroverser Diskussion bis spät in die Nacht, eine vorläufige Satzung beschlossen und der Vorstand gewählt, der Zentralvorstand der IG Transport. M.S.: Wie viele Leute waren das hauptamtlich? K.-H.B.: Hauptamtlich waren es fünf. M.S.: Und du warst Vorsitzender? K.-H.B.: Ich wurde zum Vorsitzenden gewählt. Es gab eine Einzelabstimmung, also eine geheime Abstimmung, gewählt wurde in zwei Wahlgängen. Drei Leute stellten sich zur Wahl. M.S.: Wie war denn die Resonanz bei den Mitgliedern? Der FDGB war doch ziemlich diskreditiert. Habt ihr das gemerkt? K.-H.B.: Am Anfang, in der Vorbereitung, war die Diskreditierung noch nicht spürbar. Das hat sich erst später herausgestellt, je weiter der Einheitsprozess vonstatten ging – die konkrete Verbindung vom FDGB-Vorstand zum Zentralkomitee der SED in Person von Harry Tisch und auch der Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften. Mit der Neugründung war eigentlich sehr viel Euphorie bei den Transportarbeitern zu spüren, das muss ich deutlich sagen. Aus den Bereichen, die ich von Rostock her kannte und später auch aus dem Süden. Es gab zwar teilweise eine abwartende Haltung, aber in vielen Fällen eine sehr aktive Mitarbeit. Viele freuten sich: Wir sind jetzt eigenständig, wir müssen einen Weg finden. Bis ungefähr zum Mai/Juni hin war deutlich zu spüren, dass es eigentlich nicht so sehr uns persönlich gegenüber Misstrauen gab, nach dem Motto: Das sind die Alten. Es ging darum, Wege zu finden. Das bröckelte nach und nach ab, als man spürte, dass es sowieso nichts mehr vorwärts ging. Es ging weder mit Maßnahmen vorwärts noch kamst du zu verbesserten Sozialbedingungen. Aber das lag nicht nur an den Gewerkschaften, sondern auch an der Situation. Ab Sommer 1990 war deutlich, dass der Weg zur Einheit Deutschlands wahrscheinlich schneller vonstatten geht als gedacht. Dann kamen die Gedanken: Muss man überhaupt noch was Eigenes gründen oder muss man näher mit den anderen zusammenarbeiten? M.S.: Habt ihr nach dem Gründungskongress die Strukturen aufgebaut? Wart ihr noch in der Lage, Bezirksverwaltungen aufzubauen, Kreisverwaltungen oder Verwaltungsstellen überhaupt? Gab es Funktionäre, sind diese legitimiert worden? Hat ein Organisationsaufbau stattgefunden? K.-H.B.: Er wurde begonnen aber nicht abgeschlossen. Die Zeit war nicht mehr da, und dann blockten auch wir den Prozess ab. Als wir im Sommer den gemeinsamen Übergang in die ÖTV beschlossen, war klar, dass der Einigungsprozess noch 1990 stattfinden wird. Bei der Neugründung war festgelegt worden, die Strukturen neu aufzubauen, um an der Basis Funktionäre zu haben, die legitimiert waren, für die Leute zu sprechen. Es war nicht vorgesehen, Kreisstrukturen aufzubauen. Da haben wir gesagt, das können wir uns nicht leisten. Wir wollten kein System aufbauen, das eine solche Zergliederung hat, sondern es sollte eine bezirkliche oder Landesebene geben. Wir meinten, zumindest auf Bezirksebene eine Verwaltungsstelle zu haben, wo hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt sind. Diese sollten später die neugewählten Betriebsräte organisieren. Am Anfang wurde allerdings noch auf eine Neuwahl der gewerkschaftlichen betrieblichen Leitung orientiert. So sind die ersten Beschlüsse mit der neuen IG Transport und dem Verkehrsministerium ausgefallen, nämlich dass die Gewerkschaft im Betrieb bleibt. Da gab es ein gemeinsames Abkommen, eine Art erster Tarifvertrag, der garantierte, dass Gewerkschaften auf
186 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview betrieblicher Ebene tätig sein konnten. Weil damals schon die Parteien aus den Betrieben rausgingen, neue nicht reinkamen und die SED rausflog aus den Betrieben. Deshalb gab es eine Vereinbarung zwischen der IG Transport und dem Verkehrsministerium, dass die Gewerkschaftsstrukturen auf betrieblicher Ebene bleiben, und dass entsprechend Mittel zur Verfügung gestellt werden, wie Schreibmaschine, Papier usw. So versuchten wir, auf der Basisebene, neue Strukturen aufzubauen. Es ist bis zur Auflösung gelungen, neue bezirkliche Strukturen zu errichten, d.h. neue Funktionäre in den Bezirken zu wählen oder wenn sich alte gestellt haben, diese zumindest neu wählen zu lassen. M.S.: Und wer hat die gewählt? K.-H.B.: Die Delegierten, direkt aus den Betrieben. Es wurden aus in dem Bezirk ansässigen Transportbetrieben Delegierte gewählt. M.S.: Habt ihr einen Schlüssel vorgegeben? K.-H.B.: Wir haben einen Schlüssel aufgestellt, anhand der noch bestehenden Betriebsgröße. Und dort mussten eben soundso viele Delegierte gewählt werden. Auf einer Bezirksversammlung, wo z.B. die vorläufige Satzung der IG Transport, die Gründung und solche Dinge nochmals beredet wurden, wurde auch ein neuer Bezirk gewählt. So war das. M.S.: Wie viele Mitglieder habt ihr im Sommer ungefähr gehabt? K.-H.B.: Schwer zu sagen. Wir mussten vom ersten Tag an (was übrigens immer eine sehr kontroverse Diskussion war, die nur gerettet werden konnte durch das engagierte Auftreten von Jürgen Bühn) eine neue Struktur der Beitragskassierung aufbauen, denn irgendwo musste ja etwas bezahlt werden. Da ist damals festgelegt worden, dass wir eigentlich ein Prozent vom Verdienst brauchen, also wie heute. Allerdings sollte das eine Prozent nicht vollständig an die Zentrale abgeführt werden, sondern im Verhältnis 60:40. 40% der Mittel sollten im Betrieb bleiben, weil die Leute sich daran gewöhnt hatten, im Betrieb betreut zu werden, und weil man gedacht hat, in der Zentrale werde wieder alles falsch verwendet. Da war schon Distanz da, deshalb beließ man nur 60% in der Zentrale. Man muss davon ausgehen, dass wir viele Dinge nicht genau wussten, weil der Apparat mit fünf Leuten gering war – wir hatten fünf Verwaltungsangestellte. Es war schwierig, das alles zu prüfen und in die Reihe zu bekommen, weil wir praktisch bei Null anfingen. Wir gingen davon aus, dass wir am Anfang zwischen 200.000 und 250.000 Mitglieder hatten. M.S.: Musste man neu eintreten in die IG Transport, oder wurden einfach die Karteien aus dem FDGB gezogen und übernommen? K.-H.B.: Ja und nein. Wir haben neue Mitgliederausweise drucken lassen, und wir haben einen Mitgliederausweis gedruckt, der lG Transport hieß, und der auch die Mitgliedschaft mit dem genauen Datum in der lG Transport festlegte. Wir haben die Leute aufgefordert; Mitglied der lG Transport zu werden, aber wir haben keine neuen Aufnahmeanträge ausgeschrieben. Das war sicherlich damals ein Fehler, anders hätten wir vielleicht eine vernünftige MlBEV hingekriegt. Die Leute mussten allerdings von ihren Gewerkschaftsleitungen einen neuen Ausweis haben, und praktisch hätten sie ihn ablehnen können. Das ist auch vorgekommen. Manche haben gesagt, jetzt bin ich nicht mehr Gewerkschaftsmitglied, aber eine Reihe der Leute sind natürlich Mitglied geworden. Im Transportbereich hatte eine Mitgliedschaft eine andere Wirkung. Wir hatten damals, genau wie heute die GUV, die Fakulta. Wir hatten eine Vereinbarung vom ersten Tag an mit der Fakulta,
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diese Versicherung weiterzuführen. Wir haben auch Mittel dahin abgeführt, damit wir den Leuten Rechtsschutz geben konnten. Das war ein sanfter Druck, Mitglied zu bleiben. Ob das immer innerlich gewollt war, das ist sicherlich nicht bei jedem der Fall gewesen. Aus der heutigen Sicht, muss man sagen, hatten wir nicht mehr so viele Mitglieder. Die Erfassung war natürlich sehr schwierig. Es gab eine erhebliche Dunkelziffer, weil die Betriebe anfingen, sich aufzulösen. Viele Leute gingen deshalb raus. Das Drunter und Drüber wurde größer. M.S.: Du warst als Vorsitzender an der Diskussion über den FDGB beteiligt? K.-H.B.: Ja. Als Vorsitzende wurden die Einzelgewerkschaften de facto zu diesen Organen des neuen FDGB zusammengefasst. Ob bewusst oder unbewusst, sei mal ganz dahingestellt, aber die saßen nun alle am Tisch. Am Anfang mit den gewählten Vertretern auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress, unter der Regie des FDGB, der auf dem außerordentlichen Kongress gewählten Vorsitzenden. Später wurde es immer deutlicher in den wöchentlich stattfindenden Besprechungen, dass das eine Farce war. Wir kamen nicht mehr vorwärts, weil die Interessenlage erheblich auseinanderlief. Die Interessenlage deswegen, weil von Anfang an nicht klar war, welche Rolle dieser neue FDGB, wenn er denn neu sein sollte, spielen sollte gegenüber den Einzelgewerkschaften. Die Einzelgewerkschaften und auch wir haben massiven Druck ausgeübt, um unsere Eigenständigkeit immer weiter voranzutreiben. Das führte zwangsläufig zu dem notwendigen Konflikt, welche Rolle dieser FDGB haben sollte. Zu dem Zeitpunkt, an dem ein Sprecherrat gebildet wurde, im Mai, hatten sich noch nicht alle Einzelgewerkschaften neu gegründet, das muss man deutlich sagen. Dieser Prozess, wie er bei der IG Transport, bei den Eisenbahnern und bei der IG Metall vonstatten gegangen ist, ist ja nicht bei allen Gewerkschaften so abgelaufen, sondern manche haben sich nur umgegründet. Im Prinzip haben sie auf einer Vorstandssitzung den Vorsitzenden weggenommen und vielleicht den Stellvertreter oder irgendjemand zum Vorsitzenden gemacht. So wie bei uns ist das bei anderen nicht abgelaufen, und deshalb war ihre Ausgangslage eine durchaus andere. Es hat immer mehr Konflikte gegeben bei der Beschlussfassung, bei diesen enormen Sitzungen, die durchgeführt wurden. Es ist sicherlich vom FDGB oder von dem Gremium versucht worden Terrain wieder gutzumachen und die Einzelgewerkschaften zusammenzuschmieden. Aber das war nicht homogen, das muss man sagen. Am 9. Mai ist jedenfalls auf Antrag der lG Transport der FDGB endgültig gekippt worden, das ist nachweisbar. M.S.: Ich dachte, die IG Bergbau wäre das gewesen? K.-H.B.: Nein, die IG Bergbau hatte zwar vorher dieses Schreiben verfasst, aber durch Andreas Hess [Vorstandsmitglied der IG Transport] und meine Wenigkeit – wir waren damals mit dazu geladen, d.h. ich war sowieso dabei, aber Andreas war dazu geladen, weil er bei uns die Finanzen gemacht hat – ist dieser Antrag eindeutig formuliert worden und dann ist das Chaos entstanden. Wir haben den Antrag eingebracht, die Einzelgewerkschaften hätten die Hauptamtlichen des FDGB extra zu stellen und einen Sprecherrat zu gründen. Der Sprecherrat sollte festlegen, wer die koordinierende Funktion der Einzelgewerkschaften der damaligen DDR haben solle. M.S.: Das war die Absetzung des FDGB-Vorstandes? K.-H.B.: Es war de facto die Absetzung des Vorstandes. Die Helga Mausch [FDGBVorsitzende] war weg. Es hat ganz böse Auseinandersetzungen und Diskussionen gegeben. Die Sitzung ging von früh bis in die Nacht hinein und dort ist der FDGB zu Grabe getragen worden. Wir sind mit dem Peter Rothe, dem Vorsitzenden der Eisenbahner-
188 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview gewerkschaft, uns klar darüber gewesen. Da war uns aber nicht klar, dass wir uns stellen sollten. Es kam die Frage, ob die Transporter das machen sollten, aber das haben wir rigoros abgelehnt. Wir hätten uns eigentlich gewünscht, dass sich die IG Metall mehr in den Vordergrund gestellt hätte, aber das war auch nicht möglich. So kam es, dass Peter Rothe den Hut aufbekam. Wir hatten uns gesagt, es führt zu nichts. Wir hatten zwar schon Kontakte zum DGB versucht, aber das ging nicht vorwärts, weil eine Blocksituation entstanden war, zwischen den Vorstandsmitgliedern des FDGB und den Einzelgewerkschaften. M.S.: Welche Verständigung hat zwischen den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften stattgefunden? Habt ihr euch abgesprochen? K.-H.B.: Nein, leider nicht, das war der Punkt. Es hat eigentlich nur eine Absprache gegeben, dass an diesem Tag der Antrag gestellt wird von der IG Transport gemeinsam mit der Eisenbahnergewerkschaft. Der Kollege Bugiel von der IG Metall war von uns in Kenntnis gesetzt, dass wir diesen Antrag machen oder wir treten aus dem FDGB, also aus dem gemeinsamen Rat, aus. Wir würden dann ganz rigoros unsere eigenen Wege gehen. Auch die Postgewerkschaft wusste davon, der Kollege Beikow. Andere wussten nichts. M.S.: Da habt ihr die anderen im Grunde überrascht oder überfahren? K.-H.B.: Unterschwellig ja. Doch diejenigen, die politisch mitdenken konnten, und das muss ich erst mal anderen genauso unterstellen, war natürlich klar, dass es eigentlich keinen anderen Weg geben konnte. Die abwartenden Haltungen waren mehr aus der Sicht vom Handel, denn es stand deren Zusammengehen mit der HBV aus. Dort gab es erhebliche Dissonanzen. Die Bergleute standen auf unserer Seite. Der Beschluss war dann fast einstimmig, also mehrheitlich wurde entschieden, so zu verfahren. M.S.: Von außen gesehen war das eine ähnliche Konstruktion wie DGB und DGB- Gewerkschaften. Warum wolltet ihr diesen FDGB-Vorstand nicht mehr haben? K.-H.B.: Weil wir gemerkt haben, dass die Beschlüsse, die wir gefasst haben nicht richtig umgesetzt wurden. Es gab die Diskussion um die Zergliederung des FDGBVermögens auf die Einzelgewerkschaften. Es stellte sich die Frage, welche Rolle dieses Führungsgremium dort haben sollte. Wir sind ihnen doch nicht rechenschaftspflichtig, sondern sie sind uns rechenschaftspflichtig. Das führte, weil sie das eben nicht so gesehen haben, immer mehr zu Dissonanzen. Das war so Ende April/Mai. Das führte zu einer echten Konfrontation. Es sind auch viele Beschlüsse nicht durchgegangen und das führte immer wieder zu neuen Crash-Kursen. Wenn wir Nein gesagt haben – wir waren ja in der Mehrheit – dann waren die Beschlüsse nicht durchführbar. Also mussten wieder neue Vorlagen erarbeitet werden. Das führte zu keinem vernünftigen sachlichen Arbeitsverhältnis mehr, weil die Meinungen wirklich sehr weit auseinander gingen. Und es wurde auch deutlich, dass zumindest in der Führungsspitze die Leute, die z.B. eine Gewerkschaftshochschule geleitet haben, nicht gleich die 180-Grad-Wende in die Reihe kriegen würden, das war nicht möglich. Das hing auch daran, dass man manches sicherlich zementieren wollte. Das hat dazu geführt, dass der Sprecherrat die einzige Möglichkeit für eine konstruktive Arbeit war, auch weil die Einzelgewerkschaften bereits Kontakte zu den DGB Gewerkschaften hatten – wir z.B. zur ÖTV. Wir waren schon durch eine gemeinsame Vereinbarung zementiert, bei anderen Gewerkschaften war es genauso. Der DGB war auch nicht bereit mit einem FDGB-Vorstand zu arbeiten. Im Prinzip war es schon absehbar, dass der staatliche Einigungsprozess schneller vonstatten geht, als wir uns das vielleicht vorstellen konnten. Auch aus dieser Tatsache heraus war spürbar, dass
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der DGB nicht bereit war, mit so einem Gremium wie dem FDGB-Bundesvorstand zusammenzuarbeiten. Wir waren aber der Meinung als Einzelgewerkschaften, uns bliebe, wenn wir Gewerkschaftsarbeit machen wollen, nur die Möglichkeit, einen engeren Kontakt zu den DGB-Gewerkschaften zu unterhalten. M.S.: Wie gingen die Kontakte zur ÖTV weiter? K.-H.B.: Vielleicht noch einen Satz zur letzten Frage: Der Crash-Kurs war deswegen auch vorprogrammiert, weil der FDGB nicht automatisch seine Strukturen in den Bezirken abbaute, obwohl die neuen Einzelgewerkschaften eigene Strukturen hatten. Wir brauchten den FDGB aus unserer Sicht nicht mehr. Deshalb haben die Einzelgewerkschaften Druck ausgeübt und gesagt, wenn wir überhaupt Mittel abführen, dann möchten wir, dass die alten FDGB-Strukturen weg sind. M.S.: Auf Bezirksebene oder auch auf Betriebsebene? K.-H.B.: Auf Bezirksebene. Es gab ja immer noch die Struktur Einzelgewerkschaften und FDGB-Strukturen. Vom Bundesvorstand bis runter auf Bezirksebene. M.S.: Bezirk und BGL? K.-H.B.: Nein, die BGL war schon einzeln, theoretisch gesehen, aber es gab noch eine FDGB-Struktur im Bezirk. M.S.: Die ganze Verwaltungsstruktur war noch vorhanden? K.-H.B.: Ja. Die Verwaltungsstruktur war bis auf geringe Teile noch vorhanden. Und das waren wir nicht bereit zu finanzieren. Dies führte natürlich immer mehr zum Crash. M.S.: Wie sah es auf der Betriebsebene aus, gab es noch BGL? K.-H.B.: Also, im Sommer begann schon der Auflösungsprozess. Wir hatten aufgerufen, Betriebsräte zu wählen. Teilweise wurde es schon vorher gemacht. Es gab in konkret fachlichen, gewerkschaftspolitischen Dingen zwischen dem FDGB-Gremium und den Einzelgewerkschaften energische Auseinandersetzungen, wo die Meinungen auseinandergingen. Die Einzelgewerkschaften forderten, z.B. Betriebsrätestrukturen zu entwickeln, die dann durch die FDGB-Strukturen blockiert wurden. Das führte immer mehr zu Differenzen. Also, so konnte man keine Arbeit organisieren. M.S.: Wie liefen die Kontakte weiter zur ÖTV? K.-H.B.: Also, die Kontakte zur ÖTV wurden nach der Gründung der lG Transport im Februar forciert. Mit der Gründung im Februar, gleich in den ersten Märztagen, gab es konkrete Kontakte zur Fachabteilung, zu Eike Eulens Abteilung, auch persönliche Kontakte mit Eike Eulen. M.S.: Die hast du wahrgenommen als Vorsitzender? K.-H.B.: Ja. Und es gab Anfang Februar ein Gespräch mit der Monika [Wulf-Mathies] in Stuttgart und meiner Wenigkeit, wie gemeinsame Arbeit organisiert werden kann. Dort wurde besprochen wie z.B. die ÖTV die Gewerkschaft IG Transport in der DDR organisationspolitisch unterstützen kann, bis hin zur materiellen Unterstützung, sprich Kopierer und solche Dinge. Die Details sind, so hat die Monika [Wulf-Mathies] es festgelegt, immer mit der Fachabteilung besprochen worden, also mit Eike Eulens Vorstandssekretariat. Da entwickelte sich ein sehr enger Kontakt über alle Abteilungen, die bei Eike sind,
190 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview zu unseren Leuten, zu unserem Sekretariat, zu den Hauptamtlichen bis zur Betriebsebene. Mit gemeinsamen Schulungsveranstaltungen, mit gemeinsamem Auftreten bei uns im Vorstand, von Eike Eulen persönlich, bis zur abgestimmten Politik. So ist es im März vorbereitet worden und Ende März ist diese gemeinsame Vereinbarung ÖTV-IG Transport in Stuttgart paraphiert worden mit der Monika. M.S.: Das ist noch nicht das Kooperationsabkommen? K.-H.B.: Doch, das war es im Prinzip. Das ist zwar erst im Mai offiziell abgeschlossen worden, wurde aber Ende März schon vorbereitet worden in Stuttgart und eigentlich fertig. Wir haben auch schon danach gehandelt. M.S.: Kann man sagen, dass die Transport Gewerkschaft das Pilot-Projekt war für die Kooperationsabkommen der anderen Gewerkschaften? K.-H.B.: Genau so war es. Also es gab eine ganz enge Zusammenarbeit ab März, April. Das wurde forciert durch die Fachkontakte über Eike Eulens Abteilung. Wir haben natürlich auch versucht, die schwellenden Querelen zur MSK in die richtige Richtung zu bringen oder zu den Gesundheitswesen-Leuten, wo auch Abwahlen in der Spitze waren, wo Peter Herold an die Spitze kann. Wir haben auch manches versucht was zur ÖTV in der DDR führte. Es gab Auseinandersetzungen, auch zur Gründung der ÖTV in der DDR. M.S.: Wie habt ihr das eingeschätzt, dass gleichzeitig noch der Versuch gemacht wurde, eine ÖTV in der DDR zu gründen? Das war doch eine Bedrohung eurer Gewerkschaft? K.-H.B.: Ja, hart formuliert, hatten wir am Anfang diesen Gedanken. Ich habe mich mit der Monika Wulf-Mathies in Verbindung gesetzt (erst mal mit Eike Eulen), als wir davon hörten, dass die Gründung einer ÖTV in der DDR beabsichtigt war. In der Zwischenzeit waren Verbindungsbüros der ÖTV eröffnet worden. Die ersten Kollegen der ÖTV waren in den Bezirken. In manchen Bezirken wurde mit den IG Transportern gemeinsam gearbeitet, in anderen Bezirken war es eine vollkommen gegensätzliche Arbeit. Da gab es natürlich immer wieder Probleme. Wir haben das am Anfang, ich auch, als einen Schuss gegen uns, gegen unsere gemeinsamen, internen Absprachen gesehen, und es hat Auseinandersetzungen gegeben. Wir haben mit der Monika hier in Berlin gesprochen. Sie hat das zwar begründet, aber vor Ort in den Betrieben wurde manches anders umgesetzt. Es gab sicherlich auch, ich kann es nicht beweisen, eine unterschiedliche Auffassung im gHV dazu und vielleicht hat Monika versucht, den Konsolidierungsprozess der neuen Gewerkschaft ein bisschen auf die Spitze zu treiben. M.S.: Wie hat sie euch denn beruhigt? K.-H.B.: Dass es eigentlich die Transporter nicht träfe, denn vordergründig waren die Einzelbüros nicht bei den Transportern tätig, weil das ein konsolidierter und eigenständiger Bereich war. Das war anders bei dem nicht vollendeten oder noch nicht angegangenen Prozess bei den Öffentlichen Dienst Gewerkschaften und zum Teil bei Gesundheitswesen, weil dort vom Vorstand versucht wurde, mit der DAG zu kooperieren. M.S.: Du sagtest, ihr hättet auch ein bisschen bei Gesundheit und MSK mitgemischt? K.-H.B.: Ja, bei Gesundheit, weil der Peter Herold dort mit uns eng zusammenarbeitete. M.S.: Warum?
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K.-H.B.: Wir hatten damals nicht den ersten aber den zweiten Gedanken, warum sollten wir nicht versuchen, uns irgendwann mal als ÖTV auf dem Gebiet der DDR zusammenzuschließen und zu sagen, wir gehen als Block zur ÖTV über. M.S.: War das eure Idee oder war das eine Idee, die von Stuttgart nahe gelegt wurde? K.-H.B.: Vordergründig haben wir mit Stuttgart darüber nicht gesprochen, das war so ein bisschen unsere Idee. Nach der Bildung des Sprecherrats im Mai, wurden die Öffentlichen Dienst-Gewerkschaften der DDR neu formiert, weil deutlich wurde, wir können nur gemeinsam mit den DGB-Gewerkschaften was machen. Es war auch unsere Idee, kein Öl ins Feuer zu gießen und zu sagen, wir bilden eine Transportarbeitergewerkschaft, weil das war – was ich damals nicht wusste – immer ein Streitpunkt innerhalb der ÖTV in den alten Ländern gewesen – die Transporter abzuspalten. Ich weiß, dass es Leute gab in den alten Ländern, die Morgenluft witterten und sagten, jetzt haben wir im Osten eine Transportarbeitergewerkschaft und jetzt spalten wir den T+V auch hier ab. Demzufolge war Monika daran gelegen, die Öffentlichen Dienst-Gewerkschaften zu unterstützen. Wir setzten uns hin – wir hatten auch Kontakt mit der SPD-Fraktion – und haben gesagt, nur so geht es. Und so haben wir versucht, uns zusammenzuschmieden. Da war Peter Herold derjenige bei Gesundheitswesen, mit dem man sprechen konnte. M.S.: Ich hatte, wenn ich mich richtig erinnere, das Gefühl, dass ihr damals versucht habt, an der Eigenständigkeit der Transportarbeitergewerkschaft festzuhaken? K.-H.B.: Ja, zumindest so lange, wie es keine gemeinsamen Strukturen gab. Wir hatten damals noch den Gedanken, ob wir nicht die Eisenbahner wieder ins Boot bekämen, so dass wir am Ende wirklich eine umfassende Transportgewerkschaft hätten, weil immer das Problem war, zuständige Fachministerien und Facharbeit zu organisieren. Es ist zu keiner Zeit angedacht gewesen, etwa in einem einheitlichen Deutschland eine gesamtdeutsche, einheitliche, reine Transportarbeitergewerkschaft zu gründen. Von unserer Seite nicht und auch nicht im Vorstand, im Gegenteil. Obwohl immer wieder, ich habe das dann gespürt, dieser Verdacht bei der ÖTV bestand. Vielleicht hat dies manche Entscheidungen von uns unter anderem Licht in Stuttgart erscheinen lassen. Wir haben z.B. einmal sehr pikiert reagiert. Wir hatten über Andreas Hess, gemeinsam mit Finanzen und dem gHV in Stuttgart (das ist übrigens hier in der Mappe), eine Mitgliederbefragung und einen offiziellen Übertritt vorbereitet, also mit Kreuzchen. Da stellte sich die Frage, kann man überhaupt übertreten oder müssen die sich auflösen und solche Dinge. Da war gleich eine MIBEV, eine richtige, konkrete Mitgliedererfassung mit dran, über EDV. Und das ist blockiert worden. Heute wissen wir, warum es blockiert wurde. Wir haben uns damals ein bisschen hinters Licht führen lassen. Wir hatten nicht vor, etwaige neue Strukturen in Richtung IG Transport, also selbständige Transportarbeitergewerkschaft, zu forcieren, und wir wussten nichts über den Stand der Vorbereitung der ÖTV in der DDR-Gründung. Unsere Vorstellung wurde so lange auf Eis gelegt, bis die ÖTV in der DDR da war. Deswegen kamen wir in erhebliche Schwierigkeiten und im November hat sich das als fataler Nachteil erwiesen. Wir hatten große Schwierigkeiten, die Mitgliederstrukturen wieder in die ÖTV zusammenzuführen. Wenn die ÖTV das damals sauber gemacht hätte, hätten wir einen sauberen Übergang an der Basis gehabt. Unsere Vorstellung war auch eine Mitgliedererfassung, und die Leute hätten auch neu eintreten müssen. Aber es war auch schwierig, jetzt auf einmal zwei verschiedene Strukturen zu haben. Dort trat übrigens die Diskrepanz deutlich zutage, die Auseinandersetzung mit alt und neu, auch was die Funktionärsstrukturen betraf, besonders auf bezirklicher Ebene. Die Akzeptanz war sicherlich in den Bezirken unterschiedlich, das ist klar. Ob die Leute neu waren und sich eingesetzt
192 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview haben oder alte, die sich vielleicht vorher schon eingesetzt haben oder solche, die eigentlich in den Gewerkschaften von vornherein nichts zu suchen hatten. M.S.:, Habt ihr damals gesehen, dass das Kooperationsabkommen nur für eine Übergangszeit gilt? K.-H.B.: Die Gespräche zwischen Monika [Wulf-Mathies] und mir sind folgendermaßen gelaufen: Wir haben vorher mit unserem Vorstand diskutiert. Monika hat uns einen Vorschlag gemacht, den haben wir zunächst nicht akzeptiert, sondern haben wieder den Vorstand einberufen und mit den Leuten darüber gesprochen. Wir haben einen eigenen Vorschlag erarbeitet und diesen mit Monika und mit Margareta Fohrbeck diskutiert. Dann haben wir einen gemeinsamen Weg gefunden. Es ist nicht kontrovers diskutiert worden, aber Monika hat sich unsere Bedenken angehört und wir haben das eben geändert. Da war von Anfang an der Gedanke, auch von unserer Seite, dass wir irgendwann mal gemeinsam sind. Allerdings noch nicht deutlich, das ist klar. Im März konnte noch kein Mensch daran denken, dass wir im November eine einheitliche ÖTV haben. Es ist ja von Monika lange gezögert worden, auch eine ÖTV in der DDR zu gründen. Man muss deutlich machen, dass sie nicht versucht hat, eine Spaltung reinzukriegen. Außer MSK und besonders Gesundheitswesen war das auch aus eurer Sicht richtig. Aber wir waren ja mit die Leidtragenden dabei. Erst einmal wieder neu mit unseren Leuten zu diskutieren. Manche haben das vor Ort gar nicht begriffen, dass es noch nicht einmal die ÖTV der Bundesrepublik ist, sondern noch eine Stufe dazwischen. Es gab sofort Spannungen. Aber ich glaube, es war damals kein anderer Weg möglich. M.S.: Gab es zur Entscheidung, wie die Vereinigung der beiden Gewerkschaften stattfinden sollte, unterschiedliche Vorstellungen? K.-H.B.: Ja, ab Mai/Juni waren die Partner in der DDR, die ÖTV sein konnten, Armee, Polizei, öffentlicher Dienst, Gesundheitswesen, wir, immer mit am Tisch bei der Monika. Da gab es mindestens monatlich ein oder zwei Gespräche und die Meinungen gingen sehr weit auseinander. Wir sind davon ausgegangen, wir gehen über, d.h. wir lösen uns nicht auf. Gut, vereinsrechtlich ist das offensichtlich nicht möglich gewesen. Wir hatten erhebliche Bedenken, uns aufzulösen und dann Leute überzuleiten, also das traf nicht unsere Intentionen. Wobei nicht im Vordergrund gestanden hat, unseren eigenen Arbeitsplatz zu retten, sondern es ging darum, eine vernünftige Struktur zu erhalten. Wir dachten, wenn das wirklich so läuft, wird die Struktur zusammenbrechen, und die Leute treten aus, und wir haben ein Ergebnis Null oder 30 oder 10 Prozent, und wir haben keine Einflussnahme mehr als Gewerkschaften. Bei uns wurde lange diskutiert, auch mit dem gHV, über etwaige Personalbesetzungen und wie das alles laufen sollte, einschließlich der eigenen Bewerbung und solchen Dingen. Das führte natürlich, was die Hauptamtlichen betraf und die Ehrenamtlichen, die engagiert arbeiteten, immer wieder zu neuen Differenzen. M.S.: Es war doch ein echtes Problem für euch, also für die Hauptamtlichen! Was passiert mit uns, werden wir übernommen oder sind wir plötzlich arbeitslos? K.-H.B.: Ja, das war ein echtes Problem. Wir haben zwar, also die fünf, die in Berlin waren, bis zum allerletzten Tag von der Monika keine Zusage gehabt, das war deutlich. Das muss ich immer sagen, weil manche glauben, wir wussten gleich, wir werden übernommen. Das war nicht der Fall. Es sind auch nicht alle fünf bei der ÖTV gelandet. Andreas, ich und der Fehling. Baude ist weg, wobei Fehling damals nicht wollte. Transporter landeten noch mit am meisten bei der ÖTV, wenn man es vergleicht mit den anderen. Aber es gab bis zum letzten Tag keine Zusage, ich hatte auch keine.
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M.S.: Wie war eure Einschätzung, euer Empfinden damals? Habt ihr das Gefühl gehabt, dass die ÖTV auftritt in einer Siegerpose, und ihr als die Besiegten müsst einfach die Vorgaben, wie z.B. der Übertritt vollzogen wird, hinnehmen. Wie hast du das selber gespürt, wie hast du darauf reagiert? K.-H.B.: Als Siegergeste sicherlich nicht, aber es ist mir bewusst gewesen, dass wir keine Chance haben, wenn wir nicht einen Weg für eine Zusammenarbeit finden. Es war schon spürbar, und ich habe immer wieder mit Monika darüber diskutiert, auch mit Eike Eulen, doch einen Weg zu finden, wie wir gemeinsam mit diesen ÖTVVerbindungsbüros arbeiten können. Es gab unterschiedliche Auffassungen, auch gegenüber den neuen Gewerkschaften: Die sind sowieso alle abzuwählen, das sind alles die Falschen. Da gab es immer wieder neue Differenzen, und Monika hat bewusst oder unbewusst, ich vermag es nicht einzuschätzen, ich glaube eher bewusst, unser Auftreten verhindert, obwohl ich z.B. als Einziger dabei war beim Gründungskongress der ÖTV in der DDR und auch bei anderen Dingen. Es gab keine Zusammenarbeit von unserer Ebene mit den unteren Ebenen der ÖTV in der DDR, bis auf persönliche Kontakte. So z.B. zum Wilhelm Kuhn [stellvertr. Bezirksvorsitzender Nord] in Rostock hatte ich Kontakte, ich hatte auch nach Dresden Kontakte. Das hat sich ergeben aus der Arbeit. Aber es gab auch extreme Fälle, wo überhaupt kein Kontakt herzustellen war, wo immer nur fast Feindschaft war auf der unteren Ebene, und deswegen führte das auch immer wieder zu neuen Reibungspunkten. Und die führten am Ende dazu, dass man den Eindruck hatte, vielleicht haben wir gar keine andere Möglichkeit mehr, wir werden überrumpelt, wir haben keine Chance, uns gegen so eine starke Gewerkschaft zu stellen. In der DDR wurde euphorisch gedacht, also wenn wir in der Bundesrepublik unterkommen, alle Mann, 16 Millionen DDR-Bürger, dann ist alles glänzend. Bis auf wenige, die sehr kritisch waren und sagten, also, Leute, so einfach geht das auch nicht, diese ganzen Probleme, die sich entwickeln können. Man war ein bisschen ohnmächtig, und ich hätte mir gewünscht, dass mehr Austausch gewesen wäre. Die Zusammenarbeit war nicht sehr ausgeprägt, vielleicht aus diesem Abstandsgefühl heraus. Es ging um zwei verschiedene Weltsysteme, und Monika ist nun mal Politikerin und hat das sicherlich nicht so pragmatisch gesehen, wie wir es gesehen haben, sondern mehr aus der Sicht, was sich unter Umständen daraus später entwickeln könne. Sie musste wohl auf Befindlichkeiten in der ÖTV Rücksicht nehmen und dachte aus ihrer eigenen Geschichte, K-Gruppen sage ich mal bloß. Es wurde ja immer gedacht, da treten nur Kommunisten ein, die die ÖTV unterwandern. Man hatte manchmal das Gefühl, wenn man diskutiert mit Monika, dass ihr das immer im Kopf herumspukte. M.S.: Wie hast du auf das Ende der DDR reagiert? K.-H.B.: Also am Anfang hatte ich den Eindruck, das gebe ich ehrlich zu, das kann nicht passieren. Man war mit dem Herzen DDR-Bürger. Wenn man gesagt hat, wir wollen, was das auch immer heißen mag, den Sozialismus aufbauen, wo alle gleich sind. Dass das nicht so war, man war ja nicht doof, man ist ja 40 Jahre alt gewesen. Doch jetzt hat man in Gedanken gesagt, jetzt ist die Chance da, vielleicht doch das Ruder in die richtige Richtung zu treiben. Ich persönlich dachte nicht, dass wir in absehbarer Zeit, mit kürzester Frist, wieder ein einheitliches Deutschland sind. Obwohl ich auch geglaubt habe, um diesen Prozess zu einem einheitlichen Deutschland kommen wir nicht herum, und das ist auch wünschenswert. Aber wie dieses einheitliche Deutschland aussehen sollte, da habe ich selbst mir wenig Gedanken gemacht. Mit dem Gedanken einer Konföderation hätte ich mich anfreunden können, obwohl ich aus der heutigen Sicht sagen muss, das wäre
194 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview nicht durchführbar gewesen. Dieses Dilemma konnte man damals mit Sicherheit noch nicht überschauen. M.S.: Hast du dich an den Demonstrationen beteiligt? K.-H.B.: Ich habe mich daran nicht beteiligt, ich muss sagen, da war ich abwartend. Weil ich am Anfang den Eindruck hatte, dass das zwar in die richtige Richtung liefe, aber hinterher hatte ich den Eindruck, dass man, zumindest was Rostock betraf, die Nacht der langen Messer organisieren wollte. Alles, was de facto rot war, musste totgemacht werden. Da war ich sehr vorsichtig, das muss ich ganz ehrlich sagen. Es wurde soviel kaputt gemacht, und da war ich vorsichtig.
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Klaus Böhm ÖTV-Beratungssekretär in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz Interview vom 21. April 1993 K.B.: Ich komme aus einer politischen, einer gewerkschaftspolitischen Familie. Dies fängt beim Großvater an. Mein Vater war schon bei Schwarz-Rot-Gold. Er ist immer politisch tätig gewesen. Nach dem Krieg, nämlich 1948/49, hat er die ÖTV in RheinlandPfalz mit aufgebaut und wurde dann in der Kreisverwaltung Landau, heute NeustadtLandau, Kreisvorsitzender. Bis vor einigen Jahren war er auch im Hauptvorstand der Gewerkschaft ÖTV. Ich habe nach meiner Ausbildung zum Industriekaufmann, die am 1. April 1961 begann, im gleichen Betrieb insgesamt 20 Jahre gearbeitet, zuletzt als stellvertretender Einkaufsleiter. Mich hat dann diese Tätigkeit, diese enge Struktur in einem Betrieb nicht mehr befriedigt. Ich brauchte eine Tätigkeit im gesellschaftspolitischen Rahmen. Ich war lange Jahre für die SPD im Stadtrat in Kandel. Am 1. August 1980 habe ich eine Tätigkeit als Sekretär in der Kreisverwaltung Ludwigshafen-Speyer in Rheinland-Pfalz begonnen. M.S.: Zur Zeit der Wende warst du Geschäftsführer in Worms? Wie bist du auf die ldee gekommen, dich als Berater zu bewerben? K.B.: Das war nicht meine Idee, sondern die Idee meines damaligen Bezirksleiters Ulrich Galle, der jetzt Sozialminister in Rheinland-Pfalz ist. Wohl in dem Wissen, dass ich meine Milch in Worms gegeben hatte und nie auf Dauer dort bleiben wollte. Er hat zu mir gesagt, ich hätte da ein Angebot, komm mal nach Stuttgart. Und da haben wir uns im Hotel Astoria getroffen, nach einer Hauptvorstandssitzung. Da hat er mir erklärt: Hör mal, du hast ja mitgekriegt, was in der DDR alles los ist. Und ich habe dann einen Nebensatz hinzugefügt, dass es schon fast ein paar Wochen zu spät sei, dass die Gewerkschaft ÖTV dort drüben Fuß fasst und sich einmischt. Ulli Galle hat mir gesagt: Jeder Bezirk muss einen Kollegen abstellen. Würdest du das für 6 Monate machen? Auf meine Frage, was kommt danach?, hat er geantwortet: Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen, das kann ich dir jetzt nicht beantworten. Würdest du das machen? Ich habe gesagt, das sei ein Himmelfahrtskommando für mich, aber reizvoll. Wie lange ich Bedenkzeit hätte? Er meinte: 24 Stunden. Ich konnte am gleichen Abend noch mit meiner Frau darüber reden. Aufgrund meiner Mimik hat sie gleich gefragt: Was ist denn jetzt? Und dann habe ich ihr geantwortet, das reize mich unwahrscheinlich. Sie hat als Kind mehrere Jahre oder ihre Jugendzeit in Halle/Saale verbracht und war 1959 mit ihrer Familie nach Hanau gezogen. So fiel ihr möglicherweise aufgrund dieser Tatsache die Zustimmung leicht, dass ich das sechs Monate lang machen wollte. Nach der zweiten Heimfahrt waren es schon 9 Monate. M.S.: Wie hast du das politisch empfunden, was in der DDR geschah? K.B.: Ich komme aus einer politischen Familie und ich habe immer die DeutschlandPolitik verfolgt. Ich habe Diskussionen um den Deutschland-Plan schon beim Deutschlandtreffen der SPD 1961 in Nürnberg mitbekommen und dann die Diskussionen um die Anerkennung zweier deutscher Staaten. Jetzt gab es aufgrund der Einstellung von Gorbatschow eine tolle und rasante Entwicklung, so dass ich eigentlich immer Gänsehaut hatte, und ich habe vor innerer Begeisterung gesagt, da muss von hier aus was geschehen, da muss geholfen werden. Da muss jetzt was Gemeinsames entstehen.
196 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Es gab zwei Lager in der SPD. Das eine war repräsentiert durch Willy Brandt und das andere durch Lafontaine. Lafontaine hat damals die große Mehrheit in der Partei repräsentiert. Hast du mehr zu Lafontaine tendiert oder mehr zu Willy Brandt? K.B.: Ich muss schon sagen, da waren Schwankungen drin, aber die Position von Lafontaine hatte sich in mir gefestigt. Das Wissen um die Hoffnung der Menschen der DDR hat in mir gearbeitet, so dass ich gesagt habe, Mensch, die Wiedervereinigung ist greifbar nahe. Da ist eine Rasanz in der Entwicklung, das könnte jetzt klappen, das ist unglaublich. M.S.: Was war der nächste Schritt? K.B.: Da war ein Vorbereitungstreffen, und man hat mir gesagt, dass es einen Beraterstab gäbe. Es war noch nicht klar, ob ich nach Erfurt oder Karl-Marx-Stadt sollte. Das spielte auch für mich im Inneren keine Rolle. Ich selbst war früher nie in der DDR. Einige Tage später kam ein Eilbrief. Dies war für mich wie ein Einberufungsbescheid. Am Faschingssonntag war das, am 21. Februar 1990 sollte ich in Berlin anreisen. Diese eine Woche Berlin war unwahrscheinlich gut. Uns wurden die Strukturen in Betrieben, Verwaltungen im Aufbau der damaligen DDR vermittelt, und ich habe mehrfach bedauert, dass das für die Nachfolger, die später kamen, nicht wieder so gemacht wurde. Dies hat sich von meiner Erfahrung her auch in der Arbeit wiedergefunden. M.S.: Das war das Vorbereitungsseminar für die Berater. Was wurde euch mit auf den Weg gegeben als politische Linie der ÖTV? Was war euer Auftrag? K.B.: Der Auftrag, das sagt schon der Name, das war die Beratertätigkeit im Auftrag des geschäftsführenden Hauptvorstandes. Nach wie vor hatten beide Staaten ihre eigene Rechtsform. Es ging darum, den Demokratisierungsprozess in Gang zu bringen. Zu beraten, wie Gewerkschaften als Interessenvertretungen in demokratischen Strukturen funktionieren. Dies war unser Auftrag. Und mit diesem Auftrag ausgestattet fuhr ich dann am 7. März 1990 von Kandel über Plauen nach Karl-Marx-Stadt. M.S.: Hat die Frage eine Rolle gespielt, wie ihr euch in dem Streit Betriebsräte gegen BGL verhalten sollt? Der FDGB hat sich damals gegen die Wahl von Betriebsräten ausgesprochen. K.B.: Das wurde thematisiert, aber es gab keine einheitliche Meinung. Ich wollte mich nicht festlegen lassen, weil ich erst mal sehen wollte, wie sich das vor Ort darstellt und wie das vor Ort diskutiert wird, ob überhaupt diskutiert wird. In dieser Woche wurden die Städte aufgeteilt. Ich sollte nach Karl-Marx-Stadt gehen. Termin war der 5., 6. oder 7. März. Es war schon eine Vorhut da. Das war der HansGünther Kempf [Rentner, Berater in Halle]. Der hatte Verwandte in Karl-Marx-Stadt und mir angeboten, ein Zimmer zu besorgen. Doch für die Übernachtung hatte schon der Ulli Galle gesorgt und auch für alles andere, was zu meiner Aufgabe gehörte. In der Zwischenzeit waren von Stuttgart in mein Haus in Kandel drei Kisten mit Schreibmaterial, Papier und Blocks und einigen Darstellungen über die Gewerkschaft ÖTV angeliefert worden. Ich habe noch mit meiner Frau gefrühstückt und bin dann weggefahren. Bei Hof habe ich kurz gehalten, um meine Frau zu erreichen und zu sagen: Jetzt wird hier alles grau. Aber das war nicht mehr möglich. Ich bin erst in der Nacht um halb zwei in KarlMarx-Stadt in der Wohnung von Gerd Sczepansky [Metallarbeiter, Mitglied des Neuen Forums] angekommen. Bei dem habe ich dann drei Tage zu Hause gewohnt.
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Natürlich war das eine spannende Fahrt. Da geht einem viel durch den Kopf. Beim damaligen Grenzübergang, der erst zwei Tage auf war, ist mir schon der Schauer den Rücken heruntergelaufen, und dann habe ich die grauen Häuser gesehen und habe mich laut im Auto gefragt, was wird da alles auf dich zukommen? Ich bin weitergefahren und war spannungsgeladen. Ich war über die Bauweise und Anlage der zerbombten und in sozialistischer Bauweise aufgebauten Stadt schon ein bisschen erstaunt, aber nun ja, ich bin kein empfindlicher Mensch. Am gleichen Abend habe ich noch zu Gerd Sczepansky gesagt: Jetzt zeig mir mal das Büro. Ich habe meine Tasche aufgemacht und gesagt: Wenn das mein Büro ist, dann machen wir mal gleich ein Schild dran. Ich hatte den Aufkleber ÖTV-DGB drangemacht. An eine Anfangssituation erinnere ich mich, in der ich gedacht habe, Gott wo kommst du denn hin! Nachdem ich an die Pforte des Rates des Bezirkes kam, habe ich gefragt, wo es zum Neuen Forum ginge, und da hat die Dame mit sehr mannhafter Stimme zu mir gesagt: Am besten, sie gehen jetzt eine Türe weiter. M.S.: Was waren die ersten Schritte? K.B.: Der nächste Morgen im Büro: Ich habe geguckt, wo ein Topf zu kriegen war, damit man Kaffee kochen konnte. Sie haben mir dann ausgeholfen beim Neuen Forum, und ich habe mir sofort meine Zettel gemacht für Besorgungen, wenn ich nach Hause komme. Das erste war eine Kaffeemaschine und so einige Dinge. Klar war, dass mein Bewegungsraum zunächst mal Karl-Marx-Stadt war. Ich hatte ein annehmbares, wenn auch kleines Büro und einen sauberen Schreibtisch. Und ich hatte erstaunlicherweise ein rotes, schönes Telefon. Das Fenster ging zwar nicht zu öffnen und man konnte, weil es ziemlich beschlagen war, nicht rausschauen, aber es waren zwei Schränke drin. Für die Anfangszeit konnte man damit leben und erst mal gucken, was auf einem zukommt. Ich habe mir die Stadt angeguckt, habe das Gewerkschaftshaus gesucht und mir gesagt: Da musst du eigentlich auch rein. Du musst bei einigen Gewerkschaften Guten Tag sagen. Den FDGB gab es damals ja nicht mehr, jedenfalls den Vorsitzenden in Chemnitz, den gab es nicht mehr. Ich wusste, du musst es bei der reformierten GÖD und bei der IG Transport versuchen. Da musst du dich mal vorstellen. Die Lauscher aufstellen und gucken, welche Fragen gestellt werden. Ich ging zwar ohne Berührungsängste, aber sehr spannungsgeladen und mit ziemlich hohem Pulsschlag hin. Ich habe diese Kontakte gesucht und gefunden, und ich muss sagen, die Gespräche waren interessant. Ich drücke es positiver aus, die Gewerkschaften waren zugänglich. Sie wussten nicht wie es für sie weiterging. M.S.: Waren das Bezirksverwaltungen der Einzelgewerkschaften? K.B.: Ich bin auf die Bezirksvorsitzenden zugegangen. Das war insofern einfach, weil vom FDGB keiner mehr da war. Ein Teil hatte sich schon in die Betriebe geflüchtet. Ob es eine Linie gab, nicht mit den FDGB-Funktionären zu reden, da ist ein bisschen eine Erinnerungslücke bei mir. Jedenfalls habe ich Gespräche gesucht, und ich bin alt und schlau genug, dass ich solche Gespräche bestehen konnte. Insofern hat sich das erübrigt, weil die FDGB-Leute nicht mehr da waren. Aber ich fragte immer, wo sie denn nun alle seien. Und von daher weiß ich, dass einige, wie die Stasi-Leute auch, in städtischen oder in VEB-Betrieben untergekommen sind. Die Bezirksvorsitzenden waren jedenfalls so gewitzt, dass sie in ihre Gewerkschaften fast keine mehr eingeschleust haben. M.S.: Aber das waren die alten Vorsitzenden? K.B.: Es war nicht mehr der alte Vorsitzende bei der IG Transport. Beim Gesundheitswesen war es der alte Vorsitzende. Das war der Riedel. Zwei Tage bevor ich anrief, dass ich
198 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ihm einen Besuch abstatten wollte, hat er mir gesagt, er wäre weg. Er ginge in einen Kraftfahrbetrieb oder hat sich sogar selbständig gemacht. M.S.: Wie war der Tenor dieser Gespräche? Du hast dich vorgestellt: Ich komme von der ÖTV usw.? K.B.: Ich habe eines nicht gemacht, mich aufgespielt. Sondern ich habe Fragen gestellt. Wie denn ihre Einschätzungen seien aufgrund der neuen Lage und wie sie einschätzten, wie dies alles weitergehen würde. Dies hat zu einem besseren Gesprächsklima geführt, so dass ich dann auch einige Fragen stellen konnte, zum Beispiel zu Zahlen. Dies war strukturell und strategisch für mich nicht unwichtig, um ein Gesamtbild für unseren eventuellen Organisationsbereich zu bekommen. Ich muss sagen, dass wir dann auch zu einem Gläschen Wein zusammengekommen sind. Ich wollte das Gefühl vermitteln, dass es nicht bei einem Gespräch bleiben sollte, und das hat sich bestätigt. Ich wollte ja auch von denen in die Betriebe geführt werden. Das hat wunderbar geklappt. Das hat später so gut geklappt, nach den entsprechenden Beschlüssen in den Gewerkschaften, dass wir hier gar keinen formellen Organisationsausschuss brauchten. Später haben die uns kartonweise die Aufnahmescheine gebracht. M.S. Damals lief im FDGB selbst eine harte Auseinandersetzung, wie das mit den FDGB-Gewerkschaften weitergehen solle? K.B.: In diesem Wissen habe ich natürlich vor Ort operiert. Ich habe mich immer auf die lG Transport und auf die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen konzentriert, weil dort der Reformwille und der Reformprozess am weitesten war. Diese Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen hatte die Frage zu beantworten, orientieren wir in Richtung DAG oder orientieren wir in Richtung ÖTV? Meine Kontakte und die Pflege der Kontakte haben dazu geführt, dass sie den richtigen Weg zur ÖTV gefunden haben. Ich war etwas distanzierter zur Gewerkschaft Öffentliche Dienste, also die MSK, die Gewerkschaft Staatsorgane wurde die hier im Sprachgebrauch genannt. Da war ich etwas vorsichtiger, weil die Leute, mit denen ich gesprochen habe, nicht alle vom Reformwillen befruchtet waren. M.S.: Hast du mit Sczepansky politisch zusammengearbeitet? K.B.: Auf jeden Fall, denn das Neue Forum hat eine Abteilung zur Bildung von Betriebsräten. Als ich das hörte, dachte ich, über diese Schiene lernst du erstens Leute kennen und zweitens geht das in die richtige Richtung. Insofern habe ich mich selbstverständlich nicht nur bemüht, Kontakte zu kriegen, sondern auch mein Wissen und meine Erfahrung eingebracht und Veranstaltungen mitorganisiert. Umgekehrt hat mir auch Sczepansky organisatorisch geholfen. Wir hatten in der Zwischenzeit einen rechtsfreien Raum zur Bildung von Betriebsräten. Wir haben übrigens sehr frühzeitig hier in Chemnitz, nämlich im Mai, nach zehn Veranstaltungen an zwei Tagen, bei den Chemnitzer Verkehrsbetrieben, den ersten Betriebsrat installiert. Das war eine sehr interessante Zeit für einen Pragmatiker. Da hat man viel bewegt und viel machen können in diesem rechtsfreien Raum nach einer Revolution. Da gilt der eigene Gestaltungswille, und den habe ich sehr freudig genutzt. M.S.: Du bist über die Kontakte zu den offiziellen Gewerkschaften in die Betriebe gekommen? Was waren deine ersten Eindrücke, was waren die ersten Betriebsbesuche. Wie war die Stimmung, was wurde gefragt, wie waren die Hoffnungen, wie waren die Erwartungen?
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K.B.: Erstens habe ich immer mit den Leuten der anderen Gewerkschaften diskutiert. Die waren interessiert aufgrund ihrer Hoffnung oder ihrer Einschätzung, dass der Weg doch zur ÖTV hin geht und ich habe immer angeboten, sie sollen doch mitgehen, damit ich Reaktionen erhalte über die Personen, die ich mitgebracht habe. Dies hat in vielen Fällen meine Einschätzung bestätigt. Einige gingen auch nicht mit. Da wusste ich auch, dass sich meine Einschätzung bewahrheitet hat. Gemäß unserer gemeinsamen Absprache im Beraterkreis habe ich unsere Auffassung, was eine demokratisch legitimierte Interessenvertretung sei, vertreten. Ich habe vermittelt, wie die ÖTV in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat funktioniert, wie das alles geht in der Bundesrepublik im Rahmen des Art. 9 Abs. 3, Koalitionsfreiheit, und im Rahmen des Tarifvertragsgesetzes. Und dass wir uns auch politisch im Rahmen des geschäftspolitischen Auftrages in Politik und Parlamente einmischen. Wir sind nicht diejenigen, die Ferienplätze verteilen und im Rahmen von Parteiarbeit die Leute besänftigen und befriedigen. Ich habe immer gesagt, wir müssen das Heft selber in die Hand nehmen und von unten nach oben die Willens- und Meinungsbildung betreiben. M.S.: Was war dein erster Betrieb, in den du gegangen bist? K.B.: Also mein erster Betrieb? Das waren die Verkehrsbetriebe. Die hatten nämlich einen Runden Tisch. Da muss ich vorweg sagen, dass im Beratungsbüro natürlich morgens um sieben Uhr das Telefon schon klingelte. Ich habe die Termine im Büro gemacht, und die Leute kamen dann immer her. M.S.: Wie haben die Leute erfahren, dass du hier überhaupt existierst? K.B.: Ich hatte natürlich Kontakte zur Freien Presse, so hieß die Zeitung. Das war früher eine sozialdemokratische Zeitung. Ich habe die Freie Presse aufgesucht und mich mit dem Wirtschaftsredakteur, Günter Sonntag, telefonisch verabredet und ihn zum Essen eingeladen, damit wir Ruhe haben, ein Gespräch zur führen. Ich habe ihm mein Akkreditierungsflugblatt gegeben, dass die Gewerkschaft ÖTV hier ist mit einem Beratungsbüro. Wir haben ein Interview gemacht und erstaunlicherweise – dies war für mich erstaunlich – hat er dann gesagt, er werde in den nächsten zwei Tagen den Artikel fertig stellen. Ich könne ihn lesen und wenn ich ihn für gut befinde, dann werde er ihn abdrucken. So ist er dann auch abgedruckt worden. Darin wurden die Adresse und die Telefonnummer meines Büros genannt. Dann ging es los. Volle Power ging's los. Morgens um sieben Uhr habe ich schon angefangen. Die Leute hier haben auch schon um sieben Uhr angefangen. Also die Zeit war so pulsierend und spannungsgeladen, dass man gar nicht richtig schlafen konnte und deshalb um sieben Uhr auf der Matte stand. Da haben schon die ersten drei Leute gestanden. Dies riss einfach nicht ab. Es ging laufend so weiter. Die haben den Kontakt gesucht und mich eingeladen, in den Betrieb zu kommen. Ich habe dann immer die Termine gemacht. M.S.: Welche Leute waren das? K.B.: Einmal BGL-Leute, die mir erzählt haben, welche BGL es war, die alte oder die mehr oder weniger neu gewählte BGL. Da habe ich Besuch gekriegt von der BGL und drei Stunden später von anderen Leuten aus dem gleichen Betrieb, so dass ich mir einen entsprechenden Reim machen konnte. In den Chemnitzer Verkehrsbetrieben, da war der BGLer noch Wochen vorher in der Kampfgruppenleitung und die hauptamtliche BGLerin, die im Büro der BGL saß, wollte mich irgendwie in Schach halten und führen. Das hat sich glücklicherweise drei Stunden später aufgeklärt. Da kam der Bernd Kurze,
200 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview der gelesen hatte, dass es ein ÖTV-Beratungsbüro gab. Der hat mir dann vom Runden Tisch erzählt. Natürlich habe ich mich sofort darauf gestürzt und gesagt: Ja, da will ich hin. Wir haben uns einige Tage später verabredet. Er hat mir erklärt, dass sie einige schon rausgeschmissen hätten und sie wüssten auch, dass 40 Stasi-Leute in letzter Zeit eingestellt worden wären. Ich habe aufgrund der Unterhaltung gemerkt, dass da etwas in Bewegung war. Die Frage der Bildung eines Betriebsrates hat bei diesem Gespräch selbstverständlich eine Rolle gespielt. Ich habe meinen Auftritt beim Runden Tisch gehabt und habe unmittelbar danach beim Vorstand einen Besuch gemacht. Der war früher auch in der SED-Stadtleitung. Selbst der Betriebsrat war früher in der SED und auch in der SEDStadtleitung. Eigentlich kann ich mit dem arbeiten. Der ist auch Präsident oder Vorsitzender des Verbandes der Nahverkehrsbetriebe Ost. M.S.: Wie war der Runde Tisch zusammengesetzt? Welche Leute saßen da? K.B.: Ein BGLer, wohl ein fortschrittlicherer Mensch aus der Verwaltung, die ja sehr groß ist in den Nahverkehrsbetrieben, und alle Abteilungen. Die Betriebsleitung war ebenfalls mit dabei, jedenfalls am Anfang. Aber durch die Streitereien haben die sich dann langsam zurückgezogen. Die anderen haben sich gesagt, wir dürfen da nicht unterbrechen, sondern wir müssen uns jede Woche treffen und keine Sitzung darf ausfallen. Sie haben dann ohne die Geschäftsleitung getagt. Eigentlich haben wir die Betriebsratsbildung schon beim ersten Treffen verabredet, so dass wir dann später nur noch die Feinarbeit gemacht haben. M.S.: Gab es keinen Widerstand von der BGL? K.B.: Die BGL hat natürlich Störversuche betrieben, und wir haben einige Verunsicherungen von Leuten erst mal abstellen müssen im Betrieb. Stündlich wurde mir berichtet, was alles passiert im Betrieb und wer jetzt aus unserem eigenen Lager wieder am Umfallen sei. Dies rührte alles aus Unsicherheit heraus. Aus der Vernebelungstaktik der alten BGL. Ich bin dann in den Betrieb gefahren und habe mit dem BGLer ein sehr ernsthaftes Gespräch geführt, das zum Abschluss in eine Drohung mündete: Wenn er nicht aufhöre, werde ich ihn öffentlich an den Pranger stellen. So weit bin ich schon gegangen. Jedenfalls haben wir alle Versammlungstermine im Betrieb in zwei Tagen bekommen. Wie gesagt, wir haben eine Informationsphase über Betriebsräte gemacht und die Wahlvorstände bestellt. Das war im Mai. Damit war der Motor angekurbelt. M.S.: Da hast du hautnah erlebt, dass die Stimmung sich immer mehr gegen die alten FDGB-Funktionäre gedreht hat? K.B.: Die waren absolut diskreditiert. Ich habe in den Versammlungen meine Sätze folgendermaßen angefangen: Kolleginnen und Kollegen, ich habe erfahren, dass die FDGBler in allen Bereichen, wo ich war, diskreditiert sind und keiner mehr ein Stück Brot von denen nimmt. Dies wurde mit großem Beifall honoriert. Es war schon toll. M.S.: Alle Hoffnungen haben sich dann zunehmend auf die ÖTV gerichtet, auf die West-Gewerkschaften? K.B.: Das habe ich auch einem Journalisten gesagt, der mich mal besucht hat: Die Leute wollten alle was aus dem Westen haben, auch westliche Gewerkschaften, denn sie haben nichts mehr geglaubt, und das haben auch die reformierten FDGB-Gewerkschaften gespürt. Das habe ich herausgefunden aus den Gesprächen, und deswegen habe ich auch die Entwicklung hier vor Ort in Richtung ÖTV getrieben. Das war ein Prozess. Wo wir mit den alten Gewerkschaften gemeinsam am Tisch gesessen haben und ich gesagt habe: Ja
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gut, dann müssen wir von hier aus ein paar Impulse geben. Wenn das nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, was ihr mir die ganze Zeit sagt, sondern innere Überzeugung, dann müssen wir dafür auch etwas tun. So kam der Chemnitzer Aufruf im April zustande. M.S.: Was war der Chemnitzer Aufruf? K.B.: Der Kern war, dass wir hier eine demokratische Interessenvertretung wollten. Wir wollten keine Ferienplätze mehr verteilen, sondern wir wollten Politik machen, nämlich mitbestimmen. Die Bedürfnisse kennen wir und die wollen wir selber formulieren. Eigentlich hat das dann schon überzeugt, dass wir gemeinsam festgestellt haben, wir wollen von unten nach oben etwas betreiben. Dann haben wir auch immer gesagt, dazu gehöre Durchsetzungskraft. Das hieß, wir haben gemeinsam erkannt, dass wir gewerkschaftliche Strukturen brauchten und zwar demokratische Strukturen. Das kann nur in Form einer Organisation gehen. Das Spektrum der Gewerkschaft ÖTV deckt die lG Transport, deckt das Gesundheitswesen, deckt den Öffentlichen Dienst, also GÖD, ab. Das waren die wichtigsten Gewerkschaften, mit denen wir hier zu tun haben. Es war auch schon die DAG im Gesundheitswesen da. M.S.: Hattest du Kontakt mit den Plauenern oder mit den Magdeburgern? K.B.: Ich wusste von Angelbeck, dass er in Halle etwas Ähnliches vorhatte, nämlich den Merseburger Appell. Ich habe mir gesagt, von der Entwicklung her sind wir genauso weit, so dass wir ein Zeichen setzen müssen. Auch ein Zeichen in die Öffentlichkeit hinein. Kollegen aus unserem Organisationsbereich sollten sehen, hier bewegt sich was. Das wollte ich fassbar machen. Deswegen habe ich meine Kontaktleute aus anderen Gewerkschaften zwar nicht genötigt, aber ich habe sie ein bisschen mitgetrieben. Das war nicht so einfach, weil das hier in der Vergangenheit nicht üblich war. Es gab eine beklemmende Situation, die ich beobachtet habe, aber diese Beklemmung, die konnten wir überwinden, indem wir eine Versammlung verabredeten, aus Initiativgruppen, für die Bildung von Betriebsräten aus dem Krankenhaus, aus den Verkehrsbetrieben und, und, und. Wir haben im Gewerkschaftshaus drüben, es waren zwischen 60 und 100 Leuten anwesend, die Entwicklung referiert. Der Wille, eine ÖTV zu gründen, war in den Betrieben natürlich stärker. Wir haben den Aufruf redaktionell vorbereitet, so dass wir nicht nur reden mussten, sondern sagen konnten, so sieht das aus, schwarz auf weiß. Der Chemnitzer Aufruf wurde unterschrieben, und wir haben viele Unterschriften aus den Betrieben gehabt. Für mich war klar, dass dies immer noch nicht reicht und wir auch die anderen Gewerkschaften gewinnen müssten. Ich habe dann am 16. April im Hotel Kongress ein Pressegespräch gemacht. Der Chemnitzer Aufruf wurde somit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. M.S.: Die Plauener haben ja auch versucht, eine Gründung der ÖTV in der DDR zu machen. Sie wurden damals vom gHV, der die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat, zurückgepfiffen. Du warst auf einer Veranstaltung dabei. War es deine Absicht, hier Unterstützung zu bekommen? K.B.: Nein. Ich muss sagen, die Kommunikation zwischen Eckhard Stade und mir war gewollt, wurde aber vom Eckhard nicht praktiziert. Es gab ein paar Lücken und ich habe ihm geraten: Du warst dabei in Berlin bei dem Beratertreffen und kennst unsere Verabredungen. Lass es sein, jeden Morgen nach dem Frühstück in einem anderen Landkreis eine Gründungsversammlung der ÖTV zu machen. An diese Verabredung hat er sich nicht gehalten. Es gab eine Schiene zu Angelbeck und dann auch ein Treffen mit ihm – zur Ausarbeitung einer Satzung. Daraufhin habe ich ihn gefragt: Eckhard was ist denn das
202 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview wieder? Er hat gesagt: Wir sind entschlossen. Ich habe gesagt: Du kennst doch die Verabredungen, lass das sein. Aber die Kleiderordnung war nicht so streng damals und er wollte sein Vogtland bearbeiten. Das hat er halt sehr selbstbewusst und selbständig bearbeitet. M.S.: Aber Plauen war doch gar kein Bezirk? K.B.: Nein, es war aufgrund der Entwicklung, dass die grenznahen Kreisverwaltungen selbständig agiert haben, und er war schon in Plauen, bevor wir in Chemnitz angefangen haben. Aufgrund der Vorgänge wurde dann gesagt, ihr müsst halt mal miteinander ein Bier trinken. Haben wir auch gemacht und haben uns ein bisschen über die Streitkultur unterhalten und über die Abhandlung einiger Arbeitsvorgänge. Wie gesagt, das war alles im Gang. Ich habe immer über Dritte gehört, was Eckhard vorhat und habe den Leuten gesagt: Das ist Mist, was der da macht, das ist nicht die Linie, die verabredet ist. Hört auf. Ich habe das in dem Beratertreffen auch zur Diskussion gestellt. Nun gut, einige Dinge sind halt so gelaufen. lrgendwann hat mich Ruhnke angerufen und gesagt: Du pass auf, das ist jetzt soweit, da unten in Plauen. Die haben eine Satzung ausgearbeitet, und da finden Gründungsveranstaltungen statt. Mich hat das vom Hocker gerissen, zumal wir mehrfach vorher darüber geredet haben und diese Linie gestoppt worden war. Dennoch war es so. Ruhnke hat mich gebeten, mal hinzufahren. Ursprünglich wollte ich nach Hause fahren. Ich habe den Plan wieder geändert und bin nach Plauen gefahren. Eckhard Stade eröffnete mir, dass der gHV zugestimmt hätte. Peter Schmidt sei bereits auf der Anreise hierher zur Gründungsveranstaltung. Es gäbe bloß noch ein paar redaktionelle Geschichten in der Satzung und die werden derzeit in Stuttgart geändert und geschrieben. Er fragte mich, ob ich jetzt zustimmen würde und wir die Presse anrufen sollten. Da habe ich gesagt: Moment, hör auf, so geht das nicht. Wir warten jetzt mal, bis der Peter Schmidt da ist. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Dann kam der Peter Schmidt und so wie wir uns angeguckt haben, habe ich gemerkt, dass der Eckhard mich angeschwindelt hat. Am nächsten Morgen um halb elf kam der Peter Schmidt und da habe ich gefragt: Peter, was soll das Ganze? Der sagte dann: Moment, du Eckhard und du Klaus, erst einmal Separée. Wir haben in großer Ruhe die Sache besprochen. Wir verständigten uns darauf, dass das ganze Ding keine Gründungsversammlung sein kann und dass wir das irgendwie abbiegen müssten. Wir hatten Informationen, dass dieser Wegrad von der GÖD käme. Ich habe gesagt, das könne gar nicht sein, aber ich habe mich dann eines Besseren belehren lassen müssen. Wir haben versucht die Versammlung umzukrempeln. Wir haben mehrere Stunden auch einige Tränen eingesammelt und aus der ursprünglich geplanten Gründungsversammlung eine lnformationsversammlung aller Initiativgruppen gemacht. So kam der Plauener Beschluss an diesem Abend zustande. Gott sei Dank, das sage ich jetzt, denn an diesem Abend wären die falschen Leute da gewesen. Die Gründung wäre nicht vollzogen worden an diesem Abend. Wir haben uns auch mit Wegrad auseinandersetzen müssen und mit einigen betrieblichen, möglicherweise bestellten Leuten. Letztendlich haben wir daraus an diesem Abend den Plauener Beschluss gemacht. So war der Friede wiederhergestellt. M.S.: Hast du mit Angelbeck Kontakt gehabt? K.B.: Nein, nein, das Ganze war mir zu unsolide. Ich habe keine Kontakte gesucht. Das hat sich danach in emotionsgeladenen Diskussionen auf den Beratertreffen immer niedergeschlagen. Wir sind unseren Weg hier vor Ort gegangen, wie er verabredet. war. M.S.: Was war die Vorstellung des Chemnitzer Aufrufs? Aufruf zur Bildung von Initiativgruppen?
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K.B.: Nun, zur Gründung einer ÖTV. M.S.: In der DDR? K.B.: In der DDR. Wobei das gar keine so große Rolle gespielt hat, aber intern bei den Beratern und dem gHV hat der Termin 9./10. Juni in Magdeburg, glaube ich, schon festgestanden. M.S.: Nein, das kann nicht sein. Wie kommt überhaupt die Idee zustande, eine ÖTV in der DDR zu gründen? Welche Leute kamen auf die Idee? K.B.: Also, ich weiß aufgrund der Diskussionen von hier, die Leute haben immer gesagt, uns ist es egal, wie das heißt. Wenn es rechtlich nicht möglich ist, weil das immer noch zwei Staaten sind, gründen wir eine ÖTV in der DDR. Die wollten jedoch eigentlich immer gleich in die ÖTV. M.S.: War das eher eine Frage von Hauptamtlichen? K.B.: So ist das. Aufgrund der weiteren Entwicklung hätte sich ja die Gründung der ÖTV in der DDR erübrigt. M.S.: Es gab zwei Positionen: Die einen haben gesagt, wir kooperieren mit den alten Gewerkschaften, die anderen kommen überhaupt nicht in Frage, die sind derart diskreditiert, da machen wir uns selber unglaubwürdig. Was war deine Einschätzung? K.B.: Meine Meinung habe ich mir gebildet aufgrund der Diskussionen hier vor Ort. Aufgrund der Haltung der Initiativgruppen, die zu dem Chemnitzer Aufruf geführt hat. Da waren keine Zwischenschritte gefragt, weil die Leute in der lG Transport, Sozialwesen und GÖD gesagt haben, wir kennen uns im Tarifrecht, wir kennen uns im Arbeitsund Sozialrecht einfach nicht aus und mit den eigenen Leuten, aus den alten Apparaten, wird das nicht funktionieren. Deswegen waren keine Zwischenschritte gewollt, sondern ein sehr rasanter Weg in eine ÖTV. M.S.: Wie ging deine Arbeit als Berater weiter? Du warst zunächst ganz alleine. Hast du langsam Hilfe bekommen? K.B.: Ich war am 7. März hier. Die ersten Tage waren chaotisch und kaum aushaltbar. Wir haben im Beraterkreis, der vierzehntägig getagt hat, sehr schnell gesagt, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir das Informationsbedürfnis befriedigen. Mit dem bisherigen Personal geht dies an die Substanz unserer Kräfte. Ein Konzept gab es ja nicht aufgrund der Schnelligkeit der Ereignisse, so dass wir unsere Rentner angesprochen haben. Alles erfahrene Gewerkschafter der Organisation West. Am 15. Mai kam Rolf Benzel mit einem vollbeladenen Bus von Stuttgart nach Chemnitz. Er wollte oder sollte für sechs Wochen bleiben, doch erst am 15. Dezember 1992 haben wir ihn verabschiedet. Als die Frage der Erfassung der Mitglieder, die Aufnahmescheine und die Beitragskassierung anstanden, habe ich mir gesagt, das können der Rolf Benzel und der Klaus Böhm überhaupt nicht leisten. Wir mussten politisch weiterarbeiten und deshalb brauchten wir einen weiteren Menschen, der sich um den Papier- und inneren Verwaltungskram kümmert. So habe ich den inzwischen zum Rentner gewordenen Fritz Schmidt im südpfälzischen Frankweiler angerufen. Auch er war nicht nur für ein paar Wochen sondern genau so lange wie Rolf Benzel hier. Ich will hinzufügen, dass ich mit der erfahrenen „RentnerBand" in der Aufbauphase sehr gute Erfahrungen gemacht habe. M.S.: Hast du noch Mitglieder in die ÖTV in der DDR aufgenommen?
204 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview K.B.: Tja, das habe ich pragmatisch vom Tisch gewischt. Die haben uns zwar zweierlei Aufnahmescheine geschickt, aber wie gesagt, diese Diskussionen konnten wir auf dem Flur, wo 100 Leute gestanden sind, nicht führen. Insofern war das eine Frage, die eher aus administrativen Überlegungen geboren wurde. Aber vor Ort musste man pragmatisch handeln und das haben wir auch getan. M.S.: Wie sah das aus, das pragmatische Handeln? K.B.: Das pragmatische Handeln war so, dass ab dem 11. Juni, einen Tag nach Magdeburg, die Leute reihenweise vor unserer Tür standen und in die Gewerkschaft ÖTV wollten. M.S.: Und was habt ihr gemacht? K.B.: Aufgenommen haben wir sie. Aufgenommen haben wir sie in die Gewerkschaft ÖTV. Die wurden registriert unter ÖTV. Damals liefen sie halt unter ÖTV in der DDR und wir haben sie nicht getrennt erfasst. Die Beiträge wurden natürlich auf das Konto der ÖTV in der DDR gebucht. Und mit dem Übergang durch die Satzungsänderung in die Gewerkschaft ÖTV war das für uns völlig unproblematisch, das umzuwandeln. M.S.: Ab August konntet ihr Leute aus der DDR einstellen, also zunächst Verwaltungsangestellte? K.B.: Das war so. Verwaltungsangestellte haben wir bezahlt und zwar sehr unkonventionell aus ÖTV in der DDR-Beiträgen. Die erste Verwaltungsangestellte, die habe ich im März, im alten Büro noch, angeheuert. Die haben wir aus dem Hosensack bezahlt. Und dann abgerechnet über ÖTV in der DDR-Konten. Wie gesagt, das ging einfach nicht mehr weiter, so dass wir im April hier in die Dresdner Straße umgezogen sind. Zunächst in zwei Räume, und diese beiden Räume haben wir dann peu à peu erweitert, so dass wir einen Flügel dieses Hauses hatten. Ich habe keine Schnellschüsse gemacht, sondern aus meinem Verantwortungsbewusstsein heraus aufgrund der jeweiligen Entwicklung entschieden. Später, als wir 61.738 Mitglieder hatten, am 1. November 1990, habe ich die Entwicklung hochgerechnet und mögliche Abgänge aufgrund des Umstrukturierungsprozesses runtergerechnet. Unsere Prognose ist vollkommen eingetreten. Dann habe ich Gerd Sczepansky eingestellt, der mir immer geholfen hat, und der in seinem Beruf als Dreher nicht mehr in seinen Betrieb hinein wollte. Er war der erste Sekretär in unserer Kreisverwaltung. M.S.: Du hast damals in Bayreuth ca. zehn Leute in einem ersten Personalgespräch vorgestellt. Wie bist du zu den zehn Leuten gekommen? Wie lief deine Auswahl hier? K.B.: Na ja, der Hintergrund deiner Frage ist: Hast du auch Leute aus den alten Gewerkschaften vorgeschlagen? Nicht? M.S.: Der Hintergrund meiner Frage war, nach welchen Kriterien bist du vorgegangen? K.B.: Ich habe im Beraterkreis immer darauf hingewiesen, dass aufgrund des nicht übertriebenen Vertrauensverhältnisses aber der guten Kontakte und der Solidarität, die zum Ausdruck kam, dass es Leute gibt, auch aus den reformierten Gewerkschaften, also dort, wo ich meine Kontakte her habe und die den Chemnitzer Aufruf mitbetrieben haben, die den Organisationsausschuss mitgemacht haben, die ich mir als Sekretär in der ÖTV vorstellen kann. Dies haben wir betrieben. Deswegen bin ich stolz, dass die Gisela Mende als erste Geschäftsführerin der ÖTV in Sachsen gewählt wurde.
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Zumal Umstrukturierungsprozesse stattgefunden haben und es unterschiedliche Anläufe von Leuten gab, auch aus völlig fremden Branchen. Die haben gelesen, dass die ÖTV hier ein Büro aufmacht und konnten sich vorstellen, hier zu arbeiten. Aber das war nicht unser Punkt. Wir haben unter den Leuten, die wir in Versammlungen dabei hatten und die wir natürlich beobachteten, ausgesucht. Wir konnten einschätzen, wie die Reaktion auf ihre Person ist und wie sie sich engagiert haben. Ob sie das nur machten, um einen Arbeitsplatz in der ÖTV zu erhalten, oder ob das vom Inneren her stimmte. Das war unsere Geschichte, das zu beobachten, auch hin und wieder bei einem Glas Wein. Heute kriegt man das bestätigt. M.S.: Es hat Diskussionen gegeben, ob man hautamtliche Funktionäre des FDGB übernehmen kann. Hat es Schwierigkeiten gegeben? K.B.: Nein, nur in einem Fall. Aber das war eine reine Eifersüchtelei. Es gab auch vorheriges Jahr im Kreisvorstand aufgrund eines Schreibens eines Kollegen, der auch im Kreisvorstand war und aufgrund von Anrufen aus Freiberg und Annaberg, Hinweise, dass hier Leute Sekretäre geworden seien, die früher in der SED gewesen waren. Der Kreisvorstand hat sich ausgiebig und sachlich mit der Frage beschäftigt, auch über das Auswahlverfahren, ich nenne jetzt Bayreuth und das später angewandte und heute übliche Verfahren. Dann war die Geschichte erledigt, denn diesen Leuten ist nichts vorzuwerfen. Wir haben hochmotiviertes und gutes Personal. M.S.: Wie du das so erzählst, dann erscheint das ein vollkommen logischer Prozess? K.B.: Das sieht heute logisch aus. Aber in den jeweiligen Situationen hat dies nicht immer logisch ausgesehen. Obwohl ich versucht habe Kontinuität und Logik hineinzukriegen. M.S.: Wie kam diese Mitgliederzahl zustande? Wie lief die Aufnahme? Wie passierte das eigentlich? K.B.: Die Leute – und das ist auch heute noch so – haben gesagt, die Gewerkschaft ist notwendig und die Gewerkschaft kann für uns was tun. Dann haben sie erfahren, dass es bei uns einen demokratischen Meinungsbildungsprozess gibt und sich gesagt, das für uns der richtige Weg. Dies hat in den Diskussionen gefruchtet und zu diesen Mitgliederzahlen geführt. Diese erfolgreiche Arbeit hat auch einen wichtigen Lebensabschnitt für mich bedeutet und mir sehr viel Spaß gemacht. Ich habe mehrfach betont, dies sei die schönste Zeit meines Berufslebens gewesen. Die erste Bezirkskonferenz in Sachsen habe ich als Zäsur genommen und bin zu meiner Familie nach Hause zurückgekehrt.
206 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview
Reinhard Büttner ÖTV-Beratungssekretär in Gera Interview vom 16. Juli 1991 R.B.: Ich war seit 1969 Mitglied der Gewerkschaft HBV und auch gleich gewerkschaftlich aktiv geworden. Zuerst als Kandidat für die Jugendvertretung. Später, 1970, bin ich zum Vorsitzenden der Jugendvertretung gewählt worden. Ich habe mehrere Funktionen innerhalb der Gewerkschaft HBV bekleidet, angefangen vom Ortsverwaltungsvorstand über den Bezirksverwaltungsvorstand. Ich war Vorsitzender des Orts- und Bezirksjugendausschusses, habe auch dem Landesjugendausschuss angehört und war also auf verschiedenen Ebenen des DGB tätig, insbesondere in der gewerkschaftlichen Jugendund Bildungsarbeit. Ich habe die verschiedenen Stufenseminare, erst als Teilnehmer, dann als Teamer mitgemacht, dann Funktionärsschulungen durchgeführt bis hin zu Wochenseminaren in der Bundesjugendschule Oberursel. 1972 bin ich in den Betriebsrat gewählt worden und wurde dann, unterbrochen durch die Bundeswehr, im Jahr 1973 für eine hauptamtliche Tätigkeit beim DGB angesprochen. Am 1. Januar 1974 wurde ich beim DGB-Landesbezirk Nordrhein-Westfalen als Organisationssekretär eingestellt und habe dann einige Monate in Bielefeld, mehr oder weniger zur Ausbildung, gearbeitet. Bis zum 30. Juni 1974 war ich in Minden, wo es die sehr interessante Konstellation gab, dass der DGB-Kreisvorsitzende damals noch Landrat war und dann in den Landtag eingerückt ist, sodass ich fast immer allein war. Den Rechtsschutzsekretär durfte ich auch einarbeiten, bis ich zum DGB-Kreis Siegen kam. Dort habe ich vier Jahre lang als Organisationssekretär gearbeitet und war für Bildung, Jugend, berufliche Bildung, Personengruppen, Ausschüsse und Ähnliches tätig. Dann kam ich zur ÖTV-Kreisverwaltung München und habe dort am 1. Januar 1979 angefangen für den Bereich Stadtverwaltung, Angestellte und Beamte und eine ganze Reihe von kleineren Bereichen zu arbeiten. Ich habe dann das Angebot bekommen, nach Regensburg als Geschäftsführer zu gehen, bin dort vom Kreisvorstand 1983 gewählt worden und am 1. Januar 1984 habe ich als Geschäftsführer in Regensburg begonnen. Ich habe diese Tätigkeit ausgeübt bis 1990 die Bewegung in der DDR konkrete Form angenommen hat. Nachdem wir von der Bezirksleitung Bayern ein Telefax bekommen hatten, dass Beratersekretäre gesucht werden für das Gebiet der DDR, habe ich mich sehr spontan innerhalb von zehn Minuten entschlossen. Ich habe der Kollegin drei Zeilen diktiert, dass ich bereit sei, das zu machen und das zurückgefaxt an den Bezirksvorsitzenden. Dann haben einige Gespräche stattgefunden und ich wurde eingeteilt als Beratungssekretär für den Bezirk Gera. M.S.: Wieso hast du dich innerhalb von wenigen Minuten entschieden? Wie bist du auf die Idee gekommen, so ein Angebot anzunehmen? R.B.: Das hing damit zusammen, dass ich schon immer Interesse an der Entwicklung in Osteuropa gehabt habe. Ich habe mich damals, als die SolidarnoĞü in Polen entstanden ist, in dieser Frage sehr engagiert. Schon in München habe ich mit den Oppositionsgruppen zusammengearbeitet, war auch für den gesamten DGB der Ansprechpartner, was Osteuropa anbelangte. Ich habe mit den verschiedenen Kolleginnen und Kollegen dort zusammengearbeitet und als dann die ÖTV beschloss, dass sie in der DDR Beratung aufbauen wolle, habe ich mich dazu entschlossen, weil ich es für notwendig gehalten habe, die Demokratiebewegung dort zu unterstützen. Ich habe die Probleme sehr häufig aus der Literatur gekannt und zum Teil aus eigener Anschauung erlebt.
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M.S.: Deine Frau musstest du vorher nicht fragen? R.B.: Nein, weil meine Frau auch entsprechend aktiv ist. Sie war sogar in der SPD engagiert, ähnlich wie ich, und sie war zwar etwas überrascht, dass ich das so spontan gemacht habe, aber es gab familiär überhaupt keine Probleme, sie hat das sofort akzeptiert. M.S.: Wie lief das weiter ab? R.B.: Dann fand ein Gespräch statt mit dem Bezirksleiter und danach mit Willi Mück, weil sich noch ein anderer Kollege dafür interessiert hatte, der Kollege Michael Wendl [Sekretär der ÖTV-Bezirksverwaltung Bayern], was besonders interessant ist, auch in der heutigen Situation. Die Entscheidung ist auf mich gefallen. Ich musste dann meinen Urlaub abbestellen, er war schon gebucht, das war im privaten Bereich etwas schwieriger. In der Woche des geplanten Urlaubs war eine Vorbereitung für den Einsatz in der DDR, im BBZ in Berlin. Es sollte der Themenkreis, der jetzt auf uns zukam, mal genauer erörtert werden, damit wir in der Lage sind, die entsprechenden Positionen der ÖTV vor Ort einzubringen. Diese Woche im BBZ hat eine ganze Menge gebracht, weil wir dort erstmals Kontakt hatten mit relativ hochkarätigen Funktionären des FDGB. Z.B. mit Peter Witte, der heute bei der IG Bergbau-Energie beschäftigt ist. Er war damals jemand, der sehr eng mit der ÖTV zusammenarbeiten wollte und uns das System FDGB-SED innerhalb der Betriebe sehr deutlich gemacht hat. Er hat uns diese ganze Struktur erläutert, damit wir auch politisch bewerten konnten, wie das System in der DDR funktionierte. M.S.: Wann hast du angefangen als Berater? Und wie waren die Anfänge? R.B.: Meine Anfänge waren in Gera. Parallel zu dem Wochenseminar, das wir zur Einarbeitung durchgeführt haben, lief ein Seminar für Kollegen und Kolleginnen aus der DDR. Dort habe ich Kontakte geknüpft, mir zwei Adressen aufgeschrieben und das waren meine Ansprechpartner in Gera. Ich bin dann morgens hingefahren mit dem Betreuungsbus des Transport- und Verkehrsbereichs der Bezirksverwaltung Bayern und habe versucht, mich in Gera zu orientieren. Erst mal überhaupt ein Quartier zu besorgen, weil wir ja völlig bei Null anfingen. Es war damals mehr als kompliziert, in der DDR Übernachtungsquartiere zu finden. Ich bin also in die Gera-Information gegangen. M.S.: Alles alleine? R.B.: Alles alleine. Dort hat man mir ein Quartier in der Nähe von Ronneburg angeboten. Damals wusste ich, dass dort in der Nähe der Uran-Abbau stattfindet, war deswegen sehr vorsichtig und habe mir gedacht: Guck erst mal die beiden Kontaktadressen an. In der DDR ein Telefon zu finden war aber nicht so einfach. Ich wusste, dass ein Kollege im Nahverkehrsbereich beschäftigt war, habe einfach an einem Betriebstor der Verkehrsbetriebe angehalten und habe dem Pförtner gesagt, dass ich den Kollegen Müller sprechen wollte. Müller gab es allerdings viele und ich beschrieb ihn äußerlich und welche Tätigkeit er ausübte. Der kam dann an und ich bin mit ihm zusammen zur IG Transport gefahren, die IG Transport- und Nachrichtenwesen, wie sie damals noch hieß. Dort hat der Kollege Schwinge, der war damals für den Bezirk Gera zuständig, sich sehr kooperativ gezeigt. Wir sind ins Gästehaus des FDGB gefahren, wo man mir gleich Quartier zur freien Auswahl überließ, weil ich der einzige Gast im Haus war. M.S.: Du hast dich da vorgestellt als der zukünftige Berater der ÖTV in Gera, oder wie hast du das gemacht?
208 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview R.B.: Ich habe mich persönlich vorgestellt, habe gesagt, wer ich bin, dass ich von der ÖTV komme und dass ich als Berater für die Demokratie und die Umstrukturierung innerhalb der Gewerkschaftslandschaft tätig sein wolle. Dies stieß zwar auf etwas Skepsis, aber alle Gewerkschaftsfunktionäre, die ich im Laufe der Woche kennengelernt habe, waren eigentlich hinter Westkontakten sehr hinterher. Sie hatten starkes Interesse daran. Deswegen wurde mir überall in Tür und Tor geöffnet. Im FDGB-Gästehaus war das dann sehr amüsant, als ich bezahlen wollte. Weil das war mehr als unüblich in dem Haus, dass die Westgäste bezahlten, aber das ließ sich klären. M.S.: Wie genau war definiert, was ihr als Berater machen solltet? R.B.: Es war nicht genau definiert, sondern wir waren erfahrene Gewerkschaftssekretäre. Es waren sehr viele Geschäftsführer in dem Beraterkreis, Kollegen und Kolleginnen, die auf der Bezirksebene tätig waren und auch zwei, drei Kollegen aus der Hauptverwaltung. Es war uns nichts Genaues vorgegeben. Aber wir sollten zwei Funktionen erfüllen: einmal die Funktion als Beratung für die Demokratiebewegung aber auch gleichzeitig als Berater für den gHV, damit dieser gewisse Entwicklungen besser einschätzen konnte, um auf die Politik, die die ÖTV machen wollte, Einfluss zu nehmen, sodass bei den späteren Beratertreffen immer Monika Wulf-Mathies, Willi Mück, Wolfgang Warburg, zum Teil auch der gesamte gHV anwesend waren. Wir hatten eine Doppelfunktion, einmal eine Bewegung in der DDR zu unterstützen, zu forcieren und auf der anderen Seite gegenüber dem gHV beratend tätig zu sein. M.S.: Das mit der Unterstützung der Demokratiebewegung, das hört sich wahnsinnig allgemein an. Habt ihr denn Kompetenzen gehabt, materiell zu unterstützen? R.B.: Das hat sich erst später herauskristallisiert. Die erste Woche war dafür da, erste Kontaktaufnahmen zu machen, Kontakt zu den FDGB-Gewerkschaften, die in unserem Organisationsbereich waren, herzustellen und herauszubekommen, ob es schon Bewegung in den Betrieben gab. In der Phase, als wir begannen, gab es bereits erste Ansätze von Betriebsräten, und wir sollten zu diesen Gruppen Kontakte aufnehmen. Wir sollten mehr oder weniger beobachtend tätig sein. Es hat mehrere Diskussionen gegeben, wie was zu entwickeln war. Es gab auch unterschiedliche Positionen im Beraterkreis, wie man damit umgeht. Einige sagten, wir wollen die Demokratisierung innerhalb der DDRGewerkschaften stärker unterstützen, Bildungsarbeit vor Ort machen, Betriebsräte unterstützen, während andere, da habe ich auch dazu gehört, gesehen haben, dass der FDGB nicht reformierbar war, sondern dass man letztlich von unten neu aufbauen musste. M.S.: Aber es waren damals schon erste Betriebsräte gegründet und der FDGB, hatte eine ablehnende Stellungnahme zu den Betriebsräten formuliert. Habt ihr Partei ergriffen in diesem Konflikt? R.B.: In diesem Konflikt haben wir später, Anfang März, Partei ergriffen. Unterschiedlich auch. Es gab auf den Beratertreffen immer wieder Auseinandersetzungen, wie das konkret ablaufen sollte. Die Mehrheit hat sich durchgesetzt. Die Betriebsratsbewegung sollte unterstützt werden, wobei unklar war, auf welcher Grundlage wir überhaupt Betriebsräte wollten. Es gab das Arbeitsgesetzbuch der DDR ja noch, also Betriebsgewerkschaftsleitungen und Vertrauensleute in den Betrieben. Betriebsräte waren in den Betrieben etwas ganz Neues, mit allen Problemen. Die Hoffnung war einfach da, mehr erreichen zu können, mehr Mitbestimmung haben zu wollen, frei gewählte Betriebsräte zu haben, ohne dass die ganzen Regularien zu beachten waren. Es war auf den Beratertreffen immer unklar, wie man konkret damit umgehen könnte, ob man einen eigenen Ent-
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wurf machen sollte. Wir haben zum Teil Betriebsvereinbarungen gemacht und haben in großen Teilen das Betriebsverfassungsgesetz als Grundlage für die Arbeit der Betriebsräte hergenommen. M.S.: Schildere doch konkret, wie die Beratertätigkeit in Gera angefangen hat. Wie hat sich das entwickelt? R.B.: Es begann damit, dass ich am späten Vormittag dort angekommen bin, mich um Quartier und solche Fragen gekümmert habe, dann im Gewerkschaftshaus herumgeführt wurde, sofort dem damals noch vorhandenen stellvertretenden FDGB-Vorsitzenden vorgestellt wurde und mir ein Büro der etwas besseren Kategorie zugewiesen wurde, wo eine Wohnzimmereinrichtung, Telefon, Vorzimmer und Ähnliches zur Verfügung standen. Das wurde mir kostenlos für meine Tätigkeit zur Verfügung gestellt. M.S.: Das haben die umstandslos gemacht? R.B.: Das haben die ohne Probleme gemacht. Schon letztlich darauf vorbereitet, dass sie engen Kontakt mit mir halten wollten. Das führte auch dazu, dass ich mich sehr schnell gelöst habe. Das werde ich etwas später erzählen. Ich habe also gleich am selben Tag noch Gespräche im VEB Nahverkehr gehabt. Mit der BGL, mit dem Betriebsdirektor und mit denen, die sich damals schon Betriebsrat genannt haben. Der Betriebsrat ist in einer Belegschaftsversammlung per Akklamation gewählt worden und das waren andere Leute als die, die in der BGL saßen. M.S.: Was war der Inhalt der Gespräche? R.B.: Der Inhalt der Gespräche war in erster Linie der Versuch zu klären: Welche Aufgaben hat der Betriebsrat, welche Aufgaben hat die Gewerkschaft und was soll die ÖTV jetzt hier? Weil man merkte, dass gerade vom Vertreter der IG Transport Probleme gesehen wurden, dass man da nicht so massiv auftreten könnte, weil noch eine sehr distanzierte Haltung zu Betriebsräten da war. Es wurde befürchtet, dass die Betriebsräte sich selber entwickeln, eigenständige Positionen einnehmen und damit vom bestehenden System der Betriebsgewerkschaftsleitung wegkamen. Die Position der IG Transport war zum Beispiel auch zu sagen: Wir brauchen die BGL noch, weil die BGL die Funktion der Betriebskollektivverträge im Rahmen des Gesetzbuches haben, während ich gesagt habe, welche Kompetenzen die Betriebsräte bei uns im Westen haben und welche Aufgaben und Funktionen Gewerkschaften haben, insbesondere in der Tariffrage, also wie bei uns Tarife ausgehandelt werden. Es gab die ersten Kontroversen, als ich dargestellt habe, wie im Westen Tarife ausgehandelt werden, was sich dort die Kollegen und Kolleginnen darunter vorstellen und wie man das jetzt auch auf dem Gebiet der DDR entwickeln könnte. Wobei man erst mal ausgesogen wurde wie ein Schwamm. Es wurden alle Detailfragen gestellt, während das Problem der Umsetzung auf die Tagesordnung gesetzt wurde: Wie schnell können wir westliche Strukturen bei uns einführen? Wie schnell können wir Gewerkschaften bekommen, die in der Lage sind, unsere Interessen besser zu vertreten? Und es hat den Vertreter der IGT immer leicht irritiert, weil er immer darstellen konnte, wie gut also die IGT zum damaligen Zeitpunkt Rahmenkollektivverträge, wie sie richtig hießen, ausgehandelt hat. M.S.: Zu dem Zeitpunkt war bei den FDGB-Gewerkschaften, sie hatten ihren außerordentlichen Kongress Ende Januar, ja schon die entscheidende Strukturveränderung vollzogen worden, die Eigenständigkeit der Einzelgewerkschaften gegenüber dem Dachverband?
210 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview R.B.: Sie versuchten sich an unserem Modell der Gewerkschaft zu orientieren. Das waren alte Funktionäre, die durch ihr System gelernt hatten, wie auf diesem Klavier zu spielen war, mit allem was dazugehört. Ich habe deswegen teilweise ihre Strukturen genutzt, um an entsprechende Vorstellungen und an die tragenden Leute heranzukommen. Dass uns Kontakte zu den Kombinatsleitungen vermittelt wurden, um zum Beispiel Rationalisierungsschutztarifverträge oder Sozialpläne mitauszuhandeln. Das war zu einem etwas späteren Zeitpunkt, als begonnen wurde, die Kombinate aufzulösen und umzustrukturieren. Zum Beispiel hat der Kollege von der IGT mir beim Rat des Bezirkes die entsprechenden Türen geöffnet, und da merkte man sehr deutlich, welchen politischen Einfluss der FDGB bzw. die Einzelgewerkschaftsvertreter dort hatten und wie eng sie halt in diesem ganzen System verwurzelt waren. M.S.: Du hast am Anfang gesagt, dass es Widerstände von überzeugten SED/ FDGBFunktionären gab. War das alles schon so gewendet, dass dir überall eine große Neugier begegnete? R.B.: Eine distanzierte Neugier. Einmal, um Wissen zu bekommen. Sie haben natürlich gefragt, was ein Betriebsverfassungsgesetz ist, ein Tarifvertragsgesetz. Diese ganzen Dinge wurden einfach abgefordert. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich den ganzen Tag mit den FDGB-Funktionären verbringen können. Weil sie ständig von mir partizipieren wollten, mit allen Problemen, die da so dranhingen. Ich habe sehr schnell versucht, mich zu entziehen. Ich bin vierzehn Tage später aus dem FDGB-Haus ausgezogen, weil ich Kontakte zu einem anderen Kollegen aufgenommen habe, den ich in Berlin kennengelernt hatte. Das war der BGL-Vorsitzende der Stadtwirtschaft, vergleichbar mit der Müllabfuhr, Straßenreinigung bei uns, und dieser Kollege bot mir an, ein Büro in der Stadtwirtschaft zu beziehen. Zwar auf der Ebene des stellvertretenden Betriebsdirektors und mit Blick auf den Schlachthof. Das war sehr amüsant, weil der Viehauftrieb dort fast jeden Tag stattfand. Aber letztlich hatte ich die Möglichkeit, in einem organisationspolitisch sehr wichtigen Betrieb direkt tätig zu werden und wurde nicht mehr so kontrolliert. Ich hatte eine offene Unterstützung und konnte in dem Betrieb ein- und ausgehen, wie ich das wollte. Ich konnte mich wesentlich freier bewegen und es wurde nicht mehr so kontrolliert, was bei mir ablief. Alle ankommenden Telefonate liefen ja im FDGB-Haus über die Zentrale und ich war nie sicher, was die tatsächlich für Auskünfte gegeben haben, weil ich oft von Kollegen und Kolleginnen gehört hatte, dass sie in der FDGB-Zentrale mit der Auskunft, der ist ja nie da, zurück verwiesen wurden oder Gespräche, die an mich gerichtet waren, dann bei der MSK landeten oder an andere Gewerkschaften weitergeleitet wurden. Diese wussten oft, was ich wo mache. Zum Teil kamen sie mit Zetteln zu mir: Hier habe ich zwei oder drei Termine für dich. Sie haben sehr stark kontrolliert, was ich wo mache. Sie haben an mehreren Stellen gesagt: Du kommst in gewisse Dienststellen nicht rein, lass uns die Kontakte vermitteln. Während ich sehr früh versucht habe, nur die Termine aufgrund von Anrufen und persönlichen Kontakten oder Versammlungen, die ich besucht habe, wahrzunehmen. Mit dem hauptamtlichen Apparat habe ich sehr wenig und nur da, wo es notwendig war, zusammengearbeitet. M.S.: Gingen die Einzelgewerkschaften von der Weiterexistenz der DDR als eigenständigem Staat aus? R.B.: Es war schon März. Man kann sagen, es entwickelte sich von Woche zu Woche weiter. Je mehr wir an Einfluss gewannen. Sie stellten selber fest, dass wir in den Betrieben von den Belegschaften aufgenommen wurden als diejenigen, die alles wussten, angefangen von der Autoversicherung über Auslegungen von Rahmenkollektivverträgen, über
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Sozialpläne, Umstrukturierung, westliche Partnerschaften und Ähnliches mehr. Eigentlich waren wir immer die kompetenten Ansprechpartner. Es lief so, dass die FDGBVertreter, also ihre Einzelgewerkschaftsvertreter, in heiklen Fragen zu mir kamen. Sie gingen mit auf die Versammlung, sodass es meistens so aussah, dass sie die Veranstaltung eröffneten und begrüßten, und danach machte ich die nächsten zwei, drei Stunden alles alleine. Sie spielten eine Statistenrolle. Sie haben immer wieder versucht, eigenständige Positionen zu vertreten, weil sie in der Phase, etwa April/Mai, fast wöchentlich nach Berlin gefahren sind, um sich neue Anleitungen zu holen, wie sie mit Problemen umzugehen haben. Das führte dazu, dass sie immer wieder irritiert waren. Sie haben meine Position mitgenommen, kamen von Berlin wieder und sagten: Ja, so ist das ja nicht, wir müssen das alles noch mal revidieren. Aber eine strategische Linie habe ich nicht gesehen, außer dass sie natürlich um ihre Gewerkschaften gekämpft haben, dass sie gemeint haben, sie könnten sich selber reformieren. Immer wieder an den verschiedensten Punkten, wo sie zum Teil selbst fast nicht daran geglaubt haben, dass die jeweiligen Bezirksverantwortlichen, zum Teil eingesetzt, zum Teil basisdemokratisch gewählt, immer wieder versucht haben zu sagen: Wir haben uns doch reformiert. Wir lösen uns doch vom FDGB, Teile des FDGB sind schon weg. Wir sind rechtlich eigenständig, wir sind die Gewerkschaft, die sich selber erneuert, mit neuen Gewerkschaftsdelegierten und mit allem, was dazu gehört. Sie haben versucht, ein Stück weit den Einfluss der ÖTV wieder zurückzudrängen. M.S.: Gab es Diskussionen, dass man diese selbständigen Einzelgewerkschaften wieder zusammenführt zu einer Gewerkschaft wie der ÖTV, als Zusammenschluss von sechs oder sieben Einzelgewerkschaften? R.B.: Die gab es erst etwas später, als die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, die aus der Gewerkschaft MSK hervorgegangen war, versucht hat, sich einen ähnlichen Aufbau zu geben wie den, den die ÖTV hat. Sie versuchte, auch mit Spitzengesprächen, alles unter dem Dach einer ÖTV (Ost) unter der Federführung oder Führung der MSK – dann gewandelt in ÖD – zu vereinen. Es gab auch an der Spitze eine Reihe von Wechseln, aber alles etwas später, im Mai/Juni. Aber die Ansätze waren schon geboren, weil die MSK als eine der konservativeren Gewerkschaften versuchte, hier stärker an Boden zu gewinnen als die sich neu formierenden Einzelgewerkschaften wie die IGT, die Gewerkschaft Gesundheit und Sozialwesen aber auch die Gewerkschaft der Armeeangehörigen, zu denen ich fast nie Kontakt gehabt habe oder Zivilbeschäftigten, die fast nicht vorhanden waren. Meine Kontakte beschränkten sich im Wesentlichen auf die Gewerkschaft MSK, Gesundheit und Sozialwesen, IGT und die energiezuständige Gewerkschaft, mit allen Problemen, die da vorhanden waren. M.S.: Was war der nächste Schritt der ÖTV? Weg von der beratenden und beobachtenden Tätigkeit hin zu anderen organisationspolitischen Entscheidungen? Die ÖTV hat ja im Laufe dieses Jahres eine Entwicklung durchgemacht. Sie hat verschiedene Positionen eingenommen. R.B.: Ja, es gab in dem Beraterkreis unterschiedliche Ansätze. Einige haben auf eine Demokratisierung der FDGB-Gewerkschaften gehofft. Die zweite Position war: Wir müssen möglichst schnell als ÖTV in der DDR tätig werden, damit die Satzung der ÖTV aufgemacht wird und wir auch auf dem Gebiet der DDR organisieren können. Weil das zum Teil auch den Wünschen und dem dringenden Bedürfnissen fast Aller gerecht wurde. Was zu Problemen führte, zwangsläufig. Weil Satzungsöffnen problematisch war. Einige haben gesagt, das käme einer Besatzung dieses Landes gleich, dass wir da einfach
212 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview einmarschieren und Land nehmen. Das könne man so nicht machen, so weit wären wir noch nicht. Es wurden Zwischenschritte diskutiert, z.B. wir gründen eine eigenständige Gewerkschaft. Es gab Diskussionen in Plauen, eine eigenständige ÖTV zu gründen mit eigener Satzung und allem, was dazu gehört. Es gab die Diskussion auch in Halle und in verschiedenen anderen Städten, wobei die Kollegen ihre Möglichkeiten gesucht haben, eine unabhängige Interessenvertretung zu bekommen. Weil durch die Bank halt der FDGB abgewirtschaftet hatte und die Einzelgewerkschaften nicht die Interessen der Kollegen und Kolleginnen wahrgenommen haben mit allen Problemen, die da dranhingen. Wir als Berater waren ständig in einer Zwickmühle. Ich habe immer gedacht: Wir müssen möglichst schnell zu einer ÖTV auf dem Gebiet der DDR kommen, weil etwas anderes einfach nicht adäquat ist. Die Diskussionen liefen dann in die Richtung: Wir gründen die ÖTV in der DDR, um den Kollegen und Kolleginnen in der DDR die Möglichkeit zu geben, sich möglichst schnell in der ÖTV zu organisieren. M.S.: Wie hast du vor Ort das Misstrauen der Kollegen gegenüber den alten FDGBGewerkschaften mitgekriegt? R.B.: Das habe ich vorhin schon versucht darzustellen. Meine Position war, die ÖTV muss möglichst schnell die Satzung öffnen. Gleichzeitig habe ich aber festgestellt, dass wir Schwächen haben, personelle Schwächen, um vor Ort diese massive Beratung, die überall abgefragt wurde, überhaupt zu erfüllen. Ich habe am Anfang alleine in Gera Termine wahrgenommen, die man sich in der Bundesrepublik gar nicht vorstellen kann. Morgens um sieben Uhr in der Universität Jena eine Vertrauensleute-Vollversammlung. Wenn man sich das vorstellt, im Westen so etwas morgens um sieben Uhr durchzuführen – undenkbar. Die letzten Termine haben dann abends um 22.00 Uhr bei der Feuerwehr stattgefunden. Das war ein absolut intensiver Arbeitstag, der manchmal zwölf, vierzehn oder manchmal auch sechzehn Stunden umfasst hat. Man war einfach völlig ausgelaugt, weil die Kollegen und Kolleginnen den Vertreter der ÖTV als den eigentlich kompetenten und einzigen kompetenten Gesprächspartner geschätzt haben, während parallel dazu die FDGB-Gewerkschafter selbst versucht haben, sich zu qualifizieren, indem sie Seminare zum Teil im Westen besucht haben, um mit dem Betriebsverfassungsrecht überhaupt klar zu kommen. Sie waren auf Versammlungen die einzigen Gewerkschaftsvertreter, die immer sorgfältig darauf geachtet haben zu sagen, wir sind nicht mehr die Vertreter des FDGB, sondern wir sind die Vertreter der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, der Gewerkschaft Wissenschaft usw. Aber ihnen brachten die Kollegen offen Misstrauen entgegen. M.S.: Kannst du das an einem Beispiel schildern? R.B.: Ja, also sie kamen nach den Versammlungen zu mir und fragten: Warum kommst du denn mit denen zusammen da hin? Der weiß eh nichts, der hat eh seinen Draht zur Partei und wird jetzt alles, was hier diskutiert wurde, eh bei der nächsten Sitzung wieder überall breit treten und die wollen wir nicht dabei haben. Wir können nicht so offen reden, wenn solche Leute dabei sind. Es wurde daran gezweifelt, dass sie überhaupt mit Problemen umgehen, ob sie überhaupt adäquat reagieren können. Sie haben auch gesagt: Guck dir den an, der hat vor vier Wochen noch gegen Betriebsräte geschimpft. Jetzt sagt er, Betriebsräte sind notwendig. Was sagt er denn morgen? In einem Betrieb, Kraftfahrzeug und Instandhaltung, der zur Gewerkschaft Transport gehört, habe ich die Belegschaftsversammlungen mehr oder weniger gestaltet, weil keiner dazu in der Lage war. Ob das der IGT-Vertreter, ob das die BGL oder ob das der hauptamtliche Vertreter war. Keiner konnte auch nur annähernd etwas zu den Problemen sagen. Weil der ganze Be-
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trieb privatisiert werden sollte, zerschlagen werden sollte, keine konkreten Konzepte oder Ähnliches vorhanden waren und die Kollegen auch gesagt haben: Was willst du eigentlich hier? Gegenüber den Betriebsdirektoren, gegenüber den Gewerkschaftsvertretern waren sie immer sehr misstrauisch und setzten keinerlei Hoffnung in diesen Apparat. M.S.: Ich glaube, im Mai ist das Kooperationsabkommen mit den Einzelgewerkschaften des FDGBs geschlossen worden? R.B.: Dem war eine sehr, sehr lange Sitzung voraus gegangen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass wir da im Bierkeller des BBZ mit Monika Wulf-Mathies bis morgens um drei, vier Uhr diskutiert haben. Meine Position war, zu versuchen, punktuell auf einer gewissen Ebene mit den bestehenden Gewerkschaften Formen des Überganges zu finden, vielleicht auch der Zusammenarbeit, weil wir zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht in der Lage waren, allen Anforderungen gerecht zu werden und dieser Apparat des FDGBs sich in vielen Fragen doch als relativ stark erwiesen hat, weil sie auf ein geschultes Instrumentarium des hauptamtlichen Apparates direkt in den Einzelgewerkschaften und auch in den hauptamtlichen Apparat der BGLer zurückgreifen konnten. Sie hatten noch immer einen sehr, sehr starken Einfluss, den sie mit allen Mitteln versuchten zu verteidigen, auch wenn ihnen von den Belegschaften reihenweise das Vertrauen entzogen worden war. Meine Einschätzung war, dass dieser Apparat noch längst nicht geschlagen war und dass man deswegen zu einer gewissen Form wie diesem Kooperationsabkommen kommen sollte. Das haben Einige nicht verstanden, weil ich immer der Meinung war, mit diesem FDGB-Apparat so schnell wie möglich zu brechen. Ich habe auch die Zeit noch nicht gesehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt schon in der Lage gewesen wären, als ÖTV auf dem Gebiet der DDR aktiv zu werden, wie es vielleicht von den Beschäftigten gewünscht worden wäre. M.S.: Heißt das, von heute aus gesehen, dass das Kooperationsabkommen ein Fehler war? R.B.: Wenn ich das mal realistisch sehe, die Anfangsschwierigkeiten der ÖTV in der DDR und dann auch die ÖTV nach dem 3. Oktober 1990, glaube ich, dass es zum damaligen Zeitpunkt noch eine gewisse Notwendigkeit war, das so zu machen, um letztlich den Übergang zur ÖTV hinzubekommen, wie wir ihn geschafft haben. M.S.: Du stellst es so dar, als wäre es nur ein taktisches Manöver gewesen, um den FDGB bzw. die Einzelgewerkschaften auszuhebeln. Das ist ja legitim. R.B.: Für mich war das einzig und allein eine taktische Variante, um das Problem letztlich mit zwei Instrumentarien in den Griff zu kriegen. Einmal mit diesem so genannten Kooperationsausschuss, den es dann gegeben hat, parallel dazu mit dem Instrumentarium ÖTV in der DDR, weil der FDGB für mich nicht überlebensfähig, nicht reformierbar war, und der alte Apparat lieber heute als morgen davon gejagt werden sollte. M.S.: War deine Einschätzung mehrheitsfähig im Beraterkreis, oder war das noch sehr kontrovers? R.B.: Also wir haben meist stundenlang kontrovers diskutiert und haben uns dann immer zu einer Mehrheitsposition durchgerungen, die die Berater in ihren Beraterbüros allerdings sehr unterschiedlich realisiert haben. Ich will jetzt nicht die einzelnen Städte aufzählen, wer welche Position gehabt hat, aber es gab auch im Beraterkreis Entwicklungen, muss man sagen. Die Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften war aufgrund der wechselnden personellen Zusammensetzungen in den Büros sehr unterschiedlich ausge-
214 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview prägt. Das heißt, die einen, die, ich sag' jetzt mal so, lieber mit denen ins Bett gegangen wären, also enger mit denen zusammengearbeitet hätten, während ich zu den Verfechtern des doch radikaleren Kurses gehört habe. Also möglichst schnell mit denen das Verhältnis beenden und zusehen, dass wir als ÖTV dort die Position übernehmen, die die Kollegen auch haben wollen. M.S.: Wie lange warst du ein Ein-Mann-Unternehmen in Gera? R.B.: Bis Mai war ich ein Ein-Mann-Unternehmen. M.S.: Und dann? R.B.: Da sind zwei Rentnerkollegen dazu gekommen. Einer, der schon gut ein Jahr ausgeschieden war als Geschäftsführer der Kreisverwaltung in Augsburg, der Gustl Ostpolt, und der Peter Klugmann, der erst vor ein paar Wochen ausgeschieden war als Geschäftsführer der Kreisverwaltung Würzburg. Dann haben wir drei das gemeinschaftlich gemacht. Wobei das eine sehr wichtige Unterstützung war, weil man jetzt die Möglichkeit hatte, auch mal Probleme mit jemandem zu diskutieren. Vorher habe ich alleine in meinem FDGB-Gästehaus gesessen und mir für den nächsten Tag überlegt, wie das überhaupt gehen konnte, sofern ich dazu abends noch in der Lage war. Nun, mit den beiden Kollegen, konnte man die eine oder andere Frage politisch diskutieren. Wir haben uns ein Stück weit die Arbeit aufgeteilt, denn zu dem Zeitpunkt hätte ich, glaube ich, zehn Sekretäre beschäftigen können, weil die Anforderungen – Querbeet durch alle Organisationsbereiche der ÖTV – hoch waren. M.S.: Wie würdest du die gewerkschaftliche Entwicklung vor Ort bezeichnen? Hat sich das abgezeichnet, dass es den FDGB-Gewerkschaften nicht gelingen würde, das Vertrauen zu den Belegschaften wieder herzustellen? War das der Grund, warum die ÖTV Positionen verändert hat? Es wurden doch damals verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Nach der Entscheidung für die Sozialunion zum 1. Juli, war im Grunde klar, dass die staatliche Einheit unvermeidlich sein würde. Es gab verschiedene Möglichkeiten, eine Gewerkschaftseinheit herzustellen, einmal dass man die Organisationen zusammenführt, oder dass man versucht, über Einzelmitgliedschaften zu gehen. Im Juni/Juli müssen diese Diskussionen stattgefunden haben. R.B.: Ja, es gab immer noch die Position: Wir übernehmen die Mitglieder der Einzelgewerkschaften des FDGB. Das war eine Diskussion, wo viele gesagt haben, da könnten wir einen sehr hohen Organisationsgrad bekommen. Wir kriegen auf einen Schlag zwei bis zweieinhalb Millionen ÖTV-Mitglieder, wobei das absolut nicht meiner Position entsprochen hat und ich glaube, auch im Beraterkreis gab es keine Mehrheit für diese Position. Sondern alle haben sich nach einer Diskussion für den Weg entschieden: Wenn Mitgliedschaft, dann Einzelmitgliedschaft. Jedes Mitglied muss frei erklären: Ich will Mitglied einer Gewerkschaft werden, die ÖTV heißt. Diese Übergangsphase ÖTV in der DDR war eigentlich für die FDGB-Gewerkschaften der Störfaktor überhaupt.... M.S.: Wie kam es überhaupt dazu, eine Gewerkschaft ÖTV in der DDR zu gründen. R.B.: Dass wir auf gHV-Diskussionen oder auf Hauptvorstandsdiskussionen gesehen haben, dass es noch nicht machbar ist, als ÖTV auf dem Gebiet der DDR tätig zu werden, sondern erst ein Zwischenschritt gebraucht wird, die ÖTV in der DDR. Aufgrund von langen Diskussionen im Beraterkreis wurden dann die Vorbereitungen getroffen, diese ÖTV in der DDR zu gründen.
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M.S.: Welche Funktion sollte die haben? R.B.: So steht es auch in der Satzung der ÖTV in der DDR drin: Einziges Ziel ist die Überleitung der Mitglieder in die ÖTV. M.S.: Aber das hat nicht funktioniert? R.B.: Das hat sehr wohl funktioniert. Es gab einmal eine Position der FDGBGewerkschaften: Warum wollt ihr diese ÖTV in der DDR? Seid ihr damit einverstanden, dass wir zum 1. November 1990 alle gemeinschaftlich die Mitglieder rüber geben? Und ich sag mal, wenn wir diese ÖTV in der DDR nicht gehabt hätten, wäre dieser Prozess nicht so schnell gelaufen, wie er gelaufen ist. Bei Tarifverträgen, bei allen Gesprächen wurde die ÖTV in der DDR miteinbezogen und wir haben relativ viele Mitglieder in der ersten Zeit bekommen, wobei sich herausstellte, dass der alte Apparat sehr gut funktioniert, dass sie überall in den Betrieben abgeblockt haben: Wartet darauf, bis ihr die richtige ÖTV bekommt. Das ist ja erst mal eine DDR-Ausgabe, die gibt es demnächst nicht mehr, dann braucht ihr auch so eine Gewerkschaft nicht mehr. Aber in vielen Betrieben, auch da, wo ich mein Büro hatte – Stadtwirtschaft, der BGL-Vorsitzende war das Mitglied Numero 1 und Mitglied Numero 2 wurde der stellvertretende Betriebsdirektor, der schon kommissarischer Betriebsdirektor war -, haben wir fast den ganzen Betrieb organisiert für die ÖTV in der DDR. Das schlug sofort riesige Wogen bei der Gewerkschaft ÖD, die gesehen hat, welche Probleme da auftauchten. Wir haben mitbekommen, im Laufe der Zeit, als ich schon nicht mehr diese Funktion hatte, aber die Kontakte mit den Kollegen aus Gera haben das bewiesen, dass selbst im Dezember noch Aufnahmescheine für die ÖTV in der DDR aufgetaucht sind, wo „in der DDR“ durchgestrichen war und die als Aufnahmescheine für die ÖTV genommen worden sind. Was mir deutlich macht, dass dort Funktionäre der Alt-Gewerkschaften die Aufnahmescheine der Mitglieder zurückgehalten und nicht an uns weitergeleitet haben. Wenn man da stärkeren Zugriff gehabt hätte, dann hätten wir zig-tausende Mitglieder mehr gehabt. M.S.: Ich hatte den Eindruck, die Gründung der ÖTV in der DDR war eine offene Kampfansage an die FDGB-Gewerkschaften. Andere Kollegen meinen, dass die Rechnung doch nicht aufging, d.h. die Beschäftigten sind überwiegend in den alten FDGBGewerkschaften geblieben. Es war nicht so, dass sie in großen Scharen in die Gewerkschaft ÖTV in der DDR gegangen sind? R.B.: Das war so mein Punkt, inwieweit man mit den FDGB-Gewerkschaften zusammenarbeitet bzw. arbeiten muss. Als sich die Entwicklung abzeichnete, dass wir auch personell nicht in der Lage waren, durch alle Notwendigkeiten, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man eine Gewerkschaft neu gründet, dass sie auch tätig werden muss, auch in den Betrieben überall präsent zu sein, dass das, was ich trotz meines intensiven Arbeitstages geleistet habe, nicht das war, was den Anforderungen genügt hätte. Dadurch konnten wir Erwartungen, die da waren, nicht erfüllen. Da haben Viele in den Betrieben gesagt: Ja, guckt euch an, was die leisten. Das sind die Vertreter der ÖTV. Die gleichzeitig auch noch eine Doppelrolle hatten. Wir waren ja Beratersekretäre für die ÖTV und geschäftsführende Sekretäre für die ÖTV in der DDR, d.h. wir haben eine Doppelrolle gespielt und die Kollegen haben gesagt: Wartet doch auf den 1. November, dann könnt ihr Mitglied der richtigen ÖTV werden. Solange wickeln wir das noch ab. Wobei die Beitragszahlungen bei den FDGB-Gewerkschaften zum Teil überhaupt nicht mehr vorhanden waren. Ich habe das mitgekriegt in der Stadtwirtschaft, die seit Anfang des Jahres 1990 keine Beiträge mehr an den FDGB abgeführt haben. Sie haben diese betrieblich
216 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview verwaltet. Das ist im Nahverkehr so gewesen, im Wissenschaftsbereich teilweise, dass ganze Institute und Fachbereiche nicht die Beiträge an den FDGB abgeführt haben, sondern uns als ÖTV angeboten haben diese Gelder zu bekommen, wobei wir darauf verzichtet haben, Gelder, die dem FDGB zustanden, für uns zu nehmen. Da galt es auch sauber zu bleiben. M.S.: Ich kann mir vorstellen, dass es einige Auseinandersetzungen mit den Einzelgewerkschaften gegeben hat. Also in dem Moment, als die ÖTV in der DDR gegründet worden ist? R.B.: Es gab massive Auseinandersetzungen im Vorfeld, weil sie das mitbekommen hatten von ihren Zentralvorständen. Sie haben diesen Schritt überhaupt nicht akzeptiert. Sie hatten jede Menge Störmanöver vor. M.S.: Kein Wunder. Vorher gab es das Kooperationsabkommen und plötzlich bekommt man Knall auf Fall das Misstrauen dadurch ausgesprochen, dass die ÖTV ihren eigenen Laden aufmacht. R.B.: Kooperation ja, in einem gewissen Rahmen, der abgesteckt war. Was das Ziel der ÖTV war, wurde ganz klar in der Satzung der ÖTV in der DDR formuliert. Sie haben das auf dem Gründungskongress mitbekommen, wie gesagt, im Vorfeld soviel zu sperren wie möglich. Auf der Gründungsveranstaltung war jede Menge Prominenz des FDGBs in Magdeburg anwesend. Sie haben im Vorfeld gesagt: Wir versuchen, das zu verhindern. Wir werden das und das machen. Tatsächlich haben sie aber teilgenommen und mit keinem Wort versucht, in die Debatte einzugreifen. M.S.: Merkwürdig ist auch, dass sich die ÖTV bereits an den Tarifverhandlungen in der DDR beteiligte, obwohl die ÖTV dort gar nicht existierte. Wie geht denn so etwas? R.B.: Die ÖTV hat das federführend für die ÖTV in der DDR gemacht. M.S.: Und die konnten stattfinden, weil der Staatsapparat, der Arbeitgeber, die ÖTV akzeptiert haben? R.B.: Sehr stark. Ich habe das selber, als ich meine Funktion gewechselt habe, also zuständig wurde für die Koordination, den Aufbau im zentralen Organisationsbüro. Ich habe in der Kleinen Auguststraße gearbeitet und auch im Büro des Ministerpräsidenten regelmäßig Gespräche geführt, was man sich in der Bundesrepublik so gar nicht vorstellen kann. Uns sind sämtliche Türen regelmäßig geöffnet worden, ohne dass es einmal Diskussionen oder Rückfragen gegeben hätte, wer wir überhaupt seien, ob wir dazu überhaupt legitimiert wären. Ich habe mit dem Minister Reichenbach Gespräche geführt, mit allen möglichen Leuten, weil wir als ÖTV als DIE kompetenten Gesprächspartner immer wieder angenommen worden sind. M.S.: Kann man das so interpretieren, dass die Arbeitgeber dadurch, dass sie die ÖTV als den legitimen Verhandlungspartner akzeptiert haben, den FDGB-Einzelgewerkschaften den Todesstoß versetzt haben? R.B.: Das spielte mit Sicherheit eine sehr wichtige Rolle. Dieter Wittler [Tarifsekretär der ÖTV-Hauptverwaltung] kann sicher mehr Auskunft geben, weil er die Verhandlungen ja direkt geführt hat. Ich habe das nur mittelbar im Büro erlebt, wo der Kollege Kaiser, Vorsitzender der Gewerkschaft ÖD, bei mir im Büro war und auch noch mal ein Stück weit versucht hat, seine Position zu retten, stärker Einfluss zu nehmen auf ganz gewisse Dinge, weil er den ganzen Apparat kannte. Das Gleiche galt für den Dr. Klatt
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von der Gewerkschaft Gesundheit und Sozialwesen, die immer wieder versucht haben, das zu retten, was noch zu retten war. Wobei sie erkannt haben, dass die Tarifverhandlungen, wie wir sie geführt haben, ein völlig neues Terrain für sie waren. Sie kamen mit der neuen Rolle, die sie hätten spielen sollen, vielleicht auch gespielt haben, überhaupt nicht klar. Das war mein Eindruck aufgrund der Einzelgespräche, die ich mit Beiden geführt habe. M.S.: Wann bist du weggegangen aus Gera? R.B.: Das war etwas fließend. Ich habe teilweise Funktionen in Berlin wahrgenommen, bin offiziell im Juli mit der Funktion beauftragt worden, dann die Beratertreffen und die Treffen der geschäftsführenden Sekretäre vorzubereiten und durchzuführen, die Büros zu beraten mit allen Aufgaben, die dazu gehörten. M.S.: Wie lief die Aufnahme der Mitglieder? R.B.: Wir haben auf den Tagungen, in dieser Doppelfunktion der Sekretäre, auf denen sehr viele Kollegen zum Schluss da waren, immer 30 bis 40 Kollegen und Kolleginnen anwesend waren, erlebt, dass es sehr unterschiedlich lief. Zum Teil kamen sie in das Büro und haben gesagt: Wir wollen Aufnahmescheine für die ÖTV haben. Manchmal paketweise, zum Teil auch Altfunktionäre der FDGB-Gewerkschaften, was heißt Altfunktionäre, damals waren sie noch Funktionäre, sind gekommen und haben gesagt: Ich brauche tausend Aufnahmescheine für den Betrieb. Die zum Teil dann irgendwo gelagert und nicht in den Betrieben verteilt wurden. Aber auch, dass sich die Sekretäre der Einzelgewerkschaften bewusst für die ÖTV stark gemacht haben, in der Hoffnung: wenn ich denen drei, vier, fünf oder zehntausend Aufnahmen bringe, übernimmt mich die ÖTV als Sekretär. Es war ein sehr starkes persönliches Interesse von Einzelnen da. Einige BGLer haben sehr schnell die Position erkannt: Wir müssen uns anders orientieren, auf die ÖTV hin. Sie haben in den Betrieben geworben. Es sind aber auch viele Einzelmitglieder in die Büros gekommen. Es lief alles parallel. Die Massen sind direkt über die Betriebe gelaufen und nicht so sehr über die Geschäftsstellen der Einzelgewerkschaften. Wobei diese es sehr gerne gesehen haben. Es war eine Linie, z. B. der ÖD oder zum Teil auch der IGT, die gesagt haben: Lasst das über unsere Büros laufen, wir geben das weiter an die ÖTV. Um kontrolliert einen Übergang von den Einzelgewerkschaften zur ÖTV hinzubekommen und sich ein Stück weit demokratisch zu legitimieren. M.S.: Das können doch nur die Altfunktionäre gewesen sein, die in dieser Phase die Aufnahmescheine gebracht haben? R.B.: Nein. Es gab ja in der Phase auch zahlreiche Betriebsräte, die sich als Gewerkschaftsvertreter verstanden haben, die auch in die Geschäftsstellen gekommen sind und gesagt haben: Gebt uns Aufnahmescheine. Oder die in die Versammlungen hinein gekommen sind und Aufnahmescheine mitgebracht haben, oder unsere Vertreter, auch eine ganze Reihe von ehrenamtlichen Kollegen, die gesagt haben: Hier sind die Aufnahmescheine der ÖTV. Und die in den Versammlungen oftmals en gros ausgefüllt worden sind, wie wir uns das im Westen gar nicht vorstellen können. Ich habe es selbst einmal erlebt, auf einer Versammlung, das war im Kraftverkehrsbereich in Jena, wo wir Aufnahmescheine der ÖTV in der DDR verteilt haben und der Sekretär der IGT die Dinger eingesammelt und gesagt hat: Wartet auf den 1. November, da findet ordnungsgemäß der Übergang statt. Ich konnte leider erst ein paar Wochen später mit dem Sekretär darüber reden, da waren das plötzlich alles nur noch Missverständnisse. Aber es hat auch direkte Einflussnahme der Sekretäre der Gewerkschaften gegeben, die verhindert haben, dass wir
218 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview schneller zu mehr Mitgliedern der ÖTV in der DDR gekommen sind und auch direkte Einflussnahme, dass sie kontrollieren wollten, wer betriebsweise zur ÖTV rüber geht. M.S.: Im Beraterkreis und sicher auch im Organisationsbüro muss doch eine Diskussion darüber geführt worden sein, wie baut man die Organisation in der DDR auf? Gab es eine Entscheidung zu sagen: Ok, wir bilden Kreisverwaltungen mit kommissarischen Geschäftsführern? Wie besetzen wir die ersten hauptamtlichen Funktionäre in der DDR? R.B.: Also, wir haben lange darüber diskutiert, haben auch immer wieder Entwürfe gehabt und haben gesagt: Wenn, dann müssen wir die Weststruktur auch im Osten aufbauen. Wir bilden Kreisverwaltungen, weil wir die Entwicklung der Mitgliederzahlen sehr unterschiedlich bewertet haben, pro Bezirksstadt eine, sprich gleichbedeutend mit den ehemaligen Beraterbüros, eine Kreisverwaltung mit einem kommissarischen Geschäftsführer und versuchen, so viele Sekretäre aus dem Westen zu bekommen wie möglich. Die unterstützen dann diesen Aufbau. M.S.: Die Idee, dass man sagt, überlasst den Ostkollegen diesen Aufbau der ÖTV, damit nicht der Eindruck der Einsackstrategie entsteht, ist das mal diskutiert worden? R.B.: Also wir hatten festgestellt, dass die Kollegen und Kolleginnen in der DDR oder dann im Ostteil der Bundesrepublik Probleme haben, diesen Aufbau selber zu bewerkstelligen. Das war die Erfahrung der Beratersekretäre. Wir brauchten eine massive Westunterstützung aber parallel dazu möglichst schnell Kollegen und Kolleginnen, die das demokratische Vertrauen haben, oder die herangebildet werden müssen, um diese Aufgaben als Gewerkschaftssekretäre oder auch als Geschäftsführer wahrnehmen zu können. Es ist den kommissarischen Geschäftsstellenleitern gesagt worden: Zieht euch Leute heran aus dem Osten. Ob das nun aus dem Neuen Forum ist oder ob das neu gewählte Betriebsräte sind und Ähnliches mehr. Die sollten zu Gewerkschaftssekretären ausgebildet werden. Das war regelmäßig Gegenstand der Beratungen, mit unterschiedlichem Erfolg. Ich habe selber, nachdem das ÖTV-magazin Gewerkschaftssekretäre für die fünf neuen Bundesländer ausgeschrieben hat, bestimmt an über hundert Personalgesprächen teilgenommen, wo sich natürlich sehr stark Ostleute beworben haben. Aber ich glaube, fast 90% kamen aus den alten Gewerkschaften. In diesen Personalgesprächen haben wir eine Grundsatzlinie gehabt, dass wir diese Funktionäre nicht als neue Funktionäre haben wollten. Aufgrund der Einschätzung, wie eng der Staatsapparat, der politische Apparat, die ja stark identisch sind, und die Gewerkschaften Hand in Hand gearbeitet haben, und die auch nicht das Vertrauen der Kollegen haben, haben wir eine gewisse Vorauswahl getroffen, wer dafür überhaupt infrage kam, auch festgelegt, wer dafür nicht infrage kam, um wirklich neue Kräfte in der ÖTV zu haben. Wir haben in den Gesprächen wieder festgestellt, dass viele von den Alt-funktionären nicht die Zeichen der Zeit erkannt haben, sich auch nicht die demokratische Entwicklung, Aufbau und Funktion von Gewerkschaften unter den neuen Vorzeichen vorstellen konnten. Ich war manches Mal auch erschrocken, wie viele geglaubt haben, alte Strukturen in die ÖTV retten zu können. Deshalb haben wir erst nach und nach relativ und wenig Leute aus dem Ostteil bekommen, die sich dieser Aufgabe stellten und es ist auch nach wie vor eine Aufgabe, hier noch mehr zu tun, als wir in der Vergangenheit geschafft haben. M.S.: Ist es gelungen, die ÖTV tatsächlich von unten aufzubauen? Ich bin eher ein bisschen skeptisch aufgrund der Erfahrungen in diesem halben Jahr. Mir scheint, dass es nicht gelungen ist, neue Leute in dem Maße anzusprechen, sich für die ÖTV zu engagieren, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre?
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R.B.: Ja und nein. Wir haben in vielen Bereichen neue Kollegen und Kolleginnen gewonnen, wobei es immer ein Problem war, dass aufgrund des personellen Wechsels der West-Sekretäre eine kontinuierliche Personalrekrutierung nicht stattgefunden hat. Zum Teil hat man versäumt, wirklich Kollegen und Kolleginnen anzusprechen. Ich erlebe das jetzt in meiner neuen Funktion auch wieder, dass mich Kollegen anrufen und sagen: Ich hätte Interesse hauptamtlich zu werden. Sie sich aber nie an die Kreisverwaltung – aus welchen Gründen auch immer – gewandt haben und ich in den letzten vierzehn Tagen eine ganze Reihe von Kollegen und Kolleginnen gefunden habe, die bereit sind, als Gewerkschaftssekretäre in Ausbildung hier tätig zu werden, die auch wirklich von unten kommen, neu gewählte Personalräte waren, die sich im Neuen Forum engagiert haben, die aus der Demokratiebewegung kommen, Demokratie jetzt, Aufbruch ’90, da war alles Mögliche vertreten. Dass man die ganz gezielt ansprechen muss, wenn man sie irgendwo kennenlernt und versucht, sie für so eine Tätigkeit zu gewinnen. Diese Aufbruchphase ist längst nicht abgeschlossen, insbesondere dann, wenn wir jetzt weitere Kreisverwaltungen bilden wollen. Man muss der Personalrekrutierung ein wesentlich stärkeres Augenmerk widmen als es in der Vergangenheit der Fall war. Aber ich würde mal sagen, dass es im Wesentlichen gelungen ist, diese ÖTV von unten neu aufzubauen. M.S.: Wie schätzt du das Engagement der Mitglieder ein, gemessen z.B. an der Wahl der Delegierten zu Kreisdelegiertenkonferenzen? Die wenigen Male, als ich das beobachten konnte, hatte ich nicht den Eindruck einer Aufbruchstimmung. Es schien die Haltung vorzuherrschen: Gut, wir machen eine neue Gewerkschaft, aber es ist nichts Besonderes. R.B.: Das war sehr unterschiedlich, auch von Betrieb zu Betrieb. Da wo es Kollegen in den Betrieben gab, die bereit waren, diesen Erneuerungsprozess voranzutreiben, gab es auch bei Delegiertenwahlen andere Verhältnisse. Es gab leider eine ganze Reihe von Versammlungen, ich habe einige miterlebt, wo die Kollegen nicht bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Weil sie noch nicht wussten, was da auf sie zukam, sie Sorge hatten, wie könnte diese neue Gewerkschaft aussehen, was sie als Delegierte überhaupt machen sollten. Es war ein Stück weit auch noch Uninformiertheit, Skepsis. Negative Erfahrungen sind noch sehr stark vorhanden und die muss man erst durchbrechen. Ich glaube, wenn wir jetzt neue Delegiertenwahlen durchführen, dann werden wir noch mal erleben, also ich sage das voraus, dass ein Großteil neuer Delegierter gewählt werden wird und alte nicht mehr zum Zug kommen. Es waren zum Teil Kollegen, die früher schon mal Funktionen gehabt haben, sei es als Vertrauensmann, sei es als Mitglieder der BGL. Die waren bekannt, konnten auch besser reden und waren deshalb in der Lage, gewisse Positionen zu besetzen. Wobei viele nicht mit den alten Ideologien behaftet waren, sondern sich darum bemüht haben, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Doch jetzt gibt es neue Leute. M.S.: Wie schätzt du die Stimmung jetzt ein? R.B.: Immer noch sehr positiv, gemessen an der ÖTV. Wenn man sich die Meinungsumfragen und die Stimmung anschaut, die da ist, sind die Hoffnungen der Kollegen und Kolleginnen in die ÖTV enorm hoch. Sie trauen uns eine Kompetenz zu, die enorm hoch ist. Sie halten uns für die einzige Kraft, die in der Lage ist, ihre Probleme überhaupt noch zu bewältigen, was Umstrukturierungen der Verwaltung, der Universitäten und des Gesundheitswesens anbelangt. Und wir haben Schwierigkeiten, das auf ein realistisches Maß zu bekommen. Auf allen Ebenen bekommen wir überall neue Strukturen, sei es in den Landesbehörden, sei es in den Sozialversicherungen, sei es in den Kommunalverwaltungen, den Landratsämtern. Überall wird gefragt: ÖTV, was sagst du dazu? Wie sollen
220 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview wir das machen? Von Bürgermeistern über Personalchefs bis hin zu Landesministern. Die fragen uns: Wie stellen sie sich das vor, wie könnte das aussehen? Wir werden in einem Maße gefordert, dass wir die Chancen, die wir haben, nicht optimal nutzen können. Dass die Diskussion um die Zukunft für öffentliche Dienste, die im Westen ja vor einiger Zeit begonnen wurde, hier eigentlich auf sehr fruchtbaren Boden fällt, wir aber nicht in der Lage sind, aufgrund personeller und materieller Voraussetzungen, diese Erwartungen und Hoffnungen erfüllen zu können. Insbesondere, wenn man wieder in Konkurrenz zu westlichen Politikern und Unternehmensberatungen und ähnlichem kommt, die sagen, der gewerkschaftliche Einfluss gehe viel zu weit. Ich erlebe es immer wieder, dass man keine Probleme hat, Termine mit Ministern, Staatssekretären, Bürgermeistern und Oberbürgermeistern zu bekommen, weil die ÖTV auch in den Augen der Verantwortlichen die gestalterische Kraft ist, die von den Belegschaften ernst genommen wird. Unser relativ hoher Organisationsgrad drückt dies nach wie vor aus. M.S.: Obwohl die ÖTV in den Betrieben nur halbwegs existent ist. Also, Vertrauensleutekörper existieren ja noch nicht? R.B.: Das ist richtig. Es entwickelt sich relativ langsam, weil Vertrauensleute und andere Begriffe, die wir verwenden, wie Funktionäre, Begriffe sind, die es früher im alten System gegeben hat. Wir müssen den Mitgliedern erst einmal deutlich machen, was ein Vertrauensmann für Funktionen hat und welche Rolle er spielen kann. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir diese Strukturen stehen haben. Man braucht immer Menschen dafür, die man überzeugt, diese Funktion zu übernehmen und dann als Multiplikatoren tätig zu werden. Ich glaube, wir werden noch ein, zwei Jahre brauchen, um wirklich ähnliche Strukturen zu haben wie im Westen. M.S.: Du bis dann ins zentrale Organisationsbüro nach Berlin gegangen. Welche Funktion hatte dieses Büro in der ganzen Zeit, in der du tätig gewesen bist? R.B.: Wir haben eine sehr entscheidende Funktion gehabt, was den Aufbau der ganzen Strukturen anbelangt, angefangen bei den Geschäftsstellen der ÖTV in der DDR über den Aufbau der Kreisverwaltungen, weil alle wichtigen Vorbereitungen, Abstimmungen, Vorbereitung der Satzung, Personalrekrutierung, Ausstattung und Aufbau der Büros, Funktionsfähigkeit der Büros herstellen, alles über das zentrale Organisationsbüro gelaufen ist und dann natürlich auch viele Auseinandersetzungen damit verbunden waren, zwangsläufig. M.S.: Wie war dein Selbstverständnis in dieser ganzen Zeit? Wie hast du dich selbst eingeschätzt in deiner Tätigkeit? Was hast du geglaubt, was du hier machst? R.B.: Ich glaube, dass ich ein Stück Geschichte mitgemacht habe, dass ich ein Stück weit dazu beigetragen habe, einen sehr, sehr wichtigen Schritt zur Einheit Deutschlands zu tun, der, glaube ich, in meinem Leben einer der wichtigsten Abschnitte überhaupt war.
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Astrid Claus und Doris Schmid ÖTV-Beratungssekretärinnen in Dresden Interview vom 23. August 1993 A.C.: Ich war zum Zeitpunkt der Wende als Referentin im Bundesbeamtensekretariat tätig und habe eine Ausbildung als Gewerkschaftssekretärin gemacht. Von Hause aus war ich Beamtin im gehobenen Justizdienst d.h. als Rechtspflegerin. Ich war 1990 seit knapp zwei Jahren im Bundesbeamtensekretariat tätig mit den unterschiedlichsten Zuständigkeiten: hauptsächlich Krankheitsabsicherung, Altersabsicherung von Beamten. D.S.: Ich habe 1964 als Verwaltungsangestellte bei der ÖTV angefangen, war dann Betriebsrätin und stellvertretende Betriebsratsvorsitzende in der Hauptverwaltung. Ich war die erste freigestellte Betriebsrätin bei der ÖTV und bin 1981/1982 in den ersten Ausbildungsgang für Sekretäre gegangen. Nach Abschluss der Ausbildung bin ich in die Bezirksverwaltung Baden-Württemberg gekommen und war dort für die unterschiedlichsten Bereiche zuständig. Zum Schluss hatte ich die Stationierungsstreitkräfte, die Frauenarbeit und Bildungsarbeit im Bezirk. Vorher war ich auch mal für die Sozialversicherungsträger zuständig. 1990, als die ÖTV in die DDR gegangen ist, war es mir ein persönliches Anliegen, weil ich durch Gespräche im Vogtland – in einer Ferienstätte des FDGB – mit Kolleginnen und Kollegen, zur Erkenntnis gekommen bin, dass die Gewerkschaftsarbeit ganz kaputt geht, wenn wir nicht Unterstützung anbieten. M.S.: Was hast du im Vogtland gemacht? D.S.: Ich war öfter in Berlin und natürlich auch in Ost-Berlin, ansonsten war mir die DDR vollkommen fremd. Nach dem Fall der Mauer und Öffnung der Grenzen haben wir uns in einem Kollegenkreis ganz privat entschieden, durch Kontakte, die ein Kollege privat hatte, ins Vogtland in dieses Erholungsheim zu fahren. Es waren die Beschäftigten des Heims, die uns eingeladen hatten, und so sind wir da hingefahren. Auf einer rein privaten Basis, um mal zu sehen, wie die gewerkschaftliche Situation in der DDR nach dem Fall der Mauer überhaupt war. Da ist ziemlich schnell klar geworden, dass mit dem Fall der politischen Strukturen auch die Gewerkschaftsstrukturen fielen und dass die Tendenz war, gewerkschaftliche Arbeit überhaupt nicht mehr für voll zu nehmen. Als ich wieder zurückkam, habe ich mit meinem Bezirksleiter über die Erfahrung gesprochen, die wir da in den Gesprächen gesammelt haben, und dass die ÖTV dringend etwas tun müsse. Das war Mitte Januar 1990. Dann kam der Hauptvorstandsbeschluss im Februar und den habe ich sehr begrüßt. Die ÖTV hat sich damit relativ frühzeitig entschieden, in die damalige DDR zu gehen. Mich hat der Bezirksleiter angesprochen und gefragt, ob ich Interesse hätte, nach Dresden zu gehen – für Baden-Württemberg. Baden-Württemberg hatte die Patenschaft für Dresden übernommen. Das musste natürlich erst mal privat abgeklärt werden. Es war ja wirklich ein Schritt ins Ungewisse, man wusste überhaupt nicht, was auf einen zukommt. Mein Mann hat das unterstützt, hat aber auch gleich gesagt, nur wenn das befristet sei. Ich musste noch am selben Tag Bescheid sagen. Nachts um 23.00 Uhr habe ich den Bezirksleiter angerufen und angerufen und gesagt: Ok, ich mache es. M.S.: Astrid, wie war es bei dir?
222 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview A.C.: Also bei mir ist das alles ganz anders gelaufen. Ich habe absolut keine privaten Kontakte in die DDR gehabt. Ich durfte selbst aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit damals im Bereich der Gerichte nicht in den Ostblock fahren, weil ich Verschlusssachen bearbeitet habe. Ich hätte fahren dürfen, aber dann hätte ich 15 Seiten Vordrucke ausfüllen müssen. Mich hat das Angebot auf einem Seminar in Berlin ereilt, im BBZ. Da hatten wir unsere beamtenpolitische Arbeitstagung und da rief mich mein Sekretariatsleiter an und sagte: Du, wir suchen aus dem Bereich VS 4 noch jemanden, der in die neuen Bundesländer geht. Ich habe da an dich gedacht, hast du nicht Lust? Da habe ich gefragt: Bis wann muss ich mich entscheiden? Er: Ich brauche deine Zustimmung oder Absage bis heute Abend. Ich habe mit Wilfried von Loewenfeld [Beamtensekretär der ÖTVHauptverwaltung] und mit Leuten, die ich greifen konnte, darüber gesprochen. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht verheiratet, d.h. ich hatte im privaten Bereich nichts abzuklären. Ich wurde am Donnerstag gefragt und am Donnerstagabend habe ich zugesagt. Ich habe aber von vornherein gesagt, maximal sechs Monate, danach sei für mich Schluss. Ich hatte keinen Bock, in den Geruch zu kommen, über diese Sache Karriere machen zu wollen. Der Gedanke war: Für mich sind es sechs Monate, da will ich gerne helfen, aber danach mache ich wieder was anderes, zumal für mich zu dem Zeitpunkt auch etwas anderes bereits in Planung war. Am Freitag bin ich von Berlin nach Hause geflogen, habe meine Wäsche gewaschen und bin am Sonntag wieder nach Berlin geflogen, um zum Einweisungsseminar zu fahren. Auf dem Flughafen haben Doris und ich uns getroffen. Wir kannten uns aus dem Bundesfrauenausschuss. Zu dem Zeitpunkt war noch nicht richtig klar, wo wir hingehen und ob wir zusammen gehen. Das haben wir erst in Berlin erfahren und das hat uns richtig gefreut, weil wir die einzigen waren, die zu zweit in einen Einsatz gehen konnten. Es hat sich bewahrheitet, was wir gleich zu Anfang gedacht hatten, dass das für uns ein unschätzbarer Vorteil sei. Also abends gemeinsam reflektieren können, was am Tage abgelaufen war und zu überlegen, was wir da eigentlich für Erfahrungen gemacht hatten. Wir sollten nach Dresden, womit wir in einer besonderen Situation waren. Es gab keinerlei Kontakte über Telefon oder Funktelefon in den Westen. Wir waren im Tal der Ahnungslosen. Hinter Leipzig fing es an. Wir mussten von Dresden aus in Berlin bei der Gisela Winter-Sucker [Mitarbeiterin im Informationsbüro des ÖTV-Hauptvorstandes] anrufen und sagen: Gisela, ruf` doch mal zu Hause an und sag` mal Bescheid, das und das ist los. D.S.: Das war uns nicht klar in Berlin. Wir wussten im Grunde überhaupt nicht, was auf uns zukommen sollte. Das war aber eigentlich auch das Spannende an der Geschichte. das was uns Spaß gemacht hat. So richtig aus den alten Strukturen ausbrechen, in denen wir jahrelang, Astrid weniger lang, gearbeitet hatten, auch im ehrenamtlichen Bereich. Ich kam nach vielen Jahren ÖTV-Tätigkeit praktisch in ein unbekanntes Feld. Wir wussten nicht: Wie ist das, wenn wir jetzt in Dresden auftauchen? Können sie uns wieder rausschmeißen, d.h. des Landes verweisen? Es war ja immer noch Ausland für uns. Da waren viele Sachen unklar. Selbst das, was man versucht hat, uns zu vermitteln. Oder die, die versucht haben, herauszukriegen, was sie uns vermitteln wollten, wussten gar nicht, ob das tatsächlich so läuft oder nicht. Conny Hintz war ja schon mal ein paar Tage oder eine Woche drüben und hat ihre Erfahrungen eingebracht, die sich aber nachher bei uns in der Praxis ganz anders herausgestellt haben, weil es in jeder Stadt auch anders war aufgrund der Situation. Wir sind im Grunde total ins Ungewisse gefahren. A.C.: Wir hatten das Glück, dass wir in Berlin einen Kollegen aus Dresden kennengelernt hatten, den Heinz Schäfer. Parallel zu unserem Einweisungsseminar war ein Semi-
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nar für interessierte Kolleginnen und Kollegen aus der DDR. Und da haben wir uns gesagt: Mensch, vielleicht ist da jemand aus Dresden dabei. Und es gab einen Kollegen, einen Handwerker von der TU. Das war unser allererster Kontakt, den wir in Dresden hatten und er hat uns weitere Kontakte vermittelt. Über ihn haben wir den Kontakt zur IG Transport gekriegt. Er hat einfach gesagt, da gehe ich mal vorbei und mache einen Termin mit denen ab und dann könnt ihr da hin. Das sind die Kontakte, wo man sagen kann, wir sind Freunde geworden. D.S.: Auch heute noch. Die Kontakte sind nach wie vor da. Ja, der Heinz mit Familie, das sind wirkliche Freunde geworden. Ich werde das nie vergessen, wie wir ankamen in Dresden. Wir kriegten hier noch einen Stadtplan und sind sonst auf blauen Dunst hingefahren. Es war ein so schlechtes Wetter und es war alles grau in grau. Wenn du auf der Autobahn über diesen Berg kommst, siehst du die Stadt und da liegt so eine richtig schöne Braunkohlesmogglocke drüber. Und wir sagten uns: Ok, jetzt kehren wir um, wir fahren sofort wieder nach Hause. Es war wirklich grausig, als wir da ankamen. D.S.: Vor allem, du kanntest niemanden. Wir sind mit Astrids Wagen gefahren, und da war alles drin. Da war unser ganzes Büro drin. Also das Flugblattformular vom Hauptvorstand, der Beschluss des Hauptvorstandes und vom Bezirk haben wir eine kleine Schreibmaschine gekriegt. A.C.: Und einen Fotokopierer. D.S.: Ja, das war unser höchstes Gut, der Kopierer. Der war wirklich etwas Besonderes da drüben. Und dann eben Notbehelfe. Jeder hatte etwas in seine Tasche gepackt bekommen, und das war es dann. M.S:. Mit welchen Vorgaben seid ihr rüber? Was solltet ihr denn überhaupt machen? A.C.: Das ist eine gute Frage. Kontakte knüpfen, informieren über die ÖTV, über die Gewerkschaftsbewegung im Westen, unterstützen, wenn es um Personalratswahlen ging, Hilfestellungen geben, beraten. D.S.: Kontakte herstellen zu Gewerkschaftern, zu Parteien und sonstigen Organisationen, Zeitungen, Presse und was uns so alles einfiel. Und eben informieren. Das war bei uns in Dresden ein halbes Jahr die Grundaufgabe. Im Gegensatz zu anderen Beratungsbüros, wo du westdeutsches Fernsehen hattest. Dresden war tatsächlich ein Tal der Ahnungslosen. M.S.: Gab es Vorgaben, dass ihr keinen Kontakt zu FDGB-Gewerkschaften aufnehmen solltet? A.C.: Das ist unserem Fingerspitzengefühl überlassen geblieben. Uns ist gesagt worden, es könnte Probleme geben. Doch ist uns sehr viel freie Hand gelassen worden. Da ist gesagt worden: Ihr müsst einfach selbst vor Ort sehen, wenn ihr die Leute vor euch habt und auch aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die ihr dann kennen lernt, was das für Menschen sind. Wir hatten total unterschiedliche Strukturen, wir hatten Bereiche, die hatten nach der Wende völlig neu gewählt, da war niemand mehr von den Alten. Und wir hatten Bereiche, da ist überhaupt nicht gewählt worden, da war alles alt und wir hatten Bereiche, da ist gewählt worden, und trotzdem sind die Alten wieder da gewesen. Also, es gab völlig unterschiedliche Strukturen und es gab eben Bereiche, die hatten überhaupt keine Vertretung, also Feuerwehr und so etwas. Da gab es das nicht, weil die als Teil der bewaffneten Organe eine ruhende Gewerkschaftsmitgliedschaft hatten. Also, wir hatten die unterschiedlichsten Voraussetzungen. Wir haben dann erst einmal ver-
224 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview sucht, in Kontakt zu kommen mit den Leuten vom Neuen Forum, vom Runden Tisch, um über diese Schiene in deren Gewerkschaftsarbeit reinzurutschen. D.S.: Die SPD hat sich als sinnlos erwiesen. Da war wirklich das Neue Forum am günstigsten. Ja, es hat sich eben so ergeben, auch mit den Einzelgewerkschaften – wie Astrid schon gesagt hat – war es ganz unterschiedlich. Und es war wirklich gut, dass man uns nicht gesagt hat: Mit den alten Gewerkschaften auf keinen Fall. Wir haben ganz, ganz positive Erfahrungen gemacht und es waren auch Leute dabei, die heute hauptamtlich bei der ÖTV sind, eine ganze Reihe sogar in Dresden. M.S.: Wie waren konkret die ersten Schritte? Wie habt Ihr angefangen? A.C.: Am ersten Tag sind wir erst mal zu den Zeitungen marschiert. Wir haben am Anfang erst mal alles zu Fuß gemacht, um ein bisschen die Stadt kennen zu lernen. Wir haben eine Pressemeldung gemacht und die haben wir bei der Sächsischen Zeitung vorgelegt. Die haben zwar über uns einen Artikel gebracht, der war nicht negativ. Das hat aber nicht viel gebracht. Es wäre Blödsinn gewesen, da noch viel weiter zu machen. Dann waren wir bei den Parteien. M.S.: Was heißt das? A.C.: SPD damals, es war ja Wahlkampf für die Volkskammer. Da waren zwei westdeutsche Parteileute, ein Hamburger und einer aus Baden-Württemberg. Parteisekretäre von der SPD und ansonsten Dresdener, die das mehr schlecht als recht gemacht haben. Die hatten noch diese Arbeitsmoral, die in der DDR vorgeherrscht hat: Freitag nach eins – macht jeder seins. Um 13.00 Uhr ist Schluss und wenn Feierabend ist, dann ist auch Feierabend. Es war egal, ob noch eine Parteiveranstaltung war, das Büro war leer. Da haben immer die zwei Wessis die Parteiarbeit gemacht. Wir haben auch gemerkt, dass es ziemlich chaotisch war bei der SPD. Dort gab es keine Möglichkeiten. Sie hatten mit sich selbst zu tun. Wie gesagt, einer war auch noch DAG-Mitglied. Die, mit denen wir den allerbesten Kontakt gekriegt haben, waren vom Neuen Forum. Sie hatten in Dresden schon zwei Arbeitskreise. Der eine beschäftigte sich mit Betriebsräten und dem Betriebsverfassungsgesetz und der Bildung von Betriebsräten, auch mit Erfolg schon, und der andere mit Gewerkschaften, mit der Zukunft von Gewerkschaften. M.S.: Mit wem habt Ihr es zu tun gehabt? A.C.: Einer war Betriebsratsvorsitzender von den Dresdener Verkehrsbetrieben – der Mathias Schmiedgen. Den haben wir da kennen gelernt. Ansonsten sind es keine Leute gewesen, die mit unserem Organisationsbereich zu tun hatten. Der Mathias war eigentlich unser Ansprechpartner. Oder habe ich jemand vergessen? D.S.: Von der AdW, der Akademie der Wissenschaften, der war bei einem Institut, mit dem haben wir später viel zu tun gehab. Wir sind regelmäßig eingeladen worden und sind darüber zu unseren Kontakten gekommen. Der Mathias Schmiedgen hat einen Termin bei den Dresdener Verkehrsbetrieben für uns ausgemacht. Sie haben uns dann eingeladen und gesagt, kommt Freitag mal her, da sind Leute von der IG Transport. Das war unser erster offizieller Termin in der Ritzenbergstraße, in dem ehemaligen FDGB-Haus. D.S.: Das Schöne daran war, einen Tag vorher hatte Heinz Schäfer angerufen und gesagt, da kommen zwei Mädchen aus Stuttgart von der ÖTV. Und dann haben sie gesagt: Ja, sie sollen mal vorbeikommen. Wir hatten uns vorgestellt, dass wir zunächst mit den Leuten von der IG Transport reden. Aber weit gefehlt, wir hatten unsere erste größere Veranstal-
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tung an diesem Tag, weil der damalige Bezirksgeschäftsstellenleiter – heute Bezirkssekretär in Sachsen – sofort tätig geworden ist und seine ganzen BGLer angerufen und eingeladen hat. Als wir kamen, warteten sie schon draußen ganz nervös, Als wir tatsächlich kamen, waren sie ganz selig. Ich glaube, es sind ihnen Zentnersteine 'runtergefallen. Da haben wir unsere erste Informationsveranstaltung bei der IG Transport gehabt. M.S.: Wie lief das ab? Worüber habt Ihr informiert? D.S.: Halt über den DGB. Da musstest du über alles informieren. Sie hatten keine Ahnung von den Strukturen. Die ÖTV ist eine von 16 Einzelgewerkschaften im DGB. So hat es immer angefangen. Ja, so ging das ein halbes Jahr immer wieder. Ich habe zum Beispiel in den fünf Monaten von den 75 Treffen der IG Transport fast 50 besucht. Und überall musstest du erst mal erzählen, weil sie in Dresden wirklich keine Ahnung hatten. Wer die ÖTV, wer der DGB ist und die ganzen politischen Entwicklungen und Strukturen. M.S.: Wie haben die Leute reagiert? Waren sie wissbegierig, waren sie misstrauisch, wie war die Stimmung? D.S.: Sie haben uns ein Loch in den Bauch gefragt. Wir haben von da an sofort Termine gehabt. Wie ein Schneeballsystem. Es entwickelte sich erst mal in dem ganzen Transportbereich, und dann haben wir nach und nach auch die anderen Gewerkschaften in unserem Orgabereich bekommen, die in dem Haus mit saßen. A.C.: Sie sind zum Teil auf uns zugekommen. D.S.: Und haben gesagt: Nun sollen sie auch mal bei uns vorbei kommen. Da ist dann relativ schnell der Kontakt zur Gewerkschaft Wissenschaft dazu gekommen und zur Gewerkschaft Gesundheit und Sozialwesen. A.C.: Es hat sich seltsamerweise unheimlich schnell herumgesprochen, dass wir da waren. Es war gar nicht so, dass wir immer Kontakte aufnehmen mussten. Es sind auch viele zu uns gekommen. Also, wie die das immer herausgekriegt haben? Manche haben uns sogar privat angerufen, obwohl wir uns zurückgehalten haben mit unserer Privatanschrift. Da war plötzlich wieder ein Zettel im Briefkasten, weil wir viel unterwegs und auch übers Büro nicht erreichbar waren. Es war irre, wie die Leute auf uns zugekommen sind. Und unheimlich wissbegierig. Wenn wir in eine Veranstaltung gegangen sind, haben wir zentnerweise Material verteilt, und es wurde uns aus der Hand gerissen. Sie haben es auch gelesen. Bei uns verteilst du viel, und dann haben die Leute die Schränke und die Schreibtische voll, aber keiner liest. Aber sie haben es gelesen und sind anschließend gekommen und haben Fragen dazu gestellt. Das war unwahrscheinlich. Wie gesagt, was sie wissen wollten, war: Wie funktionieren Gewerkschaften im Westen, was sind Tarifverträge, Betriebs- und Personalräte und die Gesetze dazu? Das war das Wesentliche. D.S.: Was ist die Aufgabenteilung zwischen Betriebs- und Personalräten und Gewerkschaften, und das alles. A.C.: Und jeder hat gefragt: Habt ihr auch Ferienheime, wie ist das mit der Sozialversicherung und diese Geschichten. Das war immer lustig. Weil sie die Gewerkschaft eben immer ganz anders kennen gelernt hatten, als verlängerten Arm der Partei. Viele wussten gar nicht, dass die Gewerkschaft gar keine Sozialversicherung ist. Und dann – wie gesagt – eben als wichtigste Aufgabe: der Feriendienst.
226 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: In der Zeit damals lief die Auseinandersetzung innerhalb des FDGB, ob überhaupt Betriebsräte/Personalräte aufgebaut werden sollen. Habt ihr damit etwas zu tun gehabt? Seid ihr in diese Auseinandersetzung mit einbezogen worden? A.C.: Wir haben von Anfang an sehr wenig Kontakte zum FDGB selbst gehabt. Erst einmal wollten die zu uns keinen Kontakt, dann ist uns von vielen Seiten auch abgeraten worden. Wir haben uns eher auf den Kontakt zu den Einzelgewerkschaften beschränkt, mit denen wir direkt zu tun hatten. Das hat denen fürchterlich gestunken. Die haben auch versucht, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Wir haben die Diskussion um das Gewerkschaftsgesetz mitgekriegt, die über die Tribüne gelaufen ist. Da haben wir sehr stark diskutiert. Wir haben versucht klarzumachen, welche Problematik z.B. in einem parlamentarischen Vetorecht von Gewerkschaften liegt, dass wir eine völlig andere Auffassung haben, dass wir uns in bestimmte Sachen nicht einbinden lassen, um frei zu bleiben in der Diskussion. Aber ansonsten sind wir nicht einbezogen worden. Das war uns dann nachher ein Vorteil, weil wir mit keinem von den FDGB-Leuten in Verbindung gebracht worden sind. D.S.: Wir haben uns lieber mit den Einzelgewerkschaften getroffen. Wir haben regelmäßige Diskussionsrunden gemacht z.B. mit der IG Transport. Das hat sich früh herauskristallisiert. Wir haben uns die Bereiche aufgeteilt. Das war auch das Positive anderen gegenüber. Wir sind also nicht überall herumgesprungen, sondern jeder hatte seine speziellen Bereiche, für die er zuständig war. Bei der IG Transport hatte der Roland Erhardt unmissverständlich klar gemacht, dass die IG Transport irgendwann in die ÖTV übergeht. Die IG Transport hatte sich erst nach dem Fall der Mauer gegründet. Sie hieß früher Transport- und Nachrichtenwesen. Das waren alles überwiegend neue Leute. Deswegen konnten wir immer zusammen auftreten. Wir sind von Anfang an gemeinsam unterwegs gewesen und haben im Bereich der IG Transport für eine gemeinsame ÖTV werben können. M.S.: Du auch, Astrid? A.C.: Ich habe ganz andere Bereiche gehabt. Von der Arbeit her war mein Bereich der öffentliche Dienstbereich und da hatte ich mit der Gewerkschaft MSK bzw. dann Gewerkschaft Öffentliche Dienste zu tun. Mit denen hatte es von Anfang an Schwierigkeiten gegeben. Sie haben eine Chance gesucht, über uns ihre Arbeitsplätze abzusichern und als sie gemerkt haben, dass dem nicht so ist, wurde es immer schwieriger. M.S.: Kannst du das konkret schildern? A.C.: Am Anfang haben sie versucht, sich bei uns anzubiedern, so nach dem Motto, wir könnten ja alles gemeinsam machen. Als sie, bzw. einzelne Leute, mir ein bisschen suspekt geworden sind, mir aus den Betrieben heraus gesagt wurde, wenn ihr kommt, bitte ohne die, bin ich zunehmend allein hingegangen. Dann hat man versucht, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Es sind ganze Gewerkschaftsleitungen aufgefordert worden, nicht mit mir zu reden und sonst was alles. Aber das ist ihnen nicht gelungen, weil das Vertrauen in die alte MSK dermaßen zerstört war, dass die Kollegen eine echte Alternative gesucht haben und gar kein Interesse mehr daran hatten, mit den MSK-Leuten zusammen zu arbeiten. M.S.: Dann sind die Leute aus den Betrieben direkt auf dich zugekommen? A.C.: Sie sind direkt auf mich zugekommen und die Kontakte sind total an der Gewerkschaft vorbei gegangen. Ich habe darüber meine Kontakte in die Dienststellen hinein
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gekriegt, Rat des Kreises, Rat des Bezirkes und das alles. Über Kontakte, die Wolfgang Warburg hatte, haben wir den Arnold Schmidt kennen gelernt aus Meißen. Zu dem Zeitpunkt gründete sich die Abteilung Feuerwehr. So bin ich praktisch in Dresden in die Feuerwehr reingekommen. Ich bin dann sofort eingeladen worden, denn sie hatten ja gar keine Gewerkschaft. Ja, ich glaube, jeder von uns hat so seinen Bereich, wo er am liebsten reingegangen ist. Die Feuerwehr, das war für uns ein Bereich, da konnten wir uns immer drauf verlassen. Wenn wir Hilfe brauchten, waren sie da. Und sie haben uns genau wie die Verkehrsbetriebe, relativ wenig Arbeit gemacht, weil sie schnell eigenständig geworden sind. Sie haben schnell selbst gearbeitet, weil sie es auch gewohnt waren, nicht groß herumzureden, sondern zu machen. Wenn wir sie brauchten, haben sie uns immer geholfen. Wenn wir die beiden Bereiche nicht gehabt hätten, vom Möbelräumen bis hin zur Organisation, wäre es schwierig gewesen. Auch die Kontaktvermittlung, weil z.B. die Feuerwehr über den Brandschutz in jedem öffentlichen Gebäude drin war. Dadurch hatten sie in jedem Bereich Ansprechpartner, dadurch habe ich wieder Leute kennen gelernt. Der zweite Schwerpunkt, der sehr viel schwieriger zu beackern war, war der Bereich Wissenschaft. Da lief am Anfang die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Wissenschaft sehr gut, bis die GEW anfing herumzuraten. Dabei gab es erhebliche Auseinandersetzungen, weil der Eiertanz der Gewerkschaft Wissenschaft zwischen der ÖTV und der GEW anfing. Als sich abzeichnete, dass der Professor Menzer, der Leiter der Gewerkschaft Wissenschaft in Dresden, sich erhoffte, von der GEW eine Arbeitsstelle zu kriegen, hat er versucht, sich gegenüber uns total abzuschotten. Aber zu dem Zeitpunkt war es zu spät für ihn. Da hatten wir bereits 80% der Institute der Akademie der Wissenschaft auf unserer Seite per Beschlüssen, die da gefasst worden sind. M.S.: Welche Beschlüsse? A.C.: Die Institute der Akademie der Wissenschaft, das sind ja eine Menge im sächsischen Raum gewesen, haben Kontakte untereinander gehabt in ihren Betriebsgruppen. Sie haben Beschlüsse gefasst, dass sie sich nicht als Betriebsgruppe zwischen zwei Gewerkschaften aufspalten wollten sondern sich als Betriebsgruppe für eine Gewerkschaft entscheiden wollten. Da haben sich 80% der AdW-Leute für die ÖTV ausgesprochen. M.S.: Für die ÖTV in der DDR? A.C.: Sie haben nicht unterschieden zwischen ÖTV und ÖTV in der DDR. Wir hatten nie einen Riesenzulauf zur ÖTV in der DDR. M.S.: Gab es überhaupt bei euch in Dresden so eine Initiative? D.S.: Nein. Es ist so gewesen, dass bei uns die Leute gesagt haben, was soll denn der Mist, wir wollen in die Gesamt-ÖTV, wir wollen nicht in die ÖTV in der DDR. Sie sind alle auf die ÖTV eingeschworen gewesen. Es gab ganz wenige, die überhaupt nicht mehr mit ihrer Gewerkschaft konnten, meistens aus dem Öffentlichen Dienst, also aus dem Bereich der Gewerkschaft Öffentliche Dienste und zum Teil einige Institute aus dem Bereich Wissenschaft, die seit Monaten schon bei ihren Gewerkschaften keinen Beitrag bezahlt haben und gesagt haben: Die kriegen von mir keinen Pfennig mehr, ich warte nicht mehr, ich gehe jetzt direkt in die ÖTV in der DDR. Aber es war minimal in Dresden. Es gab kein Interesse, und wir haben es auch nicht forciert. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass wir das richtigerweise nicht forciert haben. Wir sind nicht in die Betriebe gegangen und haben auf Teufel komm raus geworben, sondern wir haben gesagt: Ihr habt beide Möglichkeiten. Damals stand ja schon fest, dass am 1. November sechs DDR-Einzelgewerkschaften sich mit der ÖTV zusammenschließen wollen.
228 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Da haben wir gesagt: Ihr habt beide Möglichkeiten, ihr könnt jetzt in die ÖTV-DDR und über die ÖTV-DDR in die ÖTV oder aber ihr kommt mit eurem ganzen Betrieb am 1. November zu uns. Das hat die Masse gemacht. Wir haben nicht versucht, die Betriebe zu sprengen in zwei verschiedene Lager, sondern wir haben ihnen einfach gesagt: Ihr habt die Chance, ihr könnt es auf jeden Fall, aber ihr habt zwei mögliche Wege. Wir haben die Leute nicht gedrängt, sondern ihnen ihre eigene Entscheidung überlassen, wann sie zur ÖTV kommen wollten. Das war richtig. Dresden hat die zweitmeisten Mitglieder gehabt. A.C.: Aber es hat auch eine Menge Auseinandersetzungen gegeben. D.S.: Doch wir können uns heute noch in Dresden blicken lassen, jederzeit. Wir werden heute noch eingeladen und unsere Namen fallen noch. Also, wir kriegen immer Grüße ausgerichtet. A.C.: Und da bin ich stolz darauf. Nach dem 1. November war die TU in Dresden die größte Betriebsgruppe, die die ÖTV gehabt hat. Da hat die GEW nicht einen Stich gemacht, und zwar noch nicht einmal beim wissenschaftlichen Personal. M.S.: Wie war es im Gesundheitswesen? D.S.: Das Gesundheitswesen war ja der Bereich, den ich mitgemacht habe. Es waren eigentlich zwei kritische Bereiche: Gesundheitswesen und der Energiebereich. Der Bereich Gesundheitswesen hatte noch mal einen zweiten Kongress abgehalten, auf dem sie sich entscheiden wollten. Der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft Gesundheitswesen Treibmann war ein Arzt aus Pirna, und der hat sich von der DAG einkaufen lassen. Peter Herold war, als wir kamen, noch ehrenamtlicher Funktionär im Krankenhaus Friedrichstadt und die damalige Bezirksgeschäftsstellenleiterin ist mit fliegenden Fahnen zu uns gekommen. Wir haben dann so nach und nach erfahren, dass sie in ihrer Amtszeit früher sehr strikte Maßnahmen gegen ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen gefahren hat. Sie hat eine sehr starke Gegnerschaft gehabt. Wir wussten nicht so richtig, wie das einzuschätzen war. Dann hatten sie eine Bezirkskonferenz und dort ist Peter Herold zum Vorsitzenden und sie abgewählt worden. Zu Peter hatten wir von Anfang an Kontakt. Die Diskussionen gingen dann los, ob die GSW zur DAG tendiert oder zur ÖTV. Da hat es in Dresden aber auch Betriebe gegeben, die die ÖTV eingeladen haben und anschließend die DAG. Das war sehr schwierig und problematisch für mich, die ÖTV als wirklich sehr starke Gewerkschaft darzustellen. Das ging bis in die kleinen Gliederungen hinein: z.B. war in Görlitz eine riesengroße Veranstaltung. Da waren alle BGLer aus dem damaligen Kreis Görlitz da. Zwei Tage vorher war die DAG da, und dann kam ich. Das war so eine Mischung, da wusstest du nicht, wo geht das hin. In Meißen, die Kollegin ist heute Geschäftsführerin der ÖTV, die war voll auf ÖTV-Seite und die Dresdener waren voll auf ÖTV-Seite. Einmal war eine Großveranstaltung in einem größeren Krankenhaus in Dresden, da hatte ich die ganze DAG-Führungsschiene dabei. Sie hatten damals diese Campingwagen für die Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen angeheuert und sind mit diesen Wagen quer durch die Lande gefahren. Die DAG hat ganz gezielt und bewusst Reklame für sich gemacht: Kommt zur DAG, dann könnt ihr als Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen eigenständig bleiben, praktisch als Einzelgewerkschaft der DAG. Das war natürlich für einige interessant, nachdem sie nun endlich aus dem FDGB rauskamen, mal selbständig zu sein. Mit der ÖTV würden sie ja wieder ihre Selbständigkeit verlieren. Dieser zweite Gewerkschaftskongress hat dann die Entscheidung gebracht. 96% der Delegierten haben sich für die ÖTV entschieden. Ich weiß noch, Peter Herold
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hat angerufen und gesagt: Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft, 96% für die ÖTV. Damit war dann alles klar. Aber es ist ein schwerer Kampf gewesen. M.S.: Wie lief es im Energiebereich? D.S.: Das war eine Horrorgeschichte. Wir haben die Gewerkschaften, die nicht auf uns zukamen, natürlich auch besucht. Wir waren also auch bei der Gewerkschaft BergbauEnergie-Wasserwirtschaft. Da saßen zwei Alte, zwei Uralte, kannst du da sagen. Mit denen haben wir Gespräche geführt. Die waren sehr höflich, haben aber gleich gesagt, dass kurz vorher die IG Bergbau-Energie sie besucht hätte. Sie waren ganz überrascht, dass die ÖTV für ihren Bereich zuständig sei. Die mauerten von Anfang an. Sie haben uns zugesagt, dass wir die Möglichkeit kriegen, ins Energiekombinat zu kommen, aber das hat absolut nicht geklappt. Über diesen Weg war es überhaupt nicht möglich reinzukommen. Irgendjemand hatte mal angerufen aus dem Energiekombinat und sich gemeldet. Die wollten irgendwas von uns haben. Die hatten in der Zeitung gelesen, dass es uns gibt. Sie hatten einen Betriebsrat, der überhaupt keine Funktion gehabt hat. Der war gewählt, aber war vollkommen abhängig von der BGL und der BGL-Vorsitzende war voll auf die Energiegewerkschaft eingerichtet. Ich habe es zwar mal geschafft, eine Vertrauensleutesitzung zu besuchen, die war größer als eine Mitgliederversammlung bei uns, aber du hast gemerkt, da ist immer wieder die IG Bergbau-Energie zum Tragen gekommen. Da haben wir ganz schlecht Fuß gefasst. Wir waren auch nicht in der Lage, uns mit so einem Betrieb auseinanderzusetzen, und vor allen Dingen war da auch kein Wollen. Du kamst über diesen BGLer nicht hinaus. Zu dem haben alle hoch geguckt und den haben alle akzeptiert und ich würde sagen, der hat uns benutzt. Der ist zu uns gekommen, wenn er was gebraucht hat. Anders war es natürlich bei der Stadt Dresden, das hat Astrid gemacht. Da hat es gut geklappt. A.C.: Ja, sicher. Zu dem Zeitpunkt war das aber noch sehr stark bestimmt durch eine starke Abstinenz gegenüber Gewerkschaften. Gerade in der Stadt und im Rat des Bezirkes. Die hatten sich alle zurückgezogen und gesagt, jetzt stecke ich meinen Kopf nicht raus. Die haben gesagt, so und so viel Personal müsse hier weg. Und dann haben sie Horrorgeschichten gehört, natürlich auch von den Beratern, den Besserwessis, die kamen und ihnen erzählt haben, dass sie jetzt erst einmal arbeiten lernen müssten. Die sind durch die Gegend gelaufen wie die Axt im Walde. Es war eine absolute Katastrophe. Die gescheiterten Existenzen aus dem Westen haben denen erzählt, wie das Arbeiten laufen müsse. Bis hin zu Leuten, die gesagt haben, sie dürften sich nicht in einer Gewerkschaft organisieren, das wäre verboten. Es war eine starke Zurückhaltung da. Sie haben sich zwar als einzelne informiert, aber immer darauf gewartet, dass die Gewerkschaft kommt und für sie die Kohlen aus dem Feuer holt. So nach dem Motto: Warum muss ich mich kümmern, Gewerkschaft, geh hin, regele mal, wenn du geregelt hast, dann komme ich. Das war ein ziemliches Problem am Anfang. Es hatte noch kein großer personeller Wechsel stattgefunden. Es waren in vielen Fällen die Leute da, die früher auch da waren, zutiefst verunsichert, weil sie überhaupt nicht wussten, was los ist. Es war ein geordnetes Chaos, das in Ämtern und Behörden herrschte. Wenn man behauptet hat, das sei zulässig, haben sie es geglaubt, weil keiner mehr wusste, nach welchen Vorschriften überhaupt noch gehandelt werden sollte. Es lief alles kunterbunt durcheinander, und es war sehr früh klar, spätestens im Mai nach den Kommunalwahlen, dass Sachsen rechts abdriftet, mit der DVU usw. Dann kamen die ganzen Wessis, die sie sich als Bürgermeister geholt haben. Am schwierigsten war es immer dann, wenn sie sich einen Pfarrer geholt haben. D.S.: Ja, Pfarrer waren überall.
230 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview A.C.: Die Pfarrer als Landräte propagierten den großen dritten Weg: Wir brauchen keine Gewerkschaften, wir leben das alles in christlicher Nächstenliebe. Dann haben sie die Leute geheuert und gefeuert, wie es ihnen mal so passte. Dann haben wir gesagt: Passt mal auf, liebe Leute, so geht es nicht. So geht es auch unter dem so genannten Kapitalismus nicht. Sie waren wirklich bass erstaunt, dass es im Westen auch Regularien gibt und dass es so einfach nicht läuft. Wir haben manchmal ganz dreist behauptet, so nicht und sind da in vielen Fällen auch mit durch gekommen. D.S.: Das war das Schöne an der Sache, dass du an einem vorbei mal Sachen machen konntest. Ich denke jetzt an die Misstrauensvoten, die da abgemacht worden sind, z.B. im Kraftverkehr Pirna. Da war bekanntermaßen der staatliche Leiter ein ehemaliger MfSMann. Da gingen wunderliche Dinge vor sich. Es wurden Leute entlassen und es kamen immer neue dazu. Nun wussten alle ganz genau, das waren alles ehemalige Stasi-Leute, die untergebracht wurden. Die Alten wurden entlassen und die Stasi-Leute wurden untergebracht. Ich weiß noch, es war Gründonnerstag, da kamen sie zu uns und haben gesagt: So und jetzt ist Schluss, die haben hier nur MfS-Leute. Wir haben gefragt: Könnt ihr das beweisen? Beweisen konnten sie es nicht. Nun ging das hin und her. Da haben wir uns darauf geeinigt, dass sie ein Misstrauensvotum machen. Sie haben damit dem Rat des Kreises gedroht: Leute, wir machen, wenn ihr den nicht abzieht, ein Misstrauensvotum der Belegschaft. Da ist er abgesetzt worden. Das waren zum Teil BGLer, zum Teil eine Initiative zur Wahl eines Betriebsrats. Das haben einige Betriebe gemacht, auch in diesem Alten-Pflegeheim. Feierabendheime hießen die. D.S.: Sie haben auch ein Votum durchgezogen und die Leiterin ist ebenfalls abgesetzt worden. Ich weiß noch, da kam unsere damalige Mitarbeiterin und hat gesagt: Mensch, ich kriege das immer mit, wie ihr das macht. Meine Freundin, die ist im Hotel und da sind auch ganz schlimme Zustände. Sagt mir doch mal, in welchem Gesetz steht das bei euch? Da habe ich gesagt: Sei schön ruhig, sprich gar nicht darüber. Das steht in keinem Gesetz. Das hatte den Nachteil, dass manche geglaubt haben, sie könnten jetzt mitbestimmen, wer ihr Chef wird oder nicht. In einem Betrieb waren sie tief enttäuscht und stinksauer, als wir gesagt haben: Leute, ihr habt da keine Mitbestimmung, wenn der Chef eingesetzt wird. Solche Sachen kamen auch vor. Das war herrlich, das war wunderschön. Was wir gesagt haben, war eben der Katechismus. Das stimmte. Da haben wir einiges bewegen können. Das wird sich nicht wiederholen, weder hier noch drüben. A.C.: Ein interessanter Bereich in Dresden war der militärische Bereich. Im Bereich Öffentlicher Dienst war ich u.a. auch für die Militärakademie in Dresden zuständig. Da ist für den Bereich des Heeres der gesamte Offiziersnachwuchs ausgebildet worden. Sie galt als Kaderschmiede. Zu denen haben wir relativ gute Kontakte gehabt, sowohl in den militärischen Bereich selbst als auch zu den Offizieren, die da gelehrt haben, auch zu den Zivilbeschäftigten. Wir haben zu dem Zeitpunkt das Glück gehabt, Leute aus unserem Bereich mit hinnehmen zu können. Da ist damals Albert Faden [Rentner, ehemaliger Sekretär der ÖTV-Hauptverwaltung] als ehemaliger Soldat da gewesen, und der war für die ein Aha-Erlebnis. Wenn jemand mit langen Haaren und Bart ankommt und sagt: Passt mal auf, liebe Leute, ich war Soldat. Da guckten sie schon ein bisschen sparsam. Dann war Heinrich Linden [Sekretär der ÖTV-Hauptverwaltung, Referat Gebietskörperschaften] da und sagte: Ich bin bundeswehrmäßig ein bisschen vorbelastet. Also ich kenne mich zumindest in den Bereichen aus, damit sie mir kein X für ein U vormachen können.
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Bei denen war es noch so, die hatten doch gar keine Arbeitskampfmöglichkeiten. In der Problematik, warum jemand, der kein Streikrecht hat, oder dem es zumindest bestritten wird, sich organisieren soll, war ich als Kollegin aus dem Beamtensekretariat sehr gut. Das ist gut angekommen, wie überall im öffentlichen Dienst. In dem Moment, als sie mitgekriegt haben, dass ich Stallgeruch habe, also dass ich aus dem Bereich komme, war es schon fast eine Bank. D.S.: Wobei wir darüber hinaus auch Hilfestellung bei der Bildung von Betriebs- und Personalräten geleistet haben. Rein vom Gesetzestext her war das AGB ja wesentlich besser als das Betriebsverfassungsgesetz. Da sind eine ganze Reihe von Regelungen drin, die wünschte ich mir im Betriebsverfassungsgesetz. Nur sind sie halt nie genutzt worden. Wenn man die reine Gesetzgebung genommen und umgesetzt hätte, wären ganz gute Regelungen heraus gekommen. A.C.: Das Problem war bloß die unterschiedliche Einstellung. Bei uns ist es so, dass wir sagen, was uns nicht verboten ist, ist erlaubt. Und die sind davon ausgegangen, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist erst mal verboten. Das ist eine völlig unterschiedliche Herangehensweise, d.h. wenn nicht ausdrücklich drin stand, dass sie irgendetwas durften, dann haben sie es erst mal nicht gemacht. Wir haben dann gesagt: Passt mal auf, da steht eine Generalklausel drin, da könnt ihr erst mal alles machen. D.S.: Gerade wo es noch BGLen oder überwiegend BGLen gab, haben wir oft gesagt, Mensch, ihr habt da Mitbestimmungsregelungen. Doch die kannten oft gar nicht ihr AGB, weil sie es nie genutzt haben und danach haben sie gehandelt. Die Gewerkschaft im Betrieb war die BGL und wenn die BGL ihre Rechte tatsächlich wahrgenommen hätte, hätte sie wesentlich mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gehabt als sie tatsächlich genutzt haben. Die BGL war eine Machtstellung im Betrieb, das muss man schon sehen. Die Einzelgewerkschaften haben, als der FDGB noch stark war, gar keine Funktion gehabt. Da hat der FDGB praktisch alles gemacht und alles bestimmt. Aber nach der Wende war das schon anders. Da haben die Einzelgewerkschaften versucht sich darzustellen und ihre Rechte wahrzunehmen. Die BGL praktisch der verlängerte Arm ihrer Gewerkschaft. Sie haben schon sehr umfassende Mitbestimmungsmöglichkeiten gehabt. Das muss man schon sagen. M.S.: Soweit ich weiß, waren die Betriebs- und Personalratswahlen am Anfang gegen die BGL gerichtet, sie waren zur Aushebelung der alten BGL gedacht? D.S.: Jein. A.C.: Das war unterschiedlich. Die haben teilweise gesagt: Ich bleibe im Amt, bis die Betriebsräte ordentlich gewählt sind und dann gebe ich mein Amt ab, einfach um einen geordneten Laden zu übergeben. D.S.: Z.B. bei den Verkehrsbetrieben war das ein unheimlich gutes Miteinander. Die BGL war ganz neu gewählt und parallel dazu hat der Mathias [Schmiedgen] die Betriebsratswahlen betrieben. Da war z.B. ein freigestellter BGLer auch Mitglied des Betriebsrates. Also, das ist miteinander gelaufen, die haben kooperiert. Sicher hat es anfangs auch Schwierigkeiten gegeben. Das ist ja klar, wenn du zwei Gremien hast. M.S.: Warum sollte ein BGLer sagen: Wir lösen uns auf und wählen stattdessen einen Betriebsrat oder Personalrat, wenn die BGLer eine viel stärkere Machtposition hatten?
232 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview A.C.: Da ist es so gewesen, dass sie sich gesagt haben: Wir ziehen uns auf die Gewerkschaftsaufgaben zurück. D.S.: Die Verkehrsbetriebe waren sowieso etwas Besonderes. Sie hatten schon sehr früh einen betrieblichen Runden Tisch, da war ich mit dabei. Wenn ich nicht direkt dabei war, habe ich im Hinterzimmer gesessen. Sie sind immer mit ihren Papieren gekommen. Die sind wir durchgegangen, und dann sind sie wieder ab in die Sitzung. Da waren BGL und Betriebsrat immer gleichrangig nebeneinander. Damals war das eben noch so, dass die BGL noch die gesetzliche Interessenvertretung war, und von daher wurde sie auch so belassen. Die hat sich aufgelöst als das Betriebsverfassungsgesetz Gültigkeit hatte, so dass es immer eine gesetzlich abgesicherte betriebliche Vereinbarung gab. Wobei aber der Betriebsrat dank einer Betriebsvereinbarung auch seine Funktionen hatte. Das war klar abgegrenzt und geregelt. Du musst dich in die Zeit hineinversetzen, die waren im Umbruch und waren euphorisch. Ich weiß noch, wir haben es immer vermieden, zu sagen, was sie jetzt im Westen verdienen würden. Wir haben immer die Lohn- und Gehaltstabellen ganz weit weg gepackt, dass sie da gar nicht groß `rankamen. Speziell in Dresden, weil sie das überhaupt nicht zuordnen konnten. Ich war in einer Veranstaltung beim Kraftverkehr Dresden. Da wurde ich auch wieder gefragt, Was würde ich verdienen, wenn ich jetzt im Westen wäre? Und ich habe dann versucht zu erklären, dass man das nicht vergleichen könne, weil Einkommen und Kosten und die Abzüge unterschiedlich seien und dass es ein total schiefes Bild gäbe, auch weil die Preise damals noch anders waren. Ich habe versucht zu erklären, dass man bei uns im Laden zwar alles kriegt, aber dass es eben viele Hausfrauen gibt, die gucken, was es an Sonderangeboten gibt und danach einkaufen müssen, weil sie das Geld eben nicht haben. Da bin ich fast beschimpft worden als verkappte Kommunistin. Die haben mir das nicht geglaubt in Dresden. A.C.: Bis dann die Wessimärkte einzogen. D.S.: Sie waren so euphorisch, so blauäugig, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Speziell in Dresden war das ganz, ganz schlimm, weil sie überhaupt keine Informationen von außen hatten. Alles was aus dem Westen kam, war richtig und gut, alles. Da sind die ja so über den Tisch gezogen worden – streckenweise. Astrid hat schon immer gesagt: Die, die den meisten Zulauf haben werden, sind die Schuldnerberatungsstellen des DGB. Und genauso hat sich das später bewahrheitet. A.C.: Das ging mit dieser Autokauferei los, als die Gebrauchtwagenhändler kamen. Da kamen wir einmal zu einem Bekannten und da sagte ich: Du, sag mal, da unten steht ein großer BMW vor der Tür? Ja, das ist meiner. Ich sagte: Wovon willst du dir den denn leisten? Er sagte, wenn er den jetzt nähme, brauche er erst ab Juli zu bezahlen. Ich fragte ihn: Wovon willst du denn die Raten bezahlen? Wenn du mit den Raten in Rückstand kommst? Es ist jetzt schon zu viel, wenn du Arbeit hast, aber lass dich mal arbeitslos werden. Maximal ein halbes Jahr und sie pfänden dir den Wagen unter dem Hintern weg. Ja, aber dann habe ich ein halbes Jahr einen BMW gefahren. Das war deren Einstellung. Ich habe mir immer gesagt: Da kannst du nichts mehr machen. Sie haben uns vieles nicht geglaubt. Sie haben wirklich geglaubt, dass wir Schwarzmalerei betrieben. M.S.: Seid ihr in politische Diskussionen hineingezogen worden? A.C.: Überhaupt nicht. Wir sind nicht in politische Diskussionen hineingezogen worden. Wir haben nur versucht, ein bisschen zu bremsen in der Euphorie. Wir haben beide noch die Veranstaltung von Helmut Kohl auf dem Altmarkt in Dresden mitgemacht, wo sie alle „Helmut, Helmut“ geschrieen haben. Wir haben gesagt: Passt mal auf, liebe Leute,
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wenn er alles durchsetzen will, was er euch versprochen hat, das klappt nicht, geht nicht. Bloß sie konnten, weil sie so etwas nicht kannten, die Wahlversprechen nicht realistisch betrachten. Wir haben immer versucht, uns aus der politischen Auseinandersetzung heraus zu halten. D.S.: Das war auch gut so. A.C.: Wir haben kein Hehl daraus gemacht, dass wir beide eine bestimmte Überzeugung haben. M.S.: Wie war denn eure politische Einschätzung damals? Was war eure Position? D.S.: Also, ich bin sozialdemokratisch geboren und aufgewachsen und in der Funktion sehe ich mich heute noch, bei aller Kritik, die ich heute für meine Partei habe. M.S.: Ich meine jetzt in Bezug auf die Einheit. D.S.: Dass die Vereinigung unsere Einstellung war, dass das der richtige Weg ist, das nicht. Mich hat immer wahnsinnig gestört, wenn die Wessis die Ossis belehren wollten. Wir haben die ganze Zeit, die wir da waren, versucht, mit den Menschen zu leben, so wie sie dort lebten, und versucht, sie zu verstehen. Wir sind nie als Besserwessis aufgetreten wie viele andere. A.C.: Heute sind wir Dresdener, wo wir hinkommen. D.S.: Ja, die Ossis aus Wessiland haben sie immer zu uns gesagt. Sicher war die Einheit politisch Ok, wenn man im Nachhinein guckt. Wenn man die Entwicklung in der damaligen Sowjetunion nimmt und nachvollzieht, war es vielleicht richtig, die Einigung zu wollen und zwar schnell. Aber zum damaligen Zeitpunkt habe ich das als falsch angesehen, weil die Leute vom Westen über den Tisch gezogen worden sind. Sie haben überhaupt nicht nach Luft schnappen können, um das nachzuvollziehen. Und zum damaligen Zeitpunkt habe ich das für falsch gehalten. M.S.: Noch einmal zurück zur ÖTV in der DDR. Habt ihr Aufnahmeformulare verteilt? A.C.: Doch, wir haben verteilt. Wer von uns Aufnahmescheine haben wollte, hat sie gekriegt. D.S.: Wir haben sie allen angeboten. Wir haben die Leute nicht überfahren, die Leute haben selbst entschieden, was sie machen wollten. Da waren Betriebe dabei, die haben angerufen und gesagt, wir haben uns entschieden. Da haben sie ihre Aufnahmeformulare gekriegt und sind aufgenommen worden. A.C.: Wir sind nicht mit dem großen Käscher herumgelaufen und haben die Leute eingefangen. Darüber hat es ja erhebliche Auseinandersetzungen im Beraterkreis gegeben. Das Kooperationsabkommen schloss eigentlich aus, dass wir offensiv in die Betriebe reingehen und für die ÖTV in der DDR werben. Wir haben gesagt: Passt mal auf, liebe Leute, der Abrechnungstag ist der 1. November. Wir haben mit Genuss verfolgt, dass Dresden der größte Bezirk wurde. D.S.: Der zweitgrößte. Das hat uns sehr gut getan. A.C.: Das war damals so, dass die Bezirksleiter diese Rennlisten hatten. Da haben wir im Beraterkreis auch Ärger gekriegt, weil ich gesagt habe, ich mache diese Rennlisten nicht mit. Als jeder abgefragt wurde, sagte der eine, ich habe 6.000, der andere, ich 4.000, und
234 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview wir haben gesagt, wir haben 600, aber wir machen das nicht mit. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Gründung der ÖTV in der DDR, in der Form, wie sie gemacht wurde, `rausgeschmissenes Geld war. Wobei wir aber nicht dagegen gearbeitet haben, das möchte ich betonen. Dresden war auch anders. Andere haben gesagt, die stehen bei uns vor der Tür und schreien: Wir wollen in die ÖTV, wir wollen eine eigene ÖTV. M.S.: Wann seid ihr wieder weg gegangen aus Dresden? D.S.: Ende Juli. Eine Kleidergröße haben mich die fünf Monate gekostet. A.C.: Ja, mich auch. D.S.: Wir haben wirklich, also man kann jetzt nicht sagen, dass vorher nicht gearbeitet hatten, aber das waren tatsächlich Tage, da bist du morgens um vier aufgestanden. Um sieben Uhr ist die rushhour vorbei gewesen. Wenn du fünf nach sieben durch die Stadt gefahren bist, ist kein Mensch mehr auf dem Arbeitsweg gewesen. Sie haben alle schon gearbeitet. Wenn ich z.B. bei der Weißen Flotte in Dresden eine Vertrauensleutesitzung hatte, ging die um fünf oder halb sechs los und dann bist du eben um vier aufgestanden. Du bist aber trotzdem nicht vor zehn, elf wieder nach Hause gekommen. Wir hatten zum Schluss die Abmachung, dass, wenn wir uns zu Hause sehen, nicht mehr über die ÖTV reden, weil wir festgestellt haben, dass unser Nervenkostüm dünn wurde. Wir sind jeden Morgen um sieben im Büro gewesen. Du hast oft nicht mal Zeit gehabt, einen Kaffee zu machen, weil die Leute schon vor der Tür standen, weil das Telefon klingelte. Was Telefon in der DDR bedeutete, weißt du ja. Du hast kaum was verstanden. Da standen Leute draußen, Leute drin, du hattest Besprechungen. Ab Mai hatten wir dann eine Mitarbeiterin. Vorher haben wir alles alleine gemacht. Das war Wahnsinn. Unsere uns lieb gewonnenen Kollegen, also die Feuerwehr oder die Verkehrsbetriebe, die sind gekommen und haben gesagt: Leute, jetzt laden wir euch einfach mal zum Essen ein, ihr sollt uns hier nicht zusammenklappen. Mittags haben wir durchgearbeitet und plötzlich war es abends. Wir haben uns am Wochenende von zu Hause Essen und Zeug für den Haushalt mitgebracht. Ich habe manchmal am Tag nur eine Gurke bis abends gegessen. A.C.: Jetzt im Nachhinein sagen sie, es hat sehr viel gebracht, es ist eine andere Art von Gewerkschaftsarbeit gewesen, weil es sehr viel mehr auf persönlicher und Freundschaftsbasis gelaufen ist. Ganz einfach, weil man sich helfen musste. Das war so herrlich, du musstest deine Sachen entscheiden, du konntest keinen fragen. D.S.: Toll war das, ja. M.S.: Ihr habt nach einem halben Jahr mit einem guten Gefühl eure Zelte abgebrochen? D.S.: Traurig, traurig war es, ganz traurig. Irgendwie war es genug, irgendwo war es befriedigend, weil wir wirklich sagen können, in den fünf Monaten etwas auf die Beine gestellt zu haben. Auf der anderen Seite war es furchtbar traurig, weil das eine so gute Zusammenarbeit war. Es ist ein Erlebnis auf einer menschlichen Ebene im Umgang gewesen. Das hat natürlich wehgetan, von den Leuten wegzugehen. Wir haben eine rauschende Party gemacht, wir sind überhäuft worden mit Blumensträußen und Geschenken, das war fast nicht zum Aushalten. Also, das war echt irre. Sie kamen von überall her, als sie hörten, dass wir weggehen. Das war fast wie eine Hochzeit, so sind wir verabschiedet worden.
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Mathias Feldmann Vorsitzender des Gesamtgewerkschaftsrats der BVB Interview vom 9. März 1992 M.F.: Geboren bin ich am 16. September 1960 in Dresden. Ich bin auch in Dresden zur Schule gegangen und habe dort meinen Abschluss der 10. Klasse gemacht. Anschließend habe ich eine Ausbildung gemacht, Berufsausbildung mit Abitur. Ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt. Das ist ein Zwischenelement gewesen zwischen Abitur und Lehrausbildung. Man hat beides in einem gerafften Zeitraum von nur drei Jahren zusammen gemacht. Ich habe das Abitur bestanden und gleichzeitig eine Facharbeiterprüfung zum Baufacharbeiter abgelegt. Anschließend habe ich ein Studium aufgenommen an der Verkehrshochschule in Dresden in der Studienrichtung Eisenbahnbau und dort in der Fachrichtung Brückenbau, Hochbau. Ich habe im Frühjahr 1985 mein Studium abgeschlossen und dann in Dresden selbst keine mir zusagende Möglichkeit zum Arbeiten gefunden. Deshalb bin ich nach Berlin gegangen und habe dort bei den Berliner Verkehrsbetrieben im Ostteil der Stadt gearbeitet. Speziell im Bereich der Straßenbahnen, im Gleisbau, und war dort mitverantwortlich für die konzeptionelle Vorbereitung und Durchführung von Gleisbauarbeiten, besonders im Straßenland. Diese Tätigkeit habe ich bis zur Wende gemacht. Du hast gefragt, wie ich die Wende persönlich erlebt habe? Das ist natürlich nicht ganz so einfach darzustellen. Ich muss dazu sagen, dass ich in einem 1000%igen Elternhaus aufgewachsen bin. Das heißt, meine Eltern waren beide Mitglieder der SED und demzufolge ist in den ersten Jahren, wo man eine starke Bindung an das Elternhaus hat, die Erziehung entsprechend gewesen. Das heißt, man ist ideologisch ein ganzes Stück vorgeprägt gewesen. Die ersten Erkenntnisprozesse in die Richtung, dass alles so nicht stimmen kann, wie man das damals vermittelt bekommen hatte, sind vor allem in meiner Lehrzeit auf dem Bau gereift. Ich sage mal, auf dem Bau, weil das ursächlich damit zu tun hat. Dort wurde man mit aller Macht mit der Realität konfrontiert, wie es eben tatsächlich in der Produktion aussieht oder dort, wo die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit verrichten. Dort fing also langsam der Umdenkungsprozess an. Natürlich kann man sich vorstellen, wenn man durch das Elternhaus geprägt ist, dass das ein Prozess ist, der nicht von heute auf morgen abzuschließen ist. Ich habe, wie gesagt, mein Studium aufgenommen. Es ist ja allgemein bekannt, dass Studenten etwas kritischer mit ihrer Umwelt umgehen. Das ist in meinem Fall genauso gewesen. So ist dieser Entwicklungsprozess fortgeschritten, dass also die reine Ideologie, die man in der Schule und in meinem Fall vom Elternhaus vermittelt bekommen hat, nicht das sein kann, was Tatsache ist, dass da eine ganze Menge an Unwahrheiten und Lügen dabei ist. Es gab auch in der Studentenschaft in der ehemaligen DDR ganz bestimmte Bewegungen, wie die Bewegung "Schwerter zu Pflugscharen". Das war eine Bewegung in Richtung Pazifismus, die im großen Stile verboten wurde. Da war ich mit dabei. Dort haben die Prozesse angefangen. Wir haben Schweigemärsche gemacht gegen die Militarisierung der DDR. Das waren die Anfänge, wo ich persönlich mit dringesteckt habe. Natürlich bin ich in zunehmendem Maße zum Abschluss meiner Entwicklung zu dem Punkt gekommen, wo ich mir sagte, jetzt gehst du in Opposition. Ich muss mal dazu sagen, es gehörte eine ganze Menge dazu, innerhalb eines solchen Staates auf Konfrontationskurs zu gehen. Ich habe, wie gesagt, bei der BVB meine Arbeit aufgenommen, bin dann mittlerweile verheiratet gewesen und bekam zwei Kinder. Wenn man eine Familie hat, ändert sich die Sachlage sowieso noch ein Stück. Dann ist man für die Familie mitverantwortlich. Dass
236 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview die bescheidenen finanziellen Mittel, die man mit der Arbeit schaffen konnte, sozusagen gesichert sind, damit die Familie zumindest in halbwegs gesicherten Verhältnissen aufwachsen kann. Wobei ich da keineswegs unterschlagen will, dass die ganzen ideologischen Verhältnisse, die gesamte Beeinflussung, auch der Kinder, in der Schule, was ich mitbekommen habe, eine riesengroße Rolle gespielt haben. M.S.: Wie würdest du, nachdem du auf dem Bau gearbeitet und gesehen hast, wie die Wirklichkeit aussieht, den Widerspruch zwischen Ideologie und Propaganda und dem was wirklich war, benennen? M.F.: Das war ein Widerspruch, den man im Kopf selbst erst mal überhaupt nicht lösen konnte, weil man noch an ganz bestimmte Sachen geglaubt hat. Ganz einfach, dass es eben richtig ist, so wie es ist, z.B. kleine Sachen, dass man eben generell ein Verbot hatte, Plastiktüten mit Westwerbung mit in die Schule zu nehmen. Oder dass uns generell verboten war, Kaugummibilder in der Schule zu tauschen oder dass uns anfangs sogar verboten war, Jeans zu tragen, weil das eben alles aus dem Westen kam, vom Klassenfeind. Das war schlecht, egal, wie man das als Kind oder Jugendlicher empfunden hat. Auf dem Bau wurde man mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Ich meine, ein Bauarbeiter hat auch bei uns kein Blatt vor den Mund genommen. Da ist gesagt worden, was ist. Also Engpässe in der Materialbereitstellung oder Schlamperei auf dem Bau, oder wenn man sich die Alkoholprobleme anguckt. Aber allein was mit dem technischen Ablauf innerhalb der Baumaßnahmen zu tun hatte, da ist man auf eine ganze Menge von Engpässen gestoßen. Man hat auch gemerkt, diese Verbote, die wir als Kinder in der Schule bekommen haben, dass das im Prinzip vollkommener Quatsch war. Dort ist man offen mit den Plastiktüten durch die Gegend gelaufen, da hat man sich unterhalten über Radiosendungen, die vom sogenannten Klassenfeind gekommen sind. Fernsehen konnten wir in Dresden ja nicht empfangen, da waren wir auf das DDR-Programm angewiesen. So hat man gemerkt, dass das ein vollkommener Widerspruch gewesen ist. Einmal das rigorose Verbot für Kinder, auf der anderen Seite haben sich die Erwachsenen in dem Bereich vollkommen anders verhalten. Oder in ganz bestimmten Gesprächen, dass man unzufrieden war. Z.B. hat diese Reiseproblematik immer eine große Rolle gespielt. Da ist man auf die Probleme gestoßen, die tatsächlich bestanden haben. M.S.: Hast du mit deinen Eltern, mit deinem Vater darüber geredet? M.F.: Ja, sicher. Das blieb nicht aus. Bei meiner Mutter habe ich aus welchen Gründen auch immer ein Stück Verständnis finden können, aber mit meinem Vater ist das überhaupt nicht möglich gewesen. Der war in dieser Situation ein Betonkopf. Das hat zu ziemlich starken Spannungen zwischen uns geführt, die erst heute, einige Jahre nach der Wende, halbwegs ausgeräumt sind. Das ist auch für meinen Vater ein Prozess gewesen. M.S.: Wie hast du die Wende erlebt? Du hattest erwähnt, dass du Familie gehabt hast und dich nicht mehr so stark in der Friedensbewegung engagieren konntest? M.F.: Das ist richtig. Die Möglichkeiten hätte ich durchaus gehabt, mich wirklich zu engagieren in der Vorwendezeit. Ich spreche jetzt nicht von 1989, ich spreche von den Jahren davor, sagen wir mal, seit ich nach Berlin gekommen war, so `86, `87. Das habe ich damals nicht gemacht. Ich habe zwar einen lockeren Kontakt gehabt zu bestimmten Mitgliedern aus den Gruppen, aber nie direkten. Ich habe mich, das muss man heute sagen, nie zu dem Schritt durchringen können, dort aktiv mitzuarbeiten. Mir ist damals klipp und klar gesagt worden, wenn du das machst, gehst du bestimmte Risiken ein, auch
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persönlicher Art. Dass du verfolgt wirst, dass du gegebenenfalls mit einer Festnahme zu rechnen hast, etc. M.S.: Wer hat dir das gesagt? M.F.: Na, mit denen ich Kontakt hatte. Das waren Bekanntschaften, die ich teilweise noch aus Dresden kannte, die noch von der Studienzeit herrührten, die in den Gruppen aktiv mitgearbeitet haben. Ich bin, nachdem ich in dem Betrieb angefangen habe, für kurze Zeit in einem kleinen Betriebsbereich FDJ-Funktionär gewesen. Dem Bereich haben ungefähr zehn bis fünfzehn Jugendliche angehört. Wir haben natürlich keine Welten bewegt. Wir haben jeder mal eine kulturelle Veranstaltung organisiert. Weiß ich was, einen Kegelabend oder ein Faschingsvergnügen oder so. Das hat mich alles nicht befriedigt, weil man die Probleme, die an sich bestanden, über diese Schiene überhaupt nicht bewegen konnte. Was manche gesagt haben, ich steige mal ein Stückchen höher in der Organisation, um an den Grundfesten zu rütteln, das habe ich nie gemacht, weil ich die Chancen als sehr schlecht aufgefasst habe, dass man in diesen festgefahrenen Gleisen überhaupt irgendeine Veränderung reinbringen konnte. Das hat dazu geführt, dass dieses Ohnmachtsempfinden, an den politischen Gegebenheiten nichts verändern zu können, verstärkt wurde durch das Wissen, wenn ich etwas ganz aktiv mache, dann muss ich mit Repressalien rechnen. Dazu kam die berufliche Entwicklung, dass man an einer ganz bestimmten Stelle stehen geblieben ist. Ich bin, seit ich bei der BVB angefangen hatte, alle vier Wochen ungefähr, zu meinem damaligen Direktor und der damaligen Parteisekretärin bestellt worden und sollte überzeugt werden, in die SED einzutreten, damit meine Karriere nach oben hin offen sei. M.S.: Das wurde dir als Begründung auch so gesagt? M.F.: Ja. Das ist mir direkt gesagt worden: Tritt ein, sonst ist auf einer bestimmten Leitungsebene Schluss. Da habe ich mich nicht erweichen lassen. Wobei das belastend ist, wenn das über einen längeren Zeitraum geht. Das ging über ein reichliches Jahr, diese Gespräche, die ich wirklich regelmäßig hatte. Da ist mir gesagt worden, auf einer bestimmten Leitungsebene, das war der Gruppenleiter, das ist die unterste Leitungsebene, die es gab bei uns, da ist Schluss für dich, da kannst du noch so gut sein, wie du willst. Das ist der zweite Aspekt, der in den ganzen Problemkreis mit hineinreichte: Wir haben uns entschieden, einen Ausreiseantrag zu stellen, die DDR zu verlassen und uns eine neue Existenz in der BRD auszubauen. Wir hatten die Absicht, nach West-Berlin zu gehen, weil wir auch verwandtschaftliche Beziehungen dahin hatten. Gleichzeitig damit lief mein Austritt aus der FDJ und aus der Gewerkschaft. Das ist ja dann wohl selbstverständlich. M.S.: Wann hast du einen Ausreiseantrag gestellt? M.F.: Das ist eine gute Frage. Wann habe ich das denn gemacht? Das war 1988, Anfang 1988 habe ich den Ausreiseantrag gestellt. Dann ist die Zeit danach relativ wichtig. Man ist überall ausgetreten. Das ist natürlich für die Familie, für die Beziehungen, für den persönlich Betroffenen, also für meine Frau und für mich, eine extreme Belastung gewesen. Wobei ich sagen muss, dass es eine ganze Menge Fälle gab, denen es schlechter ging als mir. Ich habe da insofern Glück gehabt, dass ich einen Vorgesetzten hatte, der sich schon immer nie der großen Linie der DDR angepasst hat. Der diese ganze Geschichte moderat gehalten hat. Das ist mir zugute gekommen. Nichtsdestotrotz ist es eine wahnsinnige Belastung gewesen. Man ist zu den entsprechenden Gesprächen gewesen, mit
238 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview dem ganzen Drum und Dran. Leider ist dann Folgendes passiert, dass meine erste Ehe unter anderem mit an diesem Problem gescheitert ist. Es ist leider zur Scheidung gekommen, und im Zuge dessen haben wir dann den Ausreiseantrag zurückgezogen, weil es für einen Alleinerziehenden mit zwei Kindern fast unmöglich gewesen wäre, sich eine Existenz aufzubauen. Und außerdem waren 1989 die ersten Veränderungen im Gefüge der DDR festzustellen. Natürlich fielen in diesen gesamten Zeitraum mit der Ausreiseantragstellung auch die ersten Aktivitäten meinerseits, die dann ein Stück in Richtung Öffentlichkeit gingen. Erst einmal im Betrieb, da man sich dort etwas offener über die ganzen Probleme unterhalten hat. Ende 1988, Anfang 1989 deuteten sich ja tatsächlich die ersten Veränderungen an. Man hat angefangen mit Erklärungen oder mit offenen Briefen, die Kollegen mitunterzeichnet haben, die sich an die entsprechenden Entscheidungsträger der DDR richteten. M.S.: Nenn’ mal ein konkretes Beispiel? M.F.: Müsste ich überlegen, damit ich mit der Zeit nicht ganz durcheinander komme. Mit dem Reisegesetz z.B. Das ist eine solche Geschichte gewesen. Bloß haben wir uns ganz konkret dazu geäußert. Da ist, glaube ich, Anfang 1989, schon einmal eins im Gespräch gewesen, das ist dann auch verabschiedet worden. Also solche Geschichten. Da haben wir angefangen, uns darum zu kümmern. Da hat man auch angefangen, an die FDGBFunktionäre entsprechende Schreiben zu richten. Dass also in der inneren Struktur und Organisation der Massenorganisationen und Gewerkschaften sich entsprechende Änderungen vollziehen. Dann fing die Entwicklung der massenhaften Ausreise an. Das ist im Sommer 1989 gewesen. Das haben wir wirklich ganz intensiv beobachtet. Ob das nun richtig war oder nicht, das sollte man heute nicht bewerten. Wir waren der Meinung, dass diese massenhaften Ausreisen zwar auf der einen Seite negativ sind, weil eine Menge Fachkräfte aus der DDR abgewandert sind, aber auf der anderen Seite positiv, weil es die politisch Verantwortlichen zum Handeln gezwungen hat. Irgendetwas mussten sie daraufhin tun. Dann kamen die Ereignisse in China dazwischen. Die haben in der ganzen Entwicklung eine große Rolle gespielt. Dann sind die ersten größeren Aktionen, zumindest in Berlin, das kann ich beurteilen, gelaufen. Protestaktionen öffentlicher Natur gegen die Bluttaten von Peking. Die sind als Tatsache um die Welt gegangen. Das war schon ein komisches Gefühl, wenn man selbst zu diesem Zeitpunkt auf die Straße gegangen ist und gegen irgendetwas protestiert hat. Es war ein ganzes Stück Angst dabei. M.S.: Das wurde von den Friedensgruppen organisiert, zu denen du Kontakt hattest? M.F.: Zu denen ich ein Stück Kontakt hatte, ja. Das nannte sich „Trommeln für China“, da ist eine Kirche, Invalidenstraße, Ecke Brunnenstraße, in Berlin Ost, von der wurde das organisiert. Das waren die ersten öffentlichen Aktivitäten. Da habe ich sogar noch Bilder von. Die Kirche ist ein spezieller Teil gewesen in der China-Aktion. Nun hat man gesehen, wozu das Regime in der Lage gewesen wäre, wenn das Ruder aus der Hand läuft. Ganz einfach brutale Gewalt anwenden gegen den politischen Gegner. Dann fing die Entwicklung an mit den Montagsdemonstrationen, Leipzig als Vorreiter, das ist ja soweit bekannt. Es ist in Berlin problematischer gewesen, eine Opposition auf die Beine zu stellen. Nichtsdestotrotz lief das in Berlin speziell auf den Bereich der Kirchen konzentriert. Also die Mahnwachen der Gethsemanekirche oder entsprechende Demonstrationen und Kundgebungen, aber immer noch mit einem relativ kleinen Personenkreis, wenn ich mal von der Einwohnerzahl Berlins ausgehe – und immer mit einer riesigen Gefahr verbunden.
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Das waren Aktionen, wo ich mittlerweile aktiv mit dabei gewesen bin, wenn irgendetwas war, wenn eine Truppe gegen Regierung und Staat demonstrierte oder für Reisefreiheit, das ist ein großes Thema gewesen. Niemand hat damals von der Einheit Deutschlands gesprochen. Das ist aus irgendeinem Grund gar kein Thema gewesen. Es ging um die Probleme, die uns ganz speziell angingen: Stasi, Reisefreiheit, Willkür und Unterdrückung. Es gab auch Viele, die gesagt haben, du spinnst ja, das stimmt alles nicht, das ist überhaupt nicht wahr, du kannst deine Meinung äußern und dir passiert überhaupt nichts. Brutalität und Gewalt ist nicht. Es gab ein Schlüsselerlebnis, das war der 7. Oktober. Der letzte DDR-Feiertag, der begangen worden ist – 40 Jahre DDR. Es war eine Wahnsinnspräsenz auf den Straßen von Staatssicherheit und Polizei. Damit hat man eine richtige Angstpsychose bei der Bevölkerung geschaffen. Ich war wieder verheiratet und habe zwei Kinder. Meine Familie war mit unterwegs. Wenn die Familie dabei ist, hält man sich verständlicherweise ein Stück fern. Wir sind aber durch Zufall in eine Demonstration geraten und haben dort miterlebt, wie sie auseinandergeknüppelt wurde, wie die Menschen in Ikarus-Busse reingepfercht wurden, sofern sie erwischt worden waren, wie sie abgefahren wurden. M.S.: War das tagsüber oder war das diese berühmte Demonstration am Abend? M.F.: Das war tagsüber. Das hatte mit dem Abend nichts zu tun. Das sind solche Schlüsselerlebnisse, die man gehabt hat. Da konnte ich auch nicht mehr anders: jeden Montag war ich mit dabei. Da habe ich kennengelernt was Angst ist. Man ist teilweise um sein Leben gerannt. Ich habe insofern Glück gehabt, dass sie mich nie irgendwo zugeführt haben, wie das damals hieß. Da bin ich immer drumherum gekommen. Dann kam die Entwicklung innerhalb des Politbüros und des Zentralkomitees. Also die Abwahl von Honecker, und dann kam Krenz. Dann kam für Berlin an sich ein ganz wichtiger Zeitpunkt, das war der 4. November, die große Demonstration, die von den Kulturschaffenden organisiert und ausgerufen worden war. Das war eine machtvolle Demonstration. Da waren so viele Menschen auf dem Alex, das war einfach beeindruckend. Dass man einmal mit Transparenten durch die Straßen laufen konnte, wo wirklich kritische Sachen draufstanden. Wo man sich gegen Politbüro, Zentralkomitee, die uns ja damals noch vorstanden, öffentlich wenden konnte, und nichts ist den Leuten passiert. Das war eine völlig neue Erfahrung. Interessant ist in dem Zusammenhang noch, wenn man sich die Redner anschaut, die auf der abschließenden Kundgebung gesprochen haben. Da war zum Beispiel Markus Wolf mit dabei gewesen, Günter Schabowski war mit dabei gewesen. Es ist schon interessant, dass sich die Leute immer noch getraut haben, sich da hinzustellen und dem Volk irgendetwas zu verkünden. Mit diesen Entwicklungen in der Öffentlichkeit, der Runde Tisch war mittlerweile installiert, fingen auch die ersten Veränderungen innerhalb des Betriebes an. Man hat sich die Oberen von Gewerkschaft und Partei zu Aussprachen auf die Dienststellen geholt. Da hat man gemerkt, dass da überhaupt nicht viel rauskommt. So ist man dazu gekommen, in den einzelnen Bereichen auch Runde Tische einzurichten. Wir hatten kein Personalvertretungsgesetz, wir hatten nur die Gewerkschaft als unseren Vertreter. Also haben wir gesagt, Runder Tisch, das ist es. Da haben wir damals auch richtig Wahlen durchgeführt. M.S.: Wer saß damals an diesem Runden Tisch? M.F.: Auf Dienststellenebene. Wir haben das auf unserer Dienststelle, Gleisbaubereich der Straßenbahn, organisiert. M.S.: Wie viele Leute waren da?
240 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.F.: Auf Arbeitnehmerseite ungefähr vier oder fünf und auf Arbeitgeberseite eben die Leitungsebene. Also die Dienstvorgesetzten, die Hauptabteilungsleiter und Abteilungsleiter. Dann haben wir uns über Probleme unterhalten, weniger politischer Natur sondern fachlicher Natur. M.S.: Und die BGL hat sich da nicht eingemischt und nur zugeschaut, oder? M.F.: Die haben sich nicht eingemischt, nein. Das haben wir für uns gemacht. Wir hatten natürlich parallel dazu eine AGL, eine Abteilungsgewerkschaftsleitung, die aber mehr oder weniger ihre Arbeit eingestellt hatte. Die BGL hatte solchen Einfluss in unserem Bereich sowieso nicht. Wir haben das versucht, für uns zu lösen. Innerhalb der Gewerkschaftsorganisation im Betrieb ging auch eine entsprechende Veränderung vor, weil die gemerkt haben, die nimmt eh keiner mehr ernst, die will keiner mehr haben. Die Kolleginnen und Kollegen wollten einfach eine, der Zeit entsprechende, neue Organisationsform. Wir hatten ja bloß einen FDGB. Es wurde beschlossen, so genannte Gewerkschaftsräte zu bilden. Sagen wir mal einen Vorläufer von Personalräten, so kann man das vielleicht bezeichnen. Die Gewerkschaftsräte sind offiziell und fast demokratisch gewählt worden. Fast demokratisch deshalb, weil nur Gewerkschaftsmitglieder wählen durften. Vom Strukturaufbau in den kleinen Zellen, wo vorher eine Abteilungsgewerkschaftsleitung war, hatten wir nun kleine Gewerkschaftsräte und nach dem Vorbild eines Gesamtpersonalrates einen Gesamtgewerkschaftsrat gebildet. M.S.: Von wem kam diese Idee, Gewerkschaftsräte zu bilden? Gab es eine führende Gruppe, die Vorschläge gemacht hat? Das musste doch alles irgendwie organisiert werden? M.F.: Das ging noch über den damaligen FDGB, also über die bestehenden Gremien des FDGB. Vertrauensleute hatten wir ja auch. Die entsprechende Gewerkschaftsleitung hat praktisch auf Druck von Kolleginnen und Kollegen sich dazu durchgerungen, dass sie zurücktritt und Gewerkschaftsräte wählen lässt. Der Ausdruck wurde bewusst gewählt, damit man merkt, hier fängt irgendwie Neues an. Das fing bei mir persönlich auch an. Von meiner Dienststelle bin ich für den Runden Tisch gewählt und dort zum Sprecher der Arbeitnehmervertreter gewählt worden. Dann bin ich entsprechend in den Gewerkschaftsrat Straßenbahn gewählt worden. Wir haben in meinem Bereich eine Persönlichkeitswahl gehabt, die ich gewonnen habe. So bin ich in den Vorstand vom Gewerkschaftsrat gekommen und darüber in den Gesamtgewerkschaftsrat. Der war mit einem Gesamtpersonalrat zu vergleichen. Im August `90 wurde ich Vorsitzender vom Gesamtgewerkschaftsrat. Nun haben wir aber ein halbes Jahr übersprungen. Das ist genau der Zeitpunkt, wo die ersten engeren Kontakte zur ÖTV stattgefunden haben. M.S.: Die Kritik am FDGB fing im Herbst an. Wie hast du das erlebt? M.F.: Also erlebt haben wir die ganze Geschichte, die du nur auf den FDGB bezogen hast, nebenbei gesagt, da spielt die Siedlung Wandlitz mit rein, das ganze ausschweifende Leben auch der FDGB-Größen. Das ist ja praktisch mit unseren Gewerkschaftsbeiträgen dort vollzogen worden. Das hat natürlich eine Welle der Entrüstung bei den Beschäftigten ausgelöst. Das war unvorstellbar. Ich meine, soviel Geld hat man nie nach Hause gebracht. Das ist relativ wenig gewesen und dann haben wir noch ein paar Mark an Gewerkschaftsbeiträgen gezahlt. Und dann erfährt man, wie mit den Gewerkschaftsbeiträgen umgegangen worden ist. Dass Jagden veranstaltet und rauschende Feste gefeiert
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worden sind. Damit gab es in diesem Falle nur ein Ziel, die ganze FDGB-Spitze muss weg und eine neue Organisation des FDGB ist absolut wichtig. Wir hatten noch keinen Kontakt zur ÖTV im Herbst 1989. Der Kontakt war nur insofern da, dass sich die ÖTV und der DGB und andere Gewerkschaften sich geäußert haben zu den Verhältnissen im FDGB. So hat man das erste Mal von der ÖTV und von den anderen Gewerkschaften in der Bundesrepublik gehört. Kontakte waren in dem Fall noch gar nicht so da. Uns gab es damals noch gar nicht als Gewerkschaftsräte. Vielleicht haben andere den Kontakt schon vorher gehabt, ich weiß das nicht. Wir sind ja in das ganze Geschäft erst Anfang `90 eingestiegen. Da fingen auch langsam die ersten Kontakte mit der ÖTV an. M.S.: Wie lief das? M.F.: Das hat eine Weile gedauert. Ende Januar ist beschlossen worden, dass die Industriegewerkschaften innerhalb des FDGB autonom werden. Wir sind ausgelöst worden und waren die Industriegewerkschaft Transport und Nachrichtenwesen, ne, so hießen wir ja vorher. IG Transport sind wir geworden und haben versucht, eine neue Gewerkschaft aufzubauen, mit neuen Strukturen, mit neuen Inhalten. Dort fingen wirklich die ersten Kontakte zur ÖTV an. Natürlich erst mal ganz speziell zur Abteilung Nahverkehr. Wir sind rüber gefahren, wir haben Besuch gekriegt, vornehmlich von den Kollegen Beese und Andres, die sich aktiv eingeschaltet haben. Am Anfang waren das ganz einfache Gespräche. Man musste sich ja erst einmal irgendwie kennenlernen und man musste sich ein Stück weit abtasten. Als Mensch ist das kein Problem, sich rein privat zu verstehen, bloß sind wir nun echt verschieden aufgewachsen. Wir haben in der Folgezeit gemerkt, dass das eine riesengroße Rolle spielt. Dann ging das mit einer gewissen Unterstützung. Wir haben ja voll gearbeitet und standen vor dem Nichts. Ein Kopierer, das war schon eine Illusion, aber dass man Papier kriegte, dass man ein paar Stifte kriegte und so einfache Sachen, die man einfach braucht, um zu arbeiten, da haben wir die ersten Unterstützungsmaßnahmen durch die ÖTV gehabt. Natürlich hat sich die ÖTV noch zurückgehalten. Das erste größere Erlebnis, dass der Kontakt mit der ÖTV hergestellt wurde, war der 60. Geburtstag von Gerhard Kettlitz [Mitglied im ÖTV-Bezirksvorstand Berlin], der 13. März, glaube ich. Da sind wir gewesen. Da war der Gerhard Kettlitz da und der Kurt Lange, also die gesamte ÖTV-Spitze. Da sind auch Politiker da gewesen. Der Innensenator Pätzold beispielsweise. Das war im Tiroler Keller in der Joachimstaler Straße. Das war eine Feier, die eine Anschubsfunktion für uns hatte. Man hat sich bei einem Glas Bier kennengelernt, was in so einer Situation nicht ganz schlecht ist. Das lockert die Atmosphäre ein Stück. Man hat also diskutiert. Dort sind wir uns, glaube ich, ein ganzes Stück näher gekommen. Seitdem war dann die Zusammenarbeit mit der ÖTV Joachimstaler Straße doch bedeutend enger. M.S.: Was heißt hier Zusammenarbeit? M.F.: Wir haben ja eine ganze Menge Nachholbedarf bei der Wissensaneignung gehabt. Weißt du, solche einfachen Sachen wie: Was ist ein PersVG [Personalvertretungsgesetz], was steht in dem PersVG drin, was für Rechte haben die Arbeitnehmer überhaupt im Westen? Es gab ja noch die DDR. Die ÖTV und der FDGB waren ja beide Gewerkschaften. Das ist schwer miteinander zu vergleichen, aber in einem Punkt möchte ich sie vergleichen, in ihren Inhalten. Das waren vollkommen verschiedene Inhalte. Gewerkschaftspolitik, dafür ist eine Gewerkschaft grundsätzlich da, mit einer ganzen Menge Drum und Dran. Nicht das Einzige, aber dieses wichtige Feld gab es bei uns gar nicht. Es ist ja bekannt, dass es irgendwelche Absprachen zwischen den Oberen gab, also Tisch und Hone-
242 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview cker. So ist es gewesen. Der FDGB hat sich auf ganz andere Felder gelegt. Dort musste man mal ein ganzes Stück Verständnis wecken, dass die ganze Gewerkschaftspolitik sich in absehbarer Zeit ändern wird. Tarifverträge, auch so ein Problem. Sicher hatten wir einen Tarifvertrag, den Rahmenkollektivvertrag. Ich weiß nicht, wie der hieß, Verkehrswesen oder so. Den hatten wir schon, aber die Regelungen wichen extrem von dem ab, was ihr hattet. Dann die materielle Unterstützung, die wir notwendig gehabt haben um Publikationen zu erstellen, also Öffentlichkeit herzustellen. Du weißt schon, was ich meine. Irgendwie musst du ja öffentlich werden. Als in der Kleinen Auguststraße diese Außenstelle eingerichtet wurde, haben wir immer alles hin- und hergefahren, ein Stück Papier, einen Aschenbecher, den wir nicht hatten oder eine Zeitschrift oder wie auch immer. Wir haben eine Wahnsinnsunterstützung durch die ÖTV erfahren. Oder kopieren. Wir hatten keinen Kopierer. Wenn ich mal irgendetwas `rausschicken wollte, was ich 500-mal brauchte, dann hat die ÖTV geholfen. So ne Art Blaupause, was kein Mensch lesen konnte, das war unsere einzige Möglichkeit. Beim Kopierproblem, da hat uns die ÖTV von vornherein unterstützt und geholfen. Dadurch wurden wir wenigstens ein Stück öffentlich. In dem Zeitraum fing die intensive Zusammenarbeit an. M.S.: Was waren die wichtigsten Themen? Habt ihr mit der ÖTV diskutiert über die Weiterentwicklung der Gewerkschaft IG Transport? Sollte sie in die ÖTV übergehen, oder sollte man eine eigenständige IG Transport aufrechterhalten? M.F.: Wir haben das natürlich diskutiert. Wir waren recht schnell der Auffassung, dass wir als IG Transport, als relativ kleine Industriegewerkschaft, so wie wir gestanden haben, es relativ schwer haben würden und sie, wie auch immer, in die ÖTV eingehen müsse. Da haben wir innerhalb Berlins mit der ÖTV-Spitze schnell eine Übereinstimmung gefunden, speziell im Nahverkehr oder auch im Bereich der anderen Eigenbetriebe. Die Mauer war schon gefallen und man hat enger zusammengearbeitet. Bei der ÖTV gibt es eine Abteilung Nahverkehr. Wir hatten eine andere Abteilung, aber die Betriebe hatten wir im Osten. Man musste enger zusammenarbeiten, um zum Erfolg zu kommen. Als Arbeitnehmer sollte man sich schon zusammenschließen, um einheitlich gegen bestimmte Arbeitgeber und Herren vorzugehen. An sich wollten wir das schon frühzeitig, obwohl die IG Transport gerade mal eben gegründet worden war. Aber so 100%ig einverstanden waren wir mit der IG Transport damals nicht. Wir haben die ÖTV relativ früh akzeptiert. Es war innerhalb der Beschäftigten eine große Bewegung hin zur ÖTV. Die wollten alle rein. Nun hatten wir in Berlin einen Konsens gefunden und hatten dann die Schwierigkeiten mit Stuttgart auszustehen. Der Hauptvorstand wollte die ÖTV in der DDR gründen. Das wollten wir überhaupt nicht. Sicher haben wir Konflikte gehabt, weniger die einfachen Mitglieder, die wollten in den Schoß der großen ÖTV, weil sie der ÖTV bedeutend mehr zugetraut haben als der IG Transport. M.S.: Wie hat sich das dargestellt? Haben die alten FDGB-Leute, die BGLer, versucht, noch mal politisch Einfluss zu nehmen? Wurden die abgewählt, waren sie plötzlich verschwunden? M.F.: In dem Prozess der Bildung der Gewerkschaftsräte sind die, nach meinem Überblick, da kann ich auch mal einen oder zwei vergessen haben, alle abgewählt worden. Das waren alles Hauptamtliche, Freigestellte. Die ja nicht gewählt worden sind. Die mussten sich nun eine andere Arbeit suchen. Ich kenne das von zehn Kollegen ganz speziell, die fahren jetzt Straßenbahn. Die haben sich im Betrieb eine andere Arbeit gesucht, manche sind auch ausgeschieden. Die sind weg. Die alten haben, so wie ich das einschät-
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zen kann, bis auf Gespräche innerhalb der Kollegenschaft, was man sowieso niemandem verbieten kann, keinen Einfluss mehr auf irgendwelche politischen oder gewerkschaftspolitischen Entwicklungen innerhalb des Betriebes gehabt. M.S.: Damals wurden auch Personal- oder Betriebsräte gewählt. Wie lief das bei euch? M.F.: Wir haben uns sehr schwer getan. Wir hatten unsere Gewerkschaftsräte und wussten aber ganz genau, wie ich vorhin sagte, so ganz astrein demokratisch gewählt waren sie nicht. Weil eben bloß die Gewerkschaftsmitglieder wählen durften. Wenn man nun alle vertreten soll, dann müssen auch alle das Recht bekommen, ihre Vertreter wählen zu können. Wir haben damals eine Vereinbarung mit unserem Kombinatsdirektor geschlossen, dass die Gewerkschaftsräte auf der Grundlage des PersVG arbeiten. Das war eine gegenseitige Übereinstimmung. Wir haben uns natürlich massiv bemüht, dass wir bei uns richtige Personalräte wählen können. Bloß das ist ein ewig langer Prozess gewesen, bis wir so weit waren. Wir haben dann, das haben nicht alle gleichermaßen durchgezogen, Folgendes gemacht: Wir haben gesagt, die, die nicht organisiert sind und nicht wählen konnten, die können, wenn sie wollen, noch einmal einen internen zweiten Wahlgang machen, und dann kommen die Gewählten in die Gewerkschaftsräte mit rein. Das war natürlich auch nicht astrein, aber wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Damit also auch die nicht Organisierten ihr Mitspracherecht in den Gewerkschaftsräten hatten. Denn die Gewerkschaftsräte haben natürlich, wie beim Personalrat auch, einen ganz bestimmten Einfluss. Ich will nicht sagen, Macht, das wäre falsch. Aber die haben schon einen ganz bestimmten Einfluss auf den Betriebsablauf. M.S.: Und wann habt ihr zum ersten Mal einen Personalrat gewählt? M.F.: Im Juni `91, also das ist noch ein ganzes Stück hin. M.S.: So lange hat der Gewerkschaftsrat als Personalratsersatz gearbeitet? M.F.: Gewerkschaftsrat oder Gesamtgewerkschaftsrat. So lange haben die als Personalratsersatz gearbeitet. M.S.: Du warst nur auf Betriebsebene tätig oder bist du vorher in der IG Transport in irgendwelche Gremien gewählt worden? M.F.: Also in der IG Transport weniger. Da bin ich nur in meiner Funktion als Gesamtgewerkschaftsratsvorsitzender bei ganz bestimmten Besprechungen mit dabei gewesen, wo aus allen Betrieben, die organisiert waren, entsprechende Repräsentanten dabei waren. Direkt eine Funktion in der IG Transport habe ich nie gehabt. Das ist mehr auf Betriebsebene gewesen. Das hat sich dann ein Stück geändert. Wir haben durchgesetzt, dass Berlin sich nicht der Neugründung der ÖTV in der DDR anschließen muss, sondern dass Berlin, das steht in der Satzung drin, dass die West-Berliner ÖTV auf den Osten ausgeweitet wird und dass man aus der IG Transport austreten und in die ÖTV eintreten muss. Diese Aktion ist im Juni `90 angelaufen. M.S.: Gab es noch Leute, die gesagt haben, wir bleiben in der Transport? M.F.: Richtig, es gab welche, die noch in der Transport gewesen sind, aber das war ein ganz spezieller Personenkreis. Wir hatten zu FDGB-Zeiten immer 90% Organisationsgrad, also Prozentzahlen, von denen man heute nur träumen kann. Wobei man sagen muss, es ist natürlich kein Geheimnis, wie diese Prozentzahlen zustande gekommen sind. Man war mehr oder weniger ein Ausgestoßener, wenn man sich den entsprechenden Dogmen der DDR-Diktatur nicht unterworfen hat. Von den vielen Leuten, die in der IG
244 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Transport waren, sind auch sehr, sehr viele Leute in die ÖTV übergetreten, zumindest aus meinem Bereich. Ich kann das beurteilen, nun habe ich aber keine Prozentzahlen an der Hand. Wenn wir mal davon ausgehen, dass von den über 90%, weit über 90% hatten wir zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr, weil durch die ganzen Entwicklungen mit der Aufdeckung der Machenschaften unserer FDGB-Spitzen viele schon ausgetreten waren. Vielleicht haben wir um die 90% gehabt. Davon sind ca. 86–87% in die ÖTV übergetreten. Wir hatten irgendwann einen Organisiertengrad von knapp 90%, und das lässt sich ja schon mal sehen. Ein paar sind in der IG Transport geblieben, weil interessanterweise die IG Transport bessere satzungsgemäße Leistungen hatte als die ÖTV, was das Treuegeld betrifft, was das Sterbegeld betrifft, also wo halt eine Mark rauskommt. Wenn ich vor Augen habe, in acht Wochen habe ich meinen Anspruch auf wie viel weiß ich nicht Mark Treuegeld, dann bleibe ich natürlich. Soweit uneigennützig dürften eigentlich relativ wenige sein. Also nur ein kleiner Personenkreis ist in der IG Transport geblieben, Rentner zum Teil, weil die da günstigere Bedingungen hatten. Im November ist die IG Transport sowieso aufgelöst worden, dann sind die restlichen Mitglieder eben noch zu uns gekommen oder sind eben unorganisiert geblieben. Es war eine riesengroße Aktion, die einen Haufen Arbeit verursacht hat, weil die ÖTV auch die FDGB-Zeiten als Gewerkschaftszeiten anerkannt hat. Was, nebenbei gesagt, ein ganz wichtiger Punkt war. Das wollten unsere Mitglieder. Wir hatten ja welche dabei, die 20, 30 Jahre Mitglied gewesen waren, denen konnten natürlich nicht die Zeiten verloren gehen. Wir haben das damals mit vielen, vielen Unzulänglichkeiten über die Bühne gekriegt. Bloß Unzulänglichkeiten sind ganz normal, wenn sich einer Organisation so viele auf einmal anschließen. Wir kennen die Zahlen aus Berlin. 120.000 kommen aus dem Ostteil Berlin. Das muss man erst mal verkraften als Organisation. M.S.: Hast du noch gewerkschaftliche Funktionen? M.F.: Ja. Nachdem der Übertritt in die ÖTV insgesamt vollzogen war, sind wir einen Schritt gegangen, der für die Organisation in Berlin und für uns extrem wichtig war. Wir haben beschlossen, in dem Bereich Nahverkehr eine gemeinsame Abteilung Nahverkehr zu bilden, d. h. BVG und BVB zusammen in einem Abteilungsvorstand zu haben. Das war insofern wichtig, dass man sich in den Abteilungssitzungen im Vorstand richtig gefetzt hat. Man hat eben doch bei vielen Sachen eine unterschiedliche Auffassung gehabt. Nach außen ist aber nichts gedrungen. Beide Seiten haben einen Entwicklungsprozess durchgemacht. Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West fand da auch statt. Da ist die ÖTV keine Ausnahme, bloß wir haben das Glück, wir haben seit zwei Jahren die Auseinandersetzung vor Ort, wir sind gezwungen, zusammenzuarbeiten. Das war nicht immer einfach, bloß heute haben wir einen Stand, wo wir sagen, beide Seiten sind so vermischt, dass man Verständnis für die Probleme des anderen gefunden hat. Man hat sich dort einfach ein Stück mehr identifiziert. Wenn man jetzt im größeren Rahmen die Probleme sieht, der alten mit den neuen Bundesländern, auch innerhalb der ÖTV, in Hauptvorstandssitzungen oder wo auch immer, jetzt liegen dort die Probleme auf dem Tisch, die wir vor zwei Jahren hatten. M.S.: Was meinst du damit? M.F.: Wir hatten beispielsweise auf dem Gewerkschaftstag in Nürnberg ein Stück weit Angst davor, dass sich dort der Ost-Bereich und der West-Bereich so richtig schön in die Wolle kriegen, z. B. im Grundsatzpapier der ÖTV zur Tarifpolitik im nächsten Jahr, wie soll das aussehen? Wir haben ja leider noch zwei Tarifgebiete und zwei Tarifkommissio-
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nen, alle sollen in das Grundsatzpapier `rein, aber beide haben völlig unterschiedliche Intensionen. Selbst innerhalb der neuen Länder ist man vollkommen zerstritten. Berlin fordert zum Beispiel eindeutig eine Einkommensangleichung und eine Angleichung aller tariflichen Bedingungen. In Thüringen sagt man, notfalls wären wir auch mit weniger zufrieden, wenn wir bloß sichere Arbeitsplätze haben. Wir haben Reibereien innerhalb unserer Organisation im Osten. Die alten Länder, für die ist die Frage einer Einkommensangleichung nicht relevant. Unterhalte dich mal mit einem Bayern, der wird dich schwer verstehen. Der Berliner versteht schon eher, warum du 100% haben willst. Den alten Ländern, denen geht es um andere Fragen, grundsätzlich die Arbeitszeitproblematik, Strukturtarifverhandlungen, Verbesserung der einkommensschwachen Tarifgruppen, die Frauenproblematik, dass man sogenannte frauentypische Berufe hat, die im Angestelltenbereich alle im unteren Drittel der Vergütungstabelle angesiedelt sind, das sind dort die Probleme, die auf der Hand liegen. Und noch viele mehr: Jugendproblematik, Abbau der Beschäftigten und was weiß ich nicht alles. Das ist für uns im Moment überhaupt kein Thema. Nun erwarteten wir beim Gewerkschaftstag heiße Diskussionen zwischen diesen beiden Feldern, die nun einfach mal da sind. Obwohl das irgendwo zusammen kommen muss und innerhalb der Organisation ein Kompromiss gefunden werden muss. In Berlin sind wir eben schon ein Stück weiter. Wir sind alle in der ÖTV, haben eine gemeinsame Abteilung gebildet mit allen Querelen, die da waren und haben gesagt, jetzt brauchen wir bei der BVB Vertrauensleute. Irgendwie musste die ÖTV-Struktur geschaffen werden. Bei der BVG wären die turnusmäßigen VL-Wahlen im Frühjahr 1991 gewesen. Wir haben dann die Wahlen insgesamt vorgezogen und haben im Dezember/Januar 1990/91 VL-Wahlen gemacht. Dann haben wir die erste gemeinsame Abteilungskonferenz gehabt, in Vorbereitung auf die Bezirkskonferenz, die im Januar 1991 war, und dort war es relativ einfach. Dort ging es mehr um den Ost-Bereich, dass die entsprechenden Gremien: Hauptvorstand, Beirat, Bezirksleitung auch mit Ost-Kollegen besetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt bin ich in ÖTV-Gremien eingestiegen. M.S.: In welche? M.F.: Ich bin ehrenamtliches Hauptvorstandsmitglied geworden. Das ist natürlich eine Wahnsinnserfahrung gewesen. Man kriegt wirklich neben seinem kleinen Denken, BVBBVG, Nahverkehr, ein Stück Berlin mit. Man kriegt einen ganz anderen Ausblick auf die Probleme und Geschehen in der gesamten Organisation. Man ist automatisch im Bezirksvorstand, und man kriegt mehr mit. M.S.: Gibt es eine Stimmung, das sei ja wie früher beim FDGB? M.F.: Sicher wird das gesagt, bloß ist das für mich eine Pauschalaussage, wo nichts dahintersteckt. Dass das nun die Stimmlage von der Mehrheit sein soll, das ist nicht so. M.S.: Und der andere Vorwurf, dass eben die Wessis als die Besserwessis rüber kommen und alles beherrschen, alles vorgeben und angeben? M.F.: Das ist immer ein Punkt, wo wir sagen, auch Personalräte der BVG: wenn die Solidarität, die ich üben soll, von mir selbst auch Opfer fordert, dann ist Schluss damit. Das merkt man auch innerhalb der Organisation. Wir haben jetzt Personalratswahlen vor der Tür. Wir werden in allen Bereichen ÖTV-Listen auf die Beine stellen, auch für die Gesamtpersonalratswahl, und dann kommt es natürlich dazu, dass ganz bestimmte Mandate, die jemand hatte, der aus dem West-Bereich gekommen ist, zurücktreten muss, weil welche aus dem Osten kommen. Da haben wir natürlich ganz schöne Auseinandersetzungen gehabt, aber die gehören eben mit dazu. Ob Besserwessi, na klar, das ist auch bei uns
246 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview der Fall. Aber nicht ganz so extrem, weil in Berlin, da sind alle Betroffene. Im Prinzip ist auch West-Berlin ein neues Bundesland. Die Berlin-Zulage fällt weg, Solidaritätszuschlag kommt oben drauf, das Nettoeinkommen insgesamt, das Realeinkommen insgesamt für West-Berliner ist ein ganzes Stück gesunken. Ost-Berlin mit anzugliedern, mit aufzupäppeln, das erfordert vom Westteil der Stadt einiges. M.S.: Wird die ÖTV von euch als Eure Gewerkschaft verstanden wird oder hält sich das Bewusstsein, das sei eine West-Gewerkschaft? M.F.: Nee, also West-Gewerkschaft, nee, zumindest was Berlin betrifft. Mit unseren Bezirksleitern, damals Kurt Lange, Oliver Leisinger und Gerhard Kettlitz, haben sich unsere Kollegen schon identifiziert. Wenn man das aber auf Gesamtdeutschland bezieht, kommt schon die Meinung, dass unsere Vorsitzende am Anfang und auch heute noch ihre Schwierigkeiten hat, das so richtig darzustellen. Ob das nun die Wortwahl ist oder wie auch immer. Den großen Trennstrich Ost und West, den gibt es auf Berliner Ebene nicht mehr, aber auf Gesamtdeutschland bezogen gibt es den schon noch.
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Margareta Fohrbeck Persönliche Referentin der ÖTV-Vorsitzenden Interview vom 18. Juni 1991 [Dieses Interview ist eher ein Bericht. Margareta Fohrbeck beantwortete meine Fragen mit Blick in ihre Aufzeichnungen und Mitschriften aus Gremiensitzungen (gHV, Hauptvorstand, Steuerungsgruppe u. a. m.), um möglichst genau die organisationspolitische Entwicklung in der ÖTV rekonstruieren zu können. In ihren Antworten zitierte sie immer wieder daraus, ohne dass dies in der Transkription kenntlich würde. Ihre Mitschriften enthielten Aussagen von Teilnehmern in direkter und indirekter Rede sowie Stichworte. Übergangslos fließen ihre eigenen Beobachtungen, Kommentare und Einschätzungen ein.] DDR-Seminar am 12. Januar 1990 im BBZ M.F.: Bei dieser Veranstaltung waren BGL-Vorsitzende anwesend, die noch in den alten Gewerkschaften aktiv waren, Leute vom Neuen Forum und ein paar Leute von uns: Wolfgang Warburg [stellvertr. ÖTV-Vorsitzender], Regine Ehrhardt [Leiterin des BBZ], Jürgen Matschke [Geschäftsführer der Hauptabteilung Gemeinden], Nik Simon [Leiter Referat Grundsatz]. Da ist ja bunt durcheinander diskutiert worden. Ein zentraler Diskussionspunkt, der später eine ziemliche Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielte war die Frage, ob man den Aufbau von Betriebsräten unterstützen sollte oder nicht. Für mich war diese Veranstaltung getragen von dem starken Gefühl, es müsse etwas geschehen, man müsse etwas tun, was auch immer. M.S.: War die Veranstaltung im BBZ der Beginn des Diskussionsprozesses in der ÖTV? M.F.: Nein, es hat vorher so etwas gegeben wie einen Gärprozess. Verschiedene Leute suchten Kontakte in die DDR, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was dort abläuft, einfach aus individuellem Interesse, weil der Prozess für sie spannend war. Wir haben hier natürlich täglich darüber geredet. Man hat sich Gedanken gemacht, wie man die Leute unterstützen müsste. Ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, dass wir darüber nachgedacht hätten, dass die Ereignisse unsere Politik und unsere Organisation ÖTV verändern würden. Wir haben damals allgemein über Weltpolitik nachgedacht, über die deutsche Einheit und wie schnell sie kommen wird oder nicht. Am 12. Januar, bei dieser Veranstaltung, spielte das übrigens keine besondere Rolle. Kurz vor Weihnachten tauchten hier schon die ersten Abgesandten aus der DDR auf und wollten unbedingt mit uns reden. Die Gertraude Sinn war dabei. Sie kamen hierher, um sich von uns beraten zu lassen. Ich habe sie Weihnachten in Berlin besucht, so aus Neugier. Gertraude und ihre Kollegen witterten für sich Morgenluft, d.h. sie sahen für sich die Möglichkeit, aus dem Zerfall des FDGB als starke Einzelgewerkschaft hervorzugehen. Ihre Idee war, dass wenn sie rechtzeitig vom FDGB loskämen, sie sich als die echte, gute und wirkliche Gewerkschaft, die mit dem FDGB nichts zu tun hatte, profilieren und Macht gewinnen könnten. Mit ihnen habe ich schon über die Frage des Aufbaus von Betriebsräten diskutiert. Das war, wenn man so will, die Lackmusfrage: Wie hältst du es mit den Betriebsräten? Leise weinend waren sie schon bereit, Betriebsräte hinzunehmen, aber möglichst noch in Verbindung mit dem alten Konzept der BGL. Das alte Denken zeigte sich auch beim Gewerkschaftsgesetz. Aber diese Sache spielte zu dem Zeitpunkt für die Organisation insgesamt keine besondere Rolle. Man fragte sich zwar,
248 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview wie man mit den Leuten jetzt umgehen solle, aber es war noch keine Vorstellung vorhanden, dass man nun an den Organisationsaufbau in der DDR gehen müsste. Auf der Januar-Veranstaltung stand eher die Frage im Zentrum, was beziehen wir für politische Positionen, mit wem kooperieren wir, mit wem kooperieren wir nicht, wen laden wir hier ein, wen laden wir nicht ein? Die Entscheidung war dann, eine bunte Mischung einzuladen, eine Art Runden Tisch. Die Diskussion bewegte sich noch auf der Ebene von zwei Staaten. gHV-Sitzung mit Bezirksvorsitzenden am 1. Februar 1990 M.F.: In dieser Sitzung war der 3. Tagesordnungspunkt das Thema DDR. Jetzt war klar, dass man was tun müsse. Zunächst noch ganz bescheiden, es sollte eine Informationsstelle in Ost-Berlin geschaffen werden. Wenn du so willst, wurde Werner Ruhnkes Stelle da erfunden. Der Bezirk Berlin hatte sich darüber beschwert, dass es nicht weiter anginge, dass bei ihm, d.h. bei Werner Ruhnke in der Pressestelle, die ganzen Leute, die Informationsbedürfnisse hätten, alle ins Büro stürmten. Es wurde also beschlossen, eine Informationsstelle in Ost-Berlin aufzubauen. Es war dabei noch nicht klar, dass es eine Informationsstelle des Hauptvorstandes sein würde. Auf jeden Fall war die Entwicklung in der DDR schon mal ein längerer Tagesordnungspunkt. Die verschiedenen Leute berichten z.B. über Joint Ventures. Werner Ruhnke berichtete über ein Gespräch mit den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften des FDGB. Es wurde darüber geredet, wie die Kosten für das Hin- und Herreisen, wie die Abstimmung der verschiedenen Vorstandsbereiche geregelt werden sollte. Geklärt werden sollte auch, wie Betriebspartnerschaften organisiert werden können. Und es sollten immer wieder Positionspapiere zu inhaltlichen Themen gemacht werden. Das war übrigens in dem ganzen Prozess eines unserer Leidwesen. Es wurde immer viel organisiert. Das Ganze war ein großes Organisationsprojekt und immer wurde geklagt, dass man jetzt auch inhaltliche Positionen, eine Politik für die verschiedensten Bereiche, also Nahverkehr, Gesundheitswesen etc., entwickeln müsse. Das lief alles sehr schleppend an und man kann sich im Nachhinein fragen, ob nicht die Konstruktion der Steuerungsgruppe das eher verhindert als gefördert hat. Es hat sehr lange gedauert, bis das 6-Punkte-Programm [der Gewerkschaft ÖTV zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Kommunen in den fünf neuen Bundesländern, ZÖD, ÖTVINTERN, November 3/90.] formuliert werden konnte – bis November 1990. Am Anfang war eher ein großes Gewusel im Organisieren, ohne dass man klar gewusst hätte, auf welche Inhalte und politischen Zielsetzungen man zusteuern solle. Das BBZ sollte überlegen, wie man noch mehr Bildungsarbeit machen könnte. Essen bei Peter Schmidt am 10. Februar 1990 Bei diesem Abendessen haben wir die Idee entwickelt, es muss in jeden DDR-Bezirk ein Beratungssekretär geschickt werden. Darauf kommen wir noch.. gHV-Sitzung am 5. Februar 1990 M.F.: Monika [Wulf-Mathies] war bei der DGB-Bundesvorstands-Sitzung und gab praktisch aus zweiter Hand einen Bericht über den FDGB-Kongress. Bei ihr war von vornherein sehr bestimmend, dass sie die Diskussion über Betriebsräte sehr kritisch gesehen hat. Das hat sie sehr geärgert am FDGB. Sie sagte, du meine Güte, was hat denn auf dem FDGB-Kongress eigentlich stattgefunden? Die Welt bewegt sich und die FDGB-Leute bewegen sich wie unter einer Käseglocke und fassen verrückte Beschlüsse, wie z.B. die-
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sen Vorschlag für ein Gewerkschaftsgesetz. Dieses Gewerkschaftsgesetz haben wir intensiv kritisiert. Im Grunde genommen war es dieselbe Frage wie bei den Betriebsräten. Das war die politische Debatte der damaligen Zeit. Hier wäre es sinnvoll, sich anzuschauen, wie der DGB sich in dieser ganzen Sache verhalten hat. In dieser Zeit war er völlig desolat und desorientiert. Das zeigte die Diskussion darüber, ob dieses Kind zum Bundeskongress ein- oder ausgeladen wird. M.S.: Das größte Ereignis auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress war der Brief von Modrow zur staatlichen Einheit. M.F.: Richtig, aber das ist in der gHV-Sitzung nicht groß diskutiert worden. Im gHV spielte das gar keine Rolle. Das haben wir hier im VS 1 diskutiert. Wir haben die Erklärung vorbereitet für den Hauptvorstand. Werner [Ruhnke] hat sie mit Monika [WulfMathies] zusammen vorbereitet. Uns war jetzt klar, dass wir uns auch – ich will mal sagen – zum „Einig Vaterland“ bekennen müssten. Meine Einschätzung war: Das wird der Hauptvorstand nur zähneknirschend hinnehmen. Monika sagte, wir müssten die deutsche Einigung endlich begrüßen, denn wir wollen die Leute doch positiv ansprechen. Denn was passiert eigentlich, wenn wir ihnen immer signalisierten, wir wollen sie nicht? Deswegen waren wir die erste Gewerkschaft, die positiv gesagt hat, wir finden die Einheit gut. Der DGB hat später diese Position übernommen. gHV-Sitzung am 12. Februar 1990 M.F.: Monika berichtete vom DGB-Bundesvorstand. Folgende Stichworte habe ich notiert: Die Zeit der Ruhe und des Abwartens näherte sich dem Ende. Der Vereinigungsprozess gewann an Dynamik. Gleichzeitig nahm das Vertrauen in die Reformfähigkeit des FDGB rapide ab. Die Einzelgewerkschaften drangen nicht zu den Betrieben vor, also sollte nicht durch falsche Bündnisentscheidung das Prestige der bundesdeutschen Gewerkschaften verspielt werden. Es entstand eine Desillusionierung über die IG Metall (Ost), IG Metall (West) dachte nach. Sie gingen jetzt selbst in die Betriebe. Franz Steinkühler war völlig gefrustet. Sie wollten ja eigentlich gleich mit der IG Metall (Ost) kooperieren. Beamtenbund, DAG, christliche Gewerkschaften begannen sich zu regen. Der Begriff Einheitsgewerkschaft hatte einen falschen Klang. Sollten wir eine ÖTV (Ost) aufbauen, mit Strukturen, die man bei einer Vereinigung umwandeln kann? Und dann gab es wieder die ganz praktischen Fragen: Ausgemusterte Büromöbel von uns zur Unterstützung in die DDR. Wolfgang Warburg sagte, im Laufe dieses Jahres werde die Einheit kommen. Monika sagte, wir müssten alles durchspielen, von der Satzungsänderung bis zum Umzug nach Berlin, und dann eben die Einheit thematisieren, damit wir kein Terrain verlieren. Eine Arbeitsgruppe aus VS 1, 4, und 6 soll gegründet werden. Das war die Gründung der Steuerungsgruppe. Es gab Überlegungen, bis zum DGB-Kongress im Juli 1990 den Organisationsbereich West auf Ost zu übertragen und sich nicht auf alte Strukturen dort zu stützen. Eigene Betonköpfe vom FDGB wegkriegen. Du siehst, die Probleme wurden schon benannt. M.S.: Sind das zum Teil Zitate? M.F.: Das muss jemand so gesagt haben. Jemand hat gesagt: „Eigene Betonköpfe, wie kriegen wir die weg.“ Also das ist ein Originalzitat. Chancen und Strukturen aufbrechen: Das meinte die 528-Diskussion [Antrag 528 zur Organisationsreform der ÖTV, verabschiedet auf dem Gewerkschaftstag der ÖTV 1988.]. Das hat viele Ängste geschaffen,
250 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview dass, wenn wir im Osten alles anders machen, dies Rückwirkungen auf die WestOrganisation haben könnte. Wolfgang [Warburg] hat gesagt, das sei doch die Gelegenheit, jetzt mal hier alles irgendwie bunt zu mischen. Kreiskompetente Funktionäre heranziehen. Das bezog sich jetzt auf die Auswahl der Berater. Man merkt, dass es ein Problem war. Das ÖTV-magazin sollte eine Sondernummer machen als Basismaterial – das ist gemacht worden. Die Grundsatzpositionen sollten aufbereitet werden. Ja, das war wie gesagt dieses Leitthema, diese Grundsatzpositionen, das ist auch mehrmals im Beraterkreis angemahnt worden. Dann sollte die Reisekostenregelung geklärt werden, für die Leute, die da fleißig herumreisten in der DDR. Die Zeit drängte. Der Hauptvorstand tagte zwei Tage später. Nochmals zur Erklärung, warum da ausführlich geredet wurde: Der gHV sah sich gezwungen, eine Legitimation für seine Politik zu verschaffen. Wenn z. B. der gHV beschloss, 15 Beratungssekretäre in die DDR zu schicken, dann hat die Anfangsaktion, rein von den Sachkosten, schon eine Million Mark gekostet. Treffen mit den Geschäftsführern der grenznahen Kreisverwaltungen am 13. Februar 1990 Die Sitzung wurde geleitet von Werner Ruhnke und – ich meine – Willi Mück. Die Themen waren: 1. Betriebsräte, 2. Das Gewerkschaftsgesetz, 3. Vertrauen zum FDGB. Und wenn ich das jetzt richtig aufgeschrieben habe, fing hier die Diskussion schon praktisch an: Sollten wir nicht einfach die Leute in die ÖTV aufnehmen und die Satzung öffnen? Werner [Ruhnke] berichtete von Aktivitäten des Beamtenbundes, des Virchowbundes und anderer Standesorganisationen. Dies alles sei ein großes Problem, wir müssten was tun. Dann sprachen die Geschäftsführer der grenznahen Kreisverwaltungen: Der Göttinger sagte, sie hätten schon Kontakt zu den MSK-Funktionären, aber auch unmittelbaren Kontakt zu Betrieben und zu Belegschaftsversammlungen. Die Gewerkschaftsfunktionäre [FDGB] fragen: Wie macht ihr Tarifpolitik? Sie merkten, wenn Betriebsräte gebildet werden, können sie keine Betriebspolitik mehr machen. Auf dieser Sitzung gab es auch ein großes Gemosere, dass der DGB noch mit den FDGB-Leuten verhandelte. Die Linie auf dieser Tagung war schon so, dass unsere Geschäftsführer, die Kontakt zu den Einzelgewerkschaftsfunktionären hatten, die schon ihre Absatzbewegung vom FDGB machten, den FDGB ablehnten. Wobei vielleicht übersehen wurde, dass unter diesen Personen auch flotte Wendehälse waren. Der Kollege Jordan aus Goslar sagte, bei den ehemaligen Funktionären würden die Köpfe rollen und die Leute wollen materiell unterstützt werden. Sie müssten für sie vervielfältigen und drucken. Dann gab es Leute, die vor allen Dingen materielle Hilfe leisteten, eben die Idee der Betriebspartnerschaft. Hier ist ein Kollege, der sich bitter beklagte, dass das Wort Einheitsgewerkschaft nicht verstanden werde. Wie sollte man mit denen denn jemals einen Arbeitskampf organisieren, wenn sie doch keine Einheit mehr wollten. Er kritisierte die FDGB-DGB-Kontakte und warf der amtierenden Gewerkschaftsleitung vor, dass sie nichts täte. Es liefe Schreckliches in den Betrieben, darum müsse man sich kümmern. Die Betriebe seien von Rationalisierung bedroht, Belegschaften würden schon ausgetauscht, und alles sei chaotisch. Deswegen machten sie konkrete Beratung. Es gab ein Grenzgängerproblem. Da war im Westen eine große Angst vor der Billigkonkurrenz der Kollegen aus der DDR. Dann wurde das Problem der Konkurrenz mit der DAG und dem Beamtenbund benannt. Die täten schon fleißig was und deswegen müssten wir auch was tun. Wenn du das mal zusammenfasst, hat ein Teil von denen sich mit Betriebsproblemen beschäftigt.
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Es gäbe drei Sorten von Funktionären: Die Wendehälse, die bekäme man durch die Städtepartnerschaft. Da kriegte man nur die alten Funktionäre und der blöde DGB führe das noch weiter. Dann gäbe es Gewerkschafter, die ernsthaft bemüht seien und die ihre Organisation nicht kaputtgehen lassen wollen. Du siehst also, wenn ich das werten soll, dass wir allesamt doch ein bisschen darauf reingefallen sind auf das, was diese Einzelgewerkschaften uns erzählt haben. Drittens gäbe es Spontis. Er berichtete über praktische Verkehrsprobleme und die ersten Schmutzkonkurrenzprobleme Monika [Wulf-Mathies] deutete an, man müsse darüber nachdenken, ob man die Gründung einer ÖTV in der DDR unterstützen solle. Sie deutete die Wege an, die möglich werden könnten. gHV-Sitzung mit Bezirksvorsitzenden am 14. Februar 1990 Vor den Hauptvorstandssitzungen findet immer eine Sitzung des geschäftsführenden Hauptvorstandes mit den Bezirksvorsitzenden statt, da ist praktisch der Startschuss gegeben worden für die 15 Berater und es ist die Infostelle geschaffen worden. Wir haben uns da praktisch die Beschlusslage dafür gegeben. gHV-Sitzung am 19. Februar 1990 Da taucht der Begriff Steuerungsgruppe bei mir zum ersten Mal auf. Monika [WulfMathies] erläuterte offensichtlich eine Beschlussvorlage, die wir zusammen gemacht haben. Und zwar den Beschluss über die Steuerungsgruppe und was die tun sollte. Hier kamen die Berliner Verhältnisse ins Spiel. Die Berliner ÖTV sei besonders nah dran, die Kooperation sei da sehr weit gediehen und da ging es jetzt schon um die Frage, ob man Mitglieder aufnehmen sollte, weil die Ost-Berliner satzungsgemäß sowieso Mitglieder werden konnten. Willi Mück sagte, das werde Signalwirkung haben. Monika sagte: Rausschieben. Der Vorsitzende der MSK wolle mit ihr reden und werde uns die Mitglieder anbieten. Das gleiche Problem hatte man damals mit Witte (BGL-Vorsitzender im Energiekombinat Berlin]. Dann sagte jemand, die Sache sei von der Satzungslage eindeutig, dass in Berlin die Mitglieder aufgenommen werden könnten. Im Laufe der Woche müsste man klären, wie wir uns verhalten sollten – keine massenhaften Aufnahmen unter der Decke. Die Frage der Mitgliederaufnahme war immer eine große Debatte. Es gab Leute, die wirklich mit glänzenden Augen sagten, sie müssten die Mitglieder einsammeln. Monika [Wulf-Mathies] hat immer sehr stark die Meinung vertreten, dass, wenn wir Mitglieder einsammeln, wir auch vor Ort präsent sein müssten, sonst mache das keinen Sinn. Dann ging es um die Frage, ob eine Satzungsänderung beschlossen werden müsste und wann man das tun sollte. Es klagten schon Leute, warum sie nicht Mitglied werden könnten. gHV-Sitzung am 26. Februar 1990 DDR-Situation. Es sollte ein Personalkonzept erstellt werden. Das bezog sich auf die Berater, die wir verzweifelt in dieser Zeit gesucht haben und es wurde beredet, wie man sie bekommen könnte. Kurz darauf muss Willi Mück in Berlin gewesen sein und dort gesehen haben, welche Zustände in der Bezirksverwaltung herrschten. Wir haben damals die Umfrage vom IFEP-Institut das erste Mal gemacht. Es ging darum, wie die Gewerkschaften wahrgenommen werden und welchen Ruf die ÖTV hat. Das Ergebnis hat uns nachher ein bisschen geholfen, um Einschätzungen vorzunehmen. Willi Hanss begann zu
252 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview überlegen, wie man Tarifarbeit aufbauen kann und sagte, es sei höchste Zeit, dass wir genau das tun, was hier im Westen in der Nachkriegszeit getan wurde, nämlich die Arbeitgeber dazu zu bringen, sich zu organisieren, weil wir Tarif- und Verhandlungspartner brauchten. Es war tatsächlich so, dass wir praktisch mit gedrückt haben, damit sich die VKA in der ehemaligen DDR konstituiert. Wir haben uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgestellt, selbst Tarifverhandlungen zu führen. Das Thema Tarifverhandlungen ist mir erst im Sommer sehr präsent gewesen, als wir sie wirklich gemacht haben. Protokoll der Steuerungsgruppe vom 26. Februar 1990 Uns war plötzlich schlagartig klar geworden, dass wir keine Ahnung von den Verhältnissen in der DDR hatten. Wir hatten die Idee, jemanden loszuschicken, der erste Erkundigungen einholt. Wir haben Conny Hintz angerufen und zu ihr gesagt: Du fährst am Sonntag los, machst das mal eine Woche und sagst uns dann, wie es geht. Es war wichtig auszuprobieren, wie man Kontakt kriegte, ohne die FDGB-Büros anzulaufen, wie man überhaupt anfängt dort zu arbeiten, einfach ganz banale Sachen für sich zu organisieren, wie die Situation aussah etc. Ich habe Conny am Freitagnachmittag angerufen und ihr gesagt, sie müsse am Montagmorgen in Frankfurt/Oder sein. Wir hatten Frankfurt/Oder ausgewählt auf Grund einer spontanen Eingebung: Wir haben auf die Karte geguckt und einen Ort gesucht, der am weitesten weg liegt, wo keine Möglichkeit war, noch mal schnell über die Grenze zu fahren, um Seife etc. zu kaufen. Sie sollte wirklich realistische Bedingungen erfahren. Sie ist dann nicht alleine gefahren, sondern mit Jürgen Saft [Geschäftsführer der ÖTV-Kreisverwaltung Minden]. Er ist in der SPD sehr aktiv gewesen und hatte schon sehr früh Partnerschaftskontakte mit der SPD in Prenzlau. Er kannte da Leute. Ohne Jürgen Saft wäre das Ganze wohl nicht gelaufen. Conny hat ganz furchtbare Erfahrungen gemacht. Sie hat sehr darunter gelitten, weil Frankfurt/Oder eben eine Stadt mit einem ganz hohen PDS-Anteil ist und weil die Gegend eine richtige Stasi-Hochburg war. Zu diesem Zeitpunkt war dort noch ein furchtbares Klima. Sie ist wohl regelrecht bespitzelt worden. Also, das war alles ganz schrecklich. Für uns jedoch sehr erfolgreich. Die Satzungsänderung tauchte auch hier auf. Irgendwer muss gesagt haben: Jetzt noch nicht, sondern erst bei der Wirtschafts- und Währungsunion. Es ist interessant, welche Stichpunkte damals eine Rolle spielten. Es glaubte damals noch keiner an die deutsche Einheit, sondern wir sahen alle noch irgendwie zwei Staaten. Die staatliche Entwicklung wurde eigentlich immer in der Steuerungsgruppe diskutiert. Von mir hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Kolonialisierung. Also, diejenigen, die damals so schnell die Satzung ändern wollten, um die Mitglieder schnellstens einzufangen, habe ich dann immer mit dem Kolonialisierungsvorwurf belegt. Es wurde auch schon die Frage nach Kooperationsabkommen mit den Einzelgewerkschaften aufgeworfen. Zu denen sollte es erst dann kommen, wenn es frei gewählte Gremien auf der Gegenseite geben sollte. Der FDGB war zwar aufgelöst, aber die neuen Strukturen hatten keine demokratische Legitimation. Die Einzelgewerkschaften hatten auf Vorstandsebene neue Leute kooptiert. Wir haben mehrmals hinterfragt, wie denn gewählt worden und was unter Wahl zu verstehen sei. Sie verstanden unter einer Wahl zum Teil eine Kooptation. Also, es hat nicht die wirkliche Basis gewählt. Ich war strikt gegen dieses Kooperationsabkommen. Meine persönliche Position war, dass man mit denen nichts tun sollte, möglichst gar nichts. Und das hat auch ein Teil unserer Leute vertreten. Man kann fast sagen, dass diese Position in der Tendenz in der Hauptverwaltung vertreten worden ist. Eike Eulen [gHV-Mitglied, zuständig für den Bereich Transport] hatte da vielleicht eine etwas andere Position und andere Erfahrungen mit Biesold
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und der Transportgewerkschaft, die sich auch ganz anders konstituiert hatte. Die ist ja wirklich auseinander geflogen. Das ist vorher eine ganz breite und große Gewerkschaft gewesen. Aber in der Tendenz würde ich behaupten, dass der gHV mehrheitlich eher dagegen war, Kooperationsabkommen zu machen, während es in den Bezirken dafür eine breite Strömung gab. Sie hatten inzwischen auch schon Kontakte aufgebaut und wollten selber Kooperationskontakte machen. Doch das wollten wir eigentlich nicht. Meine persönliche Haltung dazu war ganz klar. Ich war dagegen, und ich fand es auch furchtbar, dass diese Diskussion immer wieder auftauchte und aufbrach. Die häufigsten Argumente waren, dass man doch mit den Leuten was machen müsse, dass die Einheit der Organisation wichtig wäre, dass es gut wäre, wenn man diese Kooperation hätte, weil man die gesamten Mitglieder auf einen Schlag bekommen könnte und wie furchtbar es wäre, wenn diese schönen, ganzen, großen Organisationen zerschlagen würden. Ich habe das immer als eine Art Goldgräbermentalität empfunden. Es brach eine eigenartige Sache aus. Die Leute kriegten glänzende Augen, wenn sie von den Mitgliederzahlen, die es zu holen gäbe, redeten. Ich habe mich gefragt, ja was machen die denn, wenn sie die ganzen Mitglieder haben und deren Interessen vertreten sollen? Es war ja damals schon absehbar, dass es massive Probleme geben würde. Es gab auch das Argument, die Einheit sei doch etwas wichtiges, Einheitsgewerkschaft und große starke Gewerkschaften, und deswegen könnte man nicht zulassen, dass womöglich Richtungsgewerkschaften entstünden, dass alles zerfleddert und alles kaputt ginge. Es ging nicht nur um eine Einheit im Sinne von großen Mitgliederzahlen, sondern im Sinne von einheitlicher Interessenvertretung und dafür sei es doch ganz praktisch, diese Gesamtorganisationszahlen zu halten. Von dem alten Funktionärskörper waren jedoch nur wenige begeistert, also das unterstelle ich keinem. Selbst denjenigen nicht, die Kooperationsabkommen haben wollten. Ich würde niemandem unterstellen, dass er irgendwie meinte, man müsste alle diese Sekretäre übernehmen, weil sie doch so nett seien, sondern das war immer eine Frage des Mittels, um praktisch die Organisation möglichst groß zu erhalten. Hier geht es schon los: Auseinandersetzung mit der HBV über die Sparkassen. Berater: Sondierungsinformation und Aufbereitungsphase. Zwei Wochen sollten sie sondieren, aber mit der Perspektive der Gründung einer ÖTV in der DDR. Wir haben in der Steuerungsgruppe unsere Planspielchen gemacht mit den drei Wegen, die möglich waren: 1. Kooperationsabkommen mit Altgewerkschaften in der DDR, 2. ÖTV in der DDR und 3. Satzungsöffnung. Das haben wir immer wieder durchgespielt, und zwischen diesen drei Wegen schwankte hinfort die ÖTV. Die ÖTV in der DDR zu gründen, bedeutete, dass die DDRler eine eigene Gewerkschaft gründen, von unten aufbauen. Das war meine Position zu diesem Thema. Für mich war die Kooperation unerträglich. Auf der anderen Seite war die Satzungsöffnung ein kolonialistischer Eingriff. Also – das war für mich immer klar – man musste die Gründung der ÖTV in der DDR anstreben und die Berater sollten dies auch tun. Nur ein Teil der Berater teilte jedoch diese Position. DDR-Beraterkreis am 28. Februar 1990 Am 26. Februar hatte die Steuerungsgruppe getagt, um dieses Treffen vorzubereiten. Ein Thema war das Verbot der Aussperrung durch das Gewerkschaftsgesetz. Auch im Beraterkreis war unsere ablehnende Position zum Gewerkschaftsgesetz gar nicht unumstritten. Für uns war es immer eine Frage, ob man eigentlich in diesem Kreis eine Mehrheit für unsere Position kriegt. Ich denke manchmal, ein Politologe, der das irgendwann einmal
254 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview analysiert, der betrachtet das unter der Frage der Steuerungskompetenz, denn die Gruppe hieß ja Steuerungsgruppe. Für mich ist es eine ernsthafte Frage, was haben wir eigentlich gesteuert? Wir haben diskutiert und wir haben versucht, Leute dazu zu bewegen, das zu tun, was wir für richtig hielten. Aber in diesem Beraterkreis gab es eine breite Palette von Leuten und von unterschiedlichen Auffassungen. Pro und contra das Gewerkschaftsgesetz ist ein Beispiel, wie du hier siehst. In der Praxis stehst du nicht dabei, und folglich hat meines Erachtens natürlich auch jeder was anderes gemacht. Von daher ist das, was man von der Zentrale aus steuern kann, wirklich sehr reduziert. Heute würde ich vielleicht eher sagen, es ist vielleicht gut so, dass es so ist. Es wäre auch schrecklich, wenn man immer das, was man sich selber ausdenkt, 1:1 in die Realität übertragen könnte. Aber damals fand ich das relativ frustrierend, dass das, was als politische Linie beschlossen war, zum Teil einfach nicht ausgeführt worden ist. Z. B. hatten wir ja Conny Hintz losgeschickt, damit sie klärt, wie man einen Ort anläuft, ohne in die Gewerkschaftshäuser des FDGB gehen zu müssen. Frage nicht, wer dann doch alles als erstes das Gewerkschaftshaus angelaufen hat. Du siehst, dass die sich nicht alle an das gehalten haben, was wir gesagt haben. Es ist auch diskutiert worden, ob man dort Räume anmieten darf. Hier waren sie auf die Zentrale angewiesen. Willi Mück sagte, ihr macht keine Mietverträge und ihr geht da nicht rein. Es ging jedoch zunächst um die Frage, wo geht man als erstes hin, um Kontakte in die Betriebe hinein zu knüpfen. Einige hatten überhaupt keine Probleme, das immer weiter zu machen und fühlten sich offensichtlich auch in ihren Betriebskontakten abhängig von den FDGB-Leuten. gHV-Sitzung am 5. März 1990 Es gab einen Bericht vom Vorbereitungstreffen der Berater im BBZ. Die Frage war: Wie stellen wir fest, ob es eine aktive Entscheidung in Richtung ÖTV gibt? Es fiel hier das Stichwort „Wahlniederlage PDS“. Die PDS ging jetzt in die Betriebe. Unsere große Sorge war und ist, dass wir sie nun alle als Mitglieder haben. Bei den Wahlen wird sie nicht erfolgreich sein, doch sie wird nicht verschwinden, sondern Wühlarbeit in den Betrieben leisten. Leider sind im Staatsapparat besonders viele PDS-Mitglieder. Monika [Wulf-Mathies] berichtete von der Gewerkschaft Wissenschaft, dass dort wohl der Neuerungsprozess weit gediehen sei und dass Werner [Ruhnke] sich kümmere. Aus der MSK werde nichts. Die MSK fände in den Betrieben nicht statt. Bei der GEW, da täte sich irgendwas und da sollten wir mit Dieter Wunder [GEW-Vorsitzender] abstimmen, wie man mit der Gewerkschaft Wissenschaft umgehen sollte. Die DAG Sachsen sei gegründet worden. Die IG Chemie werde sich möglichst ganz kurzfristig räumlich ausdehnen. Die IG Metall wolle ein Abkommen machen, aber stark an Inhalten orientiert. Die HBV sei stärker auf unserer Linie und dass sie mit Spengler [HBV-Vorsitzender] klären müsse, wie mit der MSK umzugehen sei. Das nimmt sie jetzt anders wahr, als es wirklich war. Tatsächlich hat die HBV eine ganz andere Politik gemacht als wir, sie hat die Hälfte der MSK später eingekauft, auch den Vorsitzenden Wegrad versorgt, und gemeint, das helfe ihr. Protokoll der Steuerungsgruppe am 10. März 1990 Unsere Sitzungen hatten eine derartige Autorität gewonnen, dass ihre Vorschläge wirklich fast den Charakter eines gHV-Beschlusses hatten. Das lag daran, dass sie durch Willi Mück, Wolfgang Warburg und Monika [Wulf-Mathies] ohnehin abgedeckt waren. Es
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ging hier darum, wie bei uns im Haus die Informationsverteilung organisiert werden sollte, was mit Anfragen aus der DDR an die Hauptverwaltung geschehen sollte. Dann steht hier etwas zu Büros und Wohnungen. Das Personalreferat wurde gebeten, zu klären, was mit den Beratern und Beraterinnen gemacht werden sollte, die Organisation der Materialverteilung und der Beraterkreise. Daran siehst du, dass es eben viele organisatorische Sachen waren und dass in der Steuerungsgruppe eigentlich wenig politisch diskutiert worden ist. Es ist in der Steuerungsgruppe hauptsächlich organisatorisch diskutiert worden und politisch nur, wenn das Organisatorische politisch war. Also, z.B. die Fragen, will man jetzt die ÖTV in der DDR gründen, will man die Satzung öffnen oder will man die Kooperation mit den Einzelgewerkschaften? Du hast mich ja gestern gefragt, wie die Haltung im gHV zu diesen Fragen war oder wie das in den Bezirken war. Für die Steuerungsgruppe würde ich sagen, dass eine Zusammenarbeit mit den FDGB-Gewerkschaften von uns allen nicht gemocht wurde. Natürlich wurde überlegt, was man vielleicht taktisch machen müsste. Ich glaube, bei uns herrschte eine große Präferenz für eine eigene Gewerkschaft, wobei die Organisationsmenschen immer wieder aus taktischen Gründen überlegten, ob man nicht doch die Satzung ändern müsste. Das war das Spektrum, in dem es dann ablief. Wobei, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, es so war, dass wir am Anfang einmal wirklich sehr gründlich diskutiert haben, mit vielen Planspielen etc. Dieser Punkt mit der Taktik und der Überzeugung ist eine sehr spannende Frage, nach der du die Leute gut fragen kannst. Es konnte die unterschiedlichen Kombinationen geben. du konntest aus vollster Überzeugung der Meinung sein, dass es gut wäre, alles von unten eigenständig aufzubauen und dann trotzdem, wenn du gemerkt hast, dass irgendwie Einzelgewerkschaften verrückt spielten, sagen, jetzt muss man mit ihnen reden und muss sehen, wie sie auf Kurs zu bringen sind. Das ist möglicherweise bei ihnen selbst auch anders angekommen. Ich nehme an, dass sie selber ein zwiespältiges Gefühl von Abstoßung und Anziehung hatten, gehabt haben müssen. Das war z. B. bei der HBV anders, sie ist von vornherein davon ausgegangen, dass es am geschicktesten sei, gleich die ganze Organisation zu übernehmen. Bei uns hatte das natürlich auch organisationstaktische Gründe, dass wir das gar nicht tun konnten. Es gibt große Mythen darüber, wie eine politische Meinung in unserer Organisation entsteht. Sie entsteht immer ganz praktisch. Die Situation sieht immer gleich aus: Der Hauptvorstand tagt, der Hauptvorstand muss eine Erklärung machen, wer macht den Entwurf der Erklärung: Werner, mach mal einen Entwurf der Erklärung, Margareta, guck mal drauf. Monika schreibt übers Wochenende alles um, oder sie sitzt alleine am Wochenende zu Hause und macht selbst einen Entwurf. Dann geht es umgekehrt, sie faxt Werner, was hältst du davon? Margareta, können wir das so stehen lassen? Die Meinungsbildung in dieser Organisation läuft in der Regel nicht so, wie man sich das normalerweise vorstellt bei politischen Organisationen: Dort sitzen Leute zusammen, geben sich eine Tagesordnung und entscheiden, jetzt diskutieren wir mal politisch, sondern in der Regel wird gar nicht politisch diskutiert. Es werden die verschiedenen Anlässe, die auftauchen, reflektiert und dabei bildet sich eine Linie raus. Also unter Punkt 7 geht es um die Frage, wer die Schreiben beantwortet, die alle bei uns eingetroffen waren. Z. B. ein Schreiben von Manfred Hölzer. Fragt, ob wir Kopierer für die Arbeitsfähigkeit von Transport und Verkehr zur Verfügung stellen sollen. Um diesen Kopierer hat es eine große Debatte gegeben. Es gibt Sachen, hinter denen verstecken sich die politischen Inhalte. Die Frage, ob man der IG Transport die Kopierer bezahlen sollte, war so eine. Eike [Eulen) und Manfred [Hölzer] wollten das natürlich, wollten auch die praktische Hilfe unterstützen. Unsere Tendenz war eher zu sagen: Nein, das kann nicht angehen. Die vervielfältigen mit unse-
256 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ren Kopierern Dinge, die wir nun gar nicht vervielfältigt haben wollen. Wir werten sie auf, denn ein Kopierer war damals ein großes Statussymbol. Das war die Art und Weise, wie über Politik diskutiert wurde, eben immer anhand von solchen konkreten Problemen. M.S.: Wurde denn nicht über die politischen Großereignisse diskutiert? M.F.: Nicht richtig. Also es war so, dass wir am Anfang über die Stimmung redeten. Der Begriff der Stimmung spielte in dieser Organisation sowieso eine sehr große Rolle. M.S.: Z. B. die staatliche Vereinigung? M.F.: Nein, vielleicht täusche ich mich, weil ich das sehr stark als Organisationsangelegenheit betrachtet habe. Ich kann mich erinnern, dass ich mit Werner [Ruhnke] mal privat so nebenher über die Einheit geredet habe, weil mein Gefühl ganz stark dagegen war. Ich habe ihm gesagt: Das ist eben so, wenn man einen Weltkrieg verloren hat und sich so benommen hat, dann hat man keine nationale Einheit zu haben, und das ist gut so. Den Deutschen ist auch nicht zu trauen. Werner hat mich mit glasigen Augen angeguckt und war ganz empört, wie ich so etwas sagen könnte. Natürlich gebe es ein Recht auf nationale Einheit. Ehrlich gesagt, bei mir schlägt da überhaupt nichts und bei meiner Heimatstadt auch nicht, das ist alles Sentimentalität. Zum Thema Großereignis staatliche Einheit: Monika [Wulf-Mathies] kam aus dem Wochenende mit einem Entwurf wieder, in dem stand, dass wir die staatliche Einheit begrüßen. Werner [Ruhnke] sagte: Ja, das müssen wir jetzt sagen, und ich sagte, ja, das müssen wir jetzt wohl sagen. Monika fragte: Glaubst du, dass es dazu Diskussionen im Hauptvorstand geben wird? Da habe ich gesagt: Nein, das ich glaube nicht, aber die Leute werden es nicht mögen. Und so war es dann auch. Es gab keine Diskussion über die Frage, ob wir die deutsche Einheit wollen. Monika musste ausdrücklich noch betonen, wie besonders das ist, dass wir das jetzt erklären, und dass wir die erste Gewerkschaft sind, die dies tut. M.S.: Vielleicht lag es am eigenen Selbstverständnis als Gewerkschaft, dass sie meinten, gar nicht über politische Fragen diskutieren zu müssen? M.F.: Doch, doch, natürlich. Wir müssen hier über Golfkrieg und ich weiß nicht was diskutieren. Aber es gibt Sachen, die werden nicht diskutiert und dazu zählte diese deutsche Einheit. Es ist auch typisch, wie mit einem solchen Thema umgegangen wird: In diesem Fall war es wirklich so, dass Monika selbst sich hingesetzt und zu Hause den Entwurf geschrieben hat. Dann haben wir rübergeguckt und dann wurde er im gHV eingebracht. Dort wurde er gemeinsam gelesen und dann sagte der eine hier noch mal was und der andere da – und dann war es das. Protokoll Steuerungsgruppe nach 12. März 1990 Es fühlten sich viele Leute hier im Haus schlecht informiert. Die Steuerungsgruppe wurde als Neben-gHV, als eine schreckliche Zentrale beäugt. Erstaunlicherweise kann man auf der einen Seite wenig steuern, aber im Verhältnis zu dem, was hier im Haus oft nicht klappt, war es erstaunlich, was klappte, wenn die Steuerungsgruppe die Vorgabe machte. Deswegen fühlten sich alle möglichen Leute schlecht informiert. Was damit zu tun hatte, dass natürlich ihre jeweiligen gHV-Mitglieder nicht so gut informiert waren, wie sie üblicherweise aus dem gHV informiert wurden, dass sie also tatsächlich so eine Art Neben-gHV war. Deswegen haben wir eine Sitzung mit den Hauptabteilungsgeschäftsführern gemacht.
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M.S.: Welche Rolle spielte das Verhalten der anderen Gewerkschaften als Konkurrenten? M.F.: Die erste Wahrnehmung der Konkurrenz waren die Aktivitäten des Beamtenbundes und der DAG. Die zweite Konkurrenz waren sofort einige unserer DGBGewerkschaften, besonders die IG Bergbau und Energie. Diese Konkurrenz war schon früh da, gefördert durch diese Betriebspartnerschaften. Wenn man sich selber kritisch als ein Mensch sieht, der in bestimmten Kräfteverhältnissen agiert, dann stellt man auch im Nachhinein fest, dass ein wesentlicher Motor von vornherein das Organisationsproblem war. Bei unserem hochdifferenzierten Organisationsbereich war dies von vornherein das zentrale Problem. Bestimmte politische Strategien, die nach außen als gut, positiv und irgendwie sehr moralisch integer erschienen, waren nichts anderem geschuldet als der Tatsache, dass wir unter Druck standen. Auch unsere Handlungsfreudigkeit war ein bisschen davon geprägt, dass wir eben nicht einfach wie z. B. die IG Metall sagen konnten, wir sammeln die IG Metall (Ost) ein und lassen uns von denen alle ihre Mitgliederlisten geben. So konnten wir gar nicht vorgehen, und von daher dieser Organisationsaufbau von unten. Der war schon rein organisatorisch notwendig. Dafür bestand in der Steuerungsgruppe ein hohes Bewusstsein. Es gab in der Steuerungsgruppe Diskussionen ums Geld, ach, nicht so richtige Diskussionen – da wurde ja mit Geld wirklich um sich geworfen. Es war keine Schwierigkeit, mal schnell 15 Betreuungsbusse anzuschaffen. M.S.: Es scheint alles ganz unbürokratisch gelaufen zu sein? M.F.: Nein, das Problem ist, dass diese Organisation bürokratisch gesehen doch überhaupt ein Chaos darstellt und wenn du so willst, hat die Steuerungsgruppe gezeigt, wenn eine Gruppe da ist, die mit Autorität ausgestattet ist, dann kann sie das Chaos durchstoßen. Das hat natürlich auch Neid und Zorn erweckt bei anderen. M.S.: Der Zwang der Verhältnisse war entsprechend. M.F. Rein unter dem Gesichtspunkt Organisationsbestandswahrung gab es einen starken Druck, und dieser Druck wurde besonders von Peter Schmidt und Willi Mück sehr bewusst umgesetzt. Es gab immer wieder neue Schreckensmeldungen, wer irgendwo reiste und hier tat und da tat. So wurde auch das Verhältnis zu den Einzelgewerkschaften des FDGB immer wieder neu bestimmt. Was machst du denn, wenn die HBV gerade den Wegrad freundlich streichelt und ihm sagt, du bist ein guter Wegrad, du gibst uns die Hälfte deiner Organisation, und wir sagen, du bist ein schrecklicher Wegrad, wir wollen euch überhaupt nicht haben, ihr seid die letzten Stasiheuler, bleibt ja weg ?. Und dann schleppt dieser womöglich noch Teile des Organisationsbereiches, der üblicherweise zur ÖTV gehört, zur HBV. Das konnte man sich nicht gefallen lassen. Es waren viele Leute am wirken, damit es auch immer schön im Nebel bleiben konnte. Diese Taktiererei mit den Altgewerkschaften ist uns zum Teil von den anderen Organisationen des DGB aufgezwungen worden. Wenn die HBV eine andere Politik gemacht hätte, dann hätten wir auch nicht so mit der MSK umgehen müssen. Wenn es eine Solidarität im DGB gegeben hätte, die lautete, wir machen alle den Organisationsaufbau von unten, dann hätte es diese Probleme nicht gegeben. Doch das hier existierende Kräfteverhältnis, die verschiedenen politischen Richtungen von Leuten in den Einzelgewerkschaften wie der ÖTV, hat sich in unterschiedlichem Verhalten in der DDR ausgedrückt.
258 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview gHV-Sitzung am 19. März 1990 Jetzt ging es schon los, dass die Leute in der DDR sich unbedingt als ÖTV gründen wollten. Monika [Wulf-Mathies] bemerkte: Gründungsvorgang vermeiden. Also, es ging um die Frage, ob man nicht aus der Feuerwehrinitiative die Keimzelle für die ÖTV in der DDR machen kann. Die Diskussion um die Wirtschafts- und Währungsreform sollte abgewartet werden. Monika tendierte zum Abwarten beim Versuch, jetzt die ÖTV zu gründen. Wobei das immer mal wieder hin und her schwankte. Das war eben wieder so ein Punkt in der Frage von Strategie und Taktik. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon die große Frage, kriegen wir einen Organisationsaufbau von unten als ÖTV in der DDR hin oder ist nicht die Gefahr zu groß, dass die breite Masse bei den alten Gewerkschaften bleibt? Unsere Wahrnehmung war, die Mitglieder traten nicht aus, obwohl wir erwartet hatten, dass die Leute massenhaft aus den alten Gewerkschaften austreten. Wir haben unsere eigene Mentalität einfach vorausgesetzt und dies entsprach überhaupt nicht der Mentalität der DDR-Leute. Die Leute blieben nämlich im FDGB, sie blieben drin wegen der Ferienheimplätze, sie blieben drin wegen der Treuegeldansprüche oder was auch immer. Sie traten nicht aus, sie hatten das Gefühl, dass ist so eine Art Sozialversicherungsunternehmen, da muss man einfach drin bleiben. Es gab keine breite Austrittswelle. Wenn ich mich an diese Diskussion erinnere, die wir viel später hatten, dass wir die FDGB-Mitgliedschaft anerkennen müssten, dann zeigte sich eine Mentalität, die mir zutiefst widerstrebte. Wie kann ich von den DGB-Gewerkschaften verlangen, die Treue zum FDGB anzuerkennen? Ich musste hier haufenweise Briefe beantworten von Leuten, denen das Treuegeld abgelehnt wurde und denen ich begründen musste, warum sie kein Treuegeld bekamen. M.S.: Ich bin gespannt, ob sich wirklich harte Fakten finden lassen, dass die Mitglieder in den alten Gewerkschaften geblieben sind, denn die Wahrnehmung z.B. der Spitzenfunktionäre von der Gewerkschaft Gesundheit war eine ganz andere. Sie hatten Angst vor massenweisen Austritten. M.F.: Sie dachten, sie würden das. M.S.: Die Leute sind aber nicht ausgetreten, sondern haben einfach keine Beiträge mehr bezahlt. Das war natürlich bedrohlich genug. Kein Mensch wusste plötzlich mehr, wer noch Mitglied ist. M.F.: Ja, und dann waren sie entsetzt, weil sie feststellten, dass gar keine anständigen Mitgliederlisten vorlagen und sie gar nichts übernehmen konnten. Also, ihr Modell scheiterte rein praktisch. Wir hatten das frühzeitig festgestellt, unsere Orgamenschen hatten sich darum sehr intensiv gekümmert, wie die Mitglieder dort erfasst werden, wer die Mitglieder erfasst hat, wie funktioniert die Beitragskassierung etc. Wir sahen, dass es schwierig sein könnte, rein praktisch an die Mitglieder heranzukommen, weil es nirgendwo richtige Mitgliederbestandslisten gab. Die Mitglieder waren bisher Mitglieder im Betrieb. Die jeweilige BGL musste Bescheid wissen. Teilweise gab es das Gerücht, dass es gar nicht die Mitglieder waren, die die Beitragszahlung verweigert haben, sondern die BGL. M.S.: Die bürokratische Übernahme hat bei einigen Gewerkschaften dann aber doch geklappt, z.B. bei der Bergbau und der Chemie? M.F.: Wo es große Betriebe gab, wo sie mit den BGLern zusammengearbeitet haben, da klappte es natürlich, weil die BGLer oft diejenigen waren, die die Mitgliederlisten hatten.
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Diese Entwicklung brachte auch bei uns Irritationen. Während vorher diese Frage, ob man mit den Einzelgewerkschaften kooperieren sollte, sehr, sehr kritisch gesehen wurde, tauchte nun im gHV die Angst auf, diese ablehnende Haltung könnte uns schaden. Wenn wir sie völlig verprellten und die Mitglieder blieben alle in der Gewerkschaft, dann wäre das auch nicht gut. Unsere Position schwankte, weil der Organisationserhalt ein ganz bestimmender Faktor in dieser ganzen Politik war. Hier tauchte die Angst auf, ob unsere Strategie falsch sein könnte, diese Leute alle so schlecht zu behandeln und strikt auf unsere Eigenständigkeit und den Organisationsaufbau von unten zu setzen. Kooperationsabkommen mit der IG Transport Jetzt kommen wir zu den Kooperationsregelungen mit der Transport und Gesundheit, gegebenenfalls auch mit der Gewerkschaft Wissenschaft. Man hatte die Idee, dass wir zweigleisig verfahren müssten: Einmal die Organisationen zu unterstützen, aber auch unsere weiße Weste versuchen möglichst weiß zu erhalten. Das bedeutete, diejenigen, die freundlich und lieb waren, denen wollten wir ein Kooperationsabkommen anbieten und damit zum Erhalt ihrer Mitglieder beitragen und sie dann zu uns geschlossen rüberführen, und diejenigen, die unfreundlich und hässlich zu uns waren, wurden bestraft. Das verstärkte die Auseinandersetzung auch untereinander; die einen konnten sagen, es geht doch mit der ÖTV, und die anderen kriegten Druck von ihren Mitgliedern, weil dann die Mitglieder sagten, wenn das bei denen geht, warum nicht bei uns? Das muss ja wohl auch an euch liegen. Das war eine Strategie, sie untereinander ein Stück weit auszuspielen. Es gab aber auch bei uns unterschiedliche Akteure. Eike [Eulen] fand es eben von vornherein richtiger, die IG Transport als IG Transport zu stabilisieren und mit ihnen geschlossen was zu machen, statt dem Aufbau von unten. Da spielte die besondere Situation bei Transport und Verkehr rein. Es gab Bereiche, wo der Organisationsaufbau von unten bei uns besser lief als die Kooperation. Transport und Verkehr ist bei uns ein Bereich, für den die Beratungssekretäre sich nicht sonderlich interessiert haben. Eike musste zu Recht befürchten, dass sein Bereich völlig runterfällt, weil die Beratungssekretäre sich um ihn nicht kümmerten, und er sah nur die Chance, den Mitgliederbestand in dem Bereich zu erhalten, wenn er mit Biesold kooperiert und die Organisation erhielt. Das Kooperationsmodell von oben von seiner Abteilung aus machte hier Sinn. Er hatte große Probleme, weil für ihn die Strategie Organisationsaufbau von unten nicht erfolgversprechend war. Er konnte sie objektiv eigentlich nicht wollen, weil das eben ein Bereich ist, der, wenn du dir Kreisverwaltungen und Bezirke anguckst, ja ein kleiner Bereich ist, und von daher nicht mit dem gleichen Engagement behandelt wurde, wie z.B. das Gesundheitswesen und der Öffentliche Dienst. Das führte auch immer zu Knieseleien zwischen den Beratungssekretären. Einige hatten das Gefühl, sie machten den großen Kampf gegen die IG Transport, die ja eine von den alten Gewerkschaften ist und Eike machte mit denen oben Geschäfte. Rückwirkend betrachtet ist es eigentlich ganz logisch, aus der Verquickung von Organisationsinteressen und politischen Einschätzungen heraus. Es gab auch irgendwann mal ein Gespräch mit Biesold, wo er konfrontiert wurde mit den Aussagen der Beratungssekretäre. Die sagten, dass es überall Streit gäbe mit der IG Transport und dass das doch nicht so ginge, wie er sich das vorstellte. Biesold musste sehen, wie er das aufklärt und irgendwie eine bessere Zusammenarbeit herstellen. M.S.: Es gab eine Diskussion, dass gerade die Transporter sich als eigenständige Gewerkschaft konstituieren wollten?
260 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.F.: Das war die große Sorge, dass sie überhaupt nicht zur ÖTV wollen, weil sie sich gerade mühselig von den Eisenbahnern getrennt hatten. M.S.: Aber das zeigt doch, wie ein ganz anderes Denken handlungsbestimmend wird. Meine Position war, die Leute in der DDR sollen ihre Gewerkschaften selber aufbauen. Man hätte sie die ÖTV selbständig aufbauen lassen sollen, mit allen Schwächen. Sicher, das hätte materiell vielleicht sehr viel weniger bedeutet für die Kollegen drüben, die Organisation wäre weniger effektiv gewesen, die Tarifverhandlungen weniger erfolgreich. Doch für das Selbstbewusstsein wäre es besser gewesen. M.F.: Wenn überhaupt was gelaufen wäre. Meine Wahrnehmung aus den Beraterkreisen war, dass es eine traurige Unselbständigkeit gab. M.S.: Diese hat man dadurch verstärkt, dass gesagt wurde, Leute, ihr könnt das nicht, wir machen das für euch. M.F.: Meiner Meinung nach hätte es doch eine rasante Austrittsbewegung aus dem FDGB geben können und eine Neugründung von Gewerkschaften durch Leute, die aus der DDR-Opposition kamen. Das passierte nicht. Die Beratungssekretäre hätten von unten das know how beisteuern sollen. Wir haben denen gesagt, zuerst seid ihr nur Berater, ihr sollt erst einmal nur in den Betrieben beraten und bitte nicht in die Gewerkschaftshäuser gehen. Wenn ihr betriebliche Kontakte habt, versucht dort so eine Art Runde Tische zu machen. Meine Vorstellung war im Grunde sehr einfach. Es gibt Leute, die unten was wollen und man muss eigentlich nur mit seinem ÖTV-Bus vor dem Betrieb stehen, die Leute zum Stammtisch einladen, dann werden sie schon kommen, weil sie ja froh sind, endlich dieses schreckliche System loszuwerden. Dann muss aus jedem Betrieb ein Vertrauensmann benannt oder gewählt werden, da findet man schon jemanden, der Multiplikator ist. Am Anfang geht das einfach. Dann hat man eine Art Kreisvorstand, der zwar noch keine Legitimation hat, aber eine Gruppe, die die ÖTV repräsentiert. Das war meine Vorstellung für die Kommunen. Die Berater sollten diskutieren über allgemeine und betriebspolitische Fragen, praktische Vorschläge mit den Ost-Kollegen entwickeln und so die ÖTV als gestaltende Kraft beim Neuaufbau profilieren. Das alles ist nicht passiert, auch nicht bei denen, die es dezidiert gerne gewollt hätten. Sie haben keine Leute gefunden, weil zum Teil die Leute behaupteten, obwohl die SED entmachtet war, sie würden von alten Seilschaften unter Druck gesetzt. Sie könnten nicht kandidieren und sie könnten nichts tun, weil es alles so schlimm wäre. Die alten Herren wählen die neuen Herren, die Seilschaften wären wieder im Betrieb. Diese Angst und dieses Duckmäuserklima, das die DDR vorher bestimmt hatte, hat auch die Aufbauphase bestimmt. Ich kann nicht beurteilen, ob hier nur einfach meine hehren Ideale enttäuscht wurden oder ob es wirklich so war. Aber mich haben diese Briefe geschockt, die wir bekommen haben: Ich wage meine Meinung nicht zu äußern und sende ihnen das Beiliegende anonym. Mein Konzept hätte Leute mit Zivilcourage vorausgesetzt, Leute, die sagen, jetzt sind wir die Alten los, wir werden perspektivisch an die Macht kommen, wir sind diejenigen, die hier in dieser Gesellschaft gewinnen werden und deswegen fangen wir an, Politik zu gestalten. Diese Leute sind aber nicht gekommen, sondern es war wirklich so, dass unsere Betreuungssekretäre da als die großen Gurus weiter blieben. Ich saß bei solchen Sitzungen oft frustriert dabei, weil mir das alles gegen den Strich ging und ich das Gefühl hatte, permanent müde zu sein. Ich wurde zusehends lustlos, ohne dass ich zu dem Zeitpunkt klar sagen konnte, was mich eigentlich frustrierte.
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M.S.: Es gab doch eine Initiative zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Heiner Müller hat den Aufruf auf der Riesendemo am 4. Oktober verlesen. M.F.: Deswegen habe ich diese Sache auch unterstützt. M.S.: In Erinnerung ist mir die frühe Auseinandersetzung über den Aufbau von Betriebsräten. Die Vorstellung, mit Betriebsräten hebelt man die BGL und den FDGB aus, war mir sehr sympathisch. Der FDGB hat es sofort kapiert und hat sich gegen die Gründung von Betriebsräten ausgesprochen. M.F.: Das Problem war, dass wir die Betriebsratswahlen richtig ordentlich, nach dem Betriebsverfassungsgesetz, mit Urnen und allem, was dazugehört, machen wollten. Das dämpfte die Dynamik. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute Verständnis dafür hatten, dass sie eine Betriebsvertretung brauchten. Sie hatten kein Verständnis mehr dafür, warum sie denn, wenn sie diese Betriebsvertretung haben, sich auch noch mit einem Beratungssekretär zusammensetzen sollten, um irgendetwas über den Betrieb Hinausgehendes zu tun. Die Mischung aus Tarifpolitik und allgemeinpolitischer Einflussnahme der Gewerkschaften auf kommunaler Ebene wurde nicht verstanden. Die Kommune war das Feld, auf das die Gewerkschaften sich beziehen mussten, sich einmischen in die Kommunalverfassungsdebatte und ähnliche Fragen. M.S.: Es war ja so, dass die Opposition gegen das SED-System nicht aus den Betrieben kam. Das System ist aufgrund anderer Ursachen zusammengekracht, aber nicht, weil in den Betrieben der Aufstand geprobt wurde. Es war für mich erstaunlich, wie groß die Begeisterung war, das Betriebsverfassungsgesetz auswendig zu lernen und gleichzeitig die Angst, ohne gesetzlichen Segen auch nur den kleinsten Schritt zu tun. Auf dem ersten Seminar in Hattingen habe ich immer aus der Geschichte erzählt, um zu ermutigen: Wenn ihr eine Revolution macht, dann braucht ihr doch erst einmal nicht ins Betriebsverfassungsgesetz reinzugucken. Macht eine Betriebsversammlung, wählt einen Betriebsrat. Das Gesetz spielt erst einmal keine Rolle, wenn ihr die Unterstützung der Kollegen habt. M.F.: Ich erinnere mich auch an ähnliche Diskussionen. Die fragten, ist es denn legal, mit dem Betriebsdirektor zu verhandeln, hat das denn eine Wirkung? Und ich sagte, du meine Güte, Leute, um was macht ihr euch da Gedanken, ich würde mir erst einmal ein demokratisches Mandat besorgen und dann handeln. M.S.: Es gab dann sehr früh Klagen, dass die alten SED-Betriebsleiter plötzlich als Frühkapitalisten auftraten. Ich stellte dann immer die Frage: Warum lasst ihr euch das gefallen? Und erzählte von den wenigen Fällen, wo die Belegschaft den Mut hatte, solche Betriebsleiter abzusetzen. M.F.: Das ist eben meine Frage, ob wir nicht alle unterschätzt haben, welches Duckmäusertum das SED-System kultiviert hat. Es gab nur wenig Leute mit Zivilcourage. Diese Tatsache hat mich auch erschüttert. Ich erinnere mich an einen Streit mit Jürgen Matschke [Hauptabteilungsgeschäftsführer Gemeinden], der irgendeinen Brief ganz toll fand, weil sich jemand über alte Seilschaften bei uns beschwerte und klagte, dass er seine Meinung nicht sagen könnte. Ich konnte den Brief nicht toll finden, ich fand ihn ganz schlimm. Es gab keine Stasi mehr. Warum ging die Frau nicht an die Öffentlichkeit, warum schrieb sie uns den Brief anonym, warum schrieb sie an Monika Wulf-Mathies, warum ging sie nicht zu ihren Kolleginnen und Kollegen?
262 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Ich glaube, dass viele verantwortliche Leute bei uns die Angst hatten, dass drüben das Chaos noch größer werden könnte. Diesen Druck, dass die Leute eine bestimmte Zeit brauchten, um sich in den neuen Bedingungen und Verhältnissen zurechtzufinden, wollte man nicht aushalten. Auf dem schnellsten Weg wurden Berater und Spezialisten in den Osten geschickt. Das war auf der eine Seite positiv, weil die Menschen warteten, dass Hilfe kommt. Die Kehrseite dieser Medaille war die Stimmung: Die wissen alles besser, die machen alles nach ihrem Modell, von uns bleibt nichts bestehen, wir können uns nicht einbringen. M.F.: Ich bin ganz fest davon überzeugt, ich habe hier zu denken aufgehört. Mein innerliches positives Engagement war zu Ende, als dieser Prozess des Organisierens und Kungelns anfing. Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über andere Alternativen nachgedacht. Es war kein Thema mehr. M.S.: Wurde denn bei euch die Alternative diskutiert, versucht man so schnell wie möglich zu helfen oder hält man den Druck aus, der dadurch entsteht, dass unübersichtliche Verhältnisse andauern, weil die Menschen Zeit für ihren Lernprozess brauchen? M.F.: Das war von vornherein völlig klar. Hier ging es nicht um die Frage, den Menschen einen Lernprozess zu ermöglichen, sondern um die Frage, wie hält man die Organisation zusammen? Von daher wurde über diese Alternative nicht diskutiert, weil es eben von vornherein ein Organisationsprojekt war.
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Franz Fuchs Sekretär im zentralen Organisationsbüro der ÖTV-Hauptverwaltung Interview vom 22. Februar 1993 F.F.: Während meiner Ausbildung bei der Deutschen Bundesbank bin ich 1963 Gewerkschaftsmitglied geworden. Ich bin 1967 zur ÖTV gewechselt, war Vertrauensmann und ehrenamtlicher Funktionär, also Mitglied im Kreisvorstand und über diesen Weg bin ich zur Sozialakademie in Dortmund gekommen. Seit 1973 bin ich hauptamtlicher Sekretär, fünf Jahre davon als Verwaltungssekretär in München, danach fünf Jahre Abteilungsgeschäftsführer im Bezirk Bayern und ab 1982 in der Hauptverwaltung. Dort war ich Mitarbeiter im Referat Aus- und Weiterbildung. Von 1984 bis 1989 war ich für die Aus- und Weiterbildung und ab Sommer 1989 im zentralen Organisationsbüro für organisationspolitische Fragen zuständig. Ich bin in diesem Zusammenhang natürlich mit den Fragen Entwicklung und Aufbau von Organisationsstrukturen in den neuen Bundesländern konfrontiert gewesen. Im Dezember 1989, wenige Tage vor Weihnachten, hat es den Besuch einer Delegation der MSK gegeben, die sich, das ist unsere nachträgliche Interpretation, im Rahmen dieses Besuches qualifizieren wollte. Über diese Berührung hinweg, haben wir uns durch zwei private Besuche in der Noch-DDR selbst einen Eindruck verschafft, der zu einer gravierenden Veränderung der Sichtweise innerhalb der ÖTV Anfang des Jahres 1990 geführt hat. M.S.: Welche Leute waren das von der MSK? F.F.: An diesem Gespräch hat auf alle Fälle die Gertraude Sinn [Vorstandsmitglied der MSK) teilgenommen und noch ein weiteres Vorstandsmitglied der MSK. Walter Eberhardt [Sekretär des gHV] und ich waren uns einig, dass wir denen keine aktive Hilfe geben. Wir wollten nur ein Gespräch mit denen führen, aber mehr nicht. M.S.: Wer hat außer euch beiden noch teilgenommen? F.F.: Das war eine ziemlich große Runde, mit den Vertretern des Bezirks BadenWürttemberg haben fast 20 Leute teilgenommen. M.S.: Was habt ihr besprochen? F.F.: Gertraude Sinn und der Kollege haben dargestellt, dass sich eben seit November ein ziemlicher Veränderungsprozess vollziehe und sie jetzt von innen heraus plötzlich vor die Situation gestellt seien, auch Tarifverhandlungen führen zu müssen. Für diese Aufgabe wollten sie sich qualifizieren. Sie wollten von uns über Strukturen informierte werden und Materialien bekommen. M.S.: Du sagtest, nach euren privaten Besuchen hätte sich die Sichtweise der ÖTV zur DDR verändert. Wie war denn diese? F.F.: Die Sichtweise war wohl dadurch gekennzeichnet, dass es im gHV im Dezember 1989 eine Haltung gab, die auf Abwarten setzte. Die Devise war Abwarten. Weil wir über dieses Gespräch hinaus keinerlei Beurteilungsmöglichkeiten hatten, haben wir uns entschieden, private Besuche im Grenzbereich vorzunehmen, um ein kleines bisschen mehr zu erfahren. Einfach mal gucken und sich selbst ein Bild machen, ein anderes Bild als das, das man jeden Tag durch die Medien und das Fernsehen, vermittelt bekam.
264 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Und wie lief das? F.F.: Wir, das waren Peter Schmidt und Karl-Heinz Dollmeier [Geschäftsführer der Vermögensverwaltung der ÖTV], sind Ende Januar, samstags, nach Plauen gefahren. Plauen war eine Stadt mit 100.000 Einwohnern. Da sind wir vormittags hingefahren, sind ein bisschen herumgelaufen und haben allgemeine Eindrücke gesammelt. Das reichte natürlich nicht aus. Und so sind wir nochmals am 6./7./8. Februar für mehrere Tage gefahren. Wieder zu dritt, diesmal mit Peter Schmidt und Jürgen Holz, dem Referatsleiter für Vertrauensleute, Organisation und Werbung. Am ersten Abend sind wir nach Hof gefahren und haben mit den Kollegen vor Ort über ihre Kontakte geredet, die sie im Grenzbereich hatten. Wir sind am nächsten Tag mit ihnen gemeinsam nach Plauen gefahren, wo es sowohl Kontakte zu Funktionären gab als auch die Möglichkeit, einen Textilbetrieb mit 800 Beschäftigten zu besichtigen. Diese drei Situationen, das Gespräch mit den Funktionären unterschiedlicher Gewerkschaften aus dem FDGB, die Betriebsbesichtigung und am Nachmittag eine Funktionärsversammlung mit ungefähr 30 Leuten haben bei uns schon sehr, sehr viele Fragen aufgeworfen. Am nächsten Tag sind wir nach Sonneberg gefahren, weil es dort von der Kreisverwaltung Coburg her Kontakte zu den Verkehrsbetrieben Sonneberg gegeben hat. Wir haben eine Betriebsbesichtigung gemacht, haben uns vom Geschäftsführer etwas über die Aufgaben des Betriebes erzählen lassen und haben anschließend mit den Leuten auch teilweise alleine geredet. Dann sind wir weitergefahren nach Suhl, haben uns auch dort allgemeine Eindrücke verschafft. Anschließend versuchten wir ein Resümee zu ziehen. Es gab zu diesem Zeitpunkt schon den Gedanken, ein Informationsbüro in Berlin mit einem Sekretär einzurichten. Wir dachten, dass die immer rasanter werdende Entwicklung von uns nur so begleitet werden kann, indem wir in jedem DDR-Bezirk mindestens ein Büro haben. Unser Eindruck nach diesen Betriebsbesichtigungen war, dass die Betriebe unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zusammenbrechen werden. Vor diesem Hintergrund haben wir gesagt, wir müssen zu demokratischen gewerkschaftlichen Strukturen, zu demokratischen Gewerkschaften, kommen, wenn wir überhaupt den Menschen in den Betrieben helfen wollen. Es war zwar noch nicht absehbar, wie sich das politisch entwickelt, aber auf die Situation im Betrieb bezogen war es so, dass du ohne sämtliche Details zu kennen, feststellen konntest, dass sie nicht überlebensfähig sind. Wir haben für uns die Schlussfolgerung gezogen, dass sich die politische Entwicklung in einem Tempo vollziehen wird, dass wir nicht mehr mitkommen, wenn weiter warten. Deshalb haben wir gesagt, wir müssen zunächst in jedem Bezirk ein Büro einrichten. M.S.: War es so, dass die Leute gesagt haben: Mensch, kommt rüber! F.F.: Wir haben am Rande des ersten Tages auch Gespräche mit ganz normalen Mitgliedern geführt und sie haben aus ihrer alltäglichen Praxis erzählt. Das waren einmal Frauen, die in dieser Wäscherei am Band standen. Die haben über den Krankenstand, die Arbeitsschutzbestimmungen, das Verhältnis von Menschen, die in der Produktion standen zu denen, die Verwaltungstätigkeiten wahrgenommen haben, berichtet. Das war schon, das kannst du nicht anders ausdrücken, beeindruckend. Das Ergebnis war, dass sie sagten, sie brauchen Einrichtungen wie die Gewerkschaften in der alten Bundesrepublik, damit sie überhaupt mit dem Betrieb überleben können. Wir sind am Freitag zurück nach Stuttgart gekommen und haben Willi Mück berichtet. Er war wohl zu diesem Zeitpunkt schon überzeugt davon, dass wir viel massiver und
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aktiver in den Prozess eingreifen müssten. Wir haben verabredet, dass wir unseren Besuch systematisch auswerten. Am nächsten Tag haben wir uns, bei Peter Schmidt zu Hause gemeinsam mit Margareta Fohrbeck getroffen, die unsere Ansprechpartnerin im Vorstandssekretariat 1 war. Dann haben wir noch mal Schritt für Schritt diskutiert, welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Dabei haben wir immer noch den Eindruck gehabt, dass das VS 1 das Ganze eher zurückhaltend betrachtet und noch weiter abwarten wollte. Während wir meinten, dass wir massiver in den Prozess eingreifen müssten. Mit diesen Überlegungen, die wir am Samstagabend diskutiert haben, ist Willi [Mück] am Montag in den gHV gegangen. Wir wissen aus der weiteren Diskussion, dass eine Viertelstunde vor der gHV-Sitzung die Vorlage, mit der die Vorsitzende in die Sitzung gegangen ist, geändert wurde. Da sind aus dem einen Beratungs- und Informationsbüro in Ost-Berlin die vierzehn Beratungsbüros worden. Sie waren zum Zeitpunkt der Beschlussfassung als Beratungs- und Informationsbüros angelegt, aber diskutiert wurden sie schon als Grundlage für ein aktives Eingreifen in der DDR. Das ist diesem Montag so beschlossen worden. Danach gab es zwei Entwicklungen, die die weitere Vorgehensweise beeinflusst haben. Am Mittwoch hatten wir die Geschäftsstellen der Kreisverwaltungen an der ehemaligen DDR-Grenze eingeladen, um von denen zu erfahren, was sie für Kontakte haben. Das ergab ein höchst unterschiedliches Bild. Da gab es Kreisverwaltungen, die sehr weit waren, d.h. die zu der Zeit schon Bildungsarbeit auf betrieblicher Ebene machten. Die schon Tarifverträge abgeschlossen haben, die alleine gehandelt haben, ohne sich dafür ein Plazet von oben geholt zu haben. M.S.: Wie konnten sie im Osten Tarifverträge machen? F.F.: Es hat mit Kombinatsdirektoren eigene Verträge gegeben, die ausgehandelt wurden vom Geschäftsführer – beratend. Auf eigene Faust, ohne von jemandem Rückhalt zu haben. Eine andere Gruppe waren diejenigen, die sich in starkem Umfang in die alten Strukturen haben einbinden lassen. Die hatten sehr viele Kontakte zu FDGB-Strukturen, wo im Grunde nur ein Austausch auf Funktionärsebene stattgefunden hat, wo vorsichtig operiert wurde, qualifiziert wurde, aber in dieser Richtung bot man bestimmten Leuten das Feld. Und das war vollkommen konträr zu unserer Auffassung, weil wir uns eine Änderung, einen Neubeginn nur ohne diese hauptamtlichen FDGB-Kader vorstellen konnten. M.S.: Hattet ihr das schon mal vorher diskutiert? F.F.: Wir haben am Beispiel von einzelnen Beobachtungen diskutiert und sind zu diesem Schluss gekommen. Ein Schlüsselerlebnis war in dem Zusammenhang diese Betriebsbesichtigung in Plauen. Da hatten wir vorher ein gemeinsames Gespräch mit der Betriebsgewerkschaftsleitung und den hauptamtlichen Funktionären. Da gab es innerhalb des FDGB die Diskussion, dass sich die BGL-Mitglieder demokratisch legitimieren lassen müssten. Diese Diskussion unter den Funktionären, drehte sich um die Frage, ob man sich überhaupt dieser Wahl stellen sollte. Die bei mir saßen, sind zu der Beurteilung gekommen, dass sie vorläufig gar nichts machen wollten. Die dachten nicht daran, sich erneut zur Wahl zu stellen, sondern hofften, dass die Mitglieder das vergessen und über die Geschichte Gras wächst. Wir haben die Einsicht gewonnen, dass vom Verständnis her unsere Auffassungen von unabhängigen und freien Gewerkschaften so weit auseinander liegen, dass man eine neue Gewerkschaft nicht mit alten FDGB-Funktionären aufbauen kann. Über diese Frage hat es unterschiedliche Meinungen gegeben, denn zu der Zeit hatten viele Abteilungen schon Kontakte hergestellt. Daran, wer welche Kontakte hatte, konnte man erkennen, welche Position er einnahm: neue Gewerkschaft aufbauen oder mit
266 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview den FDGB-Gewerkschaften kooperieren. Die letzte war nicht unsere Position. Das mag vielleicht auch an der Erfahrung gelegen haben, die wir bei den Betriebsbesichtigungen in Plauen machten. Dort waren noch alte BGLer, in Sonneberg, in dem Verkehrsbetrieb, da hatten sie gerade 14 Tage vorher mit Unterstützung der Kreisverwaltung Coburg einen neuen Betriebsrat gewählt. Da gab es an diesem 7. Februar schon keine Betriebsgewerkschaftsleitungen mehr. Das waren vollkommen unbedarfte neue Leute, die ganz anders über ihre Schwierigkeiten, über die Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung berichtet haben, als wir in Plauen feststellen konnten. Das war ein Einschnitt für uns, weswegen wir auch zu einem differenzierten Bild gekommen sind. M.S.: Wie wurden die Berater ausgesucht? F.F.: Auf der Hauptvorstandssitzung ist dieses Gesamtpaket beschlossen worden, also erstens die Einrichtung einer Informationsstelle in Berlin, zweitens die Einrichtung von 14 Beratungsbüros in den Bezirkshauptstädten und drittens der Ausbau der Aktivitäten in den grenznahen Kreisverwaltungen. Gleichzeitig hat der Hauptvorstand gesagt, dass ein gezielterer Ressourceneinsatz stattfinden sollte. Das hat dazu geführt, dass Werner Ruhnke und ich den Auftrag erhalten haben, eine sinnvolle Zuordnung der ÖTV-Bezirke (West) zu den DDR-Bezirken vorzunehmen. Und das haben wir an dem Abend nach der Hauptvorstandssitzung gemacht, wobei im Wesentlichen diese bezirkliche Zuordnung meine Entscheidung war. M.S.: Was heißt sinnvoll? Wenn ich daran denke, dass das Saarland z. B. Cottbus gekriegt hat? F.F.: Ja, ja. Derjenige, der das unter diesen Aspekten betrachtet, wird sagen, diejenigen, die das gemacht haben, haben sich überhaupt nichts dabei gedacht. Aber das muss man natürlich unter Berücksichtigung der politischen Diskussionen, die so drum herum stattgefunden haben, sehen. Man muss also wissen, dass Jürgen Kaiser [seit 9. Juni 1990 Vorsitzender der GÖD], sehr gute Kontakte zu Berthold Kiekebusch, den Bezirksvorsitzenden von Nordrhein-Westfahlen II hatte. Kiekebusch hatte ein Interesse, auch aufgrund von sonstigen Aktivitäten, alle drei Bezirke Brandenburgs, sprich Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus für NW II zu reklamieren. Das wollten wir aber nicht. Aus dieser Situation heraus haben wir gesagt, jeder West-Bezirk bekommt nur einen DDR-Bezirk zur Betreuung. Die übrigbleibenden, im Westen hatten wir zwölf Bezirke, im Osten ab es 14, hat die Hauptverwaltung übernommen. So ist diese Konstellation entstanden, dass der Bezirk NW II für Frankfurt/ Oder zuständig wurde, der Bezirk Saar für Cottbus und die Hauptverwaltung für Potsdam und für Halle. M.S.: Wer hat überlegt, welche Leute als Beratungssekretäre in Frage kämen? F.F.: Nachträglich ist das ein ganz, ganz wesentlicher Punkt. Unser Ansatz war, eigentlich dürften wir nur Sekretäre rüber schicken, die hier im Westen zu den Topleuten gehören. Und zwar deswegen, weil sie in viel stärkerem Umfang als im Westen nicht bloß klassische gewerkschaftliche Aufgaben wahrzunehmen haben, sondern weil sie auch als Betriebsberater, als Unternehmensberater gefordert waren. Sie sollten sowohl den gewerkschaftlichen als auch den betrieblichen, den betriebswirtschaftlichen Bereich abdecken können. Vor allen Dingen auch einen klaren politischen Standpunkt haben. Die also eine Diskussion in Richtung Aufbau demokratischer, unabhängiger Gewerkschaften entsprechend strukturieren und unterstützen konnten. M.S.: Wie kamen die Personalvorschläge zustande?
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F.F.: Willi [Mück] hat mich beauftragt, einfach mal den Stellenplan zu nehmen und anzufangen. Ich habe eine Liste aufgestellt und dann gab es natürlich Diskussionen. Das Problem war, diese erste Liste war nicht sehr umfangreich, weil wir bei der Betrachtung sehr schnell feststellen mussten, wo unsere personellen Grenzen sind. Ich denke mal, für eine zeitgeschichtliche Betrachtung ist das sehr wichtig, unser Ansatz war nicht: Wer will? Sondern unser Ansatz war, die Besten rüber zu schicken. M.S.: Das war die gute Absicht am Anfang? F.F.: Das war die gute Absicht am Anfang, die aber schon in den ersten vierzehn Tagen, bevor es zu dieser Veranstaltung im BBZ kam, zum Teil über Bord geworfen wurde. Als wir Ende Februar feststellten, dass wir nicht über ausreichend Sekretäre verfügten, sind Gespräche mit den Bezirken geführt worden, wer rekrutiert werden könnte. M.S.: Potsdam und Halle habt ihr mit Leuten aus der Hauptverwaltung besetzt? F.F.: Ja. Den Hans-Günther Kempf [Rentner, Berater in Halle], den haben wir ganz am Anfang, ich glaube am 14. Februar, schon eingekauft. Das war ein Zufall. Ich bin mit Willi [Mück] nach der Hauptvorstandssitzung in der Kellerschänke ein kleines Bier trinken gegangen. Da ist uns der Kempf über den Weg gelaufen und hat erzählt, er hätte gerade wieder irgendwo in der Noch-DDR auf größeren Betriebsversammlungen Reden geschwungen. Dann hat Willi [Mück] gesagt: Das ist gut, dann miete uns mal Wohnungen und Büros an und zwar in Halle, Leipzig und Chemnitz. Mit Klaus Böhm begann die zweite Runde. Wir hatten einen Großteil der Büros nicht besetzt. Da haben wir gesagt: Gut, wer Interesse hat, kann sich melden. M.S.: Mit welchen Vorgaben habt ihr die Berater in die DDR geschickt? Wie sollten sie sich gegenüber dem FDGB verhalten? F.F.: Ich will das mal an einem Teilaspekt festmachen. Die Frage, ob man die Beratungsbüros in den FDGB-Häusern anmietet. Diese Diskussion hat mindestens auf drei Beratertreffen eine ganz zentrale Rolle gespielt. Es gab zwei vollkommen gegensätzliche Positionen. Die Einen sagten: Wenn wir das machen, diskreditieren wir uns selber, weil Leute, die eine unabhängige, demokratische Organisation wollen, sich damit nicht identifizieren können und die anderen: Die Leute kennen die Gegebenheiten. Unsere politischen Vorgaben waren nicht so klar, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Aber ich denke, dass ein Stück weit auch die politischen Diskussionen im Vorstand sich hier widergespiegelt haben. Zwischen denen, die abwarten wollten und denen, die Annäherungsversuchen ausgesetzt waren wie z.B. der Transport- und Verkehrsbereich durch die IG Transport. Willi [Mück] hatte eine ganz klare Gegenposition. Er sagte: Wir haben mit denen überhaupt nichts am Hut. Wir wollen mit denen auch nichts am Hut haben. Wir bauen eine eigene Organisation auf, mit eigenen Strukturen und wir können nur von unten her das Ganze aufbauen. Wir haben uns dann in den Beratertreffen im April und Mai 1990 lange darüber gestritten, ob und ab wann wir Mitglieder aufnehmen, und zwar ohne Umwege, direkt in die ÖTV. Wir haben die Diskussion, ab wann wir aufnehmen, eigentlich schon viel früher begonnen. Und zwar ist diese Diskussion Anfang Januar 1990 ausgelöst worden. Da wollten die Mitglieder des Energiekombinats Berlin Mitglieder der ÖTV werden. Der gHV hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt und lang und breit diese Frage klären lassen. Von dem Zeitpunkt an haben wir die Diskussion geführt. Ich habe zwischendrin im April mit Otto
268 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Ernst Kempen [Prof. für Arbeits- und Verfassungsrecht an der Akademie der Arbeit in Frankfurt] die Frage unter verfassungsrechtlichen Aspekten diskutiert. Was müssen wir denn für organisatorische Grundlagen schaffen, damit wir aufnehmen dürfen? Wir hätten zum damaligen Zeitpunkt nach unserem gemeinsamen Verständnis in Berlin aufnehmen können, ansonsten aber noch nicht. Die Diskussion ist zurückgestellt worden, weil sich die Diskussion nach dem 7. März auf dem folgenden Beratertreffen zunächst um das Ergebnis der Wahlen gedreht hat. Es war ja ein ziemlicher Schock, weil eine Einstellung vorherrschte, dass es eine SPD-Mehrheit geben würde. Das Ergebnis mit dem überwältigenden CDU-Erfolg, das hat doch allen zu schaffen gemacht. Die Diskussion ging in den darauf folgenden Wochen darum, wie die Arbeit der Büros verbessert und wie die personelle Situation verbessert werden könnte, um dem auf uns einstürmenden Arbeitsdruck gerecht zu werden – wie schafft man die entsprechenden Informationsmaterialien rüber und, und, und. Das waren die Fragen, die die ersten zwei, drei Beratertreffen geprägt haben. Das was wir zentral gemacht haben, war ja einem Teil der Kreisverwaltungen nicht schnell genug. Die einen wollten, dass wir weiterhin mit den Alten zusammenarbeiten sollten, um auf die Art und Weise die vorhandenen Strukturen zu nutzen und die anderen wollten, dass wir eine ÖTV gründen, damit sie formell Mitglieder unserer Organisation werden können. Diese Diskussion ist zunächst nur in Teilbereichen geführt worden und hat ihren eigenen Stellenwert bekommen, als plötzlich in Plauen gesagt wurde: Wir gründen eine eigene ÖTV. Ich glaube, dass war Anfang April 1990. Es gab auch andere Initiativen, wobei für uns erst sehr viel später deutlich wurde, dass ein Teil dieser Initiativen Hauptamtlichen-Initiativen waren. Nur wenige waren durch eine Bewegung von unten getragen. Das ist eine Entwicklung gewesen, mit der man sich zum damaligen Zeitpunkt intensiver hätte auseinandersetzen müssen, denn darin liegen natürlich auch viele Versäumnisse begründet. M.S.: Und wo liefen die politischen Diskussionen in der Hauptverwaltung? F.F.: Die politischen Diskussionen liefen in zwei Diskussionskreisen, einmal unter den gHV-Mitgliedern und zwar im Wesentlichen unter Monika [Wulf-Mathies], Willi [Mück] und Wolfgang [Warburg] und in der Steuerungsgruppe. Das heißt, diejenigen Mitglieder der Steuerungsgruppe, die in Stuttgart anwesend waren, haben den Diskussionsprozess anders erlebt und begleitet als zum Beispiel Regine Erhardt [Leiterin des BBZ] oder Werner Ruhnke, die aus Berlin angereist kamen und nur zu den Sitzungen anwesend waren. Während wir den Vorteil hatten, dass wir zu der Zeit 18 Stunden im Büro waren. Dieser Versuch von den Hofern ist von uns deshalb sehr kritisch gesehen worden, weil wir wussten, dass wenn jemand mal den Platz besetzt hat, dass es für uns organisatorisch noch viel schwieriger sein wird, eine ÖTV in der DDR zu installieren. Und deswegen haben wir in Gesprächen vorher immer wieder versucht, die, die aufs Tempo gedrückt haben, zu vertrösten und von unserer Position und Vorgehensweise zu überzeugen. Nun wollten uns die Hofer vor vollendete Tatsachen stellen und haben uns eines Tages eine handschriftlich ergänzte Satzung der ÖTV als ihren Satzungsentwurf einer ÖTV in der DDR übermittelt. Zu dieser Veranstaltung, das ist der Beleg dafür, dass unsere Einschätzung damals richtig war, sind natürlich alle möglichen Anderen mit angereist bis hin zu Dr. Wegrad [Vorsitzender der MSK/GÖD], der da auch noch die Fäden gezogen hat. Ich weiß nicht, ob du das Video schon angeschaut hast. Der Eckhard Stade hat mir gesagt, der Wegrad hätte durch Zeichensprache seine Diskussionsteilnehmer gesteuert bei dieser Veranstaltung.
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Wir haben entschieden, dass der Peter [Schmidt] hin fährt und versucht, diese Entwicklung zu stoppen. Uli Hammer [Leiter des zentralen Rechtsbüros der ÖTVHauptverwaltung] hat von Monika [Wulf-Mathies] den Auftrag erhalten, rechtliche Schritte auszuarbeiten, um den Namensgebrauch zu untersagen und Werner Ruhnke hat den Auftrag erhalten, die Initiativen, die es gab, zu bündeln und sie zu einem gemeinsamen Initiativentreffen zusammenzuholen. Das war der Prozess, der um Ostern 1990 lief. Nach Ostern hat der Werner [Ruhnke] für den 7. Mai die Initiativen zur Gründung einer ÖTV in der DDR, nach Hohenschönhausen eingeladen. Bis dahin ist zunächst nicht viel passiert. Halt doch, zwischenzeitlich hat Jürgen Angelbeck seinen Merseburger Aufruf unter das Volk gebracht. Der wollte auch eine eigene ÖTV gründen. An diesem Merseburger Aufruf haben nur drei Leute gearbeitet. Das ist eine Feststellung, die wir erst nachträglich treffen konnten, davon wussten wir zum damaligen Zeitpunkt nichts. Wir konnten nicht beurteilen, wie viele Interessierte wirklich mitgearbeitet hatten. Auf alle Fälle hat dieses gesamte Konglomerat am 7. Mai in Hohenschönhausen teilgenommen. Diese Diskussion in Hohenschönhausen war geprägt einerseits von den Versuchen, wirklich unabhängige Gewerkschaften aufzubauen und auf der anderen Seite von den Vertretern der einzelnen FDGB-Gewerkschaften, die versuchten, diesen Prozess zu beeinflussen. M.S.: Vorher gab es doch das Kooperationsabkommen mit der IG Transport? F.F.: Das Kooperationsabkommen, wo der Versuch gemacht wurde, die ÖTV vor den Karren zu spannen. Wir haben das damals als ein vertretbares Übel angesehen, aber wir waren nicht der Auffassung, dass wir dieses Kooperationsabkommen zum damaligen Zeitpunkt gebraucht hätten. Unsere Haltung war die, man müsse das Kooperationsabkommen machen, um zu verhindern, dass eine eigene Transportgewerkschaft an der ÖTV vorbei gegründet wird. Solche Gedanken gab es im Wesentlichen von einem Teil der Vorstandsmitglieder, die nicht wussten, ob sie ihre Haut retten können oder nicht. M.S.: Biesold hat das abgestritten. F.F.: Das ist schwierig. Ein Teil hat so gedacht. Der entscheidende Punkt war: Wir, die Vertreter vom VS 6, sind bei diesem Initiativentreffen in Niederschönhausen darauf gekommen, dass sich noch zu viele Alte an diesem Prozess betätigen und haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass wir in zweierlei Hinsicht Tempo machen müssen. Einmal, was die Gründung einer ÖTV in der DDR angeht und zum zweiten die Frage, wie wir den Einfluss der Alten bis zu diesem Zeitpunkt so in Schach halten können, dass kein unwiderruflicher Schaden entsteht. Wir sind mit einer sehr verzinkten Strategie drangegangen, die als solche aber klar war. Ich glaube, am 11. Mai war wieder eine Hauptvorstandssitzung und da hat der Hauptvorstand seine Position bekräftigt und unter anderem festgelegt, dass die Gespräche mit den FDGB-Gewerkschaften, die unseren Bereich abdecken, fortgesetzt werden sollen in Richtung Kooperation etc. Da wurde dann die berühmte Arbeitsgruppe vom Gerd Drews [Sekretär im Organisationsbüro) eingesetzt, der mit denen eine sogenannte Ist-Aufnahme machen sollte. Die war eigentlich nur eine Beschäftigungstherapie für die Altfunktionäre, um über eine bestimmte Zeit hinwegzukommen. Der zweite Schritt war, ohne dass das vorher gesagt wurde, das haben nur drei oder vier Leute gewusst, dass Manfred Bartsch [Berater in Magdeburg] den Auftrag erhalten hatte, aus der Initiative in Magdeburg, auf der Veranstaltung am 11. Mai abends, die ÖTV in der DDR zu gründen, weil das Risiko für uns, noch abzuwarten, zu groß wurde. Von dieser Sache im Vorfeld wussten außer denen, die an der Planung beteiligt waren, Willi [Mück], Horst Fricke, Manfred Bartsch, Peter [Schmidt], Jürgen Holz und ich. Wir
270 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview sind dann an dem 11. Mai abends ebenfalls nach Magdeburg gefahren und zu dieser Veranstaltung gestoßen, haben mit den Leuten geredet und uns am nächsten Tag noch mit verschiedenen organisatorischen Dingen auseinandergesetzt, z.B. ob der Gründungsgewerkschaftstag ebenfalls in Magdeburg stattfinden könne. In der Veranstaltung am 7. Mai ist verabredet worden, dass sich die Initiativen wöchentlich im BBZ treffen, um einen Satzungsentwurf ausarbeiten. Dieser Satzungsentwurf ist im Wesentlichen von mir begleitet worden. M.S.: Gibt es eine Liste, welche Initiativen dabei waren? F.F.: Ich kriege einen Großteil der Teilnehmer noch zusammen, von den Organisationen und von den Orten her. Berlin war vertreten. Dann waren anwesend Plauen, Halle und Merseburg, Magdeburg, Chemnitz noch mal extra, dann die Gewerkschaft Wissenschaft, vertreten durch Dr. Wolfgang Mallok und Dr. Maria Elm, die IG Transport mit KarlHeinz Biesold, Andreas Hess und Roland Erhardt sowie die GÖD mit Gertraude Sinn und anderen GÖD-Leuten. Dann von der Gewerkschaft Gesundheit Peter Herold und noch Vertreter der Zivilbeschäftigten sowie der Vorsitzende der Gewerkschaft der Armeeangehörigen. M.S.: Aus dem Norden? Rostock? F.F.: Nein, Rostock nein. M.S.: War euer Eindruck, dass es ein elementares Bedürfnis nach einer eigenständigen ÖTV in der DDR gab? F.F.: Nein, das würde ich vollkommen in Abrede stellen. Unser Eindruck war, dass der Druck auf die ÖTV von den Gewerkschaften, die unseren Organisationsbereich im FDGB abdeckten, zunehmend stärker wurde. M.S.: Welchen Druck meinst du? F.F.: Es gab insbesondere von der Gewerkschaft Wissenschaft und von Gesundheit den Versuch, die ÖTV unter Druck zu setzen, so nach dem Motto: Wenn wir nicht bald zu einer Kooperationsvereinbarung kommen, können wir nicht versprechen, dass die Mitglieder im jetzt noch vorhandenen Größenverhältnis zu euch kommen. Es hat bei uns zu dem Zeitpunkt immer noch welche gegeben, die der Auffassung waren: Je mehr, je besser. Während wir schon lange die Position hatten, dass jeder Beschäftigte einzeln beitreten müsse. Die IG Transport wollte uns immer noch dazu zwingen, kollektiv beitreten zu können. Das fing an bei einer gemeinsamen MIBEV an und ging bis zu einer geplanten Urabstimmung. M.S.: Wenn kein Druck da war, eine eigenständige ÖTV zu gründen, warum habt ihr euch trotzdem entschieden, eine ÖTV in der DDR zu gründen? F.F.: Zu dem Zeitpunkt 7. Mai war der Vereinigungstermin immer noch nicht abzusehen. Wir haben nach langen Diskussionen und Beratungen, mit Otto Ernst Kempen und mit Ulrich Zachert [Prof. für Arbeitsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg], mehrere Wege diskutiert und verworfen. Der optimale Weg war eine ÖTV in der DDR zu gründen und zwar mit einer Konstruktion, wie sie die Unternehmen anwenden, mit Gewinnabführung und einem Beherrschungsvertrag. Wir wollten eine Organisation, die unter den noch vorhandenen rechtlichen Bestimmungen der DDR uns Möglichkeiten einräumt.
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M.S.: Das hat Jürgen Angelbeck ganz richtig gesehen. F.F.: Ja. Der Angelbeck wollte aber eine selbständige Konstruktion und alles realisieren, was er schon immer erträumt hatte. Wir hätten danach, wenn wir diese Organisationen hätten zusammenführen wollen, von gleich zu gleich verhandeln müssen. Das wollten wir nicht. Bei der Satzungsdiskussion hat Angelbeck gezielt quer geschossen, und der Eckhard Stade hat Eigeninteressen vertreten. M.S.: Das waren Vorbereitungstreffen für die Gründung der ÖTV in der DDR? F.F.: Das waren die Beauftragten der Initiativen für eine Satzungsdiskussion einer ÖTV in der DDR. M.S.: Wie groß war der Kreis? F.F.: Das waren bis zu 30 Leute. M.S.: Wie oft habt ihr euch getroffen? Waren auch Berater dabei? Gab es Überschneidungen? F.F.: Ja, das war ein offener Kreis, da gab es sehr starke Überschneidungen. Da war bis zu dieser Vertreterin der Gewerkschaft Wissenschaft alles dabei. Das Problem war, der Werner [Ruhnke] hat die Geschichte sehr offen anlaufen lassen und wir haben uns mit den praktischen Sachen herumschlagen müssen. Wenn wir das stärker hätten beeinflussen können, hätten wir die Gruppe kleiner gemacht und auch nicht zugelassen, dass sich beispielsweise Vorstandsmitglieder von den noch vorhandenen FDGB-Gewerkschaften tummelten und versuchten, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Von den Beratern war der Angelbeck ständig da, und der Eckhard [Stade] hat auch regelmäßig teilgenommen. Die Satzung ist erst geglückt in der Nacht vor der Veranstaltung in Magdeburg. An dem Ausschalten von Angelbeck war ich in der vorletzten Sitzung dabei. Es war die Besprechung der Berater mit dem gHV am 6. Juni. Man muss vielleicht dazu sagen, Ende Mai hat es diese Deklaration gegeben: Auf dem Weg zu einer einheitlichen ÖTV in der DDR, die von den fünf Alt-Organisationen unterschrieben wurde. Das war aber nur eine Schaufenstergeschichte, um über die Zeit zu kommen. Wir wussten ja nicht so genau, was wir von denen alles zu halten hatten. Wir hatten zwar sehr viele Informationen, aber wir wussten auch vieles nicht. Ich bin durch Zufall Zeuge einer Diskussion geworden auf dem Weg zum Beratertreffen. Da war vorher eine Sitzung der Arbeitsgruppe von Gerd Drews, wo diese Vorstände alle drin saßen. Sie sind nachmittags nach Berlin zurückgeflogen und saßen im Flieger zwei Reihen vor mir. Da sie mich nicht kannten, haben sie relativ locker vom Leder gezogen, d.h. ihre Positionen zum Ausdruck gebracht. Da kam heraus, dass sie immer noch mit allen Mitteln um ihre Positionen kämpfen wollten und mit unseren Aktivitäten nichts am Hut hatten. Dies hat bei uns dazu geführt, dass wir uns stärker von ihnen absetzen wollten, um den potentiellen Mitgliedern zu signalisieren, dass wir einen eigenständigen Aufbau von Grund auf beginnen wollen. M.S.: Wie erfolgreich war die Gründung der ÖTV in der DDR? F.F.: Die Gründung der ÖTV in der DDR hat aus meiner Sicht verhindert, dass sich in der Zeit zwischen Ostern und der Gründung am 9. Juni Teile der Funktionäre der AltGewerkschaften mit ihren Gedanken verselbständigen und eine eigene Organisation aufbauen konnten. Das haben wir damit verhindert. Wenn man nachträglich betrachtet, ob es sonst noch einen Nährwert gegeben haben könnte – diese Betrachtung kann man sich
272 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview sparen. Denn wenn ausschließlich das damit erreicht wurde, war das genug, weil damit unser Ziel erreicht war. M.S.: Hätte man eine bessere Organisationspolitik machen können? F.F.: Es ist sehr schwer, eine Antwort zu geben. Aus meiner Sicht denke ich schon, dass der Ansatz, wie die Arbeit angelegt war, richtig war und dass es auch der richtige Weg war. Meines Erachtens ist ihn die ÖTV nur halbherzig gegangen, denn eines war natürlich klar, das wusste man schon nach der Gründung der ÖTV in der DDR: Der Beratungsbedarf hatte ja kaum mehr qualifizierbare Größenordnungen angenommen. Und unsere Beurteilung der Sachlage war die, dass wir gesagt haben, wenn neben der Beratungsarbeit von heute auf morgen auch noch die gesamte Organisationsarbeit, von der Beitragskassierung und Verwaltung über die normale lokale Arbeit bis hin zur Tarifarbeit und dem Aufbau von gesetzlichen Interessenvertretungen, wenn das alles auf die Organisation zukommt, einschließlich den mit den Verhältnissen in den alten Bundesländern überhaupt nicht vergleichbaren Beratungs- und Unterstützungsbedarfes bei der Umstrukturierung der Betriebe, dann war das mit den angelegten Strukturen und Ressourcen nicht zu schaffen. Das haben wir kritisiert. Wir haben gesagt, wir müssen darüber hinaus Voraussetzungen schaffen mit anderen Größenordnungen, mit zusätzlichen Strukturen, mit zusätzlicher Qualität. Da hat sich die Geisteshaltung, die bis dato in der Organisation insgesamt vorherrschte, breit gemacht, dass sich das schon irgendwie richten wird. Man hat sich von den operativen Geschichten erschlagen lassen und die strategischen Schlussfolgerungen nicht gezogen. M.S.: Was meist du mit strategischen Schlussfolgerungen? F.F.: Es hatte ja die Auseinandersetzung um die Auflösung der Polikliniken gegeben. Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, es gäbe auch positive Seiten der DDR, die man erhalten sollte. Die ÖTV hat es nicht geschafft, Schlussfolgerungen aus dem Bereich der Gesundheitsversorgung der alten Bundesrepublik zu ziehen, konzeptionelle Schlussfolgerungen aus der Arbeit der Sozialversicherungsträger, der Krankenversicherungen und der Altersversorgungssysteme. In den neuen Bundesländern gibt es ja längst nicht mehr das Angebot an kommunalen Leistungen wie hier, weil die ÖTV keine konzeptionellen Vorstellungen artikuliert hat, weil sie eben keine hatte und auf diesen Prozess keinen Einfluss nehmen konnte. Aus meiner Sicht ist ein Teil unserer Pluspunkte, die wir uns beim Aufbau von unabhängigen, demokratischen Gewerkschaftsstrukturen in 1990 erarbeitet haben, durch die nicht rechtzeitig auf den Weg gebrachten konzeptionellen Ansätze wieder zunichte gemacht worden. Das betrifft den Nahverkehrsbereich, die Stadtwerke, Ver- und Entsorgungssituation, kommunale Dienstleistungen im sozialen Bereich, das alles. Die ÖTV ist der Situation verfallen, dass sie sich nur in die Masse der Fordernden eingereiht hat, indem sie gesagt hat: Die Polikliniken dürfen nicht aufgelöst werden, Kindergartenplätze müssen erhalten bleiben usw. Ohne klare Vorstellungen rüber zu bringen, wie zum Beispiel die Einkommensseite der Gemeinden und Städte verbessert werden könnte, dass sie ein Stück weit überlebensfähig werden können. Auf dem Sektor ist nichts passiert.
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Willi Hanss gHV-Mitglied und u.a. zuständig für Tarifpolitik im öffentlichen Dienst Interview vom 18. Juni 1992 M.S.: Wann und wie hast du dich, wie hat das Tarifsekretariat sich um die Entwicklung in der DDR gekümmert? W.H.: Wir haben eine sehr intensive Diskussion darüber geführt, was wir in der damaligen noch DDR und zukünftigen BRD tun müssten und sollten, damit eine Neuorientierung der Tarifpolitik stattfinden konnte. M.S.: Was war für dich der Anlass? W.H.: Der Anlass war schlicht und einfach die eigene Empfindung: Da läuft irgendwas ab und das kann völlig falsch ablaufen. Wenn du nicht eingreifst, wird die Tarifpolitik von den alten FDGB-Gewerkschaften für die Zukunft entschieden, von den gewendeten FDGB-Funktionären. Es gab nichts Undankbareres als die Frage der Tarifpolitik oder überhaupt die Klärung der Arbeitsbeziehungen. Wir haben uns `rangemacht, das zu untersuchen, um festzustellen, ob es Gemeinsamkeiten gibt und was geändert werden muss. Es gab eine Untersuchung von Eckart Rosemann, den ich beauftragt hatte, herauszuarbeiten, wie die tarifpolitische Situation ist. Aufgrund dieser Studie und anderer Studien von Dieter Wittler sowie Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus der DDR war uns völlig klar, das wird eine große Katastrophe, wenn wir nicht bald eingreifen. Da haben wir massiv eingegriffen. Unsere erste Erkenntnis war, dass, wenn die Entwicklung so weiter geht, es zu einem Crash in Berlin kommen wird. Was ja auch passiert ist, wie wir sehen. Das heißt also, bevor der Berliner Senat darüber nachgedacht hat, bevor die ÖTV Berlin darüber nachgedacht hat, haben wir im Tarifsekretariat schon festgestellt, dass kann nicht gut gehen, weil so viele unterschiedliche Regelungen aufeinanderknallen, das muss eine Katastrophe geben. So kann es überhaupt nicht funktionieren, da muss man eingreifen. Einer der entscheidenden Punkte war die Tatsache, dass es überhaupt keine Arbeitgeberstruktur gab. Es gab einen sehr zentralistischen Arbeitgeber, der hat von oben entschieden. Es gab keinen kommunalen Arbeitgeberverband und es gab die Befürchtung von uns, dass es ein Auseinanderbrechen der kommunalen Strukturen geben werde, das heißt, die Energiebetriebe machen, was sie für richtig halten, die Wasserbetriebe, der Nahverkehr, die Wohnungswirtschaft etc. Jeder Bereich mit einem separaten Ministerium und je nachdem, wie günstig oder ungünstig seine Situation ist. Die Sparkassen beispielsweise waren schnell dabei, Sonderregelungen zu schaffen. Wir wollten unsererseits die Einheit tatsächlich wahren, und deswegen haben wir sehr früh eingegriffen. Wir haben Modelle entwickelt, die sich nur z. T. als richtig erwiesen haben. Das war unvermeidlich. Einer der Gedanken war, dass die Einheit länger dauern wird, deshalb brauchten wir eine ÖTV in der DDR, um Einfluss nehmen zu können, weil wir unmittelbar als Tarifpartner präsent sein mussten. M.S.: Im März konntet ihr noch nicht wissen, wie lange die nun selbständigen Einzelgewerkschaften des FDGB noch existieren. Habt ihr euch nicht eigenmächtig in die Tarifpolitik der DDR-Gewerkschaften eingemischt? W.H.: Ja, das stimmt. Aber der Unterschied bestand schlicht und einfach darin, dass wir etwas von Tarifpolitik und Tarifverhandlungen verstanden haben und die FDGBKollegen noch keine wirkliche Erfahrung damit hatten.
274 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Im Sommer habt ihr eine 300 Mark-Zulage im Sparkassenbereich ausgehandelt. ihr habt Tarifverhandlungen geführt, obwohl ihr formal nicht zuständig wart? W.H.: Aber es gab eine ÖTV in der DDR. Das ist eine schnelllebige Geschichte gewesen. Die ÖTV in der DDR wurde gegründet, und schon eine Woche später hatten wir Tarifverhandlungen, und zwar im Sparkassenbereich. Wir haben einerseits unsere ÖTV in der DDR und andererseits die Situation Berlin nutzen können. Schon vor der Vereinigung war laut unserer Satzung die ÖTV für ganz Berlin zuständig, wir waren also auch für den DDR-Teil in Berlin zuständig. So haben wir gegenüber den Arbeitgebern argumentiert, und sie haben dies akzeptiert. M.S.: Kann man sagen, dass sich im Tarifbereich gezeigt hat, dass es mit der Selbständigkeit der FDGB-Gewerkschaften ein Ende hatte? Ihre Nichtakzeptanz als zukünftiger Tarifpartner durch den Arbeitgeber war das Aus für die FDGB-Gewerkschaften? W.H.: Die FDGB-Gewerkschaften hatten jedes Vertrauen verspielt. Ohne uns hätte es sicher keine tarifvertraglichen Regelungen gegeben. Sowohl die Mitglieder bzw. die Nochmitglieder des FDGB als auch die Arbeitgeber wollten mit einer Gewerkschaft zu tun haben, die demokratisch legitimiert, demokratisch aufgebaut und durchsetzungsfähig ist und Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Wir haben im Grunde genommen vom Westen aus, obwohl wir formal noch gar nicht zuständig waren, beide Tarifseiten noch nicht zuständig waren, Einfluss genommen, als die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vereinbart worden ist. Wir haben in Tarifgesprächen mit den Arbeitgebern (West) Klärungen herbeigeführt, in dem Sinne, dass die Arbeitgeber (West) sich an den Tarifverhandlungen Ost beratend beteiligen, weil sie es nämlich bezahlen müssten. Wir haben erklärt, wir hätten kein Interesse daran, mit Partnern zu verhandeln, die nicht die Umsetzung des Ergebnisses garantieren können, sondern wir wollen diejenigen am Verhandlungstisch haben, die dann auch sagen, top, das Ergebnis gilt. Das haben wir im Juli durchgesetzt in einem gemeinsamen Grundsatzgespräch zwischen den Arbeitgebern West und uns. Der interessante Punkt dabei war, dass die GÖD und andere FDGB-Gewerkschaften zu diesem Zeitpunkt versucht haben, noch mal zu dokumentieren, wie gut und selbständig sie seien und parallel zu unseren Gesprächen Tarifverhandlungen führen wollten. Herr Musculus wurde dann vom Innenministerium des Westens darauf hingewiesen, dass Verträge, die er macht, bedeutungslos seien, wenn er die Finanzierung nicht sicherstellen kann. Da war die Frage geklärt, und es gab keine Scheinverhandlungen mehr. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion hat im Vertrag vorgesehen, dass ausgabenwirksame Regelungen nur mit Zustimmung des Bundesministers für Finanzen gemacht werden dürften. Das heißt, jemand, der überhaupt nicht in der Regierung der DDR war, war derjenige, der darüber zu befinden hatte, ob ein Vertrag gilt oder nicht. Da gab es zur Rettung der FDGB-Gewerkschaften den Versuch, Verhandlungsstärke zu beweisen. M.S.: Wie ging das vor sich? W.H.: Die fünf Gewerkschaften, mit denen wir verbunden waren, haben, vorbei an uns, Tarifforderungen erhoben und zu Verhandlungen aufgefordert. Und zwar haben sie schön abgewartet, bis der gHV in Urlaub war. Ich war in Kur. Das war natürlich nichts, weil wir durch unsere Kolleginnen und Kollegen sofort informiert wurden – Werner Ruhnke war ja in Ost-Berlin. Wir haben sofort reagiert und in Absprache mit unseren Kollegen vor Ort eine Forderung aufgestellt, die für die DDR völlig unüblich war. Nämlich die Forderung nach einem Kindergeld als Tarifvertragselement. Die Ost-Gewerkschaften haben 300 Mark oder 350 Mark gefordert und wir 300 Mark plus einem Kindergeld von 50
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Mark pro Kind. Mit der Begründung, das entspreche unserer Tarifsystematik, diene der Vereinheitlichung und schaffe außerdem genau dort Geld hin, wo die Probleme tatsächlich wären, also in den Bereich der Lebenshaltungskosten. Dadurch war unsere Forderung de facto sozialer als ihre. Sie ist sofort von allen aufgenommen worden. Wir haben dann dieses in unserem Kreis berühmte Samstagsgespräch geführt, wo wir sie zur Klarheit aufgefordert haben. Auf ihrer Grundlage hätten wir die Trennung zu ihnen nehmen müssen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir immer noch in einer Kooperationsgemeinschaft. Jetzt haben wir gesagt: Ok, wenn ihr unbedingt selbständig dastehen wollt, verstehen wir das. Jeder kann seine Sache selbständig machen, nur die Verhandlungsführung muss von einem gemacht werden. Dann haben alle entschieden, dass die Verhandlungsführung von der ÖTV, sprich also von mir, übernommen werden sollte. Wir haben mit ihnen die Verhandlungen zusammen geführt, aber jeder musste getrennt seine Mitglieder informieren. Dabei wurde klar, dass sie keine Erfahrung in der Informationspolitik hatten. Anschließend war nur noch von der ÖTV und den anderen beteiligten Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes die Rede. Dann kamen sie und haben gesagt: Willi, lass uns doch gemeinsame Flugblätter machen. Ich verwies auf den Beschluss, der besagte, dass jeder selber seine Öffentlichkeitsarbeit macht und dass wir deswegen keine gemeinsamen Flugblätter machen könnten. Jeder sollte sich selber bewegen. Das einzige, was wir machen könnten, ist eine Abstimmung mit der GEW und mit der Polizeigewerkschaft, weil wir mit den beiden Gewerkschaften auch ein Kooperationsabkommen in der Bundesrepublik haben. Dann hat die Tarifkampagne selber gezeigt, dass wir diejenigen waren, die konsequent und handlungsfähig auftreten konnten. Ich behaupte, dass diese Kampagne ein ganz entscheidender Punkt war für das Vertrauen, das die ÖTV gewonnen hat. Wir haben gesagt, wir machen keine Verträge, die nichts wert sind, sondern wenn wir sagen, wir machen dies, dann wird auch garantiert, dass die Verträge eingehalten werden und das Ergebnis bezahlt wird. M.F.: Jetzt ist an einer Stelle ein Arbeitgeberproblem aufgetaucht. Wie ist dir die Eingebung gekommen, dass die Arbeitgeberstruktur verändert werden müsste? W.H.: Es ging ja um die Frage der zukünftigen Gestaltungsstruktur. Das heißt, um die Frage, wirst du ein amerikanisches System haben mit der Aufsplitterung auch des Öffentlichen Dienstes in der DDR. Die Grundstruktur zeichnete sich klar ab: Es sollte fünf neue Länder und zahlreiche Kommunen geben. Nach dem amerikanischen Modell müsste man vor Ort für jeden Einzelfall separat verhandeln. Wir wollten aber eine Struktur herbeiführen, in der auch die Arbeitgeber sich zusammenschließen. Einer der Punkte war auch die Frage der Organisationsstruktur des DGB. Wenn es eine Vereinzelung gibt, so wie das jetzt der Fall ist, verhandelst du mit jedem Ministerium, mit jedem einzelnen Arbeitgeber, mit jeder Sparkasse, mit jedem Energiebetrieb separat. Das wirft die Frage auf, was denn überhaupt diese Struktur des DGB soll. Im Übrigen sind es auch unsere Erfahrungen, die wir für Osteuropa verwenden. Ich habe jetzt selbst die Initiative ergriffen, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung und die VKA, also die Vereinigung Kommunaler Arbeitgeber, eine Regelung treffen, wie die Arbeitgeber in der CSSR beraten werden können. Die tschechischen Kollegen kommen und sagen: Was sollen wir machen, wir haben keine Arbeitgeber, mit denen wir verhandeln können. Das ist genau dieselbe Situation wie in der DDR. Wir haben sofort reagiert und gesagt: Ihr müsst dafür sorgen, dass ihr einen SparringPartner bekommt, mit dem ihr Sparring führen könnt. Ihr dürft nicht mit tausend kleinen Zwergen verhandeln, sondern mit einem Riesen, der dem anderen Riesen ÖTV gegenübersteht. Das gilt auch für andere Länder und wir kümmern uns sehr intensiv darum, und zwar aus der Erfahrung mit der DDR-Entwicklung.
276 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview In der DDR haben sie gesagt, dass ginge alles nicht so einfach, und wir haben gesagt, natürlich geht es, macht mal eine VKA in der DDR. Ihr müsst da ran, sonst ist es für euch zu spät. Dann seid Ihr weg und wir verhandeln mit zig Arbeitgebern. Uns ist es egal, die ÖTV geht nie kaputt, aber ihr. Dann seid ihr nämlich wertlos. Wir machen in Zukunft regionale und örtliche Verhandlungen im Osten, das könnt ihr nicht wollen. Gut, daraufhin sind sie tätig geworden. Das heißt, wir haben mit dazu beigetragen, dass es Zwischenstrukturen gab, z. B. der Sparkassenverband als Arbeitgeberverband. Aber in dem Moment, wo sich die VKA gebildet hat, haben wir die Kommunen auch in die VKA gebracht. Das machen wir bis zum heutigen Tag. M.S.: Wie würdest du es aus heutiger Sicht einschätzen: Wäre es nicht besser gewesen, die FDGB-Gewerkschaften noch ein bisschen selbständig agieren zu lassen, auch in Tarifverhandlungen? Haben wir nicht viel zu schnell geholfen? Musste das nicht eine Stimmung hervorrufen, die sich gegen die Besserwessis richtete? Auch in der ÖTV bekommen die Ost-Kollegen erzählt, wie man Tarifverhandlungen, wie man eine gescheite Gewerkschaft macht etc.? W.H.: Ja, das mag sein. Aber du hast eine ganz einfache Entscheidung zu treffen. Entweder du versuchst alles zu tun, um den Belangen der Beschäftigten tatsächlich Rechnung zu tragen, oder du machst einen taktischen Schritt, lasst die doch erst einmal den Karren in den Dreck fahren, und dann kommst du als der große Retter. Wir haben uns schlicht und einfach entschieden, dass die Interessen der Menschen in der DDR uns wichtiger sind als die Frage, ob jetzt der alte FDGB untergeht und noch mal beweist, dass er für demokratische Strukturen nicht gewappnet ist. In dem Dilemma stehst du. Aber wir haben uns entschieden, Einfluss zu nehmen, weil wir dies für richtiger hielten. Wir konnten nicht nach der Verelendungstheorie verfahren. M.F.: Haben die nicht auch unsinnige Tarifverträge gemacht? W.H.: Ja, das haben sie, sie haben zum Teil Tarifverträge gemacht, wo von vornherein klar sein müsste, dass sie rechtsunwirksam sind. Wenn ich einen Tarifvertrag mache, wo vorher im Gesetz drin steht, dass der Tarifvertrag nicht gilt, und mache trotzdem einen Vertrag, dann muss ich mich fragen, was das überhaupt soll. Nach außen hin wird der Eindruck erweckt, das Rationalisierungsschutzabkommen z.B. sei sicher. Quatsch, überhaupt nichts war sicher, weil sie einen Vertrag gemacht hatten, obwohl es ein Gesetz des DDR-Parlaments gab, dass jeder Vertrag dieser Art von vornherein rechtsunwirksam sei. Bei uns wäre das ein eindeutiger Eingriff in die Tarifautonomie gewesen. Aber da das Grundgesetz nicht galt, konnte demzufolge nicht ein Eingriff in die Tarifautonomie nach unserem Recht geltend gemacht werden. Es gab weder das Tarifvertragsgesetz noch das Grundgesetz. Es galt das Recht der stärkeren Institution. Da die Gewerkschaften schwach waren, waren sie von vornherein unterlegen. Sie hatten nie den Gedanken, wirklich mit ehrenamtlichen Tarifkommissionen zu verhandeln, die legitimieren, dass du und was du überhaupt verhandeln darfst, die kontrollieren, was du machst, denen du Rechenschaft schuldig bist, und die dann sagen, jawohl, den Weg gehen wir mit oder den Weg gehen wir nicht mit. Das haben sie alles nicht gehabt. Die sind zu diesem Ministerialbeamten gegangen und der hat denen den Eindruck vermittelt, als wenn er mit ihnen den großen Deal machen werde. Dann ging er zu seinem Staatssekretär und der hat schon `rumgeknurrt, ob dies überhaupt ginge, denn die Ministerrunde hätte schon umgekehrt entschieden. Zack, war die Vereinbarung wieder weg. So etwas machst du nur einmal. Die FDGB-Gewerkschaften haben schnell erkannt, dass es besser ist, nicht gegen die ÖTV zu agieren.
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Peter Herold Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen Interview vom 7. Juli 1991 P.H.: Am 13. Dezember 1965 bin ich in den damaligen FDGB eingetreten. Ich war damals in der Lehrausbildung im Schreibmaschinenwerk Dresden, denn ich hatte eine Lehre als Feinmechaniker aufgenommen. Nach der allgemeinen zehnklassigen polytechnischen Oberschule und dem erfolgreichen Abschluss der Lehrzeit habe ich im Schreibmaschinenwerk gearbeitet und bin dort schon nach zwei Jahren in die gewerkschaftliche Arbeit als Vertrauensmann meiner Abteilung eingestiegen. Kurzzeitig bin ich auch in der sogenannten AGL, d.h. der Abteilungsgewerkschaftsleitung, gewesen. Ehrenamtlich war ich dann Mitglied in der BGL und habe mich dort vor allen Dingen um die Sportorganisation und die Kulturorganisation gekümmert, alles ehrenamtlich. Während meiner ganzen FDGB-Mitgliedschaft habe ich niemals eine Gewerkschaftsschule besucht. Nach 10 Jahren bin ich aus dem Schreibmaschinenwerk aus beruflichen Gründen weggegangen, weil ich mich weiterqualifizieren wollte. 1975 habe ich am Bezirkskrankenhaus Dresden-Friedrichstadt angefangen. Nach einem Jahr hat man mich aufgrund meiner vorherigen ehrenamtlichen Tätigkeit wieder gefragt, ob ich den Vertrauensmann in der Abteilung Krankenhausphysik machen würde. So wurde ich also Vertrauensmann im Krankenhaus. Dazu muss man sagen, dass die politische Situation in einer Gesundheitseinrichtung sich wesentlich unterschieden hat von derjenigen in der Industrie. Viele Beschäftigte der Industrie, die politisch nicht so absolut den roten Faden mitgehen wollten, haben z.B. im Gesundheitswesen eine Fluchtmöglichkeit gesehen. Dort hatte man eine relative politische Ruhestellung, gerade als Mann. Du musstest z.B. in keiner Kampfgruppe sein, es gab kein administratives Parteilehrjahr wie in anderen Betrieben und Institutionen. Man wurde eben relativ frei gelassen. Das hing auch damit zusammen, dass im Gesundheitswesen sehr viele religiös gebundene Beschäftigte gewesen sind. An die ist man einfach nicht herangekommen. Das zeigte sich auch darin, dass viele in der damaligen CDU gewesen sind. Im Prinzip auch als politische Flucht. Ich habe mich im Krankenhaus Friedrichstadt sehr engagiert und bin dann auch sofort in die BGL ehrenamtlich gewählt worden. Von 1978 an war ich als Ehrenamtlicher in der BGL und habe dort immer den Feriendienst vertreten und vor allen Dingen die sozialen Belange gesehen, wie z.B. Kinderferienlageraustausch, Naherholung und die Erschließung bei Campingwagen, bei Bungalows und Ferienhäusern für die Belegschaft. Dieses Engagement konnte ich vor allen Dingen deshalb aufbringen, weil ich im Gegensatz zu den anderen Beschäftigten in den Krankenhäusern eine regelmäßige Arbeitszeit hatte. Andere hatten Schichtsysteme, Wechselschicht etc. und die konnte man nicht so belasten wie z.B. einen Kollegen aus der Technik oder Verwaltung. Aus dem Grunde bin ich dann längere Zeit stellvertretender BGL-Vorsitzender gewesen. Aber alles ehrenamtlich. Über berufliche Weiterqualifikation habe ich dann innerhalb des Krankenhauses eine Stelle angeboten bekommen, die sich mit Patent- und Neuererwesen beschäftigte. Gleichzeitig habe ich die gleiche Tätigkeit für das Gesundheitswesen vom Rat der Stadt Dresden übergeordnet mitgemacht. Das war aufgrund meiner Qualifikation als Medizintechniker eben gut möglich, weil ich die technischen Anlagen einschätzen konnte. Meine ehrenamtliche gewerkschaftliche Tätigkeit habe ich weiter sehr engagiert betrieben und die Belegschaft hatte mich mehrmals aufgefordert, dass ich den hauptamtlichen BGLVorsitzenden machen sollte. Aber es gab ja die sogenannte Nomenklatur, wo ein hauptamtlicher BGL-Vorsitzender einer solchen Einrichtung unbedingt in der SED sein muss-
278 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview te. Weil ich nicht Mitglied war und auch nicht werden wollte, hatte ich das immer abgelehnt. Da gab es viele Aussprachen mit dem Parteisekretär und dem ärztlichen Direktor, ob ich denn nicht eintreten möchte, um eine Karriere als BGL-Vorsitzender, vielleicht noch Kreisvorstand und noch weiter hoch, einzuschlagen. Das habe ich nicht gemacht und bin dadurch nie BGL-Vorsitzender geworden. Im Februar 1989 fanden bei uns die letzten offiziellen Gewerkschaftswahlen statt. Dort ist es dann doch so weit gekommen. Das geschah so: Die Krankenhäuser mussten eine Kaderreserve haben, auch für BGL-Vorsitzende. Unsere BGL-Vorsitzende wurde zu der damaligen Zeit in den Kreisvorstand berufen, ist also nach oben gestiegen, und deshalb war bei uns dieser Posten frei. Ich habe neben meiner beruflichen Tätigkeit als BGLVorsitzender amtieren müssen. Dort wurde ich letztmalig wegen meiner Parteizugehörigkeit befragt. Das habe ich weiterhin abgelehnt. Nun spitzte sich das politische Klima im Februar 1989 schon zu. Wir hatten bereits größte Schwierigkeiten, an der Basis überhaupt noch Kollegen zu finden, die bereit waren Funktionen zu übernehmen. Da gab es die Situation, dass Multifunktionäre entstanden. Wenn sich mal einer bereit erklärt hatte, der wurde dann in zig Funktionen reingewählt. Es war ja so, dass alle Funktionen besetzt werden mussten. Es musste eine AGL geben und einen Kulturfunktionär. Das war alles vorgeschrieben. Da musste eben einer vieles machen. Die Partei hatte einen hauptamtlichen Parteisekretär im Krankenhaus und der hat mit dem ärztlichen Direktor im ganzen Krankenhaus wie wild nach einem Genossen gesucht, der zum BGL-Vorsitzenden gewählt werden könnte. Man hatte direkt elf Genossen und Genossinnen `rausgesucht, die zwar nicht unbedingt das Vertrauen der Kollegen hatten, aber der Nomenklatur entsprachen, und die man dann umfunktionieren wollte zum BGL-Vorsitzenden. Das war im Prinzip vom wahltechnischen Ablaufrecht möglich, denn es wurden nur die Kandidaten für die BGL von der Belegschaft direkt gewählt und zwar geheim. Das war die einzig demokratische Wahl, wo man wirklich wählen konnte. Der Wahlmodus war jedoch so, dass man 50 % Gegenstimmen benötigte, um jemanden zu verhindern. Das war zwar theoretisch möglich, aber praktisch nicht, weil die meisten kaum gewählt haben. Selbst in dieser ganz kritischen Zeit, wo wir unsere BGL-Wahlen hatten. Ich stand mit auf der Kandidatenliste, hatte schon acht Jahre ehrenamtlich hinter mir und zwei Wahlperioden auf dem nicht gerade schönsten Posten des Feriendienstes. Der war in der damaligen DDR ziemlich verpönt, weil die Nachfrage viel größer war als wir Plätze anbieten konnten. Damit hatte man, wie auch im Wohnungswesen, genauso viele Feinde wie Freunde. Einen Ferienplatz konnten wir vermitteln und zehn mussten wir ablehnen. Die Zehn waren natürlich gegen mich und nur der Eine hat gesagt, das ist schon prima, wie der gearbeitet hat. Wir waren rund 1.650 Beschäftigte, davon waren 98 % organisiert, und an der Wahl hatten – weil wir auch Briefwahl ermöglichten – ca. 80 % teilgenommen. Ich hatte damals von ca. 1.400 abgegebenen Stimmen 80 Gegenstimmen. Das ist eigentlich nicht als mein persönlicher Verdienst zu sehen. Das war eher so, dass die Kollegen sich bei den Wahlen gesagt haben, lieber den anderen wählen als dass du selber gefragt wirst. Es ist dann dazu gekommen, dass von den elf Kandidaten, die die Partei herausgesucht hatte, keiner zugesagt hat, weil die Situation politisch schon sehr brisant war und keiner diesen Posten haben wollte, wo er nur Prügel einstecken konnte, von oben und von unten. Im Frühjahr 1989 haben sie wirklich niemanden gefunden, der den BGLVorsitzenden machen wollte. Daraufhin hat unser ärztlicher Direktor mit dem Parteisekretär bei der Bezirksleitung der SED vorgesprochen, deren Chef noch der Hans Modrow war. Er hat dort um Absolution gebeten, einen Gewerkschaftsfunktionär nehmen zu dürfen, der nicht in der Partei ist. Daraufhin hat man mich angesprochen und ich habe ge-
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sagt, na gut, ich mache das für eine Wahlperiode, solange die Partei niemand findet, aber nicht hauptamtlich. Ich bin generell nicht bereit, Gewerkschaftsarbeit als hauptamtlicher Funktionär zu leisten. Ehrenamtlich ja, da setze ich mich für meine Kollegen auch weiterhin ein. Ich hatte auch immer abgelehnt, Schulen zu besuchen. Man hat mich, weil ich kein hauptamtlicher Funktionär werden wollte, ziemlich in Ruhe gelassen mit den Schulen. Nur einmal stand ich kurz vor einer Abmahnung, damals haben wir noch Verweis gesagt. Man hatte mich für eine Schule angemeldet, und ich habe aus meiner Verpflichtung heraus, dass das dienstlich überhaupt nicht ging, weil derartig viel Arbeit angestanden hatte, abgelehnt. Natürlich wollte ich auch deshalb nicht, weil ich von vielen gehört hatte, was sich auf den Gewerkschaftsschulen teilweise zuträgt. Das will ich jetzt nicht verallgemeinern. Ich kann es bloß für uns sagen. Im Raum Dresden gab es eine Schule, die Vierteljahresschule in Klingenberg bei Thale, und die hatte neben dem fachlichen auch einen moralisch negativen Anstrich. Mehr will ich dazu nicht sagen. Also dort soll es die höchste Scheidungsrate anschließend gegeben haben. Also wenn, dann hätte ich eine Schule gemacht, wo ich mich wirklich fachlich bilden, oder sagen wir mal, auch die Grundbegriffe, so RKV oder Arbeitsrecht hätte lernen können. M.S.: Warum wolltest du nicht hauptamtlicher Funktionär werden? P.H.: Das war politisch motiviert, weil ich niemals in dem Staat eine hauptamtliche Funktionärstätigkeit aufnehmen wollte. Das hat mit meiner Einstellung zu tun. Ich bin kein Marxist und habe mich in der ganz schweren Zeit, wo es verpönt war, mit 16 Jahren in der 10. Klasse einer evangelischen Gruppe angeschlossen. In der Jungen Gemeinde bin ich wirksam geworden, habe dort vieles gemacht und fühlte mich sehr hingezogen. Das war meine innerliche, idealistische Haltung. Natürlich bin ich in diesem Zusammenhang sehr viel mit dem konfrontiert worden, was politisch wirklich war. Die Kirchen waren ja die einzigen politischen Zufluchtsorte, wo man sich darüber austauschen konnte, was wirklich alles im Argen war. Im allgemeinen Gespräch in den Betrieben oder Einrichtungen hat man es nicht ausgesprochen. Man hatte teilweise auch Angst vor den Kollegen. In der Kirchengemeinde hat man vieles gehört, man ist eben aus vielen Bereichen zusammengekommen. Wenn man allerdings gewusst hätte, was jetzt alles bekannt wird, dann hätten wir uns selbst in den Kirchen nicht sicher gefühlt. Das hat man damals nicht überblickt. Man hat gedacht, dort kannst du was sagen, dort bist du aufgehoben. Aus dieser Motivation heraus war für mich klar, dass ich nie hauptamtlich werden könne. Ich hatte natürlich Beziehungen, teilweise weil der eine oder andere Funktionär mal bei mir wohnte und andererseits das Bezirkskrankenhaus Dresden-Friedrichstadt im Bezirk Dresden und der DDR einen gewissen Ruf hatte. Wir waren sozusagen oft in der Öffentlichkeit und dadurch bin ich mit vielen Funktionären zusammengekommen. In meiner Tätigkeit als amtierender BGL-Vorsitzender habe ich mich mit dem damaligen Zentralvorstand in Berlin oft gestritten. Das ist so weit gegangen, dass ich im Mai 1989 einen siebenseitigen Situationsbericht an den Zentralvorstand – an Frau Gerboth – und an das ZK der SED geschickt habe. Ich habe das Schreiben gemacht im Namen unserer Beschäftigten. Anschließend war es so weit, dass Professoren an unseren Einrichtungen mir angeboten haben, dass sie mir helfen würden, wenn ich irgendwie verschwinden sollte. Es war zu damaligen Zeiten so. Von heute aus gesehen, ist es schwülstig gesprochen, aber es waren trotzdem Kritiken darin, die zur damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Ich habe mir bestimmt viel Vertrauen bei unseren Mitgliedern, bei den Beschäftigten muss man sagen, erworben. Ich bin dann nach Berlin zitiert worden. Da habe ich mir Verstärkung mitgenommen.
280 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Da hat es sich gezeigt, dass meine Entscheidung, nie hauptamtlicher Funktionär in diesem FDGB zu werden, richtig war. Wenn du diese Funktionäre hier oben gesehen und erlebt hast, dass sich überhaupt nichts bewegt und wir auch auf unser Schreiben hin überhaupt keine Reaktion bekommen haben. Hinzu kommt die Erfahrung, dass gerade im Krankenhaus Friedrichstadt während der letzten zehn Jahre, ich war 15 Jahre insgesamt dort tätig, viele Staatsleute, Staatsfunktionäre aus Berlin, aus der Regierung, dem Ministerrat, uns besucht haben. Sogar der Gesundheitsminister und Willi Stoph waren bei uns und haben Hilfe versprochen. Dann sind sie wieder fortgefahren nach Berlin und es war alles vergessen. Ich habe mal eine Aktion gestartet: Wir hatten eine Küche, dort hätte eigentlich nicht einmal für Arme gekocht werden dürfen. Das war unter aller Würde für die Beschäftigten in der Küche, aber auch unhygienisch. Wir hatten eine Ausnahmegenehmigung. Ich habe mich mit dem damaligen ärztlichen Direktor zusammengetan. Der ärztliche Direktor von Krankenhaus Friedrichstadt (mit dem ich heute noch sehr gut verbunden bin), ist 25 Jahre ärztlicher Direktor gewesen. Das war Professor Günther, der war nicht in der SED, der war in der CDU und war ein sehr loyaler politischer Mensch, hat also bestimmt auch vieles mitmachen müssen, hat aber im Prinzip den politischen Druck nicht an die Mitarbeiter weitergegeben. Das muss ich ehrlich sagen. Mit dem haben wir die Aktion gestartet. Wir haben große Flugblätter im Krankenhaus verteilt, wo wir aufforderten, dass alle sich morgen ihr Essen selbst mitbringen sollten und dass es für die Patienten nichts mehr gäbe. Also, mir stank die Küche und ich hatte mit unterschrieben. M.S.: Wann war das? P.H.: Das war 1985, als ich zum ersten Mal amtierte. Da war die große Chefin mal wieder nicht da und da habe ich gesagt, jetzt mache ich das einfach mit dem Professor. Also, so schnell konnte ich gar nicht gucken – wir hatten das Flugblatt noch nicht richtig herausgebracht – da war die Stasi schon da. Anschließend – zwei Stunden später – war der Oberbürgermeister in unserer Einrichtung. Dann kam die SED-Stadtbezirksleitung, also alle, die wir sonst nie zu Gesicht bekamen. Wir haben zusammen verhandelt und erreicht, dass wir von den damaligen Großgaststätten, den Interhotel-Gaststätten, Personal bekamen. Das hat unsere Situation verbessert. Das war natürlich eine Einmalaktion, die man nicht ein zweites Mal starten konnte. Ich wollte zeigen, wo ich mich engagiert habe. Wir waren ja stehen geblieben, dass ich ohne SED-Mitgliedschaft im April 1989 offiziell BGL-Vorsitzender werden konnte. Dann gingen im September schon die Demos los. Jeden Montag gingen wir raus. In Dresden hatte das ja den Anfang genommen, als mit der Prager Botschaftsbesetzung die Züge über den Hauptbahnhof fahren sollten. Das gab eine große Auseinandersetzung mit der Polizei. Aber der Kirchenchef Christof Ziemer damals – eine große Autorität – erreichte, dass es friedlich wurde. Das war der Auslösemoment, wo dann alles ins Rollen gekommen ist. M.S.: Da bist du auch mitgegangen? P.H.: Bei der Bahnhofsache war ich nicht dabei. Aber als die Demonstrationen anfingen war ich montags oft dabei. Wenn ich heute zurückdenke, bedrückt mich eigentlich, wie viele neben mir gestanden haben, die Demokratie und die einen anderen Weg wollten. Diese haben nach der Wende, wo wir das erreicht hatten, ihre Fahnentransparente in die Ecke gestellt und selber nie Verantwortung mit übernommen. Das ist eigentlich die Problematik, die dann gekommen ist. Dadurch sind viele Alte wieder in ihren Sattel gekommen oder stiegen erst gar nicht ab. Nur wenige waren bereit, einfach zu sagen, so jetzt
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muss ich mit einspringen. Wenn du die Alten weghaben willst, dann muss ein Neuer hin. Also muss ich mich dazu bereit erklären. Meine gewerkschaftliche Entwicklung hat im Prinzip an dieser Stelle angesetzt. Ich war mit der Erste im Gesundheitswesen in der DDR, der z.B. offiziell ein Telegramm, ein Schreiben gemacht hat, in dem die Absetzung der Regierung, die Absetzung von Harry Tisch gefordert wurde. M.S.: An welche Adresse ging dieses Schreiben? P.H.: Alles an Harry Tisch. M.S.: Hast du das als BGL-Vorsitzender offiziell gemacht? P.H.: Ja. Natürlich habe ich vorher meine BGL einberufen und gesagt, das können wir nicht mehr mittragen, so geht das nicht mehr. Ich habe aber nicht selbst die Schreiben verfasst, sondern das lief wie folgt ab: Ich habe alle Kollegen, die interessiert waren, eingeladen, unsere Forderungen zu diskutieren. Am Sonnabend z.B. ab 9.00 Uhr trafen wir uns bei mir im Büro. Da sind Ärzte und Schwestern gekommen, und es haben manchmal sogar 20, 25 Mann gesessen. Wir haben diskutiert und sind gemeinsam die Schreiben durchgegangen. Diese Schreiben habe ich hochgeschickt. Viele haben zwar gesagt, na, das hilft auch nicht, aber ich habe gesagt, hier dürfen wir nicht müde werden. M.S.: Wann war das? P.H.: Das ging von Ende Dezember bis Anfang Januar 1990. Dazu kam noch das Schlimme in unserer eigenen Gewerkschaft. Der FDGB als Dachorganisation hatte ja Einzelgewerkschaften, die gab es ja. Die waren mehr oder weniger abhängig von diesem Dachverband, also nicht selbständig, aber leider war es auch so, dass das Gesundheitswesen hier keine gute Rolle gespielt hat. Der ehrenamtliche und hauptamtliche Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen haben dem FDGB bis zuletzt die Stange gehalten. In der Gewerkschaft Gesundheitswesen setzten sich die Reformkräfte erst spät durch. Da waren andere Einzelgewerkschaften schneller. Die haben sich direkt als neue Gewerkschaften formiert und ihre alten zum Teufel gejagt. Das war schon im November, Dezember. Bei uns ist die direkte Ablösung – von Sturz kann man hier nicht reden – am 29. Januar erfolgt. M.S.: Also vor dem außerordentlichen FDGB-Kongress? P.H.: Ja, vorher. Wir haben uns vorher neu gebildet, weil wir den Kongresstermin kannten. M.S.: Was heißt „neu gebildet“? P.H.: Das ist folgendermaßen gewesen: Es wurde eine zentrale Delegiertenkonferenz der Gewerkschaft Gesundheitswesen angesetzt zu den ganzen Problematiken hier, also Rechenschaftslegung und vielleicht auch Neuwahl usw. Dazu mussten wir Delegierte schicken. Viele alte Delegierte hatten jedoch das Vertrauen der Mitglieder nicht mehr. Es gab auch eine große Austrittswelle. Bei uns im Krankenhaus hielt sich das in Grenzen. Zum Schluss waren wir noch bei 65 % Mitgliedschaft. Das hing bestimmt auch von dem Engagement der jeweiligen Gewerkschafter ab, die jetzt gesagt haben, wir wollen doch neu anfangen, wir dürfen nicht alles kaputt machen, denn wir brauchen die Gewerkschaft wieder. Es gab auch noch die alten BGL-Vorsitzenden. Die wurden nun alle abgelöst und zwar generell abgelöst. Diese mussten neu gewählt werden. Manche hatten eine Übergangslösung, nicht mehr richtig BGL und noch nicht richtig Personalrat oder Betriebsrat.
282 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Das waren einfach demokratisch gewählte Leute. Es gab keine richtige Wahlordnung mehr. Wir haben das aus unserem reinen demokratischen Empfinden gemacht. Wir haben alle Nomenklaturen abgelöst. Das einzige, was wir gesagt haben, war: Soundso viele müssen gewählt werden und wählt die Gewerkschaftsfunktionäre, die euer Vertrauen haben. Das betrifft jetzt die Wahlen zu den neuen BGL. Auch ich hatte wieder das Vertrauen von allen. Die haben gesagt, einen Betriebsrat brauchen wir jetzt noch nicht. Du bist noch da und solange es die Gewerkschaft gibt, bleibst du unser Mann. M.S.: Wann war diese Wahl? P.H.: Die war im Oktober 1989. Später, nach der Delegiertenkonferenz, haben wir uns alle noch einmal legitimieren lassen. Ich hatte aber teilweise im Krankenhaus schon eine Art Betriebs- oder Personalrat. Dieser war aber nicht frei gewählt, sondern den hatte die staatliche Leitung eingesetzt. Teilweise wurde gewählt, teilweise nicht, also das alles war ein bisschen verwirrend. Jede Einrichtung konnte nun zu der zentralen Delegiertenkonferenz einen Kollegen schicken. Die alte Wahlordnung wurde erst einmal außer Kraft gesetzt. Früher wurden die Delegierten nicht gewählt, das war ein abgekartetes Spiel. Diesmal war dem Bezirk Dresden für die zentrale Delegiertenkonferenz ein Schlüssel vorgegeben worden. Wir, die neugewählten Funktionäre, haben jetzt gesagt, über die Auswahl der Delegierten haben nicht wir zu entscheiden, sondern die Einrichtungen. Selbst in der kleinsten Poliklinik konnten die Beschäftigten einen Delegierten ihres Vertrauens wählen. In Dresden haben wir eine Delegiertenkonferenz gemacht, wo erst einmal jeder kommen konnte, der wollte. Dort wurden Listen erstellt von all jenen, die zur zentralen Delegiertenkonferenz vorgeschlagen wurden. Dann musste sich jeder – und das war etwas ganz Neues für uns – fünf Minuten vorstellen. Die erste Frage war immer: Warst du in der Partei? Jeder musste sich also fünf Minuten vorstellen und anschließend wurde geheim gewählt. Außerdem mussten noch Kollegen gewählt werden, welche zukünftig in dem neuen Zentralvorstand bzw. im Bundesvorstand mitarbeiten sollten – ehrenamtlich. Ich wurde damals mit Dr. Treibmann gewählt. Der war ein Kreissportarzt aus Pirna, der sich in der Wende erst wirklich engagiert hat. Der war intellektuell qualitativ sehr hochstehend. Wir zwei hatten die meisten Stimmen und sind dann mit fünf Mann zur zentralen Delegiertenkonferenz gefahren. Mit Dr. Treibmann und anderen habe ich noch teilweise Beziehungen, andere sind wieder in der Versenkung verschwunden. Wir sind am 27. Januar zur zentralen Delegiertenkonferenz gefahren und hatten gleichzeitig das Mandat, dass wir an dem außerordentlichen FDGB-Kongress teilnehmen konnten. Auf der zentralen Delegiertenkonferenz der Gewerkschaft Gesundheitswesen ging es gleich die ersten fünf Minuten ganz spontan los. Eine ehemalige hauptamtliche Kollegin sollte den Rechenschaftsbericht geben. Da sind gleich welche aufgestanden und haben gesagt, also diesen Quark wollen wir nicht mehr hören. Wir haben jetzt eine andere Zeit. Das ging drunter und drüber. Jedenfalls konnten wir gar nicht so schnell gucken, wie auf einmal alle alten Funktionäre abgewählt wurden. Der ehrenamtliche Zentralvorstand war ca. 146 Mann stark und den haben wir auf ca. 45 Mann eingeschmolzen. Verkleinert haben wir die Bezirksvorstände, das waren danach nur noch Informationsstellen bzw. Koordinierungsstellen. Auch die Kreisvorstände haben wir anders gebildet. M.S.: Habt ihr eine neue Satzung gemacht? P.H.: Ja, so kann man das fast sagen. Ja, wir haben eine neue Satzung gemacht. Wir haben die alte Satzung von der Gewerkschaft Gesundheitswesen außer Kraft gesetzt, d.h. eine eigene hatten wir gar nicht, sondern wir hatten bloß die Satzung des FDGB und
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deshalb haben wir eine eigene Satzung der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen gemacht. M.S.: Was geschah mit dem hauptamtlichen Vorstand? P.H.: Den alten haben wir abgesetzt. Es war aber kompliziert bei den Hauptamtlichen. Du konntest nicht alles zerschlagen. Von uns hatte ja keiner Erfahrung, wie das organisatorisch alles läuft, die Kasse usw. Gerade hier in Berlin in diesem Haus sind noch ziemlich viele technische Mitarbeiter gewesen. Sie waren zwar hauptamtliche Funktionäre, aber weniger direkt-politisch. Sie haben mehr fachspezifisch im Gesundheitswesen gearbeitet. Auf diese mussten wir uns weiter stützen. Für Arbeitsrecht und Löhne z.B. war der Kollege Kukat zuständig. Er war ein prima Kollege und hat auch unheimlich mitgezogen in der neuen Gewerkschaft, wie viele andere auch. Viele konnten die neue politische Entwicklung jedoch nicht verkraften. Wir haben dann zwei Hauptamtliche gewählt, drei Kandidaten standen zur Wahl, darunter ich. Es gab nun eine Tradition in der Gewerkschaft Gesundheitswesen, dass der Vorsitzende ein Arzt oder ein Promovierter sein musste. Zwei Ärzte kandidierten. Dr. Treibmann, mit dem ich in Dresden das Mandat bekommen hatte, ist zum 1. Vorsitzenden des Hauptvorstandes der neuen Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen und Dr. Klatt zum Stellvertreter gewählt worden. Wir hatten also wirklich nur noch zwei politische Führungskräfte. Das hatte nichts mehr mit der parteipolitischen Führung durch die SED zu tun, aber die Funktion des Vorsitzenden einer Gewerkschaft bleibt trotzdem eine politische. In Dresden haben wir dann versucht, die Bezirksgeschäftsstelle und auch die Stadtgeschäftsstelle neu zu besetzen. Als Dr. Treibmann in Dresden war, haben wir die BGLVorsitzenden von den Gesundheitseinrichtungen der Stadt Dresden und teilweise des Bezirks zusammengeholt. Ich gehörte jetzt als Vorsitzender der BGL vom Bezirkskrankenhaus Friedrichstadt dazu. Wir haben der ehemaligen Bezirkschefin das Misstrauen ausgesprochen – dabei gab es sehr unschöne Sachen. Jedenfalls, ehe ich mich versehen hatte, haben die BGL-Vorsitzenden gesagt, also wenn den Bezirk nicht der Peter Herold macht, dann wüssten wir nicht, wer es sonst machen solle. Ich war natürlich erst einmal völlig überrascht, weil ich ja nie eine gewerkschaftliche Funktion hauptamtlich machen wollte, und dann war ich plötzlich Landesgeschäftsstellenleiter, so nannte sich das. Aber ich bin niemals in dieser Funktion tätig geworden. Das war in der Zeit gar nicht möglich, weil die Zeit uns überrollt hat. Wir hatten jede Woche etwas Neues. M.S.: Du warst doch auch auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress? P.H.: Ja, der außerordentliche Kongress – das weiß nun jeder – war ein Fiasko. Einer, wie ich, der früher mit der Materie nichts zu tun hatte – im Vergleich zu den Hauptamtlichen -, konnte kaum einschätzen, was sich da abspielte. Also dort, so kann ich das heute sagen, wurde zwar viel von Demokratie geredet, aber von Leuten, die eigentlich noch die Alten waren. Das hat man gar nicht so richtig durchblickt, weil man kannte auch nicht den gesamten FDGB. Ich hatte mich vorher niemals damit vertraut gemacht, wie bestimmte Personen einzuschätzen waren. Anschließend haben wir dies gemacht. Auch dass Machtkämpfe stattgefunden haben, von Leuten, die sich retten wollten, die gedacht haben, jetzt musst du dich wenden und die deshalb so blühende Reden gehalten haben. Erst später merkte man, dass alles geschoben wurde. Selbst die Wahl der neuen Vorsitzenden war letztendlich nicht sauber. Der Kongress wäre fast auseinandergebrochen. Also viele hatten das Gefühl, das alles manipuliert und gesteuert wurde. Werner Peplowski sollte es werden, und dann kam plötzlich die Helga Mausch.
284 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Wie habt ihr euch bei diesen Manövern verhalten? P.H.: Das ist so gewesen: Wir haben uns innerhalb unserer Delegation besprochen. Wir hatten diskutiert, ob denn keiner von uns bereit sein solle, zu kandidieren. Doch nun plötzlich aufzustehen und zu sagen: Ich mache es, das traute sich keiner. Die Alten sollten alle weg, aber es war eben kein Neuer da. Ich meine die "glorreichen Sieben“ – wie wir sagten -, die dann hängengeblieben sind, waren im Prinzip alles Alte. Vor allen dieser Schramm, das war meines Erachtens eine üble gewerkschaftliche Type. Und wir haben – heute schätze ich das alles anders ein – damals, in dieser Mitternachtsstimmung, haben wir dann gesagt, bevor wir niemanden haben, nehmen wir lieber die Mausch; die ist Blockpartei (die war damals in der LDPD). Es gab keine Alternative. Da gab es zwar einen sehr fähigen Mann, Thomas Müller, der SPD-Mitglied war und von der WarnowWerft kam, er hatte sogar einmal Berufsverbot, doch der hat sich zurückgezogen. Das war alles ein ganz großer Trubel. Es gab auch schon Machtkämpfe zwischen den Einzelgewerkschaften. Das fanden wir unschön, weil früher sie ihre Einzelgewerkschaften so gut wie nicht kannten, und jetzt hatte man auf einmal das Instrument der Einzelgewerkschaft und konnte gegenüber der Dachorganisation ganz anders auftreten. Ich höre noch die Reden von der IG Metall. Jeder war schon mit sich selber beschäftigt, mit seiner eigenen Gewerkschaft. Da hat manchmal das Dach nicht interessiert. Es war sogar eine große Fragestellung, ob wir überhaupt noch einen Dachverband brauchen. Eines muss man jedoch sagen, alle Diskussionen der Zentralvorstände, der Delegiertenkonferenzen jeder einzelnen Gewerkschaft einschließlich des Kongresses waren niemals gekennzeichnet von Sachlichkeit, sondern von Emotionalität. Da wurden Beschlüsse gefasst, die zehn Minuten später wieder aufgehoben wurden. Dann wieder neue gefasst usw. Also, es war chaotisch. Es sind Beschlüsse eingebracht worden, die auf den ersten Blick sehr gut waren. Dazu wurde „Hurra“ gebrüllt. In der Pause haben sich die Delegierten dann unterhalten und erst gemerkt, was sie beschlossen hatten. Das war ein tüchtiges Hickhack, aber vielleicht auch verständlich. Keiner wusste mit dieser Freiheit, die plötzlich da war, umzugehen. Früher gab es doch keine spontane Meldung beim FDGB-Kongress. Das war alles vorgegeben: wer reden wollte oder sollte und was er redete, das musste 5 Wochen vorher eingereicht werden. Da konnte keiner mal aufstehen und sagen, das Mikro 21 bitte. Das war alles undenkbar. Plötzlich konnten sie ihre Meinung frei äußern, und da wollte eben jeder auch seine persönliche Überzeugung kundtun. Ich bin zum Kongress gefahren, weil ich dachte, ich muss das im Auftrag der Kollegen. Ich hatte immer mein Krankenhaus im Hinterkopf. Ich war für die Kollegen dort und habe immer gedacht, wie würden die denn entscheiden. Aber manche sind aufgetreten und wollten bloß für sich als Herr Schulze etwas sagen. Na ja, das sind die Eindrücke vom Kongress gewesen. M.S.: Auf dem Kongress war noch nicht klar, wie die weitere politische Entwicklung verlaufen würde? P.H.: Das größte Ereignis auf dem Kongress war die Verlesung von Modrows Telegramm Deutschland einig Vaterland. Das war ja für die meisten unfassbar. Das war ein Jubel. M.S.: Wie ging es nach dem Kongress weiter? P.H.: Nun ging es auch bei uns darum, dass wir viele Kollegen entlassen mussten. Und dann kam dazu, dass ich im Februar als einer der ersten in Stuttgart gewesen bin. M.S.: Wie bist du auf die Idee gekommen, nach Stuttgart zur Hauptverwaltung zu fahren?
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P.H.: Das ist fast privat gewesen. Ich habe eine Schwägerin in Stuttgart und die habe ich besucht. Beziehungen zur ÖTV hatte ich schon früher geknüpft. Ich war im Januar zur SPD-Kreisdelegiertenkonferenz in Hamburg eingeladen. Das ist so gewesen: Wolfgang Rose, der stellvertretende Bezirksvorsitzende der ÖTV von Hamburg, SPD-Mitglied, war in Dresden (Hamburg war unsere Partnerstadt), und sie hatten also aus der Partnerstadt Dresden SPD-Leute dazu eingeladen. Wolfgang Rose hat gesagt, also liebe Leute, wenn wir schon SPD sind, möchten wir an die Gewerkschafter denken, und hat vorgeschlagen, zwei Gewerkschafter aus Dresden mit einzuladen. Aber bitte welche mit einer Vergangenheit, die man auch vorzeigen könne. Das hat Wolfgang Rose irgendwie dem damaligen SPD-Bürgermeister Nedelev gesagt. Seine Frau ist bei uns im Krankenhaus Kinderärztin gewesen und kannte mich. Plötzlich kriegte ich ein Telegramm, in dem stand: Du bist herzlich eingeladen nach Hamburg zur SPD, das Flugticket ist hinterlegt. Das war das erste Mal, dass ich in die Bundesrepublik kam und dazu gleich noch von Dresden mit dem Flugzeug. Das war für mich alles ein bisschen sensationell. Dort habe ich sehr viel kennengelernt. Wolfgang Rose hatte mich an den Klaus Knoll [Sekretär der ÖTV-Hauptverwaltung] vermittelt. Eines Tages in Dresden, sonnabends, also zu Hause, kam ein Telefonanruf: Hier ist Knoll, also pass mal auf, wir sind von der SPD hier in Dresden und der Wolfgang hat erzählt, du brauchst unbedingt Material. Du musst dich mit mir jetzt treffen, weil ich für dich Material mitgebracht habe. Da habe ich gesagt: Gut treffen wir uns. Ich fuhr mit meinem Trabi hin. Jetzt ist der Knoll aber mit einem VWBus angekommen und hatte einen Kopierer, 10.000 Blatt Papier, zwei elektrische Schreibmaschinen und alles was dazu gehört, mitgebracht. Dazu stapelweise Betriebsverfassungsgesetze, also alles, was du dir denken kannst. Dann hat er gesagt: Wenn du Papiersorgen hast, schreibst du an die Michael-Rott-Schule [ÖTV-Bildungsstätte in Mosbach]. Ich wusste damals gar nicht, was das alles sein sollte. Das alles habe ich bei meinen Schwiegereltern zwischenlagern müssen, weil ich das gar nicht in den Trabi gekriegt habe. Jedenfalls habe ich weitere Beziehungen aufgenommen und bin, wie gesagt, im Februar das erste Mal privat nach Stuttgart gereist. Weil ich schon ÖTV-Beziehungen hatte, habe ich mir gesagt, jetzt gehst du einfach mal in diesen Hauptvorstand. Ich habe mich einfach bei Manfred Kanzleiter [Geschäftsführer der ÖTV-Kreisverwaltung Stuttgart] gemeldet, hatte jedoch keine Ahnung, was der für eine Funktion hatte. Ich wusste zwar, der ist der Chef der ÖTV Stuttgart, aber ich dachte, das ist so wie bei uns, ein kleiner Funktionär eben. Ich bin also zu Manfred hingegangen und habe gesagt, ich bin vom Krankenhaus Friedrichstadt. Ich wusste, dass ich zu ihm hingehen kann. Wir hatten – als ich noch BGLVorsitzender im Krankenhaus Friedrichstadt war – eine Delegation mit der Ministerin Barbara Schäfer von Baden-Württemberg (Gesundheitsministerin). Das war damals groß in der Zeitung, dass Dresden vom Roten Kreuz und vom Hartmannbund sieben Konvois kriegt. Wir haben Dialyseeinheiten erhalten. Wir hatten einen Empfang mit der Frau Ministerin und sie unterhielt sich immer nur mit unseren Direktoren. Jedenfalls sagte ich dann zu jemandem, von dem ich annahm, er sei von der Presse: Du sag mal, gibt es in dieser Delegation nicht wenigstens einen, der ein bisschen gewerkschaftsfreundlich ist? Er gab mir zur Antwort: Pass mal auf, dort ist die Vorsitzende vom Sozialausschuss der SPD, die Helga Solinger. Zu ihr bin ich hingegangen und habe mich vorgestellt. Sie sagte, sie sei der einzige rote Punkt in der Delegation und dann haben wir unsere Adressen ausgetauscht. Ich bin, wie gesagt, einfach hingegangen und habe erklärt, dass ich in die ÖTV möchte bzw. um eine Beratung gebeten, wie ich im Krankenhaus weiterkommen könne.
286 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Ich wollte gerne für unser Krankenhaus einen Freundschaftsvertrag oder Patenschaft mit einem westlichen Krankenhaus abschließen. M.S.: Zu diesem Zeitpunkt muss doch bei dir schon die Erkenntnis vorhanden gewesen sein, dass es mit der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen nicht weiterginge? P.H.: Ab Januar war mir klar, dass wir auf zwei Schienen fahren müssen – Gewerkschaft Gesundheit und ÖTV. Ich war vorher ja in Hamburg und hatte dort sehr viel mitgekriegt. Wolfgang Rose ist der stellvertretende Bezirksvorsitzende von Hamburg und durch den bin ich an die OTV herangeführt worden. Er hatte mich in Hamburg auch zusammengeführt mit dem Gesamtpersonalratsvorsitzenden der Krankenhäuser, Wilhelm Dackermann, ÖTV-Mitglied und SPD-Mitglied. Dadurch habe ich erkannt, dass es eigentlich nur mit der ÖTV gehen kann. Ich habe natürlich die Interessen unserer Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen auch weiterhin vertreten, so wie es unsere neuen Statuten vorschrieben. Aber wenn ich daran denke, wie wir unsere neue Satzung aufgebaut haben, dann hatten wir daneben immer die Satzung der ÖTV liegen. Da wurden die Erfahrungen ausgetauscht und ich habe gesagt, in der ÖTV ist das so und so und dann haben wir versucht, das für die Gewerkschaft Gesundheitswesen umzusetzen. Die Erfahrungen der Einzelgewerkschaft ÖTV wurden berücksichtigt. Es hat natürlich mit der Wahl des Dr. Treibmann eine unliebsame Entwicklung gegeben und aus dem Grunde habe ich verstärkt in Richtung ÖTV gedrängt. M.S.: Welche unliebsame Entwicklung war das? P.H.: Die unliebsame Entwicklung war folgende: Damals sind Beratungsbüros der ÖTV in den einzelnen Bezirksstädten entstanden. Manfred Kanzleiter hat den Leuten aus Baden-Württemberg, das waren Doris Schmid und Astrid [Claus] mit auf den Weg gegeben, sich in Dresden bei mir zu melden. Sie brauchten einen Anlaufpunkt und so ist es geschehen. Mit denen habe ich mich sofort kurz geschlossen und da ist folgendes passiert: Die ÖTV hat ihre Funktionäre an die Basis geschickt, um dort Aufklärungsarbeit zu leisten. In dieser Phase hat der damalige DDR-Bürger alles geglaubt. Es musste bloß einer vom Westen sein. Wenn da einer gekommen ist, bei den Versicherungen oder Krankenkassen, haben wir es gemerkt. Der hat gesagt, also es gibt nichts Besseres als z.B. die Barmer-Ersatzkasse, dann sind alle anschließend eingetreten. Die Menschen haben nicht abgewogen, sondern sich manchmal von einem Unglück ins andere gestürzt. Ich hatte die ÖTV, und da habe ich mich erst mal sachkundig gemacht. Jetzt komme ich auf deine Frage zurück: Es gab damals die Konkurrenz zwischen der DAG und der ÖTV. Das Vorgehen der DAG war so, dass sie versuchte über die Spitze der alten Gewerkschaften Einfluss zu gewinnen. Sie haben also keine Informationsbüros aufgebaut. So haben sie z.B. den Dr. Treibmann gewonnen. Er hat sich zwar immer noch loyal dargestellt, aber schon im Februar stand auf seinem Schreibtisch die Werbung der DAG. Die große Strömung in unserem Gesundheitswesen war jedoch die ÖTV. Aber in bestimmten Bereichen ist die DAG ziemlich erfolgreich gewesen. Das war alles ab Februar 1990. Ich war Landesgeschäftsstellenleiter, also Bezirksvorstand, hauptamtlich, aber ehrenamtliches Zentralvorstandsmitglied. Dr. Treibmann hat mit mir persönlich, weil er ebenfalls aus Dresden kommt, immer sehr gut zusammengearbeitet. Ich schätze Dr. Treibmann auch heute noch, auch gewerkschaftlich. Sein DAG-Kurs resultiert bestimmt daraus, dass die DAG eben zuerst da war. Sie hat die meisten Sympathien gekriegt, weil sie immer auf die anderen geschimpft hat. Wir hatten aber schon vor ihm gefordert, mit der ÖTV offizielle Kontakte aufzunehmen. Wir wollten eine Kooperationsvereinbarung abschließen, aber das wollten wir mit der ÖTV. Dr. Treibmann hat aber gesagt, das ma-
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chen wir lieber nicht so verbindlich. Er wollte im Prinzip aus zwei Töpfen schöpfen. Dabei hat aber die DAG ihm das sehr schmackhaft gemacht und vor allen Dingen unseren Leuten. Im Gesundheitswesen gibt es viele Intellektuelle, also Ärzte. Dann wurde erzählt, in der DAG könnt ihr euer Berufsbild entwickeln, in der ÖTV seid ihr nur das fünfte Rad am Wagen. Die ÖTV braucht bloß die Müllmänner und den Nahverkehr zum Streiken. Da werdet ihr auf die Seite geschoben. Dr. Treibmann hatte aber auch mit Monika Wulf-Mathies ein Gespräch (da war Werner Ruhnke dabei und ein paar Ehrenamtliche). Und dort muss es einen Dissens gegeben haben. Das fing mit kleinen Sachen an. Monika sagte, unter uns Gewerkschaftern ist das „Du“ üblich, Dr. Treibmann wollte das „Sie“. Er war derjenige, der zur Gewerkschaftsgründung, zur Delegiertenkonferenz im Januar als erstes festgelegt hatte, dass nicht mehr „Du“ gesagt werden soll, sondern „Sie“. Die persönlich miteinander per du waren, konnten sich weiter duzen, aber für offizielle Schreiben des Zentralvorstandes wurde jetzt immer das „Sie“ verwandt: „Ihr Zentralvorstand grüßt Sie.“ Weil ich ihm unterstellt war, er war ja der Chef, kriegte ich die Anweisung, einen ziemlich hochstehenden Funktionär der DAG zu empfangen. Dr. Treibmann hatte mir gesagt: Was die ÖTV bei dir darf, musst du der DAG auch einräumen, solange ich Chef der Gewerkschaft Gesundheitswesen bin. Da kamen nun welche zu mir. Ich hatte gleich provokativ auf meinem Schreibtisch in Dresden alles Material der ÖTV aufgebaut. Das stand sonst gar nicht da. Die DAGler haben gesagt: Na, mit ihnen brauchen wir ja gar nicht groß zu reden. Ich machte ihnen deutlich, dass in meinen Krankenhäusern ich verantwortlich bin für meine Mitglieder der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Ich konnte ihnen jedoch als ÖTV-Anhänger nicht sagen, die ÖTV lass ich rein und die DAG lass ich nicht rein. Aber ich sagte, dass sie sich bei mir anmelden müssten. Zweimal haben sie es gemacht und ich habe dann sofort ÖTV-Leute hingeschickt. Dadurch waren sie natürlich im Nachteil. Es gab dann große Aktionen der DAG, die gegen die ÖTV gerichtet waren. Die DAG hatte Wohnmobile gemietet und ist mit unseren Oberen, die DAGfreundlich waren, d.h. also mit Dr. Treibmann und anderen, denen vielleicht zugesagt wurde, dass sie Stellen kriegen (das hat sich bewahrheitet), in die großen Krankenhäuser gefahren. Im Mai hatten wir wieder eine außerordentliche Delegiertenkonferenz. Im Zentralvorstand konnte es mit dem Hickhack nicht mehr weitergehen. Das war meine Initiative vor allen Dingen. Ich habe gesagt, entweder ich mache das nicht mehr mit oder wir machen einen Kooperationsvertrag mit der bundesdeutschen Gewerkschaft. Fast alle anderen Einzelgewerkschaften hatten schon solche Abkommen. Bei vielen war es auch einfach mit der Zuordnung. Die IG Metall wusste, dass sie mit der IG Metall den Vertrag schließen musste. Wir hatten jedoch mehrere Möglichkeiten. Hier musste eine Entscheidung getroffen werden. Wir hatten damals sogar drei verschiedene Möglichkeiten. Entweder Kooperation mit der ÖTV, mit der DAG oder wir bleiben selbständig. Die Mitglieder mussten entscheiden, was sie wollten. Es gab einen erbitterten Kampf zu der Delegiertenkonferenz und in diesem Zusammenhang hat die DAG die Wohnwagen geschickt. Wir hatten Erhebungen in unserer Gewerkschaft gemacht und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass 80 % der Noch-Mitglieder die ÖTV wollten. Die Delegiertenkonferenz hat dann festgelegt, in welche Richtung wir gehen. Es gab noch pro und contra und ich bin sehr massiv für die ÖTV eingetreten. Das Selbständige hatte überhaupt keinen Sinn, keine Zukunft mehr, da wären wir untergegangen. Der unheimliche Mitgliederschwund bedeutete, dass eine selbständige Gewerkschaft Gesundheit ein kleines Grüppchen geworden wäre. Bei den eigenen Mitgliedern war die Euphorie, zu einer bundesdeutschen Gewerkschaft zu gehören, viel größer als das Festhalten an der Eigenständig-
288 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview keit einer alten FDGB-Gewerkschaft. Die Mitglieder wollten alles abwerfen, was alte Identität war. Am 3. Mai hatten wir Delegiertenkonferenz. Dort fiel die Entscheidung. Es kam auch zur Abstimmung über die Alternative ÖTV oder DAG. Es ging alles ganz korrekt zu und 92 % haben sich für die ÖTV ausgesprochen. Dr. Treibmann als Vorsitzender ist ans Rednerpult gegangen und hat gesagt, diesen Beschluss könne er nicht mittragen. Er trete sofort zurück. Da war klar, dass er eindeutig DAG war. Er hatte für sich die Entscheidung schon getroffen. Ich hatte sie ja für mich auch schon getroffen. Das war jedem sein legitimes Recht. Nun blieb Dr. Klatt als Vorsitzender übrig. Es stellte sich jedoch die Frage nach einem Stellvertreter. Es gab nun viele Vorschläge, wer den Chef machen sollte. Fast alle waren sich einig, dass es Dr. Klatt machen sollte, obwohl er immer darauf verwiesen hatte (schon bei seiner ersten Wahl im Januar), dass er früher in der SED war. Er war ärztlicher Direktor in der Betriebspoliklinik in Greifswald (Kernkraftwerk) und ist offiziell – wie viele – ausgetreten. Im Januar hat er das Schiff gut geschaukelt. Er ist ein anderer Typ als ich, doch wir haben uns eigentlich gut ergänzt. Er hat eine gute Aufgabenverteilung gemacht, entsprechend seinem Intellekt. Es gab auch Reibungspunkte, sehr starke sogar, mit der ÖTV, wo wir unterschiedliche Auffassungen hatten. Auf der Delegiertenkonferenz wurde Dr. Klatt zum Vorsitzenden gewählt und es standen vier oder fünf Kandidaten als Stellvertreter zur Auswahl und da war ich mit dabei. Ich habe gesagt, dass ich nur gewählt werden möchte, wenn sie niemand anderen finden, also wenn es gar nicht weiter geht. Wenn es andere Kandidaten gibt, trete ich sofort zurück, weil ich in meinem Bezirk genug zu tun habe. Dr. Klatt sagte damals zu mir, dass ich kein Recht habe, zurückzutreten. Natürlich hätte ich zurücktreten können, aber wir waren ja alle so verwirrt. Dann kam es zur Wahl. Vorher mussten die Bezirke sich noch intern absprechen. Meine Dresdner haben gesagt, wir schlagen dich nicht als Stellvertreter vor, denn wir wollen dich zu Hause haben. Aber jetzt standen Rostock und Neubrandenburg auf und schlugen den Kollegen Herold vor, weil sie keinen eigenen Kandidaten hatten. Innerhalb von einer Viertelstunde bin ich mit 90% gewählt worden und war plötzlich 1. Stellvertreter der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Ich musste in Berlin bleiben und Dr. Klatt hat mich sofort mit dem Auftrag betraut, die Kooperationsverhandlungen mit der ÖTV zu führen. M.S.: Was habt ihr euch unter Kooperation vorgestellt? P.H.: Zunächst eine gewisse technische Unterstützung, weil wir ja im Prinzip nichts hatten. Wir hatten kein Geld. Damals hatten wir noch keine Währungsunion und für unser DDR-Geld konnten wir uns nichts kaufen. Wir dachten an ein Vervielfältigungsgerät und sonstige materielle Hilfe, die wir später abgelten bzw. zurückgeben wollten. Vor allen Dingen versprachen wir uns Hilfe beim Aufbau der Strukturen unserer Gewerkschaft Gesundheitswesen. Damals wussten wir noch nicht, dass es bloß bis zum Oktober gehen würde. Wir hatten uns eingerichtet auf zwei bis drei Jahre. Die ÖTV sollte uns helfen z.B. bei der Ausbildung von unseren neu gewählten Betriebsräten, also in Seminaren, oder sollte uns beraten, wie die Interessenvertretung der Arbeitnehmer in den Betrieben, wenn es die BGL nicht mehr gibt, aufgebaut wird. Wobei wir immer gesagt haben, eine globale Übernahme lehnen wir ab. Wenn wir uns später einmal auflösen, dann hat jedes Mitglied selbst zu entscheiden, wo es hingehen will. Dass die Gewerkschaft Gesundheitswesen auf der Delegiertenkonferenz sich zur ÖTV bekannt hat, bedeutete nur, dass wir uns kooperationsmäßig zur ÖTV bekennen, aber nie, dass wir mit dieser Zustimmung für die ÖTV uns schon verkauft haben an eine Gewerkschaft. Das haben zwar manche so aufgefasst, aber dies war nicht der Fall.
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Dann hatte ich in meiner Karriere einen gewerkschaftlichen Höhepunkt: Ich bin als Delegierter zum DGB-Kongress in Hamburg 1991 entsandt worden. M.S.: Wie kamst du zu dieser Ehre? P.H.: Der DGB hat alle Vorsitzenden der neuen Einzelgewerkschaften eingeladen. Das waren 20 Kollegen und Kolleginnen, nur die Chefs. Dr. Klatt hat gemäß unserer Arbeitsaufteilung eindeutig gesagt, DGB-Kongress ist deine Sache bzw. alles, was gewerkschaftlich hoch angebunden ist, ist deine Sache. Deshalb habe ich auch unsere Gewerkschaft gegenüber der ÖTV vertreten. M.S.: Hattest du vorher schon Kontakte zum Hauptvorstand? P.H.: Ja, und zwar mit Ulrike Peretzki-Leid. Am 30. Mai `91 haben wir die Kooperationsvereinbarung unterschrieben. Da ging es noch einmal wirr durcheinander. Jede Einzelgewerkschaft, die in den Bereich der ÖTV gehörte, wollte nun mit der ÖTV ein Abkommen schließen. Die IG Transport zuerst, danach kamen wir, dann die anderen Einzelgewerkschaften. Da war Dr. Klatt dabei, weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht in Berlin war. Ich hatte im Bezirk zu tun und bin in Berlin erst eingestiegen, als Klatt fertig war. Dr. Klatt hat sich dann zurückgezogen. Er hat damals eine Pressekonferenz gemacht, die fast gegen die ÖTV gerichtet war. Er war innerlich auf Distanz zur ÖTV gegangen. Er wollte sich nicht, wie es damals hieß, alles überstülpen lassen. Er wollte seine eigene Identität behaupten. Da gibt`s einen unschönen Schriftverkehr – den habe ich hier – zwischen der Monika Wulf Mathies und Richard Klatt, wo Klatt schreibt, dass er nicht vom alten Zentralismus der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen in einen neuen Zentralismus `rein will. Das hat Monika sich verbeten, die ÖTV mit einer alten FDGBGewerkschaft zu vergleichen. Klatt hat noch ein Flugblatt gemacht (das habe ich auch hier), wo er unsere Mitglieder aufruft, sich kritische Gedanken zu machen, nicht immer bloß zu allem Hurra zu schreien, sondern sich kritisch auseinanderzusetzen, denn drüben ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Er hat natürlich übertrieben und wollte die ÖTV zu Zugeständnissen reizen. Da ging es z.B. um diese Anerkennung der Mitgliedschaft im FDGB. Was haben wir uns mit Willi Mück im Interesse unserer Mitglieder darüber gestritten. Ich war doch bloß zahlendes Mitglied im FDGB, ich war nie Funktionär, jetzt wird mir alles genommen, jetzt fange ich bei Null wieder an, so war die Meinung unserer Leute. Es ist fast das Gleiche, was wir heute mit der Anerkennung der Dienstjahre wieder erleben. Damals gab es, ausgehend von dem Kooperationsvertrag, Arbeitsgruppen, z.B. eine Arbeitsgruppe Gesundheitspolitik bei Ulrike Peretzki-Leid [gHV-Mitglied, zuständig für den Bereich Gesundheitswesen] Da war ich mit dabei. Dann gab es die Arbeitsgruppe Organisation von Willi Mück, da war ich auch Mitglied. Das war der größte Wust an Arbeit, den wir hatten. Wir sind immer nach Stuttgart zur Arbeitsgruppenberatung geflogen. Dort ging es schon um die große juristische Frage, wie müssen wir die Auflösung unserer Gewerkschaft machen. M.S.: Die Frage der Selbständigkeit einer Gewerkschaft Gesundheitswesen war schon beantwortet? P.H.: Diese Akte war spätestens im Mai geschlossen. Es wurde klar, dass die Wiedervereinigung auch einheitliche Gewerkschaften zur Folge haben muss. M.S.: Warst du am 9. Mai bei der Auflösung des FDGB dabei? P.H.: Nein, da war der Chef, also Dr. Klatt, dabei. Der hat den Sturz des FDGBVorstandes im Wesentlichen mit forciert.
290 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Habt ihr über dieses Vorgehen geredet? P.H.: Das haben wir gemacht. Der Sprecherrat hat ja vieles versucht, aber eine Kardinalfrage konnte er nicht klären, das war die Frage der Persönlichkeit von Herrn Umlauf. Der war im Kreis der „glorreichen Sieben“ des FDGB-Bundesvorstandes für Finanzen zuständig. Der hat eine unrühmliche Rolle gespielt, hat viele und vieles verschaukelt. Ich habe sehr oft Dr. Klatt vertreten müssen im Sprecherrat. Die Atmosphäre dort war nicht die schlechteste. Es wurde sehr offensiv diskutiert. Aber die Einzelgewerkschaften gingen längst ihre eigenen Wege. Der Sprecherrat konnte hierauf keinen Einfluss mehr nehmen. An den Sitzungen haben dann auch immer Leute vom DGB teilgenommen. Eine große Entscheidung hat es dann noch einmal gegeben, als es um die Frage ging, wie der FDGB formal aufgelöst wird. M.S.: Du meinst die Frage, wie es gemacht wird? P.H.: Wie und wann. Die Wie-Frage ist vor allen Dingen in Arbeitsgruppen in den einzelnen Gewerkschaften wie auch bei der ÖTV erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt ist in keiner Weise über personelle Fragen gesprochen worden, sondern über rein strukturelle. Die Frage des Wann spielte eine große Rolle, nicht immer im positiven Sinne. Das betrifft besonders die ganze Gründung der ÖTV in der DDR. Die hat viele, viele Irritationen hervorgerufen. M.S.: Wie hast du das erlebt? P.H.: Also, von meinem eigenen Empfinden muss ich das mal so sagen (so haben aber viele andere gedacht): Es lohnt sich für uns nicht, für diese kurze Zeit noch eine eigene ÖTV aufzubauen. Andererseits habe ich die ÖTV in der DDR immer auch als positiv gesehen, für jene Beschäftigten, die sagen, eine Gewerkschaft muss sein, wir müssen uns organisieren, aber wir wollen mit den FDGB-Gewerkschaften nichts mehr zu tun haben. Die Gewerkschaft ÖTV in der DDR, die in Magdeburg gegründet worden ist, sollte ja genau so ein Sammelbecken sein. Meine eigenen Schwierigkeiten begannen, als die ÖTV in der DDR sich teilweise auch gegen die neugegründeten Gewerkschaften richtete. So haben wir dies als Gewerkschaft Gesundheitswesen empfunden. Das hat uns immer wehgetan, dass wir alle in einem Topf mit den alten FDGB-Gewerkschaften geworfen wurden. Wir waren auch eine Alt-Gewerkschaft, obwohl wir uns neugegründet hatten. Das war ungefähr das gleiche Verhalten gegenüber der SED: Ob ich SED heiße oder PDS, das ist alles das gleiche. Das hat wehgetan, weil die Einzelgewerkschaften wirklich ihr Bestes in dieser Zeit gegeben haben. M.S.: Würdest du das für alle Einzelgewerkschaften sagen? P.H.: Ja, für alle Einzelgewerkschaften, die zur ÖTV zählen. Als man in Stuttgart merkte, dass es mit der ÖTV in der DDR nicht ganz so lief, konnte man nicht mehr zurück. Im Nachgang kann man sagen, na gut, es war nicht so schlimm. Die haben nichts bewegt, weil die Mitglieder hatten ja wir. Schlimm ist manchmal gewesen, dass man gegenseitig versucht hat, sich irgendwie den Schwarzen Peter zuzuschieben. Ich habe immer versucht, mit ihnen zusammenzugehen, also mit Robert Knauth und Peter Becker. Das hat sich eigentlich bewährt. Solange existierten sie ja nicht. Im Juni wurde die ÖTV in der DDR gegründet und im Oktober schon wieder aufgelöst. In der Satzung stand, dass sie sich auflöst mit dem Wegfall der DDR. Die ÖTV in der DDR war genauso eine Einzelgewerkschaft, wie z.B. Gesundheitswesen, bloß hatte die ÖTV in der DDR nie unterm
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Dach des FDGB gearbeitet, sondern eine unmittelbare Mutterbeziehung zur ÖTV in der Bundesrepublik. Die Irritation entstand auch deshalb, weil viele von unseren Mitgliedern dachten, jetzt ist die ÖTV da, und sie wussten gar nicht, dass das keineswegs die ÖTV der Bundesrepublik war. Wir sind alle draußen geblieben, weil wir wussten, dass wir sowieso mal zusammengehen. Der Kooperationsvertrag war bereits geschlossen. Dann hat unser Vorschlag, Personalerfassungsbögen auszufüllen, unsere Leute unheimlich erregt. Sie haben gesagt, so etwas musste man bei der Stasi. Dagegen habe ich mich verwahrt. Die meinten das ja nicht schlecht. In dieser sensiblen Zeit damals, was denkst du, was da los war. Da haben wir dann gesagt: Leute, so können wir das nicht machen. M.S.: Was war das für ein Personalerfassungsbogen? P.H.: Wir wollten oder genauer, die ÖTV wollte den Bestand unserer Hauptamtlichen erfassen. Wir hatten immerhin 320 Funktionäre hauptamtlich allein in der Gewerkschaft Gesundheitswesen. M.S.: Gab es denn eine Auseinandersetzung mit der Gründung der ÖTV in der DDR? P.H.: Also, Auseinandersetzungen gab es im Wesentlichen nicht. Es gab von den Einzelgewerkschaften eine gewisse Distanz zur Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, also zur ÖD, was die ehemalige MSK war. Da gab es eine große Distanz zu bestimmten Kollegen dieser Gewerkschaft. Zu anderen wiederum habe ich auch heute noch gute Kontakte. Insgesamt ist es so gewesen, dass die ÖD sich eingebildet hat, uns da alle mitvertreten zu können. Sie war durch ihr Organisationsfeld dazu in vielen Fragen prädestiniert. Sie hatten viele fachkompetente Leute, d.h. viele Staatswissenschaftler. Dadurch waren sie uns in vielen Dingen voraus. Mit der IG Transport haben wir uns eigentlich relativ gut verstanden. Das hing auch davon ab, wie die Gewerkschaftsvorsitzenden miteinander harmonierten. Ich muss sagen, der Karl-Heinz Biesold hat versucht, viel Kontakt zu pflegen. Es gab natürlich auch manchmal Eckpunkte, wie sie es überall gibt. In der ÖD gab es eine ähnliche Auseinandersetzung, wie wir sie mit der DAG durchgemacht haben. Da hat ja der Vorstand, d.h. Dr. Wegrad, der Chef der ÖD war, intern schon alles mit der HBV abgekartet. Dann ist Jürgen Kaiser zum Vorsitzenden der ÖD gewählt worden. (Jürgen Kaiser ist nicht mehr bei der Gewerkschaft, sondern bei Iduna in Hannover). Also, es gibt noch die Liquidatoren, die jetzt in der 5. Etage (Engeldamm) sitzen. Wen du auf alle Fälle ansprechen könntest, das ist Dr. Herbert Schulz. Dies ist ein sehr sachlicher und ruhiger Mensch. M.S.: Wie wurde die Überleitung in eine einheitliche ÖTV diskutiert? P.H.: Es ist erst einmal so gewesen, dass wir von vornherein Massenübertritte abgelehnt haben. Ebenso haben wir einen Kollektivbeitritt völlig abgelehnt. Es gab aber sehr harte Auseinandersetzungen mit der ÖTV, d. h. besonders mit Gerd Drews. Wir haben z. B. immer Berechnungen gemacht, wie viele Mitglieder wir bringen. Dafür musste eine Struktur aufgebaut werden. Es ging um die Frage, wie eine Mitgliederbetreuung gewährleistet werden könne. Man konnte eben in Dresden, also in der zukünftigen Kreisverwaltung Dresden nicht, wie es erst geplant war, nur fünf Mann als Hauptamtliche hinsetzen, wenn ich weiß, das werden mal zig-tausende Mitglieder. Die Auffassung vom Hauptvorstand der ÖTV war jedoch, dass wir die Mitglieder erst einmal bringen sollten. Wir haben gesagt, wir bringen sie euch, aber wir müssen doch vorbauen. Ich habe damals den Be-
292 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview zirk Dresden vertreten, der ist vom Territorium sehr groß und umfasst ein paar große Städte. Wie sollte das gehen, wenn wir von Dresden aus z. B. die Mitglieder in Görlitz betreuen sollten, Görlitz ist 100 km weg, die Verbindung ist nicht wie in der Bundesrepublik, wo ich mich in den IC-Zug setzen kann, sondern es ist eine Strapaze nach Görlitz zu kommen mit dem Zug und genauso mit dem Auto. Mit fünf Mann in Dresden war das nicht zu schaffen, und die Geschichte hat uns Recht gegeben. Es ist eine sehr große Zahl an Mitgliedern gekommen. Was wir geahnt hatten, aber die ÖTV sagte, soviel bringt ihr uns nicht. Man musste jedoch folgendes überlegen: Es werden von denen, die jetzt noch bei uns in der Gewerkschaft sind, nicht alle zur ÖTV kommen. Viele werden abspringen, aber viele, die jetzt draußen stehen, warten bloß auf den Augenblick, dass eine bundesdeutsche Gewerkschaft wie die ÖTV, entsteht. Dann kommen diese neuen Mitglieder, die jetzt noch nicht bei uns sind. Das hat sich dann wirklich so entwickelt. Wir haben in Dresden, also dem Bezirk Dresden, fast 90.000 Mitglieder. Die Kollegen der Kreisverwaltung können vor Arbeit gar nicht aus den Augen gucken, sie sind völlig überfordert. Dies war vorhersehbar und wir haben in den Vorab-Diskussionen auf das Problem hingewiesen. Doch es gab auch noch andere Probleme: Wir haben gesagt, man müsste schon gleich zu Anfang so etwas wie ein Koordinationsbüro aufbauen, das auf Bezirksebene bzw. Landesebene koordiniert, denn wir wussten ja, dass die Länder kommen. M.S.: Gab es Vorabsprachen, ob alle hauptamtlichen Funktionäre der FDGB-Gewerkschaften von der ÖTV übernommen werden? P.H.: Natürlich hatte die ÖTV eine unheimlich schwere Entscheidung zu treffen, was mit dem ehemaligen hauptamtlichen Personal wird. Ich hatte damals vielfach die Auffassung vertreten, auch gegenüber Willi Mück, dass wenn wir nicht beizeiten daran denken, was aus den Funktionären wird, dann sind die besten weg. Ich habe z.B. bei mir im Bezirk zwei Leute gehabt, zwei Pfleger, denen trauere ich heute noch nach. Die habe ich erst durch die Wende aus dem Pflegeheim `rausgekriegt und für die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit gewinnen können. Die hatten mit dem FDGB nie etwas zu tun. Sie haben eine so hervorragende Arbeit geleistet, dass ich gesagt habe, also wenn wir eine ÖTV sind, dann seid ihr unbedingt dabei. Nun kam aber von der ÖTV keine Entscheidung. Jetzt haben die Beiden gesagt, nun pass mal auf, jetzt wird es uns langsam brenzlig. Ich musste sie ja kündigen (wir hatten ein Vierteljahr Kündigungszeit), wie wir allen 320 Leuten kündigen mussten. Die zwei Pfleger konnten nicht bis zum letzten Tag warten, ob sie die ÖTV nimmt oder nicht. Sie sind deshalb wieder in ihren Beruf zurückgegangen, weil es mit den Arbeitsstellen bei uns langsam knapp wurde. Damit sind der ÖTV zwei hervorragende Funktionäre verloren gegangen, die jung und ganz unbelastet waren. Wenn ich heute mit diesem Angebot ankomme, sagen sie mir, mit uns brauchst du nicht mehr reden. Sie sind zwar in der ÖTV ordentliche Mitglieder, bestimmt auch in ihrem kleinen Bereich aktiv, aber doch auch teilweise von der ÖTV enttäuscht. Ich verstehe, dass es natürlich für die ÖTV viele Schwierigkeiten gab, vielleicht auch Berührungsängste, denn es wollten auch aus den anderen Gewerkschaften hunderte von Hauptamtliche in die ÖTV. Es ist so weit gekommen, dass wir für unsere Gewerkschaft einmal unverbindlich sichten sollten. Da bin ich in einer Woche durch die ganze DDR gereist. Natürlich kannte ich nicht alle und wusste bei manchen nicht, kannst du ihn empfehlen oder kannst du ihn nicht empfehlen. Ich habe getan, was ich konnte und Kollegen benannt, die angesprochen werden sollten. Es sind auch Personalakten mit solchen Erfassungsbögen angefordert worden, die wir erstellt haben. Leider ist es dann so gewesen, dass aus Stuttgart keine Entscheidung kam. Die Leute hatten sich natürlich Hoffnungen gemacht, nachdem
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sie den Personalbogen abgegeben hatten. Es ist eine Woche nach der anderen verstrichen und sie haben nichts gehört. Das war in dieser Phase – auch für mich – eine innerliche Zerreißprobe. Von meinen Funktionären wusste ich, dass sie ordentlich gearbeitet hatten, dass sie sich für ihre Mitglieder in den Krankenhäusern aufgeopfert haben. Ein paar hat die ÖTV ja eingestellt, u.a. auch mich.
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Conny Hintz ÖTV-Beratungssekretärin in Frankfurt/Oder Interview vom 12. Dezember 1991 C.H.: Ich habe bei der Deutschen Bundespost im mittleren nichttechnischen Dienst angefangen und in ganz kurzer Zeit, das waren vielleicht zwei Wochen, schon eine Funktion in der Postgewerkschaft erhalten. Über einen Zeitraum von drei Jahren habe ich fast alles an Jugendfunktionen gemacht, was es gibt, bis hin zur Bezirksjugendvertretung und dem DGB-Jugendausschuss. Ich habe irgendwann beschlossen: erstens weißt du gar nicht genug und zweitens willst du irgendwann bei der Gewerkschaft hauptamtlich werden. Ich hatte mich über meinen Jugendsekretär furchtbar geärgert und mir vorgenommen, den schubst du von seinem Stuhl und machst alles viel besser. Ich bin dann zum WestfalenKolleg nach Paderborn und Dortmund gegangen. In beiden Ausbildungsgängen hat man die Möglichkeit, durch spezifische Kurse andere Geschichten zu machen als für den üblichen Abiturabschluss. Das heißt, ich konnte mich auf Volkswirtschaft, auf Soziologie und ähnliche Geschichten werfen und konnte mich mit Arbeitsbeziehungen auseinandersetzen. Mein Englisch-Abitur habe ich über Marx gemacht. Das trägt alles ein bisschen dazu bei, dass man das Bedürfnis entwickelt, das auch hauptamtlich intensiver zu tun. Ich habe die Sozialakademie absolviert und bin zur Deutschen Postgewerkschaft gegangen. Nach einem Jahr wechselte ich zur ÖTV nach Weser-Ems. Ich wollte richtig Gewerkschaftsarbeit lernen. Bei der Postgewerkschaft sollte ich eine Information zum Dokumentationssystem aufbauen. Das hatte für mein Empfinden mit originärer Gewerkschaftsarbeit gar nichts zu tun. Bei der ÖTV habe ich in einem Jahr so gut wie sämtliche Betreuungsbereiche kennengelernt, die es gibt, von Seeschifffahrt über Luftfahrt über Häfen bis Kernkraftwerk Lingen und Fliegerhorst Ahlhorn. Ich bin dann von Hans Liersch [Bezirksvorsitzender Nordrhein-Westfalen II] abgeworben worden für die Kreisverwaltung Dortmund. In Dortmund habe ich die Prozessvertretung, erste und zweite Instanz, Arbeiter, Betriebs- und Personalräte, Vertrauensleute und Schwerbehinderten-Vertrauensleute gemacht. Als wir in Dortmund die ersten Beamten in einem Warnstreik hatten, bin ich zum ersten Mal Heinz Kluncker begegnet. Der Heinz hat mich kurze Zeit später als seine persönliche Referentin in seinem Arbeitsbereich geholt. Ich war bei Heinz Kluncker insgesamt ein und einviertel Jahr. Danach ist er zurückgetreten, nicht meinetwegen. Ich habe bei Monika Wulf-Mathies weitergearbeitet. Die erste Vereinbarung war, ich mache das vier Jahre und keinen Tag länger. Am 15. Februar 1981 habe ich angefangen und am 15. Februar 1985 bin ich wieder weggegangen. Ich wollte zurück in meinen Bezirk, weil ich wieder direkt mit Menschen arbeiten wollte. Ich habe von '85 bis '90 in Nordrhein-Westfalen II eine ganze Menge verschiedener Geschichten gemacht. Im Februar '90 hatte ich das Riesenpech, dass ich nach einer Woche Urlaub ins Büro kam. Das war leider die Woche vom 12. bis 17. Februar 1990. Am 14. Februar hatte der gHV in Güte, Weisheit und Weitsicht beschlossen, ein Beraterteam in die ehemalige DDR zu schicken – damals noch DDR. Einer sollte das Vorauskommando spielen und herausfinden, ob das alles so geht, ob wir erwünscht sind, auf welche Bedingungen wir da treffen. Als ich ins Büro kam an diesem Freitag, wurde mir gesagt: Liebe Conny, es ist ganz fürchterlich, keiner erzählt es dir, ruf mal beim gHV bei der Margareta Fohrbeck an! Ich rief dort an und Margareta sagte mir: Pass auf, wir wollen 15 Berater in die DDR schicken. Einer muss schauen, wie das geht. Wir dachten das bist du. Wir haben einen Ort ausgesucht, von dem wir denken, da ist überhaupt noch nichts in Bewegung und das ist Frankfurt an der Oder. Du fährst am Sonntag los. Spätestens nach
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einer Woche kommst du wieder und erzählst uns, was wir machen müssen. Ich habe an diesem Freitagnachmittag rumtelefoniert und habe es geschafft, Jürgen Saft, Geschäftsführer der Kreisverwaltung Minden, zu sprechen. Der hatte zufällig eine SPDVeranstaltung am Samstag/Sonntag oben in Prenzlau. Jürgen hatte bei dieser Veranstaltung jemanden aus Frankfurt/Oder getroffen und diesen Kollegen hat er gebeten, uns Kontakt und Quartier zu besorgen. Als ich Margareta fragte, ob es irgendetwas Vorgeklärtes gäbe, sagte sie: Nichts. Stell dir vor, du fährst in das Nichts und das Nichts gilt es auch dort zu organisieren. M.S.: Das ist erst mal eine schöne Formulierung, weil die DDR ja kein Nichts gewesen ist. C.H.: Doch. Es gab keinen Kontakt, keine Ansprechpartner, es gab keine Unterkunft, es gab auch kein gebündeltes oder fundiertes Wissen in der Organisation, auf welche Situation wir in Frankfurt/ Oder treffen würden. Es gab nichts – gar nichts. Wir sind dann losgefahren und in Frankfurt war es relativ unkompliziert. Wir haben ein Hotelzimmer im Jugendtouristhotel bekommen, wo alles in Deutsch und Russisch stand und wo russische, polnische und andere Jugendgruppen rumsausten. Wir haben versucht, in dieser Woche rauszufinden, was rauszufinden war. Also wie und in welchem Zustand ist der FDGB, wie macht man das, wenn man ein Büro anmieten will. Zu der Zeit war es noch sehr schwierig in der DDR eine Gewerbegenehmigung zu bekommen. Wie ist das, wenn wir hinkommen und sagen, wir wollen Gewerkschaftsberatung machen. Werden wir rausgeschmissen? Wie ist das mit dem Melderecht? Wo muss man sich melden? Wie kommt man an seine Post? Wie kommt man an Einschreiben? Wie kann man ein Telefon organisieren? Was muss man berücksichtigen, wenn man in Betriebe will? Mit wem muss man Kontakt aufnehmen? Muss man Materialien dabei haben? Welche Möglichkeiten gibt es, sich zu informieren? Gibt es Westmedien? Wie geht das Telefonieren in den Westen? Wie geht es mit der Unterkunft? Wie kann man überhaupt wohnen? Kann man zu Menschen Kontakt kriegen? Wie ist das mit ganz profanen Dingen wie Ernährung und Einkaufen? Um diese Geschichten zu klären, hatten wir uns eine Woche Zeit genommen oder Zeit bekommen. Wir sind gleich am ersten Tag zum Bürgermeister getrabt. Das war eine verrückte Situation. Der eigentliche Bürgermeister hatte am Morgen einen Herzinfarkt erlitten. Sein Stellvertreter war da. Sein Stellvertreter war eine Mischung aus Gelassenheit und mein Gott, das kann ja nicht schädlich sein und hat gesagt: Gut, kommen sie her, wir sind bereit, sie zu akzeptieren und zu tolerieren. Wir sind auch bereit, dafür zu sorgen, dass sie Räume kriegen. Fangen sie an! Wir sagten ihm, dass wir spätestens in 14 Tagen wieder da wären, um ein Beratungsbüro zu eröffnen. Es war ein SED-Bürgermeister. Der hat uns zu dem zuständigen Menschen, dem Sekretär für das Bauwesen, geschickt und der hat uns im Verlauf der Woche mehrere Räume angeboten. Wir haben uns die Räume angeschaut und gesehen, dass es eine vertretbare Lösung gibt. Das waren Räume der Nationalen Front. Wir sollten zuerst ein Zimmer beim FDGB bekommen, zusammen mit der Nutzung der Mitarbeiterin des örtlichen FDGB-Sekretärs und Vorsitzenden. Damit hätten wir uns einverstanden erklären müssen. Das war für uns völlig unannehmbar. Wir haben im Verlauf dieser ersten beiden Tage versucht, auch noch mit anderen Leuten Kontakt zu kriegen, also in Betriebe reinzugehen. Wir sind da noch in einen Güterkraftverkehrsbetrieb reinmarschiert und haben mit Leuten geredet, da war die alte BGL noch im Amt. M.S.: Seid ihr auf gut Glück hin oder vermittelt durch Personen?
296 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview C.H.: Vermittelt durch den Kollegen, den Jürgen [Saft] bei der SPD kennengelernt hatte. Durch den sind wir da hingekommen, weil der da auch arbeitete. Wir sind zufällig in eine BGL-Sitzung reingekommen und Jürgen hat ein bisschen erzählt über das deutsche Arbeitsrecht, Betriebsverfassungsgesetz und Ähnliches. Das war für die Menschen völlig unverständlich. Sie wussten nicht, in welcher Welt wir leben und was das bedeutet. So ein Stückchen ist ihnen wohl klar geworden, im Westen ist keinesfalls alles Wilder Westen oder völlig ungeregelt, sondern es gibt eine Menge Schutzrechte und vernünftige Rechte für Arbeitnehmer, die teilweise sogar weitergehen, als es uns bei ihnen bekannt war. Wir haben versucht, diese BGL-Geschichte zu privaten Kontakten auszubauen. Das war schwierig. Also dieser Mensch von der SPD, der war bereit. Aber bei den anderen war es schwierig. Wir sind auch zu den politischen Parteien gegangen, also zur SPD, wir haben einen Versuch gemacht mit der CDU – das ging nicht. Mit dem Neuen Forum, das ging gut. Wir haben abends versucht, herauszufinden, wie die Menschen hier leben und wir haben festgestellt, dass es einige Bereiche gibt, wo es Gespräche gibt, wo es Kontakte gibt. Die Kontakte zu uns Westlern waren noch sehr reduziert. Es war also schwierig, einfach auf Leute zuzugehen. Ab zehn, halb elf fand nichts mehr statt, da war es vorbei. Andererseits war früh morgens um sechs ein heilloses Gewusel in der Stadt, weil die Menschen halt sehr früh zur Arbeit gegangen sind. Wir sind losmarschiert, um zu erfahren, in welcher Stadt wir sind. Es gab ein Fremdenverkehrsamt und der Bürgermeister hatte alles an Informationen, die es über Frankfurt gab, zusammengetragen: Statistiken, Wirtschaftsfragen, Geschichte von Frankfurt und solche Sachen. Wir haben versucht, herauszufinden, warum diese Stadt eínen so anderen Eindruck als viele Städte machte. Wenn man in Frankfurt ist, hat man das Gefühl, man sei in einer Bürokratenstadt. Es gab sehr viele Behörden, es gab sehr viele Kasernen, es gab die stationierten Streitkräfte der Westtruppe der Sowjetunion, an die fünf oder sieben Kasernen, es gab das Halbleiter-Werk Frankfurt/Oder mit etwas mehr als 8.000 Beschäftigten außerhalb der Stadt und das große Bezirkskrankenhaus. Insgesamt haben in der Stadt rund 86.200 Menschen gelebt. Das Halbleiter-Werk allein mit über 8.000, das Bezirkskrankenhaus mit über 1.000 Menschen und zwei Datenverarbeitungszentralen. Alles, von Verkehrswegen über notwendige Infrastruktur, war so organisiert, dass es für die Beschäftigten im Halbleiter-Werk passte. Wir haben uns die Stadt genau angeschaut, auch was die Häusersubstanz angeht. Wir waren verblüfft von den unendlich vielen Satelliten-Schüsseln auf vielen Häusern und den quergespannten Drähten. Später haben wir herausbekommen, dass unter anderem im Stasi-Gebäude oben und an den Toren und an den Gebäuden direkt längs der Oder überall Abhörvorrichtungen für den gesamten OstWest-Verkehr waren. Wir haben auch noch versucht, mit FDGB-Gewerkschaften Kontakt aufzunehmen. Wir haben Kontakt gehabt zur Gewerkschaft Gesundheitswesen und zum FDGB insgesamt. Zu den übrigen Gewerkschaften war es zeitlich nicht möglich. Ich bin zur Post marschiert, um herauszukriegen, wie das mit den Telefonanträgen geht. Es stellte sich sehr schnell heraus, mit Telefonanträgen dauert es im Schnitt acht bis neun Jahre. Wenn, dann müsste man einen vorhandenen Anschluss nutzen. Post war ebenfalls schwierig, Pakete wurden nicht zugestellt, sondern in Paketkisten am Straßenrand abgelegt. Zeitungsabonnements waren schwierig, West-Zeitungen konnte man nicht abonnieren. Man konnte einige Ost-Zeitungen abonnieren. Der Vorlauf für die Abonnements dauerte auch mehrere Monate. Telefonieren in den Westen ging zu der Zeit überhaupt nicht. Wenn, dann nur mit Anmeldung und Vorlauf im Schnitt bis zu sechs Stunden. Manchmal kam ein Kontakt zustande, er brach aber oft mitten im Gespräch zusammen, wenn man Spannendes erzählte.
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Ich hab` bei der Stadt versucht herauszufinden, ob ich Genehmigungen brauche. Es stellte sich heraus, dass ich eigentlich gar nicht da sein durfte. Nach dem Recht der DDR durfte ich schon gar nicht arbeiten. Theoretisch konnte man mich jeden Tag ausweisen. Ich habe gefragt, wie das melderechtlich ist. Ich müsste mich anmelden, das war in Ordnung. Zu der Zeit waren die Zustände bereits relativ desolat, d.h. es wirkte so, als müsse man noch alles tun, aber wenn man es nicht tat, wurde es nicht zwingend unmittelbar bestraft. Eine Geschichte hätte ich fast vergessen. Wir haben an einem Abend das Bezirkskrankenhaus aufgesucht, weil wir schauen wollten, wie es da ist. Gibt es auch eine BGL, lassen die uns überhaupt rein? Das war verblüffend, wir kamen ohne die geringsten Schwierigkeiten rein, und die Leute waren ein ganzes Stück erleichtert, dass sie keine Schwierigkeiten mehr machen mussten, dass sie uns durchlaufen lassen konnten. Als wir da reinkamen, kam eine Kollegin auf uns zu und wollte mit uns reden. Das war eine Kollegin, die Mitglied der Kirche war. Sie war sehr engagiert aber für unser Empfinden auch sehr unsicher doch trotzdem ganz entschlossen. Es war die Kollegin Regina Zimmer, die inzwischen Gewerkschaftssekretärin in der Kreisverwaltung Frankfurt/Oder ist. Regina Zimmer hat im Bezirkskrankenhaus damals der BGL angehört und hat den Feriendienst organisiert. Sie hat den Versuch unternommen, so schnell es ging, mit westlichen Gewerkschaften Kontakt zu kriegen. Sie und ihre Kollegen wollten die alte BGL nicht mehr, sondern vernünftige Gewerkschaften haben. Am gleichen Abend, als wir dort standen, kam eine Gruppe von Personalräten aus der Stadt Minden, angeführt vom Gesamtpersonalratsvorsitzenden Volker Hoppmann. Ich bin dann zurückgeflogen und habe in der Hauptverwaltung brav Bericht erstattet. Wir haben daraufhin Prüflisten zusammengestellt mit all den Dingen, die man machen muss, Als klar war, was man machen muss und wie man das machen muss, um eine Beratertätigkeit zu organisieren, hat das VS 6 innerhalb allerkürzester Zeit eine Qualifizierung aus dem Boden gestampft. Am 1. März wurde eine Gruppe von 15 Beratern für den Einsatz im Osten qualifiziert. M.S.: Gab es Hinweise für die Kontaktaufnahme? Z.B. als erstes zum Bürgermeister zu gehen, nicht zum FDGB und nicht in die Gewerkschaftshäuser? C.H.: Das war nicht das Spannende an der Auflistung. Das eigentlich Spannende in der Qualifizierung der Berater für den Einsatz war, dass in dieser Qualifizierung wir gemeinsam versucht haben, eine Linie zu finden, um uns für bestimmte bzw. gegen bestimmte Geschichten zu entscheiden. Der Peter Witte vom Energiekombinat Berlin Ost hat uns etwas über die FDGB-Gewerkschaften, die Struktur in den Energiekombinaten und die BGLen erzählt. M.S.: Warst du zu dem Zeitpunkt die einzige von den zukünftigen Beratern, die drüben gewesen sind? C.H.: Ja, es war keiner vorher drüben gewesen. Sie hatten fast keine Berührungspunkte zum Osten bis dahin gehabt. Wir haben im Kreise dieser 15, immer wieder unterstützt von Leuten, die uns was vom Osten erzählt haben, versucht Positionen zu entwickeln. Diese Auseinandersetzung: FDGB ja oder nein? Es hätte keinen Zweck gehabt, der Gruppe zu sagen, das ist das Dogma, so verfahrt ihr und dann meldet ihr Vollzug. Es war schon so, dass wir streckenweise unendlich mühevoll Positionen entwickelt haben und es war natürlich eine Vorgabe da und die Vorgabe hieß, dass bereits Kontakte auf Hauptvorstandsebene bestanden zwischen den Einzelgewerkschaften und diese Kontakte auch fortgeführt wurden. Werner Ruhnke war ja zu der Zeit schon in Amt und Würden dort.
298 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Werner hat das Seminar geleitet. Er hat in der Zeit klar gesagt, was es da alles gibt, dass es auch Kontakte zu FDGB-Gewerkschaften gibt. Aber wir haben uns in der Diskussion sehr, sehr mühevoll mit vielen Rappeleien dazu vorgekämpft, dass wir einen bestimmten Verfahrensweg versuchen einzuhalten. Dass wir uns regelmäßig, spätestens im Abstand von 14 Tagen, immer wieder treffen, um die nächsten Schritte abzusprechen und um eine möglichst gleichzeitige Entwicklung herzustellen. Wir dachten, wenn es nicht gelingt, diese Gleichzeitigkeit zu organisieren, dann werden wir in bestimmten Bereichen angreifbar. Dann ist es leichter für jemanden, der uns auseinanderbrechen will oder der als FDGB diese Entwicklung nochmals zurückreißen will. Der kommt leichter ran, wenn er sieht, da hängt`s und da sind die relativ schwach. M.S.: Gab es einen Konsens in politischen Fragen? C.H.: Es gab einen organisatorischen Konsens und der hieß, erstens wir treffen uns regelmäßig, zweitens wir tauschen uns aus, drittens wir entwickeln gemeinsam eine Position, auch mit Mitgliedern des gHV. Das war für uns unendlich wichtig, weil wir in dieser Situation auch ein Stück Politik gestaltet haben, nämlich wie lernt man Interessenvertretung Ost und wie geht man mit Konflikten um. Wie vermitteln wir eigentlich, wer wir sind und wie gehen wir mit den Ost-Gewerkschaften um, distanzieren wir uns oder gehen wir ran an die? M.S.: Wie war die Position? C.H.: Das war eine schwierigere Geschichte, weil es ja schon Kontakte zu den FDGBGewerkschaften gab. Ich habe gesagt, ich halte überhaupt nichts davon, nach unseren Erfahrungen, mit diesem FDGB auch nur eine einzige Socke zu wechseln. Notfalls reden, ja, aber in keiner Weise mit denen kooperieren und in keiner Weise von denen irgendetwas annehmen. Sodass wir niemals in eine Situation geraten, die faktische Rechtsnachfolge anzutreten, weder moralisch noch politisch noch inhaltlich noch rechtlich. M.S.: Wie wurde der Auftrag beschrieben? C.H.: Es ging in den ersten Wochen nur darum: Schaut zu, ob ihr in die Betriebe reinkommt, ob ihr Strukturen aufbauen könnt, findet raus, in welcher Situation die Gewerkschaften vor Ort sind, findet raus, wie das Klima in den Betrieben und Verwaltungen ist, findet raus, in welchem Zustand dieser Staat ist. Dafür hatten wir die ersten 14 Tage Zeit. Das war eine höllisch knappe Zeit, aber es wurde geschafft. Wir hatten, bis auf drei, alle bis spätestens Anfang Juni Büros und wir hatten auch innerhalb dieser 14 Tage für uns relativ präzise raus, in welchem Zustand befindet sich die Stadt und die Umgebung, in der ich bin. Was heißt das für die Gewerkschaften, welche Gewerkschaft kollabiert jetzt, welche kollabiert später, wie ist der Umgang mit den Funktionären? Schwierigkeiten über den richtigen Weg entstanden später, als zunehmend immer mehr Kollegen immer enger mit diesen alten Gewerkschaften zusammengearbeitet haben. Sie haben deren Funktionäre benutzt, deren Verwaltung mitgenutzt und die Postwege mitgenutzt. Auch um ihren Kram geregelt zu kriegen. Die fanden das völlig in Ordnung, das zu tun. Diese Kollegen, und das wirkt sich langfristig aus, haben durch die enge Kooperation den alten Gewerkschaften die Chance eröffnet, ihre Strukturen reinzuwaschen, später hauptamtlich zu werden und bestimmte Entwicklungen mitzusteuern und zu beeinflussen. In Frankfurt hat das nicht stattgefunden. Es gab Einige, die gesagt haben, das machen wir auf gar keinen Fall. Wir wollen das nicht. Wir wollen eine ganz klare Trennung. Es darf nicht sein, dass wir plötzlich bei denen hinten im Schlitten sitzen und die ziehen das Ding vorne. Wir als
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ÖTV sind eine unabhängige, freie Gewerkschaft, die eigenständig aufbaut, die den Leuten hier die Chance gibt, was eigenes Neues zu bauen. Wir haben in der Diskussion mit den Beratern eigentlich uns immer wieder gegenseitig versichert, dass das oberste Ziel sein müsse, die Menschen im Osten selbstbewusst zu machen, ihnen zu helfen, die eigene Identität zu bewahren, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie vor dieser neuen Zeit nicht paniken müssten, sondern dass sie ihr durchaus gewachsen seien. Wir haben über das Betriebsverfassungsgesetz und die Personalvertretung informiert? Mir ist irgendwann klar geworden, dass das nur dann vernünftig geht, wenn wir uns sehr intensiv mit dem Arbeitsrecht der DDR auseinandersetzen. Wir hatten zu der Zeit ja nach wie vor das Arbeitsrecht der DDR. Als die BGLen schwächer wurden und abbauten, kamen wir zunehmend in eine Rolle, dass wir ein Stück weit die Aufgaben der BGLen mitübernehmen mussten. M.S.: Wie war dein Anfang als Berater? C.H.: Wir hatten eine knappe Woche Zeit, zu Hause alles zu regeln, was zu regeln war und sind dann losgefahren. Wir haben versucht zu organisieren, was zu organisieren war. Also, wo kriege ich ein Büro her, wo kriege ich ein Telefon her, wo kriege ich Ansprechpartner her, wie geht das in den Betrieben, wie organisiere ich meine Informationswege, wie kriege ich raus, in welchem Zustand die Gewerkschaften am Ort sind, wie kriege ich raus, in welchem Zustand der FDGB ist? Eine spannende Frage war, wie kriege ich raus, wie der Rechtsweg ist? Kann ich mit den politischen Parteien etwas anfangen? Was ist mit den Alt-Gewerkschaften, die uns Räume anbieten? Gehen wir da rein, gehen wir da nicht rein? Was machen wir beispielsweise, wenn die Alt-Gewerkschaften beginnen, uns Schwierigkeiten zu machen? Was machen wir, wenn ganze Betriebe und Verwaltungen auseinandergerissen werden? Wie gehen wir damit um, wenn wir plötzlich die Stasi im Genick haben? Wir hatten im Schnitt die ersten sechs Wochen das Büro im Auto, d.h. wir haben die meiste Zeit im Auto verbracht, mit Papier, Material und allem, was dazu gehörte. In der Zeit war es für uns unendlich wichtig, dass wir uns immer sehr zeitnah ausgetauscht haben. In der Regel fanden einmal die Woche Beratertreffen statt. M.S.: Wie hast du dich in Frankfurt in die gewerkschaftspolitische Diskussion eingemischt? C.H.: Es gab Anfang Mai massive Kämpfe der Einzelgewerkschaften gegen die ÖTV und massive Kämpfe, mich als Person einzuspannen für die Ziele der Gewerkschaften, d.h. dass sie bestehen bleiben. Sie haben mich blitzartig als Gegner identifiziert und haben gesagt, diesen Gegner wollen wir loswerden. M.S.: Kannst du das genauer beschreiben? C.H.: Es ging beispielsweise so, dass ich bei der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass es um die Gewerkschaft Gesundheitswesen gehe und wir im Osten nichts zu organisieren hätten. Es bestünde die GSW und wir könnten bestenfalls im Rahmen der GSW und mit Unterstützung der GSW etwas tun, z.B. in Veranstaltungen. Aber eigenständig mit Leuten einen Betrieb zu organisieren, das sei ja wohl das Hinterletzte. So dass ich immer selbst in die Betriebe rannte, ohne vorher im GSW-Büro Bescheid zu sagen. Bei der GÖD spielte sich das ähnlich ab. Auch da gab es zunehmend Attacken, dass wir bitte schön auf unseren Vorstand einwirken möchten, dass die GÖD eigenständig als Gewerkschaft bestehen bleibe. Im äußersten Falle sollte mit der ÖTV eine Verabredung geschlossen werden, dass ganze Listen übergeben werden. Das heißt, dass wir komplett die Mitglieder der GÖD, dass wir das kom-
300 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview plette Vermögen, Funktionäre und Anlagevermögen übernehmen und sich sonst nichts ändert. Sie wären auf ihren Stühlen sitzen geblieben wie bisher. Dagegen habe ich mich von März an rigoros verwahrt und immer wieder darauf hingewiesen, dass es für die ÖTV überhaupt nicht akzeptabel sei, über die Köpfe der Mitglieder hinweg, Listenübergaben zu machen. Es sei das freie Recht eines jeden, zu entscheiden, wo er hin wolle und wie er sich organisieren wolle. Das sei mit der ÖTV nicht zu machen und dass selbstverständlich keiner der Funktionäre denken möchte, er werde bei der ÖTV weiterbeschäftigt. Nachdem ich das ein paar Mal, es war Mitte April, so klar gesagt habe, hat das dazu geführt, dass von da an bis Ende Mai das Arbeiten und Leben für mich ziemlich schwierig wurde. Ich bin sowohl in Veranstaltungen als auch im Büro teilweise sehr massiv angegangen und angegriffen worden. Dann gab es Überlegungen, dass bei der HBV der Joachim Wegrad, der damalige Vorsitzende, alles in die HBV überführen wollte. Allen wurde erzählt, ihr werdet demnächst HBV. Bis ich dann mit Rainer Lorenz, dem Bezirksvorsitzenden der GÖD in Frankfurt, nach langen, langen Diskussionen, die Geschichte so weit klar hatte, dass der Teil, der eindeutig in die HBV reingehört, sich dort organisiert, und der Teil, der in der GÖD bleibt, irgendwann freiwillig in die ÖTV übertreten wird. Ich habe bei der GSW, als sich abzeichnete, dass die Beschäftigten kollektiv an die DAG verkauft werden sollten, das war wohl Ende Mai, über zwei Leute im Hauptvorstand der GSW, eine Initiative im Bezirkskrankenhaus angezettelt. Die Leute sollten an einer Abstimmung teilnehmen und entscheiden, welche Gewerkschaft sie als ihre Gewerkschaft im Betrieb vertreten sehen wollen. Sie haben sich mit absolut überwältigender Mehrheit für die ÖTV ausgesprochen. Da konnten wir blitzartig anfangen die ersten Personalräte wählen zu lassen. M.S.: War denn zu dem Zeitpunkt schon klar, dass die Beschäftigten individuell der ÖTV beitreten sollen? C.H.: Es war Ende Mai klar, schon vorher, dass wir eine ÖTV in der DDR gründen würden. Die ÖTV in der DDR ist am 9. und 10. Juni in Magdeburg gegründet worden. Wir wussten es ab Ende Mai, weil wir uns da durchgesetzt hatten. Auch das war ein unendlich mühevoller Prozess, in den Diskussionen herauszufinden, was machen wir? Öffnen wir einfach die ÖTV oder gründen wir eine ÖTV in der DDR, um den Menschen die Chance auf eine eigene Organisation zu bieten? Wir wollten einen sehr, sehr hohen Identitätsund gemeinschaftsstiftenden Körper haben. Diese Position hatte sich spätestens Ende April so weit durchgesetzt, dass der gesamte Vorlauf für den Kongress stattfinden konnte. M.S.: Aber zum Zeitpunkt, als der Kongress stattfand, hatte sich die Position schon so weit geändert, dass man gesagt hat, das ist nicht der Weg, sondern wir öffnen die Satzung? C.H.: Falsch. Zum Zeitpunkt, als der Kongress stattfand, war überhaupt nicht absehbar, wann der Beitritt stattfinden würde. Es war nur fühlbar, dass die Leute gedrückt haben. Ob die Vereinigung noch in diesem Jahr kommen würde, wusste kein Mensch. Mit dem Beitritt würde die ÖTV über die Grenze treten, das war völlig klar. Aber zu jenem Zeitpunkt gingen wir alle miteinander davon aus, dass die ÖTV in der DDR wohl ein dreiviertel Jahr bis ein Jahr leben würde. Wir haben immer gesagt, wenn ihr der ÖTV in der DDR beitretet, tretet ihr eurer eigenen ÖTV bei. Wir helfen euch mit allem, was wir können, mit allem Equipment und allem Personal, damit ihr die Chance kriegt, als eigenständige ÖTV in der DDR ein Jahr später in die Gesamt-ÖTV überzugehen. Aber das haben wir nicht geschafft, sondern wir sind, nachdem die ÖTV in der DDR gegründet war, in Fluten
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von Aufnahmescheinen ertrunken. Wir haben mit allen organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, die es überhaupt gab. Z.B. dass meine Aufnahmescheine an Rainer Lorenz bei der Gewerkschaft ÖD geschickt worden sind und ich keine Aufnahmescheine hatte. Das nächste Mal waren meine Aufnahmescheine in Berlin abgeholt worden, nur nicht von mir – sondern von der GÖD. Das Gleiche war bei der GSW und bei Transport. Ich bin beim Kraftverkehrskombinat erst sehr spät reingekommen, weil dort mit Abstand die verfestigtesten Ideologen waren, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Da hingen an den Wänden noch überall die Plakate von den antiimperialistischen Kämpfen in Kuba und Nicaragua und weiß der Teufel wo. Es war schon so, dass die Funktionäre der Transport und Verkehr uns eigentlich am heftigsten bekämpft haben. Das ganze Spiel dauerte über den Juli hinaus an. Den Juli habe ich nicht mehr mitgemacht. M.S.: Was heißt: alles versucht, um dich unter Druck zu setzen? C.H.: Ich hatte eine Veranstaltung gemacht. Anschließend kam die Sekretärin zu mir und hat geweint. Sie wurde aggressiv. Sie hat sehr massiv ihre eigene Lebenssituation geschildert und mir klipp und klar gesagt, ich schmeiß dich aus dem Krankenhaus raus, wenn du versuchst, die Leute abzuwerben, ohne mich zu übernehmen. Die nächste Geschichte war, dass eine Kollegin mir übermittelte, ich möchte zu Rainer Lorenz, dem GÖD-Vorsitzenden, kommen. Wir sind hingefahren und der hat mir klipp und klar gesagt: Ich könnte jetzt deine Aufnahmescheine alle zurückbehalten. Bei Transport und Verkehr wurde mir unverblümt gesagt: Entweder du machst das jetzt alles wie wir wollen, oder wir machen eine eigene Transportgewerkschaft auf und schmeißen dich hier raus. Nicht aus dem Betrieb sondern aus dem Land. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Möglichkeit, mich da richtig zulässig aufzuhalten. M.S.: Es wäre doch im Mai unvorstellbar gewesen, dich außer Landes zu weisen? C.H.: Das Telefon, das ich im Büro hatte, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis Mitte Juni noch regelmäßig abgehört worden. Ich hatte einen Freund gebeten, das alles mal durchzumessen. Das war halt so. M.S.: Ihr habt euch im Beraterkreis darauf geeinigt, den Aufbau von Betriebs- und Personalräten zu unterstützen? C.H.: Na ja, so einfach war das nicht, weil das Personalvertretungsgesetz der DDR schon im Werden war und spätestens ab 1. Juli da sein musste, weil ab 1. Juli nach dem Einigungsvertrag die BGLen abgeschafft waren. Wir haben alles daran gesetzt, den Wahlzeitraum soweit zu verkürzen, wie es irgend ging. Spätestens ab Ende Mai wollten wir durchwählen lassen, damit wir einen nahtlosen Übergang zu gesetzlicher Interessenvertretung haben. Das hat nicht überall funktioniert, aber in weiten Teilen haben wir es eigentlich geschafft. M.S.: Im Mai war klar, dass man nicht mit den alten Gewerkschaften zusammengeht? C.H.: Nein, nein, es gab immer den Versuch einiger, beide Wege zu gehen und da habe ich zugegebenermaßen gemeinsam mit einigen Kollegen eine abweichende Position vertreten. Es gab immer die Einschätzung, wir müssten beides tun, Kooperationsverträge abschließen und die ÖTV in der DDR gründen. Ich habe immer sehr, sehr vehement zur Wehr gesetzt, dass wir in irgendeiner Weise mit den Alt-Gewerkschaften kooperieren müssten. Ich hatte das Gefühl, nach der mörderischen Arbeit in Frankfurt, dass es sehr wohl machbar sei, die alten Gewerkschaften aus den Betrieben raus- und an die Wand zu
302 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview drücken. Das wäre ein Kraftakt gewesen, aber es wäre gegangen. Es ging nicht bei den Kollegen, die von Anfang an sehr eng mit den Gewerkschaften kooperiert haben. M.S.: Du hast deine Geschichte so dargestellt, als hättest du als braver Vereinssoldat den Befehl gekriegt, als Berater rüber zu gehen? Mich würde interessieren, mit welchem Gefühl, mit welchen Empfindungen du angefangen hast, drüben zu arbeiten? C.H.: Zum einen war mir das Land und vieles an den Menschen und an den Strukturen sehr vertraut. Es war ein Stückchen Leben aus meiner Kinderzeit. Ich habe es immer als ein zwar bedrückendes, weil die Erwachsenen immer Angst hatten und wir Kinder nicht so ganz verstanden haben, warum sie immer Angst hatten, aber für uns Kinder als ein unendlich entspanntes und entspannendes Leben empfunden. Ich war immer in einem kleinen Dorf. Wir haben uns immer sehr, sehr angenommen gefühlt. Dass die Kinder ideologisch gedrillt wurden, dass sie mit Panzern und mit Soldaten lernten, dass die Heimat einen antifaschistischen Schutzwall hat, damit die bösen Kapitalisten nicht einbrechen, habe ich auch erlebt. Dann habe ich langsam verstanden, dass es zwei völlig verschiedene Welten waren, in denen ich hin- und herfuhr. Damals war ich fünf, sechs Jahre alt. Es begann mit dem Packen und all dem, was man mitnimmt. Wie geht das im Zug, wie werden wir kontrolliert, was wird kontrolliert, was ist auf den Bahnsteigen, wie benehmen sich die Polizisten, guckst du einen schräg an, guckt er schräg zurück? Wirst du gleich verhaftet, wirst du später verhaftet? Das war uns Kindern präsent. Wenn wir bei unseren Verwandten ankamen wurde ganz genau geschaut, dass wir uns ins Hausbuch eingetragen, uns rechtzeitig bei der Polizei und bei der Bürgermeisterin gemeldet und brav das Gespräch mit dem Hauswart geführt haben. M.S.: Hast du für dich eine Perspektive in Frankfurt gesehen? C.H.: Ich habe Monika [Wulf-Mathies] klipp und klar gesagt, ich mache das 14 Tage und dann müsst ihr jemand anderes gefunden haben. Dann bin ich von Monat zu Monat länger reingezogen worden. Am Anfang widerwillig, weil ich in Bochum meinen Arbeitsbereich wegbrechen sah. Die Aufgabe im Osten war zwar unendlich wichtig und reizvoll, auf der anderen Seite sah ich in Bochum, dass ich bei meinen West-Funktionären immer mehr unter Druck geriet, weil Sachen nicht erledigt werden konnten. Ich geriet auch im Bezirk zunehmend unter Druck, weil damit der letzte noch fehlende Beweis angetreten war, dass ich ideologisch längst den Klassenstandpunkt verlassen hatte, indem ich die Dreistigkeit besaß, nicht mit den alten FDGB-Funktionären und den alten FDGBGewerkschaften zu kooperieren, sondern immer wieder daran erinnerte, was die SEDDiktatur an Verbrechen gegen die Menschenrechte gebracht hatte. Es hat mich nicht umsonst mein Bezirk bis Juli da allein hängenlassen. Andere Bezirke hatten längst Unterstützung geschickt, zumindest für die Organisation von Veranstaltungen. Das hat mein Bezirk rigoros verweigert und mein Bezirksleiter hat zwei Sekretären, die bereit waren, mich zu unterstützen, verboten hinzufahren. Er hat ihnen arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht im Falle, sie täten es. Ich habe um jedes Blatt Papier kämpfen müssen, um jeden Radiergummi, um alles, was ich aus dem Bezirk mitgenommen habe, um da drüben halbwegs vernünftig arbeiten zu können. Ich habe am Wochenende in Bochum meinen Schreibtisch aufgeräumt, habe da geschuftet, habe gefragt, ob ich ein Päckchen Kopierpapier mitnehmen dürfte – ich durfte nicht. Sie haben die Kontakte zu den hauptamtlichen Funktionären der IG Transport, der GSW und der GÖD aufgebaut, die aus dem Bezirk Potsdam kamen, u.a. dem Jürgen Kaiser. Diese Funktionäre haben allergrößten Wert darauf gelegt, dass nur mit ihnen
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gearbeitet wird. Ich habe mich dem verweigert. Ich habe mich anders verhalten. Ich habe mich gegen die vom Bezirk ausgegebene Linie verhalten und ich habe mich auch weiteren Kontakten zu den Burschen verweigert, weil ich gesagt habe, das ist nicht unsere Welt, wir wollen es nicht, wir tun es nicht, wir brauchen es nicht. Das Ergebnis war, dass der Bezirk sich auch verweigert hat. Dass der Bezirk gesagt hat, wir haben eine andere politische Linie, wir vertreten etwas anderes, also unterstützen wir dich auch nicht. Das war nur logisch. M.S.: Hast du bereut, nach Frankfurt gegangen zu sein? C.H.: Unter dem Strich gesehen war es richtig, das zu tun, war es richtig, sich mit aller überhaupt nur verfügbaren Kraft 'reinzustürzen und auch zu versuchen, gegen die alten Strukturen zu kämpfen. Aber es ist, denke ich, unvorstellbar, welche psychische und physische Belastung das bedeutet hat. Man war in einem gemeinsamen Kulturraum, in einem gemeinsamen Sprachraum ein Ausländer, ein Fremdsprachler und Ausländer. Das ist für einen Westler, der einen sehr offenen und liberalen Geist hat, ganz, ganz schwierig zu ertragen. Ganz schwer zu ertragen war auch, dass es keinen gab, dem man vertrauen konnte. Dass es niemanden gab, mit dem man sich austauschen konnte. M.S.: Wie lief dein Alltag ab? Büroarbeit, Betriebe, was hast du abends gemacht? C.H.: Der Alltag begann in der Regel morgens um sechs Uhr. Die Veranstaltungen haben um sechs oder früher begonnen und sie waren in Schwedt und weiß der Teufel wo. Dieser Bezirk war ein riesiger Flächenbezirk. Von Frankfurt nach Schwedt rauf sind es zwar nur 70 km, aber du fährst drei Stunden, und wenn eine Veranstaltung morgens um 6.30 Uhr angesetzt war, dann musste ich spätestens um 3.30 Uhr losfahren. Ich habe bis in den späten Abend hinein mir die Leute ins Büro bestellt, habe mit ihnen die Flugblätter, die Aktionen, die Veranstaltungen gemacht und vorbereitet und kam in der Regel so um zwölf, halb eins ins Bett und war morgens spätestens halb fünf wieder auf den Beinen, um wieder loszurasen. Ich habe Veranstaltungen teilweise bis zwölf, halb eins gemacht. M.S.: Bist du jedes Wochenende nach Hause gefahren? C.H.: Nein, ich bin so im Schnitt jedes dritte Wochenende heimgefahren. Ich musste zum einen in meinem Büro noch eine Menge tun und wollte zum anderen auch nicht die allerkleinste Entwicklung in der Stadt verpassen. M.S.: Hast du nicht Optimismus erlebt, dass Leute froh waren, dass der alte Laden zusammengekracht ist? C.H.: Es war ein bisschen Optimismus da, aber es existierten die alten Strukturen noch. Nach wie vor saßen alte Schmutzfüße sattelfest in Amt und Würden, dass es teilweise ein völlig verzweifeltes Anrennen dagegen war.
304 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview
Wolfgang Kurth Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen Interview vom 9. Juli 1991 W.K.: Ich habe 20 Jahre in einer Gesundheitseinrichtung gearbeitet. Dort habe ich als Hilfskraft angefangen und zum Schluss als Abteilungsleiter gearbeitet. Das nannte sich Abteilung Arbeit und Löhne. Der gesamte soziale Bereich war da integriert, alles was die soziale Betreuung der Mitarbeiter betraf, angefangen von der Feriengestaltung über Beschaffung von Krippenplätzen für die Mitarbeiter, Wohnungswesen und die ganzen Lohn- und Tariffragen. Ich bin auf persönlichen Wunsch, ich muss sagen in Ehren, gegangen, weil ich 1980 das Angebot bekommen hatte, beim Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen zu arbeiten. Auch hier auf der gleichen Strecke im sozialen Bereich. Dazu gehörte Planung, so wie man sie seinerzeit unter sozialistischen Bedingungen verstanden hat, Neuererwesen und diese Fragen. Ich wurde dann nach einem Jahr etwa, Leiter des Büros, d.h. ich war verantwortlich und war es bis zur großen Wende für die Vorbereitung orgtechnischer Art der Sekretariatssitzungen, also für die innere Verwaltung, d.h. für die organisatorischen Fragen des Vorstandes, des Zentralvorstandes. Ich habe sämtliche Tagungen des Zentralvorstandes orgtechnisch vorbereitet und alles, was damit zusammenhing. Die finanziellen Fragen und all das, das fiel in meine Kompetenz. Und das habe ich, wie gesagt, die ganzen Jahre über gemacht, bis November, Dezember `89. M.S.: Das hört sich jetzt ganz harmlos an, aber das war doch eine ziemlich wichtige Funktion gewesen? W.K.: Jein, würde ich sagen, weil ich sehr wenig eigene Kompetenzen hatte, sondern meine Aufträge, was die innere Verwaltung betraf, vom stellvertretenden Vorsitzenden erhielt. Mach` mal dies, mach` mal das, bereite jenes vor. Das heißt also, ich habe nicht inhaltlich gewirkt, sondern ich habe das, was an Beschlüssen vorlag, an Vorlagen durch die einzelnen Abteilungen aufzubereiten war, kontrolliert, dass das termingerecht vorlag. Ich war eben verantwortlich, dass die Vorlage für das Sekretariat in ausreichenden Exemplaren vorgelegen hat. Inhaltlich habe ich keine Möglichkeiten gehabt, Einfluss zu nehmen. Was die Finanzplanung betraf, das sind natürlich nachher Erfahrungswerte gewesen. Z.B. wie viel Mittel im laufenden Jahr gebraucht werden, weil wir hatten ja keine eigenen Einnahmen, weil alles an Beitragseinnahmen an den FDGB floss und wir mussten für den Zentralvorstand einen Finanzplan erarbeiten, der durch den Bundesvorstand bestätigt wurde, und in diesem Rahmen mussten wir uns dann bewegen. Das war zu kontrollieren, zu überwachen, dass wir uns im Rahmen dieser Mittel bewegten. Aber, wie gesagt, alles im Auftrag. Es war wenig Selbstständigkeit dabei. M.S.: Du warst nicht Mitglied des Zentralvorstandes? W.K.: Nein. Es war in der Regel so, dass die hauptamtlich Tätigen des Zentralvorstandes nicht gewählte Mitglieder waren, ausgenommen waren hier einmal die Vorsitzenden und der Stellvertreter und die Sekretäre des Zentralvorstandes, die dann ihre Ressorts im Sekretariat zu vertreten hatten. Das war eigentlich der hauptamtliche Teil des Sekretariats und alles andere waren, ich sage mal, Angestellte, hauptamtlich Angestellte, Funktionäre der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Aber das war die Regel, dass nur die Mitglieder des Sekretariats eine Wahlfunktion hatten, alles andere waren hauptamtlich Tätige.
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Ich habe an allen Sekretariatssitzungen teilgenommen, bis auf den Urlaub und Krankheit. Ich war verantwortlich für die Protokollführung. Das heißt, es wurde zu jeder Sekretariatssitzung ein Beschlussprotokoll gefertigt, und das lag in meiner Verantwortung. Und dann auch die Realisierung der Beschlüsse. Es war in der Regel so, dass ein Sekretär für einen Punkt verantwortlich gemacht wurde, dass dies auch realisiert und umgesetzt wurde, musste ich kontrollieren. M.S.: Waren das interne Protokolle oder gingen alle an den FDGB-Bundesvorstand? W.K.: Diese Protokolle gingen eigentlich nirgends hin. Das waren Protokolle, die nur hier im Zentralvorstand verwendet wurden. Sie sind aber archiviert. M.S.: Du warst doch sicher auch Parteimitglied? W.K.: Ich muss mal so sagen, das wäre sicherlich gar nicht möglich gewesen, hier zu arbeiten, ohne Parteimitgliedschaft. Man muss das so realistisch sagen. M.S.: Wie würdest du dein gewerkschaftliches Selbstverständnis vor der Wende beschreiben? W.K.: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe meine Tätigkeit hier so angesehen wie jede andere Tätigkeit auch. Ich habe, wie gesagt, 20 Jahre in einer Gesundheitseinrichtung gearbeitet, im Klinikum Buch, also einer der größten Einrichtungen in der damaligen Hauptstadt der DDR. Meine Tätigkeit im Gesundheitswesen war nur an einer anderen Stelle, so wie es zu DDR-Zeiten formuliert wurde, auf der staatlichen Ebene, und ich habe sie ausgeübt aus gewerkschaftlicher Sicht. Ich habe keinen wesentlichen Unterschied gesehen. Mein Anliegen war, im Gesundheitswesen zu bleiben, weil man viele Höhen und Tiefen mitgemacht hatte und die Problematik kannte. Ich habe da Erfahrungen gesammelt und ich habe die Arbeit gerne gemacht. Ich bin im Gesundheitswesen groß geworden. Das war meine Welt. M.S.: Welchen Beruf hattest du von Hause aus? W.K.: Ich habe mal Schreibmechanik gelernt, Elektrotechnik/Elektronik und musste krankheitsbedingt aufhören. Meine Mutter arbeitete damals in Buch und so bin ich da reingekommen. Ich habe in der Verwaltung angefangen, mich qualifiziert und mein Ökonomiestudium gemacht. Ökonomie/Gesundheits- und Sozialwesen. Dort habe ich das alles kennengelernt. M.S.: Wie fiel die Entscheidung, hauptamtlich zur Gewerkschaft zu gehen? W.K.: Die hing eigentlich mit der Tätigkeit dort zusammen. Ich habe sie gerne gemacht, ich wäre auch gerne dort geblieben. Dann kamen aber gesellschaftliche Funktionen dazu. Ich habe viele ehrenamtliche Funktionen gehabt. Das war zuviel. Ich habe gesagt, das schaffe ich nicht mehr. Nehmt mir die gesellschaftlichen Funktionen ab. Dann kam der Knackpunkt. Da war ich kurz vorm Infarkt und sie haben mich sofort zur Kur geschickt. Na, ich kannte hier eine Kollegin, die damals vom Klinikum weggegangen ist. Die fragte mich: Willst du nicht bei uns anfangen? Das war diese Stelle. So bin ich zum Zentralvorstand gekommen. M.S.: Du hast, wenn du an den Vorstandssitzungen teilgenommen hast, die Konflikte, die Widersprüche mitbekommen, in der Gewerkschaft und im Gesundheitsbereich. Fing die Unzufriedenheit vor der Wende an, zeichnete sich da etwas ab, war das spürbar oder fing das wie aus heiterem Himmel im Sommer `89 an?
306 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.K.: Das hat nicht `89 angefangen, das war ein Prozess, der schon über einige Jahre ging. Es gab einen Widerspruch zwischen der Realität, wenn man das von der Berichterstattung aus den Betrieben her sieht, wo die Probleme aufgezeigt wurden, und den Berichten, wie sie im Zentralvorstand erarbeitet wurden. Jede BGL musste ihren Bericht schreiben an den Kreisvorstand, der Kreisvorstand an den Bezirk und der an den Zentralvorstand. Die Probleme, die in der Einrichtung bestanden, wurden auch von den BGLen zu Papier gebracht. Sie wurden durch die Kreisleitungen verdichtet. Da fielen dann schon viele kleine Einzelprobleme `raus. Das ging dann zum Bezirk. Jeder Bezirk wollte natürlich auch sagen, welchen Anteil er an der Entwicklung des sozialistischen Gesundheitswesens hatte. Da fielen von den Kreisen schon wieder ein paar Probleme raus, die gelöst hätten werden müssen. Dann kam in der Regel ein Bericht an, der eitel Sonnenschein war. Dieser wurde zusammen gefasst mit den Berichten, die zusätzlich aus den vielen Grundorganisationen eingegangen waren. Es gab dann einen großen Bericht über Stimmungen und Meinungen, die es im Bereich Gesundheits- und Sozialwesen gab, und der ging regelmäßig zum Bundesvorstand [des FDGB]. M.S.: Das war im Grunde ein schönfärberischer Bericht? W.K.: Das war in der Regel ein sehr geschönter Bericht, der vielleicht mal ein Problem ansprach, z.B. was Versorgungsprobleme betraf. Das konnte man ja nun nicht mehr herunterspielen. Die gab es nicht nur im Gesundheitswesen. Es gab viele Probleme. Die Verbandsstoffe, die nicht ausreichend vorhanden waren, OP-Bestecke, die gefehlt haben. Man konnte nicht mehr planmäßig operieren, weil das Material nicht ausgereicht hat. So etwas kam immer mal wieder hoch, als kritische Information. Aber das war wenig und wurde in der Regel als Einzelfall zur Kenntnis genommen. Es wurde daraus nichts abgeleitet, wo man hätte sagen können, also hier muss geholfen, hier muss verändert werden. Wir hatten 15 Bezirke, wenn man jetzt mal die Hauptstadt als Bezirk nimmt. Es gab vom Zentralvorstand Bezirksbeauftragte. Das waren hauptamtliche Mitarbeiter, keine gewählten, sondern hauptamtliche Mitarbeiter des Hauses hier waren verantwortlich. Dieses „verantwortlich“ muss man in Anführungszeichen setzen. Es war in der Regel so, dass dieser hauptamtliche Mitarbeiter in seinen Bezirk fuhr, dort an Sekretariatssitzungen des Bezirkes teilnahm, um darüber zu informieren, was das Sekretariat des Zentralvorstandes beschlossen hatte. Das war dann schon konkreter, weil das in den Bezirksvorständen, außer ein oder zwei Hauptamtlichen, ehrenamtliche Mitarbeiter waren, die aus den Einrichtungen kamen. Die wollten ihre Probleme im Sekretariat loswerden: Dieses Verbandsmaterial und jenes Medikament gab es nicht. Da hat man schon mal vieles mitgenommen. Da gab es Probleme. Die fielen eben bei der Verdichtung unter den Tisch. Es gab auch Probleme in den Einrichtungen, da haben wir uns persönlich drum gekümmert. Da ist einiges immer mal wieder gelungen, aber das war eben Stückwerk. M.S.: Wurde auf den Vorstandssitzungen Klartext geredet oder waren das Rituale, wo gar nicht versucht wurde, Probleme zu diskutieren? W.K.: Sie waren in der Regel, so bis `87 kann man sagen, rund. Sie mussten rund sein, denn eine Zentralvorstandssitzung wurde generalstabsmäßig vorbereitet. Das Sekretariat legte fest. In der Regel gab es drei oder vier Vorstandssitzungen im Jahr. Durch den Zentralvorstand wurde das Thema vorgegeben. Die Vorstandssitzungen waren in der Regel nach Parteitagen, ZK-Plenum oder nach FDGB-Bundesvorstandssitzungen. Das große Thema musste eingeordnet werden. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Gewerkschaft Gesundheitswesen? Je nach Themenstellung war ein Sekretär für die inhaltliche Vorbereitung verantwortlich. Er musste das Referat vorbereiten, das dort zu
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halten war. Es wurde festgelegt, wer zur Diskussion sprechen sollte. Das sah so aus, dass man Vorstandsmitglieder, sie waren ja bekannt, das waren zu der Zeit rund 120 gewählte Zentralvorstandsmitglieder, persönlich angesprochen hat: Sprich du doch mal zu dem und dem Thema und leg` ein paar Probleme aus eurer Einrichtung dar. Noch ein paar Jahre zurück war es so extrem, dass ein Mitarbeiter hier aus dem Haus, sich den Beitrag vorher ansah und Veränderungen veranlasste: Kannst du nicht dies und jenes noch reinbringen? Oder das lass lieber raus. Aber ab 86/87 hieß es, wir reden in die Beiträge nicht mehr rein. Die werden von dem gehalten, den wir angesprochen haben. Diese wurden dann kritischer, weil echt die Probleme dargelegt wurden, die die Kollegen in der Einrichtung, hatten. Ich würde mal so sagen, ich habe eine spontane Wortmeldung kaum erlebt. Das fing `89 an, dass sich viele frei zu Wort meldeten, Probleme darlegten, Vorschläge machten, wo man verändern müsste, weil die Situation immer angespannter wurde. Es gab immer mehr Probleme bei der medizinischen Versorgung. Einige Medikamente waren knapp. Dann kam der Oktober, wo man den Eindruck hatte, es müsste sich was verändern. Aber unter den Gegebenheiten, wie sie waren. Das hieß, man wollte den Grundorganisationen mehr Freiheiten geben. Da gab es eine außerordentliche Vorstandssitzung, wo gefragt wurde, was müssen wir verändern? Wir müssen uns stärker von der Partei lösen. Das war Ende Oktober/Anfang November. M.S.: Ist im Zentralvorstand diskutiert worden, warum die Leute haufenweise abgehauen sind? Besonders im medizinischen Bereich war es doch schon immer so, dass viele Ärzte abgehauen sind? W.K.: Ja, Ärzte, aber eher Krankenschwestern. Das ist schon zur Kenntnis genommen worden. Es gab ja ernsthafte Probleme bei der medizinischen Betreuung in den jeweiligen Einrichtungen. Darüber ist auch von den Bezirksvorständen informiert worden. Wir haben immer mit solchen Problemen zu tun gehabt. Es gab mal dies nicht, es gab mal das nicht. Wir sind damit groß geworden, dass es immer Probleme gab, die beseitigt werden mussten. Manchmal mit Hauruckaktionen oder mit irgendwelchen Sondereinsätzen. Es war nicht so, dass man gesagt hätte, wir legen jetzt unsere Arbeit hin. Das gab es nicht. Bei denen, die wirklich gesagt haben, ich kann und ich will nicht mehr unter solchen Bedingungen arbeiten, die gingen die Wege über Ungarn. Es gab auch viele, natürlich nur die, die fahren durften, die nutzten die Kongresse im Ausland, um zu sagen, für mich ist Schluss, ich gehe nicht mehr zurück. Aber es war nicht die große Linie. Es gab viel Unmut, aber der Unmut war eben nicht so, dass man gesagt hätte, wie gehen auf die Straße. M.S.: Wann begann im Zentralvorstand eine Diskussion, dass grundsätzlich etwas verändert werden müsste in der Gewerkschaft, z.B. im Verhältnis Einzelgewerkschaften zum FDGB? W.K.: Im Zentralvorstand und seinem Sekretariat fing es an nach dem 7. Oktober. Dass die Vorsitzende gesagt hat, also wir müssen verändern, so kann es nicht weitergehen. Die Vorsitzende hatte nun mal das Prä. Wir müssen Konsequenzen aus den Ereignissen ziehen für die Gewerkschaftsarbeit. Wir müssen uns von der Bevormundung durch die Partei trennen. Wir müssen stärker als Interessenvertreter wirksam werden für die Mitglieder an der Basis. Es gab viel Unmut, viel Unzufriedenheit. Dann wurde gesagt, wir müssen selber kämpfen, wir müssen selber sehen, wie wir hier durchkommen, wir haben unseren Beitrag zu leisten für die Stärkung der Republik.
308 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Das sieht man auch bei vielen anderen Dingen. Es gab einen Sozialistischen Wettbewerb in den Einrichtungen, eine, das sagt dir nichts, eine Wanderfahnenbewegung. Es wurden, ich kann mich auf die Zahl nicht festlegen, jährlich Wanderfahnen verliehen für die besten Betriebe im Sozialistischen Wettbewerb. Durch den Ministerrat und das Politbüro wurden die jährlich verliehen. Es gab insgesamt 100 Wanderfahnen, die jährlich verliehen wurden. Das waren die Betriebe, die sich im Wettbewerb besonders hervorgetan hatten, die in bestimmten Dingen Schrittmacherdienste geleistet haben. Das waren für das Gesundheitswesen vier. Da war viel Engagement dahinter. Da hing nicht viel Geld für diese Betriebe dran, das war aber so ein bisschen ein Aushängeschild. Seht her, was wir alles machen mit unserem wenigen Personal. Wir haben, trotz großem Personalmangel, über den Sozialistischen Wettbewerb doch erreicht, dass die Patienten gut betreut wurden. M.S.: War das nicht überwiegend Augenwischerei? W.K.: Da war viel Augenwischerei dabei, weil das Wettbewerbspunkte waren, die zum großen Teil nicht messbar waren. Die, weil ich es aus der Praxis kannte, zum Teil manipulierbar waren, wie z.B. der Auslastungsgrad oder die Verweildauer im Krankenhaus. Wurde Wert gelegt auf einen hohen Bettenauslastungsgrad, habe ich den Patienten nicht am Freitag, sondern erst am Montag entlassen. War die Verweildauer gefragt, na, dann hat man ihn am Freitag entlassen. Es gab natürlich auch Dinge, wo wirklich über den Wettbewerb durch Verbesserung der Arbeitsorganisation versucht wurde, die Mitarbeiter einer Einrichtung zu stimulieren und den Personalmangel zu überbrücken. Es gab schon Dinge, die dem Patienten zugute gekommen sind, wo man dann bestimmte Dinge improvisiert hat, wo man doch etwas erreicht hat. Aber es war eben viel Luft dabei. M.S.: Da hast du die Zeit, als Harry Tisch zurückgetreten ist, nicht direkt miterlebt? W.K.: Das habe ich aus der Ferne, aus der Presse, miterlebt. Da hat sich eigentlich für uns in den Einzelgewerkschaften noch nicht viel verändert. Da gab es eben einen neuen Vorsitzenden, und jetzt gab es eine neue Linie. Man musste sich dieser Linie anpassen und diese hieß, wir werden als Gewerkschaften aktiver. Den ersten echten Streit im Zentralvorstand gab es im Oktober/November, als sich die ersten Verbände bezogen jetzt auf das Gesundheitswesen gegründet haben. Das waren der Ärzteverband, der Hebammenverband und der Virchowverband. Die erste Position, die es von der Vorsitzenden dazu gab, war: Mit diesen Verbänden arbeiten wir nicht zusammen. Dazu gab es in der Tribüne eine Veröffentlichung: Der Standpunkt des Zentralvorstandes: Eine Zusammenarbeit mit den Verbänden gibt es nicht. Professor Mau war seinerzeit der Initiator für den Ärzteverband. Da gab es eine Aussprache des Sekretariats, wo man den Professor Mau zu eingeladen hatte. Er kam mit 35 Ärzten hier an und das ging sehr haarig zu. Man hatte in der Zwischenzeit schon gemerkt, man musste mit diesen Verbänden zusammenarbeiten. Das ging gar nicht anders. Man hatte sich also schon korrigiert, auch in der Tribüne. Das sei nicht so gemeint gewesen. Selbstverständlich müsse man zusammenarbeiten, aber man müsse natürlich auch sehen, das eine sei Gewerkschaftsarbeit, das andere sei Verbandsarbeit. M.S.: Das Fiasko des FDGB, das sich bereits abzeichnete, hat für euch noch keine Rolle gespielt? W.K.: Für die Gewerkschaft Gesundheitswesen nur dahingehend, dass man nicht mehr so zentralistisch arbeiten konnte, das war klar. Darüber war man sich einig, Es wurde
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schon klipp und klar gesagt, dass die Gewerkschaften keine sozialen Institutionen mehr sein dürfen. Man müsse sich zwar um die sozialen Belange der Mitglieder kümmern, aber nicht so, wie das bisher der Fall gewesen ist, um Ferienplätze und Kinderferienlager. Diese Dinge, die kamen jetzt hoch. Es ist auch gesagt worden, wir können nicht immer nur sagen, was die Partei sagt, sondern wir müssen jetzt mal selber eigene Ideen entwickeln. Es gab ja eine Abteilung Gesundheitspolitik des ZK. Da war es eben so, wenn ein Referat vorbereitet wurde, dann ging das erst, bevor es gehalten wurde, in die Abteilung des ZK. Dort wurde revidiert, ein paar Hinweise gegeben, was man eventuell noch mit einarbeiten oder worauf man einen Schwerpunkt legen sollte. Es gab auch einen verantwortlichen Genossen in der ZKAbteilung, so wie wir Beauftragte in den Bezirken waren, so war er Beauftragter hier. Der wurde dann hier nicht mehr gesehen. Also, das war echt vorbei. Gewerkschaften sind eine eigenständige Institution, hieß es jetzt. M.S.: Wie entwickelte sich die Diskussion in eurer Gewerkschaft oder im Zentralvorstand bis zum außerordentlichen FDGB-Kongress? W.K.: Ich sage mal so, eine grundsätzliche Wende hin zu einem Demokratieverständnis wie in der Bundesrepublik, die schwirrte überhaupt nicht im Kopf herum. Überhaupt nicht, sondern es schwirrte eine Vorstellung im Kopf herum, die zum Ausdruck brachte, jawohl, wir müssen verändern, so wie es war geht es nicht mehr weiter. Das ist völlig richtig. Aber so wie es strukturell aufgebaut war, beispielsweise wie die Gewerkschaften organisiert waren, das sollte schon bleiben. Die BGL in der Gesundheitseinrichtung. Aber sie sollte sich auf andere Dinge konzentrieren, die Arbeit nicht mehr auf die sozialen Belange, sondern sich auf eine echte Interessenvertretung richten. Die Fragen des Arbeitsrechts, des Arbeitsschutzes mehr in den Vordergrund rücken. Das waren solche Grundprämissen, auf die man sich jetzt orientiert hat. Es wurde festgelegt, dass eine außerordentliche Delegiertenkonferenz am 29. Januar stattzufinden hat. Sie wurde analog zum FDGB-Kongress vorbereitet. Im Sekretariat wurden Arbeitsgruppen gebildet. Wer arbeitet zu, wer soll zur Diskussion sprechen und, und, und. Es wurde wie gewohnt eine generalstabsmäßige Konzeption vorbereitet, wie das abzulaufen hat, mit Zeitplan und allem. Die Vorsitzende war schon krank, aber sie hat gekämpft, dass sie wieder ihre Funktion übernehmen kann. Sie war ja auch Mitglied des Präsidiums des FDGBBundesvorstands. Sie hat wieder angefangen zu arbeiten und wurde in dieser Phase wieder krank. Das Referat hat sie nicht gemacht, sondern das wurde hier erarbeitet. Die Vorsitzende fühlte sich nicht in der Lage, das Referat zu halten. Es wurde festgelegt, wer es zu halten hat. Wir haben, das geht aus den Dokumenten hervor, nach zehn Minuten abgebrochen. Es gab Wortmeldungen: Weg mit dem Ding. Wir wollen nicht darüber diskutieren, was wir alles gemacht haben, war sowieso alles falsch. Wir wollen wissen, wie geht es weiter. Zusammenarbeit mit der ÖTV, Zusammenarbeit mit der DAG, wo liegen die Prämissen? Da ging es auch darum, die Strukturen der Gewerkschaft Gesundheitswesen zu erhalten. Und mit wem kooperiert man? Es wurde ein neuer Vorstand gewählt. Dr. Treibmann wurde zum Vorsitzenden gewählt. Es war eine chaotische Delegiertenkonferenz. Ich meine, wir haben immer nur aus der Ferne den Bundestag erlebt, wo jeder jeden beschimpft. So etwas gab es in den Normalabläufen von Vorstandssitzungen und Delegiertenkonferenzen nicht. Alles war sauber und ordentlich geplant, wer wann redet etc. Plötzlich redete alles durcheinander. Es war chaotisch. Es war für einen gestandenen, ein bisschen gesellschaftlich engagierten DDR-Bürger chaotisch. Man konnte natürlich in den zwei Tagen nicht alles umkrempeln. Die Versammlung wurde deklariert als Neugründung der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Es sollte eine neue Satzung her, es wurde
310 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview über neue Beiträge diskutiert und das ganze Spektrum. Wie sollte es nun weitergehen in den Gesundheitseinrichtungen? Da stand einer auf und sagte: Also bei uns haben sie das BGL-Büro schon versiegelt. Ich darf nicht mehr in mein Zimmer. Jeder merkte, es verändert sich was, es wusste aber keiner, wohin tendiert es, wie wird es sich entwickeln. Es wusste keiner, wie es weitergeht, weil keiner ein Konzept hatte. Auch nicht im Zentralvorstand. Wir hatten ja nun plötzlich einen neuen Vorsitzenden. Der war vorher Sportmediziner in Dresden und BGL-Vorsitzender in seiner Einrichtung, und der war nun plötzlich von heute auf morgen Vorsitzender der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen. Er nahm hier alle Mitarbeiter zusammen, sagte, also, er wolle sich über keinen ein Urteil erlauben, aber die Abteilungen werden erst mal aufgelöst. Er möchte nach seinen Vorstellungen eine Umstrukturierung der Abteilungen vornehmen. Wir sollten ihm Vorschläge unterbreiten, wer macht was in diesen Abteilungen? Er werde sich das in einem gewissen Zeitraum angucken und dann entscheiden, wer weiter arbeiten könne und wer gehen müsse. Nun spürten auch die Mitarbeiter, es geht anders lang. Dann ging es um die Diskussion, mit wem arbeitet man zusammen, mit der ÖTV oder der DAG? Da gab es schon geteilte Auffassungen auf der Delegiertenkonferenz. Dann kam der Vorstand der DAG hierher und sagte, wir bieten euch eine Mitarbeit an. Wir stellen uns das so vor: Erhalt der Gewerkschaft Gesundheitswesen unter dem Dach der DAG. Wir unterstützen euch, wo wir können, wir helfen euch, geben euch Hinweise, wie die Strukturen aufzubauen sind, was man zu beachten hat, wie man das organisieren muss. Die sind mit Wohnmobilen eine Woche oder vierzehn Tage, der Vorsitzende und einige der hier Tätigen durch die ganze Republik gefahren. Da wurde durch die Bezirksvorsitzenden, die es ja noch gab, in den Grundorganisationen Meetings organisiert, wo deren Auffassung dargelegt wurde. Das fand großen Anklang. Dr. Treibmann war ein Verfechter dieser Richtung, Zusammenarbeit mit der DAG. Dann hat der Vorstand permanent getagt, man kann sagen, das gab es sonst in zwei Jahren nicht. Der neugewählte Vorstand war aber reduziert auf 40 Mitglieder, also von 120 auf 40. Die Mitgliederzahlen sind ja zu dem Zeitpunkt schon abgesunken. Wir hatten im Oktober ´89 rund 650.000 Mitglieder in der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Der FDGB-Kongress, der einen Tag nach unserer Delegiertenkonferenz stattfand, sprach von 510.000 Mitgliedern zu diesem Zeitpunkt. Wir haben in der zweiten außerordentlichen Delegiertenkonferenz am 2. und 3. Mai `90 geschätzt, dass wir noch rund 460.000 Mitglieder haben, was dann weiter abgesunken ist. Und, wie gesagt, es ging ganz stark in Richtung DAG. Die nächste Vorstandssitzung warf dem Vorsitzenden dann vor, dass er sich zu einseitig orientiere. An der Basis werde viel stärker mit der ÖTV zusammengearbeitet. Der Vorsitzende kriegte den Auftrag, sich an Wulf-Mathies zu wenden, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Das ist auch gemacht worden. Ich glaube, am selben Tag oder am Tag danach. Es gab keine Reaktion von Wulf-Mathies. Nächste Vorstandssitzung: Es tue ihnen leid, Wulf-Mathies habe nicht reagiert. Die DAG habe die und die Angebote gemacht. Es kamen aber immer mehr Informationen: Bei uns in der Einrichtung, da sind Mitarbeiter von der ÖTV und die wollen mit uns zusammenarbeiten und die schildern uns, wie wir künftig die Gewerkschaftsarbeit organisieren sollen. Diese Berichte kamen aus allen Bezirken. Ich muss das ehrlich so sagen, ich habe die ÖTV nicht verstanden. Es war wohl ein bisschen die Tendenz, das hat man später nachvollziehen können, mit diesem korrupten Vorstand wollen wir nichts zu tun haben, mit dem SED-hörigen Vorstand wollen wir nichts zu tun haben. Das bezog sich aber auf die Gewerkschaft Gesundheitswesen vor der
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Wende. Es gab jetzt keinen alten Vorstand mehr, es gab keine Vorsitzende Gerboth, es gab keinen Stellvertreter mehr und die Sekretäre, die es zu dieser Zeit gegeben hatte, gab es auch nicht mehr. Es gab einen echt von der Basis gewählten neuen Vorstand. Aber der wurde nach wie vor als SED-hörig angesehen. Ich muss das so sagen, wie es sich das aus meiner Situation darstellte. Und es gab, wie gesagt, die DAG mit ihren Rundfahrten. Das fand großen Anklang. Ich bin ein Verfechter Treibmanns gewesen, weil mir diese Alternative einleuchtete. Die Gewerkschaft Gesundheitswesen erhalten unter diesem Aspekt, wie sie sich dargestellt haben am 29. Januar. Er hat in der Endkonsequenz seine Position vertreten. Er hat sie auch gegenüber dem Vorstand vertreten. Er hat nichts eigenständig entschieden, sondern er hat Konzepte entwickelt. Die hat er dem Vorstand vorgetragen und gesagt, wie wollen wir uns entscheiden, was wollen wir machen? Das war ein Arbeitsstil, der mir zugesagt hat. Der Erhalt der Gewerkschaft Gesundheitswesen hat mir auch zugesagt. Dann kam plötzlich dieser Schwenk zur ÖTV, der mir, ich muss ehrlich sagen, auch heute noch ein bisschen weh tut, weil ich bessere Perspektiven für unsere Gewerkschaft bei der DAG gesehen habe. Ich bin diese neue Linie zur ÖTV mitgegangen. Ich habe auch mit Richard Klatt [Vorsitzender der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen] sehr gut zusammen gearbeitet, der konsequent die ÖTV-Linie vollzogen hat. M.S.: Du sagtest, es gab Versuche, mit Wulf-Mathies Kontakt aufzunehmen. Meinst du, es ist an ihr gescheitert? W.K.: Das will ich nicht unterstellen. Ich weiß nicht, welche Ursachen das hatte. Ich weiß nur, dass nach wie vor eine Hörigkeit zum SED-Regime dem jetzigen Vorstand vorgeworfen wurde. Es war aber nicht so. Im Mittelpunkt der Diskussion stand: Mit wem arbeiten wir künftig zusammen? Machen wir eine eigenständige Gewerkschaft Gesundheitswesen und nehmen Kontakt mit dem DGB auf, mit der Absicht, uns dem DGB als eigenständige Gewerkschaft anzuschließen? Jedenfalls gab es die Meinung, die ÖTV werde sich sicherlich dagegen verwahren, dass es eine eigenständige Gewerkschaft Gesundheitswesen geben werde. Ich kenne die Bemühungen von Treibmann, mit der ÖTV Kontakt aufzunehmen. Das war nicht möglich. Dann tauchte für uns zum ersten Mal der Name Werner Ruhnke auf, und dann gab es die ersten Kontakte mit der ÖTV über Werner Ruhnke. Es gab eine große Diskussion, mit wem arbeiten wir künftig zusammen? Das war die Phase, wo die Anhänger der DAG davon sprachen, dass die ÖTV eine sehr unseriöse Arbeit an den Tag lege. Sie gingen in die Einrichtungen und weichten die Gewerkschaft Gesundheitswesen von der Basis her auf. Die kämpften an der Basis gegen die Gewerkschaft Gesundheitswesen und versuchten, die Mitglieder für die ÖTV zu gewinnen. Man musste das so empfinden. Ich habe das in der Praxis miterlebt. Die Delegiertenkonferenz am 2./3. Mai 1990 hatte dann, wie gesagt, drei Varianten: Eigenständige Gewerkschaft Gesundheitswesen, die ÖTV oder DAG. Nach vielem Für und Wider wurde die Entscheidung gefällt, Kontakt mit der ÖTV aufzunehmen, die DAG käme nicht infrage. Es gab eine Abstimmung, die heiß umstritten war, DAG – ÖTV. Die Mehrheit war für die ÖTV. Nach dieser Entscheidung stand Treibmann auf, bat außer der Reihe um`s Wort und sagte, unter diesen Bedingungen trete er als Vorsitzender zurück. Dr. Klatt, der bis dahin Stellvertreter war, aber, ich muss so sagen, wenig in Erscheinung getreten war, weil er nur ein- oder zweimal in der Woche hier war, wurde zum Vorsitzenden gewählt. Er war zu dieser Zeit noch ärztlicher Direktor der Betriebspoliklinik Kernkraftwerk Greifswald. Das ist auch eine Sache, ich sage mal, die ein Wessi nicht versteht. Dass ein ärztlicher Direktor Mitglied des Zentralvorstandes der Gewerkschaft
312 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Gesundheitswesen sein kann als Arbeitgeber. Aber es war nun mal so. Wir hatten noch ein oder zwei andere ärztliche Direktoren oder Chefärzte als Zentralvorstandsmitglieder. Klatt hat dann sofort massiv und verstärkt Kontakt aufgenommen zur ÖTV. Es kam am 30. Mai zu dieser gemeinsamen Beratung in Stuttgart mit allen Zentralvorständen der Gewerkschaften, die man der ÖTV zurechnete. Also Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr. Wo es zu dieser Vereinbarung kam, dass den Zentralvorständen empfohlen wurde, nochmals eine Delegiertenkonferenz abzuhalten mit der Tendenz, dass bis zum 31. Oktober die Gewerkschaften aufgelöst werden und ab 1. September der ÖTV beitreten. Richard Klatt tendierte von Anfang an mehr zur ÖTV und hat das ganz massiv betrieben. Die Kontakte zur DAG wurden abgebrochen. Es wurde nur noch mit der ÖTV auf zentraler Ebene zusammengearbeitet. An der Basis sah das wieder anders aus. Es gab viele Bereiche, die schon massiv mit der DAG zusammengearbeitet haben. Es gibt auch eine ganze Reihe von ehemaligen Mitgliedern der Gewerkschaft Gesundheitswesen, die der DAG beigetreten sind. Das ist euch sicherlich bekannt. Wobei, wenn man die Zahlen ansieht, der größere Teil der ÖTV beigetreten ist. Das war ein Prozess, der ganz konkret und gezielt auf den Zusammenschluss mit der ÖTV orientiert hat. Es gab den Beschluss, am 22. September die auflösende Konferenz zu machen, die dann auch stattgefunden hat. Wir haben im Mai, weil auch Vermögensfragen eine Rolle spielten, eine eigene GmbH gegründet. Diese ganzen Vermögensfragen spielten beim FDGB eine große Rolle. Im Prinzip war es so, dass die Einzelgewerkschaften kein Vermögen hatten. Das wurde alles vom FDGB verwaltet. Nach Gründung dieser Gewerkschaft haben wir ab 1. April dann eine eigene Beitragskassierung aufgebaut. Sie begann, aber das war noch eine Zwitterstellung. Am 29. Januar wurde eine eigenständige Gewerkschaft Gesundheitswesen beschlossen. Ab sofort sollten die Beiträge an die Gewerkschaft Gesundheitswesen direkt gehen. Nun war ja die Beitragskassierung hervorragend organisiert. Es wurde abgeführt an die BGL, die BGL überwies an den FDGB-Kreisvorstand und dann wurde insgesamt vereinnahmt. Das war gar nicht so einfach, diesen Prozess auseinanderzupflücken. Wo das sofort klappte, wurde nicht mehr von der BGL an den Kreisvorstand abgeführt, sondern direkt an die Gewerkschaft überwiesen. Diese hatte ein eigenes Konto gegründet. Das ging ab 1. Februar los. Aber das Geld lief noch zweispurig, ein Teil zum FDGB und ein Teil auf das Konto der Gewerkschaft Gesundheitswesen über Beitragsmarken. Die gab es ja. Erst ab 31. März 1990 wurde der Beitragsmarkenverkauf eingestellt, absolut eingestellt. Ab diesem Zeitpunkt gingen sämtliche Beiträge auf das Konto der Gewerkschaft Gesundheitswesen. Wenn man in Relation setzt, was an Beiträgen eingegangen ist zu dem, was vorher war, dann gab es im September `90, das ist aber jetzt eine Zahl, die kann ich nicht belegen, vielleicht noch 120.000 bis 150.000 Mitglieder in der Gewerkschaft Gesundheitswesen. So weit muss sich das zu dem Zeitpunkt heruntergewirtschaftet haben. Wobei man sagen muss, dass sehr viele einfach nicht mehr bezahlt haben, weil soviel Frust dahinter stand: Jetzt haben wir zwar eine eigene Gewerkschaft und jetzt zahlen wir unseren Beitrag auf das Konto der Gewerkschaft Gesundheitswesen, aber wir wissen immer noch nicht, was ist denn nun mit dem Vermögen der Gewerkschaft. Bevor das nicht offengelegt ist, zahlen wir keine müde Mark. Es gab viele, die gesagt haben, wir zahlen auf unser BGL-Konto, da bleibt das liegen. Keine müde Mark geht da runter. Als wir uns als Gewerkschaft Gesundheitswesen stärker etabliert hatten, da gab es zwar auch die Frage, wo geht das Geld hin, aber es gab mehr BGLen, die ihr Geld, nicht alles, 50% der Beiträge, so war das ja üblich, auf das zentrale Beitragskonto überwiesen haben.
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Ich war ab Februar für die Finanzen verantwortlich und kann jede Mark nachweisen, die seither eingegangen ist und wofür sie ausgegeben wurde. Mit Auflösung der Gewerkschaft Gesundheitswesen am 22. September sind wir als GmbH in Erscheinung getreten und haben dann das Vermögen übernommen. Aus jedem Bezirk und Kreis. Wir hatten über 300 Kreisvorstände. Das Vermögen belief sich auf die Möbel, die in den Zimmern standen. Beim Kreisvorstand des FDGB hatten wir ein oder zwei Zimmer, je nach Größe des Kreisvorstandes. Das war in der Regel nicht viel. Da stand ein Tisch, der wurde 1952 gekauft für 50 Mark, der stand 1990 mit 50 Mark in den Konten, in den Belegen, weil es keine Abschreibung gegeben hat. So resultierte dieses Riesenvermögen. Diese Möbel wurden verkauft. Aus den 1,2 Millionen sind dann 100.000 Mark geworden. Um mal die Größenordnung deutlich machen: Vieles ist vernichtet und verschenkt worden, z.B. an den Behindertenverband oder an den Arbeitslosenverband. Wir haben auch eine Schule abbekommen, wo sich später herausstellte, dass das Eigentum nur in Rechtsträgerschaft des FDGB war. Sie war tatsächlich Eigentum des Staates. M.S.: Wie habt ihr in dieser ganzen Zeit der Wende versucht, Meinungsbildung zu betreiben? W.K.: Wir hatten die erste Zeit arge Schwierigkeiten, weil unsere Organisationsstruktur an der Strecke BGL-Vorsitzende desolat war. Wir hatten relativ wenig hauptamtliche Mitarbeiter. Wir hatten ehrenamtlich gewählte, und das waren schwarze Husaren. Das ist so ein gewerkschaftlicher Sprachjargon. Das waren, wieder aus meinem Demokratieverständnis DDR, wirklich ordentlich gewählte BGL-Vorsitzende in den Einrichtungen, die nicht von der Gewerkschaft bezahlt wurden, sondern die auf einer Planstelle der Einrichtung saßen und Gewerkschaftsarbeit machten, also auch von den Einrichtungen bezahlt wurden. Von den Mitgliedern her hieß es jetzt, der BGL-Vorsitzende muss weg. Plötzlich hieß es, die alten Seilschaften und der BGL-Vorsitzende, der hat ja mehr die staatlichen Interessen vertreten als unsere Interessen und der muss weg. Plötzlich war dieses Glied zwischen Kreisvorstand und BGL-Vorsitzenden zerbrochen. Der Kreisvorstand, der sich seine BGL-Vorsitzenden zusammenholt, diese informiert und der BGL-Vorsitzende, der sich seine Vertrauensleute holt aus den Gruppen und bums, jeder wusste, sofern er an der Gewerkschaftsversammlung teilnahm, Bescheid, was von oben alles gekommen ist. Dieser BGL-Vorsitzende war weg und diese Informationskette war an der wichtigsten Stelle unterbrochen. Es galt ein Informationssystem aufzubauen. Wir hatten eine Drucktechnik hier, Ormig, ich weiß nicht, ob du das noch kennst, und haben Informationsblätter abgezogen. Aber nun ziehe mal für rund 465.000 ab. Das ging gar nicht. Wenn wir hochkamen, schafften wir 10 oder 20.000 Informationsblätter. M.S.: Wie ist deine subjektive Einschätzung der Wende. Wie hast du den Zusammenbruch des DDR-Sozialismus erlebt? W.K.: Ich kann nicht sagen, dass ich das mit Befriedigung gesehen habe, wie sich das entwickelte. Man kann nicht vierzig Jahre, wo man der Meinung war, so ist es richtig, einfach wegstreichen. Ich muss sagen, ich bin hier groß geworden, ich bin so erzogen worden, ich habe das als richtig empfunden, was da läuft, wobei man viele Details nicht gekannt hat, was sich jetzt im Nachhinein darstellt. Hinterher ist man immer schlauer, wie man so schön sagt. Aber ich habe das alles doch mit einer gewissen Wehmut empfunden, weil ich der Auffassung bin und das bin ich auch heute noch, dass vieles, was jetzt kaputt gemacht wird, erhaltenswert gewesen wäre. Das betrifft nicht alles, aber das betrifft doch einiges, wo ich mir sage, das war für den Bürger besser als das, was jetzt auf
314 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ihn zukommt. Solche Dinge wie Arbeitslosigkeit, die gab es nicht. Dass man das unter marktwirtschaftlichen Aspekten heutzutage anders sieht, braucht man nicht zu diskutieren. Ich sage mal so, sicherlich sieht man heute auch schon vieles anders, aber es gab doch viele Dinge, wo der Bürger sozial besser abgesichert war. Man muss natürlich auch den Schlenker machen und muss sagen, ohne viel selbst dazu beitragen zu müssen. Das ist nicht von mir. Man war von der Geburt bis zum Rentenalter abgesichert. Man brauchte sich als Fritzchen Normalverbraucher keine Sorgen zu machen, dass man hier irgendwo mal auf der Straße sitzen würde, mit einem Hut und hier Geige spielend sein Geld verdient. Das gab es nicht. Sicherlich gab es auch welche, die ihr eigenes Leben leben wollten und nicht so konnten, aber diese Dinge, so wie sie jetzt hochkommen mit der Stasi, und was da hinter der Bühne alles geschah. Das hat man, als normaler Bürger nicht gewusst. Man hat bei bestimmten Dingen opponiert. Man hat gesagt, dies und jenes gefällt mir nicht und man hat das öffentlich kundgetan. Man hat in Kollegenkreisen gefragt, warum muss das so sein? Da gab es viele solcher Knackpunkte. Wenn wir z.B. an den Wartburg denken. Warum musste der nun plötzlich 30.000 Mark kosten? Warum gab es keine Bananen? Na ja, wir können uns keine leisten, weil wir keine Valuta haben. Es gab für viele Dinge für Fritzchen Normalverbraucher objektive Begründungen. Wenn ich keine Devisen habe, unsere Mark ist international nicht viel wert, also können wir uns das nicht leisten, dann müssen wir eben mit dem Apfel auskommen. Meine Kinder sind mit dem Apfel groß geworden. Es ist ja nicht so, dass wir verhungert sind. Ich meine, so dünn sehe ich auch nicht aus. Das ist zu DDR-Zeiten gewachsen. Das sind Dinge, wo ich sagen kann, Herrgott, so schlecht ist es mir nicht gegangen und so schlecht ist es vielen nicht gegangen. Wofür habe ich gelebt, dass das nun innerhalb von einem Jahr in die Brüche geht? Wenn ich hier ausscheide, wenn ich diese GmbH auflöse, dann kann ich mich auf dem Arbeitsamt melden, mit 50. Was mache ich denn noch, was bin ich noch? Ich hätte 15 Jahre noch Arbeit gehabt, wenn es weiter gegangen wäre. Nicht unter diesen Bedingungen, ich möchte da nicht falsch verstanden werden. Aber mein Leben wäre weiter gegangen und ich hätte meine Arbeit gehabt und mich bemüht, sie so gut zu machen, wie ich sie gemacht habe. Wenn ich sie nicht gut gemacht hätte, wäre ich sicherlich nicht mehr hier, dann hätte man mich schon rausgeschmissen. Das sind Dinge, mit denen man sich heutzutage beschäftigen muss, die früher keine Rolle gespielt haben. Ich habe gelebt, meine Kinder sind groß geworden, haben selber schon Kinder. Für die wird es sicherlich einfacher werden. Die finden Arbeit. Zum Teil sind sie zurzeit arbeitslos. Das sieht in ein paar Jahren schon wieder anders aus. Aber für mich persönlich kann ich sagen, und das geht sicherlich vielen mit ein paar Abstrichen auch so, wie das angedacht war im Januar `90, jawohl, unter den Strukturen, die existierten, verändern, aber die DDR, die ist schon erhaltenswert. Sie birgt vieles in sich, was in 40 Jahren gewachsen ist. Wo es der überwiegenden Zahl von Menschen hier auf dem Territorium so schlecht nicht gegangen ist. Mein Gott, warum hat man uns nicht reisen lassen? Das sind Fragen, die haben so massiv nicht angestanden. Mit dem Geld, was ich verdient habe, habe ich, ohne am Bettelstab zu gehen, meine Kinder groß gekriegt. Ich konnte ihnen auch mal eine Mark zustecken. Ich habe auch meinen Urlaub in Ungarn gemacht, ich war in der Tschechei und habe an der Ostsee Urlaub gemacht. Zu sagen, ich möchte, was weiß ich, nach England fahren oder ich möchte nach Holland fahren, das hätte ich mir finanziell gar nicht leisten können. Soviel habe ich nicht verdient. Ich habe, als ich zur Kur gefahren bin, 1.900 Mark brutto verdient und 1.400 Mark ausgezahlt bekommen. Meine Frau hatte ein bisschen weniger, davon konnten wir leben. Und heute? Meine Frau sitzt zu Hause, die ist seit einem Vier-
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teljahr arbeitslos, und ich gehe auf die Arbeitslosigkeit zu. Jetzt kann ich reisen, aber ich kann nicht reisen. Das ist die Kehrseite der Medaille. Na ja, wir werden sehen, was wird. M.S.: Hat dich das nicht aufgeregt, wenn du täglich hier in dem Haus warst, die Mauer vor der Nase, und wenn einer rüber wollte wurde er über den Haufen geschossen? W.K.: Ich muss sagen, es hat mich nicht aufgeregt. Vor `61, zu der Zeit habe ich 241 Mark netto ausgezahlt bekommen, das war mein Arbeitsverdienst. Man muss natürlich die Preisrelation sehen. Aber ich konnte mir drüben nichts kaufen. Ich hätte mir Bananen holen können, aber ich konnte sie mir nicht leisten. Mich hat das gar nicht so sehr interessiert, weil ich es mir sowieso nicht leisten konnte. Aber der Wessi kam und kaufte mir mein Brot und meinen Zucker und meine Butter, die für ihn billig waren, noch weg. Es gab auch viele, die im Osten gelebt haben, ihre Miete hier bezahlt haben und drüben gearbeitet haben. Ich bin höchstens mal rüber gefahren, als ich gelernt habe, `56. Wenn die Schule zu Ende war, da haben wir uns mal einen Western angeguckt. Ansonsten war für mich West-Berlin uninteressant. Was sollte ich da? Leisten konnte ich mir nichts. Das war mein persönliches Empfinden. Ob da nun eine Mauer ist oder keine – für mich hat sich dadurch nicht viel geändert. Diese Frage Schießbefehl, gab es nun einen oder gab es keinen? Da streiten sich heute andere Leute. Dass man nicht Hurra geschrieen hat, dass man das nicht richtig fand, das würde ich sagen. Aber das gehörte dazu. Der hat Gesetze verletzt und Gesetze darf man nicht verletzen und wenn er die verletzt, dann muss er eben mit der entsprechenden Strafe rechnen. Ich will das nicht bagatellisieren, so will ich das nicht verstanden wissen, aber das gehört nun mal zu einer Rechtsordnung dazu. Dass man gesagt hätte, um Gottes Willen, wie kann man da einen erschießen, das nicht. M.S.: Als sie den Biermann rausgeschmissen haben, nur weil der sich, gut, zugegeben, sehr harsch gegen die Parteioberen geäußert hat, wie hast du reagiert? W.K.: Biermann, muss ich ehrlich sagen, vielleicht nicht Biermann, vorher noch Havemann, der war für mich einer, der auch gegen Gesetze verstieß, also konnte man mit ihm nicht zusammenarbeiten. Die Biermann-Geschichte habe ich auch durch die Medien, durch RIAS und SFB erfahren. Wie gesagt, ich interpretiere es aus meiner Sicht, wie ich es damals gesehen habe, nicht heute. Ich dachte, wenn er öffentlich singen will, da muss er sich eben ein bisschen anpassen und wenn er nicht so will, bitte schön, dann kann er eben nicht mehr öffentlich auftreten. Wenn er gegen den Staat, für den wir alle stehen, ist, dann geht es eben nicht. Da gibt es doch auch in der BRD welche, die haben Berufsverbot, weil sie nicht der Meinung sind wie der Staat. Wenn der nicht so will, dann wird er eben ausgewiesen. Da darf einer nicht lehren, weil er Mitglied der DKP war, da darf er noch nicht mal Briefe austeilen. Und hier singt einer Lieder, die dem Staat nicht passen, dann kriegt er Berufsverbot. Was gibt es nun da echt für einen Unterschied? Den soll mir mal einer erklären. Das sind doch Vergleiche, die man angestellt hat. So habe ich das gesehen und anders habe ich es auch nicht gesagt bekommen. So ist das. M.S.: Und Gorbatschow? W.K.: Ja, Gorbatschow hat große Denkanstöße gegeben. Es haben sich viele gefragt, warum kann man nicht? Das erste Buch, was von Gorbatschow herauskam, das war ja ein Renner bei uns, der gehörte zur Bück-dich-Ware, wie es in der DDR hieß. Ich war durch glückliche Umstände einer, der von der ersten Auflage ein Buch mitbekam. Es hat mich fasziniert.
316 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Bist du aus der Partei ausgetreten? W.K.: Ja, das muss so im April `90 gewesen sein. Sie ist jetzt ein Sammelbecken der Linken geworden. Viele Dinge sind jetzt beinhaltet, wo ich sage, da kann ich mich nicht mehr mit identifizieren. M.S.: Warum? W.K.: Ich habe Ideale gehabt, die sind zerschlagen worden, und wie man heute sieht, bei vielen Dingen sicherlich zu Recht. Nicht in allen Dingen. Aber das, was jetzt läuft, ist nicht mehr das, wo ich mal gesagt habe, jawohl, dafür lohnt es sich.
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Veronika Mantel Kreisgeschäftsstellenleiterin der MSK/GÖD in Plauen Interview vom 29. Januar 1993 V.M.: Von Beruf bin ich Diplom-Ingenieurin für Verfahrenstechnologie. Ich habe danach sogar einen Abschluss als Patentingenieur gemacht, alles im Fernstudium. Seit Anfang der 70er Jahre habe ich mich gewerkschaftlich engagiert, d.h. eine gewerkschaftliche Funktion übernommen und zwar als Mitglied in der BGL. Zuerst habe ich die ganze Seniorenarbeit gemacht. Ich bin 1986 als ehrenamtliche BGL-Vorsitzende in meinem damaligen Betrieb, im VEB Kreisbaubetrieb Plauen, gewählt worden. Im Zusammenhang mit dieser Funktion war ich Mitglied im Kreisvorstand der IG Bau-Holz und habe mich erst in dieser Funktion mit gewerkschaftlicher Arbeit intensiver auseinandergesetzt. Als ehrenamtliche BGL-Vorsitzende habe ich festgestellt, dass die Schere zwischen Theorie und Praxis in der Gewerkschaftsarbeit immer mehr auseinanderklaffte. M.S.: Kannst du ein konkretes Beispiel nennen? V.M.: Die Satzung des FDGB hat eindeutig ausgesagt, dass, laut Geschäftsordnung der BGL, ich als Vorsitzende Protokolle anfertigen kann, die dann für die BGL-Arbeit verwendet werden. Niemand sonst hat Zugang zu diesen Dokumenten, außer wenn die BGL über den Betriebsdirektor oder andere Funktionäre des Betriebes oder der FDGBKreisvorstand Anforderungen oder Fragen hatten. Sie bekamen dann Auszüge aus dem Protokoll, wie es üblich ist. Am Anfang, als ich diese Funktion übernommen habe, wurde ich von unserem damaligen Parteisekretär in unserem Betrieb aufgefordert, ihm die Protokolle der BGL zur Verfügung zu stellen. Ich habe mich geweigert, weil ich davon ausgegangen bin, dass es Grundsätze der Gewerkschaftsarbeit gibt, die fixiert waren in der damaligen Satzung des FDGB, und ich keine Veranlassung gesehen habe, ihm meine Protokolle zur Verfügung zu stellen. Das hat zu einer sehr harten Auseinandersetzung zwischen dem Parteisekretär und mir geführt, weil ich auch Genossin war und eigentlich von der Situation her verpflichtet gewesen wäre, ich sage es mal so, meinem Parteiauftrag zu folgen. Ich hatte mich aber grundsätzlich geweigert, diese Protokolle zur Verfügung zu stellen. Das hat zur Konfrontation zwischen dem Betriebsdirektor, dem Parteisekretär und mir als Vorsitzende der BGL geführt. M.S.: Warum hast du dich geweigert? V.M.: Weil ich einfach ideelle Vorstellungen von Gewerkschaftsarbeit hatte. M.S.: Als Parteigenossin könnte man vom Selbstverständnis der Partei her doch schließen, dass Parteiauftrag vor Gewerkschaftsloyalität gegangen ist? V.M.: Ja, ich muss sagen, ich war zwar Genossin, bin auch aus Überzeugung in jungen Jahren in diese Partei eingetreten, aber ich habe in meiner beruflichen Entwicklung als Abteilungsleiter Investition bei uns im Betrieb halt schon gemerkt, dass ein Unterschied zu machen ist zwischen der Interessenvertretung, die die Kollegen von mir erwarteten und den staatlichen Planungsaufträgen. Hier gab es immer Widersprüche. Zwischen der theoretischen Planung der Volkswirtschaft und der Praxis, die wir bei uns im Baubetrieb erfahren haben, sind derartige Widersprüche und Differenzen aufgetreten, dass ich gesagt habe, ich möchte versuchen, Veränderungen herbei zu führen. Dies schien mir aber in der Partei unmöglich. Von dieser Erkenntnis habe ich mich leiten lassen und gedacht, auf der
318 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview gewerkschaftlichen Strecke könnte ich vielleicht versuchen, dort mehr unterzubringen. Ich habe mich mehr auf gewerkschaftliche Arbeit als auf Parteiarbeit verlegt. M.S.: Wie ging der Konflikt aus zwischen der Partei und dir? V.M.: Es ist ein Beschluss bei zwei Stimmenthaltungen der BGL herbeigeführt worden, dass wir keine Protokolle dem Parteisekretär zur Verfügung stellen. Ich muss sagen, ich war damals neu im Betrieb, ich hatte `85 angefangen, und es war natürlich von den Leuten her schon so, die haben alle darauf gewartet, was passiert, wenn ich mich gegen diese Maßgabe der Partei im Betrieb stelle. Das hat mir wahrscheinlich doch Achtung eingebracht. Der Parteisekretär hatte sich dann zwar bei meinem Kreisvorsitzenden beschwert, hat die Sache auch in der SED-Kreisleitung und in der Parteiversammlung angesprochen, aber ich habe einfach nicht mehr darauf reagiert. Er hatte ja von der Satzung her keine Handhabe, mir in die Arbeit hineinzureden. Ich muss vielleicht zum Verständnis sagen, ich hatte das Glück, dass ich ehrenamtliche BGL-Vorsitzende war. Ich bin gewählt worden von meinen Leuten im Betrieb. Ich bin also nicht, wie hauptamtliche BGL-Vorsitzende, über die Parteischule oder Gewerkschaftsschule in diese Funktion gekommen. Sie konnten, wenn man es so will, keinen Grund der Entlassung finden, weil ich hatte ja meine beruflichen Aufgaben zu jeder Zeit erfüllt. Sie hatten keine Handhabe, mich als BGL-Vorsitzende abzusetzen. Das ist vielleicht doch der Unterschied. Viele Widerstände kamen von den ehrenamtlichen BGLVorsitzenden und deswegen ist es vom Verständnis her zu unterscheiden, wie jemand BGL-Arbeit zu dieser Zeit gemacht hat. M.S.: Wie erlebtest du die Anfänge der Wende? V.M.: Für mich hat dieser Prozess, dass sich irgendetwas ändern sollte, mit Gorbatschow angefangen. Mich hat diese ganze Sache sehr aufgewühlt. Ich habe angefangen, intensiver unsere ganzen Sachen zu bedenken und mich mehr engagiert. Ausschlaggebend dafür war dann: Ich hatte eine Schulung mitgemacht. Das gab es beim FDGB auch für ehrenamtliche Funktionäre. Die Schule war in Zwickau, über die IG Wismut wurden politische Schulungen, gewerkschaftspolitische Schulungen gemacht. Zu diesem Zeitpunkt habe ich aus dem Theoretischen, also aus dem, was uns vermittelt worden ist von Karl Marx, Engels, Lenin usw., vor allem als wir über das Kapital gesprochen haben, erkannt, dass hier in der sozialistischen Wirtschaft einiges nicht stimmen kann. Ich habe immer mehr in Zweifel bekommen und habe auch Fragen gestellt, wo dann nicht darauf eingegangen wurde. Mir wurde aber zum Abschluss dieses Lehrgangs bestätigt, dass ich eine derjenigen war, die erkannt hat, dass Theorie und Praxis auseinanderlaufen. Ich habe diesen Lektoren einige unangenehme Fragen gestellt. Das war eine Jahresschulung gewesen. Sie fing im Januar 1989 an. Ich habe sie dann im Oktober abgebrochen. Im Nachhinein, aus welchen Gründen auch immer, wurde mir das schriftliche Zertifikat gegeben, dass ich eben eine derjenigen gewesen wäre, die vorab schon erkannt hatten, dass es einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gäbe. Da musste ich grinsen. Ich glaube, das Zertifikat liegt bei meinen Personalakten beim Hauptvorstand in Stuttgart. Als ich mich beworben hatte, habe ich das spaßeshalber mit eingereicht. M.S.: Warum hast du den Lehrgang abgebrochen? V.M.: Wir haben das gefordert, die Mehrheit der Teilnehmerinnen. Es waren Frauen, es war ein externer Frauenlehrgang. Knappe 60% der Teilnehmer haben gefordert, den
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Lehrgang abzubrechen. Wir haben gesagt, wir tragen die Sache nicht mehr weiter. Jede von uns hat ihre Erlebnisse geschildert. Es war nicht nur so, dass es in Plauen so war, es war auch – glaube ich – in Zwickau und in Karl-Marx-Stadt so. Ganz genau kann ich es dir nicht mehr sagen, in welchen Städten es überall war. Die Teilnehmer, die wirklich reell gedacht haben, die haben sich gesagt: wir können uns doch nicht hierher setzen und irgendetwas Theoretisches lernen, während uns die Praxis überrollt. Da haben wir gesagt: wir wollen das absolut nicht mehr. Dann bin ich in den Betrieb zurückgegangen. Dort waren sie schon so weit, dass sie gesagt haben: BGL nein, Betriebsrat ja. M.S.: Was heißt, „in den Betrieb zurückgegangen“? V.M.: Ich war freigestellt. Ich war praktisch von meinen betrieblichen Aufgaben freigestellt und bin täglich zum Lehrgang nach Zwickau gefahren. M.S.: Da warst du von Januar bis Oktober nicht mehr im Betrieb? V.M.: Ich bin schon in den Betrieb rein, aber nicht so intensiv wie sonst. Vielleicht haben meine Erlebnisse, die ich in Ungarn hatte zu dieser Zeit, mich fester geprägt. Ich hatte am Jahresanfang `89 erstens eine Reise nach Moskau gemacht. In Moskau habe ich im Januar erlebt, dass sich in der Sowjetunion grundlegend etwas geändert hat. Es war für mich unwahrscheinlich, dass in Moskau auf den Straßen, da gibt es eine besondere Straße, sie heißt Rabot, Straße der Arbeit, dass dort praktisch so eine Art Diskussionsrunden entstanden sind, mit Rednern, die sich einfach hingestellt haben. Es war eine absolute Redefreiheit. Weder eine Milizkontrolle war dort noch irgendeine andere. Einer, der seine Meinung kundtun wollte, ich habe das selber erlebt, hat sich auf eine Holzkiste gestellt und dort gesprochen. Die Leute, die zuhören wollten, sind stehen geblieben und haben sich das angehört. Das war für die Sowjetunion einmalig. Diese Perestroika-Bewegung hat damals schon seine Spuren hinterlassen in der Sowjetunion. Das war für mich ein entscheidendes Erlebnis. Bei uns waren Gorbatschows Schriften verboten. Ich habe mir Reden von Michail Gorbatschow rüber geschmuggelt, die ins Deutsche übersetzt waren. Die habe ich noch zu Hause, auch die verbotene Nummer des Sputnik. Diese ganze Sache – Stalin und deutsche Kommunisten, ich habe sie im Handgepäck geschmuggelt. Wenn ich es in den Koffer gepackt hätte, wäre es weg gewesen, unsere Koffer sind gefilzt worden, aber auf deutscher Seite. Dann hatte ich eine Reise beantragt nach Budapest. Da war zwei Tage, bevor die Reise los ging, noch nicht klar, ob ich oder der Rest der Reisegruppe überhaupt die Genehmigung bekommen, weil das nämlich gerade die letzten 14 Tage im August waren und da war diese ganze Sache mit der Grenzöffnung über Ungarn. Deshalb war es absolut nicht sicher, ob wir überhaupt die Visa kriegen. Aber es hat doch geklappt. Wir sind rüber geflogen und – nur mal zur Belustigung – unsere Reiseleiterin war verpflichtet, früh und abends in Berlin anzurufen und zu melden, wer von unserer Reisegruppe sich abgesetzt hat oder nicht. Es hat sich gleich am ersten Tag ein junges Ehepaar abgesetzt. Bei uns in den Publikationen haben sie uns eingeredet, dass alle, die über Ungarn abhauen, Leute sind, die wir in der DDR absolut nicht mehr gebrauchen können, Asylanten oder irgend welche subversiven Elemente, wie immer im Fernsehen gesagt wurde. Ich bin dann mal in diese Lager auf der Marieninsel gegangen in Budapest und habe gedacht: Du musst dich doch mal mit solchen Leuten unterhalten und wissen, aus welchen Gründen die wegwollen? Ich habe festgestellt, dass es eigentlich normale Leute waren aus allen Schichten. Ob das Intellektuelle waren, Doktoren oder Professoren oder irgendwas. Irgendwo hat mir dieses Budapest ein wahnsinniges Gefühl der Freiheit gegeben. Wenn ich mir vorgestellt habe, ich hätte mit meinem Personalausweis mich auf einen Dampfer der
320 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Donau setzen und nach Wien schiffen können. Also das war ungeheuer. Da habe ich das erste Mal empfunden, was es eigentlich heißt, frei zu entscheiden, wohin du fahren und was du machen willst. M.S.: Hast du überlegt, ob du zurückfährst oder nicht? V.M.: Ja. Ich wäre nicht zurückgefahren, aber ich hatte meinen Sohn mit. Der war damals 17 und hatte einen Lehrvertrag ab September. Der hat mir klipp und klar gesagt, er weigert sich. Er möchte nach Hause, er hat seinen Lehrvertrag, hat seine Umgebung, hat seine Schule. Ich bin wirklich für meinen Sohn wieder zurückgeflogen. In der Schule ist mir dann gesagt worden, sie hätten nicht damit gerechnet, dass ich wiederkomme. Die Schulleitung an der damaligen FDGB-Bezirksschule hat damit gerechnet, dass ich aus diesem Ungarn-Urlaub nicht wieder komme. Vielleicht sagt das auch etwas darüber, wie ich mich an der Schule verhalten habe. Ich galt wahrscheinlich als konspirativ. Das hat mich geprägt. Zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch Mitglied der Partei. Aber dann im Oktober, als ich erlebt habe, wie der 7. Oktober bei uns in Plauen gelaufen ist, als Kampfgruppen aufmarschiert sind und versucht haben, gegen die Demonstranten vorzugehen – es war knapp davor, dass es bei uns zu handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen wäre – da habe ich mich entschlossen, mich von dieser Partei zu lösen und habe meine Mitgliedschaft aufgekündigt. Die Demonstration ist wahrscheinlich von diesen Initiativgruppen, die in der Kirche gearbeitet haben, ausgegangen. Aber bei uns in Plauen war das immer so gewesen, dass auf dem Marktplatz zum 7. Oktober eine Art Volksfest stattgefunden hat. Wie es genau war, kann ich dir jetzt auch nicht sagen. Mit einem Mal gab es eine Demonstration, die dazu aufgefordert hat, Perestroika-Demokratie einzuführen, wie in der Sowjetunion. Ich war mit unten in der Stadtmitte und habe mich angeschlossen. M.S.: Hast du deine Funktion als BGL-Vorsitzende wieder wahrgenommen, nachdem du vom Lehrgang zurückgekehrt warst? V.M.: Ja, schon, aber es war natürlich im Betrieb eine große Aufregung vorhanden. Die Leute waren mit einem Mal derartig motiviert, dass es zu Entscheidungen kam. Wir haben als BGL gesagt, wir stellen uns zur Verfügung, wir treten auch zurück, wenn die Kollegen denken, wir sollten einen Betriebsrat wählen. Ich habe eine Betriebsversammlung einberufen und da ging es hoch her. Da wurde gefordert, den Parteisekretär aus dem Betrieb hinauszuschmeißen und den Betriebsdirektor abzusetzen. Das ging dann praktisch Schlag auf Schlag. M.S.: Wie lief die Absetzung des Betriebsdirektors? V.M.: Es war eine Forderung aus der Belegschaft, die haben gefordert, dass der Betriebsdirektor geht. Der ist dann freiwillig aus dem Betrieb gegangen. M.S.: Warum war der Betriebsdirektor so verhasst? V.M.: Weil der nur das gemacht hat, was der Parteisekretär gewollt hat. Die letzten Jahre waren bei uns im Betrieb eindeutig so gewesen, dass man sagen kann, der eigentliche Betriebsdirektor ist der Parteisekretär gewesen. M.S.: Habt ihr den auch rausgeschmissen? V.M.: Der Parteisekretär hat sich erst mal aus der Schusslinie gezogen. Er war erst mal ein halbes Jahr krank. Ich war ja dann auch nicht mehr im Betrieb, aber ich habe noch heute gute Verbindungen zu meinem Betrieb. Wie sie mir erzählt haben, war er bis März
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1990 krank gewesen wegen einer Nierensache. Er ist dann von der neuen Betriebsleitung entlassen worden. Er hat seine Papiere gekriegt und es hat gar nicht mehr lange gedauert und er hat sein eigenes Geschäft aufgemacht. Ein Schreibwarengeschäft. Ich gehe darin aber keinen Bleistift kaufen und auch Kollegen aus unserem Betrieb nicht. Bei dem kauft niemand ein. M.S.: Wie ging es mit der Gewerkschaft weiter? V.M.: Es gab eine Auseinandersetzung in der BGL, auch mit den Kollegen. Man war ja nicht bei allen Kollegen beliebt, das ist ja ganz klar. Es wurde an mich heran getragen durch die Leute vom Kreisvorstand des FDGB, dass die Stelle des Vorsitzenden der MSK frei sei. Da hat sich für mich die Gelegenheit aufgetan, mich zur Wahl zu stellen, um die Funktion zu übernehmen. M.S.: War der Kreisvorsitzende der MSK schon abgesetzt? V.M.: Der wurde schon im Sommer `89 abgesetzt, weil irgendwelche finanziellen Sachen passiert sind. Mich haben Kollegen angesprochen, die gesagt haben: Du bist doch immer engagiert und jetzt wäre doch die Gelegenheit, dass wir versuchen können, was zu verändern. Würdest du das nicht machen? Da habe ich natürlich erst überlegt, ob ich das mache. Es ist ja eine Gefahr, wenn du dich in so einer Zeit als Hauptamtlicher reinsetzt. Am 1. Dezember habe ich angefangen. M.S.: Du bist nicht gewählt sondern eingesetzt worden? V.M.: Doch, doch, das habe ich verlangt. M.S.: Wer hat dich gewählt? V.M.: Der Kreisvorstand der Gewerkschaft MSK. Das waren ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen, die BGL-Vorsitzenden aus den Bereichen. Das waren bei uns die Staatsorgane, die Kommunalwirtschaft, die Dienstleistungsbetriebe, also Stadtwirtschaft, Müllabfuhr, Reinigungsbetriebe, Textilreinigungsbetriebe, dann die gesamten Gebäudewirtschaftsbetriebe, was Wohnungswirtschaft war, was AWG [Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft] ist. Die existiert jetzt teilweise noch bei uns in den Bundesländern. Dann Dienstleistungseinrichtungen wie Schneidereien, Änderungsschneidereien, Reinigung habe ich schon gesagt, Rundfunk, Fernsehen, Reparaturen, also alles, was mit Dienstleistungsbereichen zu tun hatte. Die Zivilbeschäftigten der NVA haben auch schon dazugehört damals zu dieser Gewerkschaft, die ganzen Staatsorgane, Kreise und Rathaus. M.S.: Haben die Mitglieder des Kreisvorstandes ihr Mandat noch aus der Zeit vor der Wende gehabt, oder waren die neu gewählt? V.M.: Nein, das waren noch Kandidaten von vor der Wende. Wobei man jetzt wirklich hat unterscheiden müssen. Zu dieser Zeit waren auch die ehrenamtlichen Kollegen schon aufgewühlt. Es gab welche, die ganz knallhart Fragen gestellt haben. Ich habe auch gesagt, ich lasse mich nicht als Hauptamtliche wählen, sondern ich bestehe darauf, kommissarisch eingesetzt zu werden. Ich habe mich dann als kommissarische Geschäftsstellenleiterin des MSK-Kreises wählen lassen. M.S.: Damit warst du gleichzeitig im Kreisvorstand des FDGB? V.M.: Ja. Man war dann natürlich als Geschäftsstellenleiterin mit im Kreisvorstand des FDGB.
322 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Wie ging es weiter? V.M.: Ich war dann zusammen mit meinem ehemaligen Vorsitzenden der IG Bau, Holz, Erden, der jetzt auch Geschäftsstellenleiter der IG Bausteine, Erden in Plauen ist. Wir haben nun versucht, die Ideale umzusetzen, was wir unter demokratischer Gewerkschaftsarbeit verstehen. M.S.: Was war eure Vorstellung von demokratischer Gewerkschaftsarbeit? V.M.: Zumindest losgelöst von der Partei, von der Linie der Partei, das war für uns das Wichtigste. Noch zu DDR-Zeiten hatten wir gerade im Bauwesen sehr viele Schwierigkeiten mit Material und mit sonstigen Angelegenheiten, so dass wir eigentlich schon immer sehr provokativ und aufsässig waren. Unser Vorsitzender ist sehr oft zum Kreisvorsitzenden des FDGB gerufen worden und ist aufgefordert worden, dass er seine Leute im Griff haben solle. Wir haben uns aber in unsere Arbeit nicht hineinreden lassen. Wir haben schon versucht dort Lücken zu finden, wo Lücken zu finden waren und haben dann versucht, das durchzusetzen, was wir wollten. Das war in der Industriegewerkschaft BauHolz mit unserem Vorsitzenden auch dadurch möglich, dass wir vom Bau viele ehrenamtliche Kollegen als BGL-Vorsitzende hatten, im Gegensatz zu größeren Einrichtungen wie bei der IG Metall usw., wo meistens Hauptamtliche drin saßen, die von der Partei von der Schule herunter eingesetzt worden sind. M.S.: War im FDGB noch die alte Mannschaft? V.M.: Im FDGB war damals noch die alte Mannschaft. Es waren auch noch die alten Vorsitzenden da und es war schon aufrührerisch, als ich im Januar gesagt habe, wir nehmen jetzt mal Verbindung mit Gewerkschaften aus den Alt-Bundesländern auf. Mit Beschluss – es war damals ein Beschluss vom Kreisvorstand MSK. Ich hatte die Idee geäußert und gefragt, wie sie sich dazu stellen, wenn wir jetzt einen Erfahrungsaustausch aufnähmen. Das ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich hatte mir über die IG Bau-Holz die Adresse gesucht und habe zur ÖTV nach Hof geschrieben. Weil ich mich mit den Gewerkschaften aus den alten Bundesländern beschäftigt hatte, war mir klar, dass das MSK eine ähnliche Struktur wie die ÖTV hatte. Das ist die Gewerkschaft, wo ich sagen kann, dass sie vom Aufgabengebiet her gleich lag und wo man einen Erfahrungsaustausch aufbauen konnte. Diesen Beschluss – mit dem Rückhalt meines Kreisvorstandes – habe ich dann umgesetzt. Ich musste immer noch vorsichtig sein, ich musste Beschlüsse haben, weil ich konnte ja nicht losgelöst von den Funktionären das einfach alleine machen, sonst wäre ich vom Fenster weg gewesen. M.S.: Hast du den FDGB-Leuten gesagt, dass du Kontakt zur ÖTV aufnimmst? V.M.: Nein, das habe ich nicht gesagt. Das war ja ein Beschluss vom Kreisvorstand unserer Gewerkschaft. Ich habe das Verständnis jetzt auch noch, wenn ich in meiner Kreisverwaltung Arbeit mache, die auf dem Territorium der Kreisverwaltung liegt, dann brauche ich die Information nach oben nicht weiter geben. Schon gleich gar nicht den Funktionären vom FDGB. Wir haben die ÖTV in Hof angeschrieben und Verbindung mit Dieter Bauer als Geschäftsführer und mit Eckhard Stade als damaligen Kreisvorsitzenden aufgenommen. Die haben sofort geantwortet – ich glaube sogar angerufen, weil ich meine Telefonnummer angegeben hatte. Ich saß noch im FDGB-Haus. Sie haben uns eingeladen und ich habe noch drei BGL-Vorsitzende mitgenommen. Wir sind rüber gefahren und haben uns mit denen getroffen. Anwesend waren damals der Kreisvorstand der ÖTV von Hof
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einschließlich Geschäftsführung. Wir haben gesagt, wir wären sehr daran interessiert, überhaupt mal etwas über die Gewerkschaften in der Bundesrepublik zu erfahren, über den Aufbau, über die demokratische Struktur, Tarifpolitik usw. Unser Kreisvorstand befürworte das. Wir haben dann anschließend sofort eine Mitgliederversammlung einberufen und dazu die BGL-Vorsitzenden eingeladen. Wenn wir in einen Betrieb rein sind, haben wir über die BGL Einladungen verteilen lassen. Jeder, der sich interessiert hat, konnte kommen. Diese Veranstaltungen waren immer wahnsinnig besucht. Solche Mitgliederzahlen wünschten wir uns jetzt, aber die werden wir wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht mehr erreichen. Es war immer volles Haus. So 60 bis 70 Mann aus dem Betrieb sind meistens gekommen. Da haben wir angefangen, auch unsere Strukturen zu ändern. Vieles wurde durch diese Schulungen und den Erfahrungsaustausch mit Hof unterstützt. M.S.: Wann liefen die Schulungen? V.M.: Sonnabends, es ist außerhalb der Arbeitszeit gelaufen. Sie sind hergekommen. Ich hatte Räume gemietet. Der Dieter hatte einen Monitor und alles mitgebracht, was man gebraucht hat, Pinwände usw. Wir haben dann auch selbst Schulung gemacht, erst einmal dargestellt, was Betriebsräte sind und was sie für Mitbestimmungsrechte haben. Da ist eben in den meisten unserer Betriebe und Einrichtungen der Wunsch nach Betriebsräten entstanden. Dass dort, wo die BGL nicht mehr gewünscht war, die Leute auf die Absetzung der BGL und der Wahl von Betriebsräten gedrängt haben. M.S.: Gab es darüber Debatten im FDGB-Vorstand, weil der FDGB ja keine Betriebsräte wählen lassen wollte? V.M.: Na sicher. Die waren dagegen und ich bin, weil ich Auseinandersetzungen mit dem FDGB hatte, aus deren Haus ausgezogen. Ich habe mir ein neues Quartier gesucht. M.S.: Erzähl` mal genauer von diesen Auseinandersetzungen. V.M.: Es war so, warte mal, las mich mal überlegen. Wir hatten eine Großveranstaltung gemacht, wo wir auch die Presse eingeladen hatten und zwar einen Vertreter der Tribüne, der Gewerkschaftszeitung der DDR. Der hatte dann einen Artikel über unseren Erfahrungsaustausch in die Tribüne gesetzt. Mit diesem Artikel habe ich allein dadurch Aufsehen erregt, dass das Treffen überhaupt stattgefunden hat. Ich hatte dann harte Auseinandersetzungen mit dem Vorsitzenden der IG Metall, der noch straff auf der alten Linie gelegen hat, mit dem Kreisvorsitzenden und mit dem Sekretär Agitation/Propaganda oder wie das damals hieß. Das waren Auseinandersetzungen auf der Sitzung der Vorsitzenden der Gewerkschaften. Wenn die Kollegen aus den alten Bundesländern gekommen sind, da hat sich natürlich keiner herangetraut, das muss man ganz offen sagen. Aber es haben zum Beispiel der Vorsitzende der IG Transport, der von der Metall, die vom Gesundheitswesen, die haben absolut nicht verstanden, warum ich mit der ÖTV arbeite und die ganze Sache, so wie sie gewesen ist, in die Brüche geht. Da war eine Demonstration gewesen. Auf dieser haben wir ein Flugblatt verteilt, in dem stand: FDGB und MSK haben abgewirtschaftet. Mit diesem Flugblatt kam der endgültige Bruch mit den anderen IGs. Außer mit der IG Textil und der IG Bau-Holz. Wir haben uns abgelöst. Die anderen Industriegewerkschaften mit ihren Leuten an der Spitze, haben sich an den alten Strukturen noch festgeklammert. M.S.: Wie kam es zum Bruch mit der MSK?
324 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview V.M.: Es sollte versucht werden, den Rest der gewählten Körperschaften, die wir hatten, die Kreisorganisationen, aufzulösen. Wahrscheinlich, um alte Machtstrukturen zu erhalten und generell Einfluss auf die ganze Sache zu nehmen. Ich habe gesagt, ich werde meinen Kreisvorstand nicht abwählen oder außer Kraft setzen, denn ich bin nach wie vor von diesem Kreisvorstand als kommissarischer Geschäftsführer gewählt. Ich habe das Vertrauen von diesen Leuten und werde mich hüten, mir diese demokratische Basis wegnehmen zu lassen. Das war Ende März, also ich glaube am 30./31. Es war diese Zentralvorstandssitzung in Bernau, wo wir eigentlich hingefahren sind mit der Erwartung, es würde sich jetzt in den Strukturen der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, wie sie sich schon genannt hat, irgend etwas ändern. Es sollten, glaube ich, Satzungsänderungen gemacht werden. Da war von der HBV jemand da und der Werner Ruhnke für die ÖTV. Und wir hatten gedacht: Jetzt geht es los. In der ÖD tut sich was. Jetzt werden die sich vielleicht von den alten Strukturen des FDGB lösen, weil HBV und ÖTV da waren und wir arbeiten mit denen zusammen. Auf dieser Zentralvorstandssitzung sind jedoch nur die alten Phrasen wiederholt worden. Deshalb war die Stimmung bei uns in den Einrichtungen so gewesen, dass die Leute gesagt haben: Wenn mit dieser Sitzung der Zentralvorstand nicht eine andere Linie einschlägt, dann haben wir den Kanal voll. Ich hatte mit denen ausgemacht, dass ich nach dem Wochenende in Bernau, den Montag in die BGL-Sitzung komme und ihnen mitteile, welche Veränderungen sich in der Gewerkschaftsarbeit tun. Das waren mehrere Betriebe, die mich im Laufe des Montags angerufen haben: Also was ist da rausgekommen? Und ich musste ihnen ja sagen: Da ist nichts rausgekommen. Die haben gesagt: Jetzt haben wir den Kanal voll, jetzt ist endgültig Schluss. Die meisten meiner Betriebe hatten schon gar keine Beiträge mehr abgeführt. Wo Betriebsräte gewählt waren, haben sie ja schon Sparkonten angelegt. Diese Betriebe haben schon ab Januar keine Beiträge mehr abgeführt. Es waren Wahnsinnsgelder da, wo die Betriebe gesagt haben, das können wir dann dieser ÖTV in der DDR geben. Das ist natürlich nie passiert. Ich habe gesagt: Egal, was ihr mit den Geldern macht, das ist euer Geld, ob ihr das der Belegschaft wieder zurück zahlt oder was. Die ÖTV hat kein Geld übernommen. Ich hatte dann die BGL-Vorsitzenden, wo ich wusste, dass dort das Hinterland vorhanden ist, zu denen habe ich gesagt: Wie wäre es, wenn wir jetzt versuchen eine Initiative zu starten, uns loszulösen? Daraufhin ist diese Initiative zur Gründung der ÖTV in der DDR entstanden. Wir haben gesagt, wir wollen jetzt `raus aus diesem FDGB und der MSK. Es waren die BGLVorsitzenden, die aktiv waren, die vom Textilreinigungskombinat, von der Stadtwirtschaft, auch von einzelnen Dienstleistungseinrichtungen, die haben gesagt, wir tragen das nimmer mit, wir wollen am liebsten die ÖTV in der DDR gründen. Aus dieser Situation heraus habe ich Eckhard [Stade] angerufen und gesagt: Mensch, Eckhard, die Leute, die stehen mir alle auf dem Kopf, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, irgendwas muss passieren, die wollen hier alle geschlossen austreten. Ich kann die nicht mehr zurück halten. Da hatten wir die Idee, ein Flugblatt, eine Aktion zu machen und zu versuchen, uns loszulösen. Eckhard [Stade] und der Dieter [Bauer] haben die Sache mitorganisiert. Ohne Hof hätte ich das nicht geschafft. Nun muss ich noch sagen, es war vorher eine Sitzung von diesen Beauftragten der ÖTV im BBZ gewesen. Der Dieter [Bauer) und der Eckhard [Stade] haben gesagt: Wir fahren zu diesem Beratertreffen und wir nehmen dich mit. Du kannst ja dort mal Bericht erstatten, was sich vor Ort eigentlich abspielt. Das war, glaube ich, sogar noch vor dieser Zentralvorstandssitzung. Dann bin ich mit hochgefahren und der Dieter und der Eckhard
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haben den Antrag gestellt, dass ich Rederecht erhalten sollte. Das wurde aber vom Willi Mück abgebogen, so dass ich zwei Tage lang umsonst hier herumgesessen habe. M.S.: Im BBZ? V.M.: Nein, ich bin dann halt nach Berlin reingefahren, habe mir den Ku`damm angeguckt und habe versucht, abends mit einigen Kollegen zu reden. Noch heute, wenn ich jemanden treffe, der damals dabei war, sagt: Mensch, wir haben damals auch nicht verstanden, warum du nicht reden durftest. Ich muss dir sagen, ich hatte trotzdem mit dem Willi [Mück] ein ganz gutes Verhältnis. Damals war ich absolut sauer, weil ich kein Verständnis dafür gehabt habe, aber wenn ich mit Abstand darüber nachdenke, auch über die Gründungsveranstaltung, muss ich sagen, die ÖTV-Leute waren halt zu diesem Zeitpunkt noch unsicher, sie waren voller Misstrauen. Es gab auch Bemühungen um Joachim Wegrad, dem Vorsitzenden der GÖD, weil auch die Gewerkschaft Öffentliche Dienste damals versucht hat, mit der ÖTV eine Verbindung einzugehen. M.S.: Du wolltest erzählen, wie die Idee entstanden ist, in Plauen eine ÖTV zu gründen. V.M.: Das war der Wunsch unserer Kollegen, eine eigene Gewerkschaft zu haben. Ich hätte es auch so vorgetragen, dass die Basis für eine Gründung in Plauen gegeben ist. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt praktisch noch nichts von anderen Initiativgruppen gehört. Also am gleichen Tag, wo wir unsere Initiativgruppe gegründet hatten, weiß ich, über den Jürgen Angelbeck, dass in Halle auch so eine Veranstaltung gelaufen ist. Die Feuerwehr hatte wohl schon eher so eine Gruppe. Es gab eine in Berlin und noch eine in Magdeburg. Wir hatten aber alle unabhängig voneinander diese Initiativen in die Welt gerufen. M.S.: Kam die Idee, eine ÖTV in der DDR zu gründen, eher von den West-Leuten, mit denen ihr Kontakt hattet, oder war das eher eure eigene Vorstellung? V.M.: Es lässt sich heute gar nicht mehr so fest auseinanderhalten. Dadurch, dass unsere Leute guten Kontakt zu den Kollegen aus dem Westen hatten, und die Euphorie auch da war, irgendwas Neues zu machen, entstand Druck von unten. Da war diese Zentralvorstandssitzung der ausschlaggebende Punkt. Wobei versucht wurde, mich als Einzelkämpfer hinzustellen und zu sagen, dass es meine Idee war, nach dem Motto. Die liegt quer, unsere Leute an der Basis wollen das gar nicht. Es wurde versucht von Dr. Wegrad und seinem Gefolge im Textilreinigungskombinat und über die BGL des Rathauses, die waren ja fast alle noch parteitreu, die Gegner einer ÖTV-Gründung zu formieren. Die haben sich am 6. April früh oben im FDGB-Haus getroffen – die Gründungsveranstaltung sollte am Nachmittag sein – und haben dort eine Sondersitzung gemacht. Sie haben auch die IG-Vorsitzenden, die sich von mir auf den Schlips getreten gefühlt haben, mit einbezogen, also den Vorsitzenden von der Transport und die Vorsitzende vom Gesundheitswesen, um zu sagen: Das ist ja bloß eine Spinnerei von der alleine und wir wollen mal sehen, wie wir sie kaputt machen. Sie sind im Laufe des Vormittages in die Betriebe `rein und haben versucht herauszufinden, wer meine Initiative unterstützt. Wir waren damals schon ausgezogen und saßen in der Bergstraße. Wir sind von dem Betriebsratsvorsitzenden Heinz Hensel angerufen worden, der auch im Gründungskomitee mit drin war. Er sagte uns: Jetzt ist hier die ganze Berliner Truppe einschließlich Bezirksleitung angereist und die versuchen hier Unsicherheit reinzubringen und nachzufragen, ob du uns das eingeredet hast oder ob das von uns kommt. Es wurde auch noch über einen Artikel in der Zeitung versucht, mich zu diskriminieren und fertig zu machen. M.S.: Habt ihr Stuttgart von eurem Vorgehen informiert?
326 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview V.M.: Nein, es war nicht mit Stuttgart abgesprochen. Am 1. April ist das Flugblatt ausgeteilt worden, in dem wir zur Gründungsveranstaltung am 6. April eingeladen haben. Da hatten wir einen Speisesaal vom Krankenhaus bekommen, weil dort die BGL ihr Einverständnis gegeben hat, dass wir so eine Versammlung machen konnten. Jetzt siehst du auf der Einladung, dass ich nur mit meinem Namen unterschrieben habe, ohne meine Funktion, weil ich davon ausgegangen bin, ich könnte als Geschäftsstellenleiterin nicht unterschreiben, sondern nur in eigener Person handeln. Wenn ich als Geschäftsstellenleiterin unterschrieben hätte, hätte ich mit meinen Leuten Schwierigkeiten gekriegt. Zu Recht auch. Weil mir jeder hätte nachweisen können, dass es eine Initiative von mir gewesen wäre. Aber dadurch, dass ich nur mit meinem Namen unterschrieben habe, ohne meine Funktionen, war das aus meiner Überzeugung heraus. M.S.: Man kann ja keine ÖTV in der DDR nur an einem Ort gründen. Habt ihr das mal diskutiert? V.M.: Nein, das war nicht in der Diskussion. Ich muss ehrlich sagen, es war eine euphorische Stimmung. Auch die Beschäftigten in den Betrieben, die das wollten, waren dafür. Wir haben dann eine Satzung erarbeitet, wir haben Tag und Nacht in Vorbereitung dieser Sache gearbeitet. Ich bin in die Betriebe, wie das auch auf dem Video war, reingegangen und habe versucht, wenn Fragen waren, zu erläutern, was wir machen wollten. Wir haben die rechtlichen Folgen dieser Sache nicht diskutiert und auch nicht überdacht. Wir haben nur gedacht, jetzt müsste was passieren und wir machen das so und wir sagen: Wir sind nicht die ÖTV der Bundesrepublik, sondern die ÖTV in der DDR. Wir wollten uns dadurch vom FDGB lösen, wollten unsere eigenen Gewerkschaftsstrukturen aufbauen. Wir waren so euphorisch, dass wir gesagt haben, wenn irgendeiner losschlägt, dann werden schon die anderen nachfolgen. Weil ich ja auch bei dieser Zentralvorstandssitzung der MSK gemerkt habe, dass auch andere Kreisgeschäftsstellenleiter oder Bezirksleiter gesagt haben, es müsste sich was ändern. M.S.: Haben die Stuttgarter Wind von euren Absichten bekommen? V.M.: Ja, die haben Wind davon bekommen. Und zwar hatten wir eine Presseinformation vorbereitet für die Presse im Westen, die dpa usw., und es war eine Sperrfrist drin bis 17.00 Uhr. Wenn diese Veranstaltung so gelaufen wäre, dann hätten wir grünes Licht gegeben. M.S.: Wer wusste, wie das geht? V.M.: Der Dieter [Bauer], glaube ich. Jedenfalls lief das so, und Stuttgart hat von der Sache Wind gekriegt, weil dpa dort angerufen und nachgefragt hat, was da läuft. Da kam kurzfristig der Peter Schmidt eingeflogen. Der kam einen Tag vorher. Da gab es eine große Diskussion. Wir haben ihm unsere Ideen vorgetragen, unsere Satzung vorgelegt und bis früh um drei diskutiert. Peter hat dann Rücksprache mit Stuttgart gehalten. Ich sage es mal so, er war fast überzeugt, war dann aber, als er zurückkam, umgeschwenkt. Er hat mir gesagt, so wie wir uns das gedacht hätten, könnten wir es nicht machen, das liefe nicht. Stuttgart sei nicht bereit, Unterstützung für eine Gewerkschaft ÖTV in der DDR zu leisten. Ich war natürlich am Boden zerstört, weil ich von dieser Idee total überzeugt war. Das wäre halt das gewesen, wo ich gesagt hätte, jetzt können wir unsere Mitglieder herumreißen und können im FDGB insgesamt noch was ändern. Ich war an dem Tag so sauer, so enttäuscht, dass ich gesagt habe, ich halte diese Veranstaltung nicht ab. Ich hätte mit meinen Leuten anders gesprochen, und ich empfände das jetzt als Verrat, wenn ich
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das nicht so durchzöge, wie ich das gewollt hätte. Ich habe gesagt: Dann könnt ihr euch selber vorne hinstellen und könnt selber reden. Ich habe zum Peter gesagt: Du kannst die Versammlung halten und ich möchte damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe geheult, bin raus und war fix und alle. Ich muss sagen, der Dieter Bauer hat noch mal mit mir gesprochen und gesagt. Überleg` dir das, es ist ja bloß ein anderer Weg. Gemeint hat er den Kompromiss, nur eine Initiativgruppe zur Gründung der ÖTV in der DDR und nicht diese selbst zu gründen. Das hatte Peter [Schmidt] vorgeschlagen. Er hat auch gesagt: Da unterstützen wir euch, weil es auch schon noch andere Initiativgruppen in der DDR gibt. Da haben wir, wenn du so willst, das erste Mal überhaupt gehört, dass es noch andere Initiativgruppen gibt. Das habe ich ja vorhin schon mal gesagt, wenn ich mir das jetzt im Abstand überlege, ist es im Nachhinein die beste Lösung gewesen. M.S.: Das ist aber nicht offen diskutiert worden. V.M.: Nein, das ist nicht offen diskutiert worden. Das hätte ich gar nicht durchgestanden zu dem Zeitpunkt. Vielleicht noch mal zu der Sache überhaupt. Als ich den Entschluss gefasst habe, mit dem Eckhard [Stade], mit dem Dieter [Bauer] und mit den BGLVorsitzenden, die mitgearbeitet haben, diese Sache durchzuziehen, habe ich mir schon überlegt, was jetzt werden wird. Ich habe damit gerechnet, dass ich jetzt fristlos entlassen werde aus der Gewerkschaft Öffentliche Dienste. Auch die Kollegen von der Stadtwirtschaft damals hatten mich gefragt: Was wird dann mit dir? Und ich habe gesagt, ich werde dann wahrscheinlich arbeitslos werden. Ich war aber so von dieser Sache so überzeugt, vielleicht sehr idealistisch eingestellt, dass ich gesagt habe: Das nehme ich auf mich. Irgendwo geht es dann irgendwie schon weiter. M.S.. Wie entwickelte sich diese Initiative weiter? V.M.: Über die Veranstaltung wurde in den Zeitungen berichtet und ich hatte mir von Peter [Schmidt] die Adressen der anderen Initiativgruppe geben lassen. Die habe ich angeschrieben. Ich habe gesagt, wir sind auch ein Gründungskomitee, wir sind für die Gründung der Gewerkschaft ÖTV in der DDR und wir würden gerne mit ihnen zusammen arbeiten. Wir wüssten gerne, wie weit sie sind. Die einzigen, die darauf reagiert haben, war die Gruppe von der Feuerwehr. Die hat gesagt, sie hätten schon eine Initiativgruppe seit Februar, sie arbeiteten schon mit dem Hauptvorstand der ÖTV zusammen und so richtig sähen sie keinen Sinn darin, mit uns zusammen zu arbeiten. Die andere Truppe war in Halle mit dem Jürgen Angelbeck. Der hat uns sogar in Plauen besucht. Wobei wir uns am Anfang seine Ideen haben erklären lassen. M.S.: Kam es kam zu einer Zusammenarbeit zwischen euch und den Hallensern? V.M.: Nein, nicht so richtig. Auch nicht mit Magdeburg. Ich habe noch Informationen bekommen, dass Anfang Juni eine Delegiertenkonferenz der Gewerkschaft Öffentliche Dienste die ÖTV in der DDR ausrufen wollte. Also, die Gewerkschaft Öffentliche Dienste wollte sich den Namen ÖTV in der DDR geben. Da habe ich den Eckhard [Stade] und den Dieter [Bauer] informiert. Daraufhin ist ruckzuck diese Veranstaltung in Magdeburg entstanden. Weil wir gesagt haben, denen müssen wir den Wind aus den Segeln nehmen. M.S.: Du warst weiterhin hauptamtlicher Funktionär der ÖD? V.M.: Ja, ich habe den Arbeitsvertrag behalten, aber – ich sage das jetzt mal so – es hat mir keiner mehr in meine Arbeit hineingeredet. Es sind auch keine von unseren Leuten zu dieser Delegiertenkonferenz im Juni hingefahren. Wir haben ja gesagt, wir wollen uns mit dieser Gewerkschaft ÖD nicht mehr identifizieren.
328 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Hast du dir überlegt, dass wenn du die GÖD verlässt und der ÖTV beitrittst deinen Job verlieren würdest? V.M.: Das war eine sehr kuriose Situation. Ich hatte eine Doppelmitgliedschaft. M.S.: Hauptamtlich bei der ÖD und ehrenamtlich bei der ÖTV? V.M.: Ich hatte in der Tat so eine blöde Doppelstellung. Der Wegrad oder auch dann die Sinn hatten sich ja nicht getraut, mich zu entlassen. Bezahlt worden bin ich von der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, an die wir eigentlich gar kein Geld mehr abführten. Ich habe natürlich meinen Beitrag in die ÖTV in der DDR eingezahlt. M.S.: Hast du nach dem Gründungskongress in Magdeburg Mitglieder geworben? Wie war der Zustrom zu dieser ÖTV? V.M.: Wahnsinnig, wahnsinnig. Als wir die ÖTV in der DDR hatten, ist unsere Mitgliederzahl bis auf 12.000 hochgeschnellt. M.S.: Wie lief die Aufnahme? Wurden einzelne Aufnahmeanträge abgegeben oder habt ihr einfach betriebsweise umgeschrieben? V.M.: Umgeschrieben nicht. Der Eckhard [Stade] hat mit mir zusammen gearbeitet. Wir haben zu zweit die Versammlungen geleitet, auch Schulungen gemacht für Betriebsräte und Personalräte, Vertrauensleutearbeit. Wir sind in die Betriebe reingegangen und haben dann schon gesagt: Wer will, kann übertreten. Aber die Aufnahmescheine sind uns auch schubweise zugeschickt worden. In manchen Einrichtungen waren andere Gewerkschaften schneller als wir. Die DAG, Beamtenbund, die GdS. Gerade die Gewerkschaft der Sozialversicherungen hat im oberen Vogtland ziemlich schnell zugeschlagen. M.S.: Am 3. Oktober war dann das Ende der GÖD. Was ist mit dir passiert? V.M.: Ich habe einen Auflösungsvertrag von der ÖD gekriegt. Ich hatte mich aber schon vorher informiert und mich dann in Stuttgart beworben als gewerkschaftlicher Sachbearbeiter. Ich habe dann zum 1. November 1990 die Anstellung bei der ÖTV bekommen, in der Nebenstelle Zeulenroda. Ich habe dort eigenständig angefangen und habe die ÖTV dort mitaufgebaut.
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Willi Mück Stellvertr. Vorsitzender der ÖTV und u.a. zuständig für Organisation, Personal und Vermögen Interview vom 17. Oktober 1992 M.S.: Wann bist du zum ersten Mal in deiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender der ÖTV mit der Wende in der DDR konfrontiert worden? W.M.: Mit der Entwicklung in der DDR befasst haben wir uns zum ersten Mal am 10. November 1989. Es gab eine normale Sekretärsbesprechung im Vorstandssekretariat 6. Wir haben uns mit den zu erledigenden Aufgaben des VS 6 beschäftigt. An diesem Tage fand abends in Berlin jene Veranstaltung mit Willy Brandt, Helmut Kohl und HansDietrich Genscher vor dem Schöneberger Rathaus statt. Anschließend haben wir im kleinen Kreis von Sekretären überlegt, welche Folgen die Maueröffnung für die ÖTV haben könnte. Niemand ist dabei auf die Idee gekommen, dass das sehr schnell für uns etwas bedeuten könnte. Wir waren alle sehr von diesem Ereignis bewegt. Doch niemand von uns hatte sich in den letzten Jahren mit der Frage der DDR auseinandergesetzt. Das war kein Thema. Niemand ist rübergefahren, niemand hat sich darum gekümmert, und niemand wusste, wie es um die damalige DDR bestellt war. Das hat dazu geführt, dass wir an diesem Abend, in gewisser Weise alle gemeinsam, ein schlechtes Gewissen hatten und überrascht waren. M.S.: Wann wurde zum ersten Mal im gHV über die neue Lage politisch diskutiert? W.M.: Natürlich haben wir darüber sofort – nachdem der Kongress der IÖD beendet war – diskutiert und vor allem, wohin das führen könnte, Wir waren damals der Auffassung, dass es einen eigenen Weg in der DDR geben wird, einen sozialistischen Weg, aber auf einer anderen Ebene, demokratisch strukturiert, und dass man diesen eigenständigen Weg unterstützen sollte. Es war ein ständiges Thema im gHV. Aber die Einschätzung, die wir zunächst gemeinsam hatten, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen, weil wir den großen Drang der DDR-Bürger nach Vereinigung unterschätzten. Das konnten wir nicht vorhersehen, vielleicht aber wollten wir dies aus unserer eigenen Geschichte heraus auch nicht vorhersehen. Das muss man betonen, dass dieser Weg von uns damals ausgeschlossen worden ist. M.S.: Wann hast du gemerkt, dass die ÖTV aufgefordert ist, zu handeln? W.M.: Das Vorstandssekretariat 6 musste überlegen, welche organisationspolitischen Konsequenzen sich ergeben könnten. In diesem Prozess hat mich der 18. Dezember 1989 stark beeindruckt. Ich bin gemeinsam mit zwei Kollegen aus dem VS 6 und einem Kollegen aus der DGB-Bundesvorstandsverwaltung am Abend in Ost-Berlin gewesen, und wir haben uns dort ein bisschen herumgetrieben. Wir haben uns angeguckt, wie die Lage ist, mit Menschen geredet und einige Leute getroffen, mit denen man ein offenes Gespräch führen konnte. Schließlich waren wir in der Letzten Instanz, der Kneipe in dem Gerichtsviertel. Das war alles sehr beeindruckend, und mir ist eigentlich an diesem Abend klargeworden, dass man nichts dem Zufall überlassen darf, sondern dass man sich in das Geschehen einmischen muss. Anschließend sind wir zum SPD-Parteitag gegangen, der gerade in Berlin stattfand. Dort ist Willy Brandts Geburtstag in dieser Nacht gefeiert worden.
330 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Warst du damals mehr auf der Brandt-Linie oder mehr auf der Lafontaine-Linie? W.M.: Ich war eindeutig auf der Brandt-Linie und zwar nicht erst seit diesem 18. Dezember, sondern von Anfang an. M.S.: Der 18. Dezember war relativ spät? Da war Harry Tisch z.B. schon aus dem FDGB ausgeschlossen worden. Die ganze Korruptionsgeschichte im FDGB ist vorher gelaufen und da hat sich abgezeichnet, dass sich auf gewerkschaftlicher Ebene in der DDR etwas tun wird. Sind da nicht bereits die ersten Leute rübergekommen und haben bei euch angefragt, ob ihr helfen könnt? W.M.: Ja, das hat unmittelbar nach dem 9. November begonnen. Die grenznahen Kreisverwaltungen haben sofort ihre Unterstützung angeboten. Die Bezirksverwaltung Berlin ist ganz besonders gefordert worden. Umgekehrt sind die Kolleginnen und Kollegen aus den grenznahen Gebieten der DDR in unsere Kreisverwaltungen gekommen, um sich Informationen und Unterstützung zu holen, sind in unsere Betriebe gegangen und haben dort Betriebsräte aufgefordert, dass sie mit ihnen zusammenarbeiten, dass sie ihnen helfen. Wir haben das massiv unterstützt. Das war nicht unumstritten. Aber wir haben das massiv unterstützt, und ich erinnere daran, dass Monika [Wulf-Mathies] und ich Mitte Dezember 1989 nochmals an die Kreisverwaltungen und Bezirke geschrieben haben und sie aufforderten, massive Unterstützung zu gewähren, zu helfen, wo immer es geht. Unsererseits haben wir zugesagt, diese Kreisverwaltungen wiederum zu unterstützen, denn die Arbeitskapazitäten, die dort abgezogen worden sind, mussten irgendwie kompensiert werden. M.S.: Das war im Grunde eine spontane Entwicklung, die ihr politisch abgesichert habt? W.M.: Das hat sich selbstverständlich spontan entwickelt, aber wir haben das nicht nur abgesichert, sondern auch ermutigt, haben immer wieder gesagt: Macht und helft. Ganz besonders interessant war es in Berlin in der Joachimstaler Straße [Sitz der ÖTVBezirksverwaltung]. Das ging soweit, dass z.B. Gregor Gysi im November 1989 ins Gewerkschaftshaus gekommen ist, um dort mit der Fachgruppe Richter und Staatsanwälte eine Diskussion zu führen. M.S.: Wann und wie begann die ÖTV organisationspolitisch gezielt einzugreifen? W.M.: Wie fing es an? Das ist eine Frage, die kann ich eigentlich nicht beantworten. Das war ein Prozess. Wir haben die Geschäftsführer der grenznahen Kreisverwaltungen für den 13. Februar 1990 zu einem ersten Erfahrungsaustausch eingeladen. Also, da war schon deutlich, dass es sehr ernst ist und dass es nicht nur bei einer unverbindlichen Diskussion bleiben soll. Dahinter stand schon ein organisationspolitischer Wille, ohne dass wir wussten, wie er sich konkret gestalten wird. Wer wusste das schon? Es hat damals niemand übersehen können, wo es hingeht. Ich glaube, dass bis Weihnachten 1989 der Gedanke gereift ist, dass mehr passieren wird, als sich gegenseitig Freundlichkeiten auszusprechen und zu unterstützen. Aber das war mehr ein Gefühl. Das war einfach alles noch zu unklar. Anfang 1990, ist es allerdings zur Sache gegangen. Und zwar durch folgendes Ereignis: Kurt Lange, Vorsitzender des Bezirks Berlin, rief mich gleich Anfang des Jahres an und sagte, die Kolleginnen und Kollegen der Energieversorgung Ost-Berlin stünden auf der Matte und wollten ÖTV-Mitglied werden. Es gäbe da einen Funktionär, der hieße Peter Witte, der wäre die treibende Kraft in dieser Sache und der sagte, er bringe der ÖTV in Berlin 8.000 Mitglieder. Auch werde er sich in der sonstigen DDR dafür verwenden, dass möglichst schnell die Gewerkschaftseinheit hergestellt werde. Das war
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für mich persönlich zunächst eine überraschende Information. Obwohl, das muss ich sagen, ich eigentlich damit hätte rechnen müssen, dass so etwas passieren könnte, zumindest in Berlin. Dass ich mich darauf vorher nicht eingestellt hatte, rechne ich mir als Versäumnis an. Wir haben uns zusammengesetzt, Peter Schmidt, Franz Fuchs und Kollegen von der Datenverarbeitung, Ernst Beller, Wolfgang Tobie und ich und haben überlegt, wie wir auf dieses Angebot reagieren sollten. Es nutzt ja nichts, 8.000 Menschen zu sagen: Ihr könnt ÖTV-Mitglied werden. Das muss ja auch umgesetzt werden, d.h. sie müssen in die Willensbildung einbezogen werden, sie müssen betreut werden, Rechtsschutz erhalten können, und was alles zu einer ordentlichen Gewerkschaftsmitgliedschaft dazu gehört. Wir kamen zunächst zu dem Ergebnis, dass wir vom Schreibtisch aus in Stuttgart keine Lösung finden werden, und hatten die Idee, dass Peter Schmidt nach Berlin fährt, um ein Gespräch mit der Bezirksleitung und mit Peter Witte zu führen. Vorher haben wir im Büro ein großes weißes Blatt aufgehängt und alle Fragen aufgeschrieben, die sich aus einem solchen Schritt ergäben. Was muss alles bedacht werden, was kommt auf uns zu? Und je dichter dieses große, weiße Blatt beschrieben wurde, umso größer wurden die Bedenken, was auf uns zukommen könnte. Peter [Schmidt] ist dann zur Bezirksverwaltung gefahren und hat mit den Kollegen diskutiert, was dafür und was dagegen spricht, diesen Schritt sofort zu tun. Es war auch zu überlegen, ob man nicht ein paar Wochen oder ein paar Monate Zeit braucht, um alles geordnet überzuleiten. Den Kollegen in den Energieversorgungsbetrieben durften keine Nachteile aus einem solchen Wechsel entstehen. Peter kam zurück und sagte, auf 1.000 Fragen hätten wir nur 100 Antworten. Wir bräuchten noch ein bisschen Zeit. Wir haben diskutiert und kamen zu der Auffassung, dass es in der Tat der richtige Weg wäre, jetzt keinen schnellen Schuss zu machen, sondern erst alle Fragen sorgfältig zu klären – in Berlin und bei uns. Rein satzungsrechtlich hätten wir organisieren können. Die ÖTV hat ja niemals den Anspruch aufgegeben, ganz Berlin zu organisieren. M.S.: Das hätte doch nur einen Sinn ergeben, wenn man schon der festen Überzeugung gewesen wäre, dass es die staatliche Vereinigung geben wird? W.M.: Nein, warum? Dass Berlin nicht in seinem alten Status verbleiben würde, das war mir eigentlich sehr früh klar. Egal wie auch immer dieser neue Staat ausgesehen hätte. M.S.: Dann hätte die ÖTV in den Betrieben der DDR praktisch in Konkurrenz zum FDGB eine Interessenvertretung aufgebaut? W.M.: Ich will das mal politisch betrachten. Gewerkschaftspolitisch war es notwendig, denke ich, denn man kann nicht 40 Jahre lang sagen, wir betrachten uns als zuständig für ganz Berlin, um dann in dem Augenblick, wo es drauf ankommt, nicht mehr zu wollen. M.S.: Aber ihr wart doch ganz vorsichtig? W.M.: Ja, aber mehr aus praktischen Gründen als aus politischen Gründen. Politische Gründe, die dagegen sprachen, gab es eigentlich nicht. Es gab tausend Probleme, wie man so was umsetzt, um nicht die Mitglieder zu enttäuschen, wenn man ihnen nicht den gewerkschaftlichen Schutz geben kann, auf den sie einen Anspruch haben. Das war der eigentliche Punkt. Rückwirkend betrachtet sage ich ganz ehrlich, wir hätten dieses Risiko eingehen und schon damals organisieren müssen. Dagegen sprach das Argument der Landnahme: Jetzt kommen die Westdeutschen und nehmen uns ein. M.S.: Ist das als Argument in der Diskussion thematisiert worden?
332 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.M.: Das ist in der Diskussion thematisiert worden. Es war neben den vielen, vielen praktischen Problemen ein wichtiger Punkt, ein politischer Punkt. Dieses Argument war falsch. Die praktischen Probleme hätten wir bewältigt, auch wenn es schwieriger gewesen wäre. Dann hätten wir halt anderes sein lassen müssen. Das politische Argument der Landnahme zog nicht. Andere haben aus dem Zögern, das wir an den Tag legten, Vorteile gezogen. Das war nicht gut. Der Organisationskonflikt mit IG Bergbau und Energie hatte auch dort seinen Ausgangspunkt. M.S.: Wie ging es weiter mit Peter Witte? W.M.: Wir hatten vereinbart, wir bleiben im Gespräch. Die ÖTV-Bezirksverwaltung Berlin hat die Energieversorgung betreut, andere auch, aber wir ganz intensiv. Es gab eine enge Zusammenarbeit zwischen dem ÖTV-Bezirk Berlin und Peter Witte. Kollegen aus dem Vorstandssekretariat 6, die an den Gesprächen der ÖTV-Berlin teilgenommen haben, meinten, das sei eine ganz interessante Figur, und ich müsse mich auch mal mit ihm treffen, zumal der ständig im BBZ war und dort an den Seminaren und Tagungen teilgenommen hat. Dieses Gespräch ist organisiert worden, und wir haben uns bei Peter Witte in der Wohnung getroffen. M.S.: Wie war das Gespräch, welchen Eindruck hattest du? W.M.: Peter Schmidt, Franz Fuchs und ich waren bei Peter Witte zu Hause. Er wohnte in einem Hochhaus unweit des Alexanderplatzes. Erstmal war es kompliziert, in die Wohnung zu kommen. Bis wir hochfanden in den einen Block und dann rübergingen in einen anderen und dann wieder `runter. Er hat uns unten im Haus am Empfang abgeholt und uns erklärt, wieso das so sei und was der Hausmeister für eine Funktion hätte. Es war hochinteressant, auch in Blickrichtung Stasi usw. Peter Witte hat sich dargestellt als ein alter Funktionär, der Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre Abschied genommen hätte von dem System, der sich sogar in Gegnerschaft zum System gebracht hätte: Seine Mutter wohnte in Westdeutschland, im schwäbischen Teil von Bayern, und er hat uns geschildert, welchen Schikanen er ausgesetzt gewesen sei in den ganzen Jahren, wenn er z.B. seine Mutter besuchen wollte, und wie es im Betrieb war, wie sie ihm dort das Leben erschwert haben. Das Gespräch hat auf mich Eindruck gemacht, dass, wenn das so stimmte, und daran habe ich überhaupt nicht gezweifelt, wäre Witte jemand, mit dem man demokratische Gewerkschaftsstrukturen entwickeln könnte. Dem müsste man helfen und der könnte uns auch eine ganze Menge bringen. Es ist ja keine Einbahnstraße, sondern ich habe immer meine Arbeit so betrachtet, dass ich eine ganze Menge lernen kann, von dem, was Menschen in der Diktatur erlebt haben. Umso überraschter war ich nachher, als das alles andersherum lief. Es hat sich nachträglich herausgestellt, dass Witte eben nicht die Figur war, die er vorgab, sondern Witte war offensichtlich doch bis zum Schluss in dem System verankert. Er war Betriebskampfgruppenleiter oder etwas Ähnliches. Das haben wir später erst erfahren durch einen Zeitungsartikel im Neuen Deutschland, in dem er abgebildet war als er 1981/82 seine Kampfgruppe hat stramm stehen lassen – zu einem Zeitpunkt, wie er mir erzählte, an dem er längst Dissident gewesen sei. Dies noch zur Person von Witte. Ich will nicht sagen, dass Witte uns angestoßen hat. Witte war einer derjenigen, der in dieser bestimmten Situation auf die ÖTV flog. Er wollte auch formal regeln, was eigentlich inhaltlich und zwischenmenschlich schon stattgefunden hatte. Die Bezirksverwaltung Berlin kümmerte sich ja um Ost-Berlin intensiv. Sie stellten dort die Arbeit im Westen weitgehend ein, weil es überhaupt nicht mehr anders ging. Die Menschen standen Schlange in der Joachimstaler Straße und haben Rat gesucht. Die Sekretäre und auch die
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ehrenamtlichen Funktionäre und Funktionärinnen sind im Osten gewesen und haben dort gearbeitet. Es waren nicht nur die Energiebetriebe, auch andere Betriebe in Berlin sind natürlich auf die ÖTV zugekommen und haben um intensive Betreuung gebeten. Das Gleiche galt für die grenznahen Kreisverwaltungen von Mecklenburg-Vorpommern bis runter nach Sachsen. Die Belastung, die diese Kreisverwaltungen in den grenznahen Regionen auf sich genommen haben, war unglaublich. Es hat im Grunde genommen keine interne Arbeit mehr stattgefunden, sondern es war Arbeit in Ost-Deutschland. Das aber war nicht genug, sondern es war klar, dass man auch in den grenzferneren Regionen etwas tun müsste. Diese Arbeit hat sich ebenfalls ganz vernünftig entwickelt, weil in den letzten Jahren durch Städtepartnerschaften Kontakte entstanden waren, die sich jetzt auf einmal sehr positiv darstellten und auswirkten. Z.B. hatte die Stadt Bochum eine Städtepartnerschaft mit Nordhausen in Thüringen, und wir sind, ohne große Umstände zu machen, hingegangen und haben dort Unterstützungsarbeit geleistet. Da hat sich gezeigt, dass eine Zusammenarbeit möglich ist zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, die sonst in Gegensätzen leben. Also, dass auf einmal die Stadtverwaltung, Unternehmer und die ÖTV gesagt haben, wir wollen etwas gemeinsam aufbauen, das ist ein ganz neues Erlebnis gewesen. Die Interessensgegensätze wurden einfach mal ein Stück weit zurückgestellt. Also Bochum und Nordhausen sind ein Beispiel, oder um eine Region zu nehmen: das Saarland. Die Stadt Saarbrücken hatte seit einigen Jahren vor der Wende eine Städtepartnerschaft mit Cottbus. Das führte dazu, ohne dass wir etwas tun mussten, dass sich unsere Bezirksverwaltung Saar in Saarbrücken nach Cottbus begeben hat und dort Hilfestellung leistete. Weit weg an der polnischen Grenze quasi. Es gab auf einmal alle möglichen Kooperationen. Landesregierung Saar, Stadt Saarbrücken, öffentliche Verwaltung, Private und ÖTV und was weiß ich, haben zusammen dort Unterstützung geleistet. Das war ein Erlebnis besonderer Art, aus dem man gewerkschaftspolitische Konsequenzen ziehen sollte. Denn, wenn es um Krisen geht in unserer Gesellschaft, und der Zusammenbruch der DDR war eine Krisensituation, dann lässt sich hier lernen, wie man sie bewältigen kann. Das geht wahrscheinlich zu schnell unter. Für uns war das ein ganz wichtiger Punkt, dass wir nicht nur entlang der Grenze, die damals noch bestand, uns bewegt haben, präsent waren, sondern punktuell aber trotzdem überall in der damaligen DDR. In Hamburg und Dresden ist die ÖTV auch über Städtepartnerschaften in Kontakt mit der DDR gekommen. Stuttgart und Dresden und was es noch alles gab. Der Modrow war im September 1989 zu Besuch in Stuttgart, und danach hat sich vieles entwickelt, was Dresden betrifft. Ich denke, dass ist eine wichtige Erfahrung, die wir da gemacht haben. Diese Zusammenarbeit hat sich also auch von unten aufgebaut. M.S.: Sind die Informationen über diese Aktivitäten bei dir zusammengelaufen, oder hast du mehr zufällig davon erfahren? W.M.: Das war alles nicht organisiert. Das war ein ziemliches Chaos, in dem wir gelebt haben. Aber es war sehr fruchtbar und kreativ. Wir sind nicht systematisch durch die Gegend gelaufen und haben Kontakte gesucht. Ein wichtiger Punkt, den ich noch erwähnen muss, ist, dass wir im Januar 1990, überlegt haben, uns auch mal außerhalb der Zentren, also Berlin und so, zu informieren, wie die Lage ist. Ich selbst war arbeitsmäßig furchtbar in Druck: Klausur des gHV, unaufhörliche Sitzungen. Ich bin nicht dazu gekommen, mir mal eine halbe Woche Zeit zu nehmen, um durch die DDR zu fahren. Wir haben dann abgesprochen, dass drei Kollegen sich diese Zeit nehmen. Das waren Peter Schmidt, Franz Fuchs und Jürgen Holz. Sie haben sich ins Auto gesetzt und sind losgefahren. Das war in der zweiten Januarhälfte 1990. Sie haben im Süden angefangen, sind
334 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview über Plauen – in Plauen war die erste Station – quer durch die DDR gefahren, haben Gespräche geführt mit BGL-Vorsitzenden, sind in die Betriebe gegangen und haben mit Arbeitnehmern geredet. Sie haben Gewerkschaftshäuser aufgesucht, um die alten FDGBFunktionäre abzutasten, haben auf der Straße mit Leuten geredet, also einfach versucht, sich ein umfassendes Bild über die Lage zu machen. Sie kamen zurück und haben einen Bericht gegeben, dem zu entnehmen war, dass die Lage dramatisch ist. Das Hauptergebnis ihrer Erkundung war die Einschätzung, dass es nicht ausreichte, nur im grenznahen Bereich und in Berlin etwas zu tun oder dort, wo Städtepartnerschaften bestehen, weil das eben ein Flickenteppich war, sondern es müsste flächendeckend etwas passieren. Den Menschen ging es dreckig, sie brauchten Unterstützung, sie brauchten Rat und wenn wir mithelfen wollten, dass ein demokratisches Gewerkschaftswesen entsteht – also nicht Gewerkschaftseinheit war ihre Diktion damals – dann mussten wir flächendeckend helfen und unterstützen. Was die Kollegen berichtet haben, war dramatisch, das muss ich wirklich sagen. Sie haben sich gleich mit Margareta Fohrbeck zusammengesetzt, der persönlichen Referentin von Monika, um sie politisch zu informieren. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon ins Auge gefasst, in Ost-Berlin ein Büro des Hauptvorstandes einzurichten. Werner Ruhnke hat in der Kleinen Auguststraße das Büro des Hauptvorstandes, dieses Informationsbüro, geleitet. Aus der Reise der drei Kollegen und der Entscheidung, ein Büro in Ost-Berlin aufzubauen, ist die Überlegung entstanden, es reiche nicht aus, nur ein zentrales Büro in Ost-Berlin zu machen, sondern wir müssten überall was tun. Nur mit großer Politik war es nicht getan, sondern die Menschen brauchten uns. Das war also ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Die ursprüngliche Idee mit dem Informationsbüro in Berlin war eine andere. Es sollten Kontakte gehalten und politische Fragen über dieses Büro transportiert werden. Aber es war ursprünglich nicht daran gedacht, in die Betreuungsarbeit einzusteigen. Der Schritt in die Betreuungsarbeit war für mich eine Schlüsselentscheidung. Das geschah im vollen Konsens: Margareta [Fohrbeck] hatte Monika [Wulf-Mathies] informiert, die Kollegen informierten mich. Wir beide haben dann miteinander telefoniert und waren uns einig, dass in dieser Richtung etwas passieren müsste. M.S.: Wie kam es zu der konkreten Entscheidung, Beraterbüros in den vierzehn Bezirksstädten einzurichten und jeweils einen Sekretär rüberzuschicken? W.M.: Es gab ja keine Erfahrungen mit einer solchen Situation, die war ganz anders als 1945. Die Menschen in der DDR wollten Hilfe, wollten Unterstützung, wollten Informationen haben. Das war ein ganz wichtiger Punkt für sie, und für uns war die Frage, überlassen wir die Informationsarbeit anderen oder mischen wir uns selbst ein? Unternehmerverbände, Arbeitgeberverbände haben sich schon engagiert, die Industrie- und Handelskammer hatte Außenstellen eingerichtet. M.S.: Auch schon andere Gewerkschaften? W.M.: Nein, wir waren im DGB die ersten. Aber viele andere, z.B. auch die DAG waren unterwegs. Wir waren der Auffassung, man dürfte es nicht dem Zufall oder anderen überlassen, sondern müsste sich selbst einschalten. Es ging darum, in die Köpfe und Herzen der Menschen hineinzuwirken und ihnen zu sagen: Also, wenn ihr wollt, dann sind wir für euch da, aber wir wollen euch nicht bevormunden. Das war unser Ansatz, um Gottes Willen, nur nicht die Menschen in der DDR bevormunden, sondern ein Angebot machen. Wer davon Gebrauch machen will, der kann das tun. Es hat sich dann angeboten, dass man in den vierzehn Bezirksstädten und in Ost-Berlin Büros einrichtet. Was heißt Büros,
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wir haben zunächst keine Büros gehabt, sondern VW-Busse gekauft, die Beratungsbusse, mit denen die Kollegen durch die Gegend gefahren sind, und sie haben sich nach und nach Büros eingerichtet und von da aus ihre Arbeit gemacht. M.S.: Die Entscheidung, in den vierzehn Bezirksstädten Beraterbüros aufzumachen, muss doch ein gHV-Beschluss gewesen sein? W.M.: Ja, das war formal ein gHV-Beschluss, aber in solchen Zeiten entwickeln sich die Dinge sehr pragmatisch. Das zu tun, was notwendig ist, hat in diesen Zeiten überhaupt das ganze Handeln bestimmt. Wir haben deshalb eine sogenannte Steuerungsgruppe eingerichtet. Die Steuerungsgruppe bestand aus Monika [Wulf-Mathies], Wolfgang Warburg, Margareta Fohrbeck, Peter Schmidt, Regine Ehrhardt und mir. Wir haben in dieser Steuerungsgruppe, die wir schon im Januar eingerichtet haben, die Entscheidungen getroffen, die notwendig waren. M.S.: Damit haben sich zugleich eine Reihe von praktischen Fragen gestellt: Welche Kollegen schickt man rüber? Wie werden sie ausgesucht? Welche besondere Qualifikation müssen sie haben? Und vor allem: Welchen Auftrag, welche Funktion haben sie? Wie weit dürfen sie gehen, wie weit dürfen sie nicht gehen? Hat so eine Diskussion stattgefunden? Wer hat die Personalauswahl getroffen? W.M.: Um von den Inhalten her anzufangen: Die Kollegen hatten den Auftrag, genauer, es ist die Bitte an sie gerichtet worden – das war alles anders als im normalen Leben – sich eben um die Betriebe zu kümmern, den dortigen Beschäftigten zu helfen, eine Interessenvertretung aufzubauen, in Fragen des Arbeitslebens Beratung zu geben. Dabei ist es natürlich nicht geblieben. Die Menschen wollten auch wissen, wie unter neuen Bedingungen sonst im Leben alles so funktioniert und wie man sich verhalten muss. Von der Geburt bis zur Beerdigung usw. Die ganze Bandbreite. Die Kollegen, die das gemacht haben, waren am Ende auch Lebensberater – neben den gewerkschaftlichen Fragen. Das ließ sich überhaupt nicht trennen in dieser Situation. Das war ihre Aufgabe zum einen, zum anderen war ihre Aufgabe – nein, ich sage nochmals, die Bitte – für den Aufbau von Betriebsräten zu sorgen. Das war nicht unumstritten, weil viele der Auffassung waren, die Betriebsgewerkschaftsleitungen seien das Heil der Welt und daran müsste man festhalten. Wir haben aber, ohne das allzu breit zu thematisieren, die Auffassung vertreten, es sollten Betriebsräte gebildet werden und unsere Kollegen sollten alles dafür tun, damit das funktionierte, damit hier eine betriebliche Interessenvertretung stattfinden konnte. Dabei wurde ganz pragmatisch das westdeutsche Betriebsverfassungsgesetz angewendet – in Absprache mit den Arbeitgebern. Zum dritten sollten sie das Entstehen demokratischer Gewerkschaftsstrukturen unterstützen. Das war sicherlich das Schwierigste an der ganzen Sache. Es wurde damals überhaupt noch nicht an die Gewerkschaftseinheit gedacht. Diesen Arbeitsauftrag konnte es deshalb nicht geben. Die Personalauswahl, was soll ich dazu sagen? Das funktioniert oder das funktioniert nicht. Das kann man nicht auf einem offenen Markt austragen, das lässt sich nicht in großer Runde diskutieren, sondern da muss man Gespräche führen unter vier Augen, sich in die Augen schauen und fragen, geht es oder geht es nicht? Diese Gespräche habe ich mit den Bezirksvorsitzenden geführt, die Bezirke waren ja gefordert, Sekretäre abzustellen und natürlich mit den betroffenen Kolleginnen und Kollegen. Aus der Hauptverwaltung mussten wir drei Kollegen abstellen, weil wir die Betreuung von drei DDR-Bezirken übernommen hatten, Potsdam, Halle und Suhl. Später hat dann der Bezirk Hessen (zusätzlich zu Erfurt) die Betreuung von Suhl übernommen
336 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Zur Personalauswahl ein offenes Wort: Es sind zum Teil Kollegen nach OstDeutschland gegangen, nicht alle, selbstverständlich nicht, aber einzelne, die hier in West-Deutschland an ihrem angestammten Arbeitsplatz mit sich und mit der ÖTV und umgekehrt die ÖTV mit ihnen ziemliche Probleme hatten. Die Routine macht Menschen kaputt. Diese Kollegen sind zu Spitzenleistungen aufgelaufen in dieser Arbeit in der DDR und haben sich selbst in jeder Hinsicht physisch, psychisch und politisch wieder stabilisiert. Auch das war ein großartiges Erlebnis für mich persönlich, weil es ein Risiko war, zu sagen, genau du machst es, Kollege oder Kollegin, wo viele andere gesagt haben, also das geht doch nicht, die sind doch kaputt oder so. Es fällt mir nicht leicht, dies rückblickend auszusprechen, aber ich denke, auch das muss gesagt werden. Aus dem Kreis der Beratungssekretäre bzw. kommissarischen Geschäftsführer hat sich im Laufe der Zeit ein Team gebildet, das gemeinsam diese schwierige Aufgabe gehändelt hat, und es sind Persönlichkeiten entstanden, die sich sehen lassen können, die ihren Platz in dieser Organisation haben und die auf sich selbst stolz sein können wie die ÖTV auf sie stolz sein kann. Das kommt leider nicht hinreichend zum Ausdruck, weil oftmals in so einer Organisation vieles als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, was keineswegs selbstverständlich ist und was ein normaler Betrieb, ein normaler Arbeitgeber draußen würdigen würde. Wir sind dazu offenbar nicht in der Lage. Jetzt sind wir etwas abgeschweift. M.S.: Beraterkreis, Sekretäre wurden zunächst rübergeschickt unter der Voraussetzung, dass weiter selbständige Gewerkschaften existieren werden. W.M.: Nein, das ist so nicht richtig. Die Kollegen sind hingegangen mit dem Anspruch, demokratische Gewerkschaftsstrukturen aufzubauen. Das bedeutete, die alten Betriebsgewerkschaftsleitungen zu überwinden, Betriebsräte aufzubauen und herauszufinden, wo die Reise bezüglich neuer Gewerkschaftsstrukturen hingehen könnte. Kann man z.B. mit den Resten des FDGB, die übriggeblieben sind, zusammenarbeiten? Kann es mit den im Februar sich neu gegründeten DDR-Gewerkschaften einen neuen Weg geben? Es wusste ja niemand, und ich habe für mich immer abgelehnt, es zu wissen, wo die Entwicklung hinginge, außer, dass es irgendwann eine Gemeinsamkeit geben müsse. Der Hintergrund unseres Handelns war ja, dass es nicht passieren darf, dass auf der Seite der Arbeitgeber, der Unternehmen, der Politik einheitliche Strukturen gebildet werden, wie immer sie auch rechtlich und tatsächlich aussehen, und die Arbeitnehmer in Deutschland unter Umständen gegeneinander arbeiten. Ein wichtiges Anliegen war deshalb auch, die DAG zu verhindern. Die DAG hatte schon früh im Jahr 1990 eine ziemlich starke Position im Gesundheitswesen erreicht und die musste wieder zurückgedreht werden. Das hieß nicht, zu sagen, also übermorgen müsse es eine gemeinsame ÖTV geben, sondern wir wollten erstmal herausfinden, wo es hingehen könnte. Einig waren wir uns im Beraterkreis, dass wir uns nicht mit den alten FDGB-Gewerkschaften ins Bett legen. Da muss ich noch mal auf das Schreiben von Monika und mir vom Dezember 1989 an die grenznahen Kreisverwaltungen zurückkommen, in dem wir gesagt haben: Macht weiter, intensiviert und wir treffen uns im Februar zu einem Gespräch. Dieses Gespräch hat stattgefunden. Wir haben uns am 13. Februar 1990 mit den Geschäftsführern der grenznahen Kreisverwaltungen und mit einem Vertreter aus Berlin, mit Jörg Virchow, getroffen und haben erst einmal unsere Erfahrungen ausgetauscht und diskutiert. Es gab sehr unterschiedliche Erfahrungen mit den Alt-Gewerkschaftern. Einige Geschäftsführer haben darauf geschworen, dass man mit denen zusammenarbeiten müsste und könnte, denn das wären nette Mädchen und Jungs und was weiß ich noch. Vielleicht wären sie in die Irre geleitet, aber sie könnten nichts dafür. Andere sagten: Also mit denen wollen wir überhaupt nichts zu tun haben, jede
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Verbindung mit denen ist für uns verheerend. In dieser Sitzung haben wir eine sehr kontroverse Debatte geführt, aber dann die Losung ausgegeben, dass wir einen eigenständigen Weg gehen. Da sind einige Geschäftsführer mit säuerlicher Miene abgezogen. M.S.: Also eigenständig hieß, nicht mit den alten FDGB-Gewerkschaften? W.M.: Ja, als Richtung, in die man sich bewegen sollte. Einige haben sich so sicherlich verhalten, aber andere haben das weniger getan. Wie alles im Leben. Man kann nichts erzwingen in so einer Frage. Allerdings war dieser 13. Februar 1990 ein Eckpunkt in der ganzen Entwicklung. Am 5. März haben sie ihre Arbeit in den Bezirksstädten aufgenommen und eine Woche vorher gab es im BBZ eine Zusammenkunft mit ihnen. M.S.: Die Generallinie war dir klar. Wie waren aber die konkreten Vorgaben, die ihr den Kollegen mitgegeben habt? W.M.: Wir haben auch dort nicht mit eindeutigen Vorgaben gearbeitet, zumindest ich nicht. Es ging darum, den Kollegen zunächst einmal Fakten zu vermitteln, niemand kannte sich aus. Das haben ein paar Kollegen gemacht, die sich mit der Lage in der DDR befasst hatten. Mit ihnen gemeinsam wurde eine Linie entwickelt, wie man sich verhalten sollte. Dabei ist ziemlich deutlich geworden, dass die dort versammelten Kolleginnen und Kollegen es fast alle ablehnten, irgendetwas mit den alten FDGB-Kadern gemeinsam zu machen. Es sei denn, es gab Sachzwänge, an denen man nicht vorbeikam. Das war Zufall oder auch nicht, ich weiß es nicht, wahrscheinlich hing das mit der Personalauswahl zusammen. Wie ein Neuanfang aussieht, ist eine ganz andere Frage. Diese Tagung war spannend und hochinteressant. Sie war vor allem gekennzeichnet von den Ängsten, die wir alle hatten. Diejenigen, die direkt in die DDR gingen, von Rostock bis nach Dresden, und diejenigen, die das Management machten und die eine Fürsorgepflicht gegenüber diesen Menschen hatten. Ich persönlich hatte die Hose gestrichen voll. Das muss ich mal ehrlich sagen. Trotzdem habe ich mich bemüht, zu motivieren und aufzubauen. Es hat sich auf dieser Tagung schon eine ziemlich große Geschlossenheit dieses Kreises entwickelt. Vielleicht auch aus diesen Ängsten heraus: Was kommt auf mich oder auf uns zu? Dieser Zustand hat sich in der ganzen Zeit gehalten, bis auf Abstriche und auf einzelne Ausfälle. Dies war mitentscheidend dafür, dass das ganze Unternehmen aufgeblüht ist. M.S.: Auf dieser Tagung war noch nicht klar, dass die deutsche Vereinigung zustande kommt und dass es deshalb auch auf eine einheitliche ÖTV hinauslaufen wird? W.M.: Im Hinterkopf war es vielen klar, dass es auf eine Vereinigung hinausläuft, auch schon an diesem 5. März und im Beraterkreis. Man muss sich natürlich auch mal die ÖTV betrachten, in welchem Zustand sie damals war: Es gab eine nicht unbeträchtliche Fraktion von Leuten, denen diese Entwicklung sehr unangenehm war, die sich eigentlich die Geschichte anders herum vorgestellt hatten und die auch sehr kritisch diskutiert haben. In der Öffentlichkeit zwar zurückhaltend, aber in ihren Kreisen waren sie ganz offen. Sie waren nun der Auffassung, wir sollten ein neues sozialistisches Experiment machen. Das erste sei zwar schief gegangen, aber das sei ein Betriebsunfall gewesen. Dass Sozialismus weiter richtig ist, habe nichts damit zu tun, dass zwischen Rostock und Peking alles schiefgegangen sei. In dieser extremen Situation war es für die ÖTV nicht möglich, einfach zu sagen, wir setzen uns jetzt auf den Zug der Vereinigung. Das wäre eine Überforderung gewesen. M.S.: Aber da gab es doch eine Erklärung von Monika Wulf-Mathies, dass sie die staatliche Vereinigung begrüßt?
338 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.M.: Ja, später. Das kannst du aus den Unterlagen ersehen. Wir haben im Hauptvorstand noch im Dezember erklärt, dass die ganzen Träumer, die von Wiedervereinigung fabulieren, endlich damit aufhören sollten. So wie die Lage war, mussten wir uns schrittweise herantasten an diese ganze Entwicklung. Ich habe vorhin gesagt, dass ein Kollege im Dezember 1989 gefordert hat, wir müssten jetzt die Satzung öffnen für die DDRKollegen. Der ist ausgelacht worden. Die Diskussion, die manche geführt haben, dass man eben ein neues sozialistisches Experiment machen solle, weil man es jetzt besser machen könne, die war nicht wegzubringen. Die gleichen Leute haben uns vorgeworfen: Was ihr macht, ist Spaltungspolitik. Einen eigenständigen Weg gehen, also eigenständige Strukturen aufbauen, das gehört sich nicht, das ist antigewerkschaftlich, das widerspricht einer hundertjährigen Tradition der Gewerkschaft, die Einheit ist das wichtigste. Das hieß konkret, sofort mit dem FDGB und mit den ganzen Gewerkschaften, die sich im Laufe der Entwicklung im Frühjahr 1990 gebildet haben, zusammenzugehen. Ich erinnere mich sehr gut an eine heftige Auseinandersetzung mit Michael Wendl [Sekretär der ÖTVBezirksverwaltung Bayern] in der Betriebsräteversammlung im Frühjahr 1990 in Berlin. Wir hatten ein Beratertreffen im BBZ, und parallel dazu gab es die jährliche Betriebsräteversammlung in einem Hotel in West-Berlin. Monika [Wulf-Mathies] und ich sind dorthin gefahren, ich habe meinen Bericht gegeben, sie hat ihren Bericht gegeben, und dann stand Wendl auf und hat uns massiv beschimpft. Das muss im April gewesen sein. M.S.: Das hat er dann auch in einem Artikel geschrieben. W.M.: Richtig. Also, der hat seinen Kopf mal rausgesteckt aus dem Loch, andere haben das so offen nicht gemacht. Aber es gab sicherlich viele in der Organisation, die so gedacht haben. Das ist der politische Hintergrund, den man dabei sehen muss und der natürlich dazu geführt hat, dass viele Kollegen, die unseren Weg unterstützten, oftmals am Rand der Verzweiflung waren, weil sie so massiv agitiert worden sind, und weil sie manchmal keinen Boden unter den Füßen hatten. M.S.: War der Widerstand so stark? W.M.: Der Widerstand war sehr stark. Ich komme noch mal darauf zurück. M.S.: Wir waren beim Thema „eigenständige Strukturen aufbauen“. Hieß das, eine eigenständige Gewerkschaft aufzubauen? W.M.: Demokratische Gewerkschaftsstrukturen. Das hieß Abschied nehmen vom FDGB und auch den Nachfolgeorganisationen, keine Gewerkschaftseinheit herzustellen, sondern etwas Eigenständiges zu entwickeln. M.S.: Das konnte heißen, den demokratischen Kräften drüben, die die FDGB- Gewerkschaften reformieren wollten, Hilfestellung zu geben. Oder war doch schon klar, dass es eine eigenständige ÖTV geben sollte? W.M.: Das ist jetzt eine sehr brisante Frage. Das ist genau der Knackpunkt an der ganzen Sache. Da gab es unterschiedliche Einschätzungen. Also wir haben lange diskutiert in der Steuerungsgruppe. Wir haben große Wandzeitungen aufgestellt und verschiedene Modelle aufgezeichnet, wie es denn gehen könnte. Parallel dazu habe ich Gespräche mit [Ernst] Otto Kempen geführt, um die rechtliche Seite zu klären. Was geht und wo muss man aufpassen? Eines war klar, wir erhoben einen demokratischen Anspruch, jedes Mitglied musste durch eine eigene Beitrittserklärung Mitglied der ÖTV werden. Kollektiven Übertritt oder eine Überleitung konnte es nicht geben.
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Wir haben uns das satzungsrechtlich und organisationspolitisch angeguckt. Wie kann man das machen, wie könnte das gehen? Geht es mit den Alten [FDGB-Funktionären] oder ohne sie, mit den alten Erneuerten oder den erneuerten Alten und was weiß ich. Das war alles sehr undurchsichtig. Also in der Tat war für mich das Entscheidende an der ganzen Geschichte die Gründung der ÖTV in der DDR. Wir fördern den Aufbau der ÖTV in der DDR, das heißt, die Kollegen in den Betrieben bauen sie mit unserer Hilfestellung auf. Das war nicht von außen aufgesetzt, der Bedarf war ja vorhanden. Sie wollten das in den Beratungsbüros, in den Initiativgruppen, die es dort gab. Sie wollten eigentlich, dass die ÖTV einmarschiert. Das wollten wir aber nicht. Deshalb haben wir sehr früh gesagt, die Gründung einer ÖTV in der DDR wäre der richtige Weg. Dort können sich all diejenigen, die mit den alten Strukturen nichts zu tun haben wollen, organisieren. Das war auch der Wunsch der Initiativgruppen, die sich um die Beratungsbüros herum gebildet hatten. Das waren alles neue Leute, das waren weder die alten FDGB-Funktionäre noch die Funktionäre aus den neuen FDGB-Gewerkschaften. Erstmal haben sich neue, unbelastete Leute um uns versammelt, herumgruppiert. Die Frage war, wie macht man das, wie gründet man eine Organisation und zwar so, dass sie am Ende auch kompatibel zur ÖTV ist, in der sie aufgehen oder mit der sie sich zusammenschließen soll? Die Vorgeschichte ist folgende: Als am 10. Mai der Hauptvorstand damit einverstanden war, dass die ÖTV in der DDR gegründet wird, hat am Tag danach, am Freitagabend, sich die Initiativgruppe Magdeburg im Beratungsbüro getroffen und hat die ÖTV in der DDR in Magdeburg gegründet mit einem einzigen Verbandszweck, nämlich die ÖTV in der DDR zu gründen. Sie hat zu einer Gründungsversammlung für den 9. Juni 1990 aufgerufen. Hintergrund für diese Hektik war, dass wir befürchteten, dass Funktionäre der alten MSK, die sich umgruppiert hatte in die GÖD, dass die den Namen der ÖTV okkupieren. Da gab es konkrete Hinweise, dass das passieren könnte. Wir hatten jedoch mit den Initiativgruppen lange vorher diskutiert, dass sie die ÖTV in der DDR gründen können. Als diese Gründung angekündigt war, sind die FDBG-Gewerkschaften unseres Organisationsbereichs auf uns zugekommen und haben gesagt, wir müssten sofort die Gewerkschaftseinheit herstellen. Konkret hat es am Rande des DGB-Bundeskongresses in Hamburg eine gemeinsame Sitzung der ÖTV mit den Vorsitzenden dieser Gewerkschaften gegeben, wo diese mächtig Druck gemacht haben. Die ÖTV müsse sofort ihre Satzung öffnen, forderten sie, weil sie Angst hatten vor dem, was sich da entwickeln könnte, nämlich ein eigenständiger Weg der ÖTV, auf den sie keinen Einfluss haben, kein Zusammenschluss, keine Überführung der Mitglieder ihrer Organisationen mit der ÖTV und damit kein Möglichkeit, ihre eigenen politischen, organisatorischen und personellen Vorstellungen einzubringen. Der entscheidende Knüppel gegen die Alt-Gewerkschaften war die ÖTV in der DDR. Wir hatten zwar nie riesengroße Mitgliederzahlen, etwa 50 oder 60.000, aber diese Gründung hat dazu geführt, dass die FDGB-Gewerkschaften in unserem Organisationsbereich weich wurden. M.S.: In dem Moment, wo der Zug in Richtung staatlicher Einheit rollte, war klar, dass es nur einheitliche Gewerkschaften geben konnte? W.M.: Das weiß ich nicht. Es gab zum Beispiel in der IG Transport starke Bestrebungen, sich zu erhalten. Das ging bis zum Auflösungskongress am 29. September 1990 in Bernau, wo sie noch eine Diskussion geführt haben, ob sie nicht doch lieber eine Transportarbeitergewerkschaft bleiben sollten. Trotzdem haben sie in der Tat erkannt, dass irgendetwas passieren muss. Ihre Vorstellung war natürlich eine andere. Sie wollten mit uns fusionieren. Gewerkschaftsunion haben sie das immer genannt. Sie wollten eben nicht,
340 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview dass jedes einzelne Mitglied seinen Beitritt erklären muss. Es hat dann tatsächlich unsere Politik mit der Entwicklung zur staatlichen Einheit zusammengewirkt. M.S.: Du sagst, es gab nur ein Kooperationsabkommen mit den Transportern. Bist du dir da ganz sicher? W.M.: Ja. Das Papier vom 30. Mai, das die sechs FDGB-Gewerkschaften unseres Organisationsbereiches gemeinsam unterschrieben haben, war kein Kooperationsabkommen. Es ging darin um die Herstellung der Gewerkschaftseinheit. Indirekt kam darin zum Ausdruck, um was es ging, nämlich, dass die sich auflösen und die Gewerkschaftseinheit dadurch hergestellt werden sollte, dass sie ihre Mitglieder auffordern, der ÖTV beizutreten. Wir hatten faktisch vereinbart, dass die ÖTV ihre Satzung zum 1. November 1990 für die DDR öffnet. M.S.: Eine zentrale Streitfrage war ja, wie diese Einheit hergestellt werden sollte? W.M.: Wir haben natürlich schon sehr früh, Februar 1990, alle Möglichkeiten untersucht und einfach mal theoretisch und rechtlich mit Otto Kempen durchgespielt, wie das aussehen könnte. Klar war aber für uns sehr früh, dass es nur einen Einzelbeitritt geben konnte. Jedes Mitglied musste persönlich erklären: Ich möchte Mitglied der ÖTV werden. Dabei hat es Differenzen gegeben, das ist klar. Gegen eine Fusion sprach, dass es kompliziert ist, Fusionen zu machen. Das ist ein ganz, ganz schwieriger Prozess. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der IG Medien. Die hat viele Jahre gebraucht. Deshalb war eine Fusion eigentlich auch nicht das Thema. Uns kam es darauf an, dass jeder Mann und jede Frau selbst entscheiden musste, ob sie ÖTV-Mitglied werden wollten oder nicht. Dieser Weg war, wie gesagt, nicht unumstritten. Diskutiert wurde vor allem das Modell, erst eine möglichst intensive Kooperation und dann eine automatische Überleitung zu machen. Das hätten wir ja auch machen können. Wir haben mit den DDR-Gewerkschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 30. Mai 1990 verschiedene Ausschüsse gebildet, also einen Tarifausschuss, einen sozialpolitischen Ausschuss und einen Organisationsausschuss. Der war das eigentliche Herz der ganzen Angelegenheit. Da waren die für Organisation zuständigen Vorstandsmitglieder der DDR-Gewerkschaften vertreten, von uns waren zusätzlich die Bezirksvorsitzenden von Baden-Württemberg und Niedersachsen, Hans-Jürgen Arndt und Horst Fricke, in dem Ausschuss. Außerdem gehörten ihm Wolfgang Warburg, ich sowie Peter Schmidt und Gerd Drews an. Wir haben regelmäßig getagt, fast alle 14 Tage, um alle Fragen organisationspolitischer und organisatorischer Natur zu besprechen. Es sind ergänzend in den Beratungsbüros regionale Organisationsausschüsse gebildet worden, um das dort zu konkretisieren. Der Organisationsausschuss war ein wichtiges Instrument, ihnen vor Augen zu führen, dass es für sie keine Chancen mehr gab, dass die Wende auch ihr Ende war. Ich muss aber sagen, in diesem Ausschuss waren zum Teil Kollegen aus den alten FDGB-Gewerkschaften vertreten, die das sehr realistisch gesehen haben und die auch kooperativ in diesem Organisationsausschuss mitgearbeitet haben. Sie wollten vermeiden, dass das bei ihnen im Chaos endet, um das mal vorsichtig auszudrücken. M.S.: Es muss eine Phase gegeben haben, wo es noch nicht klar war, welche Entwicklung die Wende nimmt, wo noch nicht ausgemacht war, dass die FDGB-Gewerkschaften keine Chance mehr haben und wo die ÖTV als Konkurrenz begriffen worden ist? W.M.: Ja, natürlich gab es das. Nicht auf Seiten der Kolleginnen und Kollegen, die z.B. in dem Organisationsausschuss mitgearbeitet haben. Für die war eigentlich klar, dass man jetzt versuchen musste, die Dinge in Ordnung zu bringen.
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M.S.: Wie liefen die organisationspolitischen Diskussionen im gHV? Gab es danach Differenzen, wie man organisationspolitisch vorgeht oder war das so, dass die Steuerungsgruppe immer, wenn sie sich geeinigt hatte, Vorlagen in den gHV gegeben hat, die dann nur noch abgestimmt wurden? Hat also die Diskussion im Grunde gar nicht im gHV stattgefunden, sondern nur in der Steuerungsgruppe? Welche Bedeutung gibst du der Steuerungsgruppe in diesem ganzen Prozess? W.M.: Insgesamt hat es in der Organisation, und das ging bis in das kleinste Gremium hinein, Auseinandersetzungen um die Frage des richtigen oder falschen Weges gegeben. Das waren zum Teil bittere und schwierige Auseinandersetzungen. Es kam erschwerend hinzu, dass der DGB, zumindest zu Anfang, keine Distanz zum FDGB gehalten hat, sondern versucht hat, mit ihm gemeinsame Sache zu machen und dass auch andere Gewerkschaften andere Wege gegangen sind als wir. M.S.: Zurück zum gHV. Ich habe den Eindruck, dass die einzelnen Sekretariate ziemlich selbständig Kontakte zu den jeweiligen DDR-Gewerkschaften gepflegt haben. Kann man sagen, dass das am Anfang nicht richtig koordiniert worden ist? W.M.: Die Frage stellte sich, glaube ich, anders: Nämlich, ob man überhaupt koordinieren konnte oder wollte. Wir wollten, dass jeder, der Verstand und Hände zum Arbeiten hat, etwas tut, so wie wir das im Dezember '89 in dem Rundschreiben gesagt haben: Helft, macht, tut. Das galt natürlich auch für die Hauptverwaltung, für jedes Sekretariat und für jeden Sekretär und für viele Verwaltungsangestellte. Es haben sich auch viele – von einigen hatten wir das gar nicht erwartet – in diese Arbeit, in diesen Prozess eingebracht. Koordinieren hätte – denke ich – bedeutet, dass es die Kreativität, die sich entwickelt hat in dieser Zeit, nicht gegeben hätte. Es wäre formalisiert worden, wir hätten eine Richtlinie beschlossen. Die alte Krankheit der ÖTV, es wird immer so gearbeitet wie im öffentlichen Dienst, wäre ausgebrochen: Wenn es für etwas keine Richtlinie gibt, dann macht man eine. M.S.: Deine Linie war, eine selbständige ÖTV in der DDR zu gründen. Ich habe den Eindruck, dass das nicht den Erfolg hatte, den ihr euch erhofft habt? W.M.: Wir haben mit mehr Mitgliedern gerechnet, als wir bekommen haben. Das hing aber auch mit der Zeitleiste zusammen. Wir waren nie überzeugt, dass wir jetzt auf einen Schlag, was weiß ich, hunderttausende von Mitgliedern bekommen könnten. Das Beharrungsvermögen, das haben uns die Beratungssekretäre gesagt, wäre zu groß. Viele wollten abwarten bis die ÖTV kommt und nicht diesen Zwischenschritt mit der ÖTV in der DDR. M.S.: Haben sie nicht im Grunde ihren eigenen Leuten misstraut und wollten deshalb lieber gleich in die Original-ÖTV eintreten? W.M.: Ich bleibe dabei, ich habe das für mich immer wieder hinterfragt, aber ohne diesen Zwischenschritt ÖTV in der DDR hätten wir das nicht gepackt. Wir hätten viele, viele Zugeständnisse an die FDGB-Gewerkschaften machen müssen und wir hätten im Westen andere Diskussionen bekommen, als wir sie dann tatsächlich hatten: Die Stamos im Westen wären ohne die demokratische Kraft der Menschen, die diese ÖTV in der DDR gegründet haben, und ohne die Menschen, die sie getragen haben, nicht so zurückhaltend gewesen, wie sie es gewesen sind. Gegen den Willen von 300 Leuten, die sich zusammengefunden haben in Magdeburg und den Willen von 50.000, die dahinter standen und
342 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview die bekannt geworden sind, war es schwierig, so anzugehen, wie sie das sonst gemacht hätten. Das war ein demokratischer Prozess, der da stattgefunden hat. M.S.: Wenn es allen klar war, dass das die Gründung einer eigenständigen Gewerkschaft für einen relativ kurzen Zeitraum ist, dann könnte dies auch eine Erklärung dafür sein, dass so wenig Leute in diese Gewerkschaft gegangen sind? W.M.: Ja, das war schon vor dem Gründungskongress am 9. und 10. Juni 1990 klar, dass die ÖTV sich am 1. November 1990 ausdehnen wird. Deshalb war der Beirat für den 26. Oktober einberufen. Danach ist erst der Termin 3. Oktober für die Vereinigung zustande gekommen. Wir sind zum Zeitpunkt des Kongresses aber davon ausgegangen, dass irgendwann Mitte 1991 die staatliche Einheit zustande kommt. M.S.: Die Gründung der ÖTV in der DDR hat bei den Alt-Gewerkschaften böses Blut verursacht. Sie wollten ja fusionieren. W.M.: Ja, sie haben sich alle eine Fusion vorgestellt. Sie haben immer von Gewerkschaftsunion gesprochen. Sie dachten, wir schließen uns irgendwie zusammen und das ganze Personal und was alles dazugehört wird übernommen. Es war dann alles nichts. Es war völlig klar, dass das nicht funktioniert, sondern dass es einen Einzelbeitritt gibt und dass die ÖTV sich originär in der DDR betätigen wird. Aber die Altfunktionäre hatten diese Hoffnungen. Sie haben draußen in den einzelnen Bezirken erzählt, wir würden das Personal übernehmen. Sie haben die Dinge falsch dargestellt. M.S.: Du hast im ÖTV-magazin einen Artikel geschrieben zur Frage der Übernahme oder Einstellung von Funktionären aus den FDGB-Gewerkschaften [Vgl.: Willi Mück, Offener Brief an die Mitglieder, in: ÖTV-magazin, 10/90, S. 19.]. W.M.: Die Position war, wenn ich den Artikel richtig im Kopf habe, ziemlich eindeutig. Das hat es selten in der ÖTV gegeben, dass man sich zu solchen Fragen so eindeutig äußerte. Das hat zu vielen Anfeindungen geführt in der Organisation – also nicht im Hauptvorstand. Aber in der Zeit danach habe ich manches Gespräch führen dürfen, wie das denn zu verstehen sei. Der Artikel war genau zum richtigen Zeitpunkt die richtige Antwort auf die damalige Zeit. M.S.: Wie weit wurde die gHV-Politik mit den Bezirksleitern abgestimmt, auch was die praktischen Fragen zur Unterstützung der Ost-Kreisverwaltungen angegangen ist? W.M.: Das war unterschiedlich. Es hat offiziell keine großen Auseinandersetzungen über unsere Politik gegeben. Warum, weiß ich nicht. M.S.: Sie wollten sich nicht einmischen? W.M.: Ja, schon. Aber es war halt so wie es war. Die alte DDR war kaputt. Man trauerte oder freute sich. Eine Auseinandersetzung hat es nicht gegeben. Es hat in der praktischen Arbeit, was die Frage der Unterstützung anging, natürlich Probleme gegeben. Es gab ganz unterschiedliche Qualitäten. Es gab einzelne Bezirke, die sich wirklich völlig selbstlos eingesetzt haben, die ihre Kolleginnen und Kollegen, Ehrenamtliche und Hauptamtliche, gebeten haben, sich einzusetzen, dort zu arbeiten, zu helfen. Das hat auch phantastisch funktioniert. Und es gab andere, die sahen das alles anders und hielten das für Quatsch. M.S.: Seit ich das direkt verfolgen kann, ab Oktober 1990, und besonders auf dem außerordentlichen Kongress, hatte ich das Gefühl, dass die Dimension dieser staatlichen Ver-
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einigung überhaupt nicht richtig erkannt worden ist, jedenfalls ist sie nicht thematisiert worden. Auf dem außerordentlichen Kongress hatte ich das Gefühl, da sitzen sich zwei vollkommen fremde Lager gegenüber, die es nicht schaffen, über ihre nun gemeinsame Geschichte zu sprechen. Und weil es bis heute nicht gelungen ist, miteinander zu reden, wird die Stimmung immer schlechter. Stimmt diese Beobachtung? W.M.: Also, der gewerkschaftliche Einigungsprozess war ein Werk von einigen wenigen Leuten. Er war nicht die Überzeugung der gesamten Organisation, ich sage mal, er war nicht der Wunsch und der Wille der Organisation. Ich formuliere es so hart, weil ich sehe, wie sich das auch heute zeigt. Aber ich habe das immer so empfunden. Das hängt mit dem zusammen, was ich vorhin schon gesagt habe, dass eben eine politische Einstellung vorhanden war, die, auch bei mir, den Osten längst abgeschrieben hatte. Es war eine Bewegung, die einige Leute vollzogen und gemacht haben. Das setzt sich bis heute fort. Der außerordentliche Gewerkschaftstag wurde bedauerlicherweise immer noch von Wessis dominiert, obwohl es der Vereinigungskongress war. Vor allem die Ostdeutschen hätten ihre Meinung und ihre Wünsche dazu sagen können. Aber wir waren zufrieden, dass die Ostkollegen mit den Spielregeln des Kongresses noch nicht vertraut waren. Diese Arroganz bringen wir aus dem Westen mit. Dass auf dem ordentlichen Gewerkschaftstag in Nürnberg 1992 das Thema Ost-Deutschland, das Thema Vereinigung fast keine Rolle gespielt hat, das niemand, außer einer Kollegin aus Münster, glaube ich, Danke schön gesagt hat für die Arbeit, die wir gemacht haben, das fand ich furchtbar. Für mich heißt das, dass dieses Stück Geschichte offensichtlich in der Organisation keine Rolle spielt, oder dass man versucht es herunterzuspielen – schlimm. Organisationen leben ja nicht nur davon, dass sie ihre Inhalte vermitteln, ihren Organisationszweck umsetzen, sondern dass – ob das ein Sportverein ist, die Kirche, Gewerkschaften oder Parteien – auch eine Organisationskultur entsteht. Wenn das nicht gelingt, gelingt es auch nicht, dauerhaft sicherzustellen, dass der Organisationszweck realisiert werden kann. Dieses kulturelle Defizit besteht im Augenblick bei uns. Dass das, was geleistet worden ist von unseren ostdeutschen Kollegen, die sich in unsere Arbeit eingebracht haben, wie auch teilweise von unseren Kollegen aus dem Westen, dass das keine Würdigung findet, das wird der Organisation nicht gut tun, das wird ihr lange, lange schaden. Irgendwann, denke ich mal, wird es Leute geben, die sich rückblickend daran erinnern werden. Aber bis es soweit ist, geht zuviel kaputt. M.S.: Ich fand die Lohnrunde 1991 mit der 9%-Forderung und dem Abschluss über 6% sowie die letzte Lohnrunde für West praktisch das Gegenteil von dem, was man als Solidarität mit den Menschen in den neuen Bundesländern bezeichnen könnte. Warum wird so etwas nicht gemacht? Die Ossis haben das genauso empfunden. Sie haben gesagt, sind die Wessis denn verrückt geworden, in einer Situation, wo es bei uns brennt, tun die so, als wäre praktisch nichts geschehen, die machen weiter wie bisher. W.M.: Zum einen ist die Tarifpolitik nicht das Steuerungsinstrument dafür. Wir hätten eine Nullrunde machen können im Westen und dann wäre davon nicht ein Prozent in den Osten geflossen, weil sich mit der Tarifpolitik so was nicht vereinbaren lässt. Du kannst keinen Tarifvertrag abschließen, der z. B. sagt, wir vereinbaren sechs Prozent Lohnerhöhung und davon gehen fünf Prozent in den Osten. Das geht nicht. M.S.: Als Tarifvertrag vielleicht nicht. W.M.: Aber das ist das Problem. Das heißt, andere hätten das Geld eingesackt. M.S.: Und eine außertarifliche Regelung?
344 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.M.: Wie willst du das machen? Tariftechnisch geht es nicht. Eine andere Frage ist, wie kann Solidarität geübt werden und zur handfesten, materiellen Hilfe werden? Da gibt es meines Erachtens nur zwei Mechanismen, die überwacht werden und die greifen können. Das ist die Steuerpolitik und das ist die Sozialpolitik. Der Osten ist ungeliebt, die Mauer war eigentlich ganz schön, die Grenze gar nicht so schlecht aus unserer Sicht. Das wird immer deutlicher. Als Gewerkschaft musst du gucken, dass du auch in der Tarifpolitik ein Stück weit einen Beitrag dazu leistest, dass im Westen noch einigermaßen Akzeptanz erhalten wird für den Osten. Wenn du den West-Mitgliedern sagst, also für euch gibt es die nächsten drei bis fünf Jahre nichts, dann ist der Teufel los. Das kriegst du nicht hin. Es war einfach, in den 60er Jahren zu Weihnachten Kerzen in die Fenster zu stellen für die Brüder und Schwestern im Osten. Das war kein Problem, die Kerzen haben nur Pfennige gekostet. Aber heute real Verzicht zu leisten, ist unglaublich schwierig. Und trotzdem denke ich, muss es sein. Ich glaube nicht, dass man auf Dauer so weitermachen kann, wie man das jetzt tut, nur muss es mit den geeigneten Mitteln geschehen. Ich glaube, dass da die Gewerkschaften eher eine realistische Einschätzung über die Entwicklung in den Köpfen der Menschen hatten. Wir haben geahnt, was auf uns zukommt. Die Haltung der Gewerkschaften ergab sich daraus, dass sie nicht unbedingt an der Spitze der Vereinigung standen und zum anderen, dass sie sehr konservative Organisationen sind. Wir sind ja nicht die Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern wir sind heute, das hängt wahrscheinlich mit unserem Alter zusammen – 100 Jahre und etwas mehr – zu Besitzstandsorganisationen geworden. Den Leuten jetzt zu erzählen, sie müssten auf etwas verzichten, ist unglaublich schwierig. Das schafft nur eine dynamische, neue Organisation. Die Gewerkschaften werden sich erst wieder irgendwann dahin entwickeln müssen, aber im Augenblick sind sie nicht in dem Zustand, in dem sie das leisten könnten. Wenn Besitzstandswahrung das wichtigste Wort im Sprachschatz der Gewerkschaften ist, dann weißt Du, wie konservativ sie sind. Der Gründungskongress der ÖTV in der DDR war ein besonderes Erlebnis, bei dem auch Einsamkeit deutlich geworden ist. Meine Kollegen und ich haben den Kongress gemeinsam mit den Kollegen aus dem Osten und den Beratungssekretären organisiert. Wir waren aber auf dem Kongress völlig allein. Andere Teilnehmer der ÖTV aus dem Westen saßen am Besuchertisch, guckten sich das alles belustigt an und hofften vielleicht, dass das alles in die Hose geht. Es war eine sehr schwierige Situation. Der Vorvorabend vor dem Kongress in Magdeburg war auch so eine schwierige Situation. Ein Tanz auf dem Seil ohne doppelten Boden. Man hätte abstürzen können bei der Aussage: Nicht mit den Altfunktionären! Die Auflösung der Alt-Gewerkschaften, ich habe an zwei Kongressen teilgenommen, dem der IG Transport und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, war hochinteressant. Es war schon ein Erlebnis, dass durch die Selbstauflösung solcher Organisationen die Gewerkschaftseinheit möglich würde und wie sich einige Altfunktionäre, die wussten, was das für sie bedeutete, noch dagegen aufgelehnt haben. Dann diese Nacht vom 2. auf den 3. Oktober in Berlin. Wir sind vom Westen aus durch das Brandenburger Tor gelaufen, weiter Unter den Linden bis ins Nikolaiviertel und haben dort zusammen mit der Vorsitzenden ein bisschen gefeiert. Das war sehr schön.
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Werner Ruhnke Leiter der Informationsstelle des ÖTV-Hauptvorstandes in der DDR Interview vom 10. September 1991 W.R.: Ich war bis zur Wende in der ÖTV-Bezirksverwaltung Berlin beschäftigt als Gewerkschaftssekretär für die Bereiche Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Automation und Vertrauensleute. Im Wesentlichen als Mädchen für alles. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum gleich, als die Wende stattfand, bei mir besonders viel Arbeit anfiel. Immer, wenn einer sich nicht auskannte oder Kolleginnen und Kollegen aus der damaligen DDR kamen, die nicht direkt einzuordnen waren, dann wurden die eben in die 4. Etage geschickt. Gleich nach der Maueröffnung sind wir geradezu durch Kolleginnen und Kollegen aus dem Ostteil der Stadt überrannt worden. Wobei man sagen muss, dass anfangs viele dabei waren, die vorher wohl sehr linientreu gewesen waren. Ich habe dies erst gar nicht gemerkt. Es waren Leute, die gedacht haben, jetzt holen wir uns schnell die Informationen drüben bei der ÖTV, gehen damit zurück in unseren Betrieb oder unsere Verwaltung, und wir sind dann diejenigen, die die ersten Kontakte geknüpft haben. Diese wollten sich damit schmücken, dass sie schon drüben waren, dass sie Bescheid wussten und signalisieren, dass sie sich ganz schnell gewendet haben. Allerdings hat man dann doch relativ schnell ein Gespür dafür entwickelt, was einer bisher gemacht hat und wie er sich verhielt. Ähnliche Erlebnisse hatte ich gleich am Anfang übrigens auch mit der Arbeitgeberseite. Auch da gab es Arbeitgeber, die mit einem Affenzahn auf einmal die kapitalistische Produktionsweise kannten, aber in so einer Einfachform, wie sie sie aus ihren ML-Schulungen wohl kannten. Also die primitivste Form vom Kapitalismus. Und sie meinten dann, diese auch als Arbeitgeber anwenden zu müssen. An der Wand war jedoch noch so ein weißer Fleck. Da wusste man, dort hing vorher das Bild von Honni. Wenn einer klug war, hatte er jetzt eine Weltkarte drüber gehängt. Das waren die ersten Eindrücke. Wir mussten ja damals, um in die Betriebe und Verwaltungen zu kommen, noch Eintrittsgeld bezahlen, diese 25 Mark Zwangsumtausch. M.S.: Seid ihr vor dem 9. November schon drüben gewesen? W.R.: Nein, es gab noch eine Zeitlang, ein paar Monate oder Wochen zumindest, immer noch diesen Zwangsumtausch und es gab ja noch eine Grenze. Die Mauer war zwar gefallen, aber es gab auch noch Passierscheine. Zum Teil haben sie dann die Augen zugedrückt, aber eine ganze Weile musste man auch noch diese 25 Mark zahlen. Manchmal bin ich auch reingekommen, indem ich sagte, ich komme von der Gewerkschaft, ich bin eingeladen. Anfangs waren wir ja alle nicht sicher, was aus dieser Entwicklung wird. Bleibt das erstmal ein eigener Staat? Es gab die Thesen von Kohl zur Konföderation und wir wussten nicht, wie weit der DDR-Staat abgewirtschaftet und wie wenig davon zu retten ist. M.S.: Bist du mehr auf persönliche Einladung rübergegangen oder war das eine Entscheidung des Bezirksvorstandes? W.R.: Im BV wurde nichts beschlossen und nichts diskutiert. Das war einfach notwendig rüberzugehen, und das war auch allen klar. Die Kollegen haben uns ja eingeladen. Wir haben ihnen das natürlich zum Teil auch angeboten. M.S.: Was wollten sie vor allem wissen, was hat sie interessiert, was haben sie gefragt?
346 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.R.: Das allererste war natürlich, wie man freie und demokratische Gewerkschaften aufbauen kann. Das hat anfangs eine größere Rolle gespielt als später. Und dann war gleich die nächste Frage nach Betriebsräten und Personalräten und nach Arbeitsrecht. Das allererste war aber, wie können wir die Gewerkschaftsarbeit auf demokratische Beine stellen. Wobei das aber nur eine sehr kurze Phase war, vielleicht war das auch mehr eine bestimmte Auslese oder ein Zufall, dass solche Leute nun ausgerechnet bei mir gelandet sind. M.S.: Hatten sie denn ein Bewusstsein davon, dass der FDGB keine solche demokratische Gewerkschaft war? W.R.: Ja, wobei das aber sehr zwiespältig war. Auf der einen Seite haben sie den FDGB abgelehnt und waren der Meinung, das sei ein Transmissionsriemen der Partei, das ist im Prinzip alles die gleiche Mischpoke in jedem Betrieb, gemeint war damit das Dreigestirn Betriebsleiter, Parteisekretär und Gewerkschaftssekretär. Der Gewerkschaftssekretär kam in der Hierarchie weit, weit hinter dem Parteisekretär und hinter dem Betriebsleiter und hatte eine sehr untergeordnete Rolle. Das war ihnen klar, andererseits war ihnen aber auch wichtig, dass ihnen die Mitgliederjahre im FDGB anerkannt werden. Es war sehr zwiespältig; wenn einer sich im Betrieb als Vertrauensfrau oder Vertrauensmann betätigt hat, dann hat er das oft auch gesagt. Das galt nicht als diskreditierend, sondern das galt schon als eine Arbeit, die auch bei den Kolleginnen und Kollegen anerkannt worden war. Übrigens auch diese Arbeit in den Schiedsstellen oder Schiedskommissionen. Auch das wurde immer freimütig gesagt. Aber alles, was an Funktionen darüber lag, haben wir nicht freiwillig erfahren. Das haben sie uns nicht gesagt. Da wussten sie eben, dass das von uns auch sehr misstrauisch abgeklopft werden würde. Und wir haben natürlich sehr schnell mitgekriegt, dass es auch eine Hierarchie in der Ausbildung für Gewerkschaftsfunktionäre gab. Wenn einer drei Jahre auf der Fritz-Heckert-Schule in Bernau war, dann hatte er eben einen bestimmten Stand erreicht, ebenso, wenn einer in Moskau oder weiß der Teufel wo war. Das waren eben alles Dinge, die eine Rolle gespielt haben für unsere Bewertung der Leute, mit denen wir es zu tun hatten. M.S.: Was habt ihr geantwortet auf die Frage: Wie baut man freie Gewerkschaften auf? W.R.: Wir haben von Anfang an unser Modell im Kopf gehabt. Jedoch muss ich sagen, dass das wieder dazu beigetragen hat, unser eigenes Modell zu hinterfragen. Wir haben in manchen Punkten eine unangenehme Ähnlichkeit im Organisationsaufbau und in bestimmten Strukturen wahrgenommen. Und wir hatten manchmal Schwierigkeiten, zu erklären, dass gleiche Wörter oft etwas anderes bedeuten. Ich denke, dass wir diese Schwierigkeit immer noch nicht ganz überwunden haben. Wir sind manchmal heute noch nicht sensibel genug dafür. Wenn zum Beispiel der Kreisvorstand eine Liste vorlegt mit den Kandidatinnen und Kandidaten für den Bezirksvorstand oder für den Gewerkschaftstag und diese ist ausdiskutiert und abgeschlossen, dann braucht auch gar nicht mehr viel diskutiert werden. Aber es kommt bei den Mitgliedern eben nicht besonders gut an. Das erinnert sie an alte Zeiten. Die Frage nach freien und demokratischen Gewerkschaften war vor allem immer gerichtet auf die Arbeit im Betrieb. Also, ich habe selten Fragen nach überbetrieblicher Gewerkschaftsarbeit gestellt bekommen. Das hat es kaum gegeben, das hat die Leute nicht interessiert. Sie wollten im Betrieb etwas verändern. Sie sind im Betrieb jetzt angesprochen worden, da sind bestimmte Aufgaben auf sie zugekommen, und diesen Anforderungen wollten sie gewachsen sein. In der öffentlichen Diskussion hat das kaum eine Rolle gespielt, weil die Gewerkschaften nach meiner Wahrnehmung bei der ganzen
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Wende eine sehr schwache Rolle gespielt haben. Kaum etwas, was sich politisch bewegt hat, also z.B. die Massendemonstrationen, hat irgendetwas mit den Gewerkschaften zu tun gehabt, Man kann wirklich sagen, dass die Arbeitnehmer, die abhängig Beschäftigten, kaum eine Rolle in dieser ganzen Wende-Geschichte gespielt haben. M.S.: Auf dem außerordentlichen Kongress des FDGB wurde die alte Grundstruktur zerschlagen, also der Dachverband entmachtet und selbständige Einzelverbände gegründet. Habt ihr auf diesen Prozess Einfluss genommen oder Einfluss gehabt? W.R.: Nein. Es gab zwar einzelne, die sich bei uns erkundigt haben, die Rat und Hilfe wollten: Wie gehen wir da vor, was machen wir da? Aber auf dem FDGB-Kongress, ich habe selber daran teilgenommen, da haben die alten Kader im Großen und Ganzen noch das Sagen gehabt. Ich habe da nichts erlebt von einem ernsthaften Versuch, demokratische Formen einzuführen. Außerdem war dieser Kongress ja total chaotisch. Da war Peplowski als Kandidat ausgesucht und dann durchgefallen. Gewählt wurde die Mausch, die irgendwo aus der Versenkung gezogen wurde. Sie hatten alle ja nach wie vor die Illusion, dass, wenn sie nur ganz radikale Forderungen stellten, sie die Arbeitnehmer hinter sich kriegen würden. Die wollten sogleich die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt haben. Das war alles noch sehr altbacken und das hat in den Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort keine besonders große Rolle gespielt. Es gab jedoch eine Ausnahme, und zwar die Diskussion um die Frage, brauchen wir ein Gewerkschaftsgesetz bzw. wollen wir Betriebsgewerkschaften oder wollen wir Betriebs- und Personalräte haben. Damals haben wir darauf orientiert – ich jedenfalls, denn das war auch in der ÖTV nicht unumstritten -, dass dieses Gewerkschaftsgesetz nicht durchkommen kann und dass es deshalb falsch sei, darauf zu setzen. Das Gesetz hatte auch ganz viele Macken, zum Teil überzogene Forderungen mit Gesetzgebungsmöglichkeiten und so'n Kram. Eben Forderungen, die bei uns abgelehnt werden, weil sie den Einfluss des Staates auf die Gewerkschaften zur Folge haben. Mir ist berichtet worden, dass in vielen Betrieben und Verwaltungen der Verlauf dieses Kongresses am Radio verfolgt wurde. Da gab es wohl quasi eine ununterbrochene Berichterstattung über den Kongress. Das Chaos, das über den Äther kam, soll dazu beigetragen haben, dass die Beschäftigten sagten: Also den FDGB kann man nun wirklich vergessen. M.S.: Hast du diese Stimmung durch deine Besuche mitbekommen? W.R.: Wenn man mit einem ehemaligen FDGB-Vertreter auftrat, der im Betrieb bekannt war, hatte man ganz schlechte Karten. Man wurde dann geradezu abgelehnt von den Kolleginnen und Kollegen. Andererseits war es auch so, dass die FDGB-Funktionäre, die Hauptamtlichen, mit uns gar nicht in die Betriebe gehen wollten und auch nicht gegangen sind. Die haben das wohl früher auch nicht gemacht. Wir haben den Zugang zu den Betrieben nicht über die Hauptamtlichen bekommen. Die haben sich in den Betrieben nicht sehen lassen. Waren offenbar auch gar nicht in der Lage, auf solchen großen Veranstaltungen zu reden und da Rede und Antwort zu stehen. Wenn einer mal redete, dann hat man schon gespürt nach ein paar Sätzen, der bringt's nicht, der wird mehr abgelehnt als dass ihm zugehört wird. M.S.: Gab es hier in der Bezirksverwaltung Berlin eine Diskussion darüber, ob und wie die ÖTV Einfluss nehmen will? W.R.: Es hat keine einheitliche Linie gegeben, die konnte es eigentlich auch gar nicht geben. Ich habe das noch nie erlebt in den 19 Jahren, die ich jetzt hauptamtlich bin, dass es in der Gewerkschaft so eine offene Situation gegeben hat. Und ich bin der Auffassung,
348 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview dass das auch richtig war. Es gab einen Brief, von dem wird dir Margareta Fohrbeck erzählt haben, an alle grenznahen Kreisverwaltungen mit der Aufforderung: Macht! Geht rüber! Helft!, Rennt los! Hauptsache, ihr tut was. Wir wissen zwar auch nicht so genau, wie und was, aber wir werden das Kind schon irgendwie schaukeln. Ich war dann später, als ich zum Hauptvorstand versetzt worden bin, in dem Arbeitskreis des DGB zur Deutschlandpolitik und habe da die Diskussionen aus den anderen DGB-Gewerkschaften mitbekommen. Auch dort war die Unklarheit ähnlich, z.B. die Diskussion über das Gewerkschaftsgesetz. Es waren auch viele Kolleginnen und Kollegen im Westen der Auffassung, das ist viel besser als unser duales System der Interessenvertretung, das wäre auch ein Modell, ein Konzept für uns im Westen. Das war eine Zeitlang ein großes Problem und es hat uns viel Kraft gekostet, es auszuräumen. Dazu kommt, dass viele DDRKolleginnen und Kollegen es nicht gewohnt waren, unterschiedliche Meinungen aus der gleichen Organisation zu hören. Die einen sagten, Personalräte, die haben ja kaum Rechte, die sind ja das Allerletzte; wieder andere sagten, das Personalvertretungsgesetz kommt auf euch zu, darauf müsst ihr euch einstellen. Das hat ziemliche Verwirrung gestiftet. Also, von daher habe ich direkt miterlebt, wie unterschiedlich die Positionen bei uns waren. Es gab in der ÖTV sehr unterschiedliche Auffassungen über die Möglichkeiten, mit den früheren DDR-Gewerkschaften zusammenzugehen. Da gab es einige, die haben gesagt, die FDGB-Leute haben doch auch nur ihre Pflicht getan, mit denen können wir doch zusammengehen. Sie haben die alten Funktionäre eingeladen und sind hingefahren und haben sich mit denen verbrüdert. Und es gab eben die anderen, die gesagt haben, kein Stück mit denen, die wollen wir nicht, die kommen für uns überhaupt nicht in Frage. Wir haben dann versucht, Kriterien aufzustellen, unter welchen Bedingungen wir bereit sind, mit früheren DDR-Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Das hat letztlich maßgeblich dazu beigetragen, dass sich unser Verhältnis zur IG Bergbau-EnergieWasserwirtschaft der DDR negativ entwickelt hat. Die wussten genau, dass wenn sie mit uns zusammengehen, dass dann ihr hauptamtlicher Apparat keine Chance mehr hat, und darum haben sie sich in das andere Bett gelegt. Eine Beobachtung ist jedoch auch wichtig: Man darf die DDR-Gewerkschaften nicht pauschal über einen Kamm scheren. Es gab große Unterschiede. Und zwar sowohl von Gewerkschaft zu Gewerkschaft, als auch regional. Die Gewerkschaften im Süden der DDR waren beweglicher. Ähnlich wie die ganze politische Bewegung, die ja mehr im Süden stattgefunden hat als im Norden. Zwischen den Gewerkschaften gab es große Unterschiede. Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste (GÖD), vorher Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK), war natürlich viel dichter dran an dem System und da gab es sehr viel mehr Parteigänger und möglicherweise sogar StasiMitarbeiter als eben in der IG Transport, die ja eigentlich eine Industriegewerkschaft war, wo Seefahrer und Busfahrer u.ä. sich organisiert haben. Diese Gewerkschaft ist auch relativ schnell, zu einer Gewerkschaftsarbeit gekommen, die unseren Anforderungen nahe kommt. Mit der IG Transport haben wir auch als erstes einen bestimmten Weg der Kooperation versucht, den wir dann wieder zurücknehmen mussten. Das ist uns nicht leicht gefallen, denn wir hatten ja bestimmte Erwartungen geweckt M.S.: Sag das mal genauer. W.R.: Dass zum Beispiel die Übernahme der Mitglieder anders erfolgen kann, dass eine Art Fusion eher stattfinden kann als mit der GÖD. Es gehörte damals auch zu unserer Politik, die Gewerkschaften nicht gleich zu behandeln. Das musste man einfach machen, weil man sonst ungerecht gewesen wäre. Funktionäre der GÖD durfte man nicht genauso behandeln wie Funktionäre der Gewerkschaft Transport oder der Gewerkschaften
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Gesundheits- und Sozialwesen. Zwischen diesen lagen zum Teil wirklich Welten. Von daher rührte unsere Distanz zu bestimmten Gewerkschaften, die zum Teil auch begründet war durch bestimmte unsympathische Personen (das kommt oft zusammen). Entscheidend war jedoch, deutlich zu machen, dass wir nur mit demokratischen Gewerkschaften kooperieren würden. Diesen Anspruch konnten sie gleichermaßen nicht erfüllen. M.S.: Sind die Kriterien schriftlich fixiert worden? W.R.: Es ist schriftlich fixiert worden in den Vereinbarungen, die wir abgeschlossen haben. Zum Beispiel in den Kooperationsabkommen. Auch die Vorsitzende hat in ihren Reden immer wieder zum Ausdruck gebracht, was wir für Erwartungen stellen und dass wir nur Funktionäre anerkennen, die nach demokratischen Prinzipien gewählt sind. Gerade das konnten die alten FDGB-Gewerkschaften nicht. Sie hatten nicht den Apparat, um demokratische Wahlen durchzuführen. Sie haben uns immer erzählt, dass sie jetzt eine Urabstimmung machen würden, doch das hat nie geklappt. Zum Teil, weil sie nicht in der Lage waren eindeutige Fragen zu stellen, die man mit Ja und Nein beantworten konnte, zum Teil aber auch, weil die Mitglieder diese Fragen nicht beantwortet haben, weil die das nicht mehr interessiert hat, was z.B. die GÖD macht. M.S.: Du bist in Betriebe, in Belegschaftsversammlungen gegangen. Du hast da geredet, Rede und Antwort gestanden. Schildere doch an einem konkreten Beispiel, wie so eine Einladung zustande kam, wie eine solche Versammlung ablief. W.R.: Der allererste Betrieb war die Akademie der Wissenschaften, das muss Anfang November `89 gewesen sein. Da waren Kollegen bei mir, die mir berichtet haben, wie es in ihrem Betrieb zugeht und dass sie einen Personalrat wählen wollten. Viele haben gedacht, wenn man Personalräte hat, dann braucht man keine Vertrauensleute mehr, dann ist mit dem Personalvertretungsgesetz die Gewerkschaft raus aus dem Betrieb. Die Gewerkschaft sei dann nur noch zuständig für Sozialpolitik oder weiß der Teufel was. Im Betrieb wird die Betriebsgewerkschaftsleitung ersetzt durch den Personalrat. Darum ging es in erster Linie. Die Einrichtung der Akademie der Wissenschaften war das Institut für wissenschaftlichen Apparatebau in Adlershof. Diese Kollegen wollten sowohl Mitbestimmung haben bei der Umstellung dieses Betriebes oder überhaupt bei der Entscheidung, wie er weitergeführt werden könne. Sie wollten wissen, wie sie ihren Leiter und die BGL loswerden konnten. Es gab eine Initiativgruppe, die das Personalvertretungsgesetz oder das Betriebsverfassungsgesetz vervielfältigt hatte und das wollten sie als Vertrag mit ihrem Chef vereinbaren. Sie wollten ihn dazu bringen, dass er ihnen eine Art Personalrat zugesteht. Das war eine Veranstaltung, an der sich ungefähr zwanzig Kolleginnen und Kollegen beteiligt haben. Das war so mein erstes und mein eindrucksvollstes Erlebnis. Später kamen ganz viele andere hinterher. Doch das waren dann Personalversammlungen und Betriebsversammlungen, wo schon Interessierte und Engagierte die Vorbereitung gemacht hatten. Diese suchten unseren Rat und unsere Hilfe und haben das dann umgesetzt in ihren Versammlungen. Es war bemerkenswert, dass anfangs überwiegend Leute aus dem mehr intellektuellen Bereich gekommen sind und nicht aus der Stadtreinigung. Gerade aus dem Wissenschaftsbereich waren sehr viele da, die Informationen über den Aufbau demokratischer Gewerkschaften haben wollten. Es ist uns anfangs aufgefallen, dass die Arbeiter ohne unsere Hilfe ganz schnell Arbeiterräte oder ähnliche Gebilde neu gewählt haben – Gewerkschaftskommissionen oder wie immer die das genannt haben. Die Arbeiter sind nicht zu uns gekommen, zur Gewerkschaft, sondern die sind zum Personalrat der BVG gegangen oder zum Personalrat der Stadtreinigung, sozusagen zu ihren Leuten. Sie hatten sehr
350 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview schnell einen Draht auf dieser Ebene. Da waren die Personalräte aus den Eigenbetrieben schon vor uns oft in den Betrieben. Das hat also sehr schnell funktioniert. Die ÖTVFunktionäre haben sich sehr engagiert. Diese Kollegen sind bis nach Dresden runtergefahren, um da bei den Dresdener Verkehrsbetrieben zu helfen, die Betriebsratsarbeit aufzubauen. M.S.: Wie hat sich für dich die Entscheidung gestellt, von der Bezirksverwaltung wegzugehen und für den Hauptvorstand nach Ost-Berlin zu gehen? W.R.: Das ist ganz schnell gegangen. Zuerst haben wir uns im Bezirk klargemacht, dass mit dem vorhandenen Personal die neuen Aufgaben nicht zu lösen waren. Wir haben deshalb die Position vertreten, wir brauchen eine Stelle für jemanden, der nur die Entwicklung in der DDR bearbeitet, der nicht nur die Einzelbetreuung vornimmt, sondern auch konzeptionell arbeitet. Es war unsere Idee, dass ich das für den Bezirk machen soll, und Kurt Lange [ÖTV-Bezirksvorsitzender] hat dann diese Stelle beim Hauptvorstand beantragt. Dieser ist dann auf die Idee gekommen, nicht der Bezirk braucht so eine Stelle, sondern der Hauptvorstand. So wurde die Informationsstelle des Hauptvorstandes eingerichtet. Wobei zunächst gar nicht klar war, dass dies in Ost-Berlin sein sollte, das war uns noch ein sehr fremder Gedanke. Wir diskutierten die rechtliche Stellung für dieses Büro und entweder am 15. Februar oder am 1. März kam ich in diese Funktion. Wir suchten Räume in Ost-Berlin, weil – das war uns schnell klargeworden – es sinnvoll war, direkt vor Ort zu sein. Das hat sich als ausgesprochen hilfreich erwiesen. Dadurch war für die Kolleginnen und Kollegen der Weg zu uns sehr viel leichter und die Kommunikation war auch besser, mit dem Telefon etc. Ich habe mich zwar immer abgenabelt gefühlt vom Westen, aber das war weniger problematisch. M.S.: Du warst dann praktisch ein Ein-Mann-Unternehmen in der Kleinen Auguststraße? W.R.: Das war ja nicht lange. Es hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass das ÖTV-Informationsbüro existiert und das hat schnell deutlich gemacht, dass mit einem Ein-Mann-Betrieb die Aufgabe nicht zu leisten war. Wir waren zu zweit, eine Verwaltungsangestellte war dabei und dann kam sehr schnell eine Stelle vom Bezirk dazu. Dann ging es eigentlich sehr schnell weiter. Meine Aufgabe war es, den Einsatz der Beraterinnen und Berater in den Bezirksstädten zu koordinieren. Außerdem sollte ich die Politik des Hauptvorstandes, sozusagen als Botschafter von Monika Wulf-Mathies, in Ost-Berlin vertreten. Und wir hatten bald Filialen in allen 14 Bezirksstädten. Das waren Kolleginnen und Kollegen, die rübergeschickt worden waren, um vor Ort in den Bezirksstädten zu beraten. Vorher hatten wir mit Pilotfunktion eine Kollegin rübergeschickt nach Frankfurt/Oder. Es war Conny Hintz, gemeinsam mit dem Geschäftsführer von Minden, Jürgen Saft. Die beiden sollten testen, wie ein solches Unterfangen überhaupt angegangen werden könne. Wie ist das z.B., wenn man mit seinem Auto in Frankfurt/Oder ankommt, wo kann man wohnen, mit wem spricht man, auf welche Probleme stößt man, worum muss man sich kümmern, worauf muss man achten, was darf man nicht vergessen, was braucht man? Nach 14 Tagen solcher Erfahrungen sind sie zurückgekommen. Wir haben das ausgewertet beim Hauptvorstand. Wenn ich Hauptvorstand sage, war das im Wesentlichen die Steuerungsgruppe. Dort haben wir versucht, aus den Erfahrungen von Conny Hintz und Jürgen Saft Schlussfolgerungen zu ziehen für den Einsatz der anderen 14 Gewerkschaftssekretärinnen und sekretäre und haben diesen Einsatz vorbereitet in Form eines Wochenseminars im BBZ. Dort wurde informiert über die politische und ökonomische Situation in der DDR. Wir hatten Leute eingeladen, die sich in der DDR auskannten, die etwas erzählen konnten
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über die Strukturen des Staatsapparates der ehemaligen DDR, den es ja zum Teil noch gab. Wir haben erste Einschätzungen versucht, wie wir vorgehen wollten, was wir machen wollten. Das war sozusagen der Einstieg in diese Arbeit. M.S.: Mit welchem Auftrag sind diese Berater am Anfang rübergeschickt worden? Sollten sie nur beraten oder gab es schon weitergehende Vorstellungen, wie der Aufbau demokratischer Gewerkschaften gefördert werden könne? W.R.: Das hat anfangs überhaupt keine Rolle gespielt. Nachträglich wundert einen das zwar, weil es jetzt alles sehr logisch aussieht, wie eine Art Stufenverfahren. Als die Berater losgeschickt wurden, wussten wir noch nicht, was mal werden würde. Ich kann mich noch an eine Sitzung der Steuerungsgruppe erinnern, in der wir die verschiedenen Modelle, die verschiedenen Möglichkeiten des Zusammengehens mit DDR-Gewerkschaften diskutiert haben. Also, ob wir eine ÖTV in der DDR aufmachen, ob wir mit den bestehenden Gewerkschaften fusionieren oder ob es einen Zwischenweg gibt. All diese Sachen waren anfangs völlig undiskutiert und waren später bei den Beraterinnen und Beratern strittig. Du wirst dich erinnern, dass es sehr lange unter kritischen Kolleginnen und Kollegen und auch in der öffentlichen Diskussion eine Argumentation gab, die lautete: Wir dürfen denen nichts überstülpen, wir dürfen da nicht so eine Art Landnahme vornehmen. Es gab auch ÖTV-Beraterinnen und -Berater, die gesagt haben, bis hierhin und nicht weiter, wenn ihr das von mir verlangt, dann gehe ich zurück, das kann ich nicht mehr mitmachen, das ist nicht das, was ich mit meiner demokratischen Vorstellung verbinden kann. Es war für uns sehr wichtig, dass in diesem Beraterkreis so offen und kontrovers diskutiert werden konnte. Wir haben es geschafft, ein Klima hinzukriegen, auch in der Zusammenarbeit mit dem gHV, das es ermöglichte, sich wirklich die Meinung zu sagen und manchmal sind ordentlich die Fetzen geflogen, auch zwischen gHV und Beraterinnen und Beratern. Das hat sehr viel Spaß an dieser Arbeit gemacht. M.S.: Hast du eine koordinierende Funktion für die Berater übernommen? W.R.: Ja, das auch. Also wir haben Briefe und Material verschickt. Wichtig waren jedoch die Beratertreffen. Wir haben uns oft getroffen, manchmal jede Woche einmal, manchmal alle 14 Tage. Das war anfangs dringend notwendig. Es gab einen ganz großen Abstimmungsbedarf. Viele haben sich auch mit ihren Bezirksvorsitzenden, mit den sogenannten Partnerbezirken abgestimmt. Das hat zum Teil Schwierigkeiten gegeben, weil die sehr weit weg waren und meinten, dass die Berater in der Bezirksstadt, für die sie zuständig waren, ihre Botschafter sind und dort ihre Politik zu vertreten hätten. Wenn z.B. der Bezirksvorsitzende der Meinung war, wir pflegen jetzt die große Bruderschaft mit dem früheren FDGB und mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste bzw. den alten Funktionären, hat das oft die Arbeit des Beraters vor Ort sehr gestört. Es haben sich auch Leute getummelt ohne offiziellen Auftrag und das hat zusätzliche Konflikte gebracht. Es hat eine große Ungleichzeitigkeit unserer Arbeit in den verschiedenen Bereichen, in den verschiedenen Städten gegeben, wo die Beratungssekretäre eingesetzt waren, weil sie mit unterschiedlichen Philosophien auftraten oder weil die Beratungssekretäre wechselten und nicht genug Kontinuität entstehen konnte. Darunter leiden wir, wie ich das wahrnehme, und ich habe ja viele Kreisverwaltungen von innen gesehen und viel mitbekommen durch viele Gespräche, zum Teil heute noch in den Kreisverwaltungen. M.S.: Wie sind die Kollegen als Berater ausgewählt worden? Haben sie aus politischem Interesse sich selbst beworben oder spielten andere Erwägungen eine Rolle?
352 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview W.R.: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Es kann durchaus sein, dass der eine oder andere Kollege Motive hatte, die sich nicht deckten mit unseren Motiven. Vielleicht waren es sogar nur finanzielle Motive, denn diese Tätigkeit wurde gar nicht so schlecht abgegolten. Und dennoch, selbst wenn jemand mit solchen Motiven dabei war, hat er sich durch die Arbeit, durch dieses Erlebnis, verändert. Es hatte sich eine Stimmung eingestellt, die wirklich sehr beeindruckend war. So sind Kollegen, die man vielleicht schon als Sozialfall in der ÖTV abgeschrieben hatte, auf einmal mit dieser neuen Aufgabe über sich hinausgewachsen und haben ein Selbstwertgefühl entwickelt. Sie sind mit offenen Armen empfangen worden, das, was gefragt wurde, war von ihnen zu beantworten, und sie haben sich toll eingearbeitet. Es gab auch einige, die nicht zu Rande gekommen sind, die diesen Entwicklungsprozess nicht geschafft haben. Diese haben das Handtuch geschmissen. Zum Teil waren die Probleme auch aus dem Westen verursacht, z.B. wenn Kollegen nur für 4 Wochen oder zum Teil im 14-tätigen Rhythmus in die DDR geschickt wurden. Das war blödsinnig, so konnte man diese Arbeit nicht machen. Anfangs war das in Leipzig so. Da wurde sehr oft gewechselt und bei den Beratertreffen kreuzte immer jemand anderes auf. Damit will ich den Kolleginnen und Kollegen nicht das Engagement absprechen. Sie haben es ja dadurch noch schwerer gehabt. Insgesamt war es für mich sehr beeindruckend, wie der riesige Tanker ÖTV in dieser Situation auf einmal in Fahrt gekommen ist, wie auf den verschiedenen Decks das Zusammenspiel geklappt hat und wie ausgesprochen unbürokratisch z.B. die Berater mit VW-Bussen und ihrem Material ausgestattet wurden. Da wurde nicht auf die Mark geguckt, es war wirklich ein politischer Geist da, den man, glaube ich, gerade in so einer Riesenorganisation wie der ÖTV, nicht so oft erleben wird. Das hat uns sehr großen Auftrieb gegeben. Vielleicht war es ein richtiger Glücksfall für die ÖTV, dass wir seit einigen Jahren über eine Organisationsreform diskutierten. Der Antrag 528 hat ja schon fast eine gewisse Tradition und wurde zur Grundlage eine gewisse Philosophie der flexiblen Vorgehensweise. Dieser organisationspolitische Beschluss 528 war nicht nur ein Beschluss des Gewerkschaftstages, der nur tote Buchstaben enthielt. Ich glaube, man muss diesen Beschluss, der sehr umstritten ist in der Organisation, im Zusammenhang sehen mit dem Wertewandel in unserer Gesellschaft, der sich ja in den letzten zehn, zwölf, dreizehn Jahren vollzogen hat. Dieser Individualisierungsprozess hat auch die Gewerkschaften erfasst in ihrer ganzen Buntheit und Vielfalt. Auslöser für den Schritt, über eine Organisationsreform nachzudenken, war natürlich die Sorge, dass die Finanzen nicht mehr ausreichen, um bei der sich ändernden Mitgliederstruktur weiter unseren Aufgaben gerecht werden zu können. Es wurde darüber nachgedacht, was das eigentlich Neue in der Organisation war, wie sie sich jetzt zusammensetzt. Was bedeutet es, wenn es immer weniger Leute mit vollen Arbeitsplätzen gibt, wenn immer mehr Teilzeitbeschäftigte, immer mehr Frauen, immer mehr Angestellte, immer mehr junge Menschen, eine ganz andere Haltung zur Organisation einnehmen. Sollen wir uns von denen trennen, die weniger Beitrag zahlen, und lieber klein und stark sein, d.h. uns weiter auf die Arbeiter konzentrieren, oder müssen wir uns um die Angestellten kümmern? Wie gehen wir vor, wie verändern wir die Organisation, wie verhindern wir, dass eines Tages unser Geld nicht mehr reicht, um dem Streikfond etwas zuführen zu können? Diese Diskussion hatten viele im Kopf, als sie in die DDR gegangen sind. Sie hat geholfen, dass wir relativ offen und unvoreingenommen reagierten. M.S.: Wie hat sich deine Tätigkeit im Berliner Büro konkret entwickelt und worin siehst du ihre Bedeutung? W.R.: Dieses Büro hatte drei oder vier verschiedene Aufgaben. Es war einmal die Informationsstelle des Hauptvorstandes, das hieß den Hauptvorstand oder die gesamte Organi-
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sation zu informieren über das, was in der DDR passierte. Des Weiteren der ÖTVVorsitzenden zuzuarbeiten, sie zu informieren. Wir hatten Treffen der Geschäftsführer der grenznahen Kreisverwaltungen, wir hatten Treffen mit den Bezirksvorsitzenden, bei denen über unsere Position, über unsere Strategie, über unser Vorgehen informiert wurde. Zu diesen Treffen bin ich eingeladen worden. Es gab auch die umgekehrte Informationsvermittlung. Die Menschen in der DDR mussten darüber informiert werden, welche Vorstellungen und Einschätzungen beim Hauptvorstand und in der Organisation über die weitere Entwicklung in der DDR vorhanden waren. Weiter musste ich die Kontakte zum DGB pflegen, d.h. zum Arbeitskreis Deutschlandpolitik. Auch gab es genug Gründe zu anderen Gewerkschaften Kontakt aufzunehmen, um die Politik abzustimmen. Wir hatten als ÖTV besonders viele Abgrenzungsprobleme, mit denen ich anfangs als erster zu tun hatte, weil ich das zuerst mitgekriegt habe. Da haben mich die Kollegen, die Beratungssekretäre, angerufen und gefragt: Was machen wir denn da? Die HBV will in die Sparkassen rein, oder die IG Medien bei den Theater und Bühnen. Es gab kaum eine DGBGewerkschaft, wo es nicht Überschneidungen gab. M.S.: Bist du von den Ost-Gewerkschaftern in die Auseinandersetzung einbezogen worden? W.R.: Natürlich bin ich von den FDGB-Kollegen reingezogen worden. Sie haben mich immer als denjenigen benutzt, bei dem sie ihre Kritik und ihre Angst loswerden konnten. Sie haben unsere Distanz ja gespürt. Sie wussten, dass wir sehr schnell durchschaut hatten, dass sie in den Betrieben wenig zu bestellen hatten, und haben deshalb immer wieder versucht, Belege zu liefern, dass sie sich erneuert haben, dass sie jetzt demokratisch gewählte, legitimierte Funktionäre waren. Auf unserer Seite gab es die Diskussion – ich war durch die Steuerungsgruppe direkt dabei -, ob die FDGB-Gewerkschaften sich erneuern könnten und was für uns der richtige Weg sei. Das ist nach wie vor für mich eine ungeklärte und schwer beantwortbare Frage. Es gab ein zwiespältiges Verhalten: Auf der einen Seite haben die Mitglieder der FDGB-Gewerkschaften ihre Gewerkschaften entschieden abgelehnt, haben denen keine Stulle mehr abgekauft, wie die Berliner sagen, aber sie sind andererseits auch nicht ausgetreten. Sie sind nicht mit fliegenden Fahnen, wie wir gedacht hatten, in die neugegründete ÖTV in der DDR übergetreten, oder haben nicht in Initiativen zum Aufbau der OTV in der DDR mitgemacht. Es gab ja anfangs Initiativgruppen in verschiedenen Städten, die wir gepflegt und gehegt haben, weil wir darin Pflänzchen einer neuen Gewerkschaftskultur von der Basis her sahen. Wir haben die richtig hochgepäppelt, damit sie uns nicht wegrutschen. M.S.: War denn die Gründung einer selbständigen ÖTV in der DDR überhaupt ein ernsthafter Versuch? W.R.: Anfangs war das ein ernsthafter Versuch, wobei man sagen muss, dass dahinter eine Art Doppelstrategie stand. Keiner von uns konnte ganz genau sagen, wie diese ÖTV in der DDR angenommen wird. Und es hat uns schon überrascht, dass die Bereitschaft, in diese ÖTV in der DDR einzutreten, bei den Mitgliedern so gering war. Ich führe es zum Teil darauf zurück, dass diese ÖTV in der DDR immer noch das Anhängsel DDR hatte, und die Mitglieder sehr genau gespürt haben, das ist noch nicht das, was wir wollen, und solange noch nicht ist, was wir wünschen, bleiben wir in der alten DDR-Gewerkschaft. Kann sein, dass es mehrere Faktoren waren, die dieses Beharrungsvermögen ausgelöst haben. Zum Beispiel der Anspruch auf einen Ferienplatz, den man in dem Sommer doch noch haben wollte, und dann wusste man nicht, was ist eigentlich mit der Sozialversicherung, wenn ich austrete etc. Erst als klar war, ein Einzelbeitritt zur ÖTV (West) ist mög-
354 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview lich, sind die Beitrittserklärungen waschkörbeweise gekommen. Sie haben also offenbar wirklich auf diesen Augenblick gewartet. Es war ein ernsthafter Versuch, eine selbständige ÖTV in der DDR auszubauen. Dafür sprachen mehrere Gründe. Wir mussten sie gründen, um denjenigen, die in keine DDR-Gewerkschaft gepasst haben, eine Alternative zu geben: Feuerwehr, Soldaten und solche Leute; und für Kollegen, die nicht in eine DDR-Gewerkschaft eintreten wollten. Auch wegen der Abgrenzungsprobleme brauchten wir die ÖTV in der DDR. Der vierte und vielleicht wichtigste Grund war, dass wir durch die ÖTV in der DDR tarifpolitisch handlungsfähig geworden sind; selbst wenn das nur ein ganz kleiner Club war. Wir waren nun im Kreis der DDR-Gewerkschaften mit einer Stimme vertreten. Sonst hätte Willi Hanss gar nicht Verhandlungsführer sein können. M.S.: Die ÖTV (West), obwohl sie in der DDR gar nicht existierte, hat im Sommer den Tarifabschluss über die 300 Mark-Zulage gemacht. Das war durch die ÖTV in der DDR legitimiert. W.R.: Ja, und es war zusätzlich legitimiert durch die Berliner Mitglieder, denn schon im Juni konnten Ost-Berliner Kollegen der ÖTV beitreten, weil die Satzung das zuließ. Wir waren also in der Lage, die DDR-Gewerkschaften tarifpolitisch unter Druck zu setzen. M.S.: Obwohl diese ÖTV in der DDR nur ein Schattendasein geführt hat. W.R.: Das wusste auch keiner, dass die Mitglieder nicht in Scharen hinströmen. Es ging ja alles sehr schnell. Die alten FDGB-Gewerkschaften gerieten so unter Druck, dass sie bereit waren, Vereinbarungen zu unterschreiben, von denen wir nie gedacht hätten, dass sie dies tun würden. Sie haben zuletzt praktisch die Vereinbarung unterschrieben, dass sie sich selbst liquidieren. M.S.: Was würdest du als die entscheidende Ursache dafür ansehen, dass die FDGBGewerkschaften aufgeben mussten oder aufgegeben haben? W.R.: Das kann man ganz klar sagen. Sie waren nicht in der Lage auch nur ansatzweise jene Gewerkschaftsarbeit zu machen, die notwendig gewesen wäre. Wo das gelungen ist, verlief dieser Prozess auch schmerzhafter, wie zum Beispiel bei der IG Transport, die in der Lage war, Tarifverträge abzuschließen und auch ein gewisses Selbstbewusstsein zu entwickeln. Für die Gewerkschaft war es schwerer, diesen Schritt zu gehen, obwohl auch sie gesehen hat, dass sie es wohl alleine nicht packen. Es gab einfach aus ihren eigenen Reihen keine Kraft zur Erneuerung, weil sie gespürt haben, dass ihre Mitglieder dies nicht wollen. Am besten ist es wie im Westen, das war die oberste Maxime, und wer kannte schon die Vorsitzenden dieser DDR-Gewerkschaften. du musst dir noch mal in Erinnerung zurückrufen oder klarmachen, dass die überhaupt keinen funktionierenden Apparat hatten, weil die Einzelgewerkschaften praktisch nicht existierten im ehemals zentralistischen FDGB-Dachverband. Ich bin nicht sicher, ob die überhaupt Mitgliederkarteien hatten. Die Hauptamtlichen haben nicht mehr funktioniert, sondern sind oft nach dem Prinzip: Rette sich, wer kann, abgehauen. Jedenfalls jene, die sich anderswo eine Chance ausrechneten, z. B. bei der Sozialversicherung. Übriggeblieben ist zum Teil die zweite Reihe. Ich habe das für tragisch gehalten. Ich war mal von den Hauptamtlichen einer Gewerkschaft eingeladen. Die wollten von mir wissen, was aus ihnen wird, ob wir uns auch um sie kümmern. Sie waren der Meinung, dass man sie doch nicht einfach hängen lassen kann. Das waren Fahrer. Aber auch Sekretärinnen und Sekretäre. Es war erschütternd. Sie waren nicht in der Lage, mit wenigen Ausnahmen, den einfachsten Anforderungen einer Gewerkschaftsarbeit gerecht zu werden, also all das aufzubauen, was bei uns in vielen Jahren gewachsen ist. Darunter leiden wir immer noch. Es gibt in den
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Betrieben und Verwaltungen keinen Unterbau. Wir haben eine große Gewerkschaft, aber keine betriebliche Basis, die notwendigerweise zu einer funktionierenden Gewerkschaft dazugehört. Das ist das Ergebnis der DDR-Zeit. Die Kollegen gehen zwar auf die Straße und folgen unseren Aufrufen, stecken sich auch unsere Stecker an, aber sie sind nicht bereit im Betrieb einen Stapel Flugblätter zu verteilen, ein schwarzes Brett zu betreuen oder sich als Vertrauensfrau oder Vertrauensmann wählen zu lassen. M.S.: Warum ist das so? Wieso zeigt diese, ich nehme mal den traditionellen Begriff Arbeiterklasse – so wenig Engagement? Die Wende bezog ja ihre Kraft auch nicht aus den Betrieben. W.R.: Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Ich glaube, dass es sehr verschiedene Faktoren sind, die da eine Rolle spielen. Sowohl Faktoren, die in der Vergangenheit liegen, wo man es nicht gewohnt war, sich selbständig zu betätigen. Doch das müsste genauer untersuchen werden. Als auch die Faktoren von heute, z.B. die Angst als Vertrauensmann nicht geschützt zu sein oder auch ein bestimmtes Nutzendenken: Was bringt mir das eigentlich? Zum Teil gibt es das Missverständnis, dass wir keine Vertrauensleute bräuchten, weil wir jetzt Personalräte hätten. Auch gibt es eine gewisse allgemeine Distanz zur Gewerkschaft. Während bei uns, in unseren gewerkschaftlichen Gremien, die Personalräte die starken Figuren sind, nehme ich die Personalräte in der ehemaligen DDR kaum wahr. Sie erscheinen nicht ohne weiteres bei uns. Sie lassen sich bei uns nicht sehen. Ich weiß auch nicht, was dies im Einzelnen für Gründe hat. Vielleicht haben sie auch die Angst, dass wir ihnen irgendwas abverlangen, was sie nicht leisten können oder nicht leisten wollen. M.S.: Ich habe den Eindruck, dass bei den Ost-Kollegen das Bewusstsein vorhanden ist, die Wessis wüssten sowieso alles besser. Die Geschäftsführer und Bezirksleiter sind ja alles Wessis und die bauen eine West-Gewerkschaft auf. W.R.: Natürlich. Aber das wird doch auch gewollt. Das ist ein ganz zwiespältiges Denken. Auf der einen Seite empfinden sie die ÖTV nicht als ihre Organisation. Sie haben sie auch nur begrenzt mitaufgebaut. Auf der anderen Seite sagen sie, nur so kann es funktionieren. Dieses Stellvertreterdenken hat hier eine besondere Krönung erfahren. Sie trauen sich selbst und ihren eigenen Leuten nicht zu, die Organisation selbst zu machen, misstrauen aber auch den Wessis. Darum habe ich mich stark dafür gemacht, dass zumindest die Stellvertreterfunktion der Bezirksleitungen durch Ost-Kollegen besetzt wird. Wenn wir alleine die Verantwortung übernehmen, werden wir auch die Prügel alleine kriegen für all das, was an Erwartungen nicht erfüllt wird. Wenn in den neuen Kreisverwaltungen eine Reihe von Ost-Geschäftsführern bestellt werden, dann wird mit den Jahren der OstWest-Gegensatz verschwinden. Dies wird auch dadurch gefördert, dass Wessis in einem bestimmten Rahmen sich anpassen und akzeptiert werden, Verhaltensweisen sich angleichen. M.S.: Ich will noch einmal zurückgehen. Du warst doch an den Verhandlungen mit der Gewerkschaft Bergbau-Energie beteiligt? Der Vorsitzende dieser Gewerkschaft wollte doch anfangs zur ÖTV. Dann war er plötzlich bei der IGBE, mit der es nun die größten Grenzstreitigkeiten gibt. W.R.: Genau, Peter Witte war sogar als Referent bei unserem ersten Seminar mit den Beratungssekretären dabei, um diese darüber zu informieren, wie der FDGB gearbeitet hat. Peter Witte habe ich kennengelernt in einem Gespräch mit Kurt Lange. Er hat gefragt, bei wem er den Karteikasten mit den Mitgliederdaten abgeben kann, weil seine
356 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Kollegen alle in die ÖTV eintreten wollen. Hinterher haben wir festgestellt, dass Peter Witte auf mehreren Hochzeiten getanzt hat. Er war sogar bei der CDA, um auch dort zu fragen, wie die Konditionen sind. Weiß der Teufel, wo er überall scharwenzelt hat. Peter Witte haben wir das Büro in der Kleinen Auguststraße zu verdanken. Der Vermieter war nämlich das Energiekombinat, wo er Einfluss hatte. Gleich bei diesem ersten Treffen hat er die Zusage gemacht, uns ein Büro in Ost-Berlin in der Kleinen Auguststraße zu besorgen. Das hat dann noch Querelen gegeben, da er wohl über das Ziel hinausgeschossen war. M.S.: Was würdest du als Ursache sehen, dass er nicht zur ÖTV, sondern zu IG Bergbau gegangen ist? W.R.: Wahrscheinlich haben die ihm mehr geboten. M.S.: Kann man das so einfach erklären? W.R.: Das kann ich nicht beweisen, aber so wie ich Peter Witte einschätze, scheint mir das eine wahrscheinliche Erklärung. Er ist eben ein sehr intelligenter Mensch, taktisch klug. Er hat sehr schnell gespürt, dass er bei uns nicht in offene Arme läuft, dass wir bestimmte Bedingungen stellen, dass wir Hauptamtliche eben nicht einfach übernehmen, und er hat dann komischerweise auch im eigenen Betrieb, im Energieunternehmen, Schwierigkeiten gekriegt, weil die Kollegen dort auf die ÖTV orientiert waren. Es kommen noch Sachen dazu, die mit Peter Witte gar nichts zu tun haben. Ich denke, da muss man trennen zwischen persönlichen Verhaltensweisen und der Art eines Berufes. Die Bergbau-Gewerkschaft wird im Wesentlichen bestimmt durch die Bergarbeiter, die eine bestimmte Tradition, ein bestimmtes Beharrungsvermögen haben und die sich zur Bergarbeiter-Gewerkschaft hingezogen fühlen. Ich kann mir vorstellen, dass in der IG Bergbau-Energie dieser Personenkreis sehr viel zu sagen hatte, und möglicherweise waren dort die FDGB-Funktionäre nicht so diskreditiert wie anderswo. Vielleicht war das beim FDGB auch so, dass diese Gewerkschaft aufgrund der Bedeutung dieses Wirtschaftszweiges einen gewissen Spielraum hatte, dass dort die Sozialleistungen und die Einkommen höher waren als anderswo, und dass all dies auch der Gewerkschaft zugute gehalten wurde. Ich kenne die Gewerkschaft zu wenig, um das jetzt im Einzelnen beurteilen zu können, aber ich warne davor, die Entwicklung nur an wenigen Personen festzumachen. Auch ohne einen Peter Witte hätten wir diese Probleme gehabt. Das hat sich zwar zugespitzt, weil er zu dem Zeitpunkt in seinem Sinn eine clevere Rolle gespielt hat. Er hat uns ja echt vorgeführt, dem sind wir wirklich auf dem Leim gegangen. M.S.: Inwiefern? W.R.: Willi Mück hat ihn zu Hause besucht und hat riesige Versprechungen gemacht. Er war halb befreundet mit ihm. Wenn man dann hingehalten wird und nicht dran denkt, nicht ahnt, dass der andere ein doppeltes Spiel spielt – er hatte inzwischen der IG Bergbau irgendwelche Zusagen abgetrotzt – dann fühlt man sich geleimt. Doch zurück zu meinen Aufgaben: Wie gesagt, die erste Aufgabe bestand darin, die ÖTV-Kommunikation zu gewährleisten. Der zweite Aufgabenbereich bestand darin, zum DGB und den Einzelgewerkschaften Kontakte zu pflegen und zu beobachten, wie verhalten die sich im Osten, wo gibt es Reibungspunkte und wo Zusammenarbeit. Der dritte Schwerpunkt waren die DDR-Gewerkschaften, mit denen hatte ich eigentlich am meisten zu tun. Ich war für sie der direkte Ansprechpartner und wenn einer an Monika [WulfMathies] geschrieben hat, dann ist der Brief über meinen Tisch gegangen. Monika hat meist gesagt, rede doch mal mit dem, was will denn der, oder müssen wir uns jetzt mit
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dem wieder treffen. Wir hatten auch regelmäßige Treffen mit den Ost-Gewerkschaften, die ich mit vorbereitet habe – also die Tagesordnung, die Themen, die Inhalte dieser Treffen. Diese Vereinbarungen, die wir abgeschlossen haben, habe ich aus meiner Kenntnis dessen, was mit denen machbar ist und was nicht, mitformuliert. Ich kannte alle bestens. Sie sind mir ja regelmäßig auf die Bude gerückt, um mir ihre Angebote zu unterbreiten. Sie haben mich eingeladen zu ihren Vorstandssitzungen, weil sie dachten, sie könnten mich da auszählen oder unter Druck bringen. Das war eine sehr spannende Geschichte. Wichtig war auch da, differenziert vorzugehen. Da konnte man nicht einfach sagen, die kann man alle vergessen. Es waren sicher einige dabei, die versucht haben, noch das Beste zu machen. Aber einige auch, wo ich gleich gespürt habe, die informieren mich immer nur so, wie es ihnen eben passt, wie es gerade für sie das Richtige ist. Am schwierigsten war es mit jenen Organisationen, bei denen es auch im Westen Abgrenzungsprobleme gibt. Der dritte Bereich war also Kontaktpflege mit den Vorsitzenden und Funktionären der DDR-Gewerkschaften. Der vierte Bereich war die gesamte politische Szene im Osten. Ich sollte auch Kontakt aufnehmen zu den Parteien, die neu entstanden waren, und dort unseren Einfluss geltend machen. Das galt auch für bestimmte Regierungsstellen, jedenfalls in der Anfangsphase. Wir haben die Vertreter aus den Parteien eingeladen, wir haben Kontakte gepflegt zu den Ministern, z. B. zur Hildebrandt, als die damals Sozialministerin war, zu Reichenbach im Amt des Ministerpräsidenten, zu Diestel usw. Die waren ja quasi unsere Ansprechpartner, als die erste und letzte frei gewählte DDR-Regierung im Amt war. Das war ein großer Schwerpunkt meiner Arbeit. Es war eine interessante Erfahrung, dass die Unterschiede zwischen den Parteien nicht so ausgeprägt waren. Das merkt man zum Teil noch heute. Auch bei den Regierungsstellen lief alles anders. Der Zugang war viel leichter. Das, was wir an Konzepten hatten, wurde sehr viel offener aufgegriffen wurde als im Westen. Das waren die vier Bereiche, für die ich zuständig war. M.S.: Hat die SED oder die PDS versucht, Kontakt zur ÖTV aufzunehmen? W.R.: Einmal waren sie dabei, als wir Parteienvertreter eingeladen hatten. Da haben wir keinen Unterschied gemacht. Die PDSler haben immer wohlfeil abgenickt und alles schön und gut gefunden. Einmal bin ich in einer PDS-Veranstaltung gelandet, ohne das zu wissen. Die hatten ein Fest gemacht, irgendwo in Hellersdorf draußen, und ich bin eingeladen worden. Sie hatten alle möglichen Leute eingeladen, und ich dachte, das ist eine Podiumsdiskussion. Ich saß jedoch als einziger dort, weil alle anderen gespürt hatten, das ist eine PDS-Veranstaltung. Ich saß mit Gysi auf dem Podium. Der Einfluss der PDS ist inzwischen zurückgegangen. Die PDS ist einfach in der Bedeutungslosigkeit versunken. Das war anfangs nicht so klar. Die PDS hatte ganz akzeptable Wahlergebnisse, gerade in einigen Städten im Norden, in Frankfurt/Oder oder auch hier in Berliner Stadtbezirken. Das sah anfangs nicht schlecht aus. Zum Teil wurde sie sogar stärkste Fraktion. Das hat uns sehr erschrocken gemacht. Es gab auch unter uns Vertreter, die unsicher waren, ob die PDS nicht eine demokratische Partei geworden war und ob sie deshalb nicht auch eine gewisse Chance haben sollte. Für mich war immer ganz klar, nach welchen Kriterien ich das zu beurteilen hatte: Wie verhält sich die PDS, wenn es um Stasi-Aufklärung geht, wie verhält sie sich mit ihrem Vermögen. Sie hatte sogar darüber diskutiert, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und ihr Vermögen auf den Tisch zulegen. Sie sagte, wir fangen neu an. Ja, und dann haben sie sich hinter den Putsch gestellt. Das war nur noch peinlich. Mit dem Niedergang dieses Sozialismus-Modells ist ja die Vorstellung, man könne ein neues Experiment wagen, nicht gleich zusammengebrochen. Es
358 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview gab in der ehemaligen DDR durchaus Kräfte, die gesagt haben, wir können eine Art dritten Weg anstreben. M.S.: Das hat Steinkühler [Vorsitzender der IG Metall] auch noch gesagt. W.R.: Ja, genau. Das hat sich ja nun als völlig undurchführbar herausgestellt. Damit hat auch die PDS verloren. Die PDS, das war so eine Art Honoratiorenclub für diejenigen, die den Absprung von dieser Bewegung nicht geschafft haben. Doch kann man nicht über alle gleichermaßen den Stab brechen. Ich will mal vermuten, die Allerschlimmsten waren die Allerersten, die ausgetreten sind und gesagt haben, das schadet mir für meine Karriere. Die PDS hat uns Sorgen gemacht, aber wir haben sie in der Gewerkschaftsarbeit nicht wahrgenommen. Offenbar hat auch die PDS gespürt, dass, wenn sie sich bei uns betätigt, sie dann sofort eins auf die Mütze kriegt. Es gab auch bei uns in der ÖTV keine Kräfte, die gesagt hätten, die PDS ist für uns eine Möglichkeit. M.S.: Eigentlich war doch in der ÖTV der Flügel, der gewisse Sympathien hatte für das Modell DDR, relativ groß gewesen? W.R.: Das war nun alles zu Ende. Für diejenigen war die PDS dann keine Alternative. M.S.: Immerhin gab es auch noch den Stamokap-Flügel? W.R.: Ja, ja, dazu gehörte ich auch eine Zeit. Aber die PDS war auch für diese Richtung keine Alternative. M.S.: Hast du in Ost-Berlin nicht ein bisschen das Gefühl gehabt, als Besatzungsmacht aufzutreten? W.R.: Nein, ich habe auch immer versucht, mich nie so zu verhalten. Eine meiner stehenden Redewendungen war: Auch im Westen ist nicht alles Gold, was glänzt, andererseits braucht ihr das Rad nicht neu zu erfinden. Es war nicht von Anfang an klar, dass es eine einheitliche ÖTV in dieser Form geben würde. Ich war also wirklich offen. Doch sehr schnell wurde mir klar, dass man mit den DDR-Gewerkschaften keinen Blumentopf gewinnen konnte, weil ich gespürt habe, die DDR-Gewerkschaften gibt es im Grunde gar nicht. Ihre Vertrauensleute hatten keine Funktionen gehabt, sie haben irgendwelche Beitragsmarken verkauft oder Solimarken [Solidaritätsmarken des FDGB], und dann gab es noch einen in jedem Betrieb, der Ferienplätze verteilt hat. Das war aber im Prinzip auf betrieblicher Ebene schon alles. Das ist nicht mit dem vergleichbar, was wir brauchen, was wir machen. Und die Leute, die Apparate, die ich dann kennengelernt habe, das waren Hülsen, irgendwie Kartons, in denen nichts drinsteckte, außer leerer Luft. Das ist mir sehr schnell klargeworden, dass mit denen kein Staat und keine Organisation zu machen ist und dass wir deshalb andere Wege gehen müssen.
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Jutta Schmidt BGL-Vorsitzende, Institut für Halbleiterphysik, AdW, Frankfurt/Oder Interview vom 25. Februar 1992 J.S.: Ich bin 1945 geboren und habe 1963 in Fürstenwalde das Abitur gemacht. Anschließend habe ich Elektromechanikerin im Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder gelernt und bin danach zum Studium an die TU nach Dresden gegangen. Dort habe ich Elektrotechnik studiert. Nach meinem Studium habe ich in Greifswald als Technologin in einem fernmeldetechnischen Betrieb gearbeitet. 1982 bin ich von Greifswald wieder nach Frankfurt/Oder gezogen, wo ich seitdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Institut der Akademie der Wissenschaften in der Halbleitermesstechnik gearbeitet habe. Dort waren wir ein kleines Kollektiv von 15 Leuten und meine Kollegen haben mich als Vertrauensfrau gewählt. So fing mein erster Kontakt mit der Gewerkschaft, mit dem FDGB, an. Unter den damaligen Bedingungen habe ich versucht, die Interessen meiner Kollegen gegenüber dem Abteilungsleiter und auch gegenüber dem Direktor so gut wie möglich wahrzunehmen. So lief das bis 1989. M.S.: Bist du immer Vertrauensfrau gewesen? J.S.: Ja, von 1984 bis 1989. M.S.: Hast du nie Absichten gehabt, in die BGL oder sonstige gewerkschaftliche Funktionen zu kommen? J.S.: Nein. Dazu muss man wissen, dass ich in meiner Oberschulzeit bis 1962 Kreisleitungsmitglied der FDJ war. Nach dem Mauerbau in Berlin hatte ich an meiner damaligen Schule ein sehr unschönes Erlebnis: Unser sehr loyaler Schuldirektor, der zwar Genosse war, aber offensichtlich für die SED entschieden zu liberal, wurde geschasst, und wir haben statt dessen einen Emporkömmling vor die Nase gesetzt bekommen. In diese Geschichte hat man mich hineingezogen. Ich wurde plötzlich in der Zeitung zitiert mit einem Diskussionsbeitrag auf einer Versammlung, den ich nie gehalten hatte. Das hat dazu geführt, dass ich mich 1962 völlig aus der FDJ-Arbeit zurückgezogen habe. Dadurch bin ich nie in die Versuchung geraten, Mitglied der SED zu werden. Wenn man so etwas in der frühen Jugend erlebt, dann wirkt das sehr schön nach. Ich habe die SED mit ihren Taten immer wieder an meinen Erlebnissen von damals gemessen und habe an keiner Stelle irgendwo gedacht, ich müsste diese Entscheidung gegen die Partei revidieren. Dazu muss ich aber sagen, dass ich bis 1989 und auch noch darüber hinaus, nein, sagen wir mal bis Ende 1989, nie so sehr das Ziel der SED in Frage gestellt habe, sondern immer nur das reale System. Ich war nie der Meinung, dass der Sozialismus und seine Ideen großer Mist wären, sondern dass nur das, was man uns real in der DDR angeboten hat, schlecht war. Viele, die eigentlich politisch auf der linken Seite standen, wo ich mich einordnen würde, haben seit Gorbatschow auf Reformen des Sozialismus gehofft. M.S.: Hast du in den letzten Jahren vor der Wende das Gefühl das Gefühl einer Krisensituation gehabt? J.S.: Für mich war eine Sache sehr wichtig, wo viele heute meinen, wir hätten sie lieber nicht gehabt. Das war das SED-SPD-Papier, wo sich die beiden Systeme gegenseitig bestätigten, dass sie friedensfähig und dialogfähig seien. Obwohl ich es nie im Ganzen gelesen habe, sondern immer nur Passagen daraus. Für viele Leute war dies ein Zeichen:
360 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Also wenn wir uns nicht mit Gorbi nach Osten öffnen wollen, vielleicht finden wir mit den Westlern einen Weg. Im Moment ist zwar die CDU an der Regierung, aber das kann sich ja alles wieder ändern. Für mich war das eine ungeheuer hoffnungsvolle Sache. Dazu kam, dass zu diesem Zeitpunkt die Grenze immer durchlässiger wurde. Als wir 1982 von Greifswald nach Frankfurt zogen, kannte ich nicht einen, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte und nicht einen, der ausgereist war. 1989 kannte ich viele Leute, die ausreisen wollten und viele, die inzwischen von einem Besuch nicht wieder zurückkamen. Das griff um sich. Das war wie ein kleiner Virus. Ein fürchterlicher Schock war für mich aber die Sache in China. Es war im Sommer 1989, wo wir gedacht haben, um Gottes willen, dass sie sich das noch trauen, dass sie einfach in die Menge ballern, das hatten wir eigentlich zu dieser Zeit nicht mehr erwartet. Wir hatten doch nicht mehr '53, '56 oder '68, als die Russen marschiert sind. Außerdem war Ungarn seit Mai schon relativ durchlässig, und umso durchlässiger Ungarn wurde, umso mehr Leute kehrten aus dem Sommerurlaub nicht mehr zurück. Es entstand eine gewisse Hysterie. Im Sommer 1989 haben wir zum ersten Mal in Bulgarien Urlaub gemacht. Als wir in den ersten Septembertagen über Rumänien und Ungarn zurückkamen, da waren in Ungarn die Stadien schon ziemlich voll. Unter den deutschsprachigen Touristen gab es im Prinzip nur eine Diskussion: Jeder, der kam, wurde gefragt: Kommst du aus der Richtung Schwarzes Meer oder kommst du von zu Hause? Die Diskussionen drehten sich allein um die Frage: Fahren wir wieder nach Hause oder setzen wir uns gleich zu den anderen und warten an der ungarischen Grenze auf die Öffnung nach Österreich? Lassen sie uns wieder fahren oder machen sie die Grenze richtig zu? Da habe ich gesagt, die Grenze wieder dicht machen können sie sich nicht mehr leisten, die Lawine ist im Rollen, man kann die Mauer jetzt nicht noch mal zwei Meter höher bauen. Unsere Hoffnungsträger, die vieler DDR-Leute, waren solche Personen wie Modrow. Die uns schon immer als Vertreter eines liberaleren Kurses innerhalb der SED bzw. als Reformer innerhalb der SED vorgestellt wurden. Im September '89 hatten mein Onkel und meine Tante in West-Berlin Goldene Hochzeit und mein Mann und ich durften fahren. Das wäre vier oder fünf Jahre vorher ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Da wäre maximal einer von der Familie gefahren und der andere wäre als Geisel geblieben. Noch dazu kam, dass unsere Kinder bereits 17 und 19 Jahre alt waren. Die bedurften nicht mehr Vater und Mutter, die waren als Geiseln untauglich. Für mich hat die Sache in dem Moment begonnen, als die Leute in Leipzig nicht mehr gebrüllt haben: „Wir wollen raus!“, sondern: „Wir bleiben hier!“ Weil dies schon wesentlich mehr meine Parole war. Raus zu wollen hat für uns vordergründig nie zur Diskussion gestanden. Wir haben zwar ständig überlegt, was machen wir, wenn man uns nicht mehr arbeiten lässt, das wäre so eine Sache gewesen. Obwohl, ich habe nie wissentlich Druck von der Stasi verspürt. M.S.: Was war deine konkrete Arbeit in dem Institut? J.S.: Ich habe Halbleiterstrukturen auf Siliziumscheiben ausgemessen, ausgewertet und auch entworfen. Beispielsweise ein paar Standardgrößen, die du brauchst, um die Güte des technologischen Prozesses zu kontrollieren und zu messen. Wir waren mit unseren Forschungsvorhaben in das Mikroelektronikprogramm der DDR eingebunden. M.S.: Hast du nicht darunter gelitten, dass, dieser Staat dich nicht hat ausreisen lassen und unter all den anderen Bevormundungen? J.S.: Wenn du mittendrin bist, empfindest du das an vielen Stellen nicht immer so. Mein Ziel oder meine erste Etappe wäre gewesen, was die Ungarn ihren Leuten ermöglicht
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haben. Also, du kannst reisen soviel wie du willst, wohin du willst. Du hattest ohnehin nur alle drei Jahre das Geld dafür. Das war z.B. eine Variante, mit der hätte ich mich einverstanden erklärt. Es wäre ja deine Sache. Du fährst eben nach Mexiko und isst zu Hause die getrockneten Chips. Dazu kommt, dass wenn du zwei Kinder hast – auch wenn beide arbeiten -, das Geld sowieso nicht da ist, um jedes Jahr eine große Reise zu machen. Wir haben alle drei Jahre eine große Reise gemacht, und ansonsten sind wir mit dem Zelt in die nähere Umgebung bzw. innerhalb der DDR gereist. Das war sehr preiswert. Ich hatte genügend andere Reiseziele auf der östlichen Seite, wo ich noch hingewollt hätte. Nichtsdestotrotz habe ich schon gesagt, ich spare fünf Jahre und möchte dafür gerne auch mal in Südfrankreich Urlaub machen. Das war aber nicht so wichtig für mich. Was mich viel mehr gestört hat, war, dass ich die Bücher nicht lesen konnte, die ich lesen wollte. Das hat mich viel mehr gestört, dass du dir sozusagen über eine Lesung oder eine Buchkritik oder im Fernsehen Ersatz besorgen musstest, und nicht Solschenizyn, das hat mich viel mehr gewurmt als das Nicht-Reisen-Dürfen. Ich bin nicht müde geworden, das immer wieder bei irgendwelchen kleineren Diskussionen, die wir mit Mittelfunktionären hatten, anzusprechen und zu fragen: Wieso denkt das System, dass es so instabil sei, dass es z.B. keinen Bloch verlegen kann? Da blieben dir die Funktionäre die Antwort schuldig. M.S.: Wann hast du angefangen, dich politisch zu engagieren? Was war der Auslöser, wie war das konkret? J.S.: In Frankfurt war die allererste Veranstaltung vom Neuen Forum in einer Kirche am 17. Oktober 1989. Bekannt gemacht wurde diese Veranstaltung über Flüsterpropaganda. So lächerlich sich das anhört, wir haben unser Auto 20-Minuten-Fußweg von der Kirche entfernt geparkt. Mein lieber Mann hatte aus den Atemschutzmasken des Instituts zwei Leinensäckchen mit Aktivkohle gefüllt, die wir für den Fall dabei hatten, dass eventuell Tränengas geschmissen werden sollte. M.S.: Wie seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen, euch so auszurüsten? J.S.: Vorher war doch der Jahrestag der Republik, am 7., 8. und 9. Oktober mit den ganzen Zuführungen. Das waren die Erfahrungen bzw. die Bilder aus dem Fernsehen. Wir haben den Kindern nicht gesagt, wo wir hingehen. Hinterher in der Kirche fiel uns ein, dass das eigentlich idiotisch war. Es hätte ja sein können, dass wir nicht nach Hause gekommen wären, dann hätten sie erst recht wissen müssen, wo wir waren. Das Neue Forum oder die, die sich zu dem Zeitpunkt engagierten, hatten auch zwei oder drei Leute aus der SED-Bezirksleitung eingeladen, die mitdiskutieren sollten. Rolf Henrich war auch dabei. Viele, die sich dort artikuliert haben, wollten eine rechtliche Anerkennung des Neuen Forums. Wir kamen kaum noch in die Kirche rein, und weil draußen immer noch genügend Leute standen, die rein wollten, wurde gebeten: Nun rutscht doch noch ein bisschen zusammen, damit noch ein paar mehr in die Reihen passen. Da konntest du sehen, wie es Reihen gab, in denen gerutscht wurde und Reihen, in denen derjenige, der auf einem Randplatz saß, auf seinem Randplatz sitzenbleiben wollte. Von hinten konntest du das sehr schön sehen. Das waren jene Leute, die nachher zur Diskussion davon gesprochen haben: was hier passiere, sei eine feindliche Zusammenrottung, in diesem Aufruf vom Neuen Forum stehe überhaupt nichts vom Sozialismus, ob wir uns nicht mehr zum Sozialismus bekennen wollten und alles Mögliche. Na, jedenfalls sind wir aus der Kirche rausgegangen mit dem festen Bekenntnis, das Neue Forum müsse zugelassen werden. Das sei die große Interessenvertretung des Volkes, was auch immer das in diesem Moment sein möge und was da jeder für sich im Kopf hatte. In der Kirche habe ich
362 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview nur einmal zwischendurch fürchterliche Angst gehabt. Da trat einer von der SEDBezirksleitung auf und hat die Leute mit einer Feindseligkeit angegriffen, dass ich dachte, wenn der noch drei Worte sagt, sind sie vorne auf der Bühne und prügeln ihn herunter. Das war eine ganz gezielte Provokation. Glücklicherweise hat jemand das Mikro ausgedreht und ihn weggezogen. Es hat sich ein anderer gemeldet, der auch von der SEDBezirksleitung war und gesagt: anderthalb Minuten Redezeit wären doch vereinbart und stünden auch ihm zu. Da hat jemand zu ihm gesagt: Aber bitte nicht in der gleichen Art. Daraufhin hat er ganz ruhig und besonnen geredet. Gott sei Dank ist diese Veranstaltung erst mal glimpflich an uns vorbeigegangen, doch wir wussten noch nicht, was uns draußen erwartet. Es war aber sehr ruhig. Du hast an keiner Ecke übermäßig viel Polizei gesehen. Das war am 17. Oktober. Eine Woche später hat die örtliche Parteileitung zu einem Dialog eingeladen. Der sollte um sieben Uhr beginnen. Um halb sechs war der Saal schon voll. Offensichtlich mit 90% Hauptamtlichen von der Stasi oder von der Partei. Die Veranstaltung war um 22.00 Uhr beendet und sollte am folgenden Samstag zu vier unterschiedlichen Themenkreisen fortgesetzt werden: Wissenschaftspolitik, Jugendpolitik, Kultur und Medien. Die vier Personen meiner Familie waren in unterschiedlichen Dialoggruppen. Das ging um 14.00 Uhr los, und um 13.00 Uhr saß ich schon auf meinem Platz, hatte ein Büchlein dabei und mir gesagt, nun lass die mal kommen. In meiner Gruppe stellten sich der Chefredakteur der SED-Parteizeitung und der Abteilungsleiter bei der SED-Bezirksleitung, der für Kultur und Medien usw. verantwortlich war, als Dialogpartner vor. Es war aber kein Dialog. Die waren überhaupt nicht gewillt, auf Fragen zu antworten. Das haben wir viel zu spät gemerkt. Diese Dialogveranstaltung wurde eine Woche später fortgesetzt. Das war, als in Berlin am 4. November die große Künstlerdemo stattfand. Vormittags und nachmittags haben wir in Frankfurt gesessen. Ich saß bereits mit dem Walkie-Talkie unserer Kinder und habe zwischendurch immer Christoph Hein und anderen, die dabei waren, zugehört. Wir haben uns gesagt, also wenn die denken, wir lassen uns hier verarschen, sollen sie uns kennenlernen. Den Dialog mit der Partei, das konntest du dir abschminken. Vorher, am 1. November, hatte abends die erste große Demo in Frankfurt stattgefunden. Ca. 10 bis 15.000 Leute waren auf den Straßen und haben gebrüllt: Neues Forum zulassen! Ansonsten war es eine ganz ruhige, normale Demo mit drei oder vier Rednern. Wir waren in der Folge abwechselnd einen Mittwoch auf der Straße und einen Mittwoch in der Kirche. So lief das in Frankfurt. Ich hatte, als es losging, noch nicht die Absicht, mich aktiv einzubringen. Aber da lagen jetzt die Zettel für Arbeitsgruppen. Nachdem das Ding mit dem Dialog gescheitert war, haben wir uns entschieden, in irgendwelchen Arbeitsgruppen mitzumachen. Das ging nicht anders. Mein Mann hat sich eingetragen für die Arbeitsgruppe Wirtschaft und ich mich für die Arbeitsgruppe Medien und Kultur. Das war mein inneres Anliegen, von Wirtschaft verstehe ich nichts. Als sich die Gruppe Medien das erste Mal traf, waren wir fast 50 Leute. Nur zwei oder drei kannten sich vorher. Vorwiegend Leute aus der Kirche haben sich die Moderation geteilt. 50 Leute unter einen Hut zu kriegen war gar nicht so einfach. Immer, wenn wir kurz vor einem Konsens waren, quatschte einer so ein dusseliges Zeug dazwischen. Ich dachte schon, du meine Güte, das darf doch nicht wahr sein. Wir hatten, das war dann Mitte November, der damaligen Parteizeitung die Zusage abgerungen, eine komplette Seite in eigener redaktioneller Regie zu gestalten. Am 7. Dezember sollte es losgehen. Da wir keine Ahnung hatten, dachten wir, ach, bis zum 7. Dezember sind noch drei Wochen Zeit, da überlegen wir mal in einer Woche, was wir machen. Am darauf folgenden Sonnabend durften sich die Bürger die Parteischule angu-
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cken. Mein Mann sagte: Den Spaß mache ich mir. Alles wurde dort zum Parteieigentum erklärt. Der SED gehörte ja alles, Druckereien, Zeitungen, Parteischule usw. Da ging mein Gerechtigkeitsgefühl mit mir durch, und ich habe für die Seite am 7. Dezember einen flammenden Artikel gegen Parteieigentum geschrieben – und auch mit meinem vollen Namen gezeichnet. Also, heute finde ich ihn lasch, aber für die damalige Zeit war er ungeheuer. Ich bin immer mit einem großen Stapel Leserbriefe nach Hause gegangen. Der Tenor war durchgängig: Liebe Frau Schmidt, sie haben mir genau aus der Seele gesprochen! Zwischen Weihnachten und Neujahr haben wir noch einmal eine Seite gehabt, an der ich aber nicht mitgearbeitet habe. In der Zwischenzeit hatten wir der Partei eine Druckgenehmigung für eine eigene Zeitung abgetrotzt. Das musst du dir mal vorstellen: Alle 14 Tage eine Zeitung von Leuten, die keine Ahnung hatten, wie man eine Zeitung macht. Wir haben es auch nur bis zur dritten Nummer gebracht. Um den 10. Dezember herum, kurz nachdem die Extraseite erschienen war, haben wir dann überlegt, ob wir uns im Neuen Forum engagieren sollten. Mein Argument lautete: Weißt du, wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir jetzt einfach dort mitmachen. Gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte, schmiss – 10 Tage vorher – unsere damalige BGL-Vorsitzende das Handtuch, weil der Direktor des Instituts die Partei und die BGL gleich mit von seinem Tisch verbannt hatte. Wir machten eine Wandzeitung und haben dagegen protestiert. Wir forderten, dass die BGL-Vorsitzende weiterhin am Tisch des Direktors laut AGB der DDR teilnimmt. Die BGL-Vorsitzende trat jedoch zurück, weil ihr Vertrauensverhältnis zu dem Direktor völlig zerstört war. Wir hatten nun keinen mehr, der unsere Interessen gegenüber der Betriebsleitung vertreten konnte. Unsere damaligen BGLer, diese 15 Hanseln, haben sich alle fragend angeguckt, wer von uns den BGL-Vorsitz übernehmen könnte. Aus der ganzen 15köpfigen BGL wollte keiner. Dann haben wir eine Vertrauensleute-Vollversammlung gehabt (25 Vertrauensleute) – einer musste ja nun an den Tisch des Direktors: Jutta, kannst du das nicht übernehmen, wenigstens als amtierende BGL-Vorsitzende? Da habe ich gedacht, jetzt hast du dich gerade für das Neue Forum entschieden, und nun kommen die Kollegen mit solchen Sachen. Zuerst habe ich gedacht, das kann ich eigentlich nicht machen. Dann sagte ich mir, irgendwie kriegst du das hin, vielleicht lässt sich einiges auch miteinander verbinden. Der BGLVorsitz ist eine gesellschaftliche Tätigkeit, und wenn du für die BGL unterwegs bist, machst du gleichzeitig etwas fürs Neue Forum. Das kriegt der Direktor gar nicht mit. Das Neue Forum war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zugelassen. Es ließ sich tatsächlich sehr gut miteinander verbinden. So habe ich mich Mitte Dezember dazu entschlossen, als BGL-Vorsitzende zu amtieren. Davon habe ich mich nicht mehr erholt, d.h., hier begann meine Gewerkschaftskarriere. Die Situation im Institut war vorher schon mehr als prekär. Wir hatten nahezu allen leitenden Personen in diesem Haus das Misstrauen ausgesprochen. Bis auf einem Bereichsleiter, der mehr als 50 % Zustimmung hatte. Einer hatte sogar nur eine Stimme für sich und die war wahrscheinlich von ihm selbst – alle anderen waren gegen ihn. Unser Direktor hatte 70% Nein-Stimmen. Wir hatten aber keinen neuen Direktor und deshalb musste er weitermachen. Bei meinem Antrittsbesuch habe ich ihm gesagt, ich werde alles mir zur Verfügung stehende tun, dass in dem Institut die Arbeitsatmosphäre und die Arbeitsmöglichkeiten wieder hergestellt werden, und ich würde mit ihm kameradschaftlich zusammen arbeiten wollen, wenn das gegenseitig wäre. Er hat mir geantwortet, dass er meinen Mut gerne hätte und ihm sei alles recht, wenn damit wieder Ruhe ins Institut einziehe. Ich wollte ursprünglich weiter zwei Tage in der Woche am Schreibtisch wissenschaftlich arbeiten und drei Tage in der Woche für die BGL. Das ließ sich aber nicht
364 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview halten. Ich wollte wissen, was mit meiner Arbeit werden sollte. Der Direktor meinte, die müssten meine Kollegen übernehmen, denn die Arbeit für die BGL ginge erst einmal vor. Kurz nach Weihnachten fuhr ich zur GEW und zum DGB nach West-Berlin und versorgte mich mit Material. Bei der GEW habe ich angefangen, weil ich aus der Gewerkschaft Wissenschaft kam und deshalb war für mich die GEW sehr nahe. Ich habe mir im Telefonbuch die Adresse herausgesucht und bin in die Ahornstraße gegangen. Dort habe ich mich vorgestellt: Guten Tag, ich heiße Jutta Schmidt usw., ich bin die BGLVorsitzende. Daraufhin habe ich ein Kilo Papier mitbekommen. Anschließend bin ich zum DGB in die Keithstraße gegangen, die waren schon ein Stück professioneller; die hatten offensichtlich jeden Tag jede Menge Kollegen nach dem Motto: Wat, aus dem Osten biste? Da hinten im Flur steht ein Schrank, da kannste dir bedienen. Mit einem Packen Papier kam ich zum Grenzübergang Oberbaumbrücke und durfte alles auspacken. Da mir der Direktor freie Hand gegeben hatte, d.h. mich von jeglichen dienstlichen Verpflichtungen aus meiner alten wissenschaftlichen Tätigkeit befreit hatte, hatte ich genügend Zeit, in den Büchern zu lesen. Also, das Betriebsverfassungsgesetz, den Kittner [einschlägiger Kommentar zur Betriebsverfassung] usw. Anfang Februar haben wir noch einmal eine neue BGL gewählt. Nach der neuen Wahlordnung musste sich der BGLVorsitzende zur Kandidatur stellen, so dass ich Anfang Februar von den Kollegen richtig gewählt wurde. M.S.: Wart ihr damals noch alle gewerkschaftlich organisiert? J.S.: Wir hatten während der Wende ca. 10 FDGB-Austritte. Das lag einmal daran, dass sich bei uns relativ schnell wieder Leute an die Spitze gestellt hatten, zum zweiten war der Zorn auf die Gewerkschaft bei uns im Institut nicht sehr groß. Das lag möglicherweise daran, dass sich bei uns die BGL eigentlich nie gegen die Kollegen gestellt hat, wie ich das z.B. aus meinem ehemaligen Betrieb kannte, wo die BGL zusammen mit der Werksleitung gegen die Kollegen gearbeitet hat. Sie war an vielen Stellen wirklich nur der verlängerte Arm der Partei. So war das an unserem Institut nicht. M.S.: Hat denn die ganze Diskussion um den FDGB, um Harry Tisch, der zurücktreten musste, als herauskam, dass er korrupt gewesen ist, bei euch keine Rolle gespielt? J.S.: Nein, das kam zu Zeiten heraus, als ich schon BGL-Vorsitzende war, und ich habe dafür eigentlich nicht geblutet. Die Leute waren zwar fürchterlich sauer, weil die Solidaritätsgelder weg waren, aber eine Austrittswelle habe ich zumindest am Institut nicht erlebt. Zum Teil vielleicht auch deshalb, weil ich persönlich sehr viel Solidarität hatte. Das hat es mir an dieser Stelle unheimlich erleichtert. Ich bin ja sowieso ein relativ offener Mensch und von den 400 Leuten im Institut kannte mich im Prinzip jeder. Bei der ersten Montagsdemo im Januar ging es um das Parteivermögen der SED. Es gab immer noch die Parteizeitung, und die Partei war überhaupt nicht gewillt, ihre Eigentumsverhältnisse offenzulegen. Inzwischen hatte sie ihren Namen gewechselt in einem Doppelnamen, anstatt sich aufzulösen, aber von ihrem alten riesigen Vermögen wollte sie sich nicht trennen. Wir diskutierten über die Parteihochschule. Bis heute ist nicht geklärt, wem sie gehört. Die PDS behauptet immer noch, sie gehöre ihr – ich könnte mich totlachen. Wir hatten viele Kollegen im Institut, die sich im Neuen Forum engagiert haben. Inzwischen war auch die SPD gegründet worden, und die ersten waren dort Mitglied. Eines Tages kam ein Kollege aus dem Sprecherrat des Neuen Forums und meinte: Jutta, heute Abend ist Demo. Kannst du über Parteieigentum reden? Ja, sagte ich, natürlich kann ich über Parteieigentum reden. Nach Feierabend erzählte ich das meinem Mann und er meinte: Jutta, du bist wahnsinnig, da stehen ca. 10.000 Leute. Ach, sagte ich, Ulli, es
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ist dunkel. Wir haben beide etwas zusammengeschrieben, womit ich vor die Leute treten konnte. Während meiner Rede habe ich gemerkt, wie man Menschen verführen kann. Offensichtlich lässt sich eine Masse viel einfacher verführen als ein Einzelner. Die Leute waren so aufgeputscht. Wenn ich gesagt hätte: Los, wir marschieren zur SED-Druckerei und zerschlagen den Laden, ich denke, der größte Teil wäre mitgegangen. Das war am Montagabend. Freitag habe ich in der Betriebspost einen Brief gefunden, in dem stand, entweder ich trete zurück oder ich überlebe den 5. Februar nicht. Der Brief war anonym. Nun war ich schon ein Vierteljahr im Dauerstress, und das war einer meiner schwärzesten Tage. Ich hatte mit so einer Drohung überhaupt nicht gerechnet. Ich habe die Polizei angerufen und wollte sagen, was in dem Brief steht – aber habe schon losgeheult. Der Polizist bat mich, den Brief vorbeizubringen. Ulli hat mich hingefahren, und als wir ankamen, war ich wieder darüber hinweg. Dann bekam ich fünf Wochen lang in schöner Regelmäßigkeit jede Woche so einen Brief. Je mehr Briefe kamen, umso deutlicher wurde, dass der Absender aus dem Institut kommen musste – und umso größer wurde die Solidarität. Also, das hat mich in gewisser Hinsicht getragen. M.S.: War das immer der gleiche Text? J.S.: Nein, unterschiedlich. Einmal wollten sie mir die Wohnung anzünden. Da hat sogar die Polizei ein bisschen gebangt. Sie haben uns nahegelegt, an dem Tag vorsichtshalber die Wohnung nicht zu verlassen. Wir sind beide an diesem Tag nicht arbeiten gegangen, weil ich gesagt habe, dass ich nicht allein in der Wohnung bliebe. Das zog sich fast bis zur Volkskammerwahl hin, und dann war Ruhe. Ich weiß nicht, wenn ich kleine Kinder gehabt hätte, ob ich möglicherweise nicht doch aufgegeben hätte. Meinen großen Kindern konnte ich sagen: Passt auf. Thilo hat immer gesagt: Wenn ich den Briefeschreiber finde, den bringe ich um. Diese anonymen Drohungen haben mir die Solidarität der Kollegen gesichert und meinen Stand im Institut eigentlich erleichtert, denn das fanden alle unfair. Zwischendurch – alle 14 Tage – haben wir beim Neuen Forum die Zeitung gemacht, und du musstest deinen Text selbst schreiben und das Layout selbst machen. Dann kam die Vorbereitung zur Volkskammerwahl. Das Neue Forum, das waren fast alles Leute aus der Kirche, die politisch relativ unerfahren waren. Sie wollten eine Liste für die Volkskammerwahl aufstellen und dachten, wir treffen uns und benennen die Kandidaten. Da musste ich ihnen sagen: Leute, so war das früher bei der SED, so geht das heute nicht mehr. Wir müssen ein Wahlprotokoll machen, eine geheime Wahl durchführen usw. Diese Formalitäten widersprachen ihrem Demokratieempfinden völlig. Auf diese Art und Weise, da ich mich häufig gefragt oder ungefragt zu Wort meldete, wurde ich schlagartig im Februar in den neuen Sprecherrat des Neuen Forums gewählt: Jutta, du gehst doch in den Sprecherrat, Jutta, wir brauchen doch einen, der die Wahlen mit vorbereitet. Dort gab es oft Diskussionen, wenn es darum ging, Forderungen der Arbeitnehmer zu formulieren. Ich habe meist gesagt: Leute, lasst die Finger davon, das ist ureigenes Gebiet der Gewerkschaften, dafür gibt es Tarifverträge etc. Die von der Kirche hatten gar keine Beziehung zu diesen Problemen. Inzwischen gab es autonome Einzelgewerkschaften, die sich im Februar vom FDGB gelöst hatten. M.S.: Habt ihr bei euch diese Veränderungen im FDGB diskutiert? J.S.: Nein, gar nicht. Das hat für uns überhaupt keine Rolle gespielt. In der Berliner Akademie schon, aber nicht in Frankfurt. Die Berliner Akademie wollte keine Betriebsgewerkschaftsleitung mehr, sondern Betriebsräte haben. Wir Frankfurter Kollegen haben beschlossen, solange das Arbeitsgesetzbuch gilt und die BGL die einzig demokratisch
366 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview legitimierte Arbeitnehmervertretung ist, solange bleiben wir bei unserer BGL. Was nutzte uns ein Betriebsrat, der im Betrieb zwar anerkannt wird, jedoch vor Gericht keinen Bestand hat? Wir haben uns in unserem Institut auf einer Belegschaftsversammlung entschieden gegen einen Betriebsrat ausgesprochen. Als die Wirtschafts- und Währungsunion kam und das Betriebsverfassungsgesetz ab 1. Juli galt, haben wir sofort einen Betriebsrat gewählt. Für den Direktor änderte sich im Prinzip nichts. Er hatte wieder mit den gleichen Leuten zu tun – mit mir und den zweien, mit denen er vorher auch verhandelt hat. Da wir von unserem Direktor anerkannt waren und alle unsere Wünsche erfüllt kriegten, hatte ich darüber hinaus überhaupt keinen Grund, mich an irgendeine andere Organisation zu wenden. Conny Hintz war z.B. seit Februar in Frankfurt, und ich habe gewusst, da läuft Conny Hintz von der ÖTV herum und hilft im Krankenhaus usw. Aber ich hatte keinen Grund, mich an Conny zu wenden. Conny war zwei Monate da, ohne dass wir uns über den Weg gelaufen sind. Inzwischen wuchs unsere Unzufriedenheit mit der Gewerkschaft Wissenschaft, die sich wie der alte FDGB verhielt. Weil wir nicht mehr einsahen, dass die Kollegen Beiträge für diese Gewerkschaft zahlen sollten, begannen wir, uns nach Alternativen umzusehen. Frankfurt/Oder und Cottbus bildeten einen Bezirk der Gewerkschaft Wissenschaft und dieser umfasste ca. 15 oder 16 BGLen. Die 16 BGL-Vorsitzenden wählten Mitte Februar einen Sprecher – das war wieder ich -, der ihre Interessen gegenüber dem hauptamtlichen Vorstand in Berlin bzw. dem Bezirksvorstand wahrnehmen sollte. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt beschlossen, vorerst keine Beiträge mehr abzuführen. Da wurden sie hellhörig und wollten wieder mit uns reden. Irgendwann im April habe ich dann Conny [Hintz] kennengelernt. Conny erzählte mir von der Gründung einer ÖTV in der DDR. Ich habe mich mit ihr abends verabredet und mir die ÖTV erklären lassen. Schon vorneweg hatte ich mit der GEW geredet. Die GEW gefiel mir aber nicht, weil die nur die wissenschaftlichen Mitarbeiter genommen hätte und den Rest nicht. Die ÖTV hingegen nahm das ganze Institut, egal ob Arbeiter oder wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ich habe gedacht, das ist genau das Richtige für uns, ein Institut – eine Gewerkschaft, alle in der gleichen Gewerkschaft und auch noch eine ordentliche Gewerkschaft. Eine bessere Alternative kann es überhaupt nicht geben. Spätestens im April haben wir, also wir, die BGL-Vorsitzenden, für uns festgestellt, dass die Gewerkschaft Wissenschaft nicht reformierbar ist. M.S.: Wie kamt ihr zu dieser Einschätzung? J.S.: Na, das lief bei ihnen immer noch wie früher. Sie haben oben irgendetwas ausgeheckt, irgendwelche Machtspielchen usw. und bei uns kam überhaupt nichts davon an. Wir hörten mal, sie würden mit der GEW verhandeln und über unsere Köpfe hinweg anfangen, Seelen zu verkaufen. Das war für uns keine Gewerkschaft, die Arbeitnehmerinteressen vertritt. Bei den anderen Gewerkschaften, z.B. der IG Metall, waren die WestGewerkschaften schon aktiv. Da merktest du schon, dass ein anderer Wind wehte. Bei uns merkte man gar nichts. Die Gewerkschaft Wissenschaft gab es in der westdeutschen Gewerkschaftslandschaft ohnehin nicht. Die GEW, bei der wir mal einen Vortrag besucht hatten, kam bei uns als eine verdammte Lehrergewerkschaft an. Die Kollegen aus den Forschungseinrichtungen waren alle der Meinung, das könne nicht unsere Heimat sein. Und dann kam Conny und stellte die ÖTV bei uns im Institut auf einer Belegschaftsversammlung vor. Die ÖTV-West hatte uns geraten, dass wir jetzt erst einmal eine ÖTV-Ost gründen sollten. M.S.: Wann war das?
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J.S.: Ich würde sagen, in der ersten Maihälfte. Später nicht. Am 9. Juni ist die ÖTV in der DDR gegründet worden und ab Juli waren aus meinem Institut schon wahnsinnig viele Leute Mitglieder in der ÖTV der DDR. Ich habe diese Entwicklung voll und ganz unterstützt, dabei aber immer gesagt: Leute, solange ich BGL-Vorsitzende bin und dieses Mandat der Gewerkschaft Wissenschaft habe, kann ich nicht aus dieser Gewerkschaft rausgehen. Ihr könnt alle gehen, ich kann erst nach dem 1. Juli gehen. Ich bin erst Mitte Juli gegangen, weil ich nicht riskieren wollte, dass ich in einer Gewerkschaft bin, die zu dem Zeitpunkt noch zwischen Baum und Borke stand. Ich war ja keine gewähltes BGLMitglied der Gewerkschaft ÖTV, sondern der Gewerkschaft Wissenschaft. Dass viele meiner Wähler die Gewerkschaft gewechselt haben, hat daran nichts geändert, dass ich ganz normal gewählt worden war. Nach dem 1. Juli war ich Betriebsrat und es gab keine BGL mehr. Die BGL haben wir zum 30. Juni aufgelöst, da sie in dem Institut keine Funktion mehr hatte. M.S.: Wie habt ihr das gemacht? J.S.: Einfach mit einem Beschluss. Ich glaube, nicht einmal auf einer Belegschaftsversammlung, sondern mit einem Beschluss auf einer BGL-Sitzung. Diesen Beschluss haben wir der Belegschaft mitgeteilt. Wir hätten noch die BGL – und das haben viele gemacht – umtaufen können, aber das wollten wir nicht. Wir haben sofort einen Betriebsrat gewählt. Ich habe für den Betriebsrat kandidiert, die meisten Stimmen gewonnen und bin als Betriebsratsvorsitzende gewählt worden. Ich habe mich sofort freistellen lassen und alle Rechte in Anspruch genommen. Dann bin ich der ÖTV in der DDR beigetreten. Das habe ich mir noch gegönnt. M.S.: Und die ganzen Diskussionen in dieser Zeit, als sich der FDGB aufgelöst hat, also die Entmachtung des Dachverbandes oder auch die Fragen, wie die DDR-Gewerkschaften mit den West-Gewerkschaften kooperieren können usw., wurden diese Diskussionen bei euch nicht geführt? J.S.: Die sind mitgliedernah kaum geführt worden, jedenfalls bei uns nicht. Vielleicht ist es in den Krankenhäusern anders gelaufen als bei uns, aber da müsstest du Regina Zimmer fragen. Regina hat sich von Anfang an sehr bei der ÖTV engagiert. Sie hat nicht nur die ÖTV in der DDR mitgegründet. Sie ist auch sehr zeitig zu Seminaren und Veranstaltungen gefahren, und da mag es durchaus sein, dass diese Diskussionen in solchen Kreisen eine Rolle gespielt haben. Aber dort in den Institutionen, wo die Gewerkschaft, wo die Kollegen von früher her eine eingeschworene Gemeinschaft waren und das Gefühl hatten, ihre Interessen werden vertreten, wie in meinem Institut, dort sind diese Diskussionen nicht gelaufen. Es gab auch in der Gruppe der BGL-Vorsitzenden diese Diskussionen nicht, weder hier in Frankfurt noch in Cottbus. Einmal habe ich mich wahnsinnig aufgeregt, als im Juni oder Juli eine Veranstaltung der Betriebsräte oder BGLer (je nachdem, was sie hatten) der Akademie der Wissenschaften in Adlershof stattfand und dort nur Werbepapier von der GEW verteilt wurde. Da hieß es, reg’ dich nicht auf, der Hinrich Hardtke, das war der Obergewerkschafter der Akademie, will eine Stelle in der GEW haben und hat denen versprochen, 20.000 FDGBMitglieder mitzubringen. Da haben wir gesagt, der Hinrich Hardtke kann viel versprechen, wir überlassen das immer noch unseren Kollegen, in welche Gewerkschaft sie gehen wollen. M.S.: Wie hast du die West-Gewerkschaft ÖTV erlebt?
368 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview J.S.: Conny [Hintz] war inzwischen weg und Günter Dickhausen [Berater in Frankfurt/Oder] kam. Da ich gewöhnt war, in meinem kleinen Reich König zu sein, selbstherrlich zu schalten und zu walten, mit der entsprechenden Literatur im Hintergrund, habe ich mir – wenn ich nicht mehr weiter wusste – eine Liste gemacht, und mit dieser Liste bin ich einmal im Monat zur Fragestunde bei Günter Dickhausen gegangen und habe ihm gesagt: Du, an der und der Stelle komme ich nicht weiter. Wie geht das denn? Meine Kollegen gingen, wenn sie Rat suchten, nicht zur ÖTV, sondern zu mir. Für die Kollegen war ich die Betriebsratsvorsitzende und der Botschafter der ÖTV in Personalunion. Das klappte solange, wie ich am Institut war. Die Rechtsberatung der ÖTV habe ich so gemacht, dass wenn Kollegen mit Fragen kamen, die ich nicht beantworten konnte, ich ihnen gesagt habe, da musst du entweder selbst zur ÖTV gehen oder ich frage für dich. Meist bekam ich zur Antwort: Ach Jutta, dann frag du doch mal für mich. Da ich gesehen habe, dass die ÖTV-Leute rund um die Uhr gearbeitet haben, dachte ich mir, irgendwo wirkst du im Stillen als Multiplikator. Die 400 Hanseln, die du hier betreust, stehen wenigstens nicht bei denen auf der Matte. Zu diesem Zeitpunkt haben wir am Rande diskutiert, dass eine ÖTV-Kreisverwaltung in Frankfurt aufgebaut werden sollte und auch zu Hause überlegt, ob ich mich für eine hauptamtliche Stelle bewerben solle. Ich habe mich bei Günter Dickhausen erkundigt, wie das denn so sei. Als die Ausschreibung kam, habe ich noch sehr, sehr lange überlegt und mich dann beworben. Weil ich das Betriebsratsmandat hatte, habe ich vorneweg meine Kollegen gefragt, wie sie dazu stünden. Da gab es glücklicherweise nette Leute, die gesagt haben: Jutta, wir kommen hier auch ohne dich zurecht. Bei der ÖTV, da kannst du viel mehr Leuten helfen als bei uns. Mach das mal. M.S.: Was war für dich die ausschlaggebende Überlegung, den Beruf zu wechseln? J.S.: Den Beruf zu wechseln war für mich an dieser Stelle einfach. Der Bruch hat ja nicht erst mit der ÖTV eingesetzt, sondern schon 1989, als ich mich für die Arbeitnehmervertretung und für das Neue Forum politisch zur Verfügung gestellt habe. 1989, in dieser Umbruchzeit, gab es in meinem Institut sehr viele politisch interessierte Leute, die vorher auch nicht in der SED gewesen sind und die mit auf die Straße gingen. Aber nur wenige waren bereit sich ganz aktiv zu engagieren. Für mich lag die Schlussfolgerung nahe, Halbleiterscheiben messen, das kann jeder, der das studiert hat. Das hängt nicht von der politischen Haltung ab. Aber wenn du die Gesellschaft verändern willst, kannst du eben nicht mehr Halbleiterscheiben messen wollen, sondern musst dir überlegen, wo du politisch mitgestalten kannst. Das war auch vor Ort an dem Institut möglich, doch jetzt sagte ich frei nach Insterburg, dann wurd’ es mir zu klein und ich zog in ganz Deutschland ein. So habe ich es aber nicht gemeint zum damaligen Zeitpunkt. Wenn man politische Erfolgserlebnisse hat, wenn man erlebt, dass die Kollegen einem Vertrauen schenken, nicht nur jene 15 Kollegen, die ständig mit dir umgehen, sondern auch immer öfter Leute, die dich viel kürzer kennen, wie zum Beispiel die Kollegen im Neuen Forum, du merkst, dass du etwas mitzuteilen hast, das anderen Leuten etwas gibt, dann denkst du, dass dies alles doch ein bisschen mehr ist als diese Halbleitermesserei. Dadurch ist mir der Abschied von meinem technischen Beruf gar nicht so schwer gefallen. Ich habe meinem Beruf keine Tränen nachgeweint. M.S.: Wie hast du die Differenzen Ost-West empfunden? Haben für dich auch schlaue Wessis den dummen Ossis gesagt, wo es lang geht? J.S.: Frankfurt hat mit den Geschäftsführern großes Glück gehabt. Ob Conny, ob Günther Dickhausen und Jürgen Saft, das waren alle drei keine Besserwessis. Das bedeutete aber
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nicht, dass in der Kreisverwaltung nicht mal ein Funktionär oder Praktikant auftauchte, der dir die Gnade seines Geburtsortes aufrechnete. M.S.: Wie ist deine politische Karriere weiter verlaufen? J.S.: Am 18. März waren die Volkskammerwahlen. Wir haben Mitte Mai die Kommunalwahl vorbereitet. Ich habe in Frankfurt kandidiert, in dem Wahlbezirk, wo ich wohne – ein Wahnsinns-PDS-Bezirk. Es gab zehn Wahlbezirke – und sieben Mandate haben wir gewonnen. Ich bin bei der ersten Nachrückaktion ins Stadtparlament gekommen. Die PDS war bei den Kommunalwahlen immer noch stärkste Partei in Frankfurt. Sie ist auch jetzt noch stärkste Fraktion im Parlament, aber die anderen haben zusammen 71%. Bei der Landtagswahl habe ich auch kandidiert, aber eigentlich nur der Form halber, weil wir den Direktmandatsplatz nicht leer stehen lassen wollten. Ich stand auf der Landesliste ganz weit hinten. M.S.: Bist du noch im Stadtparlament? J.S.: Noch bin ich im Stadtparlament. Das ist natürlich wahnsinnig schwer von Potsdam aus, weil die Ausschüsse und Stadtverordnetenversammlungen abends stattfinden. Du musst aber irgendwo Kontakt zum Bürger haben, ansonsten kannst du keine Politik in der Stadt machen. Doch ich hatte gesagt, egal, was kommt, ich stehe bis zum Sommer 1992 zur Verfügung. M.S.: Wie schätzt du die Situation des Neuen Forums ein? J.S.: Die ist belämmert. Dieses Fähnlein der sieben Aufrechten ist vielleicht zusammen mit 20 bis 25 Leuten der Kreis, der noch aktiv ist. Die Leute sind ungeheuer müde, viele mussten ihren Beruf wechseln und sich in der neuen Arbeit erst einmal einarbeiten. Viele, die das Neue Forum wohlwollend betrachten, sind nicht bereit, sich politisch aktiv einzubringen. Wenn wir bei der nächsten Kommunalwahl noch mal 10% holen, können wir froh sein. Im Moment kranke ich wahnsinnig daran, dass ich fast nur noch mit Leuten aus dem Westen diskutiere und außer mit unseren Verwaltungsangestellten kaum mehr Kontakt mit alten DDR-Bürgern habe. M.S.: Wie hast du die Maueröffnung am 9. November erlebt? J.S.: Ich kriege heute noch eine Gänsehaut, wenn ich mir die Fernsehbilder vergegenwärtige. Wenn ich morgens auf den Fernsehknopf gedrückt habe und sah, dass die Mauer offen war, hatte ich manchmal das Gefühl zu träumen. Das alles war meiner Meinung nach nicht fassbar. Ich denke auch, dass es kaum einen gab, der das mit dem Kopf verarbeitet hat.
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Gertraude Sinn Vorstandsmitglied der MSK und GÖD Interview, 1. Halbjahr 1991 G.S.: Ich habe in der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung angefangen und dann bin ich in einen Bezirksvorstand des FDGB gewählt worden. Jetzt ging es Schritt auf Schritt: Zentralschule, Studium an der Hochschule, dann war ich Jugendsekretär, befasst mit Jugend- und Sportfragen und 1981 wurde ich delegiert oder abkommandiert, je nachdem wie man das werten will, in die damalige Gewerkschaft Mitarbeiter der Staatsorgane und Kommunalwirtschaft. Damals habe ich auf dem Gebiet der Sozialpolitik gearbeitet. Das umfasste Fragen der Arbeitsbedingungen, des Gesundheits- und Arbeitsschutzes, zeitweise auch des Arbeitsrechts. Das habe ich gemacht bis im Herbst 1989, dann gab es eine Veränderung in der Struktur der Gewerkschaft und es gab neue Aufgabengebiete. Ich habe mich kurze Zeit befasst mit Fragen der Wohnungspolitik, der Wohnungswirtschaft und der Sozialpolitik und war ab Januar 1990 für Mitbestimmung zuständig. Seit der Delegiertenkonferenz im Juni 1990 war ich stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, weil der Vorsitzende ja ehrenamtlich tätig war. M.S.: Der Vorsitzende einer Einzelgewerkschaft im FDGB war ehrenamtlich? G.S.: Nein, das war eine Erfindung von uns. Es gab eine Zeit lang auch Einzelgewerkschaften im FDGB, die ehrenamtliche Vorsitzende hatten. Das war ein Zugeständnis des FDGB an die Spezifik bestimmter Gewerkschaften. Das war aber bei uns nicht der Fall, das war bei Gesundheitswesen oder Wissenschaft. M.S.: Du warst für Wohnungswirtschaft tätig. Was heißt das? G.S.: Eine kurze Zeit, 1989 und Anfang 1990. Das hing damit zusammen, dass wir uns bemüht haben, die Gewerkschaftsarbeit umzustellen auf die Spezifik der einzelnen Bereiche, die in unserer Gewerkschaft organisiert waren. Das muss ich vielleicht anders erklären. Bis etwa Mitte der siebziger Jahre waren die Industriegewerkschaften und Gewerkschaften so strukturiert, wie ihre Organisationsbereiche waren. Dann gab es einen Grundsatzbeschluss des FDGB: alle Einzelgewerkschaften mussten nach dem gleichen Muster organisiert sein wie die territorialen Vorstände. Da wurde abgeschafft, dass es z.B. eine Kommission gab für den Staatsdienst, eine Kommission für die Stadtwirtschaft, eine Kommission für Wohnungswirtschaft/Wohnungsverwaltung. Das wurde alles abgeschafft und einheitlich organisiert. Das hat nach meiner Auffassung die Mitglieder nicht befriedigt. Es gab ein Querschnittsdenken und es gab Querschnittsentscheidungen. Man ging einfach nicht mehr auf die Probleme ein, die die Mitglieder im Bereich wirklich hatten. Das war eine der wesentlichsten Aufgaben in der Wende, das wieder umzuorganisieren, umzustrukturieren. Es war mehr oder weniger ein Kompromiss zu dieser Zeit, dass wir gesagt haben, jeder Sekretär oder jedes Vorstandsmitglied, das einen Fachbereich leitet, wie bei mir Sozialpolitik, muss gleichzeitig zuständig sein für einen Organisationsbereich. Deshalb habe ich mich mit Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft befasst. Aber der Einfluss auf dem Gebiet war wesentlich geringer als wir uns damals erhofft haben. M.S.: Seit wann warst du Mitglied des Zentralvorstandes der MSK? G.S.: Seit 1981.
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M.S.: Gewähltes Vorstandsmitglied? G.S.: Ich war eine Ausnahme. Ich war ein richtiges gewähltes Vorstandsmitglied und bin auf drei Delegiertenkonferenzen gewählt worden. Auch auf der letzten, 1990. Wahrscheinlich als letzte aus der alten Ära, würde ich sagen. M.S.: Wie hast du im Zentralvorstand der MSK die Wende erlebt? G.S.: Ich habe heute absichtlich noch mal meine Mitschriften nachgelesen aus der Zeit Anfang Oktober `89 und ich war erstaunt, wie weit weg die Diskussion von der eigentlichen, tatsächlichen Entwicklung war. Am 5. Oktober hat der damalige Vorsitzende, Rolf Hößelbarth, einen Beschluss des Bundesvorstandes ausgewertet zu den Wettbewerbsinitiativen anlässlich des 100. Jahrestages des 1. Mai, der 1990 begangen werden sollte. Da hat es an allen Ecken und Enden schon gebrodelt, da wackelte der Sitz von Harry Tisch und da wackelte die ganze Gewerkschaftsbewegung schon gewaltig. Da hat man sich mit solchen absolut unwichtigen und unrealistischen Fragen befasst. Da gab es eine Diskussion über die Struktur der Gewerkschaften. Das war nur eine vordergründige Diskussion gewesen. Wir sind bei allen Bemühen immer an dem Einwand gescheitert, die volkswirtschaftliche Situation ließe es nicht zu, wir müssten das verstehen. An dem, was wir innerhalb des Systems ändern wollten, sind wir nicht vorwärts gekommen. Aber ich muss ehrlich sagen, bei allem, was innerhalb der Organisation oder auch darüber hinaus gebrodelt hat, es wurde zu keiner Zeit das System in Frage gestellt. Die Diskussionen gingen mehr in die Richtung: es sind die falschen Leute am Ruder, die Leute müssen weg und dann kriegt man das auch wieder in Ordnung. Das galt ganz besonders für Harry Tisch. Er und sein Präsidium, doch nicht nur er. Der Harry hatte genügend Speichellecker um sich herum, die wirklich jede eigenständige Aktion der Einzelgewerkschaften, die es damals noch nicht gab, aber wir haben uns zumindest schon so gefühlt, unterbunden haben. Jeder Versuch, der in diese Richtung unternommen wurde, da war unser Vorsitzender nicht der Mutigste dabei. Das ging mehr von Metall und von Bau/Holz aus, also von diesen klassischen Industriegewerkschaften. Die waren auch damals schon sehr selbstbewusst. Aber das geringe Vorwärtskommen, das wurde dann abgewürgt. Die ersten Chancen, die es wirklich gab, die haben wir erst richtig ausnutzen können, als Harry Tisch so gut wie abgelöst war. Auch das war ein Drama für sich. Wir hatten uns hier alle entschieden. Man fühlte sich ja seit Wochen nicht mehr wohl. Man konnte den Druck kaum noch aushalten. In jeder Versammlung, in die man in dieser Zeit kam, stand das Problem, warum tritt der Mann nicht zurück, warum wird er nicht abgelöst. Wir waren der Meinung, es müsse eine Entscheidung fallen. Vor der Bundesvorstandssitzung fand eine Beratung der Parteigruppe statt, wo alle noch mal eingeschworen wurden auf die Linie. Da gab es ein oder zwei IG-Vorsitzende, die gesagt haben, so geht das nicht weiter. Alle anderen haben natürlich ihr Vertrauen zu Harry Tisch erneut bekräftigt. Als unser Vorsitzender abends zurückkam, haben wir alle auf ihn gewartet. Auch das war eine Ausnahme. Wir waren wütend, weil wir alle genau abschätzen konnten, was in den nächsten Tagen passieren würde. Aber er war unberührt davon. Am nächsten Morgen war eine Beratung mit den Mitarbeitern des Sekretariats, die haben gesagt, wir hauen euch die Sachen vor die Füße, wenn ihr nichts macht. Wir haben dann, also diejenigen, die sich einigermaßen für die Sache eingesetzt haben, einen Brief formuliert, in dem wir den Rücktritt von Harry Tisch gefordert haben. Der Vorsitzende war nicht da, der war in einen Betrieb gegangen, wo er an dem Tag auch Prügel gekriegt hat. Die, die da waren, haben unterschrieben und wir haben das am gleichen Nachmittag, das war meine Verantwortung, durch das Radio bekanntgeben
372 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview lassen. Da konnte keiner mehr zurück. Auch das war in dieser Zeit gar nicht so einfach. Heute sagt sich das so leicht. Ja, aber damals waren viele ängstlich: Oh Gott, oh Gott, ich bin ja dafür, dass der abtritt, aber meinen Namen setze ich nicht darunter. Zwei Tage später oder einen Tag später fand dann die Sitzung statt, wo er wirklich zurücktreten musste. M.S.: Am 2. November war der Rücktritt von Harry Tisch. Der Brief, den ihr formuliert habt, der war kurz vorher? G.S.: Zwei Tage vorher. Die Bundesvorstandssitzung war unterbrochen worden und sollte eine Woche später oder sogar noch zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden. Es wurde durch die Massenproteste erzwungen, dass sie früher fortgesetzt wurde. M.S.: Alle waren überrascht, dass die Leute noch mal Harry Tisch das Vertrauen ausgesprochen haben. G.S.: Das viel schwierigere Stück war ja nicht mehr zu sagen, wir sind dagegen. Wogegen wir waren zu dieser Zeit, wussten wir alle sehr genau. Viel schwieriger war, zu bestimmen, wofür wir sind. Wie soll die Gewerkschaftsbewegung jetzt aussehen, womit soll sich die Gewerkschaft befassen, welche Möglichkeiten hat sie überhaupt, wie soll sie strukturiert sein, muss nicht der große Apparat weg? Das waren die viel schwierigeren Fragen, zumal die Mitglieder so etwas erhofft haben. Wir haben zu dieser Zeit schwere Kritik erhalten, dass wir uns nicht genügend äußerten. M.S.: Stimmt die Einschätzung, dass sich die Arbeiter in den Betrieben, oder gar FDGBler und Hauptamtliche, sich nicht an der Wende beteiligt haben? G.S.: Es ist unterschiedlich. Also, ich würde behaupten, dass die Wende nicht nur aus den Demonstrationen von Leipzig kam, sondern dass diese der Auslöser waren. Aber dass genauso viele in den Startlöchern irgendwo gesessen haben, die auch die Wende bewirkt haben, ohne auf der Straße zu demonstrieren. Die Demonstrationen auf der Straße waren sehr wichtig, aber die Wende wurde nicht nur mit Blick auf die Öffnung der Grenzen oder der Ausreisemöglichkeiten bewirkt, sondern für Änderungen im Land. Natürlich war das Präsidium des Bundesvorstandes total hilflos, total. M.S.: Als ab Sommer '89 die Dynamik richtig in Gang kam, als Ungarn die Grenze aufmachte und die ersten tausend Leute abgehauen sind ... G.S.: Da beschleunigte sich das. M.S.: Lässt sich das konkret beschreiben? G.S.: Nein, das hing mit der ganzen Entwicklung der Vorjahre zusammen. Es gab eigentlich eine große Hoffnung auf Gorbatschow. Und mit der Erwartung, dass die Perestroika auch bei uns einziehen würde. M.S.: Sprichst du jetzt für dich? G.S.: Ja, ich spreche für mich im Besonderen. Die Erwartung gab es und die Haltung bei vielen: das ist genau das, was wir brauchen. Deswegen sagte ich vorhin, es wurde lediglich so eingeschätzt, dass die falschen Leute an der Macht sind, es müssen nur andere Leute an die Macht und dann kann man aus dem System etwas Gutes machen. Die Hoffnung verband sich mit der Perestroika. Aber das zog sich hin, das zog sich fürchterlich lange hin. Und dann diese dilettantischen Versuche: Verbot des Sputnik, dann dieser Spruch: „Wenn der Nachbar tapeziert, muss ich nicht tapezieren.“ Plötzlich galt die jahr-
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zehntelange Losung: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ nicht mehr. Jetzt hieß es: Sie bereiten ihren Parteitag, wir bereiten unseren Parteitag vor, jeder hat seine eigenen Aufgaben. Das beherrschte das Denken der Leute sehr lange. Ungefähr seit '86, '88 im Sommer war es sehr, sehr kritisch. Das ist immer die Zeit der Plandiskussion gewesen. M.S.: Was heißt das, wenn du sagst, es war sehr kritisch? G.S.: Das lässt sich an der Plandiskussion festmachen. Ich weiß nicht, ob dir das etwas sagt. Das ursprüngliche Anliegen der Plandiskussion war, man gab eine Kennziffer in den Betrieb, also die Kennziffern, die der Betrieb zu erfüllen hat. Dann wurde darüber diskutiert, man konnte seine Meinung dazu sagen, hoch oder niedrig, machbar oder nicht machbar. Dieses ursprüngliche Anliegen hat es vermutlich nie gegeben. Die Plandiskussionen, die ich mitgemacht habe, verliefen so: Der Abteilungsleiter legte die Kennziffern dar, die Arbeiter schimpften und sagten, das geht nicht, weil wir dies und jenes nicht haben – was meistens auch stimmte – dann ging das Ergebnis zum Ministerium und heraus kam ein höherer Plan. In den Vorjahren wurde das relativ gelassen hingenommen, man schimpfte zwar, aber man sagte, ich kann sowieso nichts ändern. So ab '88, da wurden diese Diskussionen, dass sich etwas ändern müsse, lauter und sie wurden auch bestimmter. '89 in der Plandiskussion, da war es ganz kritisch. Da gab es Betriebe, die das glatt abgelehnt haben. Sehr zu Recht, weil das immer eine Riesenaktion war, hinter der nicht wirklich etwas stand. Im Sommer waren die Leute im Urlaub, jeder wusste, der Plan war noch gar nicht ausgearbeitet, aber er musste diskutiert werden. Es sollten vier Wochen Zeit sein im Betrieb, damit jeder auch seine Meinung sagen konnte, in der Regel hatten sie zwei Tage. Es war eine gigantische Seifenblase und die hat man zu dem Zeitpunkt einfach nicht mehr hingenommen. Wir hatten das erste Mal, muss ich sagen, das erste Mal eine wirklich kritische Stellungnahme gemacht. Der Zentralvorstand machte jedes Jahr eine Stellungnahme und je nachdem, wie gefestigt der Stand dieser Einzelgewerkschaft beim FDGB-Bundesvorstand war, konnte sie sich was erlauben oder nicht. Unser Stand war nie sehr gefestigt, wir waren nicht so bedeutend, deswegen, alles, was wir kritisch empfanden, musste da noch lange nicht drin stehen. M.S.: Aber bei euch waren doch alle wichtigen Leute organisiert? G.S.: Ja, das siehst du so, das war aber nicht das Bild der DDR. Du musst bedenken, dass es eine Verglorifizierung der Arbeiterklasse gab, und da passte doch nicht der Staatsdienst rein. Der Staatsdienst war hässlich zu der Zeit, der verbrauchte nur Geld und brachte nichts. Deswegen konnten wir nur etwas gewinnen in dieser Zeit als Dienstleistungsgewerkschaft, als Gewerkschaft der schmutzigen Wäsche, hieß es immer bei uns, weil wir da ein paar Arbeiter zum Vorzeigen hatten. Aber zurück zu der Stellungnahme: Wir hatten da wirklich eine erste, sehr kritische Stellungnahme gemacht. Das war eine gute Entscheidung, sie auch mit dem gewählten Zentralvorstand zu beraten. Zu diesem Zeitpunkt war es wirklich etwas Besonderes, etwas Kritisches auszusprechen. Man honorierte, dass endlich mal die Wahrheit gesagt wurde. Damit war nichts verändert, aber es war erstmal das Bedürfnis erkannt und auch dem Bedürfnis entsprochen, ehrlich zu sein. M.S.: Ist das publiziert worden? G.S.: Natürlich, die haben das mit nach Hause nehmen können und wir haben Auszüge davon veröffentlicht. Beim Bundesvorstand ist es nicht sehr gut angekommen und es gab auch massiven Druck von der Partei. Es gab ja jeweils Abteilungen im Zentralkomitee, die für die Bereiche zuständig waren. Unsere war die Abteilung Leicht-, Lebensmittel-
374 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview und bezirksgeleitete Industrie. Die hat von uns verlangt, die Stellungnahme im September '89 zu ändern. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Deswegen sage ich, dieses Aufbegehren oder diese Unzufriedenheit mit dem, was wirklich war, das hat nicht erst mit den Ausreisen begonnen. Die Ausreisen waren ein Ergebnis dieser unzufriedenen Lage oder Situation. M.S.: Im September hat die Partei noch von euch verlangt, das zurückzunehmen? G.S.: Ja. Wir haben ihn natürlich nicht geändert, das ist klar. Der Vorsitzende war im Urlaub. Das war im August. Offiziell, wenn man die Zeitungen aus dieser Zeit liest, war alles noch in Ordnung. Am 7. Oktober war die Welt noch in Ordnung. Honecker trat ja erst am 16. Oktober zurück oder musste zurücktreten. M.S.: Wie hast du das selbst empfunden? Kein Mensch konnte sich vorstellen, was für eine Dynamik da entsteht. G.S.: Es war eine ungeheure Geschwindigkeit in der Entwicklung. Das kann man wirklich kaum nachvollziehen. ich weiß, dass es auch innerhalb der Partei eine Zeit gab, wo man gesagt hat, so kann es nicht weiter gehen. Es ist mir persönlich 1988 das erste Mal so gegangen. Da war ich zur Weiterbildung in Potsdam/Babelsberg an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften. Wir hatten als Gewerkschaft MSK die Möglichkeit, uns dort weiterzubilden, wo viele Mitarbeiter aus den Ministerien Vorträge hielten. Was die zu dieser Zeit schon erzählt haben, das hat mir, glaube ich, die letzten Illusionen genommen. Da habe ich zum ersten Mal von Schalck-Golodkowski gehört. Der war zu dieser Zeit für uns und in der Öffentlichkeit noch gar kein Thema. Das wusste ja keiner, so was. Von der Zeit an spürte man absolut das Bedürfnis, dass sich auch in der Politik der Partei etwas ändern müsse. Wie gesagt, immer mit der Hoffnung, man müsse andere Leute an die Spitze setzen und dann sei die Sache noch zu retten. Ich bin dann, es war die erste Dezemberwoche 1989, drei Tage zu Hause gewesen. Ich war richtig krank, drei Tage richtig krank, und danach bin ich hierher gekommen und habe mein Parteibuch auf den Tisch gelegt und gesagt: Ich kann nicht mehr. Ich war die erste im Sekretariat. Das war nicht einfach. Ich kann mich an Äußerungen erinnern in der Sekretariatssitzung wie: Na, darf denn so jemand noch bei uns arbeiten? Und das von Leuten, die später von dieser Zeit nichts mehr wissen wollten, die plötzlich nie in dieser Partei gewesen waren. Aber ich denke, es war vielleicht schon zu spät, man hätte es noch früher machen müssen, um etwas zu bewirken. M.S.: Was war für dich der entscheidende Grund, aus der Partei auszutreten? G.S.: Das Entscheidende war, dass es nach Honeckers Rücktritt keine wesentlichen Änderungen gab. Ich musste mich lösen von der Auffassung, dass es wirklich nur von Personen abhinge und begreifen, dass einfach das Konzept falsch war. Das hat auch ein bisschen mit der Vergangenheit zu tun. Stalinismus war für mich in erster Linie Personenkult. Wenn kritisiert wurde, hier seien stalinistische Methoden oder so, dann konnte ich das nie nachvollziehen. Mir ist eigentlich in diesen drei Tagen, wie gesagt, als ich richtig krank war, als ich mit mir ins Reine kommen musste, klar geworden, dass eigentlich dieses voluntaristische Herangehen das Hauptproblem war. Es wird politisch entschieden, egal, wie die ökonomische Situation ist, oder egal, wie die Leute denken: Es muss so sein, wie wir das wollen. Das konnte nicht gut gehen. Das war der Auslöser, dass ich gesagt habe, das trage ich nicht mehr. Obwohl es, wie gesagt, nicht einfach war, aber es sind nach mir, glaube ich, viele gegangen, die nur darauf gewartet haben. Nur, wie gesagt, es war nicht mehr viel zu retten.
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M.S.: Wie ging es mit der Gewerkschaft weiter? G.S.: Ich sagte vorhin, das Schwierigste war zu sagen: Was wollen wir jetzt eigentlich? Es gab auch bei den Mitgliedern eine furchtbare Verwirrung. Der Ärger mit Harry Tisch. Ein Teil rief, Gewerkschaften ganz abschaffen, ein anderer Teil war durchaus bereit zu sagen, wir müssen etwas ganz anderes machen und viele haben gesagt, das hatten wir früher schon mal, wir brauchen nur die Tradition zurück. Auf einer der ersten, wichtigen Sitzungen, die wir auf dem Gebiet hatten, haben wir unseren eigenen Standpunkt vorgestellt. Das war der 22. November, das war mein Geburtstag, sonst würde ich mich nicht erinnern. Aus heutiger Sicht, würde ich sagen, unser Standpunkt entsprach dem, was die Mitglieder als brennende Probleme empfanden. M.S.: Welche Sitzung war das? G.S.: Das war eine Zentralvorstandstagung und zwar eine erweiterte, wo wir den gewählten Zentralvorstand und zusätzliche Leute eingeladen hatten. Das hing ein bisschen damit zusammen, dass unser gewählter Zentralvorstand mit 120 ehrenamtlichen Mitgliedern auch recht müde war. Es waren Leute, die immer wieder reingewählt wurden, weil eben kein anderer wollte. Es waren nicht viele, die auf die Barrikaden gingen. Es gab welche, aber nicht alle. Da kam nicht mehr sehr viel und deshalb haben wir versucht, noch zusätzliche Leute mit reinzunehmen, die neue Ideen hatten und mit denen man auch diskutieren konnte. Es war eine sehr konträre Diskussion. Am Anfang gab es einen Misstrauensantrag gegen den Vorsitzenden. Der Antrag wurde abgewürgt. Gut, zu der Zeit waren wir noch nicht so weit, aber von der inhaltlichen Diskussion her hat uns die Tagung vorwärts gebracht. Wenn man sich das heute durchliest, sind das alles Dinge, die vermutlich für eine DGB-Gewerkschaft völlig normal sind: Eigenbestimmung, Selbständigkeit, Interessenvertretung und solche Dinge, die für uns eben etwas bedeuteten und die wir uns erkämpfen mussten. Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch kein eigenes Geld, unterlagen immer noch den Beschlüssen des Bundesvorstandes, immer noch. Auch wenn Harry Tisch weg war, war Annelies Kimmel da, und die entschieden immer noch über uns – und das bis zum Januar. M.S.: Ihr habt eine eigene Zeitung gehabt oder lief es über die Tribüne? G.S.: Nein, wir hatten ein Mitteilungsblatt oder Informationsblatt. Das war nicht sehr geschickt gemacht. Das kam monatlich heraus, aber in einem sehr begrenzten Umfang. Je Grundorganisation eins in etwa. Wir finanzierten das nicht, sondern das finanzierte alles der Bundesvorstand, der druckte es auch, der genehmigte es auch, und wehe, es stand was Falsches drin. M.S.: Habt ihr die Beschlüsse der Tagung publiziert? G.S.: Die haben wir in einem Sonderdruck verfasst und breit gestreut. Ich habe es an der Post gemerkt in diesem Zeitraum. Wir haben auf viele Dinge geantwortet, wir haben auf Standpunkte der Grundorganisation geantwortet, fast jede Grundorganisation hat eine Antwort bekommen. Ein Riesenaufwand, aber es kamen sehr viele interessante Vorschläge. Es gab natürlich auch viel Quatsch, das muss ich sagen, im Überschwang der Gefühle, so nach Trotzki: Die Gewerkschaft muss die Wirtschaft übernehmen. Das gab es auch, aber das war sicherlich der Zeit geschuldet. Aber es gab sehr viele kluge Ideen, was die Entwicklung der Gewerkschaft betrifft, sonst hätten wir ja gar nicht diese Struktur, diese Satzung entwerfen können, wenn wir nicht gewusst hätten, was die Mitglieder wirklich
376 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview wollen. Wir haben im November mit dem Entwurf der Satzung begonnen, sie dann zweimal im Zentralvorstand vorgestellt und ab März in die Grundorganisation gegeben. M.S.: Ist die Satzung beschlossen worden? G.S.: Nein. Der Zentralvorstand hat sie zweimal beraten, denn die Satzung enthielt Strukturfragen und Fragen der innergewerkschaftlichen Demokratie. Deshalb zweimal im Zentralvorstand, damit sie auch reif genug ist. Herausgegeben haben wir sie im März, weil wir am 15. März den Namen der Gewerkschaft geändert haben. M.S.: MSK in Gewerkschaft Öffentlicher Dienst? G.S.: Genau. Das war ein wichtiger Punkt dieser Diskussionen seit November '89, dass man sich endlich von diesem unmöglichen Namen trennen sollte, mit dem sich kein Mitglied identifizieren konnte. Keiner war stolz darauf, MSK-Gewerkschafter zu sein. Das hing auch damit zusammen, dass diese Gewerkschaft, glaube ich, sechsmal den Namen gewechselt hat, immer auf Beschluss des Bundesvorstandes. M.S.: Wurde zu dem Zeitpunkt 15. März schon die Frage diskutiert, ob man sich westdeutschen Gewerkschaften anschließen oder ob man mit denen kooperieren soll? G.S.: Wir haben am 14. März 1990 auf der Zentralvorstandssitzung eine Erklärung zur deutschen Frage behandelt. Da steht ganz konkret drin, dass wir ganz enge Arbeitskontakte sowohl mit der Gewerkschaft ÖTV als auch der Gewerkschaft HBV angehen wollen. Es hatte eine erste Beratung mit der ÖTV am 20. Dezember 1989 gegeben. Da ist das noch ein bisschen schwierig gewesen. Geboren wurde diese Idee aus der Diskussion, wir müssten uns mit jemandem beraten, der mehr Erfahrung hat in der Gewerkschaftsarbeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. M.S.: Zum Klassenfeind gehen und um Unterstützung bitten? G.S.: Genau so. Also sind die beiden Jüngsten aus dem Sekretariat gegangen, der Kollege Helmut Krause, der damals neu im Sekretariat war und ich. Wir haben gesagt, uns stört das nicht, warum sollten wir das Fahrrad noch mal neu erfinden, wir holten uns Anregungen. M.S.: Mit wem habt ihr geredet? G.S.: Wir haben mit der Margareta Fohrbeck gesprochen, dann mit dem Klaus Dieter Wittler und mit dem, ich glaube, das war der Kollege Beck aus dem Büro in Bonn. Da ging es um DGB-Beziehungen, das war einer der Wünsche, die wir hatten. Wie ist das Verhältnis zum Dachverband? Das war etwas, was wir neu lernen wollten. Deswegen diese Zusammensetzung. Dann gab es am 19. Januar, glaube ich, ein Gespräch mit Monika Wulf-Mathies in West-Berlin. Da hatten wir schon den neuen Vorsitzenden, den wir ihr dann vorgestellt haben. M.S.: Wann habt ihr den Vorsitzenden gewechselt? G.S.: Hößelbarth starb im Dezember ganz plötzlich. Am 3. Januar war eine Zentralvorstandstagung, auf der wir provisorisch, wir konnten ja keine Delegiertenkonferenz einberufen über Weihnachten, einen neuen Vorsitzenden im Zentralvorstand gewählt haben. M.S.: Mit welchen Vorstellungen seid ihr zum außerordentlichen FDGB-Kongress gefahren?
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G.S.: Die Kernpunkte waren, zu sichern, dass der Dachverband auch wirklich nur ein Dachverband ist. Dass die Einzelgewerkschaften wirklich eine Selbständigkeit erhalten. Das war nicht nur mit einer Deklaration getan, da musste auch das ganze Drum und Dran stimmen. Der zweite Punkt war, und das war auch der Zeit geschuldet, wir wollten das Gewerkschaftsgesetz. Dass wir darüber später ganz anders gedacht haben, gehört in eine andere Zeit. Aber zu dieser Zeit hat es die gesamte Gewerkschaftsbewegung vor dem Zusammenbrechen bewahrt. Es war der Höhepunkt des Kongresses, das Konstruktivste, was er zustande gebracht hat. M.S.: Für mich war das völlig unverständlich. G.S.: Ich sage ja, das war dieser Zeit geschuldet. Wir glaubten, eine Rechtsgrundlage für unsere Arbeit zu brauchen. Wir haben unsere Positionen in dieser Zeit öfter überdenken müssen. Das war mit den Betriebsräten genauso. Wir haben am Anfang eine ablehnende Haltung bezogen. Das konnte in den ÖTV-Kontaktbüros auch keiner verstehen. Aber das hatte Ursachen. Es gab bei uns eine Entwicklung, auch das war der Vorgeschichte geschuldet, dass Äußerungen laut wurden, wozu brauchen wir überhaupt noch Gewerkschaften? Wir machen nur noch Betriebsräte, und die waren gewerkschaftsfrei. Also die Betriebsräte wurden gebildet, um die Gewerkschaft aus dem Betrieb zu drängen. Dagegen mussten wir uns aussprechen. Natürlich haben wir dann, als die Funktion der BGL sich überlebt hatte, uns für Betriebsräte eingesetzt. M.S.: Haben Betriebsräte versucht, die Gewerkschaft aus dem Betrieb zu drängen oder wollten sie die BGL aushebeln? Die BGL waren doch ziemlich verhasst. G.S.: Nein, das würde ich nicht so sagen. Es gab auch welche, denen heute noch nachgetrauert wird. Nein, das Schlimme war, dass es jetzt Direktoren gab, die gesagt haben, ich mache mir jetzt einen Betriebsrat und so werde ich die unbequeme BGL los. Das war der Auslöser. Es gab doch zu dem Zeitpunkt schon Betriebsleiter, die Marktwirtschaft geprobt haben. Und die nutzten natürlich diese allgemeine Entwicklung und sagten, weg mit der blöden BGL, die mir dauernd in die Arbeitsverträge reinredet und, und, und. Ich nehme mir einen Betriebsrat, der muss den Betriebsfrieden wahren und dann habe ich ein gutes Leben. So waren die Vorstellungen. M.S.: Wir haben vom DGB aus Kontakt zu euren Oppositionellen gehabt und mit ihnen Seminare gemacht. Wir haben immer die Empfehlung gegeben, die alten BGLen auszuhebeln: Macht Betriebsräte, macht Personalräte, das ist eine demokratische Institution. Jeder Kollege ist aufgefordert, mit zu entscheiden, und ihr bestimmt auch, welcher Kollege euer Vertrauen hat. G.S.: Die oppositionellen Leute hatten sicherlich in vielem Recht. Aber sie haben sich vorher für den Betrieb nicht so sehr interessiert. Die Gewerkschaft im Betrieb war in der DDR eine Möglichkeit, wo man vieles machen konnte. Und es gab immer Gegenstimmen bei Gewerkschaftswahlen, immer, und die durften auch sein. Etwas, was es in anderen Bereichen nicht gab. Es gab auch schlimme BGL-Vorsitzende, das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Es gab, na ja, Leute, die eben auf so einen Posten gesetzt wurden und nichts brachten. Aber ich kenne viele engagierte BGLer. Ich kenne welche, die heute noch Betriebsrat sind, die eben gut sind, die sich eingesetzt haben. M.S.: Mir ist schon klar, dass es BGL-Vorsitzende gab, die versucht haben, etwas für ihre Leute zu tun, die anerkannt waren, die sich anständig verhalten haben. Aber ich habe den Eindruck, dass das die Ausnahme gewesen ist, bestimmend war die andere Fraktion,
378 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview dieser Filz von Partei und Gewerkschaft mit den Karrieremöglichkeiten über die BGL aufwärts? G.S.: Das kam auf die Größe an. Wenn das ein BGL-Vorsitzender in einem großen Kombinat war, würde ich ohne weiteres zustimmen. Absolut, da kamen auch meistens Parteikader hin. Aber in einem mittleren Betrieb, wo man seine Arbeit noch machen musste und trotzdem der Vertreter für die Kollegen sein sollte und immer Prügel kriegte, also da hatte das mit Karriere nichts mehr zu tun. Der BGL-Vorsitzende bei einem Rat des Kreises, der hatte es schwer, der hatte es sehr schwer. Vor allem, weil ein Staatsfunktionär ja nie ein Arbeitgeber nach innen war, sondern nur ein Ratsvorsitzender. Das war nicht vergleichbar mit diesen Helden, die immer mit den Orden durch die Gegend rannten. Das war in unserem Bereich nicht so. M.S.: Nach dem FDGB-Kongress war das Gewerkschaftsgesetz ein großes Thema. Das Gesetz ging ja auch noch durch die alte Volkskammer? G.S.: Na ja, wir hatten der Volkskammer gedroht und wir hatten auch der Regierung gedroht. Da haben sie es noch beschlossen. Aber dazwischen lag ein anderer, schwieriger Punkt für unsere Gewerkschaft, der auch dazu beigetragen hat, dass wir den Namen ändern wollten: Als wir für den Staatsdienst die ersten Rationalisierungsmaßnahmen abgeschlossen hatten, wurden sie total fehlinterpretiert. Uns wurde unterstellt, wir hätten das für die Staatssicherheit geregelt. Jeder, der in diesem Land einigermaßen zu Hause war, weiß, dass die Staatssicherheit nicht gewerkschaftlich organisiert war, weil sie ja nach Befehlsgewalt handelte. Aber das hing uns an. In vielen unfairen Diskussionen hieß es dann „Stasigewerkschaft“ und was weiß ich nicht alles. Nur weil wir die Staatsorgane vertreten hatten. Aber Bürgermeister und Mitarbeiter im Rathaus hatten mit Uniformierten nicht das Geringste zu tun und auch nicht mit den Zivilen. Das war auch ein ausschlaggebender Punkt, warum wir von dem Namen weg wollten. Die Einzelgewerkschaften standen damals konträr zu dem, was wir gemacht haben. Sie waren absolut gegen die Vereinbarung zum Schutz der Beschäftigten. Auslöser dafür, dass wir aktiv wurden, war die Regierung, also der Ministerrat. Der begann neue Strukturen zu entwickeln. Es wurden über Nacht Leute auf die Straße gesetzt im Staatsdienst. Wenn einer wegen Korruption gehen musste, für den hätten wir uns nicht eingesetzt, aber es wurde genutzt, um ganze Massen von Leuten zu entlassen, vor allem Unbequeme. M.S.: Ein großes Ereignis auf dem Kongress war die Bekanntgabe des Modrow-Briefes „Deutschland einig Vaterland.“ G.S.: Das war interessant. Der Modrow-Brief wurde vorgelesen, weil man erwartete, dass Empörung aus dem Saal kommt. Doch es kam Beifall. M.S.: Woher weißt du das? G.S.: Das weiß ich aus Gesprächen am Rande. Ich war hinter der Bühne, ich war bei der Antragskommission des Kongresses. Ich weiß, wie die Nachricht aus dem Fernschreiber kam und wir dachten: das müssen wir jetzt sofort dem Kongress vorlegen. Das verändert alles. M.S.: Im März gab es bei euch immer noch keinen Delegiertenkongress, sondern alles lief auf Vorstandsebene? G.S.: Richtig. Wir konnten keinen Kongress machen, ohne Wahlen gemacht zu haben.
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M.S.: Wie war euer Selbstverständnis? Wolltet ihr eine selbständige Gewerkschaft Öffentlicher Dienst in der DDR oder habt ihr die Idee gehabt, mit der ÖTV zusammen zu gehen? G.S.: Es gab eine erste Überlegung, dass man nicht mit den gleichen Strukturen weiter arbeiten kann, wenn die Entwicklung in Richtung Einheit geht. Am 13./14. Februar war ich in Düsseldorf bei der HBV und dort haben wir die Vorbereitung getroffen, was den Bereich Banken, Versicherungen und ähnliches und die Ausgliederung dieser Bereiche betrifft. Das war das erste Gespräch und das klappte auf Anhieb, so dass ich am 15. Februar, gemeinsam mit einem Kollegen von der HBV, zur Zentralvorstandstagung zurück geflogen bin. Der hat hier die Vorstellungen erläutert und wir haben das gleich in einen Beschluss reingepackt. Das war die eine Hälfte, die wir vorbereitet hatten. Dann dachten wir, man müsste auf dem Gebiet der DDR die Gewerkschaften zusammenschließen, die der Struktur der ÖTV entsprechen. Also, im vorhinein eine Struktur vorbereiten, die eine Fusion oder Vereinigung mit der ÖTV ermöglicht. Dazu hatten wir eine Beratung, das weiß ich jetzt nicht mehr, Ende Februar oder Anfang März einberufen. Unser Vorsitzender Achim Wegrad hatte den Vorsitzenden der Gewerkschaft Gesundheitswesen eingeladen, Wissenschaft war dabei, Unterricht und Erziehung, Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der NVA, Gewerkschaft der Armeeangehörigen, Transport. Also alle, die in Teilen oder insgesamt zur ÖTV gehört hätten. Dort haben wir das erste Mal diese Gedanken diskutiert. Leider muss ich heute sagen, fand das überhaupt keine Resonanz. Ich weiß nicht, ob ich den Vorsitzenden Unrecht tue, aber manchmal hatte ich den Eindruck, sie wollten ihre Pfründe nicht verlieren. Es kamen die unterschiedlichsten Begründungen: Ich habe von meiner Mitgliedschaft keine Legitimation für eine solche Entscheidung oder wir möchten lieber auf die GEW zugehen oder Wissenschaft wollte ein eigenständiges, assoziiertes Mitglied beim DGB werden oder das ist alles zu früh, man muss das später angehen. Also, es gab die unterschiedlichsten Vorstellungen. Ich glaube, das war die Zeit, als wir die wichtigsten Entscheidungen verpasst haben. Dann ging das mit der HBV sehr schnell. Da wurden schon Satzungsfragen diskutiert, so dass wir uns für den übrigbleibenden Bereich irgendwie auch schneller drehen mussten. Wir kamen dann auf die Idee, die Mitglieder zu fragen. Wir haben dann versucht, eine Art Urabstimmung zu machen. Das Wort ist sicherlich zu hoch gegriffen, weil wir zu diesem Zeitpunkt gar keine konkreten Mitgliederlisten hatten. Wir haben auf jeden Fall so um die 300.000 Fragebögen herausgegeben und drei Möglichkeiten gelassen: entweder die DDR-Gewerkschaften sollten sich zusammenschließen oder mit der ÖTV in der DDR zusammengehen oder gleich direkt mit der ÖTV. Ich habe die Statistik aus den Rückantworten, die kamen, selbst gemacht. Das ging wie geschmiert. Es gab sicherlich auch Bereiche, wo mancher nicht hingegangen ist mit seinem Fragebogen und die nicht gefragt worden sind, deshalb will ich nicht sagen, das sei repräsentativ für alle gewesen. Aber die Antworten, die eingegangen sind, habe ich prozentual ausgewertet. Da waren über 90% für ein direktes Zusammengehen mit der ÖTV. Deshalb gab es im Juni diese Vereinbarung über das direkte Zusammenwachsen, wie immer sich das auch gestalten sollte. Das war wirklich eine echte Mitgliederentscheidung. Das hatte nichts damit zu tun, dass die Mitglieder das, was wir aufgebaut hatten, nicht mehr haben wollten. Im Gegenteil, sie haben es sehr genossen, dass wir eine neue Struktur hatten, die ihren Vorstellungen entsprach. Diese Struktur haben wir im Januar mit den gewerkschaftlichen Fachverbänden begonnen. Das, was in der ÖTV die Arbeitsgruppen sind, hatte bei uns vielleicht eine noch höhere Bedeutung. Unsere Fachgruppen hatten noch mehr zu entscheiden und
380 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview mehr zu sagen. Darüber haben wir auch die Wahlen durchgeführt, d.h. die Delegierten zur Konferenz gewählt. Da hatten wir noch mal einen richtigen Aufschwung, ein richtig starkes Engagement. M.S.: Wie wurden die konkreten Schritte diskutiert? Wie habt ihr euch das vorgestellt, wie das laufen sollte? G.S.: Das wird sehr, sehr schwer nachzuvollziehen sein. Wir hatten einige Vorbereitungen getroffen. Wir waren der Meinung, es müsse einen Zusammenschluss der Gewerkschaften in diesem Bereich geben. Das war so unsere Vorstellung. Wir hatten eine Struktur ausgearbeitet, wo Vorstände angesiedelt werden müssten, und wir hatten auch ein paar Vorstellungen, wie das laufen sollte. Wir sind auch mit solchen Überlegungen herangegangen, dass hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre entlassen werden müssten. An solche Fragen sind wir herangegangen. Aber wir wollten zumindest die gewerkschaftlichen Fachverbände erhalten, also die ehrenamtlichen Gremien, die wir ins Leben gerufen hatten. Dann gab es die Vereinbarung im Juni. M.S.: Ein Kooperationsabkommen? G.S.: Nein, es gab kein Kooperationsabkommen mit uns, weil wir mit dem ersten Kooperationsabkommen nicht einverstanden waren. M.S.: Warum? G.S.: Es gab viele Gründe, aber es erschien uns kein demokratisches Herangehen, so wie wir uns das vorgestellt hatten. Es gab einen Punkt, bei dem wir damals sehr allergisch waren. Wir haben das nachher geschluckt, aber damals waren wir sehr allergisch, und zwar war das der Punkt, dass für die Übernahme der hauptamtlichen Mitarbeiter entscheidend sei, dass sie eine Erklärung unterschreiben, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben. Das hatte nichts damit zu tun, dass wir angenommen haben, unsere Mitarbeiter wären bei der Staatssicherheit beschäftigt gewesen, überhaupt nicht. Das ist zwar anschließend so interpretiert worden, aber das hatte ganz einfach mit unserem Selbstbewusstsein zu dieser Zeit zu tun und auch mit der Vorgeschichte. Es gab beim alten FDGB-Bundesvorstand einen Beschluss S 5, in dem stand, dass jeder, der Westkontakte hatte, das regelmäßig melden musste. Jeder, der Westverwandtschaft hatte, musste dazu immer eine Erklärung abgeben. Jetzt kommt von einer demokratischen Gewerkschaft als erstes wieder die Forderung, eine Erklärung abzugeben. Wir haben das nicht alleine entschieden, wir haben das im großen Kreis diskutiert. Alle haben gesagt, das ist doch unmöglich, so was kann man doch nicht zulassen. Also haben wir gesagt, das unterschreiben wir nicht. Dadurch kam das ganze Kooperationsabkommen natürlich in Gefahr. Es gab dann da auch noch ein paar Hemmnisse, die sicherlich eine Rolle gespielt haben. Wie gesagt, die Entwicklung mit der HBV lief damals recht gut. Es gab durch die bereits vorhandene oder angestrebte Struktur auch organisatorisch wesentlich bessere Möglichkeiten mit der HBV zusammen zu arbeiten. Die HBV konnte ja geschlossen Fachverbände übernehmen. Es gab die ersten Tarifverhandlungen, während im Bereich des Öffentlichen Dienstes sich alles hinzog. Dadurch gab es sicherlich auch Spannungen mit uns, über die ich nicht so gut Bescheid weiß. Jedenfalls war die ganze Zusammenarbeit mit der ÖTV gefährdet. Es gab dann als Ergebnis einer Beratung mit den damaligen Leitern der Bezirksgeschäftsstellen einen Brief an Monika Wulf-Mathies. Dort wurden in Richtung einer Zusammenarbeit mit der ÖTV weitere Schritte vorgeschlagen. Daraufhin sind Jürgen Kaiser, Helmut Krause und ich Ende Mai nochmals nach Stuttgart gefahren. Wir haben, ich vermute es nur, aus heutiger Sicht, den Hauptvorstand mit unseren Positionen
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überrascht. Die Absicht, die sie hatten, so hat Monika Wulf-Mathies gesagt, ist damit eigentlich überlebt. Wir gehen gleich den nächsten Schritt. In der Nacht wurde ein neues Abkommen vorbereitet und am 29. Mai von den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften unterschrieben. M.S.: Welches Abkommen war das? G.S.: Das war die Vereinbarung über die Zusammenarbeit der DDR-Gewerkschaften mit der ÖTV. Und dieses Abkommen führte zu ganz konkreten Arbeitsschritten: Bildung von Ausschüssen, die auf einzelnen Gebieten – Strukturfragen, Mitbestimmung, Sozialpolitik – zusammen arbeiten sollten. M.S.: Bist du in einen Ausschuss gegangen? G.S.: Ja, ich war im Ausschuss Mitbestimmung. Sonst hätte ich die Personalratswahlen gar nicht in dem Maße durchführen können, wie wir das gemacht haben. Wir haben uns bereit erklärt, zu unserer Delegiertenkonferenz am 8. Juni, Aufnahmeerklärungen für den Eintritt in die ÖTV zu verteilen. Wir wussten ja, es gab den Drang der Mitglieder, einzutreten, und es gab eine Vorstellung vom Orgabereich der ÖTV, wir sollten erst eine Mitgliedererfassung machen. Sie würden dann jedes einzelne Mitglied, das erfasst ist, einzeln anschreiben und zum Beitritt auffordern. Wir haben gesagt, das ist doch ein Umweg, gebt uns die Beitrittserklärungen und ihr kriegt die massenhaft zurück. Ja, wunderbar, alles klar. Die Delegiertenkonferenz kommt heran, wir hatten alles vorbereitet: Aufruf zum Eintritt in die ÖTV, Flugblätter, Erklärung der Delegiertenkonferenz. Es gab sicherlich auch Vorbehalte, ob wir das ehrlich meinen oder ob wir, was weiß ich, unsere Position nur retten wollen. Das war auch bei einigen nicht von der Hand zu weisen. Leider kamen die Beitrittserklärungen nicht zum Zug. Uns wurde gesagt, dass sie auf Wunsch der Berater, die hier vor Ort tätig waren, eingestampft worden waren. Ich nehme an, dass das damit zu tun hatte, dass am Tag nach unserer Delegiertenkonferenz die Delegiertenkonferenz statt fand, auf der die ÖTV in der DDR gegründet wurde. Man wollte sicherlich den kleinen Erfolg mit der ÖTV der DDR nicht kaputt machen, indem man uns massenhaft die Beitrittserklärungen gegeben hätte. So sag ich das heute. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat. Es gab bestimmt auch Rivalitäten. M.S.: Das gibt doch keinen Sinn? G.S.: Das sagst du so. M.S.: Mir leuchtet schon ein, dass das eine bewusste Entscheidung gewesen ist, aber nicht, warum euch das nicht gesagt worden ist. Ihr müsst doch eine Erklärung gekriegt haben? G.S.: Ja, die Berater haben entschieden, dass das nicht gemacht wird, hat Wolfgang Warburg gesagt. M.S.: Sie haben euch nicht gesagt, ihr sollt dann in die neu gegründete ÖTV eintreten? G.S.: Im Gegenteil, nein. Als wir in Stuttgart waren, spielte das ja eine Rolle. Deswegen war dieses erste Kooperationsabkommen nicht zustande gekommen, weil wir als Gegenvorschlag geäußert hatten, wenn schon nicht die einzelnen DDR-Gewerkschaften als Ganze zusammen kommen, dann sollten wir doch unsere guten Kontakte zur ÖTV in der DDR, also zu diesen Gruppen, die sich anfangs zur Gründung einer ÖTV der DDR gebildet hatten, nutzen. Mit denen hatten wir guten Kontakt, und wir sollten mit ihnen zusammen gehen. Es gab auch viele in diesen Gruppen, die mit uns zusammen gehen woll-
382 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ten, die gesagt haben: Ihr seid nicht die Alten, ihr seid was anderes, was Neues und warum sollen wir uns nicht zusammen tun. Als wir in Stuttgart waren, sagte Monika WulfMathies, wir sollten Abstand nehmen, wir würden dieses zarte Pflänzchen ÖTV in der DDR ja mit unserem Übergewicht erdrücken. Sie möchten die ÖTV in der DDR in der Hinsicht sehen, dass sich dort mehr die oppositionellen Kräfte sammeln sollten, die nicht mehr in die DDR-Gewerkschaften gehen wollten. Es sollten sich dort die Mitglieder sammeln, die von der Struktur her nicht mehr rein passen, also z.B. Energie, die nicht als fertige Gewerkschaft übernommen werden könnten. Für die sollte sich die ÖTV in der DDR eigentlich stark machen. Das haben wir akzeptiert. Wir haben von unserer Delegiertenkonferenz ein Grußwort nach Magdeburg geschickt. Nur vor Ort zeigte sich das völlig anders. Ich denke, dass die Berater auch ein bisschen unter Erfolgszwang standen und nicht nur nach den Alternativen gesucht haben, die Wulf-Mathies aufgezeigt hat. Die sind in die Betriebe gegangen und haben gesagt, tretet aus aus den DDR-Gewerkschaften, kommt zu uns. M.S.: Und das hat auch stattgefunden? G.S.: Das war unterschiedlich, vorwiegend in Sachsen. Wir haben keinen gehalten, wir haben keinen verhindert, aber es gab unfaire Geschichten, z.B. dass es keine Beitrittserklärungen für die ÖTV gab, Mitglieder die welche haben wollten wurden eben die von der ÖTV der DDR gegeben. Es war eine wilde Zeit. M.S.: Die Gewerkschaft ÖTV in der DDR wurde ja gegründet mit der Absicht, sie schnellstmöglich wieder aufzulösen. G.S.: Das war auch nicht unumstritten. Die ÖTV in West-Berlin z.B. hat sie abgelehnt. M.S.: Gut, die sind sowieso ihren eigenen Weg gegangen. G.S.: Auch da, meine ich, wenn man uns schon irgendwo Böswilligkeit oder so etwas unterstellen wollte, stimmt das nicht. Wir haben auf der Delegiertenkonferenz im Juni ’90 bereits beschlossen, die Berliner Delegierten oder die Berliner Mitglieder sollten sofort in die ÖTV eintreten, ab 1. Juni. Also, es hat von uns keinerlei Hemmnisse gegeben. Wir haben nie gesagt, geht ja nicht weg, bleibt bei uns oder so, sondern wir haben wirklich alle Wege geöffnet. M.S.: Wie lief der Prozess konkret weiter? G.S.: Wir hatten auf unserer Delegiertenkonferenz im Juni eine neue Satzung beschlossen, die zweite in dieser Gewerkschaft überhaupt nach 1947. Und in dieser war geregelt, nach welchen Modalitäten sich die Gewerkschaft aufzulösen hat. Das haben wir uns als Reserve gelassen. Wir hätten auch zu dem Zeitpunkt schon sagen können, wir lösen uns zum 31. Oktober wieder auf, aber wir wollten nicht diesen provisorischen Charakter, sondern wir wollten voll geschäftsfähig sein. Wir wollten die Rechte, die die Mitglieder auch am Vermögen des FDGB und anderen Dingen hatten, die wollten wir schon noch wahren. Nicht zu vergessen, es liefen ja in dieser Zeit auch die Tarifverhandlungen, an denen wir beteiligt waren. Das hätten wir als, sagen wir mal, vorübergehend tätige Gewerkschaft, sicherlich nicht mit dem gleichen Ernst bewältigen können. Wir hatten dann am 2. Oktober die Auflösungskonferenz. M.S.: Wie war die Stimmung? G.S.: Sehr, sehr unterschiedlich. Ich habe zwei Stimmungsbilder im Gedächtnis: ein bisschen traurig und teilweise freudig und böse auf die ÖTV. Das hing damit zusammen,
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dass die Frage Treuegeld vom Hauptvorstand zur Diskussion gestellt war bzw. angekündigt war, für Mitglieder, die neu dazu kommen, erst drei Jahre Sperrfrist einzuführen. Das war eine recht heiße Diskussion zu dieser Frage, was so ein bisschen kulminierte in den Stimmungen. Der Zeit geschuldet, würde ich sagen, aber eigentlich symptomatisch für Reste der alten Gewerkschaftsbewegung, die sich da sagten: Ich zahle ja zehn Mark Beitrag, wie viel kriege ich davon zurück? Andererseits war es eben auch sehr erfrischend, viele, viele gute Ideen. M.S.: Gab es auf euch Druck, die hauptamtlichen Mitarbeiter des Zentralvorstandes zu entlassen? G.S.: Es gab keinen Druck, sondern es gab in unserer Verantwortung als Arbeitgeber die Frage, was wird mit den Beschäftigten. Es wurde die Forderung gestellt, die Mitarbeiter zu entlassen. Daraufhin mussten wir ja ganz normal die Frage stellen, was wird mit den Beschäftigten? Und es gab die Zusage von der ÖTV, dass für 4.000 Mitglieder, die in die ÖTV eingebracht werden, ein Beschäftigter übernommen wird. M.S.: Eine schriftliche Zusage? G.S.: Nein, es gab eine mündliche. M.S.: Von wem? G.S.: Von Willi Mück, von Wolfgang Warburg und von Monika Wulf-Mathies. Es gab eine Botschaft von Monika Wulf-Mathies, die mir durch Werner Ruhnke übermittelt wurde. Ich sage immer nur, übermittelt wurde, dass sich die technischen Kräfte, also die Sekretärinnen, überhaupt keine Sorgen machen müssten, ihr Arbeitsplatz sei sicher. Ich bin so naiv gewesen und habe das auch verkündet. Das würde ich natürlich nie wieder tun. Wir sind von der Überlegung ausgegangen, dass nicht alle Beschäftigten bleiben könnten, das war uns schon klar, und es gab auch ganz klare Überlegungen, wie viele hauptamtliche Beschäftigte für diese Mitgliederzahlen überhaupt notwendig waren. Das hatten wir alles vorbereitet und wir hätten das auch runter gefahren bis auf diese Mitgliederzahl und wir hätten auch der ÖTV, wenn sie den Wunsch geäußert hätte, Vorschläge unterbreitet, die von den Mitgliedern getragen wurden. Also, wir hätten keinen Funktionär vorgeschlagen, der 30 Jahre beim FDGB war, das war ganz klar. Aber es gab diese Zusage von Willi Mück in der Organisationskommission bis zum Schluss. M.S.: Auch dir persönlich gegenüber? G.S.: Mir persönlich gegenüber, in unserem Vorstand und gegenüber dem Vorstandsmitglied, das in der Organisationskommission arbeitete. Es gab daraufhin 85 Bewerbungen. Alle haben ein freundliches Schreiben bekommen, dass man das zur Kenntnis genommen habe, doch die Personalkommission habe sie abgelehnt, einschließlich Jürgen Kaiser, der letzte gewählte Vorsitzende, einschließlich der anderen, die völlig neu in dieser ganzen Geschichte waren. Ich glaube, das hat der Gewerkschaftsbewegung nicht gut getan. Ich hatte große Sorge deswegen. In der Arbeitsgruppe bzw. in der Kommission Mitbestimmung bei Ralf Zimmermann haben wir oft diese Fragen besprochen. Durch diese Hinhaltetaktik und durch dieses zögerliche Herangehen würden die besten Leute weg gehen. Das ist eingetreten. M.S.: Ich bin ja für die Qualifizierung der Hauptamtlichen zuständig. Ich denke, dass doch eine Reihe von alten Funktionären des FDGB dabei sind.
384 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview G.S.: Ja, erstaunlicherweise. Das ist etwas, was ich nicht begreife. Dass aus dem Apparat des alten FDGB-Bundesvorstandes Mitarbeiter eingestellt wurden, aber nicht von uns. Du kannst dir fast jede Einzelgewerkschaft ansehen, irgendwo findest du immer einen Vertreter der alten Zentralvorstände, von Gesundheits- und Sozialwesen, Wissenschaft, selbst von Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der NVA, jedoch nicht von uns. M.S.: Was habt ihr angestellt? G.S.: Ich weiß es nicht. Was ich beurteilen kann, nichts. Vielleicht findest du es heraus. Ich kann es mir nicht erklären. Ich kann mir nur vorstellen, deswegen habe ich dir das heute erzählt, dass es mit dieser alten Stasigeschichte zusammen hängt, dass die Vorstellung existiert, wir alle wären bei der Staatssicherheit gewesen oder so. M.S.: Vielleicht könnte es ja zutreffen, dass bei euch besonders viele Parteimitglieder waren? G.S.: Nein, im Gegenteil. Das ist eine falsche Vorstellung, wenn man meint, dass im DDR-Staatsapparat sehr viele SED-Mitglieder gewesen sind, das ist nicht wahr. Es war ja das Tummelfeld für die sogenannte Demokratie, nämlich für die Blockparteien. Es ging nach dem Prinzip, egal, wie stark die Partei war, jeder hatte einen bestimmten Sitz zu beanspruchen, und da musste man natürlich auch bevorzugt im Staatsapparat Leute aus der NPD, aus der LDPD oder aus der CDU haben, sonst stimmte das Karussell oben nicht. In unserem Bereich waren wir der einzige Vorstand, der auch Leute aus anderen Parteien haben durfte, LDPD-Mitglieder, ich hatte ein CDU-Mitglied in meiner Kommission, das durften andere nicht. M.S.: Ich wollte mit meiner vorigen Frage auf etwas anderes hinaus: ob es Druck von unten, bei den Mitgliedern, für das Auswechseln der alten Vorstandsmitglieder gab. War es nicht so, dass der FDGB doch relativ verhasst war bei den Mitgliedern und dass die Mitglieder ausgetreten sind oder einfach keine Beiträge mehr abgeführt haben? Das Vertrauen in den FDGB, in dem FDGB-Apparat, war doch einfach dahin? G.S.: Das ist irreführend. In diesem Zeitraum sind immerhin noch Mitgliedsbeiträge eingezahlt worden. Es ist nicht wahr, dass die Leute nicht mehr bezahlt haben. Sie haben weniger bezahlt als vorher, das stimmt, und teilweise haben sie ihren Beitrag reduziert auf das von der Satzung her vorgeschriebene, um Mitglied zu bleiben. Es gab auch welche, die ausgetreten sind, das ist nicht von der Hand zu weisen. Weniger bei uns, wir haben nicht sehr viele in diesem Zeitraum verloren. Es gab eigentlich einen Vorteil für uns, der früher ein Nachteil gewesen ist. Früher war es so, mit dem Namen FDGB verband sich ausschließlich die Spitze des Bundesvorstandes, die Funktionäre der Einzelgewerkschaften waren im Wesentlichen unbekannt in der Öffentlichkeit. Darüber wurde nicht berichtet oder deren Meinung war nicht gefragt, also waren sie nicht so bekannt. Außer vielleicht den Vorsitzenden, die durften ja mit Namen und Bild in der Zeitung erscheinen, die anderen waren sowieso unwichtig. Und diese Tatsache hat dazu geführt, dass man die weg haben wollte, die man kannte. Die Funktionäre der Einzelgewerkschaften waren weniger bekannt. Es hat zwar Versammlungen gegeben, das ist mir selbst so gegangen, wo man gesagt hat: Na, willst du nicht abtreten? Oder: was hast du für eine Auffassung, du bist doch auch eine von den Alten? Das war zu dieser Zeit normal, auch dass man gefragt wurde, wie hoch das Gehalt ist und ob man ein Auto hat und wie groß die Wohnung ist usw. Das haben ich durchgestanden in dieser Zeit, weil ich wusste, ich bin wütend über das, was passiert ist und die Mitglieder sind auch wütend und wer dich nicht kennt, der muss annehmen, du bist auch so korrupt oder so bequem gewesen wie
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andere. Wenn man sich mit den Leuten längere Zeit unterhalten hat oder wenn man so eine Diskussion überstanden hat, ja, dann gab es diese Fragen eben nicht mehr. M.S.: Ist es denn falsch, wenn wir im Westen die Einschätzung haben, der FDGB als Transmissionsriemen der SED hat mit Gewerkschaft in unserem Sinn wenig zu tun gehabt? Er gehörte doch zum Herrschaftsapparat der SED? Es ist für uns klar, dass die Funktionäre mit eingebunden waren in dieses Herrschaftssystem und man kann mit FDGB-Funktionären keine neue Gewerkschaft aufbauen? G.S.: Vom Grundsatz her stimmt sie. Es kommt darauf an, was man im Einzelnen dort einordnet. Es gab ein wirklich rundherum funktionierendes System, das bei den territorialen Vorständen noch stärker ausgeprägt war als bei den Zentralvorständen. Jeder Bezirksvorsitzende des FDGB saß im Sekretariat der SED-Bezirksleitung, jeder Kreisvorsitzende saß im Sekretariat der SED-Kreisleitung und lief die Arbeit nicht so oder funktionierte der FDGB nicht so, bekam er dort Prügel. Also, das war ein ganz normales System, jeder BGL-Vorsitzende saß in der Parteileitung, das war wirklich funktionierend. Es gab ein paar Lücken und das waren die Einzelgewerkschaften. Die wurden nur mittelbar beeinflusst, die saßen nicht direkt in dieser Kontrolle, aber sie wurden auch beeinflusst. Deswegen, ich habe ja heute schon das Beispiel genannt, gab es diese Fachabteilungen beim Zentralkomitee, die sich mit uns befassten und die auch regelmäßig an den Vorstandssitzungen teilnahmen. Sie haben bestimmte Sachen beeinflusst, manchmal positiv, manchmal negativ, aber insgesamt waren wir nicht ganz so in dem Druck drin. Wir konnten, das ist auch wahrscheinlich der Vorteil, dadurch, dass wir vom Zentralvorstand kamen und nicht direkt dem Bundesvorstand in jeder Frage rechenschaftspflichtig waren, vieles sagen. Wir konnten nicht viel verändern, aber es war ein Unterschied, ob man aus Berlin kam und die Sachen ansprechen konnte oder ob man der Kreisvorsitzende vor Ort war. Ich wusste, am nächsten Morgen muss er antanzen, wenn etwas nicht richtig lief. Der musste sich eben anpassen oder der passte sich an. Mancher passte sich nicht an, dann musste er gehen. Die Spielmöglichkeiten oder die Spielräume waren ja nicht weit gespannt. Aber im Zentralvorstand hatte man, wenn man wollte, ein paar Möglichkeiten mehr. Es wollte sie auch nicht jeder ausschöpfen, das muss ich sagen. Weil, von dem, was eine Gewerkschaft sein sollte, auch das habe ich ja vorhin angeschnitten, waren wir weit entfernt. Wir wollten vieles, was gut war, aber sobald man in die Richtung kam: Du kannst ja nicht nur die Schutzfunktion sehen, denk mal an die Verantwortung als Schule des Sozialismus, des Wettbewerbs, ihr könnt ja nicht nur fordern, ihr müsst ja auch etwas geben. Nicht mal das Wort Forderung durfte man in den Mund nehmen. Ich hatte mich mit Arbeitsschutzkleidung zu befassen, das war eine Tragödie in der DDR, eine echte Tragödie. Und als Wissenschaftler wirst du wissen, wenn eine Neuentwicklung vorbereitet wird, wird dazu ein Forderungsprogramm gemacht, damit man weiß, wie das neue Projekt aussehen soll. Es ging um neue Arbeitsschutzhandschuhe, die wir gemeinsam mit dem zuständigen Institut einführen wollten, damit den Leuten nicht dauernd die Finger zerschnitten werden, wenn sie Mülltonnen ausleeren müssen. Das Wort Forderungsprogramm musste gestrichen werden. Wir fordern nicht, wir haben Verständnis für die ökonomische Lage. M.S.: Du hast doch die Wirklichkeit erfahren und die stand im krassen Widerspruch zu den Schönfärbereien? G.S.: Ja, natürlich.
386 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Und du warst in der Partei doch relativ exponiert. Hast du nie die Möglichkeit gehabt, auf die Barrikaden zu gehen oder hat sich das von selbst verboten? G.S.: Ich bin immer auf die Barrikaden gegangen. Nein, ihr könnt euch das nicht vorstellen. Es war immer so, also ich habe zumindest immer meine Meinung gesagt, aber immer im Rahmen des Systems, weil ich immer der Meinung war, die Leute sehen das nicht richtig, also muss man es ihnen sagen. Vielleicht hatte ich auch eine gewisse Narrenfreiheit, das weiß ich nicht, kann sein. Die Sozialpolitik war ein Bereich, wo man kritisieren durfte, wäre ich im Bereich Wettbewerb tätig gewesen, hätte ich das vielleicht nicht gedurft. M.S.: Ich stelle die Frage mal anders. Hattest du das Gefühl, dass du tatsächlich immer das gesagt hast, was deine Meinung gewesen ist oder hast du gedacht, wenn ich das sage, kriege ich eins auf den Deckel? G.S.: Nein, ich kriegte keins auf den Deckel, zumindest nicht ernsthaft. Ich bin in dieser Frage wirklich eine Ausnahme. Ich bin überzeugt, mein Vorsitzender wäre mich liebend gerne losgeworden, wenn er mich nicht fachlich gebraucht hätte. Aber ich bin nie soweit gegangen, dass es sich zugespitzt hätte. M.S.: Wie schätzt du die Entwicklung seit der Wende jetzt ein? Bist du traurig darüber, dass die DDR verschwunden ist? G.S.: Da war ich nie traurig darüber. Nein, ich habe da eigentlich eine sehr praktische Ader. Ich frage mich, wie konntest du eigentlich auf die ganze Sache hereinfallen. Das war es, was mich beschäftigt hat. Wieso hast du das nicht früher gemerkt? An irgendeiner Stelle muss dieser Vorsichtsmechanismus bei mir ausgesetzt haben. Ich nehme an, zu einer Zeit, als ich viele kennengelernt habe, die weit oben waren und ähnlich dachten wie ich. Ich konnte keinen Abstand mehr herstellen und irgendwo habe ich auch noch das verteidigt, was schon längst zu viel war. Ich habe Politik und Personen offensichtlich gleich gesetzt. Es hat lange gedauert, bis ich wirklich dahinter gekommen bin, dass Abstand notwendig ist, um das richtig zu beurteilen. Dass auch Abstand notwendig ist, um die eigene Schuld zu erkennen. Am Anfang war es ja so, dass man sich sagt, na ja, ich wollte das ja nicht. Aber egal, wo man stand, man hat Schuld, und ich sagte gerade, meine Schuld besteht vor allem darin, ich habe mir das System machbar gemacht. Ich habe es für die Kolleginnen und Kollegen, denen ich es erklärt habe, auch durch die Kritik, die ich daran hatte, habe ich es für die akzeptierbar gemacht. Das ist das eigentlich Schlimme. Hätte ich es nicht gemacht, wären sie vielleicht früher aufgewacht, ich auch. M.S.: Was willst du weiter machen? Hast du dich bei der ÖTV beworben? G.S.: Nein, ich bin Realist, ich wollte nicht. Ich weiß nicht, irgendwo muss man wahrscheinlich auch einen Schnitt machen. Ich mache das jetzt über 20 Jahre. Ich hätte mir ohne weiteres zugetraut, es auch unter den neuen Bedingungen zu machen. Aber, wie gesagt, das, was jetzt ist, ist schon wieder ein Schritt zurück im Vergleich zu dem, was im Jahr '90 war. Ich werde in eine Umschulung gehen, ich habe vorher Wert darauf gelegt, Fachwissen zu haben und nicht nur allgemein Politisches und da will ich etwas Neues machen.
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Jörg Virchow ÖTV-Beratungssekretär in Ost-Berlin Interview vom 16. Oktober 1991 J.V.: Ich bin seit 1970 Gewerkschaftssekretär. Zunächst war ich mehrere Jahre beim DGB-Landesbezirk Berlin in der Jugendbildungsarbeit beschäftigt und ab 1974 bei der ÖTV Berlin als Bildungssekretär – bis zu dem Zeitpunkt, als die Tätigkeit in der damaligen DDR anfing. Viele Kollegen im ÖTV-Haus in der Joachimstaler Straße hatten in diesen Tagen ab dem 10. November Besuch aus dem Osten, aus den unterschiedlichsten Einrichtungen, aus Betrieben und aus Verwaltungen. Bei allen Besuchern war der gemeinsame Wunsch, möglichst viele Informationen über Gewerkschaftsarbeit, Tarifarbeit und all die Fragen zu bekommen, die gewerkschaftlich von Interesse sind. Mit der Öffnung der Mauer war es ein Kommen und Gehen im ÖTV-Gewerkschaftshaus in der Joachimstaler Straße. Sie stellten Fragen nach Gewerkschaftsarbeit, nach Betriebsratsarbeit, nach Tarifgeschichten und auch nach Kontaktaufnahmen. Sie sind aus dem Bereich Gesundheitswesen gekommen und haben sich erkundigt. Sie stellten im Wesentlichen allgemeine Fragen. M.S.: Waren das FDGB-Funktionäre oder waren das Mitglieder? J.V.: Das war bunt gewürfelt, das lässt sich jetzt nicht mehr so hundertprozentig sagen. Zunächst einmal würde ich sagen, das waren Interessierte. Nicht nur schlichte einfache Mitglieder, nein, das waren schon – so kann man das sehen -Funktionsträger, also BGLer, die sich informieren wollten. Gleichzeitig lief natürlich noch, dass sie direkte Kontakte zu Dienststellen aufgenommen haben. Ich weiß z.B., dass sie Kontakte zu Landesarbeitsämtern hatten, dass im Bereich der Stadtbezirke Kontakte zu den Bezirksämtern aufgenommen wurden. Unterhalb der offiziellen Ebene sind zu dieser Zeit Kontakte aufgenommen worden. Wenn wir den offiziellen FDGB-Apparat ansehen, dann ist es so gewesen, dass zu einem relativ frühen Zeitpunkt – meiner Meinung nach schon im Dezember 1989 – die damalige Geschäftsführerin der Gewerkschaft Mitarbeiter der Staatsorgane und Kommunalwirtschaft (MSK), Gertraude Sinn, Kontakt zur ÖTV Berlin aufgenommen und um Unterstützung gebeten hat – Unterstützung in materieller Hinsicht. Sie wollten bestimmte Dinge drucken, z.B. einen Satzungsentwurf und andere Papiere. Eine von diesen Geschichten habe ich auch hier – da haben wir bereitwillig geholfen. Der Werner Ruhnke kann es näher beschreiben, weil zu dem Zeitpunkt viele Kontakte über ihn liefen. Er hat die Pressearbeit gemacht und da haben sich alle an ihn gewandt. Ich habe immer wieder etwas mitbekommen, weil ich neben ihm saß. Zur Bildung kamen auch viele, die von der Hochschule oder sonst woher kamen. Sie wurden regelrecht bei uns abgeladen. Aber Gertraude war eine derjenigen aus dem offiziellen Gewerkschaftsapparat, die zu einem relativ frühen Zeitpunkt die West-Gewerkschaften um Unterstützung gebeten hat. Das kann man an anderer Stelle noch ausführen. Das war schon eine spannende Geschichte. Die Kontakte häuften sich natürlich. Dezember – Januar – Februar, das wurde immer toller. Die meisten Sekretäre bei uns im Hause waren mindestens zu 30 bis 50 Prozent ausgelastet durch Informationsbesuche von Leuten aus den DDRBetrieben. Dann gab es auch Einladungen in Betriebe und Verwaltungen unterschiedlichster Art. Viele von unseren Leuten sind herumgetingelt. Das kann man im Kalender nachlesen. Die Sekretäre aus den Fachabteilungen können das möglicherweise noch viel plastischer schildern als ich, also Gesundheitswesen oder Transport und Verkehr und andere Bereiche. Meine Kontakte beschränkten sich zu dem Zeitpunkt auf die Informati-
388 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview onsgespräche im Haus mit den unterschiedlichsten Leuten. Sie kamen nicht nur aus Berlin, sondern sie kamen aus den umliegenden Randgemeinden und auch vom Süden hierher. Sie nahmen natürlich an, in Berlin, im Zentrum, in der Zentrale, dass da irgendwie ihre großen Informationsbedürfnisse am besten zu befriedigen wären. Tonnenweise ist Material von uns abgeschleppt worden: Betriebsverfassungsgesetze und andere Materialien. Zum Schluss hatten wir nichts mehr, es war nichts mehr da. M.S.: Fing es schon im Dezember an? J.V.: Diese massive Geschichte fing erst im neuen Jahr an. Im November waren die ersten Kontakte, die Leute von der BVB werden dir das besonders drastisch schildern können, weil es gerade da, wo Betriebsbindungen waren, BVG, BEWAG, die Eigenbetriebe der Stadtreinigung, schon sehr frühzeitig Kontakte gab. Auf der betrieblichen Ebene zwischen den Betriebsvertretungen, also den Betriebsgewerkschaftsleitungen und den Personalvertretungen. Oder bei der BVB gab es diesen Gewerkschaftsrat. Sie haben frühzeitig darüber gesprochen, welche Perspektive das gewerkschaftlich hätte. Das war zu Beginn des Jahres gerade in einzelnen Betriebsbereichen eine relativ klare Perspektive. M.S.: Es war doch bis zum außerordentlichen FDGB-Kongress nicht klar, wohin die Reise gehen sollte. Haben sich die Funktionäre vorher auf die Bildung von Betriebs- und von Personalräten orientiert? J.V.: Nein, im Januar war der FDGB-Kongress. Da gab es die spannende Auseinandersetzung um die Frage: Wie entwickeln sich Gewerkschaften, welcher Typus von Gewerkschaften soll herausgebildet werden? Vorbild war natürlich das Modell des DGB mit den Ausprägungen der Vertrauensleutearbeit etc. und natürlich auch das Modell der Betriebsund Personalräte. Dieses Modell kannte jeder. Jeder konnte sich auseinandersetzen, und wir konnten Hilfestellung geben. Man hatte Materialien, man hatte die Gesetze und konnte sich orientieren. Ich will noch einen Einschub machen: In dieser Zeit, im Dezember '89, hatte sich mein ganz persönlicher Kontakt zu den Gewerkschaften entwickelt, weil ich eine Mitarbeiterin aus dem Zentralvorstand der Gewerkschaft MSK von einem Besuchsaufenthalt im Jahr 1987 kannte. Sie stand irgendwann vor der Tür bei uns im Büro. Nun war ich leider nicht da, aber ich habe sie ein paar Tage später aufgesucht, hier in diesem Hause, in dem wir jetzt sitzen [Engeldamm]. Sie hat hier als Mitarbeiterin in der Internationalen Abteilung gearbeitet. Wir hatten uns bei den Aufenthalten '87 und '88 gesehen und vernünftige, vertrauensvolle Kontakte gewonnen. Mit ihr diskutierte ich dann die Frage: Wie kann man das, was gewerkschaftlich läuft und öffentlich berichtet wird, einer gewerkschaftlichen Öffentlichkeit bekanntmachen? Da haben wir die Idee entwickelt, einen DDR-Pressespiegel ,,Gewerkschaften" herauszugeben. Den haben wir in der Folgezeit, bis zum September '90, herausgegeben. Jede Woche zweimal war das. Aus der Tribüne und anderen Zeitungen. Es war ja so, dass man damals diese Zeitungen nicht auf dem Schreibtisch hatte, sondern der Zugang dazu war ein eingeschränkt – insbesondere in der Bundesrepublik. Die Belieferung oder ein Abonnement lief ja erst später. Unsere Vorstellung war, dass wir, indem wir aus der Tribüne und auch aus anderen Zeitungen und regionaler Presse einen Pressespiegel zusammenfassen, sozusagen ein wenig die Situation in der damaligen DDR einfangen konnten. Die Berichterstattung wurde auch schon freier, und da gab es Sprünge und Entwicklungen, so dass der nicht unmittelbar beteiligte Beobachter sehen konnte, was sich da abspielte. Das haben wir regelmäßig mindestens einmal, wenn nicht sogar zweimal in der Woche herausgegeben und an interessierte Gewerkschaften, auch in der Bundesrepublik, verteilt.
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Wir haben damit ein Stückchen Informationsgeschichte über diese Entwicklung nachgebildet. Das fand ich ganz gut. Für die Mitarbeiterin war das allerdings ein bisschen risikoreich, und zunächst stand im Impressum nur mein Name, Herausgeber: Jörg Virchow. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als es ungefährlich schien, haben wir die beiden Frauen, die daran beteiligt waren, die im Prinzip die Arbeit gemacht haben, mitgenannt. Zwar hat das, wie ich im Nachhinein mitbekommen habe, ein Raunen in der Organisation, wo sie beschäftigt waren, gegeben. Aber bitte sehr, zu diesem Zeitpunkt war es ungefährlich. Aber es hätte ja noch das eine oder andere passieren können. M.S.: Wie lief die Entscheidung, dass du nach Ost-Berlin gegangen bist und vor allem, mit welchem Auftrag? J.V.: Man muss sehen, dass die Befassung mit der Entwicklung in der DDR und in OstBerlin im Januar und in den Folgemonaten bei mir und bei den meisten Sekretären dadurch eingeschränkt war, dass wir seit dem 10. Januar in den Kita-Streik mit den Erzieherinnen involviert waren und jeder einen Stadtbezirk als Streikleiter zu betreuen hatte. Ich hatte Zehlendorf zu betreuen. Mein Job zu dieser Zeit bestand darin, jeden Tag im Streiklokal präsent und an den Aktionen beteiligt zu sein. Die noch verbleibende Zeit, ab und zu war man schon im Büro, war damit besetzt, dass du DDR-Informationsarbeit betrieben hast. Zu meinem eigentlichen Job kam ich überhaupt nicht mehr. Ich sage das nur deshalb, um den Hintergrund für meine Entscheidung zu nennen. Es war nicht einfach zu sagen: Ok, du machst vorübergehend was anderes. Das dauerte zehn Wochen, doch wenn du zehn Wochen zu deiner eigentlichen Tätigkeit nicht mehr kommst, oder nur noch in der Weise, dass du den Mitarbeitern nur noch Ja und Nein antwortest oder: so machen wir das nicht, dann ist die direkte Einflussnahme weg, und man hat sich gewissermaßen gelöst. Ich war überwiegend gefangen von der Aufgabe in der Streikbewegung, und zusätzlich hat mich diese andere Frage bewegt. Es war für mich zumindest eine Frage, die mich innerlich aufgewühlt hat. Menschen meiner Generation und meines Jahrgangs, niemand von uns, zumindest in meinem Alter, hat geglaubt, dass es überhaupt noch zu einer Maueröffnung kommt. Das rührt einen schon, und das empfindet man stark. Ich sage mal, in so eine patriotische oder nationale Aufgabe, da musst du rein und das musst du machen, das ist notwendig. Da stellt man sich dieser Schicht, trotz der Belastungen. Das war wichtig. Wir hatten für den März eine Veranstaltung vorbereitet, Werner Ruhnke war mitbeteiligt. Er hatte immer fleißig Adressen gesammelt von Kolleginnen und Kollegen aus der DDR, die Informationswünsche an die ÖTV richteten. Und ich habe diese Adressen übernommen. Ich sagte, Mensch, Werner, machen wir doch mal ein Seminar. Es ergab sich, dass einige Seminare im BBZ ausgefallen sind, und dann haben wir zwei dreitägige Seminare durchgeführt. Wir haben sie ausgeschrieben und jenen angeboten, von denen wir die Adressen hatten. Dieses Seminar hatte vier Themenkomplexe, die tauchen nachher immer wieder auf: Gewerkschaftliche Arbeit, gewerkschaftliche Betriebsarbeit, wie funktionieren demokratische Gewerkschaften, dann die Frage der Mitbestimmung im Betrieb, die Betriebs- und Personalräte und ihre Einflussmöglichkeiten. Das dritte Thema war der Komplex der Tarifarbeit, Beteiligung, Möglichkeiten, Einflussnahme und das vierte das System der sozialen Sicherheit. Das waren die Themen, um die viele Informationswünsche kreisten. Das waren zweimal drei Veranstaltungen und die waren im Nu voll. Wenn man sich die Teilnehmerliste dieser Seminare heute anschaut, dann wird man viele von denen wiederfinden, die über längere Zeit oder auch nur kurzfristig im Zusammenhang mit der ÖTV in der DDR eine Rolle gespielt haben. Einer von ihnen war Dr. Jank, dieser Kollege aus dem anhaltinischen Bereich, also Halle glaube ich. Dr. Jank war
390 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview mal ein Gegenkandidat von Robert Knauth in Magdeburg. Oder Peter Becker, der heute bei uns Sekretär ist, und andere. Also ich kenne noch eine Reihe von Leuten, die heute bei uns in der gewerkschaftlichen Arbeit oder gestandene Betriebsfunktionäre sind, die sich an diesen ersten Seminaren beteiligt haben. Das waren in der Tat die ersten DDRSeminare. Das war Anfang März 1990. Die beiden Seminare waren insofern ganz interessant, weil sie eine Initialzündung waren, sowohl für die Teilnehmern der Seminare als auch, und das ist das Besondere an dem Seminar, für die Teilnehmer des gleichzeitig laufenden Seminars der Berater im BBZ. Das waren fünfzehn oder sechzehn Leute, die in den einzelnen DDR-Bezirken tätig sein sollten. Diese Berater hatten parallel eine Einführungsveranstaltung. Das war insofern ganz spannend und interessant, weil diese nun hautnah lebendige DDR-Bürger aus den Betrieben und Verwaltungen vor sich hatten. Die Beratungssekretäre und die DDR-Leute kamen sehr intensiv miteinander ins Gespräch. Unsere Sekretäre waren ja auch aus der ganzen Bundesrepublik. Da gab es eine Reihe von Kontakten, die sehr hilfreich waren für die Einführungsphase der Berater. Es gab auch sehr spannende Abenddiskussionen, wo die politischen Gegensätze und die Unsicherheiten, die bestanden, aufeinanderprallten. Das hast du richtig knistern gehört. Andere, die an dieser Sache beteiligt waren, können dir das wahrscheinlich bestätigen, dass das wirklich eine Veranstaltung war, die ein Höchstmaß an Toleranz erforderte, an Abwägen und Vortasten. Es gab Unsicherheit über das, was passiert, und Neugier bei unseren Wessis, noch kaum belastet mit Besserwisserei, sondern noch in der Tat sehr offen und sehr aufeinander zugehend. Das war eine sehr, sehr spannende Geschichte. Das hat auch, glaube ich, alle beeindruckt. Zu dem Zeitpunkt, als wir die Veranstaltung im BBZ hatten, war für mich persönlich noch nicht klar, ob ich mich für eine Arbeit in der DDR interessiere. Meine Perspektive war, als der Streik zu Ende war, dass ich die Bildungsarbeit weitermache. Es war aber so, dass für den Ost-Berliner Bereich niemand da war, der sich gekümmert hätte, sondern die Bezirksleitung ging immer noch davon aus, das sei nicht notwendig, die kämen sowieso alle zu uns. Diesen Eindruck und dieses Verständnis hatte ich eigentlich nicht. Ich fand schon, dass es notwendig und erforderlich sei, auch eine Vertretung und eine Repräsentanz in Ost-Berlin zu haben. Schlicht und einfach aus der Tatsache heraus, dass jemand da sein sollte, den man erreichen konnte, denn Telefonieren war zu diesem Zeitpunkt unmöglich. Für mich war eine solche Geste, auch in Ost-Berlin präsent zu sein, schon wichtig. Deshalb habe ich gesagt: Ok, ich mache das. M.S.: Hast du der Bezirksleitung den Vorschlag gemacht? J.V.: Ja, das war so. Der Werner [Ruhnke] hatte das – wenn ich das richtig sehe – mit der Bezirksleitung gelegentlich beraten. Er kann es vielleicht besser erzählen, da ich zu diesem Zeitpunkt mit dem Streik beschäftigt war. Dann stand für mich aber nach diesem Seminar der Entschluss fest: Wenn wir in Ost-Berlin eine Stelle einrichten, dann gehe ich da hin. Das habe ich angeboten und gesagt, dass ich das machen wolle. Ich habe das erst dem Werner und dann dem Kurt Lange [ÖTV-Bezirksvorsitzender] gesagt. Der Vorsitzende hat erst einmal herumgemault: Muss das sein? Ich sagte: Ja, ich will das. Dann war die Regelung, das ginge nur, wenn ich eine Vertretung bekäme. Da habe ich gesagt, das ist kein Problem, ich hätte eine Stipendiatin der Böckler-Stiftung, die sehr qualifiziert und geeignet sei. Die hat dann den Job gut und vielleicht sogar besser als ich gemacht in der Zeit, als ich abgeordnet war nach Ost-Berlin. Praktisch schon Mitte März, so schnell ging das, habe ich meine Tätigkeit dort drüben im Beratungsbüro in der Kleinen Auguststraße aufgenommen.
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Man muss sich das einfach mal vorstellen: Du kommst dahin, es spricht sich herum, eine Telefonnummer wird öffentlich lanciert, ich glaube, es stand irgendwo in der Zeitung, und dann klingelte ständig das Telefon. Gott sei Dank hatten wir eines. Ständig waren Leute am Telefon, die sagten: Du bist doch von der ÖTV, die ist doch jetzt hier, kannst du nicht mal vorbeikommen zu einer Versammlung? Ich habe die Telefonzettel alle aufgehoben. Das ist so ein Stapel. Telefonzettel, die wir uns gegenseitig geschrieben haben, also wer hat angerufen, welcher Wunsch, welche Terminvereinbarung, etc. Ich habe heute noch zwar nicht gerade einen Horror aber zumindest eine Telefonitis. Das war schon wahnsinnig. Es war in der DDR so, dass die alle früher anfingen zu arbeiten, schon um sieben. Bei uns geht es ab halb acht, halb neun, los. Man hat sich angewöhnt, auch früh dort zu sein. Du warst kaum im Büro, da klingelte das Telefon. Wir hatten drei Apparate und alle drei Apparate klingelten gleichzeitig. Einen konnte man nur bedienen. Ich habe versucht, die Wünsche aufzunehmen, habe viele Termine vereinbart, Gesprächstermine, Besuchstermine, Versammlungstermine. Die Informationsbedürfnisse der Leute sollten befriedigt werden. Überwiegend die Informationsbedürfnisse in den vier Bereichen, also Gewerkschaftsarbeit, Tarifarbeit, Betriebsrätearbeit, soziale Sicherheit. Stärker zugespitzt, ab einem gewissen Zeitpunkt, auf die Frage der Betriebs- und Personalräte. Sie wollten nachher ebenfalls Betriebsvertretungen bilden. Es gab auch Diskussionen um das Arbeitsgesetzbuch und solche Geschichten. Meine Tätigkeit bestand darin, möglichst viele Informationen zu befriedigen und an möglichst vielen Versammlungen teilzunehmen. M.S.: Was war für dich die wichtigste Versammlung? J.V.: Ob ich die wichtigste herausfinde, weiß ich gar nicht mehr. Aber eine der wichtigsten Veranstaltungen, wo ich selber sehr gerührt war – ich muss nachsehen, wann das war, März oder Anfang April – war auf Einladung des Bezirksvorstandes der IG Transport. Da waren alle Betriebsfunktionäre, also alle Spitzenfunktionäre der damaligen Gewerkschaft Transport versammelt, also die INTERFLUG, die BVB, die Deutrans und wie die ganzen Transportunternehmen hießen. Dieses ganze Organisationsspektrum der IG Transport im Gewerkschaftshaus in der Wallstraße, wo die drei hauptamtlichen Bezirksfürsten der lG Transport waren. Sie haben mich gebeten zur Gewerkschaftsarbeit im Westen und zu diesen erwähnten vier Punkten etwas zu sagen. Das war eine der ersten Versammlungen von Spitzenfunktionären. M.S.: Wie lief das ab? J.V.: Das war kurios. Uns wurde ein riesiger Vertrauensvorschuss entgegengebracht. Du konntest erzählen, was du wolltest. Sie haben alle an deinen Lippen gehangen, ob es richtig war oder nicht. Du musstest diszipliniert genug sein, dass du ihnen keinen Scheiß erzähltest. Ich habe gemerkt, dass diese drei Figuren, die die Gewerkschaftsleitung oder den Bezirksvorstand der IG Transport repräsentierten, in der Tat nur noch Figuren waren. Der Machtwechsel war zu spüren, die Mitglieder haben ihnen nichts mehr abgenommen. Das Vertrauen war dahin. Sie haben sich natürlich bemüht – das findest du bei den Leuten von der IG Transport genauso wie bei der GÖD – um über die Kontaktaufnahme zu den offiziellen Repräsentanten der ÖTV, und davon war ich ja einer, Punkte zu sammeln und sich ihren Mitgliedern gegenüber neu zu legitimieren. Das muss ich schon sagen, da wurde man möglicherweise von ihnen missbraucht. Für den Berliner Bereich ist das klar zu belegen. Sie haben selber gesehen, dass sie keinen Blumentopf mehr gewinnen können. Sie haben kurzfristig eine Kollegin, die Dagmar Gresse, als Geschäftsführerin auf den Schild gehoben, weil sie selber wussten, dass sie nichts mehr machen konnten, dass
392 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview sie überhaupt kein Vertrauen mehr bei ihren Mitgliedern hatten. Nun die Dagmar, die war sehr lieb und nett, und die hat mich überall zu den Versammlungen mitgenommen. Du hast gemerkt, als sie mit mir zu den Taxi-Leuten gefahren ist oder zur BVB, ich vorneweg und sie im Schlepptau, dass sie die Absicht hatte, sich damit eine neue quasi demokratische Legitimation zu schaffen. Ich sollte sie sozusagen freisprechen. Ob das bei ihren Leuten angekommen ist, weiß ich nicht. Das war nicht unser Ziel. Wir wollten informieren, denn zu diesem Zeitpunkt, März/April, waren die Perspektiven noch nicht klar. Da fing es langsam an, klar zu werden. Als politisches Ziel stand dann die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli im Raum und auf längere Sicht eine Eigenständigkeit der DDR. Wir sind jetzt beim Bereich der IG Transport. Unser verehrter Kollege Heß zum Beispiel. Der hat natürlich mit mir in seiner damaligen Funktion als für Bildung Verantwortlicher beim Zentralvorstand der lG Transport verhandelt. Er hat mit mir über Bildungsaustausch und wie man Bildungsarbeit macht, verhandelt. Da verstehe ich etwas davon, und wir haben Vorschläge diskutiert. Ich habe das als Vermerk, als Ergebnis, aufgeschrieben. Das tauchte in den unterschiedlichsten Papieren wortgetreu auf. Das bewies natürlich auch wieder, dass sie uns benutzen wollten, um ihre eigene Position an dieser Stelle zu festigen, denn damals war auch ihnen nicht klar, wohin der Weg geht. Sie waren noch auf eine längere Eigenständigkeit orientiert. M.S.: Bitte berichte noch genauer von der Veranstaltung. J.V.: Die Veranstaltung lief so ab, dass ich Mühe hatte, die Leute zum Fragen zu bringen. Ich bin nicht der Typ, der irgendwo hingeht und sagt: Ok, jetzt halte ich eine DreiStunden-Rede, und dann schlafen sie alle, sondern jemand, der in seiner Methodik es immer darauf angelegt hat, die Leute zu beteiligen. Der Vortragsstil liegt mir nicht, und dann erzählt man auch Mist, wenn kein Feedback kommt. Das ist also nicht so günstig und deshalb wollte ich ein bisschen Feedback haben und Widersprüche herausfordern. Das gelang nachher auch, so dass kritische Äußerungen kamen und wir darüber zu vernünftigen Diskussionen kamen. Alles in allem konnte ich zum Schluss nicht sagen, dass ich besonders viele Punkte gemacht habe. Aber im Nachhinein, wenn du die Leute wiedergesehen hast, viele von denen hast du nachher wiedergesehen, ist es doch eine ganz vernünftige Geschichte gewesen. Zumindest an einen kann ich mich erinnern, den Straßburger von der BVB, der nachher seinen Schreibtisch geräumt hat, und der abgelöst wurde von der neuen Generation, die dann gewählt wurde. M.S.: Kannst du ein paar Fragen benennen, die strittig waren? J.V.: Es war keine Debatte über bestimmte Linien, sondern es war eine Diskussion darüber, wie bestimmte Sachen laufen. Eine Geschichte war z.B. für die Leute im Gewerkschaftsbereich nicht klar, nämlich: Welchen Einfluss haben die West-Gewerkschaften überhaupt? Wenn wir hier Betriebs- und Personalräte haben, die ganz konkret anhand der gesetzlichen Möglichkeiten mitentscheiden – zwar weniger als nach dem Arbeitsgesetzbuch der DDR die BGL -, ist das die eine Geschichte, aber wo ist in der Tat die konkrete Einflussmöglichkeit der Gewerkschaft? Sie hatten nun mal dieses Modell der BGL im Kopf, und auf einmal sollte es eine duale Interessenvertretung geben. Das war natürlich nicht ohne weiteres verständlich. Wir haben damit auch unsere Mühen, und es ist nicht gerade das beste Modell, das es gibt. M.S.: Welches meinst du jetzt?
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J.V.: Unser Modell, unser duales Modell, auf der einen Seite Betriebs- und Personalräte mit gesetzlichen Mitbestimmungsrechten, auf deren Qualität und Wirksamkeit wir im Prinzip keinen Einfluss haben, sondern der Gesetzgeber legt nach politischen Majoritätsvorstellungen bestimmte minimale Rechte, mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger fest, auf der anderen Seite die Gewerkschaften. Aber wir könnten es uns ja besser vorstellen – umfangreicher. Nicht? Es ist ja nicht das Gelbe vom Ei. M.S.: Mittlerweile finde ich diese Struktur, also die duale Interessenvertretung, gut. Die Betriebsvertretung und die Personalvertretung sind organisatorisch nicht an die Gewerkschaft gebunden, sondern haben eine viel breitere Legitimationsbasis. Nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder sind gefragt, sondern alle Belegschaftsmitglieder. J.V.: Ja, Ok, kann sein. Aber die Ausgangsfrage war: Warum spitzten sich diese Fragen zu? Dieses System war den Kollegen nicht einsichtig. Da hatte man Mühe, das zu erklären. Wo liegt denn der tatsächliche Einfluss der Gewerkschaft? Wenn du ehrlich bist, musst du sagen, also im Betrieb ist der gewerkschaftliche Einfluss gering, wenn du z.B. einen Personal- oder Betriebsrat hast, wo wir als ÖTV unter ferner liefen sind. Da fragten sie mich natürlich, wozu zahle ich denn Beiträge? Der gewerkschaftliche Einfluss ist ja nur ein vermittelnder Schritt über die Tarifvertragsgeschichte etc. Sie sind etwas anderes gewohnt gewesen. Die Betriebs-, die Gewerkschaftsleitung war in der Tat eine Institution, die Einfluss nehmen konnte. Das haben sie auch so erfahren, offensichtlich. Ob gut oder schlecht, wie auch immer, sie haben sich in den Betrieben offensichtlich gekümmert. Ich habe viele Typen von Betriebsgewerkschaftsleitern oder -leiterinnen kennengelernt, die sich fast wie Glucken um ihre Kinder und Schäfchen gekümmert haben. Also unsere verdiente Traktoristin des Volkes, die Gertrud Gelbke, die ist so ein Typ. Dann kenne ich noch eine aus dem Gesundheitswesen in Köpenick. Dieser Typ ist eigentlich unabhängig vom System. Sie kümmern sich jetzt noch um die Verschollenen oder die Übriggebliebenen. So einen Typ gab es in den Gewerkschaftsleitungen häufig. Aber es gab natürlich auch ganz schlimme Leute. Zurück zu den Versammlungen: Ich habe nur noch zwei Versammlungen gemacht. Eine zweite Versammlung war relativ früh im Dienstleistungskombinat Berlin. Das Dienstleistungskombinat Berlin, das war ein Kombinat, wo alle Dienstleistungen zusammengefasst waren, also Reinigungen, chemische Reinigungen, Schuster, die Änderungsschneider. Wenn du deinen Kochtopf gelötet haben wolltest, dann musstest du zum Dienstleistungskombinat. Aus der politischen Philosophie heraus, waren das keine selbständigen Handwerksbetriebe. Sie hatten in der ganzen Stadt überall Fotoannahmestellen und so etwas. Eben keine selbständigen Betriebe, sondern ein Kombinat. Da rief mich die Betriebsgewerkschaftsleitung an. Ein bekannter Funktionär der MSK, die hat sich in GÖD umbenannt, und sagte: Komm doch mal her. Der schleppte mich irgendwo im Prenzlauer Berg auf eine Versammlung von 300 Frauen. Ich sollte da etwas erzählen. Hier habe ich am deutlichsten festgestellt, dass sie mich vorführen wollten. Er sagte also: Mädels, Mädels waren die ja alle, guckt mal her, jetzt kommt die Gewerkschaft aus dem Westen. Ihr könnt sehen, wir sind gar nicht so schlimm. Im Prinzip brauchen wir auch gar nicht neu zu wählen, wir sind schon die besten Interessenvertreter, die ihr haben könnt. Das beweist schon allein die Teilnahme dieses verehrten Kollegen aus West-Berlin. Da habe ich erzählt, wie das läuft. Aber das ist ein bisschen schwierig, in so einer Situation: Da sitzen 300 Frauen, Schneiderinnen, einfache, schlichte Menschen vor dir, und du musst sagen was mit dem sozialen System passiert. Du kannst nicht flunkern, sondern es ist absehbar, dass das Wirtschaftssystem sich irgendwie verändert. Da kannst du denen nicht erzählen, dass ihre wirtschaftliche Zukunft gesichert ist. Die konnten sich doch vorstellen, dass diese Betriebe des Kombinats sich alle verselbständig-
394 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ten, dass das einzig Interessante an diesem Dienstleistungskombinat die Grundstücke waren und die Ladenlokale, die irgendwelche Westhaie nachher schlucken wollten. Das ist tatsächlich so gekommen. An diesem Schlucken hat sich der ehemalige Betriebsgewerkschaftsleiter intensiv beteiligt, der dann Geschäftsführer von diesem Betrieb geworden ist. Also ein typisches Beispiel dafür, dass die wirklich Backe-Backe-Kuchen gemacht haben und sich die Mäuse zugeschoben haben. Ich habe das nachher nicht mehr weiter verfolgt. Ich habe nur noch mitbekommen, dass er Geschäftsführer dieser Einrichtung wurde und seine Aufgabe war, diesen Betrieb radikal zu streichen. Der war aber in der neuen Situation nicht überlebensfähig. Das war die zweite Versammlung. Die dritte war nicht so eine typische Versammlung, wie ich eben beschrieben habe. Ich bin eigentlich relativ stolz darauf, dass wir diese Veranstaltung zustande bekommen haben. Ich habe zum Erfahrungsaustausch über Gewerkschaftsarbeit in Ministerien eingeladen. Ministerien, weil hier das Zentrum in Berlin war. Das haben wir am 17. Mai gemacht. Wir haben über zukünftige Arbeitsplätze in Ministerien diskutiert und über alles Mögliche: Wird Berlin Hauptstadt? Geht die Europäische Gemeinschaft nach Berlin? Die ÖTV als Interessenvertretung aller Ministerialbeschäftigten? Wir hatten den Gerd Häusler eingeladen, einen Bundestagsabgeordneten, einen aktiven ÖTV-Gewerkschafter und zwei Vertreter aus den Personalräten der Bundesministerien, einen aus Arbeit und Sozialordnung und einen aus Familie, Gesundheit und Jugend in Bonn. Die sind hier rüber gekommen. Auf die Idee, eine solche Versammlung zu machen, bin ich deshalb gekommen, weil schon Anfang März und in den Folgewochen zunehmend Leute aus den Ministerien zu uns ins Büro kamen. Ich hatte die in Bonn angeschrieben und dann das Außenministerium selbst gebeten, hier mal jemanden von der ÖTV-Fraktion rüberzuschicken. Die haben „Igittigitt“ gesagt, einen seitenlangen Brief geschrieben in dem Tenor: Das kann ja nicht wahr sein, wir, mit den Leuten da drüben? Ich habe gedacht, für die Mitarbeiter der Ministerien müsste es etwas Besonderes sein. Ich habe sie eingeladen ins Kulturhaus der Energiearbeiter und ihnen gesagt: Hier sind zehn, zwanzig Einladungen, verteilt die mal. Und es kamen dann am 17. Mai 1990 ungefähr 150 Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten Ministerien der DDR. Ein Großteil der Leute waren auch Delegierte der Gewerkschaft MSK, die hieß schon Gewerkschaft Öffentliche Dienste. Es waren sehr viele Funktionsträger. Es gab eine sehr spannende Diskussion über das, was wir da eigentlich wollten. Wir hatten das Gespräch noch verbunden mit einem kalten Büffet und ein paar Bier. Ein bisschen Schnickschnack musste sein, so dass es eine lockere, angenehme Stimmung war bei den Leuten. Unser Ziel war zu dem Zeitpunkt 17. Mai für uns in Berlin schon klar. Wir hatten im Bezirksvorstand beschlossen, ab 1. Juni nähmen wir Mitglieder auf. Unsere Satzungslage sei eindeutig, in Berlin könnten sie Mitglied werden. Das haben wir verkündet und hatten auch Beitrittserklärungen. Das lief, und wir konnten die Leute beruhigen. Die hätten wirklich nicht mehr still gehalten. Nicht die Leute in den Ministerien, die waren hinkefüßig, aber die in den anderen Bereichen, also BVB oder die Stadtreinigung, die haben uns auf der Tasche gelegen. M.S.: Wie ist es zu diesen Druck gekommen? J.V.: Der kam im Zusammenhang mit der Diskussion über neue Gewerkschaften und Neuwahlen in den Gewerkschaften. Damit war eine Diskussion über die Neustrukturierung der Gewerkschaften, die demokratische Legitimation der Gewerkschaften und die Frage der Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes verbunden. M.S.: Wie hast du sie beraten?
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J.V.: Es ist ja nicht so, dass ich vollkommen frei war und in der Luft geschwebt habe, sondern es gab seit dem März regelmäßige Treffen der Berater – es gab schon Verabredungen über diese Fragen. Eine der Verabredungen war, dass wir die lnitiativen zu Personal- und Betriebsräten unterstützen, auf welcher Grundlage auch immer. Wenn sie mit der Betriebsleitung eine Vereinbarung über eine Interessenvertretung abschließen, und wenn sie sich Betriebsrat nennt oder sonst wie, dann ist das zu unterstützen. Da gibt es auch eine Reihe von Papieren, sehr interessante Geschichten. M.S.: Die Auseinandersetzung war doch bestimmt von der Frage: Gehen wir in die WestÖTV, oder versuchen wir, neue Gewerkschaften aufzubauen? J.V.: Es gab ja Vereinbarungen zwischen der ÖTV und diesen Alt-Gewerkschaften. Das waren Versuche im gegenseitigen Interesse. Aber ich sage nochmals, die Situation in Berlin und im Bereich ÖTV war teilweise nach meinem Erkenntnisstand anders. Da war die Gewerkschaft Transport. Die drei Figuren, die ich gezählt hatte, die waren nicht mehr akzeptiert, sie haben die Dagmar Gresser aufs Schild gehoben. Diese hatte nichts anderes am Kopf, als möglichst flott in die ÖTV zu marschieren und nach Möglichkeit einen Job bei der ÖTV zu bekommen. Sie war relativ unbelastet. Sie ist auf der Gewerkschaftshochschule in Bernau ein Studienkamerad vom Hess gewesen. Er hat sie bei der IG Transport untergebracht. Nach meiner Einschätzung hätte man sie nehmen können. Die BVB-Kollegen haben das unterstützt. Das war die Zielrichtung im April/ Mai. Sie hatten ein persönliches Überlebensinteresse. Die Transport war übernahmebereit. In Berlin war die Situation anders. Wir hatten die Übernahme für den 1. Juni schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt im Sack. M.S: Die Entscheidung der Bezirksverwaltung Berlin, die Ostler aufzunehmen, war die mit dem Hauptvorstand abgesprochen? J.V.: Das kann ich dir nicht sagen. Wir haben die Satzung interpretiert, und dieser Interpretation wurde nicht widersprochen. Dass wir dieses getan haben, war überhaupt der Fuß in der Tür, der es ermöglicht hatte, die ÖTV an den Tarifverhandlungen im September zu beteiligen. M.S.: Ich dachte, das war mit der Gründung der ÖTV in der DDR gelungen? J.V.: Ach, das waren doch nur ein paar Hanseln. Das war doch ein Flop mit der ÖTV in der DDR. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt zigtausende Mitglieder aufgenommen. Das war in der Tat unsere Legitimation. Dann kam diese BSR-Geschichte mit dem Streik vor dem Rathaus etc. Wir standen unter dem Druck der Leute. Ich habe ein Dokument mitgebracht, das ist zwar nicht aus Berlin, aber das war typisch für die Situation im Januar. Im Januar 1990 schrieb eine Betriebsgewerkschaftsleitung, sie hätten sich aufgelöst und es gäbe eine Reihe von Fragen, die zu lösen wären. Man müsste eine neue Form der Interessenvertretung gründen. Das lief reihenweise ab. Das war überall so – in allen Gewerkschaften. Ich habe über Transport gesagt, die sei sturmreif geschossen gewesen, von innen heraus. Ein zweites Beispiel: Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste. Die kannte ich nun insbesondere gut, weil das mein Einzugsbereich war, die Berliner lnteressenvertretung, also der Berliner Bezirksvorstand der Gewerkschaft Öffentliche Dienste. Da lief das natürlich ein bisschen anders. Sie waren alle ein bisschen vorsichtiger, Staatsdienst etc., die Leute bei den Ministerien, die waren sowieso ein bisschen etepetete. Da musste man anders vorgehen, sie waren nicht sturmreif geschossen. Aber sie waren als Gewerkschaft nicht mehr lebensfähig. Ich bin zu Versammlungen eingeladen worden, zu Funktionärssitzungen und da hat sich herausgestellt, dass nur noch 10% der Mitglieder
396 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Beiträge gezahlt haben. Sie waren aus wirtschaftlichen Gründen überhaupt nicht mehr existenzfähig. Nun machte das nicht sehr viel, sie mussten deshalb nicht sparen, weil sie immer noch aus den Vollen wirtschafteten. Zum Schluss waren sie zwar eigenständige Gewerkschaften, aber alle Kosten, Personalkosten, Miete, etc. haben sie nicht gezahlt, sondern alles aus dem großen Topf vom FDGB herausgeholt. Sie hatten bis zuletzt keinen vernünftigen Überblick, wie viel Geld sie eigentlich hatten. Die Tatsache, dass sie mit ihren Beiträgen 50% Rückerstattung oder 60% an die Grundorganisation abgaben, wo die Leistungen mitbezahlt wurden, ist ein Nachweis dafür, dass das nicht auf die Dauer tragfähig war. M.S.: Lässt sich nachweisen, dass diese Gewerkschaften tatsächlich von unten zusammengebrochen sind, d.h., dass die Mitglieder keine Beiträge mehr bezahlt haben, dass sie davongelaufen sind und dass die Funktionäre gesehen haben, dass es keine Rettung mehr gibt, und sie deshalb versucht haben, sich dadurch zu retten, dass sie Bündnisangebote an die ÖTV gemacht haben? J.V.: Ja, genau so war das. Wir haben Anfragen bekommen aus allen möglichen Gewerkschaften: Was machen wir mit den Geldern, den Gewerkschaftsgeldern? Wir führen schon nicht mehr ab. Das war auch ein Grund, dass wir meinten, wir müssten den Leuten etwas sagen. Die BGLen haben zwar Beiträge kassiert in den Betrieben, aber haben das nicht mehr abgeführt an die Bezirksvorstände oder Kreisvorstände. Das war sozusagen ein innerer Erosionsprozess. M.S.: Aber es muss doch Auseinandersetzungen gegeben haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sämtliche BGL-Leitungen, solange sie die Hoffnung hatten die Gewerkschaft zu retten, zugeschaut haben, wie der Laden wegbrach. J.V.: Nimm ein typisches Beispiel: Rettungsversuch der Berliner Bezirksorganisation der MSK. Ich wurde geheimnisvoll eingeladen von der Leiterin der Bezirksgeschäftsstelle. Eine liebe, nette Frau, hat ihre Verdienste gehabt – auch so ein Gluckentyp. Sie hat mir vertraulich einen Vorschlag zum möglichen Einsatz von Kollegen für den zukünftigen neuzubildenden Bezirksvorstand der ÖTV-Berlin auf der Grundlagen einer entsprechenden Basislegitimation überreicht. Dieser Vorschlag enthielt das ganze Personaltableau, das sie im Bezirksvorstand hatten und von denen sie meinte, dass sie sie der OTV anbieten könnte. Der andere Teil ging zur HBV. Die sind nicht so pingelig gewesen wie wir, sie haben alle übernommen, wie ich das so sehe. Da hatten sie alle Daten aufgeschrieben, Einsatzmöglichkeiten bei sich, Fachverband Soziales oder Frauenarbeit, Einsatzmöglichkeiten, Organisation. Also, wenn man sich das jetzt durchschaut, sollten alle von der ÖTV übernommen werden. Das war das Interesse der Kollegin. Eine einzige davon ist bei der ÖTV beschäftigt. Die meisten von ihnen haben keinen Stich gekriegt. Erst mal waren sie gewohnt zu verkünden. Dann haben sie wahrscheinlich auch noch abgelesen. Rhetorisch hatten sie häufig nichts drauf, erstaunlicherweise. Ich weiß nicht wieso, aber es liegt wahrscheinlich an der jahrelangen Übung, immer nur Manuskripte vorzubereiten und ggf. zur Genehmigung vorher einzureichen. Die waren jedenfalls nicht in der Lage, frei zu sprechen. Unsereins, der kann natürlich flott rumquackeln und immer noch einen Stich kriegen. Du warst sozusagen kulturell gesehen ein Repräsentant eines anderen Systems. Also lockerer und nicht so verbissen, und ein Scherz auf den Lippen, nach dem Motto: Das muss man alles nicht so sehr ernst sehen. Sie waren häufig verbissen. Das war einerseits eine Frage der Darstellung, also ihr schauspielerisches Talent war unterentwickelt. Gewissermaßen sind wir ja auch Schauspieler. Zweitens hatten sie auch inhaltlich nichts zu sagen. Sie waren schlecht vorbereitet auf das neue System, das sich
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ankündigte: Eigenständige lnteressenvertretung, Betriebspersonalräte, sie wussten nicht über Tarifverträge Bescheid und wie das funktioniert, was der Gegenstand ist. Insgesamt war ihr lnformationsdefizit größer als bei den Mitgliedern. Diese haben schon häufiger über ihren Zaun hinweggeschaut. Was ein Apparatschik war, der musste sich zunächst einmal in seinem System bewegen und weniger rausschauen, das wäre ja verdächtig gewesen. Deshalb waren sie wirklich schlecht und es war nicht sehr viel los mit ihnen. Sie wurden nicht mehr wahrgenommen von ihren Leuten. M.S.: Welche Rolle hat Peter Becker gespielt? J.V.: Das war eine interessante Kiste. Es gab ein paar sehr interessante Pflänzchen in dem Bereich Interessengemeinschaft der technischen Mitarbeiter an Schulen und Kindergärten. Ich weiß nicht mehr, wie die genaue Bezeichnung war. Das war eine sehr aktive Truppe. Die bestand aus den Hausmeistern der Schulen, die sich stadtbezirksweise getroffen haben, und dann gab es einen Zusammenschluss auf der Landesebene, auf der Berliner Ebene. Sie waren alle Mitglied der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung und haben sich dann innerhalb dieser Gewerkschaft als eine Reformbewegung verstanden. An der Spitze war damals der Berliner Sprecher, der Peter Becker, der über den Berliner Bereich hinaus auch in die anderen Länder hineinwirkte. Er hat die Zuwendung zur ÖTV und zur neuen Interessenvertretung gefördert. Aufgrund des Drucks der Mitglieder dieser Interessengruppe wurde er in den Vorstand als Sachbearbeiter der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung hineindelegiert. Er hat mehrere Monate als Sachbearbeiter gearbeitet aber die andere Tätigkeit in dem Bereich nie vernachlässigt. Da hatte er sicherlich auch Konflikte auszustehen, denn die Spitze der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung war mehr als andere auf einen eigenständigen Kurs eingestimmt, und auch linientreuer als andere. Möglicherweise hat er keinen leichten Stand gehabt – und dann noch die GEW. Aber diese Interessengruppe war eine Keimzelle der ÖTV in der DDR und war für den Bereich der Bezirksämter und die damit zusammenhängenden Bereiche, die Kindergärten, der Schlüssel dafür, dass wir ab Juli wahnsinnig viele Mitglieder in diesem Bereich hatten. Sie haben einen Teil der regionalen Infrastruktur mitliefern können. Es gab neben diesen Interessen der technischen Mitarbeiter noch eine Interessenvertretung der Erzieherinnen und Kindergärtnerinnen, mit denen dieser Interessenverband sehr eng kooperierte. Ich habe sowohl an Versammlungen der technischen Mitarbeiter mehrmals teilgenommen, als auch an Veranstaltungen der Erzieherinnen. Die letzte Veranstaltung war in Hellersdorf, wo sie aus ganz Berlin aus den Kindertagesstätten, aus den Krippenvereinigungen zusammenkamen, und wo auch diese Fragen der neuen Interessenvertretung etc. diskutiert wurden. Nachher, ab Mai und Juni, begann schon die gewerkschaftliche Arbeit, die Aufnahme in den Bereichen. Es gab noch einen anderen Verband, Verband des mittleren medizinischen Personals. Was sich durchgezogen hat durch unsere Arbeit, ab März bis in den Sommer hinein, war die Informations- und Beratungstätigkeit. Diese wurde immer mehr, die Telefonate rissen nicht mehr ab, und wir schafften es nicht mehr, alle Wünsche zu befriedigen. Es klingelte und keiner ging mehr ran. Da standen sie vor der Tür, zehn, fünfzehn Leute. Und wir mussten irgendwas machen. Deshalb habe ich mir überlegt, wie man diese Informationswünsche irgendwie kanalisieren könnte. Wir haben Seminare von unserem Beratungsbüro zu den vier erwähnten Fragestellungen und Termine angeboten. Wir hatten insgesamt bei diesen Seminaren – glaube ich – 600 oder 800 Teilnehmer. Alles Repräsentanten und Funktionäre. Es liefen jede Woche zwei Seminare. Immer zwei Tage, Montag/Dienstag, Donnerstag/Freitag, Mittwoch hatten wir frei. Am Koppenplatz, Hinterausgang vom Haus, im
398 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Kultursaal vom Energiekombinat haben wir das gemacht. lrgendeine Frau vom Energiekombinat hatte ihre Mutter mobilisiert, schon eine ältliche Dame. Sie kam mit einem Kübel an, hat das Essen serviert und das war eine bombige Atmosphäre. Insgesamt haben ungefähr 600 Leute daran teilgenommen. M.S.: Gab es politische Diskussionen? Es kann doch nicht so sein, dass diese Leute alle mit wehenden Fahnen übergelaufen sind? Die waren doch alle SED-Mitglieder? J.V.: Zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. M.S.: Das war doch eine riesige Geschichte, dass sich der Staat auflöst. Die können doch nicht einfach von heute auf morgen sagen: Gut, dann gehe ich jetzt eben in die WestÖTV? J.V.: Ja. M.S.: Hast du erlebt, dass ernsthaft diskutiert worden ist, was da eigentlich politisch geschieht? J.V.: Selten. Ich kann mich nur an wenige Gespräche und Diskussionen erinnern, wo der untergehenden DDR und den untergehenden Gewerkschaften Tränen nachgeweint worden wären. Es ist erstaunlich, es gab kaum noch welche. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern. Ich will nicht sagen, dass es das nicht gab, aber ich persönlich kann mich nicht erinnern, dass die Leute noch gekämpft hätten für ihre alten Strukturen. Mag sein, dass der Kontakt, den ich hatte, mich mit Leuten zusammenbrachte, die offen waren für solche Sachen. In anderen Bereichen sah es bestimmt anders aus. M.S.: War für dich und für die Berliner die Geschichte gelaufen mit dem Beschluss, die Ostler in die ÖTV aufzunehmen? J.V.: Was heißt gelaufen. Damit fing es praktisch an. Es war eine zentrale Entscheidung: Du musstest erst mal Mitglieder gewinnen, und dann musstest du sie behalten. Das ist das Wesentliche. Das ist das Schwierigere.
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Monika Wulf-Mathies ÖTV-Vorsitzende Interview vom 22. Juli 2009 M.S.: Mir ist aufgefallen, dass die ÖTV 1989 vom Sommer bis zum Jahresende sich fast nicht gekümmert hat um das, was in der DDR passiert ist. Es gibt keine Artikel, es gibt keine Stellungnahmen. Es gibt eine Hauptvorstandssitzung im Oktober, da hast du eine Rede gehalten und davor gewarnt, irgendwelche Vorschläge zu machen. Du hast gesagt, wir wollen nicht als Besserwisser auftreten und wir wollen uns heraushalten. Das sei Angelegenheit der DDR-Bürger. Und du hast davor gewarnt, eine Wiedervereinigungsdiskussion anzufangen. Mein Eindruck ist, dass die ÖTV und auch die anderen Gewerkschaften sich sehr zurückgehalten haben gegenüber der Entwicklung im anderen Teil Deutschlands. M.W.-M.: Der Eindruck ist sicher nicht ganz falsch. Allerdings bedeutet das nicht, dass sich niemand für die Entwicklungen in der DDR interessiert hätte. Wir haben uns nur mit öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten, weil wir eine große Scheu davor hatten, als „Eroberer“ oder „Besserwessis“ betrachtet zu werden. Außerdem wusste ja niemand, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden. Was aus heutiger Sicht vielleicht folgerichtig erscheint, war damals doch überhaupt nicht abzusehen. Deshalb herrschte zunächst die Einschätzung vor, man müsse erst einmal abwarten und den Menschen in der DDR die Chance geben, sich selbst zu finden und selbst zu entscheiden, in welche Richtung die Entwicklung gehen sollte. Auch die Politik ist ja vom Tempo der Ereignisse überrascht worden und dachte ursprünglich eher in langfristigen Perspektiven, so z. B. mit dem 10Punkte-Plan von Kohl. M.S.: Der kam erst Ende November, also nach der Hauptvorstandssitzung im Oktober, wo die ÖTV zum ersten Mal eine offizielle Erklärung zur DDR gegeben hat. M.W.-M.: Genau. Der Kohlsche 10-Punkte-Plan ging ja von einem ganz anderen Zeitfenster aus. Niemand wollte riskieren, dass der Demokratisierungsprozess durch eine aggressive Vereinnahmungspolitik scheitert. Außerdem haben doch nur wenige daran geglaubt, dass eine Wiedervereinigung tatsächlich noch zu unseren Lebzeiten möglich wäre. Unser Interesse war deshalb auch primär darauf gerichtet, den Menschen in der DDR nicht die Freiheit zu nehmen, selbst über ihre politischen Verhältnisse zu entscheiden. Und nicht jeder wollte die Wiedervereinigung wirklich. Die Tendenz in weiten Teilen der Gewerkschaften ging eher dahin, zwei Staaten zu akzeptieren, wenn Reisefreiheit, demokratische Verhältnisse, Abschaffung der Stasi gewährleistet wären. Man hätte sich sehr wohl auch ein Verhältnis wie zwischen Deutschland und Österreich vorstellen können. Es ging mir deshalb mehr darum, einen Rückschlag im Demokratisierungsprozess zu verhindern. M.S.: Auch Kohl wollte in seinem Zehn-Punkt-Plan zunächst nur eine Konföderation. Er war sehr vorsichtig, er hat von Selbstbestimmung geredet, von einem freien Parlament. M.W.-M.: Ich glaube, das haben damals sehr viele so gesehen, selbst wenn man annimmt, dass Kohl und die CDU sehr viel intensiver – zumindest rhetorisch – auf die Vereinigung gesetzt haben. Die SPD war ja letztlich ein Stück zurückhaltender und eher auf Wandel durch Annäherung aus, aber Wandel musste nicht unbedingt Wiedervereinigung heißen, sondern entscheidend waren Niederlassungsfreiheit, Reisefreiheit, freie
400 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Wahlen, unabhängige Gerichte, Abschaffung des diktatorischen Regimes und vor allem ein Ende der Bespitzelung durch die Stasi. Aber auch in der SPD gab es z. T. sehr unterschiedliche Meinungen und es lagen Welten zwischen den Positionen von Willy Brandt und Oskar Lafontaine. M.S.: Aber es scheint mir kein Zufall, dass ihr am 9. November auf einem internationalen Kongress in Simbabwe gewesen seid? M.W.-M.: Niemand konnte damals wissen, was am 9. November geschehen würde. Der Zeitpunkt für den Kongress der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) stand lange fest – und es war wichtig, dass wir daran teilnahmen, denn es war der erste Kongress der IÖD in Afrika. Ich erinnere mich noch genau, wie wir ungläubig am Fernsehen saßen und den Fall der Mauer sahen. M.S.: Wie habt ihr vom Fall der Mauer erfahren, wie hast du auf diese Meldung reagiert? M.W.-M.: Also ziemlich überrascht und fasziniert. Ich sehe das Bild noch vor mir: Wir waren am Abend beim Deutschen Botschafter eingeladen. Er hatte Telefon-Kontakt zu seinen Kindern, die in Berlin waren und ihm berichteten, die Mauer sei offen. Später haben sie dann von einem „Ausflug“ nach Ost-Berlin erzählt. Dann haben wir CNN eingeschaltet und die Leute auf der Mauer tanzen sehen. Das war ein absolut surrealistisches Bild. M.S.: Hast du daran gedacht, dass das DDR-System zusammenbrechen könnte? M.W.-M.: Nein. Das Erstaunliche war ja, dass man den gefälschten Statistiken der DDRRegierung immer irgendwie geglaubt hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich im Sommer im Frankreich-Urlaub gelesen hatte, die DDR läge im Bruttosozialprodukt vor Großbritannien. Nach Zusammenbruch des Systems klang das nicht. M.S.: Bei eurer Rückkehr war eine unglaubliche Dynamik in Gang gekommen, die Demonstrationen wurden immer größer, die Slogans änderten sich von “Wir sind das Volk” zu “Wir sind ein Volk”. Wie hast du das erlebt? M.W.-M.: Diese Veränderung hat mich sehr beschäftigt. „Wir sind das Volk“ hieß: Wir wollen selbst bestimmen. „Wir sind ein Volk“ bedeutete dagegen, wir verzichten auf eine eigenständige Entwicklung und wollen so sein wie ihr. Der Slogan „Wir sind das Volk“ hat auf mich damals großen Eindruck gemacht. Wir haben deshalb versucht, mit Leuten aus der Bürgerbewegung ins Gespräch zu kommen, um ihnen zu erklären, dass freie Gewerkschaften integraler Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft sind. Für die meisten unserer Gesprächspartner war dies nicht einsichtig, weil sie Gewerkschaften in der DDR als gleichbedeutend mit Partei und Staat erlebt hatten. Außerdem hielten sie mir „Freundschaftsbesuche“ von West-Gewerkschaftern beim FDGB vor. Sie kannten ja nicht mein distanziertes Verhältnis zu Harry Tisch. M.S.: Hast du Tisch getroffen, als er hier im September 1989 auf Besuch beim DGB war? Die Journalisten haben ihn zu den Flüchtlingsströmen befragt und er war unfähig, eine vernünftige Antwort zu geben? M.W.-M.: Nein. Was ich von Harry Tisch erinnere, ist etwas Anderes. Ich habe 1985 einen Besuch in der DDR gemacht, mit Franz Holländer [stellvert. ÖTV-Vorsitzender], Eike Eulen [gHV-Mitglied, zuständig für den Bereich Verkehr] und Walter Eberhardt [gHV-Sekretär]. Damals ging es gerade um die sogen. Nachrüstungsdebatte, um SS 20 und Pershing Raketen und um die Friedensbewegung in der DDR, unter dem sehr ein-
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drucksvollen Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“. Wir waren einquartiert in einem feudalen FDGB-Feriendomizil mit allem DDR-Komfort: direkter Zugang zum See und eigener Badesteg. Ich hatte ein Zimmer, groß wie ein Tanzsalon, während Eike und Walter sich ein Zimmer mit Doppelstockbetten teilen mussten. Harry Tisch beklagte sich darüber, dass alle Arbeitnehmer in der DDR Westfernseher und Westautos haben wollten und nicht einsehen würden, dass die Politik der DDR auf andere Werte setze. Wir haben dann natürlich auch das Thema Raketen angesprochen und ich habe gesagt, dass ich mich vor den SS 20 genau so fürchte wie vor den Pershings. Für mich gäbe es keine guten oder „friedlichen“ Raketen. Die Diskussion ging dann eine Weile hin und her, nicht unfreundlich, aber mit deutlichen inhaltlichen Differenzen. Nach einer Stunde überreichte Harry Tisch uns ein vorfabriziertes Protokoll unseres Gesprächs mit einer „Gemeinsamen Erklärung“, in der die Friedenspolitik der DDR gelobt wurde. Wir haben darauf bestanden, dass das Protokoll geändert wird und verlangt, dass der Gesprächsverlauf korrekt wiedergegeben wird. So z.B. auch unsere Erwartung an die DDR-Gewerkschaften, genau wie wir, in kritischer Distanz zur Regierung , echte Friedens- und Abrüstungsinitiativen auf beiden Seiten zu fordern. Offensichtlich war Harry Tisch derartige Unbotmäßigkeit nicht gewohnt, jedenfalls reagierte er nun äußerst ungehalten Es war ein ziemliches Gehakel. Schließlich haben wir uns auf einen Text geeinigt, der unsere Kritik an der Haltung der DDR-Regierung gegenüber der Friedensbewegung enthielt, mit der Folge, dass das Protokoll jedenfalls in der DDR nie gedruckt wurde und wir es nur im Westen, im ÖTVmagazin veröffentlicht haben. Die ÖTV hat sich damit deutlich von den Bewunderern der DDR-Gewerkschaften distanziert. Es hat auch nicht jedem gefallen, dass wir in unseren internationalen Gewerkschaftsorganisationen die damals noch von den offiziellen Ostblock-Gewerkschaften geschnittene und bekämpfte SolidarnoĞü unterstützt haben. M.S.: Du hattest nochmal eine Einladung im Sommer ’89 und zwar von der MSK. Das war zu der Zeit, als die ganze Flüchtlingsgeschichte begann. Du hast kurzfristig abgesagt. Wolfgang Warburg [stellvert. ÖTV-Vorsitzender] sprang ein? M.W.-M.: Das hatte politische Gründe. Ich wollte mich nicht für das Prestigebedürfnis einer politischen Führung missbrauchen lassen, die zunehmend mit inneren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. M.S.: Nach dem 9. November beginnen die Leute aus der DDR rüber zu kommen, vor allem in die grenznahen Kreisverwaltungen. Sie wollten Unterstützung, Informationsmaterial, Betriebsverfassungsgesetze etc. Wie ist dieser Prozess bei dir angekommen? M.W.-M.: Die grenznahen Kreisverwaltungen, insbesondere auch die Berliner, haben uns vom Ansturm Interessierter berichtet, die sich über freie Gewerkschaften und arbeitsrechtliche Fragen informieren wollten und den Hauptvorstand um Unterstützung gebeten. Wir haben dann zunächst eine Informationsstelle in Ost-Berlin eröffnet und bald darauf Beratungssekretäre in die 15 DDR-Bezirke geschickt. Aus meiner Sicht haben wir ziemlich schnell gehandelt, denn niemand konnte ja vorhersehen, mit welcher Dynamik sich die Dinge kurz darauf entwickeln würden. M.S.: Was war der Auftrag der Berater? M.W.-M.: Der Auftrag der Beratungssekretäre bestand darin zu informieren und Hilfestellung bei der Anwendung neuer Rechtsvorschriften zu leisten. Das galt insbesondere für das Betriebsverfassungsgesetz. Dabei gab es innerhalb der ÖTV durchaus unterschiedliche Positionen,. Die einen (insbes. die der DKP nahestehenden Funktionäre) sahen die Chance, in einem geeinten Deutschland die Position der Gewerkschaften durch
402 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview Übertragung des Systems der Betriebsgewerkschaftsleitungen zu stärken, die anderen beharrten darauf, dass sich die Gewerkschaften in einer freien demokratischen Gesellschaft dem Votum der Beschäftigten im Betrieb durch Wahlen stellen müssten. Gerade in der Auseinandersetzung mit einem undemokratischen System durften die Gewerkschaften aus meiner Sicht keine autoritären Sonderrechte reklamieren. Diese Position wurde auch vom Hauptvorstand bestätigt. Dennoch blieb das Thema, auch in der Diskussion mit den DDR-Gewerkschaften, noch eine ganze Weile kontrovers. M.S.: Wie kam im gHV die Meinungsbildung zustande? M.W.-M.: Der gHV war ja verhältnismäßig homogen in seinen Auffassungen; Alle grundsätzlichen Fragen haben wir im Konsens entschieden. Strittige Diskussionen gab es eher im Hauptvorstand und mit den Bezirksvorsitzenden, die politisch eher in eine andere Richtung tendierten, z.B. NRW II, Hamburg oder Berlin. Dagegen war der gHV ein vergleichsweise monolithischer Block. Wir haben die politischen Gespräche, die alle von uns geführt hatten, gemeinsam ausgewertet. Aber natürlich habe ich unser Vorgehen wesentlich bestimmt, weil ich die Themen politische Einheit und Gewerkschaftseinheit – heute würde man sagen -, zur Chefsache gemacht hatte. Meine Hauptgesprächspartner waren in dieser Phase Margareta Fohrbeck, die die Diskussionen in der sogenannten Steuerungsgruppe verfolgte, Werner Ruhnke, unser erster Mann vor Ort und Willi Hanss. Trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung im gHV gab es jedoch auch immer wieder Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist, insbesondere wenn es Berichte darüber gab, dass andere Gewerkschaften versuchten, in Bereiche einzubrechen, die zum traditionellen Organisationsgebiet der ÖTV gehörten. Diskussionen gab es auch zur Budgetsituation, so z.B. zur Frage, ob es richtig war, aus grundsätzlichen Erwägungen auf das Geld der DDR-Gewerkschaften zu verzichten. Erst sehr viel später hat sich ja gezeigt, dass es gar nichts gab. Dann gab es hin und wieder auch Konflikte mit Gewerkschaftssekretären, die wir nach Ostdeutschland geschickt hatten und die keineswegs immer auf der gHV-Linie lagen. Interessant war, dass sich so mancher ideologische Konflikt aus der Vergangenheit durch die realen Verhältnisse in der DDR auflöste, und dass die Kollegen im großen Ganzen mit sehr viel Augenmaß zu Werke gingen. Das lag auch daran, dass man dort in der Anfangszeit vieles regeln konnte, aber auch Verantwortung übernehmen musste. Und es stellte sich heraus, dass die Welt anders aussieht, wenn man die Verantwortung trägt als wenn man nur Abstimmungssiege über den Vorstand erringen muss. Manche, bei denen wir zunächst größte Bedenken hatten, sie in die DDR zu schicken, wurden große Stützen des gHV, weil sie einfach auf die Situation reagierten und die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich ihnen boten, nutzten. .Es war schon so, dass sie eine wichtigere Stellung hatten als Kreisvorsitzende oder Bezirksvorsitzende im Westen. Sie konnten auch eine gewisse Zeit noch davon profitieren, dass sie es mit Arbeitgebern zu tun hatten, die aus alter Tradition gegenüber Gewerkschaften offener waren als Arbeitgeber im Westen. Außerdem war der rechtliche Rahmen der Arbeitsbeziehungen ja noch nicht so festgefügt wie im Westen. Der Praxistest hat bei vielen auch dazu geführt, dass selbst begeisterte DKP-Anhänger am Ende ziemlich desillusioniert waren. M.S.: Welchen Wert hat für dich die Steuerungsgruppe gehabt? M.W.-M.: Ich habe dort viel gelernt und intensiv zugehört. Ich bin zwar in dieser Zeit auch viel in der DDR gewesen, um selbst ein Gefühl dafür zu bekommen, was dort abging, aber vielfach kamen meine Informationen aus der Steuerungsgruppe. Die Abstimmungsprozesse in der Steuerungsgruppe haben auch eine wichtige Funktion für spätere gHV- und Hauptvorstandsbeschlüsse gehabt.
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M.S.: Ich habe den Eindruck, dass die ÖTV erst aufwacht, als die Meldung kommt, dass die anderen Verbände aktiv werden. Ich meine die Konkurrenzorganisationen DAG und Beamtenbund. Es gibt ein Schreiben von Werner Ruhnke, er sagt, wir müssen jetzt endlich etwas machen. Die anderen sind schon da. M.W.-M.: Klar ist, dass sich alle in der DDR tummelten, und nicht alle waren daran interessiert, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, sondern den meisten ging es nur um Mitglieder. Dabei bestand für die ÖTV noch eine besondere Gefahr darin, dass Spezialgewerkschaften und Berufsverbände durchaus auf Interesse stießen, weil Einheitsgewerkschaft für ostdeutsche Ohren nicht besonders attraktiv klang, denn man hatte von Einheitspartei und FDGB ja die Nase voll. Wir mussten deshalb aufpassen, dass Konkurrenzorganisationen uns nicht das Wasser abgruben. M.S.: HBV, GEW und vor allem die Bergbau – es gab ja harsche Konflikte, besonders mit der Bergbau? M.W.-M.: Ja, leider setzten sich die Organisationskonflikte mit anderen DGBGewerkschaften im Osten fort. So auch der Streit darum, ob eine reine Energiegewerkschaft die Interessen der Mitglieder in der Energiewirtschaft besser vertreten kann als der Vielvölkerstaat ÖTV, wo dieser Wirtschaftszweig nur ein Teil der Gesamtorganisation ist. Da es im Osten keine traditionellen Zuordnungen gab, entwickelte sich die Organisation in diesen Bereichen eher zufällig, je nachdem, wer zuerst in die Betriebe kam. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die Gewerkschaften, die von Anfang an mit den Altfunktionären der DDR-Gewerkschaften zusammengearbeitet haben, einen besseren Zugang zu den Betrieben hatten. Es gab deshalb auch immer wieder kritische Stimmen bei uns, die den Hauptvorstand aufforderten, weniger streng mit Altfunktionären umzugehen. M.S.: Es war ziemlich harsch, DGB und Schiedskommission. Warst du beteiligt? M.W.-M.: Ich war nicht in der Schiedskommission, aber beteiligt schon. Wir haben versucht zu retten, was zu retten war. Im Ergebnis war das auch nicht so schlecht. Aber am Ende siegt die Realität über Formelkompromisse. M.S.: Die HBV übernahm den ganzen Sparkassenbereich? M.W.-M.: Auch die HBV hat sich an die Altfunktionäre gehalten und davon in bestimmten Bereichen profitiert. Manches hat sich aber später auch wieder anders entwickelt und ist durch ver.di ohnehin überholt. M.S.: Und Erziehung und Wissenschaft? M.W.-M.: Ja, das war auch ein schwieriger Fall. Eigentlich waren wir uns mit Dieter Wunder einig. Aber es gab auch sehr raffinierte Spitzenleute bei der GEW (Ost), die es meisterhaft verstanden, GEW und ÖTV gegeneinander auszuspielen und am Ende darauf setzten, in einer kleinen Gewerkschaft leichter Einfluss gewinnen zu können. M.S.: Welche Rolle spielte der DGB? Ihr seid im Bundesvorstand alle zusammen gesessen, was und wie habt ihr diskutiert? M.W.-M.: Jeder hat erzählt, wie er es macht, und der DGB spielte dabei keine Rolle, denn niemand hatte ein Interesse daran, den diskreditierten FDGB aufzuwerten. Der Aufbau Ost war die Stunde der Einzelgewerkschaften, nicht des DGB.
404 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview M.S.: Warum ist es nicht gelungen unter den DGB-Gewerkschaften eine einheitliche Linie zu finden, wie man sich gegenüber den FDGB-Gewerkschaften verhält? M.W.-M.: Weil alles so schnell ging und die Strategien zu unterschiedlich waren. Zwar haben alle offiziell eine Zusammenarbeit mit dem FDGB abgelehnt, aber in der praktischen Umsetzung gab es viele Nuancen, die auch mit den Kräfteverhältnissen innerhalb der Gewerkschaften zusammenhingen. So gab es in der IG-Metall starke DKP-Bataillone, die die offizielle Linie z. T. mit Erfolg konterkarierten. Die IG-Chemie hat sich von Anfang an entschieden, die IG Chemie Ost mit Haut und Haar zu übernehmen und in die Disziplin zu zwingen. Auch wenn wir es ganz anders gemacht haben und zunächst entsetzt waren, muss man doch feststellen, dass dies am Ende durchaus gelungen ist. Und last not least haben die DDR-Gewerkschaften versucht, durch Verhandlungen Einfluss auf die Bildung gesamtdeutscher Gewerkschaften zu gewinnen und das ist ihnen je nach Lage der Dinge in unterschiedlichem Maße gelungen. M.S.: Du wolltest mit dem FDGB nichts zu tun haben? M.W.-M.: Es herrschte insgesamt eine große Unsicherheit, was zu tun sei. Während es einerseits bereits Stimmen gab, dass man Arbeitnehmer, die Mitglied werden wollten, aufnehmen solle, war ich der Meinung, dass es in erster Linie darum gehen müsse, das Informationsdefizit über die Rolle freier Gewerkschaften im demokratischen Staat abzubauen und damit den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, selbst aktiv zu werden und eigenständige Strukturen zu schaffen. Wir konnten ja damals nicht ahnen, wie schnell es zur Vereinigung kommen würde. Das eigene Organisationsinteresse spielte deshalb zu diesem Zeitpunkt auch noch eine sehr untergeordnete Rolle. Außerdem versuchten die alten DDR-Gewerkschaften ja zunächst auch, ihre Schäfchen beieinander zu halten. Und man darf auch nicht vergessen, dass sie über Büros und Telefonleitungen verfügten und uns organisatorisch durchaus noch überlegen waren. Die strategischen Fragen wurden deshalb immer wieder sehr stark überlagert von ganz praktischen Problemen, wie z.B. woher nehmen wir Beratungssekretäre, wie bringen wir sie unter, wo gibt es Büroräume, wie sollen Reisekostenregelungen und Gehälter aussehen. M.S.: Wolltest du nicht aus politischen Gründen Abstand zu den FDGB-Gewerkschaften halten, um die ÖTV nicht zu diskreditieren? M.W.-M.: Ja, das war mir sehr wichtig. Es war aber auch die einhellige Meinung im gHV. Eine Organisation, die wie der FDGB dafür sorgen musste, dass Arbeitsnormen erhöht wurden, die den Auftrag hatte, die Arbeitnehmerschaft auf der Basis von Parteibeschlüssen zu konditionieren, die bestenfalls als Ferienorganisation positive Aufgaben wahrnahm, hatte nichts mit freien Gewerkschaften gemein. Der FDGB war nicht demokratisch legitimiert und agierte als Erfüllungsgehilfe der politischen Führung, die wiederum Interessenkonflikte mit den Arbeitnehmern negierte. Ihre Philosophie lautete: Da die Arbeiter im „Arbeiter- und Bauernstaat“ ja an der Entscheidungsfindung beteiligt seien, hätten sie es auch nicht nötig, Beschlüsse der Staatsorgane hinterher zu bekämpfen. Unsere damaligen Gesprächspartner sahen das offensichtlich ganz anders. Es stellte sich deshalb auch die Frage, ob die Arbeitnehmer überhaupt bereit wären, sich in Gewerkschaften zu organisieren, wenn sie nicht mehr dazu gezwungen wären. Wir waren jedenfalls überzeugt, dass man für die neuen Kräfte nur glaubwürdig sein könne, wenn man sich vom FDGB distanzierte. M.S.: Auf der Hauptvorstandssitzung am 14./15. Februar äußert ihr euch zustimmend zur deutschen Einheit. Sehr vorsichtig, mit Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht. Die
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Vereinigung wird grundsätzlich akzeptiert aber gleichzeitig mit Bedenken versehen, also kein neuer Nationalismus, die DDR darf kein Billiglohnland werden und verschiedene andere Punkte. Im Vordergrund der Stellungnahme stehen Bedenken. Ich habe den Eindruck, wir als Westler und als Gewerkschafter haben die Freude und den Enthusiasmus den Ostlern überlassen. M.W.-M.: Der Eindruck ist durchaus nicht falsch. Die ÖTV war zwar die erste Gewerkschaft, die die Vereinigung begrüßt hat, aber es war keineswegs so, dass unsere Mitglieder und Funktionäre jubelten. Insbesondere die „DKP-Fraktion“ versuchte ja immer noch, uns davon zu überzeugen, dass die Gewerkschaften in der DDR viel mehr Einfluss gehabt hätten als wir im Westen und dass es deshalb wünschenswert wäre, unsere Position nach DDR-Vorbild auszubauen. Viele hatten auch Bedenken, dass die Vereinigung zur Aushöhlung westlicher Standards führen könne, weil Wirtschaftskraft und Lohnniveau so weit auseinanderklafften. Es musste mir deshalb darum gehen, eine politische Position zu formulieren, die den Ereignissen angemessen war und die Gefühle der Menschen im Osten aufnahm, ohne die Probleme zu leugnen. Im Nachhinein, hat sich das auch durchaus als vernünftig erwiesen, denn die „blühenden Landschaften“ haben sich ja nicht so schnell eingestellt. Zum Teil warten wir heute noch darauf. Trotzdem werfe ich Kohl das nicht vor, denn alle haben damals die wirtschaftliche Lage der DDR besser eingeschätzt als sie wirklich war. So erinnere ich mich z.B. daran, dass viele bei uns leuchtende Augen bekamen, wenn sie sich vorstellten, was man mit dem ungeheuren Gewerkschaftsvermögen anfangen könnte. Meine Position, dass wir nichts mit den alten Gewerkschaften zu tun haben wollten und folglich auch auf ihr Vermögen verzichteten, war durchaus nicht unumstritten. Aber sie hat sich am Ende durchgesetzt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich versucht habe, mich nicht vom Überschwang der Gefühle, sondern vom Organisationsinteresse leiten zu lassen. M.S.: Wie hast du die Differenz zwischen Lafontaine und Willy Brandt gesehen? Für Willy Brandt war vollkommen klar, die Vereinigung ist etwas Positives. Lafontaine schob die Kostenfrage in den Vordergrund. Viele haben die Absicht gespürt und waren verstimmt. Es ging ihm nicht darum, ernsthaft die Kosten zu diskutieren, sondern er wollte eine Vereinigung verhindern. M.W.-M.: Wir waren nicht auf der Lafontaine-Linie. Wir haben Kohl zwar kritisiert, aber ich habe immer gesagt, die „ökonomische Fehlleistung“ mit dem Wechselkurs war politisch richtig. Man konnte damals gar nicht anders handeln. .Aber nachdem man in einer so zentralen Frage den Markt außer Kraft gesetzt hatte, hätte man nicht darauf bauen dürfen, dass der Markt danach alles Weitere von selbst regelt, sondern man hätte durch Subventionen und Hilfen dafür sorgen müssen, dass die Wirtschaft sich umstellen kann und dass die industriellen Kerne in Ostdeutschland erhalten bleiben. Dies hat Roland Berger später in einem Gutachten bestätigt. Der ökonomisch falsche Wechselkurs hat nämlich dazu geführt, dass die DDR-Produkte über Nacht zu teuer wurden. Die bisherigen Handelspartner der DDR stiegen deshalb auf westdeutsche Produkte um, sofern sie noch in der Lage waren, zu kaufen. Die katastrophale Wirtschaftslage in den osteuropäischen Staaten führte kurz darauf zum Zusammenbruch der Ostmärkte und beschleunigte so den Niedergang der ostdeutschen Industrie. Man kann jetzt darüber spekulieren, was gewesen wäre, wenn man einen realistischen Wechselkurs oder einen gespaltenen Wechselkurs gehabt hätte, der es der DDR erlaubt hätte, zu den alten Konditionen weiter zu exportieren, aber das ist müßig. Es zeigt nur, dass man ein ökonomisches Konzept ge-
406 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview braucht hätte, das weit mehr hätte umfassen müssen als eine isolierte Wechselkursentscheidung. M.S.: Noch eine Frage zur Erklärung des Hauptvorstandes: Du wolltest eine Stellungnahme zur Frage der Wiedervereinigung, hast aber befürchtet, dass es Widerstände geben würde. Es gab aber keinen Widerstand, nicht mal eine Diskussion? M.W.-M.: Es gab überraschenderweise keine wirkliche Diskussion, aber es war spürbar, dass vielen diese Stellungnahme nicht gefiel und sie eher zähneknirschend hingenommen wurde. Ich war mir klar darüber, dass ich als Vorsitzende Farbe bekennen und meine Verantwortung für die Organisation wahrnehmen musste, denn es ging um eine grundsätzliche Weichenstellung. Ich habe am Wochenende vorher lange darüber nachgedacht, was langfristig im Interesse der Gewerkschaftsbewegung und für das Schicksal der eigenen Organisation das Richtige ist. Es musste verhindert werden, dass unsere Grundwerte im Zusammenspiel zwischen alten DDR-Kadern und westlichen Bewunderern der sozialen Errungenschaften des Sozialismus diskreditiert werden. Schließlich sollte unser Ideal freier Gewerkschaften im vereinten Deutschland als Zukunftsmodell obsiegen. Es ist richtig, dass der Grund für diese eher vorsichtig formulierte aber eindeutige Erklärung auch darin zu suchen war, dass viele in der ÖTV sich aus unterschiedlichen Gründen nicht wirklich ernsthaft mit den politischen Folgen der Vereinigung auseinandersetzen wollten. Für die Kolleginnen und Kollegen aus dem Süden der Republik war alles, was mit der Vereinigung zusammenhing, weit weg. Das galt nicht nur für die Geografie, sondern auch für die Inhalte, denn sie haben die Freude und Begeisterung der Menschen aus dem Osten ja nicht miterlebt wie z.B. die Kollegen in Berlin. Sie konnten mit der Einheit nicht viel anfangen und hatten eher Ängste, dass sich ihre Situation verschlechtern würde. Diejenigen, die, wie viele Funktionäre aus NRW eher auf eine Stärkung der Gewerkschaftsmacht mit Hilfe eines reichen, starken FDGB hofften, hätten sich aus anderen Gründen lieber um das Thema herumgedrückt. Aber auch sie haben am Ende zugestimmt, weil die Erklärung nichts enthielt, was man guten Gewissens ablehnen konnte. M.S.: Dazu kam, dass der FDGB, um sich zu retten, dieses Gewerkschaftsgesetz durchgedrückt hat. Es gibt eine Reihe von unseren Funktionären, die davon vollkommen begeistert gewesen sind. Du bist dagegen gewesen, wie einige andere, die gesagt haben, um Gottes Willen, das ist ja fürchterlich, was die da machen. Gewerkschaften mit Vetorecht gegenüber Parlament, Recht auf politischen Generalstreik, und was da alles noch war? M.W.-M.: Ja, das zeigte noch einmal deutlich, dass viele im FDGB noch nicht in der Demokratie angekommen waren. M.S.: Im Osten versuchten die Funktionäre aus der zweiten Reihe den FDGB zu reformieren. Sie suchten dabei die Unterstützung der ÖTV und sind nach Stuttgart gekommen? M.W.-M.: Ja, diese Gespräche waren schon sehr bemerkenswert. Am schnellsten hatten die Vertreter der Gewerkschaft der Armeeangehörigen den Westjargon drauf. Die hatten sofort den Gewerkschaftsaufbau verstanden und wussten gleich, worum es geht. Der Vorsitzende hat mir sehr bald in einem Einzelgespräch gesagt, dass er verstanden habe, dass er in der ÖTV keine Chance habe, während die Vorsitzenden der anderen Gewerkschaften noch lange versuchten, mit Mitgliederlisten eine Übernahme als Gewerkschaftssekretär zu erreichen. Die Vertreter der IG Transport, die eine Chance sahen, sich vom FDGB zu emanzipieren, versuchten als erste, sich unseren Standards anzupassen, wäh-
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rend es den Vertretern der MSK als besonders staatsnaher Organisation in erster Linie um Machterhalt ging. M.S.: Es fällt auf, dass ihr euch besonders um die Transportgewerkschaft bemüht habt. Ich habe den Eindruck, dass Eike Eulen einen Kurs gefahren hat, der deinem entgegengesetzt war, nämlich Distanz zu halten. Die Transport war ja auch nicht demokratisch legitimiert gewesen. Hattest du auch die Befürchtung, dass die Transportgewerkschaft drüben sich selbständig machen könnte? M.W.-M.: Ich glaube, bei der IG Transport kamen mehrere Dinge zusammen. Es gab in der Tat die Sorge, dass sich eine eigenständige Transportgewerkschaft bilden könnte, mit Rückwirkungen auch auf den Westen. Die Transportgewerkschaft hat sich auch sehr engagiert für die Arbeitsplätze, insbesondere der Fahrer im Transportgewerbe eingesetzt, womit sie unserem Verständnis von Gewerkschaftsarbeit im Interesse der Mitglieder mehr entsprachen als andere, und es gab schließlich aus der Vergangenheit eine gewisse Zusammenarbeit in internationalen Gewerkschaftsgremien. Dies war bei grenzüberschreitenden Transporten für die Arbeitnehmer wichtig, weil sie dadurch gewerkschaftliche Ansprechpartner im Ausland hatten, die ihnen helfen konnten, wenn es Probleme gab. So gab es z.B. für Fahrer auf der sogenannten Interzonenstrecke eine Zusammenarbeit mit den DDR-Gewerkschaften, um zu verhindern, dass sie bei Verkehrsvergehen gleich festgesetzt wurden. Aus all dem entstand zwischen den handelnden Personen auch ein gewisses Vertrauensverhältnis, das eine Kooperation erleichterte. M.S.: Am 9. April wird das Kooperationsabkommen mit der IG Transport unterzeichnet. Da stand etwas von gleichberechtigten Partnern? M.W.-M.: Damit wurde die Seele der Transportis gestreichelt, aber es gab keinen Rabatt im Bezug auf die demokratische Legitimation. M.S.: Es gibt eine Protokollnotiz. Die Ost-Kollegen mussten unterschreiben, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben. Gab es Auseinandersetzungen darüber? M.W.-M.: Ja, so ganz glücklich waren sie darüber wohl nicht, aber es hat sich auch keiner getraut, etwas dagegen zu sagen, denn die Stasi war zu dieser Zeit ja noch wirklich verhasst und die Menschen hatten noch nicht vergessen, was ihnen mit diesem Spitzelsystem angetan worden war. M.S.: Nach der Volkskammerwahl mit dem überwältigenden CDU-Sieg war klar, dass es auf eine Vereinigung hinausläuft. Es gibt eine gHV-Erklärung, die das Wahlergebnis so interpretiert. Jetzt wird der Kurs neu bestimmt. Jetzt stellt sich die Frage nach einer einheitlichen ÖTV im vereinten Deutschland konkreter. Welche Vorstellung hattest du? M.W.-M.: Also es gab von Anfang an eigentlich 3 Optionen: Kooperation mit den Altgewerkschaften, Gründung einer ÖTV in der DDR oder Satzungsöffnung hin zur Direktmitgliedschaft. Die erste schied aus den genannten Gründen aus, für die Satzungsöffnung war es noch zu früh: das hätte auch rechtliche Konsequenzen gehabt. Aber auch die Option, die mir die sympathischste war, nämlich der basisdemokratische Aufbau einer eigenständigen ÖTV in der DDR erwies sich als außerordentlich schwierig, und am Ende ließ sich keine der drei Optionen lupenrein umsetzen. M.S.: Ist das alles viel zu schnell gegangen? M.W.-M.: Ja natürlich waren wir auch immer wieder hin- und hergerissen zwischen den unterschiedlichen Wunschbildern. Das Ganze fand ja nicht im Reagenzglas statt, sondern
408 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview die Versuchsanordnungen wurden immer wieder durch die Realität überholt. Es gab eine ungeheure Dynamik, die es nicht immer erlaubte, jedes Modell bis zu Ende durchzuspielen. M.S.: Es gab ab und zu noch mal den Gedanken, die Entwicklung im Osten mit der geplanten Organisationsreform 528 zu verbinden? M.W.-M.: Die Kraft war einfach nicht da, um den Aufbau Ost auch noch mit der geplanten Organisationsreform West zu verbinden. Da ging es uns auch nicht besser als der staatlichen Ebene. Man darf ja nicht vergessen, welch ungeheure Anstrengung uns allein unsere Aktivitäten in Ostdeutschland gekostet haben. Daneben mussten wir aber natürlich unsere vielfältigen tarifpolitischen Aufgaben erfüllen. Unsere Mitglieder, die Erwartungen an uns hatten und uns letztendlich gewählt und bezahlt haben, saßen ja nach wie vor im Westen. So befanden wir uns in einem ständigen Spagat zwischen unterschiedlichen Zielen: Auf der einen Seite wollten wir den Wunsch nach freier Entfaltung und eigenständiger Entwicklung im Osten ermöglichen, auf der anderen Seite galt es, das Organisationsinteresse der ÖTV (West) im Blick zu haben und unvereinbare Entwicklungen in Ostdeutschland zu vermeiden. M.S.: Es gibt auf der Riesendemo in Berlin am 4. November den Aufruf zur Gründung von unabhängigen Gewerkschaften. Habt ihr zu diesen Gruppen Kontakt aufgenommen? M.W.-M.: Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube nicht. Das Problem mit einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung bestand vor allem darin, dass es keine politischen Führungsfiguren für einen basisdemokratischen Ansatz gab. Die Opposition in der DDR war gewerkschaftsfern. Gewerkschaften waren durch die Gleichsetzung von SED und FDGB negativ besetzt. Und außerdem war die Opposition zu schwach, um eine politische Erneuerung auf allen Ebenen durchzusetzen. M.S.: Es gibt früh verschiedene Initiativen, eine ÖTV in der DDR zu gründen. Ich glaube, die ersten waren die Feuerwehrleute. Dann gab es Angelbeck in Halle und die Initiative in Plauen. Das war doch die Alternative zur Kooperation mit den FDGBGewerkschaften? M.W.-M.: Ja, das war damals eine sehr schwierige Situation. Wir konnten den Prozess nicht mehr stoppen, ohne unglaubwürdig zu werden. Ich hätte es nicht für vertretbar gehalten, auf das veränderte Umfeld zu verweisen und die Beitrittswilligen dann direkt aufzunehmen. Es gab viele Versprechungen im Vereinigungsprozess, die nicht gehalten wurden. Uns lag daran, das Vertrauen, das die ÖTV [West] in der DDR genoss, nicht zu verspielen. Deshalb haben wir die Gründung durchgeführt, obgleich wir zu dem Zeitpunkt bereits wussten, dass viele Arbeitnehmer in Ostdeutschland diesen Weg nicht mehr gehen wollten. Aber wir wollten trotzdem die nicht verprellen, die sich auf den Weg gemacht hatten, eine eigenständige Organisation aufzubauen. Du hast schon Recht, wenn du auf unser Dilemma hinweist. Aber die Wahl zwischen zwei Wegen, ÖTV in der DDR oder Übertritt aus FDGB-Gewerkschaften in die ÖTV, war eben die Antwort auf eine sehr komplexe Realität. Allerdings haben wir darauf bestanden, dass der direkte Weg nur auf der Basis unserer gewerkschaftlichen Grundprinzipien erfolgen kann: nämlich Einzelmitgliedschaft, demokratische Wahl im Betrieb, auf der Kreis- und auf der Bezirksebene. Wir haben mit Ausnahme der IG-Transport keine Altfunktionäre der großen FDGB-Gewerkschaften übernommen und alle einer sorgfältigen Prüfung unterzogen. Mit diesem Verfahren haben wir uns grundlegend von der IG-Chemie unterschieden, die die gesamte Gewerkschaft Ost übernommen hat.
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M.S.: Logisch wäre doch gewesen die FDGB-Gewerkschaften aufzufordern, in die ÖTV in der DDR einzutreten? M.W.-M.: Damit hätten wir leider nichts gewonnen, weil das dazu geführt hätte, dass wir mehr oder weniger ganze Apparate und ganze Funktionärskörper in der ÖTV in der DDR gehabt hätten. Etwas, was wir ja gerade vermeiden wollten. Die „echten“ unabhängigen Gewerkschafter wären dann von Anfang an völlig marginalisiert und in der Minderheit gewesen. Es war ohnehin schon schwer genug, alte Kader herauszuhalten. Aber im Gründungsprozess der ÖTV in der DDR wurden die Kandidaten wenigstens vor jeder Wahl gefragt, was sie vor dem 9. Oktober gemacht hatten. M.S.: Gertraude Sinn hat gesagt, ihr hättet Zusagen gemacht für eine Übernahme von hauptamtlich Beschäftigten und hat sogar eine Zahl genannt, für 4.000 Mitglieder einen hauptamtlich Beschäftigten? M.W.-M.: Nein, genau das haben wir nicht gemacht, auch wenn das natürlich ihr Hauptmotiv war, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber ich will nicht ausschließen, dass dem einen oder anderen Hoffnungen gemacht wurden. Tatsächlich aber haben wir nur ganz wenige nach sorgfältiger Prüfung übernommen. M.S.: Es gab nur mit der Transportgewerkschaft ein Kooperationsabkommen. Warum nicht auch mit den anderen Gewerkschaften? M.W.-M.: Das war dann ja auch nicht mehr nötig, nachdem wir die Satzung geöffnet hatten. M.S.: Ihr hattet beschlossen, zum 1. November die Satzung der ÖTV zu öffnen. Am 30. Mai schließt ihr mit fünf Ost-Gewerkschaften die Vereinbarung, dass sie sich auflösen. Trotzdem gründet ihr noch die ÖTV in der DDR. M.W.-M.: Das war alles ziemlich kompliziert. Insbesondere mit der ÖTV in der DDR, die sich dafür ja wieder auflösen musste. Insofern hat der Ertrag den Aufwand sicher nicht gerechtfertigt. Aber es war ein schöner Traum, eine Gewerkschaft auf der grünen Wiese neu aufzubauen. M.S.: Es hat für einige Ost-Kollegen auch etwas bedeutet. M.W.-M.: Ja, das sehe ich auch so. Ich hätte es überhaupt gut gefunden, wenn man etwas mehr Zeit gehabt hätte, gemeinsam Lösungen zu entwickeln und dabei auch etwas zu korrigieren oder ergänzen, was sich in der Zwischenzeit als verbesserungswürdig herausgestellt hat, so z.B. das Recht auf Arbeit als Verfassungsauftrag. Ich gehörte deshalb zu denen, die, leider ohne Erfolg, für eine neue Verfassung und für eine Vereinigung nach Artikel 146 des Grundgesetzes gekämpft haben. Meine Vorstellung war, dass Menschen, die aus einer Diktatur kommen, die Möglichkeit haben sollten, sich selbst zu entwickeln und nicht sofort eine Blaupause übergestülpt bekommen sollten, selbst wenn es sich dabei um eine so gute Verfassung wie das Grundgesetz handelt. Aber die Mehrheit der Ostdeutschen wollte es anders. Ich will auch nicht verschweigen, dass auch bei uns das Organisationsinteresse dazu geführt hat, dass wir nur so viel Neues zulassen konnten, wie die Strukturen West erlaubten. Wir wurden im Hauptvorstand ohnehin mit kritischen Diskussionen von Mitgliedergruppen konfrontiert, die sich durch unser Engagement Ost vernachlässigt fühlten. M.S.: Es hat sich sehr schnell eine Missstimmung breit gemacht. Das geschah unterschwellig. Ich meine diese Besserwessigeschichte. Der ganze Aufbau der ÖTV wurde
410 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview von den West-Sekretären dominiert. Selbst bei Ost-Kollegen, die sich sehr stark für den Aufbau der ÖTV engagiert haben, kam eine Traurigkeit auf, dass ihnen keine Selbständigkeit gelassen wurde. Wäre es für die Befindlichkeiten, für das Selbstbewusstsein der Menschen besser gewesen, man hätte ihnen mehr Spielraum gelassen, selbst auf die Gefahr einer weniger effektiven Organisation hin? M.W.-M.: Theoretisch hätte diese Möglichkeit vielleicht bestanden. In der Praxis aber nicht, denn jeder Fehler beim Aufbau Ost hätte Rückwirkungen auf die Organisation im Westen gehabt. Die Chance, dass wir im Osten Vorbildliches für den Westen hätten schaffen können, war angesichts der Schwäche der dortigen Organisation und der geringen Wirtschaftskraft in Ostdeutschland sehr klein. Wir waren in unserer Argumentation aber selbst auch nicht immer ganz konsistent. So haben wir zwar gesagt, ihr müsst selbst Verantwortung übernehmen, andererseits wollten wir aber auch zeigen, was freie Gewerkschaften leisten können, z.B. in der Tarifpolitik. Und über allem stand die Sorge, dass eine eigenständige Entwicklung Ost am Ende zu Einbußen im Tarifgefüge West hätte führen können. Aus diesem Grunde haben ja auch später die Tarifkommissionen im Osten auf einer Übernahme der Westergebnisse bestanden, weil sie nur so sicher sein konnten am tarifpolitischen Fortschritt beteiligt zu werden. M.S.: Es ging ja so weit, dass ihr die Ost-Gewerkschaften, die versucht haben, eigenständig Tarifverhandlungen einzuleiten, zurückgepfiffen habt. M.W.-M.: Das haben wir einerseits getan, um Verschlechterungen zu verhindern, denn die DDR-Gewerkschaften hatten ja keinerlei tarifpolitische Erfahrungen, andererseits wollten wir damit auch verhindern, dass die alten Seilschaften versuchen, die FDGBGewerkschaften wieder zu stabilisieren, und umgekehrt, denn noch hatten die Ministerien auch bei den Tarifverhandlungen das Sagen. Und es war auch kein Geheimnis, dass die MSK z.B. noch genügend Verbindung zur Administration aus DDR-Zeiten hatte. M.S.: Außerordentlicher Gewerkschaftskongress in Stuttgart? M.W.-M.: Oh Gott, ja! Das war ziemlich schrecklich. Da konnte man deutlich sehen, dass im Saal zwei völlig unterschiedliche Gruppen von Gewerkschaftern saßen. Und dann hatten wir auch noch den Fehler gemacht, Biermann einzuladen, der als Kriegsbefürworter die Irak-Krieg-Diskussion befeuerte, statt seine Gesänge aus der DDR-Zeit vorzutragen. Das war nicht absprachegemäß, aber so ist das Leben, wir mussten es ertragen. M.S.: Es war eine große Unruhe im Saal. M.W.-M.: Ja. Und dann kam sein Bekenntnis zum Irak-Krieg. Ich wollte keinen IrakGewerkschaftstag, denn es ging ja um die Vereinigung. Deshalb gab es einen Hauptvorstandsantrag, der ausufernde Debatten zum Thema Irak verhindern sollte, der konsensfähig war und auch so beschlossen wurde. Aber der Auftritt von Biermann erweckte den Eindruck, als hätten wir für den Irak-Krieg werben wollen. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten zeigten sich weniger interessiert an den Wessi-Auseinandersetzungen. Sie waren dankbar für das, was die Organisation für sie in doch recht kurzer Zeit geleistet hatte. M.S.: Es war so eine merkwürdige Stimmung. Nicht wie Aufbruch? M.W.-M.: Nein, alle belauerten sich gegenseitig. Ich hatte es noch vergleichsweise gut. Ich kannte beide Seiten ziemlich gut und wurde von beiden Seiten respektiert. Aber die
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Funktionäre Ost und West kannten sich praktisch überhaupt nicht. Es gab zwar einige Betriebs- und Bezirkspatenschaften, die mehr oder weniger gut liefen, aber es gab keine Euphorie, es gab keine Begeisterung. Sondern der ganze Kongress war eine Pflichtübung, der man sich ohne Begeisterung unterzog. M.S.: Wenn man von einem anderen Blickwinkel auf die Entwicklung schaut, war es doch eine unglaubliche Aufbauleistung, die in kürzester Zeit in der DDR vollbracht wurde. Es wurden Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte aufgebaut, Betriebsvereinbarungen geschlossen, das ganze Arbeits- und Tarifrechtrecht implementiert usw. M.W.-M.: Ja, du hast völlig Recht. Es ärgert mich, dass diese Erfolge von uns selbst nicht ausreichend gewürdigt wurden. Es war für mich und ich denke für alle, die daran mitgewirkt haben, eine tolle Erfahrung, diesen Aufbauprozess zu erleben, aktiv mitzugestalten und mitzubestimmen. Es stimmt, dass wir das selbst nicht ausreichend gewürdigt und nach außen getragen haben und dass unser Beitrag zur deutschen Einheit in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. In keinem dieser Rückblicke auf 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland wurde die Aufbauleistung der deutschen Gewerkschaften im Einigungsprozess gewürdigt, obgleich die Gewerkschaften einen erheblichen Anteil daran hatten, den Menschen in der DDR demokratische Verfahrensweisen, demokratische Prozesse und demokratische Grundbegriffe zu vermitteln und Demokratie einzuüben. Ich habe in einem langen Interview, das ich mit dem ZDF zur 60-Jahr- Gedenkserie gemacht habe, mehrmals auf den Beitrag der deutschen Gewerkschaften zur Demokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft hingewiesen. Leider wurden diese Passagen nicht gesendet. Es ist mir deshalb besonders wichtig, wenigstens hier auf diese Leistung aufmerksam zu machen. M.S.: Die Menschen, die sich in den Gewerkschaften engagiert haben – Ost- und Westkollegen, haben doch wesentlich mit dazu beigetragen, dass der soziale Frieden erhalten blieb. M.W.-M.: Der DGB hat jetzt eine Umfrage über 60 Jahre DGB-Tarifpolitik gemacht und nach den highlights gefragt. Natürlich wird da als erstes die 35-Stunden-Woche gefeiert. Ich habe in meiner Antwort als einzige die Angleichung des Tarifrechts Ost/West genannt. Fast alle Beispiele betrafen tarifliche Errungenschaften aus Westdeutschland. Der Osten kam so gut wie nicht vor. Aber gerade in der Zeit der Wende hat die ÖTV eine Vorreiterrolle, auch für die soziale Einheit, gespielt. Mit der relativ schnellen Tarifangleichung – viel schneller als in den anderen Tarifbereichen, von den Sparkassen abgesehen – haben wir nicht nur einen erheblichen Beitrag zur Demokratisierung geleistet, sondern auch die soziale Einheit vorangebracht. Das gilt trotz des Streits um die Anerkennung der Vordienstzeiten. Was wir dabei im Westen wahrscheinlich nicht so richtig verstanden hatten, war die Bedeutung, die die Menschen im Osten der Würde und der Anerkennung ihrer Lebensleistung beimaßen – und zwar nicht nur im materiellen, sondern gerade auch im ideellen Sinn. Während wir dachten, es ginge ihnen in erster Linie um mehr Geld, erwarteten sie von uns, dass wir ihre persönliche Leistung in 40 Jahren DDR nicht als wertlos einstuften. Insgesamt aber konnten wir stolz darauf sein, dass es uns gelungen ist, im Öffentlichen Dienst so früh das alte DDR-Tarifrecht abgelöst und in sehr großen Schritten die Angleichung erreicht zu haben. Natürlich hatte das auch politische Gründe, weil die Bundesregierung ein Interesse daran hatte, die Menschen in Ostdeutschland von den Vorteilen der deutschen Einheit zu überzeugen. Wir hatten deshalb in dieser Phase im Osten willigere Arbeitgeber als im Westen. Das war auch ungeheuer wichtig. Für die Mitglieder im Osten konnten Fortschritte erreicht werden und für die Mitglieder im Wes-
412 Die Akteure des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses im Interview ten war dies ebenfalls beruhigend, bedeutete es doch, dass der Osten nicht als Lohndrücker für Westlöhne missbraucht werden sollte, sondern dass man ernsthaft daran arbeitete, das Lohnniveau (Ost) an das Lohnniveau (West) anzugleichen. Dennoch hat es intern immer wieder Kritik gegeben, weil die Kollegen (West) meinten, ihre Lohnentwicklung sei durch den Osten gebremst worden – was auch nicht ganz von der Hand gewiesen werden konnte. Vielleicht war das auch ein Grund, warum wir diese Leistung nicht so sehr an die große Glocke gehängt haben. Wir wollten den heimlichen Groll, der bei unseren Mitgliedern im Westen vorhanden war, nicht noch verstärken. Unter dem Druck der Ereignisse im Osten veränderte sich die Gewerkschaftspolitik der ÖTV auch in anderen Bereichen. Die gesellschaftspolitische Diskussion, an der sich die ÖTV sehr intensiv mit Vorschlägen zur Reform der Öffentlichen Dienste beteiligt hatte, geriet in dieser Phase in den Hintergrund, Verteilungskonflikte nahmen zu. M.S.: Ihr seid mit der Forderung von ungefähr 9% in die folgende Tarifrunde West gegangen. Da war schon klar, dass die blühenden Landschaften nicht aus der Portokasse bezahlt werden können. Es wäre doch der rechte Zeitpunkt gewesen, zu sagen: Wir sind froh darüber, dass dieses historische Wunder geschehen ist. Ihr habt 44 Jahre Pech gehabt, wir Glück. Selbstverständlich helfen wir euch jetzt und leisten unseren Beitrag zum schnellen Ausgleich. M.W.-M.: Nur, kein Wessi war bereit zu sagen: Weil wir hier im Osten ein Stück Angleichung erreicht haben und weil wir stolz darauf sind, dass es uns gelungen ist, einen Beitrag zur Demokratisierung und zur sozialen Einheit zu leisten, sind wir jetzt im Westen bescheidener. Es war umgekehrt: Jetzt hat der Vorstand sich dauernd um die Arbeitnehmer im Osten gekümmert, nun sind wir mal wieder dran. Da war viel Missgunst im Spiel, und tatsächlich liefen die Interessen West und Ost in entgegengesetzte Richtungen. Da war es für mich nicht einfach, die Organisation zusammenzuhalten und interne Verteilungskonflikte zu verhindern. Sie waren unter der Decke immer vorhanden, und man musste darauf achten, dass sie nicht aufbrachen.
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (AdsD): 51 ÖTV B, 130121 51 ÖTV B, 130117 51 ÖTV B, 130118 DDR, ÖTV in der DDR ab 9.11.89, 1/1173. Depositum Wulf-Mathies, Reden 29.11.89 – 29.03.90.
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Zeitleiste Gewerkschaften 1989
Politische Ereignisse 4. Juni: Freie Parlamentswahlen in Polen. 4. Juni: Massaker in Peking. 27. Juni: Außenminister Ungarns und Österreichs zerschneiden Grenzzaun. 8. Juli: Erklärung der Warschauer-PaktStaaten: Es gibt kein verbindliches Sozialismusmodell. 1. August: DDR-Bürger flüchten in Botschaften der Bundesrepublik und über die ungarische Grenze. Die Fluchtbewegung beginnt. 28. August: Aufruf zur Gründung einer SPD in der DDR. 4. September: Montagsdemonstrationen in Leipzig beginnen. 9. September: Neues Forum wird gegründet.
11. September: Harry Tisch (FDGB) besucht Ernst Breit (DGB).
11. September: Ungarn öffnet die Grenze.
29. September: Protestbrief von Gewerkschaftsmitgliedern an Harry Tisch. 6./7. Oktober: Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung. 7. Oktober: Sozialdemokratische Partei der DDR gegründet. 10./11. Oktober: ÖTV-Hauptvorstand: FDGB soll sich an Demokratisierung beteiligen. 16. Oktober: 120.000 demonstrieren in Leipzig.
420 Zeitleiste Gewerkschaften
Politische Ereignisse 17. Oktober: Erich Honecker wird gestürzt.
1. November: FDGB-Hochschule Fritz Heckert fordert autonome Gewerkschaften. 2. November: Harry Tisch tritt als Vorsitzender des FDGB zurück. 4. November: Aufruf, unabhängige Gewerkschaften zu gründen.
4. November: 500.000 demonstrieren in Berlin. 9. November: die Mauer fällt „sofort, unverzüglich“. 28. November: Punkte-Plan.
Helmut
Kohls
10-
3. Dezember: ZK und Politbüro der SED treten zurück. 6. Dezember: Egon Krenz tritt zurück. 7. Dezember: UN-Vollversammlung: Gorbatschow bekennt sich zum Prinzip freier Wahlen und Nichteinmischung. 9. Dezember: FDGB-Bundesvorstand tritt zurück. 9. Dezember: Vorstand der IG BergbauEnergie muss zurücktreten. 10. Dezember: Vorbereitungskommitee für außerordentlichen FDGB-Kongress beschließt Reform zu autonomen Einzelgewerkschaften 15. Dezember: IG Transport und Nachrichtenwesen löst sich in drei selbständige Einzelgewerkschaften auf, u.a. in die IG Transport. 20. Dezember: gHV: Schreiben an Kreisverwaltungen: unterstützt den Aufbau freier, unabhängiger Gewerkschaften. 20. Dezember: Delegation der MSK in der ÖTV-Hauptverwaltung in Stuttgart.
15. Dezember: Hans Modrow: „Vertragsgemeinschaft“ ist möglich.
Zeitleiste 421
Gewerkschaften
Politische Ereignisse
1990 3. Januar: außerordentliche Zentralvorstandssitzung der MSK: Neuwahl des Vorsitzenden 12. Januar: gHV beschließt Einrichtung einer Informationsstelle des Hauptvorstandes in der DDR 20. Januar: Gründung der Gewerkschaft der Volkspolizei. 29. Januar: Zentraldelegiertenkonferenz der Gewerkschaft Gesundheitswesen: Neuwahl des Vorstandes. 31. Januar – 1. Februar: außerordentlicher FDGB-Kongress: Entwurf für ein Gewerkschaftsgesetz, Beschluss für autonome Einzelgewerkschaften.
1. Februar: Hans Modrow: „Deutschland soll wieder einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation werden.“
12. Februar: gHV beschließt Einrichtung von 14 Beratungsbüros 13. Februar: Treffen der Geschäftsführer der grenznahen Kreisverwaltungen mit gHV.
13. Februar: Delegation der DDRRegierung in Bonn: Bitte um Milliardenkredit.
14./15. Februar: ÖTV-Hauptvorstand beschließt: Errichtung von 14 Beratungsbüros in der DDR – Unterstützung beim Aufbau unabhängiger freier demokratischer Gewerkschaften. Für deutsche Einheit.
14. Februar: In Ottawa werden 2 + 4Gespräche vereinbart.
15. Februar. Informationsstelle des ÖTVHauptvorstandes in der DDR nimmt ihre Arbeit auf. 22./23. Februar: Außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz (Gründungskongress) der IG Transport. 24. Februar: Initiativen für Unabhängige Gewerkschaften gescheitert. 26. Februar: gHV beschließt Ziel: „einheitliche ÖTV im vereinten Deutschland“.
422 Zeitleiste Gewerkschaften
Politische Ereignisse 1. März: DDR-Regierung (Ministerrat) erlässt „Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften“.
6. März: ÖTV-Beratungssekretäre nehmen Tätigkeit in der DDR auf.
6. März: Volksammer verabschiedet Gewerkschaftsgesetz.
14. März: Aufruf zur Gründung einer ÖTV in der DDR. 15. März: Zentralvorstand MSK beschließt Namensänderung in GÖD. 18. März: Volkskammerwahl. 20. März: GÖD erklärt sich für deutsche Einheit und zu Schritten für gewerkschaftliche Einheit (Aufnahme von Gesprächen mit ÖTV und HBV). 23. März: „Merseburger Appell“: Aufruf zur Gründung einer ÖTV in der DDR. 27. – 30. März 1990. Delegation der IG Transport bei ÖTV und Lufthansa. 29./30. März: Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen beschließt sowohl mit der ÖTV als auch mit der DAG Gespräche über Zusammenarbeit aufzunehmen. 31. März: Feuerwehrleute verlassen Gewerkschaft der Volkspolizei und gründen eine „Abteilung Feuerwehr der ÖTV in der DDR“. 1./2. April 1990: gHV-Beschluss: Wege zum Ziel einheitliche ÖTV: Kooperationsvereinbarung und Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft (Doppelstrategie). 5. April: Gründung einer ÖTV/DDR in Halle. 5. – 7. April: IG Bergbau-Energie beschließt Namensänderung: IG BergbauEnergie-Wasserwirtschaft. 6. April: Gründungsversammlung ÖTV in der DDR in Plauen.
Zeitleiste 423
Gewerkschaften
Politische Ereignisse
12. April: Kooperationsabkommen ÖTV – IG Transport unterzeichnet.
12. April: De Maizière Regierungserklärung: schnelle Einheit nach Artikel 23 GG. 2. Mai: Bekanntgabe über Einigung bei Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion.
2./3. Mai: Zentraldelegiertenkonferenz der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen beschließt Zusammenarbeit nur mit der ÖTV. 10. Mai: ÖTV-Hauptvorstand bestätigt Schritte zur geeinten ÖTV (Kooperationsabkommen und Aufbau einer ÖTV in der DDR) und beschließt gleichzeitig Satzungsöffnung. 11. Mai: Gründungsversammlung der ÖTV in der DDR in Magdeburg beschließt Gründungskongress zum 9. Juni 1990. 18. Mai: 1. Staatsvertrag wird unterzeichnet. 19. Mai: Entmachtung des FDGBBundesvorstandes. Bildung eines Sprecherrates. Faktisches Ende des FDGB. 22. Mai. Fachverbände der GÖD rufen zur Gründung einer HBV/DDR auf. 30. Mai: gHV beschließt: Satzungsöffnung zum 1. November 1990 und unterzeichnet eine Vereinbarung mit den DDRGewerkschaften des Öffentlichen Dienstes: Herstellung der einheitlichen ÖTV durch Satzungsöffnung und Verpflichtung zur Selbstauflösung der DDRGewerkschaften. 8./9. Juni: Zentraldelegiertenkonferenz der GÖD. Trennung der Bereiche Öffentlicher Dienst und private Banken und Versicherungen (HBV), Zustimmung zur geeinten ÖTV. 9./10. Juni: Gründungskongress der ÖTV in der DDR, Selbstauflösung bei Satzungsöffnung der ÖTV.
424 Zeitleiste Gewerkschaften
Politische Ereignisse
18. Juni: zentraler Organisationsausschuss; Klärung der organisatorischen Modalitäten zum Aufbau der ÖTV, keine Übernahme von hauptamtlichen Funktionären der FDGB-Gewerkschaften. 23.-24. Juni: Gründung der HBV/DDR. 25. Juni: gHV: Vereinbarung mit DDRGewerkschaften über die Kündigung der Beschäftigungsverhältnisse zum 31.10.1990. 1. Juli: Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion tritt in Kraft. 4. Juli: Presseerklärung der DDRGewerkschaften: ÖTV betreibt Mitgliederfang und keine Interessenvertretung. 10. Juli: zentraler Organisationsausschuss diskutiert Unstimmigkeiten 6. August: ÖTV übernimmt Tarifführerschaft bei den laufenden Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst der DDR. 23. August: Volkskammer beschließt Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990. 24. August: ÖTV beschließt Errichtung der Kreisverwaltungen zum 3. Oktober 1990. 14. September: Auflösungskongress des FDGB. 22. September: Auflösungskongress der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen. 29. September: Auflösungskongress der IG Transport. 2. Oktober: Auflösungskongress Gewerkschaft Öffentlicher Dienst.
der 3. Oktober: Deutschland wiedervereinigt
1. November: Stichtag für neu aufgenommene ÖTV-Mitglieder in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin: 591.000.
Personenregister Bei Einträgen, die nur den Familiennamen nachweisen, war der Vorname nicht zu eruieren. Agartz, Victor 53 Angelbeck, Jürgen 105, 116, 155, 162,
171, 173, 201, 202, 269, 271, 325, 327, 408 Arndt, Hans-Jürgen 125, 340
Bartsch, Manfred 114, 117, 173, 269 Baude 192 Bauer, Dieter 59, 69, 113, 166, 171, 173,
322, 324, 326, 327
Becker, Jürgen 102, 108, 112, 113, 290,
390, 397
Beikow 188 Beller, Ernst 331 Benzel, Rolf 203 Berger, Roland 84, 405 Bergmann, Horst 26, 145 Biermann, Wolf 8, 149, 315, 410 Biesold, Karl-Heinz 20, 42, 44, 76, 93, 94,
96, 97, 98, 108, 120, 143, 144, 146, 147, 178, 252, 259, 269, 270, 291 Bloch, Ernst 15, 361 Böhm, Klaus 67, 70, 71, 170, 172, 195, 203, 267 Brandt, Willy 196, 329, 400, 405 Brandt, Heinz 54 Bugiel, Hartwig 188 Bühn, Jürgen 92, 93, 184, 186 Büttner, Reinhard 71, 206 Claus, Astrid 66, 70, 221, 286, 417
Dackermann, Wilhelm 286 De Maizière, Lothar 110, 424 Dickhausen, Günter 368 Didicke, Silvia 164 Diestel, Peter-Michael 357 Eberhardt, Walter 74, 263, 400 Eiselt, Günter 82, 83, 124, 130 Engels, Friedrich 318 Erhardt, Regine 226, 268, 270
Eulen, Eike 76, 94, 96, 97, 184, 189, 190,
193, 252, 255, 259, 400, 407
Faden, Albert 225, 269 Fehling, Manfred 230, 277 Feldmann, Mathias 69, 235 Fohrbeck, Margareta 54, 63, 70, 74, 75, 89,
123, 131, 192, 247, 265, 294, 334, 335, 348, 376, 402 Fricke, Horst 113, 114, 125, 269, 340 Fuchs, Franz 114, 163, 169, 263, 331, 332, 333
Galle, Ullrich 195, 196 Gelbke, Gertrud 393 Gerboth, Elfriede 20, 21, 40, 77, 279, 311 Gericke, Erhard 93 Gorbatschow, Michail 3, 4, 6, 11, 62, 195,
315, 318, 320, 359, 372, 421
Göring, Bernhard 16 Grass, Günter 56 Gresse, Dagmar 391 Günther, Prof. 280 Habermas, Jürgen 56 Hammer, Ulrich 158, 269 Hanss, Willi 88, 96, 111, 128, 129, 251,
273, 354, 402
Hardtke, Hinrich 367 Häusler, Gerd 394 Hein, Christoph 362 Hennecke, Adolf 19, 24 Henrich, Rolf 361 Hensche, Detlev 53, 55, 56 Herold, Peter 20, 29, 40, 41, 61, 73, 80,
127, 190, 191, 228, 270, 277, 283, 288
Heß, Andreas 127, 392 Hildebrandt, Regine 357 Hillgärtner, Rainer 98, 155 Hintz, Conny 65, 71, 72, 117, 222, 252,
254, 294, 350, 366, 368
426 Personenregister Holländer, Franz 400 Hölzel, Manfred 75, 76, 93, 97 Honecker, Erich 4, 6, 7, 9, 10, 11, 25, 26,
158, 239, 374, 416, 421
Horn, Gyula 8, 56 Hufnagel, Klaus 135 Jank, Manfred 105, 116, 159, 163, 389 Jaruzelski, Wojciech 4 Jordan 250 Kádár, János 6 Kaiser, Jakob 16 Kaiser, Jürgen 90, 127, 129, 130, 141, 142,
258, 281, 291, 364, 367
Kalauch, Karl 23, 25, 42, 75, 77, 180, 181 Kamp, Lothar 54 Kanzleiter, Manfred 285, 286 Kempen, Otto Ernst 268, 270, 338, 340 Kempf, Hans-Günther 155, 173, 196, 267 Kiekebusch, Berthold 266 Kimmel, Annelies 27, 28, 375 Klatt, Richard 41, 111, 119, 121, 124, 129,
130, 131, 140, 216, 283, 288, 289, 290, 311, 312 Klink, Franz 181 Klugmann, Peter 214 Kluncker, Heinz 57, 294 Knauth, Robert 113, 114, 117, 163, 290, 390 Knoll, Klaus 61, 285 Kohl, Helmut 11, 59, 62, 110, 176, 232, 329, 345, 399, 405 Krause, Helmut 74, 376, 388 Kressler, Günter 184 Kuhn, Günter 76, 180, 181, 182 Kuhn, Günther 43, 76 Kuhn, Wilhelm 193 Kukat 284 Kurth, Wolfgang 138, 139, 304 Kurze, Bernd 199
Lafontaine, Oskar 196, 330, 400, 405 Lange, Kurt 60, 61, 241, 246, 330, 350,
355, 390
Leisinger, Oliver 246 Lemmer, Ernst 16 Lenin, W. I. 15, 50, 318
Liersch, Hans 294 Linden, Heinrich 230, 344 Loewenfeld, Wilfried von 222 Lukács, Georg 15 Mallok, Wolfgang 126, 164, 270 Mann, Thomas 56 Mantel, Veronika 103, 104, 113, 167, 169,
170, 171, 172, 174, 317
Martin, Manfred 34, 44, 45, 49, 50, 55,
416, 417
Marx, Karl 50, 294, 318 Matschke, Jürgen 247, 261 Mausch, Helga 187, 284, 347 Mazowiecki, Tadeusz 8 Mende, Gisela 204 Meyer, Hans-Werner 85 Mielke, Erich 12, 158 Mittag, Günter 8, 11, 414, 417 Modrow, Hans 29, 39, 62, 63, 73, 81, 93,
102, 249, 278, 333, 360, 378, 421, 422
Mück, Willi 60, 61, 84, 106, 108, 114,
117, 121, 133, 134, 135, 160, 161, 162, 163, 164, 169, 170, 171, 175, 176, 207, 208, 250, 251, 254, 257, 264, 267, 268, 269, 289, 292, 325, 329, 342, 356, 383 Müller, Heiner 47, 50, 261 Müller, Thomas 284 Musculus 274 Nagy, Imre 5 Negt, Oskar 54
Oetjen, Hinrich 54 Ostpolt, Gustl 214 Pätzold, Erich 241 Peplowski, Werner 137, 284, 347 Peretzki-Leid, Ullrike 78, 80, 289 Pieck, Wilhelm 48 Räthke, Detlev 97 Reichenbach, Bernhard 127, 128, 216, 357 Renke, Felicitas 145 Riedel, Karl 197 Röhrig, Regina 49, 416 Rose, Wolfgang 60, 78, 285, 286 Rosemann, Eckhart 273 Rosenberg, Manfred 96, 97
Personenregister 427
Rothe, Dieter 147, 181, 187 Ruhnau, Heinz 93
Tobie, Wolfgang 331 Treibmann, Siegmar 41, 77, 78, 79, 80,
Saft, Jürgen 252, 295, 350, 368 Schabowski, Günter 7, 13, 26, 239, 416,
Trotzki, Leo 375
418
Schäfer, Barbara 285 Schäfer, Heinz 222, 224 Schalck-Golodkowski, Alexander 11, 374 Scharrer, Manfred 1, 16, 21, 22, 54, 416,
418
66, 70, 221, 286 203 13, 68, 117, 359, 364, 414 63, 104, 171, 172, 202, 248, 257, 264, 265, 326, 331, 333, 333, 335, 340 Schmidt-Kohlhaas, Hilmar 93 Schmiedgen, Mathias 224, 231 Schröder, Gerhard 53, 418 Schulz, Herbert 291 Schürer, Gerhard 10, 42, 414, 416, 417 Schwegler, Lorenz 87, 88 Schwinge 207 Sczepansky, Gerd 196, 197, 198, 204 Simon, Nik 27, 54, 247, 418 Sinn, Gertraude 23, 29, 34, 35, 38, 70, 74, 75, 100, 104, 107, 143, 247, 263, 270, 370, 387, 409 Solinger, Helga 285 Sonntag, Günter 67, 199 Stade, Eckhard 59, 69, 113, 166, 201, 202, 268, 271, 322, 324, 327, 328 Stalin, Josef W. 6, 7, 15, 55, 56, 319 Steinkühler, Franz 56, 249, 358 Stoph, Willi 280 Streit , Joachim 75 Schmid, Doris Schmidt, Fritz Schmidt, Jutta Schmidt, Peter
Tisch, Harry 12, 15, 25, 26, 27, 28, 51,
185, 281, 308, 330, 364, 371, 372, 375, 400, 416, 420, 421
228, 282, 283, 286, 288, 309, 310, 311
Ulbricht, Walter 6 Ullmann, Wolfgang 102 Umlauf, Klaus 36, 290 Virchow, Jörg 60, 78, 336, 387, 389 Warburg, Wolfgang 87, 100, 109, 115,
121, 125, 126, 128, 155, 164, 208, 227, 247, 249, 250, 254, 268, 335, 340, 381, 383, 401 Wegrad, Joachim 21, 36, 37, 77, 87, 88, 89, 98, 99, 104, 140, 170, 171, 202, 254, 257, 268, 291, 300, 325, 328, 379 Wendl, Michael 110, 207, 338 Winter-Sucker, Gisela 222 Witte, Peter 61, 84, 85, 86, 207, 251, 297, 330, 332, 355, 356 Wittler, Dieter 216, 273, 376 Wolf, Christa 12 Wolf, Günther 25, 45 Wolf, Markus 239 Wulf-Mathies, Monika 57, 60, 61, 64, 75, 76, 77, 78, 82, 85, 86, 88, 91, 92, 95, 96, 98, 99, 103, 107, 113, 116, 120, 123, 128, 130, 131, 132, 149, 150, 159, 170, 171, 176, 183, 189, 190, 192, 208, 213, 248, 249, 251, 254, 256, 258, 261, 268, 269, 287, 294, 302, 310, 311, 330, 334, 335, 337, 338, 350, 356, 376, 380, 382, 383, 399, 414 Wunder, Dieter 55, 82, 254, 403 Zachert, Ulrich 270 Ziemer, Christof 280 Zimmer, Regina 297, 367 Zimmermann, Ralf 85, 383