WILLIAM MARSHALL
Das Skelett auf dem Floß SKULDUGGERY
Kriminalroman
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann ...
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WILLIAM MARSHALL
Das Skelett auf dem Floß SKULDUGGERY
Kriminalroman
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Englischen übertragen von Fried Holm
1. Auflage April 1980 • 1 .-85. Tsd.
Made in Germany 1980 © der Originalausgabe 1979 by William Marshall Published by arrangement with Lennart Sane Agency, Malmö, Sweden © der deutschsprachigen Ausgabe 1980 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart Satz: type center Filmsatz GmbH, München Druck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Krimi 5403 Lektorat: Helmut Putz/Peter Wilfert • Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-05403-6
Die Hauptpersonen Harry Feiffer
Chefinspektor der Kriminalpolizei in Hongkong
Philip John Auden William Spencer Christopher Kwan O’Yee
Inspektoren der Kriminalpolizei in Hongkong; Gehilfen ihres Chefs Feiffer
Augusto Chagas
Captain der Kriminalpolizei in Macao
P.P. Fan
chinesischer Geldwechsler
Ong
chinesischer Gärtner, der Zweifel an seinem Beruf aufkommen läßt
George Edward Putnam
Mordopfer, das nach zwanzig Jahren noch nicht zur Ruhe kommt
William Charles Weale
Barbesitzer; allergisch gegen Tierfelle
Der Roman spielt in Hongkong.
Hong Bay, das Stadtviertel von Hongkong, in dem dieser Roman spielt, ist vom Autor frei erfunden – ebenso wie die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, dort leben. Vom südchinesischen Meer trieb dichter, weißer Winternebel herein. Angefüllt mit unhörbarem Geraune und unsichtbaren Phantomen, rollte er in Schwaden vom glatten, bitterkalten Ozean über die taifungeschützte Hong Bay und hinein nach Hongkong, lag erst noch flach in den Straßen, Gassen und Gäßchen, trieb dann langsam an den Flanken der Häuser hoch und hüllte die Fenster Stockwerk für Stockwerk ein, während die Menschen schliefen. 5.30 Uhr am frühen Morgen, und die Stadt augenlos und still; der Nebel kam herein und legte seinen dichten Mantel um sie. Im künstlichen Hafen hinter dem Taifunschutz blinkte ein gelbes Licht. Eine Leuchtboje – der Nebel wurde dichter und verschluckte das Gelb; setzte zugleich die Messingglocke in Betrieb, die am Rahmen der Boje angebracht war. Die See war ungewöhnlich ruhig; es war der Nebel, der die Boje hin und her bewegte, wie eine Totenglocke. Dann verstummte der Glockenton, und man hörte nichts mehr als das Klatschen der flachen Wellen gegen die Mole, und hier und da, wo sich eine Sandbank gebildet hatte, das leise Plätschern des Wassers über Sand und Kieselsteine. Und der Nebel wurde dichter. Jetzt hatte er bereits die ganze Insel Hongkong eingehüllt und die Straßenlaternen und Neonreklamen zu Glühwürmchen verdunkelt. Er vermischte sich mit dem Rauch und den Abgasen der Stadt und wurde grau, glitt über die Insel wie ein altes, lange nicht gewaschenes Laken. Es war kalt und klammfeucht. Von weit draußen her, dort, wo der Nebel entstanden war, hörte man das tiefe, klagende Geräusch eines Nebelhorns – ein großes Schiff, das vorbeizog. Der Nebel verdichtete sich 7
an den Stahlplatten des Hecks und verwandelte sich in eisige Tröpfchen. Rinnsale kondensierter Feuchtigkeit liefen über die lackierte Reling, über die weißen Leitern. Es war so still, daß man weithin hörte, wie die Luken und Bullaugen geschlossen wurden, als die Mannschaft des Schiffes nach unten drängte, Schutz suchend vor dem Nebel, hinein in den Bauch des Schiffes, in die Wärme und in den Geruch nach Essen. Noch weiter draußen ertönte ein zweites Nebelhorn. Ihm folgte das Antwortsignal des ersten Schiffes, dessen Kapitän sich auf der Brücke über den Radarschirm beugte und nach »Blips« Ausschau hielt. Die Glocke der Boje begann wieder anzuschlagen, und gleich danach riefen sich die beiden Nebelhörner erneut ihre Botschaft zu, die nach kurzer Zeit noch einmal wiederholt wurde. In den Straßen hinter der Mole rieben sich ein paar Menschen, die zu dünn gekleidet waren für die Kälte, die klammen Hände und bewegten sich schneller als üblich auf ihrem Nachhauseweg. In der Beach Road schaltete ein einsames Taxi die Nebelscheinwerfer ein, und der Fahrer setzte das Heizgebläse in Betrieb. Die warme Luft strömte kräftig in den Innenraum des Wagens und machte ihn zu einer Zuflucht vor der Kälte. Der Taxifahrer sah sich nach Fahrgästen auf den Gehsteigen um. Von den Gehsteigen war im gelben Schein der Nebelscheinwerfer nicht mehr als verschwommene Umrisse zu erkennen. Der Fahrer glaubte, eine Gestalt aus dem Nebel auftauchen zu sehen, die ihm zuwinkte, ein gespenstisches Wesen aus dem Meer – er schaltete das Leuchtzeichen auf dem Dach ab und fuhr schnurstracks nach Hause. Durch den Nebel trieb ein seltsames Wasserfahrzeug in die Bay, vorbei an der Taifunschutzmauer. Ein Wasserfahrzeug ohne Nebelhorn und ohne Besatzung, bei dem die Wellen sanft über die Oberfläche leckten: ein Floß aus Holzbohlen, zwei mal zwei Meter groß und an den vier Ecken von leeren ölfässern getragen. Das Floß hatte weder Segel noch Ruder, und das, was es barg, war tote Fracht. Es schaukelte um die Mauer herum, blieb dann in der wechselnden Strömung hängen. Ein Stück Seil, das an einem der Gegenstände befestigt war, hing ins Wasser und zeichnete eine Spur in die glatte 8
Oberfläche. Nichts bewegte sich auf dem Floß, nichts geriet in Verlegenheit über den Stillstand: Das Floß, ein undeutlicher Punkt im Morgennebel, bewegte sich unendlich langsam auf die Küste zu. Auf dem Floß befanden sich ein längliches, weißes Objekt, durch dessen Umrisse der Nebel zu wallen schien, und ein paar andere, kleinere Gegenstände, die auf dem schwarzen Holzboden lagen. Dann, ganz plötzlich, erfaßte eine versprengte Welle das Floß und hob es zehn oder fünfzehn Zentimeter an, und man hörte ein leises, klickendes Geräusch, wie wenn zwei Würfel gegeneinander prallen. Gleich danach hatte sich die Welle in Nichts aufgelöst, das Wasser war wieder glatt und ruhig. Auf der Beach Road fuhr ein Funkstreifenwagen vorsichtig in Richtung Great Shanghai Road. Er kam an der Mauer vorbei, die den neuen Friedhof von Hong Bay umgab, beschleunigte dann ein wenig, nachdem der chinesische Fahrer die Höhe der Mauer abgeschätzt und festgestellt hatte, wie leicht es für ein Wesen aus dem Totenreich sein würde, sie zu überklettern. Am Ende der Friedhofsmauer war ein Licht zu erkennen. Der Fahrer nahm an, es sei die Laterne vor dem erst kürzlich erbauten Häuschens des Friedhofswärters. Das Licht wirkte unendlich fern und schwach. Draußen im Hafen begann eine Glocke zu läuten, hörte kurz danach wieder auf. Der Fahrer verriegelte verstohlen die Tür auf seiner Seite und hoffte, daß sein Kollege es nicht bemerken würde. Der Kollege tastete nach seinem Revolverhalfter. Der Polizeiwagen erreichte die Grenze des Reviers von Hong Bay und bog in die Yellowthread Street ein, fuhr zurück zur Dienststelle. Der Fahrer beugte sich vor und schaltete das Funkgerät ein. Es blieb stumm. Niemand war auf den Straßen. Er nahm an, der Mann an der Funkvermittlung habe sich gerade eine Tasse dampfenden Tee gebrüht oder erzähle einem seiner Kollegen den neuesten Witz. Der chinesische Fahrer schaltete das Heizgebläse im Wagen an und versuchte, nicht an Tote und Friedhöfe zu denken. Das Floß trieb jetzt in der Mitte des taifungeschützten Hafenbeckens und schaukelte leicht auf und ab; seine Ladung blieb, wie sie war. Hundert Meter vom Floß entfernt glitt ein Sampan vorüber, aber die Frau am Ruder, eingehüllt in einen 9
großen Schal, sah nichts. Sie bewegte das Ruder leicht hin und her, um schneller vorwärts zu kommen. Schwache Strahlen drangen durch den Nebel, als die Sonne den Horizont erreichte, aber sie waren nicht stark genug, um das flache Floß sichtbar zu machen. Der Sampan und die Frau verschwanden im Nebel. Das Floß wurde von den schwachen Wellen der Ruderbewegung erfaßt und drehte sich, trieb weiter auf die Mole und den Strand zu. Gleich danach geriet es in eine Strömung, die es landeinwärts trieb, gewann ein wenig an Fahrt, stieß mit einer Ecke gegen eine Sandbank, drehte sich und glitt wieder hinaus. Mit der nächsten Welle näherte es sich erneut dem Strand. Schließlich stieß der Rand des Flosses gegen einen Stein am Ufer und saß fest. Eine dritte Welle hob es ein wenig hoch und setzte es noch fester auf den Stein. Ein Gegenstand rollte über die Holzbohlen auf das Wasser zu, verfing sich aber an einem anderen Gegenstand am Heck und wurde vom Seil festgehalten. Die Glocke draußen im nebelverhangenen Wasser begann zu läuten, als rufe es die Gegenstände auf dem Floß zurück – doch jetzt waren sie am Land festgehalten und konnten nicht mehr hinaus. Sie blieben am Strand: ein vollständiges, fleischloses, menschliches Skelett, dessen Füße zusammengebunden waren; ein toter Fisch; ein Korb mit irgendwelchen Gemüsen und drei andere, kleinere Gegenstände – sie blieben dort bis zum Sonnenaufgang, wo sie von der Frau mit dem Sampan gefunden wurden. Bei dem Gemüse handelte es sich um Süßkartoffeln, genau zehn Stück. Sie waren frisch. Das Skelett, das nackt war, ohne verhüllende Kleider, und sauber, fleischlos seit mindestens fünfzehn Jahren, hatte sich die Kartoffeln vermutlich erst tags zuvor gekauft, als Proviant für die Floßfahrt. Selbst im verschwommenen, geheimnisvollen Licht des Nebels konnte man deutlich erkennen, daß das Skelett die Kartoffeln hatte essen wollen, denn direkt neben dem Korb lag sein komplettes, falsches Gebiß, und ein einzelner, längerer Zahn, der an den Fangzahn eines Vampirs erinnerte, steckte in einer der leeren weißen Augenhöhlen. 10
Zu den übrigen Gegenständen auf dem Floß gehörte ein toter Priacantus niphonius, der sich in dem Seil verfangen hatte, und ganz am Ende des Seiles hing noch etwas ... Ein zwanzig Zentimeter langes, fünf Zentimeter dickes Dränagerohr aus galvanisiertem Eisen, blau angestrichen! Die Glocke verstummte. Jetzt war kein Laut mehr zu hören. Hongkong ist eine Insel von knapp 80 Quadratkilometern unter britischer Verwaltung an der südchinesischen Küste, gegenüber der Halbinsel Kaulun und einem Teil ihres Hinterlandes, dem Nen Territories. Kaulun und die New Territories stehen ebenfalls unter britischer Verwaltung. Sie sind umgeben von der Provinz Kwantung, die zur Volksrepublik China gehört. Das Klima ist in der Regel subtropisch, mit heißen, feuchten Sommern, kalten Wintern und starken Regenfällen. Die Bevölkerung von Hongkong und der dazugehörigen Gebiete beläuft sich – einschließlich der Touristen – auf ungefähr vier Millionen. Die New Territories sind von der Volksrepublik China gepachtet. Der Pachtvertrag läuft erst im Jahr 1997 aus, doch die Briten haben dennoch entlang der Grenze Truppen stationiert, obwohl die Kommunisten, wenn sie die Pachtzeit verkürzen wollten, nur die Wasserhähne abzudrehen brauchten, denn die Wasserversorgung der gesamten Kolonie erfolgt von der Volksrepublik China aus. Hong Bay liegt auf der Südseite der Insel, und die Reisebroschüren raten den Touristen, sich zumindest nach Einbruch der Dunkelheit von dort fernzuhalten. Kapitel
1
Um 8.45 Uhr fuhr Kriminalinspektor Phillip John Auden im Lift des Junggesellen-Apartmenthauses Cathay Gardens an der Hanford Road hinauf und hinunter. Er fuhr schon seit 6.15 Uhr im Lift des Cathay Gardens-Apartmenthauses auf und ab, und sein von leichten Schwindelanfällen geplagter Verstand kalkulierte die große Wahrscheinlichkeit, daß er bis 11
zum jüngsten Tag in besagtem Lift auf und ab fahren würde. Auden sagte zum Lift: »Scheiß-Lift!«, lehnte sich in die Ecke der winzigen Kabine und schmierte sich damit etwas öligen Staub auf den Ärmel seines Mantels. Er dachte: Scheiß-Lift! Zugelassen für zwei Erwachsene oder einen Erwachsenen mit zwei Kindern oder vier Kinder. Kinder ohne Begleitung Erwachsener nicht zugelassen. Und das gleiche noch einmal darunter, in chinesischen Schriftzeichen. Er dachte: Was für ein idiotisches Schild! Und sagte laut: »Wie, zum Teufel, kann der Lift für vier Kinder zugelassen sein, wenn er für Kinder ohne Begleitung Erwachsener nicht zugelassen ist?« Ärgerlich schaute er das Schild an. »He?« fragte er. »Oder steckt da eine tiefere Bedeutung dahinter, die ich nicht verstehe?« Der Lift fuhr hinauf in den fünften Stock und machte »ding«, während die Stockwerkszahl aufleuchtete. Er fragte das »ding«: »Nun, was ist?« Die Tür glitt auf, und niemand stieg ein. Auden schüttelte den Kopf. Er fragte den Lift: »Was ist das bloß für eine dämliche Einrichtung, daß der Lift in jedem Stock stehenbleibt, auch wenn niemand einsteigen will? Warum, zum Teufel, gibt es in jedem Stockwerk Rufknöpfe, wenn der Lift ohnehin in jedem Stockwerk stehenbleibt?« Und er sagte zum Lift: »Saublöde Mechanik.« Die Tür glitt zu. Der Lift fuhr in den sechsten, dann in den siebten Stock und blieb dort stehen. Das Haus hatte noch drei weitere Stockwerke für die Reichen, aber wenn man dort hinauffahren wollte, brauchte man zusätzlich einen Schlüssel. Das gefiel Auden. Er sagte zum Lift, der endlich einmal gehorchen mußte: »Ha, ha.« Der Mechanismus des Lifts stieß ein Seufzen aus und fuhr wieder nach unten. Auden sagte: »In den sechsten.« Die Tür glitt auf, es war der sechste Stock – und niemand stieg ein. Die Tür glitt zu. »Jetzt in den fünften«, sagte Auden, und die Tür öffnete sich im fünften Stock, wo niemand einstieg, glitt dann wieder zu. 12
Auden sagte: »Vier.« Der Lift hielt im vierten Stock. Niemand. Die Tür glitt zu. Der Lift fuhr nach unten. Auden sagte: »So, und jetzt will ich deinen Zaubertrick sehen.« Der Lift machte »ding«, während die Drei aufleuchtete. Auden sagte: »Also dann, in den –« Aber die Tür glitt nicht auf. Der Lift klickte. Nichts. Er klickte wieder. Auden sagte: »Ha, ha.« Der Lift gab das Klicken auf und fuhr nach unten in den zweiten Stock. Die Tür öffnete sich im zweiten Stock, aber niemand stieg ein. Im Lagerraum von P.P. Fan, Ltd. in der Wyang Street, Hong Bay – einem Geldwechselbüro mit Zweigstellen –, saß Kriminalinspektor William Spencer und wartete auf die Räuber. Er war vorübergehend der Herr all dessen, was er sah – und das war wenig genug in dem dunklen Raum: die Stapel ungewaschener und leerer Geldsäcke mit dem Aufdruck P.P. Fan Ltd., der Stoß alter Kurszettel, ebenfalls mit dem Namenszug von P.P. Fan Ltd. gekennzeichnet, sein Sitzplatz, die 1400er Winchester mit der Markierung »Royal Hongkong Police«, die an der Wand lehnte, und das Walkie-Talkie mit der Gravierung »Yellowthread Street-Polizeirevier«, mit dem er durch einen einzigen Knopfdruck Verstärkung anfordern konnte – Verstärkung in Gestalt von Constable Yan, der gegenüber an der Straße parkte, in einem Wagen, welcher der Geheimhaltung der Aktion wegen durch nichts gekennzeichnet war. Spencer war glücklich. Er nahm das Walkie-Talkie und zog die Teleskopantenne aus. Constables Yans Stimme sagte sofort: »Jawohl, Sir?« und wartete auf weitere Instruktionen. Spencer räusperte sich. »Ich wollte das Ding nur mal prüfen.« Und Spencer dachte: Das Entscheidende bei der Über13
wachung besteht darin, daß man ständig den Kontakt mit den Untergebenen aufrechterhält. »Nur eine Überprüfung«, sagte er. Yans Stimme antwortete: »Hier ist nichts zu sehen.« Sie klang ziemlich gelangweilt. Er sagte, auf Kantonesisch: »Nur die üblichen Leute, die ihren Geschäften nachgehen.« Spencer bewegte sich ein wenig und antwortete auf Kantonesisch: »Halten Sie die Augen offen, das ist das Wichtigste.« Er beugte sich vor und öffnete die Tür des Lagerraums eine Handbreit, um in Mr. Fans Laden hinüberschauen zu können. Außer Mr. Fan, der hinter der Theke saß und Geld zählte, war niemand in der Wechselstube. Spencer drückte wieder auf den Knopf des Walkie-Talkies und sagte noch einmal: »Das ist sehr wichtig.« Yan erwiderte: »Jawohl, Sir.« »Es sind drei, wahrscheinlich aus dem Norden Chinas stammend, alle um die einsachtundsiebzig groß.« Yan sagte: »Jawohl.« »Sobald sie hier aufkreuzen, verständigen Sie mich, damit ich gewarnt bin. Den Rest übernehme ich.« Yan sagte: »Jawohl, Sir.« Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrücktes Gähnen klang. »Wenn Sie mich nicht rechtzeitig informieren, ist es zu spät für mich. Die kommen nämlich nicht rein und brüllen: ›Geld oder Leben!‹ Nein, diese Leute kommen rein und rauben die Wechselstube aus ohne einen Laut.« Er setzte hinzu: »Sie gehen gar nicht ein auf das, was das Opfer zu ihnen sagt.« Dann fragte er Yan: »Haben Sie verstanden?« Und sagte abschließend: »Ende.« Danach entstand eine Pause, in der wieder das unterdrückte Gähnen zu vernehmen war. Schließlich meinte Yan, völlig ungerührt: »Deshalb nennt man sie die Taubstummenbande, nicht wahr, Sir?« Er gähnte wieder und sagte dann ebenfalls: »Ende.« Spencer erwiderte automatisch: »Sie müssen –« »Sir?« fragte Constable Yan. »Nichts.« Spencers Antwort klang brüsk. Er schob die Antenne wieder in das Gerät.
*
14
Auden sagte zum Lift: »Verdammter Scheiß-Lift!« Der Lift stand im dritten Stock, blieb im dritten Stock stehen, ohne die Türen zu öffnen, und machte klick! klick! klick! »Blöder Scheiß-Lift!« schimpfte Auden. Der Lift gab nach und fuhr nach oben in den vierten Stock. Im Aufenthaltsraum der Kriminalbeamten auf dem Revier Yellowthread Street in Hong Bay sagte Chefinspektor Harry Feiffer zum dienstältesten Kriminalinspektor Christopher Kwan O’Yee: »Warum stellen Sie nicht einen Antrag auf einen neuen?« O’Yee lehnte sich zurück, während er auf den Fersen am Boden hockte, und streichelte seinen berüchtigten Explosionsofen, um ihn zu besänftigen. Der Radiator gab ein gurgelndes Geräusch von sich und ließ eine helle Stichflamme folgen. O’Yee antwortete geduldig: »Ich habe längst einen Antrag auf einen neuen eingereicht. Ich habe den Antrag eingereicht und die Materialverwaltung gebeten, den alten fortzuschaffen und uns einen neuen zu geben. Und was haben sie gemacht? Sie haben den alten fortgeschafft.« Er ergänzte beleidigt: »Wenn ich nicht meine Familie dieses Dings da beraubt hätte, unseres eigenen Heizgeräts, dann hätten wir, die Hüter von Recht und Gesetz, längst Eis an unseren Ärschen.« Der Radiator spuckte eine scheußliche schwarze Rauchwolke aus und gab dazu ein knirschendes Geräusch von sich, das an Sand im Vergaser erinnerte. »Und was machen Sie? Sie sitzen den ganzen Vormittag hier herum und beleidigen ihn.« Wieder streichelte er den Ofen, und dieser schien sich zu beruhigen. »Sehen Sie?« Feiffer zog seinen Mantel aus und fächelte sich die naßgeschwitzten Achselhöhlen. »Es ist Ihnen doch wohl bewußt, daß es draußen kalt, neblig und scheußlich ist, während wir hier drinnen eine Temperatur von mindestens fünfunddreißig Grad haben.« Er warf einen vorsichtigen Blick auf den Ofen. »Allerdings nur, solange dieses verdammte Ding auch wirklich funktioniert. Wenn nicht, dann ist es hier drinnen wie in der Arktis in einer besonders kalten Nacht.« Und dann fügte er begütigend hinzu: »Ich bin mir natürlich bewußt, welch ungeheures Opfer Sie und Ihre Familie gebracht haben, Chri15
stopher, und ich schätze die Großzügigkeit, mit der Sie uns, eine Schar von Unwürdigen, dieses Wunder der Ingenieurskunst überlassen haben. Könnten Sie aber den Ofen vielleicht dazu bringen, daß er sich entweder für das eine oder für das andere entscheidet?« Und dann fügte er noch hinzu: »Ich dachte, ihr Amerikaner wäret alle wahre Wunderknaben, was den Umgang mit der Technik betrifft. Ich meine, euer Pioniergeist, die Improvisationskunst und –« O’Yee schaute ihn nur an. Feiffer fragte: »Habe ich was Falsches gesagt?« O’Yee schüttelte den Kopf. Er war Eurasier, eine Mischung aus San Francisco und Hongkong. In San Francisco gab es Zentralheizungen. Die oberen Schichten der Bevölkerung von San Francisco hatten schon in der Pionierzeit alle ihre technischen Geräte aus Europa importiert. O’Yee sagte: »Nein, nein.« »Was hab’ ich denn Falsches gesagt?« Der Ofen stieß einen Feuerkranz aus, der an besonders heftige Sonnenflekken-Eruptionen erinnerte, und verfehlte dabei O’Yees Augenbrauen um Zentimeter. Feiffer sagte: »Wir können uns ja einen Ingenieur kommen lassen, der sich das Ding einmal genauer ansieht.« Und wieder fügte er begütigend hinzu: »Ich meine, bei Ihnen zu Hause hat es doch bestens funktioniert, oder? Vielleicht liegt es an der Umweltveränderung, oder so ...« O’Yee sagte: »Erzählen Sie mir lieber von Ihrem Skelett.« Feiffer ließ den Ofen nicht aus den Augen. Er sah schon die ganze Hong Bay in Kerosin-Flammen aufgehen. »Vielleicht holen wir auch jemanden von der Feuerwehr. Die kennen sich doch aus mit solchen Geräten, und – ah!« Der Radiator gab ein Zischen von sich, und Feiffer duckte sich hinter seinen zum Schutz vor explodierenden Heizkörpern wenig geeigneten Schreibtisch, ehe er sagte: »Nun, was meinen Sie? Würde es Sie verletzen, wenn ich –« O’Yee betrachtete ihn traurig. Dann wandte er seinen Blick von ihm ab. »Ich sehe schon, es würde sie verletzen«, sagte Feiffer. O’Yee berichtete gleichmütig: »Heute früh, etwa um sechs Uhr fünfundzwanzig, meldete eine weibliche Sampan-Besit16
zerin die Entdeckung eines kompletten Skeletts auf einem selbstgebastelten Floß, das innerhalb der Taifunschutzmauer im Hafenbecken trieb. Auf dem genannten Floß entdeckte die genannte Person außerdem noch folgendes: zehn Süßkartoffeln, ein künstliches Gebiß, bestehend aus oberer und unterer Zahnreihe, einen toten Fisch, etwas, das offenbar ein Vampirzahn ist, und ein Seil, das am einen Ende um die Knöchel des genannten Skeletts und am anderen um ein kurzes, blaues Abwasserrohr gebunden war. Ich selbst habe übrigens den Anruf entgegengenommen. Und Sie Undankbarer haben sich den Hut tief in die Stirn gesetzt und sind losgezogen, um diese mysteriöse Angelegenheit zu untersuchen. Jetzt sind Sie zurück – und nun frage ich Sie, mit aller Ehrfurcht, die mir als jüngerer Kollege ansteht, ob Sie bereit sind, sich zu einem kurzen Resümee Ihrer Entdeckungen herbeizulassen.« »Sie sind tatsächlich verletzt«, sagte Feiffer. »Es ist ein wunderschöner Kerosinofen, und ich bin bereit, mich zu entschuldigen. Es war nur ein alberner Scherz.« O’Yee erwiderte streitsüchtig: »Von wegen Scherz!« »Ich meine doch das Skelett. Das Skelett war ein Scherz.« »Aha.« O’ Yee wandte sich wieder dem Ofen zu. Er hatte seine Pflicht getan. Nie wieder würde er Feiffer etwas verraten. Er würde überhaupt kein Wort mehr mit ihm reden. Feiffer erklärte: »Es war natürlich da, genau wie die Frau es beschrieben hat, aber nach Ansicht des Gerichtsmediziners handelt es sich dabei ganz offensichtlich um einen Studentenulk.« Er versuchte, so leichthin wie möglich zu sagen: »Es war seiner Meinung nach ein Demonstrationsskelett aus einem Hörsaal oder einer Arztpraxis. Ich dachte zunächst selbst, es sei ein wirkliches Skelett, weil es keine Registriernummer trug – Sie wissen ja, anatomische Skelette tragen eine solche Nummer – aber –« »Das habe ich nicht gewußt«, unterbrach ihn O’Yee eisig. »– aber der Gerichtsmediziner hat gemeint, die Nummer könnte leicht mit Azeton entfernt worden sein. Und so wird es wohl gewesen sein. Er hat das Skelett zu einem gewissen Dawson vom Labor weitergegeben, aber nur, um –« O’Yee blickte auf und fragte mit plötzlich erwachter Anteilnahme: »Dawson Baume?« 17
»Kennen Sie ihn?« »Sie?« »Nein. Nein, ich kenne ihn nicht«, sagte Feiffer. »Ich weiß nur, daß er nach dem lieben Gott als der größte aller lebenden Pathologen gilt, daß er auch per Post mit den russischen Großmeistern Schach spielt und ein bißchen komisch ist.« »Das stimmt.« »Was?« »Daß er ein bißchen komisch ist.« O’Yee fügte hinzu: »Mehr als nur ein bißchen. Dawson ist das fröhliche Phantom der Leichenhalle von Hong Bay. Er wohnt tatsächlich dort. Und er mag Körper und Skelette nur dann, wenn Sie mit südamerikanischen vergifteten Pfeilen gespickt sind oder ihnen die Köpfe verkehrt auf dem Rumpf sitzen, oder wenn sie zehn Zehen an jeder Hand haben, oder wenn er eine ungewöhnliche, exotische, total unerklärliche tödliche Verletzung entdeckt.« »Da wird er diesmal wenig Glück haben«, sagte Feiffer. »Soweit ich das beurteilen kann, wies das Skelett keinerlei Beschädigungen auf.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Doch, ein Finger fehlte – aber ich fürchte, das ist Dawson Baume nicht makaber genug.« »Nein, bestimmt nicht«, sagte O’Yee. »Mhm. Hab’ ich mir gedacht.« »Er wird einen Blick auf die Drähte werfen«, sagte O’Yee, »danach den genauen Platz in der nördlichen Hemisphäre feststellen, wo das Skelett zuvor gestanden hat, und es dann dem Gerichtsmediziner um die Ohren hauen.« Jetzt beugte er sich vor und betrachtete das still glühende Innere seines Ofens. Er schien glücklich zu sein. »Was denn für Drähte?« fragte Feiffer. »Die Drähte, welche die einzelnen Knochen zusammenhalten.« »Was für Drähte halten denn die Knochen zusammen?« Feiffer wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ganz schön warm hier, was?« »Ja, nicht wahr? Das ist eben keiner von den billigen Öfen, der da.« Er sagte liebevoll: »Er kostet ein Vermögen.« Dann: »Die Drähte halten es zusammen.« Wieder streichelte er den 18
Radiator. »Alle medizinischen Skelette werden von Drähten zusammengehalten, damit sie nicht auseinanderfallen, wenn man sie zu Demonstrationszwecken hochhebt. Daher kann man ja erkennen, daß es sich um ein medizinisches Exemplar handelt. Wenn es ein echtes Skelett wäre, hätte es keine Drähte gehabt, und dann hätte all das Zeug auf dem Floß eine gewisse Bedeutung: die Süßkartoffeln, das Eisenrohr und alles andere.« Er warf einen liebevollen Blick auf das jetzt einwandfrei funktionierende Heizgerät. »Und in diesem Fall hätten Sie eine Sache am Hals, neben der Audens Liftauftrag so harmlos wäre wie die Kinderstunde mit Lassie.« Er ließ eine Pause entstehen, ehe er sagte: »So was wird heute gar nicht mehr hergestellt – ich meine, solche Qualitätsöfen.« Feiffer gab keine Antwort. »In ein paar Jahren werden die noch viel wertvoller – dann, wenn sich erst die Sammler dafür interessieren. Sehen Sie den Flammenschutz über dem Brenner? Der ist noch handgefertigt. So was kann man nicht einfach stanzen.« »Es hatte aber keine Drähte.« »Was?« »Das Skelett hatte keine Drähte.« »Gar keine? Auch keine Löcher, da, wo früher die Drähte waren?« »Nichts.« Feiffer sagte sehr leise: »Verdammt, Christopher –« »Sie wollen damit doch nicht sagen, Sir –« Aber Feiffer sagte nur noch einmal: »Verdammt!« Auden fuhr mit saurer Miene vom sechsten Stock in den fünften. Er dachte: Das ist doch zu albern – wie in einem CharlieChan-Film. Er dachte: Da wurden in den vergangenen fünf Tagen fünf Leute in diesem Lift überfallen. Alle aus den drei obersten Stockwerken, alle reich, und alle wurden im dritten Stock überfallen. Fünf Leute sind in diesem Lift überfallen und ausgeraubt worden, auf der Fahrt von den drei obersten Stockwerken nach unten – als sich die Tür des Lifts im dritten Stock öffnete. Und nach meinen Erfahrungen hat sich die Tür zum dritten Stock noch nie geöffnet, seit dieses Haus vor acht Jahren erbaut wurde. Er sagte zur Wand der Liftkabine: 19
»Jetzt möchte ich bloß wissen, wie jemand von außen eine Lifttür öffnen konnte, die sich nicht öffnet, und wie er anschließend jemanden überfallen und die Tür schließen konnte, die sich gar nicht öffnet. Die reichen Leute in den obersten Stockwerken hatten nämlich die Tür zugenagelt nach dem ersten Überfall. Die Nägel stecken jetzt noch drin. Wie, zum Teufel, kommt jemand durch Holz und Stahlplatten in einen Lift?« Er dachte: Jemand wartet auf den Lift im dritten Stock, und wenn ein Reicher drinnensteht, öffnet er die Tür, ohne daß der Reiche es merkt – und dann bumms! Und es mußte im dritten Stock gewesen sein, denn jeder der Überfallenen erinnerte sich genau daran, daß es im dritten Stock war. Und was soll ich jetzt tun? Er dachte: Ich fahre in einem verdammten, blöden Lift auf und ab, und was soll ich jetzt tun? Der Lift hielt im dritten Stock. Auden wartete darauf, daß die Tür sich öffnete. Sie blieb zu. Auden sagte zum Lift: »Also los dann – mach auf!« Der Lift gehorchte nicht. Er seufzte und fuhr in den vierten Stock. Auden sagte angewidert: »Scheiß Charlie Chan.« Der Lift wahrte sein Geheimnis. P.P. Fan war fertig mit dem Geldzählen und schaute nervös auf die Tür zum Lager, die sich neben dem Eingang zu seiner Wechselstube befand. Draußen sah er einen neutralen Polizeiwagen, der genauso aussah, wie neutrale Polizeiwagen nun einmal aussehen, mit einem ebenso klar erkennbaren Polizeibeamten darin, der im Halteverbot parkte und eine Zeitung las. P.P. Fan schüttelte den Kopf. Draußen auf der Straße ging ein Verkehrspolizist, der hinter einem Lieferwagen auf der Lauer gelegen hatte, mit schnellen Schritten auf die andere Straßenseite und versteckte sich dort hinter einem einwandfrei geparkten Landrover. Geduckt schlich er sich nach vorn, zur Motorhaube, und überlegte sich, wie er sich dem neutralen Polizeiwagen nähern sollte. P.P. Fan seufzte. Die Tür zum Lagerraum stand nur eine Handbreit offen, und er schaute hinüber, suchte das Augenpaar des Kriminalbeamten, der ihn die ganze Zeit über beob20
achtet hatte. Die Augen waren nicht mehr da. Der Verkehrspolizist schaute sich nach allen Seiten um. Dann zog er seinen Block mit den Strafzetteln aus dem Mantel und ging mit festen Schritten über die Straße. P.P. Fan schaute nach den Augen. Die Augen waren nicht da. P.P. Fan sagte »Pssst!« Die Tür zum Lagerraum bewegte sich nicht. P.P. Fan dachte: Er ist wahrscheinlich eingeschlafen. Der Verkehrspolizist fand einen anderen Wagen, hinter dem er sich gut verstecken konnte. Er sah sich mit scheuen, rattenhaften Blicken um, dann starrte er den neutralen Polizeiwagen an. Er ging darauf zu. Jetzt brauchte er nur noch einen Strafzettel auszuschreiben, dann hatte er sein Soll für diesen Monat erfüllt. Er schaute sich um, ob es nichts gab, was ihn an seiner Amtshandlung hindern konnte. Dann ging er vorsichtig auf den Polizeiwagen zu. Vor Mr. Fans Wechselstube blieb ein großer, südländisch aussehender Mensch stehen und schaute dem Verkehrspolizisten zu. Der große Mann nickte zu Mr. Fan hinein, und Mr. Fan nickte zurück. Der Verkehrspolizist trat an die Seite des illegal abgestellten Polizeiwagens. Der Fahrer las eine Zeitung in chinesischer Schrift und betrachtete dabei über ihren Rand hinweg den südländisch aussehenden Mann, der seinerseits den Verkehrspolizisten in Ausübung seiner Pflicht beobachtete. Der große Südländer schaute kurz in Mr. Fans Geschäft hinein, dann wandte er sich wieder dem Verkehrspolizisten zu. Er lächelte. P.P. Fan zischte dem Kriminalbeamten in seinem Lagerraum zu: »Pssst!« Der Kriminalbeamte im Lagerraum war ganz offensichtlich eingeschlafen. Mr. Fan sagte: »Psssst!« Der große Südländer war ein Mann, mit dem es Mr. Fan schon früher einmal zu tun gehabt hatte. Es war dabei um eine etwas kitzlige Geschichte gegangen, um Gold, das nach Macao ein- und von Macao wieder ausgeführt wurde, in Form von nicht besteuerbarer ausländischer Währung, zur Unterstützung der Bewegung, die, wie Mr. Fan meinte, durchaus unterstützenswürdig war ... Mr. Fan zischte: »PSSSST!« Der Verkehrspolizist war zum Sprung bereit. Der große 21
Südländer schaute durch das Fenster in Mr. Fans Wechselstube hinein und lächelte wieder. Mr. Fan begann komplizierte Kalkulationen anzustellen über Kommissionsverluste bei überseeischen portugiesischen Goldgeschäften, zu den gegenwärtigen US-Dollar- und Schweizer-Franken-Kursen von – Der Verkehrspolizist atmete tief ein und sagte: »Hab’ ich Sie erwischt?« Constable Yan hob seinen Dienstausweis über den Rand der Zeitung. »Hau schon ab!« Er warf einen bezeichnenden Blick hinüber auf die Wechselstube. Der Mund des Verkehrspolizisten sagte, ohne zu denken: »Was –« Der große Südländer lächelte wieder. Constable Yan sagte: »Diu ne la mo!« Sein Ton deutete an, daß der Verkehrspolizist dieses gleich danach noch bei sich selbst versuchen könne. Spencers Stimme kam über Yans Walkie Talkie: »Alles in Ordnung?« Der Verkehrspolizist sagte: »Oh.« Dann zu Yan: »Entschuldigen Sie, Sir.« Spencers Stimme fragte: »Haben Sie schon was gesehen?« »Einen Verkehrspolizisten.« Spencer erklärte auf Kantonesisch: »Schicken Sie ihn weg.« »Hab’ ich schon.« Dann sagte Yan zu dem Verkehrspolizisten, wobei er absichtlich das Knöpfchen seines Walkie Talkie gedrückt ließ: »Gehen Sie jetzt.« Er schaute hinüber auf die Wechselstube, aber dort stand nur ein unschuldig aussehender Zuschauer. Yan sagte zum Verkehrspolizisten, noch immer den Finger am Knöpfchen: »Wenn Sie jetzt bitte so unauffällig wie möglich weitergehen wollen.« Der Verkehrspolizist sah Yans silberne Knöpfe unter dem Mantel. Immerhin war er ja auch ein Angestellter bei der Polizei. Er sagte: »Sir!« und salutierte. Der große Südländer vor Mr. Fans Wechselstube erstarrte. Er drehte sich um und schaute hinein auf Mr. Fan. Mr. Fan lächelte ihn leer an. Der große Südländer verließ die Gegend mit Höchstgeschwindigkeit. 22
Die Augen des europäischen Kriminalbeamten schauten durch den Spalt der offenen Lagerraumtür. Der Mund unter den Augen sagte eifrig: »Schon gut – es war nur ein Verkehrspolizist. Nichts passiert.« Mr. Fan nickte. Er sagte ein wenig schwach: »Ja. Danke.« Dabei dachte er an die Münder seiner hungrigen Kinder und hätte heulen können. Auden dachte: Es muß ein Hausbewohner gewesen sein, weil der Portier unten im Parterre die Anweisung hat, niemanden unangemeldet hereinzulassen. Und wenn es ein Hausbewohner war, dann muß er früher oder später diesen Lift benützen, weil es der einzige ist, den es hier gibt. Er dachte: Und früher oder später finde ich ihn am Tatort – oder noch besser, ich ertappe ihn in flagranti. Er dachte: großartig. Früher oder später wird der Bursche einen Fehler machen und mich überfallen. Und: Die Überfälle haben alle tagsüber stattgefunden, und wenn ich einen Monat lang tagsüber auf und ab fahre, ist er praktisch gezwungen, eines Tages mich zu überfallen. Er dachte: großartig. Als der Lift zum x-ten Mal im dritten Stock stehenblieb, sagte Auden zu sich: »Ich muß total übergeschnappt sein.« Der Lift fuhr in den vierten Stock. Mit einem sanften »ding!« öffnete sich die Tür, und jemand stieg ein. Feiffers Telefon klingelte. Es war Dawson Baume; er sprach vom Leichenschauhaus. Baume sagte: »Ich habe Ihr Skelett untersucht.« »Und?« Dawson Baume sagte: »Es war Mord.« Dann legte er auf.
23
Kapitel
2
Genau oberhalb des Untersuchungstisches in der Mitte der Leichenhalle befand sich ein Oberlicht, und außerdem hing über dem Tisch eine einzelne helle Lampe. Das Licht fiel eng umgrenzt auf den Tisch mit seiner Platte aus rostfreiem Stahl, in der sich die Umrisse des Oberlichts matt spiegelten. An einer Wand befand sich eine Reihe von Kühlkammern, ebenfalls aus rostfreiem Stahl, und daneben eine Einrichtung, mit der man die Bahren – aus rostfreiem Stahl – auf die Höhe der verschiedenen Schubladen innerhalb der Kühlkammern heben oder senken konnte. Die Hängelampe bewegte sich leicht in einem kaum spürbaren Windzug über dem Tisch, und von den Kühlkammern her war ein stetiges, leises Summen zu vernehmen. Am Ende des Stahltisches befand sich ein Abflußloch, an dem die Blutrinnen des Tisches endeten. Und auf dem Tisch lag, in voller Länge ausgestreckt, das Skelett. Feiffer schaute es sich genauer an. Es war sehr kalt in dem Raum. Er sagte überrascht: »Jetzt sieht es echter aus.« Und: »Das kommt wahrscheinlich daher, daß man sich nicht wundert, in einer Umgebung wie dieser ein Skelett zu sehen.« Er warf Dawson Baume, einem Mann, der an einen Wiedertäufer erinnerte und eine Nickelbrille trug, einen Blick zu und sagte etwas unbehaglich: »Auf dem Floß hat es jedenfalls nicht so echt ausgesehen.« Dann: »Ich bin sicher, Sie verstehen, wie ich das meine.« Dawsons Gesicht war glatt und faltenlos. An einer Wand befand sich der Platz für die Instrumente. Dawson wandte sich kurz ab und ging zu einem Regal, um sich ein Instrument zu holen; die lange Gummischürze, die er anhatte, gab seltsam raschelnde Geräusche von sich, als er sich bewegte. Feiffer fragte: »Haben Sie schon rausbekommen, was die einzelnen Gegenstände bedeuten, die wir zusammen mit dem Skelett auf dem Floß gefunden haben?« »Nein. Es ist übrigens ein männliches Skelett.« Er fand das gesuchte Instrument und hielt es gegen das Licht, um irgend etwas daran zu überprüfen. »Es ist nicht schwer, das Geschlecht zu bestimmen. Man erkennt es unter anderem an der Schädelgröße und am Kreuzbein. Außerdem am Steißbein.« 24
Er nickte, weil er den Zustand des Instruments in seiner Hand für zufriedenstellend hielt – es war etwas, das an einen handbetriebenen Bohrer eines Zahnarztes erinnerte –, legte es zurück auf das Regal und trat wieder an den Tisch heran. »Die maßgeblichen Charakteristika weisen auf einen nordisch-europäischen Typ hin. Ich nehme an, Sie finden die Vorstellung, daß es sich bei einem Skelett um ein totes menschliches Wesen handelt, etwas befremdend.« Er starrte auf das Skelett durch die dicken Linsen seiner Brille, was ihm ein eulenhaftes Aussehen verlieh. »Natürlich.« Dann wurde er nachdenklich und sagte, wohl mehr zu sich selbst: »Hm ...« Er legte eine Handfläche auf die Rippen, steckte die flache Hand dann durch den leeren Brustkorb und bewegte dabei die Finger. »Sehen Sie, nichts als Luft.« Dann zog er die Hand zurück und sagte wieder: »Hm ...« »Sie sagten am Telefon, Sie hätten Grund zu der Vermutung, es könne sich um ein Mordopfer handeln. Wie kommen Sie darauf?« Wenn man von seinen Händen absah, wirkte Dawson wie ein Dreißigjähriger. Die Finger allerdings waren faltig und knochig wie bei einem Achtzigjährigen und erinnerten an einen Druck aus dem neunzehnten Jahrhundert, der einen Dickensschen Totengräber darstellt. Er seufzte: »Erstens habe ich auf der Innenseite des Schädels, in der Gegend des unteren Lappens der rechten zerebralen Hemisphäre, geringe Spuren von Gewebe gefunden, die auf Gleit- und Schabvorgänge hinweisen. Außerdem entdeckte ich eine winzige Druckfraktur über dem vorderen Lappen, etwa fünf Zentimeter vom Kranium entfernt. Das weist auf einen Schlag hin, der von einem Gegenstand von der Größe eines Golfballes verursacht worden sein kann. Die Gleit- und Schabspuren des Gewebes zeigen eine plötzliche und heftige Rotation der Gehirnmasse an, die zum sofortigen Tod geführt haben muß. Darüber hinaus sind am gesamten Knochenbau keine weiteren Verletzungen zu erkennen, wenn man vom Verlust des kleinen Fingers der linken Hand absieht, der erst nach dem Tod erfolgte, und von einer alten, einfachen Fraktur oberhalb des einen Fußknöchels.« Zusammenfassend erklärte er: »Das alles deutet darauf hin, daß der Verblichene durch einen hef25
tigen Schlag auf die Schädelmitte zu Tode kam, einen Schlag, der mit einem runden Knopf oder Knauf, jedenfalls einer Art Wölbung, ausgeführt wurde.« Dann fügte er noch mit dem Abscheu des Fachmanns gegenüber minderbemittelten Laien hinzu: »Offensichtlich ist dies dem medizinischen Sachverständigen entgangen.« Dabei unterdrückte er einen Seufzer. »Wie lange mag sich das Skelett im Wasser befunden haben?« »Weder Körper noch das Skelett können vor oder nach dem Tod längere Zeit in Süß- oder Salzwasser gelegen haben – und das gilt auch für die jüngste Vergangenheit.« Er erklärte wie ein Zeuge, der vor Gericht steht: »Der Verblichene wurde erst auf das Floß gebracht, als er sich bereits im jetzigen Zustand befand, und er kann maximal fünf Stunden mit Salzwasser in Berührung gekommen sein. Proben des Holzes, aus dem das Floß gefertigt ist, weisen darauf hin, daß es annähernd ebenso alt ist wie das Skelett selbst.« »Und wie alt ist das?« »Das Skelett ist zwischen dreißig und vierzig Jahre alt.« »Sie meinen, der Mann ist vor dreißig bis vierzig Jahren gestorben?« »Nein – der Mann war dreißig bis vierzig Jahre alt, als er starb.« »Und wann starb er?« »Er starb vor zwanzig Jahren«, sagte Dawson. »Und was ich damit ausdrücken wollte, ist folgendes: Das Holz, aus dem das Floß gefertigt wurde, ist ebenfalls vor ungefähr zwanzig Jahren geschlagen und verarbeitet worden.« Er legte eine Pause ein und hielt Feiffer dabei die rechte Hand entgegen, um dessen nächste naheliegende Frage abzublocken. »Die Nägel allerdings, mit denen das Holz des Floßes zusammengehalten wurde, sind, wie die Untersuchungen des Labors ergeben haben, weniger als zwei Jahre alt.« Dann fügte er noch, fast beiläufig, hinzu: »Die Süßkartoffeln sind frisch, ebenso der Fisch – relativ gesprochen ...« Und dann, fast ein wenig gelangweilt: »Der Fisch war übrigens ausgenommen, eine Tatsache, die bisher aus Unachtsamkeit übersehen wurde; und die falschen Zähne sind hier in der Gegend angefertigt worden.« Er seufzte. »Eine Überprüfung des 26
verwendeten Goldtyps in einer kosmetischen Füllung des rechten Schneidezahns zeigt das ganz deutlich. Und ich weiß zufällig, daß das Plastikmaterial, aus dem die künstlichen Zähne angefertigt wurden, seit dem Ende der fünfziger Jahre nicht mehr verwendet wird.« Er unterdrückte einen weiteren Seufzer und schaute dann ohne ersichtlichen Grund nach oben auf das Oberlicht. »Ich habe eine Ausbildung als Zahnarzt hinter mir, ehe ich mich der allgemeinen Medizin zuwandte.« Dann, als eine Art Erklärung: »Das kommt nicht selten vor.« Und: »Haben Sie noch Fragen?« »Was ist mit dem Strick, den man um die Knöchel des Skeletts gefunden hat?« »Der wurde nach dem Tod dort angebracht. Schlechte Hanfqualität, wobei diese keine Hinweise auf Typisierung oder Verwendungszweck liefert. Solche Stricke findet man überall.« Warnend fügte er noch hinzu: »Ich hatte bisher nichts mit Abflußrohren zu tun und kann daher nicht sagen, weshalb es blau lackiert ist. Für mich ist es blau, weil es eben nicht grün, rot oder gelb ist.« Dann schaute er Feiffer an und erklärte: »Ich nehme nicht an, daß ihr bei der Polizei allzu großes Aufhebens um den Fund eines Skeletts macht.« Das klang nun entschieden nach tiefem Weltschmerz. Er warf wieder einen Blick auf den Tisch. »Aber wenn es nicht aus dem Wasser kommt – woher kommt es dann?« »Es kam vom Land. Genauer gesagt, aus dem Boden. Gewisse Reste des Dekompositionsprozesses, der mit dem Zerfall des Fleisches einherging, zeigen deutlich, daß der Leichnam annähernd zwanzig Jahre in sandigem Boden begraben gewesen sein muß. Da es keine Hinweise auf Nitrate gibt, kann man annehmen, daß er in Brachland und nicht in künstlich gedüngtem Boden begraben war.« Feiffer sagte: »Die Mittel der Bauern von Hongkong reichen meist nicht aus für den Kauf von Kunstdünger.« »Nein?« »Nein.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Dawson. »Dann kann der Leichnam natürlich auch in Ackerboden begraben gewesen sein. Was werden Sie jetzt unternehmen?« 27
»Ich werde versuchen, das Skelett zu identifizieren.« Dawson wirkte wieder sehr skeptisch. Er sagte: »Hm ...« »Nach dem Gebiß – wenn es, wie Sie sagen, hier angefertigt wurde.« »Das steht außer Zweifel.« »Sehen Sie, also kann ich es auf diesem Weg versuchen.« Er betrachtete kurz noch einmal das Skelett. »Vorausgesetzt, es gibt keine weiteren Hinweise, mit denen ich arbeiten könnte.« »Sicher.« »Jedenfalls, wenn der Leichnam, wie Sie behaupten, mindestens zwanzig Jahre begraben war, dann –« »Sie haben recht«, unterbrach Dawson. Dann fragte er: »Wie groß sind Sie, Mr. Feiffer?« »Einsachtundsiebzig. Warum?« »Genau so groß war der Tote auch. Ich schätze Ihr Alter auf etwa vierzig Jahre. Der Tote war möglicherweise acht oder neun Jahre jünger. Sind Sie verheiratet?« »Ja.« »Vielleicht war er auch verheiratet«, sagte Dawson. »Innerhalb einer gewissen Zeit muß er gehumpelt haben. Er brach sich seinen Knöchel, und es gibt sicherlich Leute, die ihn damals bedauerten und sagten, es geht schon besser, als der Bruch geheilt war.« Dann fuhr er fort: »Meiner Meinung nach, und nach der Art der Schädelfraktur und der Gehirnhautabschürfung, wurde er wahrscheinlich von hinten erschlagen, und zwar mit einer flachen Schaufel. Dieser Abdruck, der an einen Golfball erinnert, kann von der kleinen Wölbung stammen, wo das Schaufelblatt in den Stiel übergeht. Der Täter hat anschließend höchstwahrscheinlich dieselbe Schaufel benützt, um den Toten einzugraben. Warum er ihn schließlich wieder ausgrub und auf einem Floß im Meer aussetzte, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen. Und ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie Sie das herausfinden können.« »Wenn wir die Gezeitenkarten studieren«, meinte Feiffer, »kommen wir vielleicht auf die Stelle, wo das Floß ins Wasser gestoßen wurde.« »Vorausgesetzt, Ihr Interesse ist so groß. Oder gehört die 28
Überprüfung der Gezeitenkarten zu Ihrer Routine?« »Ja – das gehört zur Routine-Prozedur.« »Oh.« Dawson nickte. Dann schaute er wieder auf das Skelett. »Sonst noch was?« Er drehte sich um und ging zur Instrumentenwand. »Nicht, daß ich wüßte.« »Hm ... Ich bin gleich zurück. Wenn Sie wollen, können Sie das Skelett mit einer Plane zudecken.« Dann sagte er wieder: »Hm«, ging in einen angrenzenden Raum, wo weitere Instrumente aufbewahrt wurden, und schloß die Tür hinter sich. Von draußen, jenseits der Mauern der Leichenhalle, war das Rascheln des Windes zu vernehmen. Feiffer blickte hinunter auf die Umrisse des Skeletts. Jetzt, wo es unter einer Plane lag, konnte man meinen, es sei ein menschlicher Körper mit Fleisch und einem Gesicht, mit Augen und dem, was man als »Aussehen« bezeichnete. Aber es war nur eine Sammlung zwanzig Jahre alter Knochen. Das, was da unter der Plane lag, rührte sich nicht. Es war seit zwei Jahrzehnten tot. Feiffer dachte: Es gibt keine Verbindung mehr zwischen diesen Knochen und einem wirklichen Menschen – nichts, was einen noch menschlich anrühren könnte. Man braucht einige Willenskraft, um sich vorzustellen, daß das einmal ein Mensch war, der in der Welt umhergelaufen ist ... Humpelnd, dachte er. Und: Er hatte sich einen Knöchel gebrochen. Dann warf er einen Blick auf die Tür, hinter welcher der Pathologe verschwunden war. Aber sie war geschlossen, vielleicht sogar versperrt. Er dachte: Es gibt dringendere Dinge; ich sollte nicht meine Zeit vergeuden mit etwas, das so aussieht, als sollte es in einem gläsernen Schrein im Museum liegen. Er ging zu einem Regal mit Flaschen und Glasbehältern, in denen Demonstrationsobjekte in Flüssigkeiten aufbewahrt wurden, zündete sich eine Zigarette an und begann die Aufschriften zu lesen. Die Aufschriften waren leider alle in Latein.
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Auden betrachtete denjenigen, der im vierten Stock in den Lift gestiegen war. Dieser war ein Mann in mittleren Jahren, und er sah ziemlich respektabel aus. Der Mann in mittleren Jahren betrachtete Auden mindestens ebenso prüfend. Auden sagte auf Kantonesisch: »Ich bin Polizeibeamter.« Die Lifttür schloß sich. Der Mann in mittleren Jahren schaute ihn nur an. »Aber das wissen Sie vermutlich schon.« Der Mann in mittleren Jahren schaute ihn an. »Nicht wahr?« Der Mann in mittleren Jahren schaute ihn an. Auden sagte: »Natürlich haben Sie das gewußt. Das habe ich sofort gemerkt. Seien Sie doch nicht so zurückhaltend. Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen zu den Überfällen im Lift stellen, ja?« Der Mann in mittleren Jahren nickte. Er schien ein bißchen verwirrt zu sein. Auden sagte freundlich: »Sie haben doch nicht etwa geglaubt, daß ich der Täter sei, oder?« Der Mann in mittleren Jahren wandte sich ab. Er schüttelte den Kopf. »Fein«, sagte Auden. Er lehnte sich in die Ecke der Liftkabine und überlegte sich ein paar bohrende Fragen. Dann fragte er bohrend: »Okay?« Der Mann in mittleren Jahren nickte. »Gut. Dann fangen wir mal an.« Der Mann in mittleren Jahren fragte: »Was denn für Überfälle?« Feiffer schaute auf die Uhr. Die Tür war noch immer geschlossen, und wenn Dawson da drinnen war und irgend etwas tat, dann tat er es ungewöhnlich geräuschlos. Feiffer betrachtete wieder die Umrisse des Skeletts auf dem Tisch. Er dachte: Es ist möglich, daß er sich täuscht, was die falschen Zähne angeht. Er weiß nur, daß sie ziemlich alt sein können. Ein echter Zahnarzt braucht nur einen Blick darauf zu werfen und kann dann sagen, sie sind zwanzig oder fünfzig Jahre alt. Er ging zur Tür, überlegte sich, ob er klopfen sollte, und dachte: Ja, genau das werde ich tun. Dieser Dawson ist 30
ziemlich komisch. Am Schluß stellt sich noch raus, daß es das Skelett war von jemandem, der im Krieg umgekommen ist. Er ging rückwärts, stieß dabei gegen den Tisch, und die Asche seiner Zigarette fiel auf das obere Ende der Plane. Er sagte, ohne zu denken: »Entschuldigen Sie.« Dann sagte er zu den Umrissen unter der Plane: »Ich glaube, ich verliere allmählich den Verstand.« Er wischte die Asche mit dem Handrücken von der Plane und fühlte dabei die Umrisse des Kopfes unter dem Stoff. Er sagte laut: »Ein Schädel, kein Kopf.« Erwischte noch einen Aschenrest vom Tuch, sehr vorsichtig, und sagte dann zu den Umrissen darunter: »Es ist dieser Ort – und die Stille.« Noch immer war ein Aschenrest zu sehen. Er schnippte ihn mit dem Finger weg, rieb dann die Stelle sauber. Er dachte: Und was, wenn er erst vor kurzem gestorben ist, und wenn er kein Kriegsopfer ist? Sicher, im Krieg ist so etwas verständlich – fast normal. Wenn die Leute mit Waffen in den Händen herumlaufen, rechnet man damit, abgeknallt zu werden. Aber wenn man ihn für nichts umgebracht hat? Er hatte ein Bild vor Augen: den schimmernden Rand einer Schaufel, die hart gegen einen Kopf schlug. Er dachte: Und wenn du noch gar nicht ganz tot warst, als derjenige, welcher dich umgelegt hat, dein Grab ausgehoben hat? Was, wenn du für Sekunden sogar dessen Gesicht gesehen hast? Dann plötzlich sagte er zu der Gestalt unter der Plane: »Schön. Also gut.« Und noch einmal, etwas leiser: »Gut, Okay.« Er drehte sich um. Die Tür, hinter der Dawson verschwunden war, ging auf, und Dawson kam zum Vorschein, trug noch immer seine Gummischürze und schaute Feiffer an. Er sagte leise: »Es war immerhin ein Mensch.« Feiffer nickte. »Ein Mann«, sagte Dawson. »Ja.« Dawson nickte. »Ich habe gerade einen Säuretest an diesem anderen Ding ausgeführt – ich meine, an dem Vampirzahn.« »Und?« 31
»Es ist ein Kieselstein. Ein Stück Quarz.« Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Ich bin sehr froh.« »Worüber?« »Nichts.« Er zuckte mit den Schultern. Feiffer sagte: »Ich hörte, sie spielen Schach per Post.« »Ja. Sie nicht?« »Leider nein.« Wieder zuckte Dawson mit den Schultern. Erstaunlicherweise sah er im Licht sehr jung aus, fast wie ein Student. »Es ist natürlich ganz anders, als wenn man wirklich spielt.« »Ach?« »Ja.« Feiffer sagte, ein wenig unbehaglich: »Ich glaube, ich muß jetzt weiter. Soll ich es Ihnen mitteilen, wenn es mir gelungen ist, ihn zu identifizieren?« »Wenn Sie wollen, ja.« Er nickte, ging dann zur Tür, die hinausführte in den Korridor, zog sie auf und ließ Feiffer dann hinaustreten. »Wir sehen uns gelegentlich.« Er wartete, bis Feiffer das Gebäude verlassen hatte und zum Parkplatz ging, dann schob er die Tür wieder zu und versperrte sie von innen. Wenn man Schach per Post spielte, gab es keine Zuschauer und niemanden, der einem sagte, ob man den richtigen Zug gemacht, sich damit preisgegeben oder gedeckt hatte. Man mußte immer auf den Gegenzug warten, um zu erfahren, ob man einen Fehler gemacht hatte oder nicht. Er war allein. Er hatte niemanden, mit dem er reden konnte ... Er blieb in der Mitte des Raums stehen, strich sich mit seiner Greisenhand über den Mund und dachte darüber nach. O’Yees Stimme am anderen Ende der Leitung fragte freundlich: »Haben Sie das fröhliche Phantom der Leichenhalle getroffen?« »Wen?« »Sie wissen schon, Dr. Dawson Baume, das fröhliche Phantom der Leichenhalle eben.« Vor der Telefonzelle am Parkplatz hinter dem Leichenhaus fuhr ein Bus vorbei. Feiffer wartete, bis er vorüber war, 32
dann sagte er: »Ich habe mich entschlossen, diese Sache mit größter Sorgfalt zu untersuchen, Christopher.« »Wieso?« »Das Floß war höchstens ein paar Stunden im Wasser«, erklärte Feiffer. »Vier bis fünf Stunden, meint Dawson Baume. Ich fahre jetzt zur Hafenpolizei und unterhalte mich mit einem von ihren Gezeitenkennern; vielleicht finde ich auf diese Weise heraus, wo das Floß im Wasser ausgesetzt worden sein könnte. Inzwischen schicken Sie die Angaben über das künstliche Gebiß an alle Zahnärzte, Techniker und Dentisten in der Kronkolonie.« »Sie meinen, das Gebiß vom Floß?« »Ja. Ich will die Antwort möglichst schnell haben, also ist es besser, sie schicken einen von den uniformierten Kollegen zu allen Polizeistationen. Können sie das in die Wege leiten?« O’Yee erwiderte: »Fern läge es mir, die unversiegbare Weisheit eines Vorgesetzten in Frage zu stellen, Harry, aber –« Feiffer unterbrach ihn: »Ich rufe an und erkundige mich nach den Resultaten, sobald ich von der Hafenpolizei zurückkomme, okay?« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nach mehreren Sekunden sagte O’Yee: »Wenn sie meinen.« »Ja, das meine ich.« »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, was Sie für einen Eindruck gewonnen haben – ich meine, von unserem vorzüglichen, wenn auch ein wenig merkwürdigen Dawson.« »Tun Sie erst einmal, was ich Ihnen aufgetragen habe!« fuhr ihn Feiffer an. O’Yee erwiderte: »Jawohl, Massa. Wenn Massa es wollen, Sklave wird es tun.« Er hörte ein Klicken am anderen Ende der Leitung, als Feiffer den Hörer wütend einhängte. Dawson dachte nach. Und er fragte sich, was die Menschen wohl von ihm halten mochten.
33
Kapitel
3
Wenn es etwas gab, worin sich P.P. Fan auskannte – besser auskannte als in allen anderen Dingen –, dann war das der Profit. Er blickte hinüber zu der halbgeöffneten Tür, hinter der sich ein bewaffneter Spießer mit unterentwickeltem Profitgeist versteckt hielt, um ihn, P.P. Fan, zu beschützen – und eine Welle von Mitleid lief nicht ohne gewisse Schwierigkeiten über P.P. Fans faltiges Profitgesicht. Und P.P. Fan dachte: Dieser Europäer mit den blauen Augen und dem mangelnden Geschäftsgeist tut sein Bestes, um mich und mein Geschäft vor Räubern zu schützen. Vermutlich sogar unter Einsatz seines Lebens. Und ich sollte ihm, angesichts meines Erfahrungsschatzes von zweiundfünfzig Jahren, etwas dafür geben – und sei es nur in Form einer einfachen geschäftlichen Lektion. Einen Hauch von jenem finanziellen Scharfsinn, der mich zu dem machte, was ich heute bin; ja, das wäre das mindeste. Er dachte: Diesem Mann haben einfach die Möglichkeiten gefehlt, die mir zur Verfügung standen, als ich noch jung war, sonst hätte er sich zweifellos ein anderes Ziel gesetzt als seine Laufbahn im mittleren Polizeidienst. Wahrscheinlich ist er sogar auf seine Weise ein in Grenzen verständiger Bursche. Er dachte: Und außerdem ist es verdienstvoll für das nächste Leben, selbstlos für andere aufzutreten. Er nickte sich zu, blieb vor der halboffenen Tür stehen, wobei er zwischendurch immer wieder einen Blick auf die Ladenkasse warf, und sagte auf Englisch zu den drei Zentimetern Kiefernholz zwischen ihm und dem dämlichen Polizisten, der seine Kunden abschreckte: »He, Sie!« Die Tür öffnete sich einen Zentimeter. Die beiden hellblauen Augen schauten fragend und ein wenig ängstlich heraus. Die Stimme sagte: »Ich kann erst hier rauskommen, wenn was passiert.« Dann fragte er: »Ist was passiert?« P.P. Fan warf einen Blick auf die Kasse. Er atmete tief ein und fragte sich, ob selbstlose Taten wirklich so verdienstvoll waren für das nächste Leben, wie es immer hieß. Dann sagte er etwas unwillig: »Nein.« Und fragte: »Fühlen Sie sich einigermaßen wohl da drinnen?« 34
»Es ist dunkel.« P.P. Fan nickte. Spencers Stimme sagte: »Und vielleicht ein bißchen kalt.« »Und davon abgesehen?« Die Stimme antwortete nicht. Aber man hörte ein lautes, metallisches Klappern. P.P. Fan sagte: »Seien Sie vorsichtig mit Ihrem Gewehr da drinnen.« Die Stimme antwortete: »Das waren meine Knie. Ich sitze auf einem Stapel von Papier. Das Gewehr ist nicht einmal geladen. Ich habe die Munition in meiner Hosentasche. Machen Sie sich keine Sorgen wegen mir. Ich bin keiner von denen, die immer gleich losballern.« Es klang wie die Stimme eines Kindes, das man in einen Schrank gesperrt hat. P.P. Fan sagte: »Der Stapel Papier, auf dem Sie sitzen, ist zufällig die komplette Liste aller Veränderungen des Dollarkurses seit dem Börsenkrach von neunzehnhundertneunundzwanzig.« Und er fuhr fort: »Damit habe ich begonnen.« Danach legte er eine kurze Pause ein, in der er sich noch einmal alle seine Siege und Niederlagen vor Augen führte. »Wußten Sie, daß sich die Kaufkraft des Dollars gegenüber dem Tael in Schanghai in den Monaten Juni und Juli des Jahres neunzehnhundertachtunddreißig vervierfachte und auf diesem Stand bis Ende August stehenblieb? Das alles kann man daraus entnehmen. Wissen Sie, bei meinem Geschäft geht es nicht nur darum, den Touristen ein paar Pesos in Patacas umzuwechseln. Die Sache ist schon ein wenig komplizierter. Man muß auf jeden Trend des Geldmarktes achten. Und wenn Sie nicht die nächsten dreißig Jahre dort bleiben wollen, wo Sie jetzt sind, kann es nicht schaden, die wertvollen Informationen zu studieren, auf denen Sie momentan mit Ihren vier Buchstaben sitzen.« Und er fügte, ein wenig pikiert, hinzu: »Was, glauben Sie wohl, hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin? Das Glück vielleicht?« Drinnen in dem Lagerraum herrschte absolute Stille. Dann sagte die Kinderstimme aus dem Schrank: »Entschuldigen Sie. Ich sitze jetzt nicht mehr auf den Papieren. Ich lehne jetzt an der Wand.« 35
So war es schon besser. P.P. Fan warf einen kurzen Blick auf die Eingangstür. Ein ruhiger Vormittag, wie es schien. Aber so war es immer um diese Jahreszeit. »Was wollen Sie eigentlich machen, wenn Sie diesen Job bei der Polizei hinter sich haben?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte die Stimme. »Ich dachte, ich bleibe bei der Poli-« Und dann, nach einer kurzen Pause, der Versuch, nicht das Gesicht zu verlieren: »Ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht. Vielleicht nicht sehr weitblickend, meinen Sie. Aber ich wollte erst einmal warten, bis ich verheiratet bin, und dann meine Frau zu Rate ziehen.« P.P. Fan schüttelte den Kopf. Er hatte einen seiner langen Geldzähl-Finger in das rechte Ohr gesteckt und drehte ihn nun, um das Ohrenschmalz herauszukratzen. Er sagte: »Ich fürchte, ich habe sie nicht richtig verstanden. Haben Sie gesagt, sie wollten Ihre Frau um Rat fragen?« Und vorsichtig, um nicht allzu unhöflich zu erscheinen, fügte er hinzu: »Nein, ich muß mich verhört haben. So dumm kann kein Mensch sein. Sie haben sicher etwas ganz anderes gesagt.« »Ja.« Die zwei hellblauen Augen bewegten sich unsicher hin und her, und wenn man jemals von dümmlichem Ausdruck in den Augen eines Menschen sprechen konnte, so waren diese zwei nun das Paradebeispiel dafür. Die Stimme, die das Ja gesprochen hatte, fuhr jetzt fort: »Sie haben vollkommen recht. Ich habe nur allgemein gemeint, daß ich mich beraten lassen sollte.« Und nach einer erneuten kurzen Pause: »Sie verdienen ziemlich gut, was?« P.P. Fan warf einen Blick zur Decke. »Aber so etwas fragt man doch nicht. Das ist das erste, was Sie lernen müssen: Man darf grundsätzlich keinem Menschen eine solche Frage stellen. Denn jeder würde Sie bei seiner Antwort nur anlügen.« Und P.P. Fan sagte: »Wenn man es genau nimmt, wandle auch ich in den Tiefen bitterer Armut.« »Oh.« Die Stimme legte eine Mitleidspause ein. »Das tut mir sehr leid. Ich dachte –« »Aber haben Sie denn nicht kapiert? Ich habe sie angelogen«, sagte P.P. Fan. »Oh.« Jetzt sagte die Stimme, wieder nach einer kurzen 36
Pause: »Das freut mich. Um ehrlich zu sein, ich hatte den Eindruck, als ob Sie mit Ihrem Geschäft sehr gut hinkämen und –« »Von sehr gut kann nun auch wieder nicht die Rede sein«, unterbrach P.P. Fan. Und die Stimme sagte: »Ha! Ha! Ich weiß, Sie sind stinkreich.« P.P. Fan brüllte die drei Zentimeter dicke Tür an, hinter der sich ein drei Zentimeter dicker Holzschädel befand: »Ich bin nicht stinkreich!« Die Stimme, deren Besitzer allmählich dahinterzukommen schien, sagte fröhlich: »Ich weiß – und jetzt lügen Sie wieder, nicht wahr?« »Ich lüge nicht! Wer kann schon von sich behaupten, er sei reich? Das tun nur Verrückte, die gar nicht so reich sein können, wie sie behaupten. Ja, wollen Sie denn von jedem dahergelaufenen Strolch und Kriminellen wegen Ihres bißchen Geldes totgeschlagen werden?« Und P.P. Fan brüllte: »Ich bin – es fehlt mir nicht gerade am Nötigsten – das ist alles! Haben Sie verstanden?« Danach herrschte lange Zeit tiefe Stille im Lagerraum, während, wie P.P. Fan annahm, dieser englische Holzkopf da drinnen versuchte, sich mit Hilfe seines Spatzengehirns klarzuwerden, ob auch das wieder eine Lüge war oder nicht. Schließlich sagte P.P. Fan: »Sie versuchen doch nicht, herauszufinden, ob auch das wieder eine Lüge ist, oder?« Das Spatzengehirn antwortete: »Oh – äh ... Nein.« Dann war es wieder still. P.P. Fan sagte: »Nun?« Schweigen. P.P. Fan war der Verzweiflung nahe. Er wollte gerade sagen – Die Stimme aus dem Schrank sagte sehr leise: »Jetzt ist mir das Bein eingeschlafen.« Und schuldbewußt fügte sie hinzu: »Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich noch einmal auf den Stapel von Papieren setze, bis es wieder aufgewacht ist?« P.P. Fan stieß einen tiefen Seufzer aus.
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»Wie meinen Sie das – Was denn für Überfälle?« Der Mann in mittleren Jahren schaute den Polizeibeamten im Lift verständnislos an. Er zuckte mit den Schultern. Auden fragte: »Nun – was haben Sie damit gemeint?« Der Mann sagte: »Äh ...« Die Stimme aus dem dunklen, kalten Lagerraum sagte: »Ich – äh – ich helfe gern den anderen Menschen.« Darauf erhielt sie keine Antwort. Die Stimme sagte: »Sehen Sie, deshalb habe ich mich entschlossen, zur Polizei zu gehen – weil ich den anderen Menschen helfen will.« Man konnte nicht umhin, zu behaupten, daß die Stimme sehr dämlich klang. Jetzt fragte sie: »Sagen Sie, klingt das sehr dämlich?« »Ja«, antwortete P.P. Fan. Die Stimme sagte: »Ich – äh – ich wollte Gutes tun ... Bedauere, wenn das nun wieder dämlich klingt. Aber ich meine, sehen Sie, momentan bin ich dabei, Ihnen zu helfen.« Die Stimme schien sich selbst zuzunicken. Dann fragte sie bescheiden: »Oder vielleicht nicht?« P.P. Fan erwiderte ohne großes Engagement: »Ja, natürlich, und deshalb will ich Ihnen auch helfen. Weil Sie so jung und unschuldig sind, und Sie können mir ruhig glauben, daß Ihnen das sehr guttun wird.« »Oh.« Die Stimme schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Als Polizeibeamter kann ich mehr Gutes tun als ein großer Geschäftsmann. Es ist eher wie bei einem Priester, zum Beispiel.« Die Stimme sagte: »Priester sind unweltlich und arm.« P.P. Fan ergänzte: »Und sie tun Gutes.« »Richtig.« Man hörte, wie die Stimme glaubte, einen Triumph davongetragen zu haben: die wertvolle westliche Tradition gegenüber den armen Orientalen. Die Stimme sagte: »Ich meine damit natürlich katholische oder anglikanische Priester – Sie verstehen, Priester, die –« »Priester tun sicher viel Gutes«, unterbrach P.P. Fan. Dann sagte er durch die drei Zentimeter dicke Tür: »Ist Ihnen klar, daß der Stapel von Papieren, auf dem Sie sitzen, der Schlüssel ist zu jeglichem finanziellen Erfolg? Der Schlüssel, mit dem sich einem der Geschäftssinn erschließt, mit dem 38
man ihn zu aktivieren vermag? Und ist Ihnen auch klar, daß ich Ihnen damit Gutes tun will – das erdenklich Beste – und daß Sie es offenbar nicht zu schätzen wissen, wenn ich meine Geheimnisse an Sie weitergebe?« »Ja nun – äh ... Ja, also ...« Die Stimme sagte: »Ich bin mir bewußt, daß ich damit in Ihrer Schuld stehe, und ich, äh-« P.P. Fan sagte: »Tugendsame Menschen sind die wahre Freude des Königreichs.« Und: »Unbezahlte Schulden sind wie nicht gefesselte Tote.« »Ach?« sagte Spencer. »Sie kommen zurück und verfolgen einen.« P.P. Fan fragte: »Können Sie mir überhaupt folgen?« »Oh ja.« »Dann lesen Sie meine Geheimpapiere und lernen Sie etwas Nützliches daraus.« Und er fügte hinzu: »Sie gehören zu den undankbaren Bastarden, die es einem schwer machen, Gutes zu tun.« Die Stimme schwieg. »Das war keine Sentenz. Sie sollten meinen letzten Satz nicht schweigend anhören, sondern sich entschuldigen.« »Entschuldigen Sie.« P.P. Fan stieß einen langen Seufzer aus. Die Stimme aus dem Lagerraum sagte: »Aber hier drinnen kann ich nicht lesen.« P.P. Fan antwortete: »Ich besorge Ihnen eine Taschenlampe.« »Vielen Dank.« »Es ist mir ein Vergnügen.« P.P. Fan ging hinter seine Theke, um die Taschenlampe zu holen, die er dort aufbewahrte und mit der er überprüfte, ob seine Geldsäcke wirklich leer waren. Er dachte: Beim Himmel, wenn es für solche verdienstvolle Taten keine Belohnung in der nächsten Welt gibt, werde ich mich beschweren. Und zum Lagerraum hinüber sagte er mit bissigem Unterton: »Nicht der Rede wert.« Auden sagte argwöhnisch: »Dann will ich es Ihnen erklären. Jemand, der zu diesem Apartmenthaus Zugang besitzt, treibt 39
sich hier herum und schlägt die Bewohner im Lift nieder, um sie anschließend zu berauben. Okay?« Der Mann in mittleren Jahren nickte. »Er arbeitet grundsätzlich vom dritten Stock aus. Er wartet, bis der Lift aus den höheren Stockwerken herunterkommt, und wenn sich dann die Tür im dritten Stock öffnet, springt er hinein und schlägt die Leute nieder. Haben Sie verstanden?« Der Mann nickte. »Dann läßt er den Lift nach unten fahren ins Parterre, wo der Portier das Opfer entdeckt und feststellt, daß es beraubt wurde. Ich selbst fahre seit einiger Zeit mit diesem Lift auf und ab, um herauszubringen, wie der Kerl vorgeht. Verstanden?« Der Mann nickte ein wenig skeptisch. »Außerdem gelingt es der fraglichen Person, irgendwie zu verschwinden, nachdem das Verbrechen begangen wurde, und bisher hat sie niemand dabei beobachtet. Und es gibt noch eine Komplikation: Die Lifttür geht nämlich im dritten Stock gar nicht auf. Seit dieses Haus erbaut wurde, ist sie im dritten Stock nicht aufgegangen, und die Bewohner der oberen Stockwerke, die in den letzten fünf Tagen niedergeschlagen und beraubt wurden, haben zudem die Lifttür im dritten Stock zugenagelt, damit sie ganz bestimmt nicht aufgehen kann. Ich habe alle Bewohner im dritten Stock befragt, und sie behaupten, nichts gesehen und nichts gehört zu haben.« Er schaute den Mann an. Der Mann erwiderte: »Ich kann Ihnen dazu auch nichts sagen. Ich selbst wohne im vierten Stock.« Und er fügte hinzu: »Eine mysteriöse Sache, nicht wahr? Wie kann das nur geschehen sein?« »Ich weiß nicht, wie es geschehen ist. Deshalb fahre ich im Lift auf und ab. Ich versuche, dahinterzukommen.« »Warum sahen eigentlich die Leute, die überfallen wurden, nicht, wer es war? Ich meine, nachdem sich die Lifttür geöffnet hatte?« Auden sagte: »Sie wurden immer von etwas abgelenkt.« »In dem Augenblick, als sich die Tür öffnete?« »Ja.« 40
»Und von was?« Auden sagte ungeduldig: »Sehen Sie, deshalb fahre ich ja seit Stunden mit dem Lift auf und ab. Um das herauszufinden.« »Wieso wissen Sie eigentlich, daß es im dritten Stock passiert?« »Weil die Leute sehen, wie drinnen die drei aufleuchtet, und weil sie die Glocke hören.« »Vielleicht hat der Räuber –« »Nein, die Kontakte sind inzwischen überprüft worden. Da hat keiner dran rumgefummelt.« »Wie bekommt dann aber der Räuber die Tür im dritten Stock auf?« »Ich fahre in diesem verdammten Lift seit Stunden auf und ab, um das herauszufinden.« »Oh. Ja, ich verstehe. Entschuldigen Sie.« Der Mann schaute auf die Anzeigetafel über der Tür. Es machte »ding«, und die Zahl 7 leuchtete auf. Der Mann sagte: »Jetzt muß ich aussteigen.« Und um dem Kriminalbeamten die Frage zu ersparen, fügte er hinzu: »Ich besuche meinen Bruder, der im siebten Stock wohnt, in Apartment dreiundsiebzig. Ich selbst wohne im Apartment zweiundvierzig im vierten Stock. – Ja, das ist wirklich etwas, worüber man nachdenken sollte, nicht wahr? Hoffentlich finden Sie eine Lösung, auch wenn es Sie einen ganzen Vormittag kostet.« »Vielen Dank.« Die Tür ging auf, und der Mann stieg aus, wartete dann, bis der Lift wieder nach unten fuhr. Der Mann in mittleren Jahren schüttelte bewundernd den Kopf. Sein Schwager war Verkehrspolizist, und er hatte ihm manchmal von den Ausreden erzählt, die sie benützten, wenn sie mal ein paar Stunden freimachen wollten. Aber gegenüber dem Märchen dieses Europäers waren die seines Schwagers harmlose Kindergartengeschichten. Er betrachtete die Anzeigetafel und sah, wie die Zahlen der einzelnen Stockwerke aufleuchteten. Die 4 blieb ein paar Sekunden lang hell, ging dann aus, als der Lift sich dem fünften Stock näherte. Der Mann in mittleren Jahren ging auf die Apartmenttür seines Bruders zu und schüttelte den Kopf. Und kam zu dem 41
Entschluß, daß jeder, der die Europäer phantasielos schalt, ein Idiot sein mußte. Die Lifttür öffnete sich im siebten Stock, gerade als der Mann in mittleren Jahren das Apartment seines Bruders betrat. Spencer zischte in sein Walkie-Talkie: »Ich lese!« Der USDollar hatte in den Monaten April und Mai 1946 eine interessante Fall-Parabel gezeigt, fast eine Spiegelung seiner Anstiegskurve in den Monaten September und Oktober 1937. »Nun, was wollen Sie?« Constable Yan saß draußen im Wagen. Er schüttelte sein Walkie-Talkie, um Kriminalinspektor Spencer wieder zu hören. Er sagte: »Sir? Mr. Spencer?« »Was? Was ist denn?« »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« »Ja, ja. Und draußen?« »Bestens. Bis jetzt kein Zeichen für –« »Gut. Ende.« » ... Sir? Mr. Spencer?« »Was ist denn?« Constable Yan fragte noch einmal: »Äh – ist alles in Ordnung drinnen bei Ihnen? Und fühlen Sie sich nicht einsam, Mr. Spencer?« »Was soll –« »Die zahlreichen Angestellten sind alle bei Ihnen drinnen, nicht wahr?« »Was?« »Die zahlreichen –« »Ich versuche, mich zu konzentrieren«, sagte Spencer. »Die zahlreichen –« »Soll das ein alberner Scherz sein?« brüllte Spencer in sein Mikrophon. »Das ist ein Code«, sagte Yan. »Ich habe einen Code benützt für den Fall, daß sie von Kriminellen überwältigt wurden und nicht sprechen können. Ihre Antwort vorhin ist mir etwas komisch vorgekommen, also habe ich –« »Sie hat deshalb komisch geklungen, weil ich versuche, mich zu konzentrieren«, sagte Spencer. »Ich kann es mir 42
nicht leisten, mein ganzes Leben lang ein stupider Polizeibeamter zu bleiben. Ich muß versuchen, mich zu entfalten.« Er fügte noch ein »Okay?« hinzu, dann ließ er eine Pause entstehen. Zuletzt sagte Spencer mit seiner vertrauten Stimme: »Tut mir leid, daß ich Sie angebrüllt habe. Aber ich versuche gerade, mich auf etwas ziemlich Schwieriges zu konzentrieren. Ist draußen alles ruhig?« »Alles.« »Gut. Fein. Vielen Dank. Sie waren sehr umsichtig. Sonst noch was?« fragte er freundlich. »Hören Sie«, erwiderte Yan, »wenn da drinnen irgend was nicht in Ordnung ist, könnte ich –« »Es ist aber alles in Ordnung! Übrigens, Sie können Mr. Feiffer sagen, das Seil um die Knöchel des Skeletts hat den Zweck, daß der Geist des Toten nicht zurückkommt.« Er fügte hinzu: »Wahrscheinlich ein alter Aberglaube der hiesigen Bauern.« Und dann, ein wenig herablassend: »Eine Bemerkung, die ich von einem Geschäftskollegen aufgeschnappt habe. Okay?« Constable Yan sagte: »Okay. Gut kombiniert.« »Wenn Sie wollen, können sie die Ehre dafür einstreichen – ich habe das nicht nötig.« Seine Stimme wurde von einem Rascheln übertönt, als wenn Papiere umgeblättert würden. »Gut«, sagte Constable Yan. Und: »Vielen Dank.« »Hmmm«, erwiderte der zukünftige Finanzmagnat des Fernen Ostens. »Nicht der Rede wert.« Er wandte sich wieder seiner Lektüre zu, während draußen vor P.P. Fans Wechselstube ein bewaffneter Krimineller den Entschluß faßte, Mr. Fans angehäuften Reichtum auf gewaltsamem Weg unter die Massen zu verteilen ... Sergeant Lew von der Hafenpolizei beugte sich über seine Gezeiten- und Strömungskarten der südchinesischen Küste. Er warf einen Blick auf Feiffer, nahm dann einen Kompaß und stellte ihn auf die gedruckte Skala der ersten Karte ein. »Ein hölzernes Floß?« Feiffer nickte. Lew verdrehte die Augen. Er war ein vierschrötiger, uniformierter Mann Anfang vierzig und sah aus wie einer der 43
Bootsleute aus der Gegend von Hongkong. »Wann dürfte es ausgesetzt worden sein?« »Es wurde um sieben Uhr morgens am Strand entdeckt –« Lew unterbrach: »Der Höhepunkt der Flut war um sechs Uhr einundzwanzig.« »Nach Auskunft des Labors hat sich das Floß vier bis fünf Stunden im Salzwasser befunden.« »Also können wir annehmen, daß es ungefähr um zwei Uhr morgens ausgesetzt worden ist.« »Ja.« Sergeant Lew zog seine Karten zu Rate und bohrte seinen Stechkompaß in die Mitte eines völlig leeren Flecks im südchinesischen Meer. Dann drehte er das Instrument und beschrieb mit seiner Spitze einen Bogen entlang einem Küstenstreifen der Hong-Bay-Gegend. Nun sagte er: »Es wurde hier irgendwo ausgesetzt.« »Hier in Hong Bay?« »Vermutlich in der Nähe einer jener Gärtnereien am Strand entlang der Hop-Pei-Bucht. Könnte das möglich sein?« »Höchstens dann, wenn es in diesen alten Gärtnereien der Brauch ist, die Fußknöchel der Toten zusammenzubinden, damit sie nicht zurückkommen und die Lebendigen verfolgen. Ist das der Fall?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sergeant Lew. »Ich stamme nicht aus einer Bauernfamilie. Meine Familie stammt von Fischern ab. Aber es würde mich nicht wundern, wenn das bei den Bauern der Brauch wäre.« Er fügte hinzu: »Offen gestanden, das Leben der Bauern hat mich nie sonderlich interessiert.« Und er fragte aus milder, rein akademischer Neugier über das Leben der geringeren Spezies: »Wo haben Sie das gehört?« »Einer meiner Constables hat mich darauf aufmerksam gemacht.« »Dann ist meine Theorie, daß das Floß von einer Gärtnerei stammt, gar nicht so schlecht.« »Stimmt.« Sergeant Lew zuckte mit den Schultern. Nein, das war nichts für einen Mann, der in der klaren, salzigen Luft der Fischgründe großgeworden war. Er sagte: »Ich habe gele44
gentlich gehört, daß Süßkartoffeln häufig in den New Territories und in Kaulun angebaut werden, höchst selten aber auf der Insel Hongkong selbst. Wenn die Kartoffeln also, die man auf dem Floß fand, von einem Bauernhof oder einer Gärtnerei hier in Hongkong stammen, dürfte es nicht so schwer sein, ihre Herkunft zu lokalisieren. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich mal mit jemandem von der Genossenschaft für Gemüse- und Gartenbau in der Tiger Road unterhalten. Vielleicht kann man ihnen dort weiterhelfen. Und auch das, was Sie über den ausgenommenen Fisch sagten, könnte dazupassen. Ein Priacanthus Niphonius ist ein minderwertiger Fisch, der im Volksmund ›Großes Japanauge‹ genannt wird. Nur ein Bauer, der nichts davon versteht, würde sich die Mühe machen, einen solchen Fisch auszunehmen oder gar zu essen.« Er lächelte. »Versuchen Sie es mal bei der Gemüsegenossenschaft, wenn Sie wissen wollen, von welchem Bauernhof die Kartoffeln stammen.« »Vielen Dank«, sagte Feiffer. Sergeant Lew lächelte. »War mir ein Vergnügen. Ich bin jederzeit gern bereit, Ihnen zu helfen.« Er machte eine undefinierbare Handbewegung. »Ein hübsches, angenehmes, ruhiges Stück Arbeit, wenn ich das sagen darf, Sir. Sicher haben Sie das auch mal verdient, zum Ausspannen.« »Was?« Sergeant Lew lächelte. »Diesen Fall mit dem Skelett, meine ich.« Wieder grinste er. »Also, ich hätte es wahrscheinlich wieder ins Wasser gestoßen, wenn ich das Floß gefunden hätte.« Er schaute Feiffer an, dann fragte er ein wenig ungeduldig: »Habe ich was Falsches gesagt?« Der chinesische Wachhabende an der Tür der Hafenpolizei fragte: »Chefinspektor Feiffer?« »Ja?« Der Wachhabende hielt ihm den Hörer eines Telefons hin. Es war O’Yee. Er sagte: »Jetzt muß ich Sie um einen Augenblick Geduld bitten. Hier drinnen ist es wie im Tollhaus. Bitte, bleiben Sie am Apparat.« Dann blätterte er in Papieren. »Ich habe einen Bericht des Zahntechnikers hier, der dieses Gebiß angefertigt hat. Es wurde in North Point hergestellt im 45
Jahr neunzehnhundertvierundfünfzig, und zwar für einen Amerikaner.« »Name?« »George Edward Putnam. Wissen Sie schon, wo das Floß herkommt?« »Wahrscheinlich aus der Gegend der Hop-Pei-Bucht, von einer der Gärtnereien, die Süßkartoffeln anbauen.« »Tatsächlich?« »Adresse des Amerikaners?« »Der Zahntechniker hat sie nicht. Der Amerikaner hat bar bezahlt. Aber es kann sich natürlich um einen hiesigen Einwohner handeln.« Feiffer sagte: »Wenn er ein hiesiger Einwohner war, haben wir eine Akte über ihn. Und wenn er ein Amerikaner war, haben die Amerikaner eine Akte über ihn.« »Aber nur, wenn er gedient hat oder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist. Wir haben hier schließlich keine russischen Zustände.« O’Yee wartete ein wenig, dann fügte er hinzu: »Okay, okay, ich erkundige mich.« »Gut.« »Und, Harry –« »Was?« O’Yee sagte leise: »Was, zum Teufel, hat ein Amerikaner namens George Edward Putnam in einer Süßkartoffelfarm in der Hop-Pei-Bucht gemacht? Warum mußte er zwanzig Jahre später von dort als Skelett mit eingeschlagenem Schädel in der Bay treiben?« Feiffer erwiderte ärgerlich: »Genau das ist es, was ich bei meinen Ermittlungen herauszufinden beabsichtige, nicht wahr?« O’Yee sagte: »Jawohl, Bwana. Entschuldigen Sie, Bwana. Vielen Dank, Bwana.« Dann setzte er noch hinzu: »Hm ...« Und legte auf.
46
Kapitel
4
Constable Yan faltete seine Zeitung mit der neurotischen Pedanterie eines Polizeibeamten, der an der Langweile einer Überwachung vom geparkten Wagen aus litt, zusammen und legte sie geradezu zwanghaft ordentlich neben sich auf den Beifahrersitz. Eine Ecke ragte noch einen Millimeter über den Ledereinsatz des Sitzpolsters hinaus, und er schob die Zeitung mit einer Bewegung seiner Fingerspitzen ganz gerade. Aber jetzt stimmte es mit einer der hinteren Ecken nicht mehr. Yan berührte die Ecke vorsichtig mit demselben Finger und korrigierte die Lage der Zeitung noch einmal. Schließlich warf er einen kritischen Blick auf das neuerliche Arrangement und stellte fest, daß es andersherum wesentlich besser aussehen würde. Zwischendurch schaute er immer wieder hinüber zum Laden des Geldwechslers und fragte sich, warum man bei der Polizei anonyme Hinweise so ernst nahm. Im Laden stand ein junger Chinese in Sportjacke und dunkler Hose. Der Bursche hatte eine Flugreisetasche ohne Luftlinienaufdruck bei sich. Constable Yan legte die Zeitung andersherum auf den Sitz und prüfte nachdenklich ihre Lage. Dann wandte er sich wieder dem Laden zu, um zu sehen, was der junge Chinese jetzt machte. Der Bursche langte in die Tasche und holte etwas heraus, das offensichtlich zu seinem Gespräch mit dem Geldwechsler gehörte. Constable Yan gähnte. Der junge Chinese hielt den Gegenstand in der Hand und betrachtete ihn. Es war eine abgesägte Flinte. Und der junge Chinese richtete sie genau auf P.P. Fan. Yan langte nach dem Walkie-Talkie und riß die Antenne heraus. Er sagte: »Sir –« Eine ärgerliche Stimme antwortete: »Pssst!« Es war Spencer, der sich noch immer zu konzentrieren schien. Yan sagte: »Aber da ist ein –« »Um Himmels willen, lassen Sie mich doch endlich in Ruhe! Ich versuche, mich zu konzentrieren!« Und Spencer endete mit einem »Psssst!« »Aber so hören Sie doch, da ist –«, begann Yan noch einmal, aber danach vernahm er nur noch das Knacken der Elektrostatik, weil der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende ab47
geschaltet hatte. Yan warf einen Blick auf den Räuber in der Wechselstube und dachte: Inspektor Spencer hat ihn längst gesehen und mir befohlen, mich still zu halten, damit der Räuber nichts merkt. Der Besitzer der Wechselstube packte Geldbündel in einen Sack. Er schaute so drein, als wüßte er nicht, daß der Räuber praktisch bereits geschnappt war. Yan dachte: Nein. Nein, das hat Spencer nicht mitgekriegt. Er dachte: Aber ich. Ich habe es mitgekriegt. Drinnen im Lagerraum dachte der sich konzentrierende Spencer gerade über den plötzlichen und zumindest oberflächlich kaum erklärbaren Sturz des Dollars gegenüber der italienischen Lira im Jahre 1955 nach. Er blätterte zurück zu den Zahlen von 1954, ließ dabei seinen Finger an den Spalten mit den wechselnden Ziffern entlanggleiten und dachte: Hm ... Dann nahm er sich noch einmal das Blatt für 1955 und anschließend das für 1956 vor. Der sich konzentrierende Spencer dachte: Hm, sehr seltsam ... P.P. Fan schaute den Räuber an. Der Räuber hob den Lauf der abgesägten Flinte ein wenig an, so daß P.P. Fan direkt in deren Mündung starrte. P.P. Fan schluckte und fragte dann: »Wieviel wollen Sie?« Der Räuber lächelte ihn an. P.P. Fan fragte ungläubig: »Alles?« Der Räuber nickte. P.P. Fan fragte: »Warum sagen Sie nichts?« Der Räuber lächelte wieder und deutete dann mit dem Abzugfinger auf den Lauf. Dann sagte er: »Psst.« Constabel Yan überquerte die Straße und zwängte sich vor P.P. Fans Wechselstube zwischen zwei parkenden Wagen hindurch. Der Räuber schaute von drinnen hinaus und sah einen anonymen Mann in einem hellen Mantel, der die Straße überquerte. Dann wandte er sich wieder P.P. Fan zu, wobei er die Flinte dichter an den Körper drückte, damit sie von draußen nicht zu sehen war. Constable Yan knöpfte den mittleren Knopf seines Mantels auf. Der Räuber warf wieder einen Blick hinaus auf die Straße, dann nickte er P.P. Fan zu. Das Nicken bedeutete, er solle 48
sich beeilen mit dem, was er mit den Geldsäcken anstellte. P.P. Fan beeilte sich. Zwischendurch warf er einen unglücklichen Blick auf die halboffene Tür, die in den Lagerraum führte. Yan wandte sich um und schaute hinüber zur anderen Straßenseite. Er dachte. Ich kann aber nicht mit dem Revolver in der Hand hineingehen, sonst fängt der Kerl da drinnen zu schießen an, sobald ich an der Tür bin. Er dachte: Wo, zum Teufel, ist eigentlich Inspektor Spencer? Und während er durch die fingierte Tasche seines Mantels hineingriff zum Gürtel, an dem sein Schlagstock hing, dachte er: Ich muß versuchen, den Kerl mit dem Knüppel niederzuschlagen. Dann ging er hinein in die Wechselstube. P.P. Fan blickte auf. Seine Augen wurden groß und rund. Die Augen des Räubers richteten sich, gemeinsam mit dem Lauf seiner abgesägten Flinte, auf die Tür. P.P. Fan fragte noch einmal verzweifelt: »Warum sagen Sie nichts?« Und der Räuber sah, daß der anonyme Mann seine Hand in die Manteltasche gesteckt hatte. Constable Yan sagte: »Polizei!« Zugleich riß er den Schlagstock heraus und holte damit aus wie mit einem Baseballschläger. Der Räuber hob den Lauf seiner Flinte an, während der Schlagstock durch die Luft sauste. Der Räuber sagte mit breitem, australischem Akzent: »Jääähsuhs Christus!«, als ihn der Schlagstock aus Ebenholz genau an der Schläfe traf, worauf er wie ein Ochse im Schlachthaus zu Boden ging. Yan wiederholte überflüssigerweise: »Polizei!« und trat einen Schritt vor, um die Flinte aufzuheben. Der Räuber hob den Kopf und stützte ihn mit dem abgewinkelten Arm. Er schaute erst auf die Flinte und dann auf den Stock, ehe er seinen Kopf spürte. Er spürte ihn, als eine Welle von heftigem Schmerz durch sein Gehirn schoß. Dann sagte der Räuber leise zu sich selbst: »O du großes Straußenei!« und ließ den Kopf wieder sinken. P.P. Fan erklärte: »Er wollte mein ganzes Geld.« Man konnte nicht ohne eine gewisse Berechtigung behaupten, daß dies ein schwarzer Tag in den Beziehungen zwischen Hongkong-Chinesen und australischen Chinesen war. Der Räuber schaute P.P. Fan nur an, dann stieß er ein lei49
ses, stöhnendes Geräusch aus, das an eine entgleiste Straßenbahn erinnerte. O’Yees Stimme am Telefon sagte: »Warten Sie einen Augenblick, ich muß erst den Ofen vom Telefon wegschieben.« Und in der Tat vernahm man ein entsprechendes Geräusch, danach ein erleichtertes »Pfff ...« Offenbar war es nun nicht mehr so unerträglich heiß in der Nähe des Telefons. O’Yee fragte: »Und warum hat er nichts gesagt?« »Weil er einen australischen Akzent hat. Ich nehme an, er fürchtete, sich damit zu verraten.« Spencer warf einen Blick auf Yan, der den halb betäubten Räuber über den Boden zur hinteren Wand der Wechselstube schleifte, und fügte hinzu: »Yan ist dabei, ihn festzunehmen.« O’Yee erwiderte mit seinem breiten Westküstenakzent: »Das hoffe ich sehr.« Und er dachte entweder an die Szene in der Wechselstube oder an den Kerosin-Ofen, als er sagte: »Immerhin, gute Arbeit.« Dann, nach einer kurzen Pause: »Ich nehme an, die beiden anderen lassen es daraufhin für heute sein. Die haben Glück gehabt.« Und rasch fügte er hinzu: »Er gehört doch zu der Bande, oder? Seine Beschreibung paßt doch, wie?« Spencer warf einen Blick auf P.P. Fan; ihm war gar nicht wohl in seiner Haut. P.P. Fan beobachtete Constable Yan, auf dessen Gesicht sich ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit breitmachte. Spencer sagte: »Nein, es ist keiner von der Taubstummen-Bande.« P.P. Fan schaute ihn mit entsetzten Augen an. Spencer sagte leise ins Telefon: »Ich muß gestehen, Christopher, daß ich ihn nicht bemerkt habe, als er hereinkam. Constable Yan ist ihm über die Straße gefolgt und hat ihn mit dem Schlagstock erledigt.« Nach einer kurzen Denkpause beeilte sich Spencer, hinzuzufügen: »Ich fürchte, ich selbst hatte – ich ... Ich hatte gar nichts damit zu tun.« Darauf erhielt er keine Antwort. Spencer sagte: »Es tut mir sehr leid.« Dann schaute er zu P.P. Fan hinüber. P.P. Fan schüttelte angewidert den Kopf und drehte sich dann um, um das Geld wieder aus dem Geldsack zu nehmen. »Das nächste Mal werde ich besser aufpas50
sen«, sagte Spencer ins Telefon. Danach entstand wieder eine längere Pause, ehe O’Yee sagte: »Wollen Sie damit andeuten, daß die Wechselstube ausgeraubt worden wäre, wenn Constable Yan nichts unternommen hätte?« »Das nächste Mal erwische ich sie bestimmt«, antwortete Spencer treuherzig. O’Yee sagte nachdenklich: »Yan macht seine Arbeit recht gut, wenn man das alles bedenkt. Erst dieser Tip mit dem Strick um die Füße des Skeletts, und jetzt ... Er macht sich wirklich gut.« »Das mit dem Strick hat er von mir«, erklärte Spencer. »Ach – wie das?« »Ja, das mit dem Strick um die Knöchel war von mir. Ich habe Yan nur gesagt, daß er es für Feiffer durchgeben soll. Aber es war meine Idee.« Und er fügte erläuternd hinzu: »Ich habe Yan gesagt, er kann das Lob dafür einheimsen, aber –« »Und genau das hat er getan«, sagte O’Yee. »Wollen Sie Beschwerde einlegen?« Spencer warf einen Blick auf P.P. Fan. Aber P.P. Fan dachte nicht daran, Spencer seinerseits auch nur eines Blickes zu würdigen. »Nein«, sagte Spencer. Danach entstand wieder eine Pause am anderen Ende der Leitung. Schließlich sagte O’Yee: »Hören Sie, Bill, lassen Sie sich von mir einen guten Rat geben. Es ist unklug, solche Tips zu verschenken, solange man nicht in einer Position ist, in welcher man sich das leisten kann. Wissen Sie, ich an Ihrer Stelle würde erst mal warten, bis ich selbst eine entscheidende Position eingenommen habe, ehe ich anderen Gutes tue. Warten Sie, bis Sie Superintendent sind, oder was weiß ich.« »Und nicht mehr nur ein blöder Bulle«, erwiderte Spencer kleinlaut. »Das haben Sie gesagt. Aber es stimmt genau.« Dann fügte O’Yee tröstend hinzu: »Eines Tages erreichen Sie das schon noch. Aber warten Sie gefälligst mit Ihren Almosen, bis es so weit ist.« P.P. Fan schaute jetzt überraschenderweise Spencer an. Dann fragte er wenig begeistert: »Ja, werden Sie denn weitermachen?« 51
Spencer nickte. »Verstehen Sie, was ich meine?« fragte O’Yee am Telefon. »Ich bleibe hier für den Fall, daß die wirkliche Bande doch noch auftaucht.« »Fein.« »Ich bin nur ein kleiner Priester«, sagte Spencer unglücklich. »Wie bitte?« fragte O’Yee. »Priester müssen warten, bis sie Papst sind, ehe sie es sich leisten können, Gutes zu tun. Genau wie Polizeibeamte.« Und: »Man muß warten, bis man genügend Macht und Einfluß besitzt.« »Aha«, sagte O’Yee. »Nun gut, denken Sie darüber nach.« Er wartete eine Weile, dann sagte er: »Ich muß jetzt Schluß machen.« Nach einem Geräusch, das so klang, als hätte man einen Kerosinofen über den Boden geschoben, legte er auf. Spencer sagte fröhlich zu P.P. Fan: »Nun, was sagen Sie jetzt? Einen hätten wir schon mal erwischt.« P.P. Fan antwortete nur: »Pah!« »Ja, nun ...« Spencer war nicht mehr ganz so fröhlich. Danach öffnete er die Tür zum Lagerraum und ging hinein. P.P. Fan schüttelte den Kopf, dann rief er zum Lagerraum hinüber: »Lassen Sie von nun an gefälligst meine Papiere dort, wo sie sind!« Und er hob seine Stimme und brüllte zur Tür hinüber: »Vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« Das war aber nun wirklich das letzte Mal, daß er auf diese alberne Geschichte mit dem Verdienst für das zukünftige Leben hereinfiel. Danach begann er sein Geld zu zählen. Die Glocke neben der Anzeigetafel machte »ding!« und läutete die zweite Runde im Kampf zwischen Auden und dem orientalischen Lift ein. Auden sagte zum Lift: »Ich steige jetzt aus. Meinetwegen kannst du hinauf- und hinunterfahren, so lange du Lust hast. Ich gehe über die Treppe in den dritten Stock.« Er dachte: Gute, alte, verläßliche Treppe. »Und ich werde feststellen, warum du im dritten Stock die Tür nicht aufmachst, klar? Dann steige ich wieder ein und werde herausfinden, wie du es 52
fertigbringst, daß die Leute im dritten Stock überfallen werden, obwohl du die Tür nicht öffnest.« Er stieg aus und wartete, bis die Tür sich schloß und der Lift weiter nach oben fuhr. Danach ging er zur Treppe. Es war kalt im Lagerraum; kalt und dunkel und feucht, wie in einem Verlies im Tower von London oder wie in der kleinsten, unmenschlichsten, barbarischsten Zelle im Château d’If. Ja, dieser Lagerraum war wie das mieseste, stinkendste Loch in Kalkutta, wie ein Zimmer im Dracula-Schloß in Transsylvanien, wenn sich der Mond hinter Wolken verbirgt und alle Türen verriegelt sind. Es war die Vorhölle, das Fegefeuer. Der Lagerraum war gräßlich, ekelerregend, ein Raum, in dem man seine Sünden abbüßte. Und Spencer war glücklich. Er schaute hinaus in P.P. Fans Wechselstube mit der festen und unerschütterlichen Überzeugung, daß er es genau so und nicht anders verdient hatte. Das Telefon neben dem Heizofen klingelte. O’Yee schob den Ofen zur Seite und nahm den Hörer ab. Eine englische Stimme fragte herablassend: »Mit wem spreche ich?« »Mit Kriminalinspektor O’Yee.« Aus dem Hörer vernahm er ein metallisches Klappern. Es klang so, wie wenn ein Chirurg ein Tablett mit sterilisierten Instrumenten zu Boden fallen läßt. Der Anrufer sagte zu demjenigen, der das Tablett fallengelassen hatte: »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« Dann, zu O’Yee: »Ist Chefinspektor Feiffer zu sprechen?« »Nein. Wer sind Sie denn?« Wieder dieses metallische Klappern, als ob derjenige, dem das Tablett zuerst schon entfallen war, es beim Hinausgehen noch einmal auf den Boden geworfen hätte. Dann fragte die verärgerte, hochnäsige Stimme: »Wie heißt er eigentlich mit Vornamen?« »Wer – Mr. Feiffer?« »Ja.« 53
»Harry«, sagte O’Yee. »Warum? Mit wem spreche ich eigentlich?« »Hier spricht Dawson Baume von der Leichenhalle. Arbeitet Chefinspektor Feiffer gerade an dieser Skelett-Affäre?« »Er ist momentan in dieser Sache unterwegs, ja.« »Aha.« O’Yee wartete. »Aha«, wiederholte die Stimme. »Er ist also in dieser Sache unterwegs.« »Jawohl.« »Aha. Harry, sagten Sie?« »Ja.« »Gut«, sagte die Stimme. Dann fügte sie freundlich hinzu: »Sie brauchen ihm nicht zu sagen, daß ich angerufen habe.« Kapitel
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Der Generalsekretär der Genossenschaft für Gemüse- und Gartenbau in Hong Bay war ein glatzköpfiger, fünfzigjähriger Chinese mit dem ziemlich anonymen Namen Lee. Mr. Lees Büro befand sich im dritten Stock des Genossenschaftsgebäudes in der Tiger Road und war nur über eine enge Wendeltreppe zu erreichen. Diese Wendeltreppe hatte einen zusätzlichen Absatz zwischen dem zweiten und den oberen Stockwerken. An der Holzwand dieses Treppenabsatzes war eine Art Regal befestigt, und von dort aus ragte eine hölzerne Plattform über das Geländer, die Feiffer an ein Kanonenpodest erinnerte. Wenn sie tatsächlich einmal diesem Zweck gedient hatte, so war die Kanone inzwischen entfernt worden. Feiffer ging weiter nach oben und klopfte dann an die Tür aus dickem Eichenholz, hinter der sich Mr. Lees Büro verbarg. Ohne zu warten, trat Feiffer ein. Mr. Lee, der hinter einem schweren Mahagonischreibtisch saß, nickte ihm zu. Auf beiden Seiten des Schreibtisches befanden sich kleine, holzgeschnitzte Masken, die so aussahen wie die Verzierungen an einem von James Bonds LuxusSportwagen: raffinierte Dinger, die man durch Knopfdruck 54
in die Mündungen von Maschinengewehren verwandeln konnte. Feiffer schloß die Tür. Das verursachte ein merkwürdiges, metallisch klickendes Geräusch. Mr. Lee sagte auf Englisch: »Sie sind Chefinspektor Feiffer?« Feiffer nickte. Er warf einen Blick zurück auf die offenbar mit sieben Schlössern versehene Tür und auf das Fenster neben dem Schreibtisch, das ebenso offenbar Zugang zu einem Fluchtweg über die Dächer gewährte. Dann sagte er: »Und Sie müssen Mr. Lee sein?« Mr. Lee nickte. »Ich nehme an, der Mann am Empfang hat Ihnen bereits gesagt, daß ich hergekommen bin, um Ihnen im Rahmen einer Ermittlung ein paar Fragen zu stellen.« Wieder nickte Mr. Lee. An seiner rechten Wange zeigte sich eine Verfärbung, die wie eine Brandnarbe aussah. Mr. Lee wandte Feiffer diese Seite seines Gesichts zu. Er sagte, noch immer auf Englisch: »Ich nehme an, die meisten der Leute, die Sie verhören, behaupten, daß sie keine Ahnung haben, weshalb die Polizei ihnen Fragen stellen will –« Feiffer wollte etwas erwidern, erhielt aber von Mr. Lee, der offenbar mit seiner Vorrede noch nicht am Ende war, keine Gelegenheit dazu. »Ich möchte den Tag erleben, an dem die Polizei nicht die Absicht hat, sich über irgendwelche Dinge mit mir zu unterhalten.« Er berührte die Brandnarbe mit seinen kurzen Fingern. »Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß die Polizei in dieser Kronkolonie nichts weiter ist als ein Werkzeug der Hochfinanz, und daß sie nichts lieber tut, als unschuldige Menschen zu belästigen und zu verfolgen.« Dann fügte er eisig hinzu: »Was Sie auch von mir wissen wollen, und sei es noch so trivial und unwichtig: Ich bedaure, Ihnen dazu keinerlei Auskunft geben zu können.« Feiffer warf einen Blick auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »Darf ich mich wenigstens setzen?« »Wenn Sie wollen, dann setzen Sie sich.« Mr. Lee wartete einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Wenn ich es Ihnen nicht erlauben würde, würden Sie das doch sofort als Widerstand gegen die Polizeigewalt auslegen.« Und er fügte mit bittersüßem Sarkasmus hinzu: »Aber bitte, setzen Sie sich doch.« 55
Feiffer setzte sich. Dann erklärte er freundlich: »Ich möchte nichts weiter von Ihnen als eine Auskunft über eines Ihrer Genossenschaftsmitglieder.« Mr. Lee berührte wieder die Brandnarbe mit den Fingern. Er lächelte. »Was für ein Mitglied? Tut mir leid, von dem habe ich nie etwas gehört.« »Über das Mitglied, das hier in Hong Bay Süßkartoffeln anbaut. Es muß eine Gärtnerei oder einen Bauernhof besitzen, irgendwo am Strand bei der Hop-Pei-Bucht.« »Niemand baut hier in Hongkong Süßkartoffeln an. Die Erzeuger von Süßkartoffeln befinden sich alle auf den New Territories.« Er schickte sich an, sich zu erheben, während er fortfuhr: »Na schön, das wäre hiermit geklärt. Tut mir sehr leid, daß ich Sie nicht bitten kann, zu bleiben, aber –« »Setzen Sie sich!« zischte ihn Feiffer an. Und Mr. Lee setzte sich wieder. Er langte nach einem flachen Zigarettenetui, das auf dem Schreibtisch lag, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie sich mit einem großen Tischfeuerzeug aus Messing an. Dann schaute er Feiffer an und deutete mit seiner Zigarette auf ihn. »Ich sehe, daß Sie sich fragen, was das für ein Mal an meiner Wange ist«, sagte er ruhig. »Wollen Sie wissen, was es ist, und wobei ich es bekommen habe?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, erklärte er: »Es ist eine Brandnarbe. Und ich habe sie hier in Hongkong bekommen, bei den Aufständen von neunzehnhundertsechsundsechzig.« Er fügte mit Nachdruck hinzu: »Ich empfinde keine Sympathie für die Bluthunde des Kapitalismus.« Und um es noch deutlicher zu machen: »Damit meine ich die Polizei.« »Nachdem sich die Aufstände von neunzehnhundertsechsundsechzig als Konfrontation zwischen den Kommunisten und der Polizei erwiesen, und nachdem die Polizei in ihrem Arsenal nicht über Molotow-Cocktails verfügt, wundert es mich, daß Sie für dieses Brandmal nicht die Kommunisten verantwortlich machen«, erklärte Feiffer. »Oder ist diese Frage schon zu bluthund-kapitalistisch?« »Es ist vollkommen unerheblich, wer den Molotow-Cocktail geworfen hat; für mich zählt nur der Grund, weshalb er geworfen wurde«, sagte Mr. Lee. »Die Polizei war wie immer 56
dafür, den Status quo zu erhalten. Sie ignorierte grundsätzlich die Wünsche der arbeitenden Masse, die für ihre Rechte und ihre Freiheit demonstrierte. Die Polizei –« »Vielleicht hatte die Polizei zuviel damit zu tun, die Menschenrechte zu schützen, welche die Demonstranten als ihre eigenen Rechte für sich in Anspruch nehmen«, erwiderte Feiffer. »Es hat eine große Zahl von Verletzten gegeben – auch unter den Polizeibeamten.« »Das ist nun einmal so«, sagte Mr. Lee. »Bei jeder Konfrontation diesen Ausmaßes gibt es Verletzte.« »Und Sie waren zufällig einer davon.« Mr. Lee fand es geraten, das Thema zu wechseln. »Ich sage Ihnen nichts über unsere Erzeuger von Garten- und Feldprodukten, weil ich nichts darüber weiß.« »Ich sollte Sie vielleicht daran erinnern, daß das Zurückhalten von Informationen –« »Ich habe keine Informationen für Sie. Also kann ich sie auch nicht zurückhalten.« »Die Information, die ich erbitte, betrifft eines der Mitglieder der Genossenschaft, die Sie vertreten.« »In diesem Fall bestünde mein Verbrechen darin, daß ich ein höchst untüchtiger Mensch bin. Ich sollte mich mehr um meine Mitglieder kümmern und über jeden von Ihnen eine Karteikarte im Kopf haben. Aber das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Ich bekenne, daß ich ein untüchtiger, dummer Mensch bin.« Und dann erklärte er gleichgültig: »Da Sie mir noch nicht einmal den Namen des Mannes genannt haben, kann man von mir wohl auch nicht verlangen, zu wissen, wer er ist.« »Ich kenne seinen Namen nicht.« »Aha. Sie wollen also von mir eine Liste der Genossenschaftsmitglieder, die bestimmte Produkte anbauen.« »Ja.« Mr. Lee nickte. »Genau wie die Briten in Malaysia Listen verlangten, damals, als dort die Befreiungsarmee tätig war. Und das nur zu dem Zweck –« »Ich will diese Liste haben, um einen von den Leuten herauszufinden.« »– zu dem Zweck, eine Liste aller Nahrungsmittelprodu57
zenten zu erhalten, für den Fall, daß es wieder einmal einen Arbeiteraufstand gibt. Sie können dann die von diesen Produzenten hergestellten Nahrungsmittel vernichten oder zurückhalten, um damit einen Druck auf die Chinesen in der Kronkolonie auszuüben, nicht wahr?« »Wenn es Sie interessiert: Davon kann nicht die Rede sein«, erwiderte Feiffer. »Ich versuche nur, herauszufinden, wer von den in Frage kommenden Leuten einen Leichnam ausgegraben und auf einem Floß in der Bay ausgesetzt hat.« Mr. Lee stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich möchte wissen, warum die Polizei so scharf durchgreift, wenn es sich um Verbrechen gegen Europäer handelt, während sie sich höchst uninteressiert zeigt, sobald es um Verbrechen gegen Chinesen geht.« Er fuhr fort: »Sie wissen schon: Diese ›Gelben‹, die ›Chinks‹ wie Sie sie nennen –, warum sind die eigentlich nicht so wichtig? Da hat es zum Beispiel ein paar Überfälle in einem Apartmenthaus an der Hanford Road gegeben, bei dem nur Chinesen zu Schaden gekommen sind.« Er sagte: »Ich möchte wissen, warum Sie hier Ihre Zeit verschwenden mit Fragen nach Süßkartoffeln im Zusammenhang mit einer höchst unwahrscheinlichen Geschichte eines alten Leichnams und Sie sich statt dessen lieber um diese Überfälle im Apartmenthaus kümmern sollten.« Feiffer sagte: »Diese Angelegenheit wird momentan von einem meiner Leute untersucht.« »Und wer hat den Kerl entdeckt, der die Leute überfällt, und hat ihn festgenommen?« »Mein Beamter bemüht sich zur Zeit, genau dies zu tun.« Mr. Lee nickte. »Eine höchst sonderbare Geschichte mit einem Lift, der in Stockwerken aufgeht, wo er gar nicht aufgehen kann – habe ich recht?« »So ungefähr.« »Sie scheinen nicht sicher zu sein.« »Ich will den Fall nicht mit Ihnen besprechen.« »Aha.« Feiffer sagte: »Ich hätte gedacht, daß Sie eigentlich mehr auf der Seite des Räubers stehen – immerhin handelt es sich bei den Beraubten um Leute, die sehr vermögend sind.« »Aber einer von ihnen – zumindest einer! – ist ein guter So58
zialist. Sein Reichtum stammt aus harter Arbeit.« Dann sagte Mr. Lee: »Und so reich sind sie auch wieder nicht.« Und fügte hinzu: »Zufällig habe ich einen Vetter, der in dem Haus wohnt.« »Dann wird Ihnen Ihr Vetter sicher auch sagen können, daß in der Sache bereits etwas unternommen wird.« »Was denn?« »Fragen Sie doch Ihren Vetter.« »Ich frage Sie!« »Und ich werde es Ihnen nicht sagen. – Der Mann, mit dem ich mich unterhalten will, betreibt eine Gärtnerei oder einen Bauernhof in der Nähe des Strandes und baut dort Süßkartoffeln an.« Er fragte: »Könnten Sie nicht doch Ihr Gehirn ein wenig anstrengen und mir sagen, um wen es sich handelt?« »Warum soll es ausgerechnet ein Mitglied unserer Genossenschaft sein?« »Weil das Skelett auf dem Floß mit zusammengebundenen Knöcheln aufgefunden wurde, sowie mit einer Opfergabe von Süßkartoffeln. Ich weiß, daß das mit dem Binden der Füße ein Brauch ist, der in erster Linie von den abergläubischen Bauern ausgeübt wird. Und Bauern, die mit Süßkartoffeln um sich werfen, haben diese bestimmt nicht auf dem Gemüsemarkt gekauft, sondern selbst angebaut.« »Sehen Sie«, sagte Mr. Lee, »gerade weil sie abergläubisch und ungebildet sind, brauchen Sie die Hilfe derjenigen, welche sie gegenüber dem Kapitalismus vertreten. Zum Beispiel meine Hilfe.« Er ließ eine Pause entstehen, dann fragte er: »Wann erwarten Sie eine Verhaftung in Sachen dieser Überfälle in der Hanford Road?« Und fuhr ohne Pause fort: »Ich kann Sie nicht leiden, Mr. Feiffer, und ich glaube Ihnen kein Wort.« Danach fügte er höflich hinzu: »Das kommt daher, weil ich von Jugend an entsprechende Erfahrungen sammeln konnte. Ich glaube nicht, daß ihr von der Polizei irgend etwas für die gewöhnlichen Chinesen tut, und ich bin sicher, daß ihr das auch gar nicht wollt. Ich glaube Ihnen kein Wort von der Geschichte mit dem Skelett und den Süßkartoffeln, und ich bin sicher, daß Sie in der Sache des Apartments keinen Finger rühren. Ich glaube Ihnen nicht, daß Sie einen Ihrer Leute damit beauftragt haben, und wenn, dann höchstens einen, den 59
Sie leicht entbehren können und der nicht zu der leisesten Hoffnung berechtigt, er könnte irgend etwas herausfinden. Ich weiß auch, daß Sie mich nicht ausstehen können, daher frage ich mich, warum Sie noch hier sind, statt sich bei den Gärtnern von Hong Bay zu erkundigen, wer von ihnen Süßkartoffeln anbaut und Skelette auf Flößen in die Bucht stößt.« »Weil die mir ohne Ihre Anweisung nichts sagen würden.« »Richtig. Und warum? Weil ich ihr –« »Weil Sie den Handel kontrollieren, und weil jeder, der mir gegen Ihren Rat hilft, seine Ware danach nicht mehr verkaufen kann.« »Was bin ich doch für ein schlimmer Mann!« sagte jetzt Mr. Lee. »Dabei versuche ich nur, den Menschen zu helfen. Gehen Sie, helfen Sie Ihnen genau so wie ich, und ich bin vielleicht bereit, auch Ihnen zu helfen.« Dann fragte er: »Was heißt da Skelett? Was heißt Süßkartoffeln? Ich frage Sie: Was ist mit dem Räuber in dem Apartmenthaus? Der ist immerhin real und keine von Ihren Märchenfiguren.« Feiffer wartete einen Moment, dann sagte er langsam: »Ich verstehe. Einige von Ihren Leuten – zum Beispiel Ihr Vetter – wohnen in dem Apartmenthaus, und sie haben sich bei Ihnen beklagt. Ist das richtig?« Mr. Lee gab keine Antwort. »Und Sie stellen fest, daß Sie selbst nichts dagegen unternehmen können –« »Aber ich unternehme sehr wohl etwas. Ich unterhalte mich mit Ihnen darüber. Ich beschwere mich bei Ihnen. Und ich versuche, von Ihnen Informationen zu erhalten.« »Mit ebenso wenig Erfolg, wie ich es bei Ihnen versuche«, erklärte Feiffer. »Und Sie denken nicht daran, mir etwas zu sagen, wenn Sie dafür nicht auch von mir etwas erfahren. Habe ich recht? Sie könnten sich notfalls damit abfinden, den faschistischen Bullen zu helfen – aber nur, wenn auch Sie etwas davon haben. Zum Beispiel eine Auskunft über den Räuber im Apartmenthaus. Nun, das kann ich Ihnen nicht verdenken. Ist das die Situation – ja oder nein?« Mr. Lee lächelte. Er lehnte sich ein wenig zurück und schaute auf etwas hinter seinem Schreibtisch. – Auf die Knöpfe, mit denen man die Maschinengewehre in Tätigkeit setzt?, 60
fragte sich Feiffer. »Aber Sie haben den Räuber ja nicht, oder?« »Wir werden ihn erwischen.« »Nun gut.« Mr. Lee beugte sich vor und tippte seine Zigarette sorgfältig am Rand des gläsernen Aschenbechers ab. »In dem Augenblick, wo Sie ihn erwischt haben, erfahren Sie den Namen und die Adresse des Bauern, der in Hong Bay Süßkartoffeln anbaut.« »Gibt es denn nur einen?« »Ja, es gibt nur einen.« Wieder lächelte Mr. Lee. »Aber es wäre schwierig für Sie, Mr. Feiffer, diesen einen ohne meine Hilfe herauszufinden. Eher geht ein Dolch durch ein Bullenauge ...« »Die Redensart lautet: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr ...« »Ach, wirklich?« sagte Mr. Lee kalt. »Da wäre ich mir nicht so sicher, an Ihrer Stelle ...« Die Lifttür im dritten Stock war zugenagelt. Außerdem hatte man fünf Zentimeter dicke Bohlen darübergeschraubt und diese an beiden Seiten noch zusätzlich einzementiert. Auden überprüfte die Bohlen. Sie waren so stark, daß sie das Haus überstehen würden. Er drückte mit dem Fuß gegen die Tür, so fest er konnte. Sie gab nicht nach. Noch einmal überprüfte er die Bohlen. Festgemauert. Er schaute sich die Schrauben an. Sie waren tief ins Holz eingeschraubt und danach noch mit einem klaren Kleber versiegelt. Er kratzte mit dem Fingernagel an einer der Schrauben, um festzustellen, ob es sich um echte Schrauben handelte. Ja, es waren echte Schrauben. Dann zerrte er mit beiden Händen an einer der Bohlen, um festzustellen, ob sie vielleicht nur eingehängt waren. Aber sie waren nicht eingehängt. Sie waren festzementiert. Dann überprüfte er noch, ob jemand an der Tür, an den Bohlen oder den Schrauben herumgefummelt hatte. Doch auch dafür gab es nicht das geringste Anzeichen. Schließlich betrachtete er das Holz der Bohlen. Massive Eiche. Und die Türen hinter den Bohlen: starker, doppelter Stahl. »Hm ...« Er schraubte den Deckel des Rufknopfes auf der rechten Seite neben der Tür ab. Dahinter befand sich kein Mechanis61
mus mehr, sondern nur eine leere Höhlung. Sogar die abgeschnittenen Drähte hatte man entfernt, die Rohrleitung zuzementiert. Schließlich wandte er sich der Stockwerksanzeige über der Tür zu. Sie war mit einem rechteckigen Sicherheits-Maschendraht befestigt, den man wie die Bohlen an allen vier Ecken festgeschraubt hatte. Er dachte: Wenn jemand diese Tür aufbringt, muß er ein Zauberer sein. Danach ließ er seine Hand über die Wände auf beiden Seiten der versiegelten Tür gleiten, für den Fall, daß sie hohl waren. Aber sie waren nicht hohl. Nicht weit von der Lifttür entfernt befand sich ein öffentliches Telefon. Er versuchte, es aus der Wand zu reißen. Es hielt. Auf der anderen Seite stand eine Blumenschale aus Beton. Auden hob sie an, um zu sehen, ob etwas darunter verborgen war. Nichts als der Zementfußboden und etwas Schmutz. Dann schaute er den Korridor entlang auf die Reihe von Apartmenttüren im dritten Stock. Sie waren alle gleich. Das erste Apartment gegenüber dem Lift hatte zusätzlich zwei kleine Fenster zu beiden Seiten der Tür, aber das war das einzige, was diese Wohnung äußerlich von den übrigen unterschied. Die Fenster waren mit Vorhängen versehen. Auden trampelte auf dem Boden herum, um festzustellen, ob es vielleicht eine Falltür gab. Aber es gab keine Falltür. Danach warf er noch einen Blick auf die Lifttür und auf die Stockwerksanzeige. Der Lift befand sich momentan im vierten Stock und fuhr herunter in den dritten. Er wartete. Jetzt hielt der Lift im dritten Stock, machte »klick! klick! klick«, wie gehabt, und es gelang ihm nicht, die zugenagelte, mit Bohlen verrammelte, zugeschraubte und zugeklebte Tür zu öffnen. Auden rieb sich das Gesicht. Er schaute zu, wie auf der Anzeige die 2 aufleuchtete, dann die 1. Nach kurzem Aufenthalt im Parterre trat der Lift die Fahrt nach oben an. »Und wie schafft es der Kerl dann?« fragte Auden laut. »Und was lenkt das Opfer ab, bevor sich die Tür öffnet?« Er dachte: Wenn das Opfer nicht abgelenkt würde, müßte es den Räuber sehen, der hier auf ihn wartet. Noch einmal über62
prüfte er die Tür. Sie war versiegelt wie das Grab der ägyptischen Könige. Er dachte: Der Räuber muß genauso hier gestanden haben wie ich, um anhand der Stockwerksanzeige feststellen zu können, daß der Lift von oben kommt, wo die Reichen wohnen. Und er sagte laut: »Wie, zum Teufel, hat er es bloß geschafft?« Er seufzte. Der Lift hielt im dritten Stock und Auden hörte das dreimalige Klicken, den erfolglosen Versuch des Lifts, die Tür zu öffnen. Auden schlug gegen die Tür und sagte: »Verdammtes Scheißding!« Und mit gehörigem Punkterückstand begab er sich nach oben in den vierten Stock, um zur dritten Runde gegen den Lift anzutreten. Mr. Lee stapelte seine kleinen Finger unter dem Kinn. Er lächelte und schaute Feiffer an. Lächelte und wartete. Im vierten Stock stand ein Mann nicht weit vom Lift entfernt und goß die Pflanzen in der Blumenschale. Zwischendurch paffte er an seiner Zigarre. Er blickte auf, als Auden die Nottreppe heraufkam und sich ihm näherte. Dann stellte er seine rote Plastikgießkanne auf den Boden und paffte an seiner Zigarre. Schließlich sagte er zu Auden in gutem Englisch: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich kein Englisch spreche.« Danach senkte er den Blick auf seine Pflanzen – vier Stück in vier Betonschalen – und zuckte mit den Schultern. Auden fragte auf Kantonesisch: »Wer sind Sie?« Der Mann nahm seine Gießkanne wieder in die Hand. Über dem Schnabel steckte ein kurzes Stück Schlauch. Er steckte es weiter über den Schnabel, damit es sich nicht löste. Dann sagte er freundlich: »Ich bin Ong, der Gärtner. Es sei denn, Sie wollen einen anderen sprechen.« Er paffte an seiner Zigarre. »In diesem Fall bin ich Ong, der Zigarrenraucher.« Er sagte: »Ong, der Gärtner, ist ein sehr dummer Mensch; der Zigarrenraucher dagegen ist, wie alle Zigarrenraucher, langsam, nachdenklich und ein Mann mit einer eigenen Meinung.« »Ha«, sagte Auden. 63
»Aber wenn es etwas mit den Wohnungen zu tun hat – in diesem Fall bin ich Ong, der Mieter vom vierten Stock. Und weil wir schon davon sprechen, wer sind eigentlich Sie?« Auden sagte: »Ich bin Auden, der Polizeibeamte.« »Oh«, erwiderte Ong. Er nahm seine Gießkanne und fuhr fort, die Pflanzen zu gießen. »Ich nehme an«, sagte er zu den Pflanzen, »Sie sind hier wegen der Überfälle im dritten Stock. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, und außerdem ist dies ja nicht der dritte Stock. Wenn ich Sie wäre, würde ich die Leute im dritten Stock verhören, nicht die im vierten. Ich weise Sie nur allzu gern darauf hin, daß die Leute vom vierten Stock nichts mit denen vom dritten Stock zu tun haben wollen, während die Leute aus dem fünften Stock nichts mit denen vom vierten Stock zu tun haben wollen. So ist die Welt – und wenn man nicht im zweiten oder dritten Stock wohnt, wundert es einen kein bißchen, daß es im dritten Stock von Kriminellen nur so wimmelt.« Dann sagte er: »Ich bin aber, abgesehen von alledem, auch noch Ong, der Pünktliche. Und Ong, der Pünktliche, geht jetzt in sein Apartment, wo er noch etwas zu tun hat.« »Was ist das für ein Apartment?« »Das, vor dem Sie stehen.« Ong deutete auf die erste Tür nach dem Lift. Er nahm die Gießkanne, betrachtete seine Zigarre, ging zurück in sein Apartment und schloß die Tür. Auf der Anzeigetafel oberhalb der Lifttür leuchtete die 2 auf, die Glocke machte »ding!«, und die Tür öffnete sich. Draußen stand niemand. Dann glitt die Tür wieder zu. Auden nickte. Typisch. Hier gibt es nur Irre, dachte Auden. Der Lift fuhr in den ersten Stock, wo niemand auf ihn wartete, und dann ins Parterre. Die Lifttür glitt auf. Der Portier hinter den Glastüren warf einen Blick auf die Lifttür. Dieser Portier war ein riesiger Inder, ein ehemaliger Subadhar-Major mit einer schwarzen Augenklappe über dem einen Auge, drei Orden an der Brust und einer Flinte in einer Halterung unter seinem Schreibtisch. Jetzt merkte er, daß Auden im Lift stand, und rief quer durch das Foyer zu ihm hinüber: »Sir ...!« Auden kam mit würdevollen Schritten aus dem Lift. Er 64
dachte: So ist es schon besser. Dann: Den hab’ ich ganz vergessen. Und er sagte in seinem besten Offiziersenglisch: »Subadhar-Major –« Der Subadhar-Major brüllte zurück: »Sir!« Auden bemerkte, daß einer der Orden aus dem indischen Unabhängigkeitskampf stammte. Na schön, niemand war vollkommen. Dann betrachtete er den Subadhar-Major genauer. Der Subadhar-Major war mindestens siebzig. Wie die meisten Siebzigjährigen sah er aus, als ob er vor dem Frühstück fünfundzwanzig Meilen laufen würde, um sich danach noch mit hundert Liegestützen für die anstrengende Tagesarbeit fit zu machen. Auden dachte: Es ist nur klug, wenn man sich mit den hiesigen Einwohnern gleich im richtigen Tonfall unterhält. Immerhin werden wir gerade deshalb von ihnen respektiert. Also brüllte er den Subadhar-Major an: »Hinsetzen!« Und der Subadhar-Major setzte sich hin. Er schaute Auden mit seinem einen Auge an. Auden achtete nicht auf das Auge. Wenn man es mit der dummdreisten Art der Einheimischen zu tun bekam, war es das beste, gar nicht darauf einzugehen. Das wußte schließlich jeder von den Weißen. Daher brüllte Auden den SubadharMajor an: »Also gut! Und wie viele Unbefugte haben Sie in der letzten Zeit in dem Apartmenthaus ein- und ausgehen lassen? Ich weiß genau, daß Sie hinter der ganzen Affäre stekken, also raus mit der Sprache!« Und er setzte noch nach: »He, was ist? Na los, rücken Sie schon raus damit, Mann!« Danach entstand eine lange Pause. Eine Pause, in welcher der Subadhar-Major anzuschwellen begann. Schließlich sagte der Subadhar-Major:» Was?« »Sie haben mich genau verstanden.« Gott, war das ein riesiger Kerl! Auden sagte: »Kommen Sie, raus damit, verdammt noch mal!« Man durfte keine Unverschämtheit dulden, wenn man es mit den Einheimischen zu tun hatte, und mußte gleich zur Sache kommen bei diesen hinterhältigen Gaunern. Ein hartes Kommando aus dem Mund eines Weißen brachte ihnen Angst und Zähneklappern bei und – Der Subadhar-Major brüllte: »Was haben Sie da gesagt?« Auden geriet ins Wanken. Er durfte nicht ins Wanken gera65
ten. Queen Victoria wäre auch nicht ins Wanken geraten. Aber Auden geriet dennoch ins Wanken. Der Subadhar-Major fixierte ihn mit seinem einen Auge. Das Auge blitzte, und sein Blick bohrte sich durch Auden. Der Subadhar-Major erhob sich und war bedeutend größer als Auden. Er sagte: »Ich bin bereit, davon auszugehen, daß ich dies eben überhört habe.« Das Auge starrte Auden an. Der Subadhar-Major sagte: »Sie unverschämter Angeber, Sie!« Dieses Auge hatte in den großen alten Tagen des Radscha die jungen britischen Subalternen in die Billardsäle gescheucht, trotz ihrer Revolver der britischen Regierung, für die sie pro Woche einen Schuß Munition bekamen. Der Subadhar-Major sagte: »Wie kommen Sie dazu, mir in diesem unverschämten Ton Vorwürfe solcher Art zu machen?« Und er fügte hinzu, mit einer Stimme, die am Khyber-Paß selbst stärkste Männer in Puddinge verwandelt hatte: »Na?« Auden erwiderte: »Wenn Sie keine Unbefugten hereinließen, welche die Bewohner dieses Hauses überfielen – wie hätte das dann passieren können?« Der Subadhar-Major sagte: »Ganz einfach. Es war jemand, der hier wohnt.« Das Auge funkelte. »Aber wenn es jemand war, der hier wohnt«, erwiderte Auden, »wie kann er dann wissen, wann die Leute von den oberen Stockwerken mit dem Lift nach unten fahren?« Und er fügte noch hinzu: »He – das hätte ich gern von Ihnen gehört.« »Weil er die Anzeigetafel über der Lifttür beobachtet hat, vermutlich.« »Wer beobachtet denn die Anzeigetafel über der Lifttür – außer Ihnen?« »Ich bin schließlich nicht im dritten Stock oben.« Auden brüllte zurück: »Der Räuber auch nicht!« »Dann ist er eben woanders.« »Genau. Und er lauert auf die Bewohner der oberen Stockwerke und schlägt sie dann nieder, um sie zu berauben.« Auden legte eine Pause ein, ehe er hinzufügte: »Das könnten ebensogut Sie selbst sein.« »Könnte ich?« »Ja, das könnten Sie.« 66
Das Auge musterte ihn. Es schien immer dunkler zu werden, und es funkelte noch mehr als zuvor. Das Auge musterte ihn von oben bis unten. Und der Mund unter dem Auge sagte sehr langsam und nachdrücklich: »Wenn ich jemanden im Lift niederschlagen würde, könnte dieser Unglückliche unten im Parterre nicht mehr aufstehen und Bericht erstatten.« Das Auge sagte: Dieser Unglückliche wäre nämlich mausetot. Und der Mund unter dem Auge sagte: »Und da außerdem ich derjenige war, welcher die Opfer hier unten gefunden hat, möchte ich wissen, wie ich die drei Stockwerke herunterrennen könnte, schneller als der Lift, der meine Opfer nach unten fährt. Das möchte ich wirklich wissen.« »Sagen Sie es mir doch.« Der Subadhar-Major lehnte sich zurück. Er spitzte den Mund und sagte: »Nein, Sir. Das werden Sie mir sagen.« Und er fügte fast freundlich hinzu: »Schließlich sind Sie der Polizeibeamte, nicht ich.« Auden geriet schon wieder ins Wanken. Er sagte: »Schön, ich gebe zu, daß es sich dabei nur um eine nicht allzu wahrscheinliche Möglichkeit handelt, aber ...« Er versuchte, den Blick des Auges zu erwidern. Das Auge sagte: Ein Glück, daß Sie sich jetzt vorsichtiger ausdrücken. Und Auden sagte rasch: »Sie haben doch hoffentlich inzwischen gemerkt, daß ich nur ein paar Theorien an Ihnen ausprobiert habe. Sie wissen schon – ich hoffte, daß Sie wütend werden und dabei spontan ein paar Erkenntnisse liefern würden, an die Sie sich bis jetzt nicht erinnert haben ...« Er wartete, fügte dann hinzu: »Zum Beispiel, daß – äh ...« Der Subadhar-Major nickte. Er sagte höflich: »Gestatten Sie jetzt, daß ich zu meinen Pflichten zurückkehre?« Auden nickte ebenfalls. Dann zuckte er mit den Schultern, zuckte noch einmal. »Ja nun ...« Und Auden sagte: »Natürlich, ich käme nicht auf den Gedanken, daß ein Mann mit Ihrer Ausbildung und Ihren Verdiensten – äh ...« Und: »Sie verstehen doch, daß das nur Strategie war, und daß –« Der Subadhar-Major nickte. »Sie verstehen es? Gut. Na schön, ich muß wieder in den Lift. Wir sehen uns später – vielleicht ...« Und er drehte sich um. 67
Der Subadhar-Major sagte sehr leise: »Sir ...« Er schüttelte den Kopf. Und fummelte an seinen Orden aus dem indischen Unabhängigkeitskampf herum. Auden sagte freundschaftlich: »Also gut ... Ja, sehr gut ...« Dann ging er zum Lift zurück, wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, betrachtete dann die Decke der Liftkabine, die Knöpfe, die Stockwerksanzeige, die aufleuchtete und »ding!« machte, das Nottelefon, das dämliche Schild von den vier Kindern oder zwei Erwachsenen ohne Kinder oder keinen Kindern und keinen Erwachsenen, ehe er sich umdrehte und die hintere Wand der Kabine bis hinauf in den fünften Stock mit wütenden, gezielten Fußtritten bearbeitete. In der Kriminalbereitschaft tauchte eine schwerfällige braune Katze in der halboffenen Tür auf und schlich sich dann langsam am Kerosinofen vorbei, kletterte mit ziemlicher Mühe auf ein Regal mit Akten und suchte sich dort oben einen Platz zum Schlafen. Die Katze erinnerte O’Yee an Auden. Er schaute auf seine Armbanduhr und schätzte, daß Auden im Gegensatz zur Katze keinen guten Platz zum Schlafen gefunden haben mochte und er statt dessen seit fast sechs Stunden in einem Fahrstuhl auf und ab fuhr. O’Yee erwartete einen Anruf vom Archivleiter der amerikanischen Botschaft, sobald dieser vom Mittagessen zurück war. Und er fand, daß man inzwischen etwas für Auden tun mußte. Kapitel
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Mr. Lee nahm den Hörer beim ersten Klingeln ab, lauschte einen Augenblick und reichte ihn dann Feiffer über den Schreibtisch hinweg. »Ein Polizist.« Er lehnte sich zurück in seinem Sessel und warf einen Blick auf eine Kontrolltafel (oder was immer ein Schreiner mit Erfahrungen im Waffengeschäft dort eingebaut haben mochte). »Bitte, vergessen Sie, 68
daß ich hier bin. Führen Sie Ihre Privatgespräche so, als wären Sie allein.« Und er fügte ziemlich giftig hinzu: »Sie können ihn ja mal fragen, ob er den Räuber aus dem Apartmenthaus schon geschnappt hat.« »Feiffer.« »Harry? Hier spricht Christopher.« O’Yee wartete darauf, daß Feiffer ihn begrüßte. Aber Feiffer begrüßte ihn nicht. Er schaute Mr. Lee in die Augen und sagte zu O’Yee: »Was wollen Sie? Hat Auden schon was rausgefunden in dieser Liftsache?« Lee murmelte: »Auden ... Na ja, wenigstens ein Name, der von mehr Phantasie zeugt als Smith oder Brown.« O’Yee antwortete: »Nein, Auden hat sich bisher noch nicht –« »Was wollen Sie dann von mir?« Mr. Lee spottete: »Auden? Wer ist Auden? Wovon sprechen Sie?« Er nahm an, daß das der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende gerade zu Feiffer gesagt hatte. Feiffer sagte ruhig: »Auden ist ein Kriminalinspektor, der bei uns in der Yellowthread Street arbeitet. Wenn Sie wollen, können Sie im Register der Regierungsämter nachsehen.« Mr. Lee spielte den zu Unrecht Getadelten. Er sagte leise: »Quatsch.« »Was haben Sie gesagt?« fragte O’Yee. Mr. Lee schüttelte den Kopf. »Und unter welcher Rubrik soll ich da nachsehen? Vielleicht unter ›Hirngespinste der Polizeibehörde‹?« »Ach, gehen Sie zum Teufel!« O’Yee erwiderte beleidigt: »Hab’ ich was Falsches gesagt?« »Sie nicht.« Feiffer sagte verärgert: »Also los, was wollen Sie? Geht es um Auden oder nicht?« »Ja, es geht um Auden.« O’Yee betrachtete den Stapel von Akten, hinter dem die Katze, fern von den Wechselfällen des Lebens, endlich einen Zufluchtsort gefunden hatte. »Auden fährt jetzt seit fast sechs Stunden pausenlos in diesem Lift auf und ab, und ich dachte, Sie als der große Vorgesetzte, der nichts als Güte und Weisheit ausströmt, hätten das Gefühl, daß der arme Teufel allmählich eine Pause verdient hat.« »Auden bleibt, wo er ist.« Je öfter Feiffer den Namen aus69
sprach, desto unwirklicher kam er ihm vor. Als wäre Auden nichts als eine Fiktion, ein Codewort vielleicht: Auden, das ist Code sechs, ein geheimzuhaltender Anschlag auf ... Feiffer sagte: »Er ist dort, um diesen Räuber zu fangen. Und das kann er nur, wenn er auch dort bleibt. Ist das klar?« »O ja. Verzeihen Sie, daß ich ihn mir als ein Wesen aus Fleisch und Blut vorgestellt habe. Ihn oder irgendeinen von uns. Was für ein Fehler! Wir sind doch nichts weiter als kleine, aufziehbare Puppen. Wie konnte ich das nur vergessen? Die Roboter des Planeten Zark stehen zu Ihrer Verfügung, Kommandeur.« »Haben Sie sich inzwischen mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt, in Sachen – unseres Freundes?« »Ja, ich habe mich mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt. Die amerikanische Botschaft wird zurückrufen. Sobald die amerikanische Botschaft zurückgerufen hat, werde ich bei Ihnen zurückrufen und Ihnen mitteilen, was die amerikanische Botschaft über unseren Freund zu berichten hatte. Für Sie lege ich nicht einmal eine Pause ein, um meine Nippel abzuschmieren. Ich bin bereit, zu arbeiten, bis meine Scharniere verrostet sind.« Der Kerosinofen spie eine Stichflamme aus und weckte damit die Katze. Sie lugte hinter einem Aktendeckel hervor, stellte fest, daß die Welt es nicht verdiente, beachtet zu werden, und zog sich wieder hinter die Akten zurück. »Gibt es noch etwas, oder darf ich zu meiner Aufgabe zurückkehren, den Globus mit Hilfe meines nicht müde werdenden Bizeps zu stemmen?« Mr. Lee verschränkte die Finger unter dem Kinn und starrte zum Plafond. Feiffer sagte in die Sprechmuschel: »Teilen Sie Auden mit, daß ich Resultate haben will.« »Mit anderen Worten: Er muß bleiben.« »Ja, er muß bleiben, bis er ein Resultat aufzuweisen hat. Und Sie rufen mich an, sobald Sie von der Botschaft Nachricht bekommen haben.« Da O’Yee am anderen Ende der Leitung schwieg, fragte Feiffer: »Sind Sie noch dran?« O’Yee schnalzte mit der Zunge und sagte dann monoton: »Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Kriminalinspektor O’Yee –« 70
»Und Ihre Albernheiten können Sie sich sparen!« Feiffer schaute zu Mr. Lee hinüber, der die gelblichen Flecken an der Decke betrachtete. »Die Sache mit dem Cathay Gardens-Apartmenthaus ist sehr wichtig. In gewisser Weise hängt die andere Sache davon ab – es sei denn, Sie wollen für den Rest Ihres Lebens bei den Gärtnern und Bauern von Hong Bay herumhängen und über das Wetter und die Süßkartoffeln reden.« Er wollte schon hinzufügen: Hören Sie, Christopher, es gibt einen guten Grund, warum ich so scharf reagiere, aber ... Aber ein Blick auf Mr. Lee verdrängte diese Absicht. »Also gut – machen Sie weiter, klar? Und – warum ruft die amerikanische Botschaft eigentlich nicht gleich zurück? Gibt es dort vielleicht auch Personalmangel?« »Das Personal ist beim Mittagessen. Kaum zu glauben, was?« erwiderte O’Yee giftig. »Mein Gott, was für eine Vorstellung! Da gibt es doch tatsächlich noch ein paar Länder auf dieser Erde, in denen die arbeitende Menschheit Gelegenheit erhält, zum Essen zu gehen.« Dann, ehe Feiffer etwas entgegnen konnte: »Aber ich werde es gleich noch einmal versuchen. Ich werde sie anbrüllen, ihnen Vorwürfe machen, sie beschimpfen und ihnen sagen, in wessen Auftrag ich anrufe: im Auftrag von Feiffer, dem Schrecken des Fernen Ostens – bei Gott, ich werde diesen verweichlichten mittagessenden Yankees schon beibringen, woher der Wind weht!« Der Kerosinofen stieß ein dröhnendes Geräusch aus, und O’Yee brüllte ihn an: »Und du hältst gefälligst auch den Mund! – Abgesehen davon werde ich der Botschaft noch eine persönliche Bitte vortragen – etwas, das mir und nur mir allein etwas nützt – haben Sie was dagegen?« Feiffer schwieg. O’Yee sagte: »Fragen Sie schon, was das für eine Bitte ist!« »Also schön. Was ist das für eine Bitte?« »Die Bitte um politisches Asyl.« Danach entstand noch eine kleine Pause, ehe O’Yee den Hörer auf die Gabel knallte. Mr. Lee schaute Feiffer an und fragte liebenswürdig: »Na, Glück gehabt, Inspektor?« Und dazu lächelte er boshaft.
*
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Auden stand im fahrenden Lift und schaute auf die Stockwerksanzeige über der Tür. Der Lift fuhr gerade zwischen dem sechsten und dem fünften Stock nach unten. Auden sah, wie die Zahl 6 erlosch und die 5 aufleuchtete. Es machte »ding!«, als der Mechanismus den fünften Stock anzeigte. Und noch einmal »ding!«. Auden schaute sich um. Das Telefon machte »ding!«, während sich die Lifttür im vierten Stock öffnete, und begann dann ungehemmt zu klingeln. Auden nahm den Hörer ab und sagte: »Auden.« Dabei warf er unwillkürlich einen Blick auf die Anzeigetafel, auf der die 5 leuchtete. Wie seltsam, dachte er. Dann schaute er auf die Zahl, die gegenüber der Lifttür an die Wand des Korridors gemalt war. Auch hier sah er die 5. Er dachte: Wie seltsam – ich hätte angenommen, es ist der vierte. Und in den Hörer sagte er: »Wer spricht denn?« Dann hielt er inne. Er dachte – Und sagte laut zu sich selbst: »Es ist doch nicht möglich, daß –« Er sagte es mit einer von bösen Ahnungen schwangeren Stimme: »Aber ja! Genau so ist es!« Und ins Telefon: »Mein Gott, das ist es!« Schließlich, schon zum dritten Mal: »Mein Gott, genau das ist es!« Mr. Lee reichte Feiffer den Hörer mit einem gequälten Ausdruck auf den Zügen, warf wieder einmal einen bedeutsamen Blick gen Himmel und richtete dann die Augen auf ein Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag. An der Wand hing ein Plakat mit chinesischen Schriftzeichen, das die Massen zur Solidarität mit dem Kampf der chinesischen Bauern um die Erfüllung des Solls bei der Blumenkohlernte in der Provinz Szechuan aufforderte, und Mr. Lee warf auch darauf einen bedeutsamen Blick. Als sich Feiffer vorbeugte, um den Hörer in Empfang zu nehmen, war für einen Augenblick der kurzläufige Dienstrevolver in seinem Lederhalfter zu sehen. Mr. Lee richtete seinen Blick rasch wieder auf das Plakat und schüttelte den Kopf. O’Yees Stimme am anderen Ende der Leitung sagte demütig: »Ich bin’s schon wieder.« Und er fuhr rasch fort, ehe Feiffer mit seinen Beschimpfungen beginnen konnte: »Sie 72
haben mich nach einem Resultat Audens gefragt. Nun gut, ich habe ihn angerufen. Er glaubt, zu einem Ergebnis gekommen zu sein.« Und in wesentlich optimistischerem Ton fügte er hinzu: »Na, sind das gute Neuigkeiten?« »Hat er schon jemanden festgenommen?« Feiffers Blick wanderte zu Mr. Lee hinüber. Mr. Lee wirkte überrascht. Er wartete und hörte zu. Feiffer sagte theatralisch: »Auden hat also bereits jemanden festgenommen. Gut. Gute Arbeit.« Und er lächelte Mr. Lee boshaft an. Mr. Lee sagte gegen seine Absicht: »Ach, hat er?« O’Yee am Telefon antwortete: »Nein.« »Ich dachte, Sie sagten, er –« Mr. Lee lehnte sich zurück, lächelte und schien sich wieder gefangen zu haben. »Nein. Ich sagte, er ist zu einem Resultat gekommen. Er glaubt jetzt zu wissen, wie die Überfälle stattfinden. Wie sich der Lift in einem Stockwerk öffnet, wo er sich gar nicht öffnen kann. Jetzt bemüht er sich, das Ganze noch einmal genau zu überprüfen. Er wollte nicht sagen, worin seine Theorie besteht, aber ich habe den Eindruck, er hat recht. Was macht Ihr Skelett? Konnten Sie schon was rausbringen bei Mr. Lee, dem Freund der kämpferischen Massen?« »Nicht viel, leider.« »Kann ich von meiner Seite aus was für Sie tun?« »Sie können mir sagen, was Sie für eine Auskunft bei der Botschaft bekommen haben.« »Bis jetzt noch gar keine. Harry, ich habe doch erst vor zehn Minuten mit Ihnen gesprochen. Die Leute dort sind noch bei Tisch. Aber sie haben mir versprochen, so bald wie möglich anzurufen.« »Können Sie ihnen nicht ein bißchen Dampf machen?« »Wie bitte?« »Ich meine, können Sie der Botschaft nicht ein bißchen Dampf machen?« Danach herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Als O’Yee wieder zu sprechen begann, war sein Westküsten-Akzent besonders deutlich zu hören. Er sagte fast schockiert: »Man kann doch nicht die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika anrufen und ihr Dampf machen. Wenn hier je73
mand Dampf macht, dann ist es die Botschaft selbst. Wissen Sie eigentlich, wie viele Leute täglich am Visumschalter jeder US-Botschaft Schlange stehen? Meine Güte! Abgesehen davon habe ich schon bei meinem ersten Anruf klargemacht, daß es sich um eine wichtige und eilige Sache handelt. Sie haben offensichtlich keine Ahnung, wie beliebt die Vereinigten Staaten von Amerika heutzutage sind.« »Dann überrascht es mich, daß es überhaupt noch Leute gibt, die diese Vereinigten Staaten von Amerika verlassen.« Wieder entstand eine Pause. »Ich nehme an, ich höre spätestens in zwanzig Minuten von der Botschaft. Sind Sie bis dahin noch bei Lee?« »Wahrscheinlich.« »Dann rufe ich Sie dort an.« Feiffer wartete. Er schaute zu Lee hinüber und sagte dann: »Hören Sie, Christopher, wenn ich vorher ein bißchen ungehalten –« Aber O’Yee hatte schon aufgelegt. Im Lagerraum von P.P. Fan zog Spencer die Bilanz seiner erbärmlichen Existenz. Er hatte die Winchester in der Hand, und während er in Gedanken das Sündenregister seiner unzähligen Fehler durchging, lud er das Gewehr zuerst, fummelte dann daran herum und begann es schließlich zu zerlegen. Er steckte die Finger in das Patronenlager unterhalb des Laufes, drückte auf den Auswerfer und ließ eine der Patronen in seine Hand fallen. Er dachte: Ich hatte die Chance, mich über die Geheimnisse des Geldhandels zu informieren, und ich habe sie versäumt. Er nahm die zweite Patrone heraus, dann die dritte, und dachte: Ich hätte die Gelegenheit mit beiden Händen ergreifen und zum Dank dafür wachsamer sein müssen. Er klinkte den Hebel, mit dem der Lauf am Vorderschaft befestigt war, aus und zog dann den Lauf samt Magazinrohr ab. Er dachte: Ich kam mir so schlau vor, und dann mußte Yan hereinkommen und meine Arbeit tun. Während er den gesamten Mechanismus aus dem Rahmen löste, dachte er: Ich bin ein Versager. Danach legte er die Einzelteile der Waffe nebeneinander auf den Boden. Gott sei Dank, daß wenigstens Constabler Yan am Ball geblieben ist. Er zog die An74
tenne seines Walkie-Talkies aus, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Aber Yan antwortete nicht. Nachdem er seine Arbeit getan hatte, war er vermutlich angewidert ins Revier zurückgefahren. Spencer dachte: Natürlich – ich bin ein Paria. In den Ecken des Lagerraumes gab es zwar Spinnennetze, aber die Spinnen hatten sich offensichtlich angewidert zurückgezogen. Spencer dachte: Ich muß für immer hierbleiben. Auf dem Boden im Lagerraum lagen eine zerbrochene Brille und ein alter Kittel mit Löchern an den Ellbogen, vermutlich die Überreste eines alten Angestellten, der hier drinnen den Geist aufgegeben hatte. Spencer fragte sich, ob man sich mit geschliffenen Linsen die Kehle durchschneiden oder mit einem Ärmel des Kittels selbst erdrosseln konnte. Er versuchte es wieder mit dem Walkie-Talkie. Es schwieg. P.P. Fans Stimme rief herüber: »Sie – rühren Sie bloß nichts an dort hinten!« Und Spencer legte die zerbrochene Brille und den Kittel wieder auf den Boden und ließ den Kopf hängen. Drüben in der Wechselstube, hinter seiner Theke, geriet P.P. Fan mehr und mehr in Wut, je öfter er auf die Tür zum Lagerraum starrte. Er hatte ein Bündel mit Singapur-Dollars und Thai-Bahts in der Hand und war in den letzten fünf Minuten schon zweimal – zweimal! – beim Zählen drausgekommen. Sein Blut begann zu kochen. Er starrte auf die Tür zum Lagerraum, hinter der die Nemesis seines Lebens kauerte, und brüllte hinüber: »Sie wissen ja noch nicht einmal, daß sich die arabische Schriftsprache wesentlich von dem Arabisch unterscheidet, das die Araber sprechen! Sie gehören zu den Idioten, die den Aufschwung der Ölstaaten beobachten und Arabisch nach der Schrift lernen, um mit einem Ölscheich Verhandlungen zu führen!« Er versuchte zum dritten Mal, das Geld zu zählen, und kam wieder durcheinander. »Warum hat man von allen Polizeibeamten dieser Welt ausgerechnet Sie zu mir geschickt?« Er dachte, ein Flüstern hinter der Tür vernommen zu haben. »Ja, ja, es nützt nichts, wenn Sie sich jetzt entschuldigen – ich hoffe nur, daß einmal auch dieser Tag ein Ende findet! Anscheinend haben Sie es darauf 75
abgesehen, mich in den Bankrott zu treiben!« Spencer öffnete die Tür einen Spalt. Mr. Fan brüllte: »Nein! Kommen Sie bloß nicht raus!« Mit dem Fuß stieß Spencer ein paar Einzelteile des zerlegten Gewehres durcheinander. Er sagte: »Es tut mir sehr leid, Mr. Fan ...« Mr. Fan kreischte: »Hauen Sie ab! Verschwinden Sie wieder in den Lagerraum!« Spencer zog die Tür zu. Mr. Fan brüllte: »Sie blöder –« Er suchte nach dem Wort. »Sie blöder – BULLE!« Feiffer saß in Mr. Lees Büro und wartete. Und Mr. Lee saß ihm gegenüber und betrachtete in der Grabesstille des isolierten Raumes das Plakat. Er warf einen Blick auf das Telefon und auf Feiffer. Feiffer dachte an ausgebleichte Knochen und an eine Kontur unter einer Plane, die früher einmal ein Mensch gewesen war. Sein Blick fiel auf Mr. Lees Zigarette, die im Aschenbecher lag. Die Zigarette war ausgegangen. Er dachte an die Stille in der Leichenhalle, die lange, ewige Stille, das Nichts ... Plötzlich sagte Mr. Lee: »Na ja, er wird schon irgendeinen Sündenbock finden.« Seine Stimme klang rauh. Er räusperte sich und zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, dieser Auden, oder wie der Mann auch heißt, nimmt sich jetzt irgendeinen blöden Hund vor, der dumm genug ist, alles zu gestehen, verhaftet ihn und wird befördert.« Aber seine Stimme klang unsicher. »Genau das ist es, was dieser Auden tun wird, oder nicht?« Feiffer gab keine Antwort. Mr. Lee sagte: »Klar. Irgendeinen werden Sie schon auftreiben. An die anständigen Leute, die überfallen und beraubt werden, denken Sie nicht eine Sekunde lang. Sie nehmen wohl an, wenn Ihr Auden irgendeinen Blöden verhaftet, wird der eigentliche Räuber sich eine Weile zurückhalten.« Er berührte wieder die Brandnarbe an seiner Wange. »Ich weiß doch, wie ihr arbeitet. Ich habe schließlich meine Erfahrungen.« Er lehnte sich ein wenig vor. »Ich frage mich nur, warum ich nicht davon ausgehe und Ihnen den Namen des 76
Süßkartoffelbauern nenne, um Sie endlich los zu sein.« »Ja, warum tun Sie es nicht?« »Wahrscheinlich, weil ich noch immer der lächerlichen Hoffnung bin, die Polizei könnte eines Tages ihre wahren Aufgaben erkennen und die Massen beschützen.« Er sagte: »Diese unschuldigen, schwer arbeitenden Bewohner des Apartmenthauses und –« »Und Ihren Vetter.« »Das hat gar nichts damit zu tun.« Und unvermittelt fragte Mr. Lee: »Wie hoch schätzen Sie eigentlich die Chance ein, daß dieser Auden den wirklichen Räuber faßt?« »Ich kann das nicht in Prozenten ausdrücken.« »Ist er denn gut – ich meine, Auden?« »Er ist ein kompetenter Mann, ja.« Wieder berührte Mr. Lee sein Gesicht und wandte kurz den Blick ab. »Natürlich nimmt niemand in Wirklichkeit an, daß die Polizei Molotow-Cocktails wirft. Das wissen Sie so gut wie ich – aber lehnen Sie sich jetzt bloß nicht vor, um plump-vertraulich zu sagen: Ganz recht, mein Freund. Verstanden?« »Ich weiß gar nicht, warum Sie so wütend sind. Ich habe Ihnen genau dargelegt, was wir tun. Nicht ich bin schwierig, sondern Sie sind es!« »Und Sie bleiben einfach hier in meinem Büro, bis ich, wie Sie hoffen, von Ihrer Anwesenheit zermürbt bin, was?« »Ich dachte, wir hätten ein Geschäft vereinbart. Ich liefere Ihnen den Räuber, und Sie nennen mir dafür den Namen des Süßkartoffelbauern.« Mr. Lee sagte düster: »Was werden Sie mir schon liefern? Doch höchstens irgend einen armen Teufel, einen Sündenbock.« Wieder berührte er die Narbe und platzte dann wütend heraus: »Es ist nicht meine Sache, Anzeigen zu erstatten oder Sie dazu veranlassen, daß Sie irgendwelche Räuber festnehmen. Was sollte ich denn mit ihm tun, wenn Sie den Räuber wirklich gefunden haben? Vielleicht ihn verprügeln – oder gar totschlagen? Wir sind schließlich eine anständige Genossenschaft, kein Geheimbund –« »Niemand erwartet von Ihnen, daß Sie jemanden totschlagen.« 77
»Aber wenn Sie mir den falschen Mann liefern, bleibt mir gar nichts anderes übrig, oder? Ich muß meine Leute dazu auffordern, ihn zu fangen, und –« Er brach ab und sagte: »Angenommen, ich hätte überhaupt Leute, die sich zu so etwas bereit erklärten ... Aber dazu bin ich gar nicht befugt, oder?« Er fragte wütend: »Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« »Wie bitte?« »Nun ja, wenn Sie schon hier herumlungern wie ein Gespenst ohne Beine, kann ich es Ihnen wenigstens ein bißchen gemütlich machen, oder nicht? Und vielleicht erwischt ja dieser Auden durch Zufall doch den richtigen Mann.« Er machte eine wütende, weit ausholende Handbewegung. »Ach was! Vergessen Sie’s! Vergessen Sie mein Angebot!« »Ich hätte gern eine Tasse Tee.« Mr. Lee sagte plötzlich ganz ruhig und leise: »Schließlich muß ich meiner Position gerecht werden.« Und ballte die Fäuste, um das Folgende zu betonen. »Die Leute erwarten nun mal einiges von mir, und ich muß meiner Position –« Er brach ab und fauchte: »Also, wollen Sie nun Tee oder nicht?« »Ich habe es schon gesagt.« »Gut.« Mr. Lee brüllte, so laut er konnte, in Richtung der Stahltür mit den sieben Schlössern: »Tee!« Und dann fügte er heftig hinzu: »Hoffentlich ersticken Sie daran!« Am anderen Ende der Stadt, im Lift des Junggesellen-Apartmenthauses Cathay Gardens, betrachtete Auden seinen Dienstrevolver und die Handschellen, und während sich in ihm das Verlangen nach einer totalen und blutigen Rache breitmachte, überlegte er sich, wie er dabei vorgehen sollte. Kapitel
7
Auden verließ den Lift im Parterre und geriet ein wenig ins Taumeln von der plötzlich gestoppten Abwärtsbewegung. Der Subadhar-Major schaute ihn an und stieß ein scharfes, zischendes Geräusch aus. Die Lifttür schloß sich, und Auden 78
wandte sich um, schaute die Tür an, starrte dann auf die Leuchtzahlen-Anzeige, als der Lift automatisch wieder hinauffuhr in den siebten Stock und dort oben anhielt, wo man einen Spezialschlüssel brauchte, um weiter hinaufzufahren in den achten, neunten und zehnten Stock. Dann begann klikkend die Fahrt nach unten. Auf Audens Gesicht machte sich ein versonnenes Lächeln breit. Er nickte sich selbst zu und betrachtete die aufleuchtenden Zahlen, als der Lift wieder herunterkam. Auden hatte einen Schlüsselbund in der Hosentasche und klimperte damit, während die Zahlen aufleuchteten. Schließlich wandte er sich um und betrachtete den Subadhar-Major mit entrücktem Blick. Der Subadhar-Major kannte das alles schon: Das war nichts anderes als der indische Wahnsinn. Auden beugte sich vor und streichelte die Lifttür. Und wieder klimperte er mit den Schlüsseln. Der Subadhar-Major kam langsam auf ihn zu. Erst mußte man dem armen Teufel, den der indische Wahnsinn erwischt hatte, unter den Armen fassen und ihn dann in das nächstgelegene Lazarett transportieren; anschließend war man den Sanitätern beim Ausziehen behilflich, wobei man dem Kranken zuallererst den Armeerevolver abnahm, möglichst so, daß es der arme Kerl nicht merkte, und zuletzt schickte man ihn auf eine lange Seereise nach Hause, in ein stilles Sanatorium in Brighton, das vorwiegend ältere Fräuleins und pensionierte Lehrer beherbergte. Das Opfer des indischen Wahnsinns erhielt in der Regel nachträglich noch einen Orden, und das Kriegsministerium kümmerte sich darum, daß es eine angemessene Pension bekam. Die übliche Prozedur. Armer Teufel, dachte der Subadhar-Major – aber er war genau der Typ dafür. Ich hab’ es mir doch gleich gedacht. Er erreichte Auden und streckte die Hand nach ihm aus. Auden wirbelte herum. Der Subadhar-Major trat einen Schritt zurück. Man konnte nie wissen, ob so einer nicht doch noch gefährlich wurde. Auden sagte: »Ich hab’s!« Der Subadhar-Major nickte. »Es war so einfach – aber man braucht eben doch Köpf79
chen, um erst mal drauf zukommen.« Und Auden fügte mit wildem Funkeln seiner Augen hinzu: »Ich bin auf und ab gefahren, auf und ab und immer wieder auf und ab, sechs Stunden lang, und jetzt hab’ ich’s endlich.« Die Augen strahlten den Inder an. »Nicht schlecht, was?« Der Subadhar-Major sagte leise: »Nein, sehr gut sogar. Hervorragend, Sir.« Er versuchte herauszufinden, wo Auden seine Waffe trug, damit er sie ihm rasch und sicher abnehmen konnte. Aber er konnte nichts sehen unter Audens Jacke. Er fragte: »Haben Sie irgendeine Schußwaffe bei sich, Sir?« Audens Blick konzentrierte sich auf die Lifttür, während er seinem Plan den letzten Schliff verlieh. Dann streckte er den Zeigefinger in Richtung auf den Subadhar-Major. »Nachdem ich den ganzen Vormittag über auf und ab gefahren bin, brauche ich jetzt nur noch ...« Er legte eine Kunstpause ein, um den Knalleffekt zu unterstreichen. »Jetzt brauche ich nur noch die Treppe hinaufzugehen.« Und im Vorgefühl auf den zu erwartenden Triumph fügte er hinzu: »Ha!« Und fragte den Subadhar-Major wie ein Diener des britischen Empires den anderen: »Sie haben es doch inzwischen auch eingesehen, oder? Natürlich. Es ist ja wirklich ganz einfach.« »O ja, Sir ...« Der Subadhar-Major spannte seine Muskeln an, um Auden unter den Armen zu packen – Auden sagte: »Genau!« Und in dem Augenblick, als der Subadhar-Major seine Arme nach ihm ausstreckte, drehte er sich um und lief zur Tür, die zur Nottreppe führte, winkte ihm noch zu und rief über die Schulter: »Bis später!« Er sah, wie der Subadhar-Major das Gleichgewicht verloren hatte und noch immer beide Hände vor sich in die Luft streckte, als wollte er irgend etwas erwischen oder festhalten. Er dachte: Armer Teufel, er regt sich doch ziemlich auf. Dann riet er ihm noch: »Fallen Sie nicht, Subadhar-Major«, ehe er die Treppe hinaufging. Auf dem Treppenabsatz im siebten Stock blieb er stehen. Durch die Wand des Treppenhauses hörte er den Lift in seinem Schacht auf und ab gleiten. Die Stahltür, die zu den Apartments der Reichen in den oberen Stockwerken führte, war versperrt. Auden wählte einen passenden Schlüssel aus seinem Schlüsselbund, sperrte die Tür auf, ging ein Stock80
werk weiter nach oben und erreichte die Tür, die hinausführte auf den dick mit einem dunkelroten Teppich belegten Korridor im achten Stock. Dann schloß er die Tür leise hinter sich und ging auf Zehenspitzen zum Lift. Er schaute auf die Leuchtanzeige oberhalb der Lifttür. Der Lift befand sich zwischen dem dritten und dem zweiten Stock und fuhr nach unten. Auden dachte: Der geheimnisvolle dritte Stock, dessen Türen sich nicht öffnen. Jetzt, nachdem er dahintergekommen war, schien alles so einfach. Er wartete genau vierzehn Minuten, rauchte eine Zigarette, bis die Zeit reif war, zögerte noch einen Moment wie ein General im Pentagon, der sich entschlossen hat, eine Rakete vom Typ »Cruise missile« auf den Kreml abzuschießen, steckte schließlich den geeigneten Schlüssel in das Schlüsselloch, das den Rufknopf ersetzte. Er atmete tief ein – und dann drehte er den Schlüssel um. Die Leuchtziffer auf der Anzeige flackerte ein wenig, und der elektrische Impuls kam an: Dies war ein Signal von oben – von einem der Reichen, der als erster bedient werden mußte. Der Lift hielt inne auf seiner Fahrt nach unten und kam dann direkt herauf in den achten Stock, demütig und dienstbar, ein widerlicher, geölter Sklave, wie Auden erbittert feststellte. Der Lift erreichte den achten Stock, es machte »ding!«, und da öffnete sich auch schon die Tür. Auden sagte bitter: »Hallo, du Schweinehund – jetzt bin ich dir auf die Schliche gekommen!« Er trat in die Kabine, wartete noch einen Moment, hielt die Tür auf. Dann steckte er mit der freien Hand den Schlüsselbund ein und hakte anschließend die Handschellen vom Gürtel. Zuletzt ließ er die Lifttür los und drückte auf den Knopf »Parterre«. Schließlich steckte er die Hand durch die Handschellen und suchte sich einen geeigneten Platz in der engen Kabine: auf der rechten Seite neben der Tür. Richtete den Blick wieder auf die Stockwerksanzeige und dachte: Wenn der Räuber noch da war, hatte er gesehen, wie der Lift nach oben fuhr in den achten Stock, wo einer von den Reichen einsteigen wollte. Und der Räuber mußte denken, daß er, Auden, es aufgegeben hatte – denn der Lift war ja leer gewesen in den unteren Stockwerken und hatte vor dem achten nicht mehr angehalten. Wenn der Räuber nicht da war ... 81
Auden umspannte die Handschellen und dachte: Sei noch da, bitte, sei noch da ... Der Lift hielt an, öffnete und schloß sich im siebten Stock. Auf der Anzeigetafel leuchtete jetzt die 6 auf. Es machte »ding!«, und die Tür öffnete und schloß sich wieder. Auden wartete. Der Lift fuhr weiter nach unten. Auf der Anzeigetafel leuchtete die 5 auf. Es machte »ding!«, und die Tür glitt zur Seite. Auden dachte: So weit, so gut. Kein Mensch in der Nähe. Wie immer, wenn der Räuber zuschlägt. Die Tür schloß sich wieder, und Auden betrachtete die Anzeigetafel. Nun leuchtete die 4 auf. Er dachte: Jetzt sind wir soweit. Und er sagte leise zu sich: »Du mußt warten, bis er ...« Er hielt die Hand mit den Handschellen hinter seinen Rücken. Es machte »ding!«. Aber das war das Telefon. Beinahe hätte er sich herumgedreht. Er mußte sich einschärfen: Das Telefon, das Telefon, schau dich jetzt bloß nicht um. Fast gleichzeitig machte es in der Anzeigetafel »ding!«, die Tür ging auf, und der Räuber, mit einer Skiläufermaske vor dem Gesicht, etwas Langes, Hartes in der Hand, streckte den Arm herein, ehe sich die Tür noch ganz geöffnet hatte. Zugleich sauste der lange, harte Gegenstand durch die Luft, und der maskierte Kopf tauchte auf. Die Schlitzaugen hinter der Maske wurden starr, eine Hand packte die wollene Maske und riß sie nach vorn, und dann hieb Auden die Handschellen auf den Schädel unter der Skiläufermaske. Auden warf einen kurzen Blick nach oben auf die Anzeigetafel. Dort leuchtete die Zahl 4 auf. Dann schaute er hinunter auf den Körper, der sich stöhnend am Boden der Aufzugkabine wand. Auden sagte bitter: »Komisch – ich dachte, es sollte die 3 sein.« Und mit einer fröhlichen Stimme, die von Sarkasmus nur so triefte, fügte er hinzu: »Natürlich, die Telefonklingel machte genauso ›ding!‹ wie die Glocke hinter der Anzeigetafel, die ein paar Sekunden danach ›ding!‹ machte. Deshalb bin ich durcheinandergekommen und ich habe gedacht, ich sei im dritten Stock überfallen worden. Wie dumm von mir!« Er langte nach unten, riß Ong die Maske vom Gesicht und nahm ihm den bleigefüllten Schlauch ab, der zuvor auf der Gießkanne gesteckt hatte. Die Lifttür begann sich zu 82
schließen, klemmte Ongs Hüften kurz ein, öffnete sich dann wieder. Ging wieder zu, klemmte Ongs Hüften kurz ein, öffnete sich dann wieder. Ong sagte: »Oh!« Er legte sich auf die Seite und schaute zu Auden empor. Dann klemmte ihn die Lifttür wieder ein. Auden erklärte förmlich: »Ich nehme Sie fest wegen verschiedener Raubüberfälle, deren Daten Sie der Anklageschrift entnehmen können. Sie sind nicht verpflichtet, irgendwelche Aussagen zu machen, aber alles, was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden ...« Er dachte: Mein Gott, tut das gut! »Außerdem mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Ihre Aussagen zu Protokoll genommen und bei Gericht gegen Sie verwendet werden.« Er war froh, den richtigen Text von sich gegeben zu haben, lächelte Ong an, der immer wieder von der Lifttür eingeklemmt wurde, und fragte: »Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?« »Ja.« Ong langte nach oben und tastete seinen Schädel ab. Er sagte traurig: »Ong, der Schwerverletzte.« Auden grinste ihn ohne die geringste Spur von Mitleid an. Er sagte fröhlich: »Ong, der Verhaftete.« »Oooohh!« sagte Ong und blickte voll Schmerz und Schande in den Augen zu Auden empor. »Ong, der Gedemütigte.« Er zog die Luft ein. »Ong, der bald Eingesperrte. Ong, der –« »Schnauze!« sagte Auden. Er steckte die Handschellen, die er zu Schlagringen zweckentfremdet hatte, in die Tasche, schaute sich dann nach allen Seiten um wie ein großer Feldherr, dem alle Geheimnisse der höheren Strategie vertraut sind, und lächelte wohlwollend. Dann langte er nach unten und zerrte Ongs Beine in den Lift, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, pumpte Luft in den Brustkorb und sagte sehr klar und deutlich und auf Englisch: »Auden, der Scheiß-Kriminaler.« Der Lift, dieses leblose Gerät, das ihm unterwürfig gehorchte, fuhr nach unten mit seiner triumphierenden Fracht: Sherlock Holmes und der besiegte Dr. Moriarty! Das Telefon klingelte. Feiffer nahm Mr. Lee den Hörer ab und lauschte einen Augenblick. O’Yees Stimme sagte: »Har83
ry?« Er ließ eine Pause entstehen. Feiffer schaute zu Mr. Lee hinüber. »Auden hat ihn erwischt.« »Den Räuber?« »Auden hat ihn eingeliefert. Sie sind eben hereingekommen. Der Kerl ist jetzt vorn in der Wache.« Feiffer wiederholte für das Ohr von Mr. Lee: »Auden hat den Räuber erwischt und bei uns eingeliefert?« »Richtig.« O’Yee kramte in irgendwelchen Papieren, und der Kerosinofen zischte. »Sein Name ist Ong. Einer der Mieter des Apartmenthauses. Er hat offenbar das Nottelefon im Lift präpariert, so daß die Leute dachten, es sei die Stockwerksanzeige. Daher glaubten sie, wenn sie im vierten Stock niedergeschlagen wurden, sie seien schon im dritten. Aber in Wirklichkeit hat er sie im vierten Stock umgelegt. Einfach, nicht wahr? Na ja, Auden behauptete jedenfalls, daß es einfach ist. Ich hab’ bis jetzt nicht viel Brauchbares aus ihm herausquetschen können. Wahrscheinlich ist ihm vom langen Liftfahren übel. Er redet nur immer wieder über jemanden, der ihn gefälligst mit dem Titel ›Sahib‹ ansprechen soll.« Wieder raschelte O’Yee mit Papier. »Aber er hat ihn erwischt, und das ist ja schließlich das Wichtigste. Übrigens – die amerikanische Botschaft hat sich noch immer nicht gerührt.« »Er heißt also Ong, nicht wahr?« »Ja. Den Vornamen kenne ich noch nicht. Aber ich kann nach vorn gehen und mich erkundigen, wenn Sie es wünschen.« »Nein. Danke vielmals. Und – bleiben Sie dran an der Sache mit der Botschaft.« »Sind Sie noch länger bei Mr. Lee?« Feiffer warf einen Blick auf Mr. Lee und legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Mein Kollege möchte wissen, ob ich noch länger hier sein werde, oder ob Sie nun, da der Räuber gefaßt ist, Ihre Information –« Mr. Lee schüttelte den Kopf. Er breitete resignierend die Hände aus. »Ich bin noch einen Moment hier. Danach –« »– sind Sie bei einem Süßkartoffelbauern am Strand«, sagte Mr. Lee. Er warf einen Blick auf das Plakat und schnitt eine Grimasse. 84
»Danach bin ich im Wagen zu erreichen. Christopher. Ja, und nochmals vielen Dank.« »Nichts zu danken. Wir sind hier, um Ihnen zu dienen. Das verleiht uns unsere einzige Daseinsberechtigung. Es ist uns eine große Befriedigung, Ihnen –« Feiffer unterbrach ihn. »Gut. In diesem Fall wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich in Sachen Botschaft befriedigen würden.« Er legte auf und schaute Mr. Lee erwartungsvoll an. Mr. Lee starrte noch immer das Plakat an. Er sagte: »Der Bauer heißt Kwok.« Feiffer sagte: »Meine Güte – Sie werden ja doch nicht glauben, daß wir den richtigen Räuber gefaßt haben?« »O doch – kein Mensch ist imstande, nur Fehler zu machen.« Feiffer sagte: »Der Mann heißt Ong.« »Ja.« »Einer von Ihren Leuten?« »Nein, er ist nicht in meiner Genossenschaft.« »Ach? Aber vielleicht ist er einer von Ihren Bekannten? Vielleicht sogar –« »Also schön«, unterbrach ihn Mr. Lee. »Ich habe ja nicht behauptet, daß Sie blöd sind. Ich warf Ihnen lediglich vor, daß Sie sich als Werkzeug der Kapitalisten mißbrauchen lassen – daß Sie blöd sind, habe ich nicht angenommen. Und ich weiß, daß Sie das wissen – ich bin schließlich auch nicht blöd.« Er ließ eine kurze Pause entstehen. »Der Bauer heißt Kwok. Er hat die Parzelle Nummer fünfachtundsechzig am Strand der Hop-Pei-Bucht. Alles klar?« »Ja, alles klar.« Feiffer stand auf. Er blickte hinunter auf Mr. Lee, dessen Hand zu einem der Knöpfe unterhalb des Schreibtisches wanderte, um die Stahltür zu entriegeln. Dann hielt Lee einen Augenblick inne und sagte: »Er ist mein Vetter. Ich habe immer geahnt, daß er es ist.« Dann fügte er rasch hinzu: »Aber aus Kwok werden Sie bestimmt nichts rausbringen. Er weiß von nichts.« »O doch – von etwas weiß er sicher.« »Sie meinen das Skelett? Er weiß nur, daß er es ausgegraben und es dann mit der Angst zu tun bekommen hat, es könnte 85
ihm Unglück bringen. Er weiß, daß er es auf ein selbstgemachtes Floß gesetzt hat, mit ein paar Glückssymbolen, und das Floß dann hinausstieß ins Meer.« Mr. Lee erklärte triumphierend: »Er ist gleich, nachdem er das Skelett gefunden hat, zu mir gekommen und hat mich gefragt, was er damit machen soll.« Er genoß seinen Sieg ohne jegliche Feindseligkeit. »Sie sehen also, ich war von Anfang an informiert. Ich habe schließlich einer Position gerecht zu werden. Und das tue ich, so gut ich kann.« »Das habe ich bemerkt.« »Ich habe für alles vorgesorgt. Ich habe meine Genossenschaftsmitglieder von einem gefährlichen Räuber erlöst und zugleich die Polizei dazu benützt, mich und meine Familie vor einer gewaltigen Blamage zu schützen. Jetzt geht Ong für zehn Jahre hinter Gitter, die Bauern lieben mich, Kwok genießt den Vorteil, daß ich ihn bereits entlastet habe, ehe Sie die Möglichkeit hatten, zu ihm zu gehen und ihn völlig zu verwirren, und – nun ja, ich selbst gehe sehr gut aus dieser Sache hervor.« »Und in Peking denkt man: Mein Gott, da ist ein Mann, der es versteht, im Strom der Unterdrücker zu schwimmen und sich dennoch gegen die Unterdrücker durchzusetzen.« Mr. Lee nickte. »Ich muß gestehen«, sagte Feiffer, »ich beneide Sie um Ihre Brillanz. Und daß es Ihnen trotzdem gelingt, Ihre volle Gunst den Menschen zuzuwenden.« Mr. Lee nickte. »Dabei hätte es gar nichts ausgemacht, wenn Sie sich an die Seite eines Ihrer Familienmitglieder gestellt hätten, das die Reichen überfiel und ausraubte. Oder?« »Nein.« »Aber er hat auch die Armen in Angst versetzt, Mr. Lee.« »Zugegeben.« Mr. Lee machte eine Handbewegung, die Feiffer andeutete, daß er hiermit entlassen sei. »Jedenfalls bin ich vorerst mit ihm fertig.« Feiffer streckte ihm die Hand entgegen, und Mr. Lee drückte sie nach einigem Zögern. »Jetzt fahre ich zu diesem Kwok. Also dann, vielen Dank.« Er wandte sich zur Tür. Mr. Lee sah ihm nach. Irgend etwas an der Sache kam ihm 86
allzu glatt vor. Er fragte sich, was Feiffer ... Und er stand noch eine ganze Weile hinter dem Schreibtisch und starrte hinaus durch die offene Tür. Dann brüllte Mr. Lee, so laut er konnte: »O nein! Dieser Schweinehund Ong wird mich um die Kaution angehen!« Alles war ruhig in P.P. Fans Wechselstube. Mr. Fan beendete die Prozedur des Geldzählens und überprüfte dann die mit Bleistift auf den Umschlägen vermerkten Summen. Es stimmte. Der Idiot im Lagerraum war entweder eingeschlafen oder tot, und das war ihm egal. Jetzt war er wieder der alte P.P. Fan. Er schaute durch das Fenster hinaus auf die Straße und fragte sich, wer wohl der nächste Glückliche sein würde, der von seinen lebenslangen Erfahrungen im Umgang mit Geld profitieren konnte. Und er lächelte sich selbst bereits optimistisch zu, als die Mitglieder der Taubstummenbande, die ihn von der anderen Straßenseite aus beobachteten, zu dem Entschluß gelangten, daß dies der günstigste Augenblick war, seinem Finanzimperium einen Besuch abzustatten. Und der Gegenstand, den einer von ihnen unter der Jacke trug, machte ein klickendes Geräusch, als er entsichert wurde. Kapitel
8
In der Leichenhalle streifte sich Dawson Baume die Gummihandschuhe über und wandte sich dann dem Skelett unter der Plane zu. Er schürzte die Lippen, schaute auf das Oberlicht über dem Tisch aus Edelstahl und dann auf seine Gummihandschuhe. Schließlich schlich er auf leisen Gummisohlen zum Fußende des Tisches und lupfte eine Ecke der Plane. Neben dem Schädel lagen das Stück Eisenrohr, der Strick, die falschen Zähne, der Kieselstein, die Kartoffeln und der tote Fisch – letzterer in einem luftdichten Plastikbeutel. Dawson Baume nahm das Eisenrohr, prüfte sein Gewicht und legte es dann zurück. 87
Anschließend ging er in seinen Magazinraum hinüber und kehrte wieder mit einer Sammlung verschieden großer Plastikbeutel, steckte das Eisenrohr in den größten und schrieb die Bezeichnung und die Aktennummer auf das Schildchen, das an dem Beutel klebte. Dawson Baume hatte eine feine, wie ziselierte Handschrift; sein Füllhalter war ein silberner »Lady Sheaffer« mit hübschen Gravierungen. Der Pathologe nahm das Gebiß, steckte es in einen zweiten, kleineren Beutel und beschriftete ihn ebenso. Danach nahm er mit spitzen Fingern den Fisch in dem Beutel und schrieb »Priacanthus niphonius« auf das Schild, die Umstände, unter denen er gefunden wurde, und eine besondere Aktennummer, die anzeigte, daß er tiefgekühlt aufbewahrt werden mußte. Der Fisch und die Süßkartoffeln würden hier in der Leichenhalle bleiben; das Eisenrohr, den Strick und den Kiesel steckte er in einen gepolsterten Umschlag, um sie direkt als Indizien in die Yellowthread Street zu schicken. Dann ging er zur Tür und legte den Umschlag in ein Körbchen mit der Aufschrift »Ausgänge«, damit ihn der Bote der Behörde mitnahm. Anschließend kam er wieder zurück und betrachtete die Umrisse unter der Plane. Etwas störte ihn. Er wußte, daß er sorgfältig gearbeitet hatte. Dennoch störte ihn etwas. Er konnte nicht sagen, was es war, aber es störte ... Er überlegte sich, ob er Harry Feiffer anrufen sollte. Feiffer arbeitete an dieser Sache. Er hörte ihn schon fragen, wieso man von ihm, Harry Feiffer, erwartete, etwas dazu sagen zu können, wenn selbst er, das glückliche Gespenst von der Leichenhalle – oh, sicher, er wußte, wie man ihn nannte – nichts dazu sagen konnte. Und er überlegte. Er fühlte, daß es noch etwas gab, das er überprüfen mußte. Er schnitt eine Grimasse. Was mochte das bloß sein? Aber vielleicht machte er sich nur zuviele Gedanken. Er dachte: Ich brauche mir keine Gedanken zu machen. Sicher, von Zeit zu Zeit habe ich das Gefühl, daß etwas nicht ordentlich genug untersucht wurde, oder daß das Ergebnis nicht aufschlußreich ist – aber ich brauche mir keine Gedanken zu machen. 88
Im Körbchen mit der Aufschrift »Eingänge« lag ein Brief mit einer russischen Briefmarke, mit seinem Namen nebst Adresse in einer der römischen Buchstaben ungeübten Schrift und mit einem Absender – einem Schachklub in Moskau. Der Brief enthielt Woroschinskys letzten Zug in dem Spiel, das der Russe und Dawson nun schon seit vier Monaten bestritten. Dawson berührte den Brief mit dem gummibehandschuhten Zeigefinger seiner rechten Hand, nahm ihn dann und warf ihn geistesabwesend in die Luft. Es mußte noch etwas dran sein ... Irgend etwas. Er betrachtete die Umrisse des Skeletts unter der Plane. Es gab noch etwas, das er hätte tun sollen. Er steckte den russischen Brief in die Tasche seiner Lederschürze und drückte auf die Klingel, um seinem Helfer Anweisung zu geben, das Skelett fortzuräumen. Seltsam – sonst öffnete er die Postschachbriefe sofort, ganz gleich, womit er im Augenblick beschäftigt war. Aber diesmal konnte er sich einfach nicht für Woroschinskys Zug interessieren. Dabei handelte es sich bereits um das Endspiel. Eigentlich hätte er den Brief mit vor Aufregung zitternden Fingern öffnen müssen. Aber er war nicht aufgeregt. Er wurde das Gefühl nicht los, daß es an dem Skelett noch etwas zu tun gab ... Nur fiel ihm beim besten Willen nicht ein, was. Der Verschlußriegel für das Gewehr war verschwunden! Spencer hatte die Tür einen Spalt geöffnet. Jetzt tastete er auf dem Boden nach dem Riegel. Er war verschwunden, vermutlich irgendwo hingerollt. Geräuschlos ließ er die Tür ins Schloß schnappen und richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden. Der verdammte Riegel war verschwunden! Er tastete hinter einem Stapel mit Umtauschtabellen für US-Dollar. Nichts. Der Riegel lag auch nicht unter dem Kittel des ehemaligen Angestellten und nicht unter den Brillenresten. Er war verschwunden. Spencer zog die Antenne seines Walkie-Talkies aus und drückte auf den Sendeknopf. Aber er erhielt keine Antwort. Yan war nicht mehr vorhanden. Ne89
benan im Laden war P.P. Fan damit beschäftigt, den drei grinsenden Räubern all sein schwerverdientes Geld zu übergeben, und Yan und der Verschlußriegel des Gewehres waren weg! Verzweifelt ließ Spencer den Schein der Taschenlampe über die Wände des Lagerraumes gleiten. Nichts. Spinnweben, ja. Aber keine Spinnen. Sogar die Spinnen waren weg. Und das Gewehr lag in Einzelteilen vor ihm. Er stieß die Tür einen Spalt auf und zog seinen Revolver. Einer von der Taubstummenbande schaute durch die Tür der Wechselstube hinaus auf die Straße. Der Mann hatte genau wie die beiden anderen eine japanische Pistole, eine Nambu, dicht neben seiner Brust, damit sie von draußen nicht zu sehen war. Er sah so aus, als könne er damit umgehen. P.P. Fans Finger glitten über die Geldbündel. Er schaute auf den Zettel, den ihm der Anführer der Bande hingelegt hatte – ein magerer, faltiger Nordchinese Ende vierzig –, und es gelang ihm nicht, sich über die Primitivität der Bande zu wundern. Die Notiz besagte, in einem einzigen, ordentlich geschriebenen und unmißverständlichen Zeichen: GELD P.P. Fan zwang sich zu einem Grinsen. Zum zweiten Mal an diesem Tag fragte er: »Alles? Meinen Sie wirklich alles?« Und dazu lächelte er schwach. Die zwei Banditen an der Theke schauten ihn an, während der dritte die Straße beobachtete. P.P. Fan sagte: »Sie werden mir doch wenigstens genügend dalassen, daß ich mein Geschäft fortführen kann?« Er schaute auf das Gesicht vor ihm. »Oder etwa nicht?« Das Gesicht sagte: »Mmph ...« P.P. Fan fragte: »Heißt das ja?« Der zweite Räuber – ein jüngerer Kerl mit Akne-Narben an den Wangen – warf einen Blick auf den Anführer. Der Anführer sagte »Mmph ...« Dabei schaute er nachdrücklich auf den Zettel mit der Notiz. Mr. Fan folgte seinem Blick. Die Notiz besagte: GELD. Mr. Fan sagte mit allem Gefühl, das ihm zur Verfügung stand: »Also doch alles.« Wenn Spencer jetzt mit seinem Revolver aus dem Lager90
raum kam, wäre das für ihn die sicherste Methode gewesen, Selbstmord zu begehen. Spencer schob die Tür drei Zentimeter weiter auf und richtete den Lauf seiner Polizeipistole auf den Kerl, der die Straße beobachtete. Er überlegte sich schon, ob es die Burschen verwirren würde, wenn er ihm einen Schuß ins Knie jagte, bevor den anderen klar wurde, woher der Schuß kam. Wenn dann erst der zweite Räuber getroffen war, bestand immerhin die Chance, daß er in dem allgemeinen Durcheinander ... Doch statt dessen holte Spencer tief Luft und brüllte dann: »Polizei! Laßt sofort die Waffen fallen, oder ich schieße!« Der Kerl, der die Straße beobachtete, schaute mit Interesse nach draußen, wo eben ein Passant vorüberging. Die beiden anderen Räuber nickten noch einmal in Richtung auf den Zettel mit der Notiz und hoben ihre Schußwaffen ein wenig an, so daß sie jetzt auf Mr. Fans Nase zielten. Die zwei warfen sich Blicke zu. Der eine zwinkerte mit dem Auge. Alles lief wie am Schnürchen. Spencer brüllte: »Polizei!« Der Räuber mit den Akne-Narben gab dem anderen, der die Straße beobachtete, einen Puff und blinzelte ebenfalls. Alles in Ordnung. Der Beobachter lächelte und wandte dann wieder seine Aufmerksamkeit der Straße zu. Spencer brüllte: »Polizei! Polizei! Polizei!« Eine Stimme brüllte zurück, eine bis zum äußersten angespannte Stimme. »Sie sind doch taubstumm, Sie blöder, schreiender Trottel!« Spencer sagte unwillkürlich: »Ach, wirklich?« P.P. Fan hielt den Kopf gesenkt, während er sein Geld zählte. Er brüllte, während er wehmütig das Porträt von Elizabeth der Zweiten auf einer englischen Pfundnote betrachtete: »Ja!« Die Finger flogen über die bunten Banknoten. »So – tun – Sie – doch – endlich – etwas!« »Wenn ich mit dem Revolver rauskomme, sehen sie mich doch.« »Aber – sie – nehmen – mein – ganzes – Geld – mit ...« Der Anführer der Bande beugte sich vor und versuchte, von P.P. Fans Lippen zu lesen. P.P. Fan reichte ihm ein riesiges Bündel mit Banknoten und nahm dann das nächste aus 91
seiner Geldschublade. Er wartete, reichte dem Anführer das Bündel und tauchte mit der Hand hinunter nach dem nächsten, zögerte, rieb sich die Nase und zog dann ein Taschentuch heraus. Er nickte dem Anführer zu. Der Anführer nickte zurück. P.P. Fan hielt sich das Taschentuch vor die Nase und schneuzte sich mehrmals heftig. Zugleich brüllte er Spencer zu: »Holen Sie den Polizisten, der mich beim ersten Mal gerettet hat!« »Aber der ist weg. Jetzt bin nur noch ich hier.« »Ohhh.« P.P. Fan hielt sich das Taschentuch vor die Augen. »So helfen Sie mir doch!« Der Anführer nahm das nächste Geldbündel. Es lagen noch drei auf der Theke: ein kleines Vermögen in multinationalen Währungen. Der Anführer nahm sie an sich und nickte dem Beobachter zu. Der brachte eine Papiertüte zum Vorschein und steckte die Geldbündel hinein. P.P. Fan rief beim Anblick des entschwindenden Reichtums: »So tun Sie doch was!« Spencer steckte seinen Revolver ins Halfter. Dann schaute er sich mit Hilfe der Taschenlampe um. Nichts. Das Gewehr in Einzelteile zerlegt ... Er konnte ohne Warnung hinausschießen und riskieren, daß einzelne Schüsse aus den Waffen der Räuber die Passanten auf der Straße trafen. Da waren die Stapel mit den Kurszetteln, der zerrissene Kittel, die zerbrochene Brille, das zerlegte Gewehr ... und Spinnweben. Er dachte: Die sind tatsächlich taubstumm. Und die schießen auf jeden, der den Laden betritt. Wenn sie einen Europäer aus dem Lagerraum kommen sehen, der einen Revolver in der Hand hat ... Er schloß die Augen bei dem Gedanken. P . P . Fans Stimme klang gedämpft, als er sagte: »Wenn ich Sie erwische, schneide ich Sie in tausend Stücke ...« Einer von der Bande muß daraufhin argwöhnisch dreingeschaut haben, denn die Stimme verstummte augenblicklich. Der Lauf des Gewehres war völlig vom Stock getrennt. Er sah aus wie ein langer, schwarzer Spazierstock. Wenn Spencer mit dem Gewehr das Feuer auf die drei eröffnet hätte, wäre es ihm vielleicht gelungen, alle drei zu Krüppeln zu schießen. Aber wenn er mit seinem 38er nacheinander auf drei Ziele schießen mußte ... Er trat einen Schritt zurück 92
und auf die zerbrochene Brille, die am Boden lag. Es knirschte unter seinen Sohlen. Wenn er nur hinauskäme in den Laden, ohne daß ... P.P. Fans Stimme sagte sehr leise, als ob jemand seine Lautstärke gedrosselt hätte: »Jetzt sind sie gleich fertig. Hoffentlich macht Ihnen das Spaß. Und wenn ich zwanzig Jahre wegen Totschlags kriege – das ist mir jetzt auch egal. Ich bringe Sie um, wenn die Burschen weg sind ...« Die Stimme verstummte, als seine Finger das letzte Bündel seines Vermögens aushändigten und das Bündel in der Papiertüte verschwand. Und P.P. Fans Schwanengesang war ein gedämpftes: »Ooooohh ...« Spencer stieß die Tür auf und kam heraus. Der Beobachter sah ihn, dann drehte sich der Kerl mit der Akne zu ihm um, und zuletzt wandte ihm auch der Anführer sein faltiges Gesicht zu. P.P. Fan sah ihn und dachte: O nein! Dann duckte er sich hinter die Theke. Er hörte ein Klicken. Und dachte: Die erste Pistole, die entsichert wird. Dann ein zweites Klicken. Und dann: klick-klick-klick. Er dachte: Es wird ein Massaker. Mein ganzes Geld wird von Blut bespritzt. Jetzt waren seine Augen in Höhe der Oberkante der Theke, und er sah, wie der erste Räuber zurücktrat und seine Waffe senkte, dann der zweite seinem Beispiel folgte. Der Beobachter war ein paar Schritte von der Tür weggegangen. Er hatte seine Hand auf Spencers Schulter gelegt und schubste ihn sachte in Richtung auf die Theke. P.P. Fan kreischte zu sich selbst – war auch er inzwischen taubstumm geworden? –: »Jetzt sind sie alle übergeschnappt!« Er sah, wie Spencers Gesicht an der Theke vorbeikam, sah die Augen, die ganz verdreht in den Höhlen saßen, so daß fast nur das Weiße zu sehen war, und dachte: Sie haben ihn mit einem Schalldämpfer abgeknallt und führen den Sterbenden dorthin, wo er bequem zusammenbrechen kann. Er hörte wieder ein leises »klick-klickklick« und dachte: Es muß eine Maschinenpistole mit Schalldämpfer sein; jetzt schießen sie ihn in Stücke. Der Beobachter brachte Spencer ganz nah an die Theke heran und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Das Klicken war wieder zu hören, diesmal näher. Spencer blieb stehen. Er hatte den Lauf seines Gewehres 93
wie einen Spazierstock in der linken Hand, den noch daranhängenden Laderaum unter dem Jackenärmel verborgen, und P.P. Fan dachte in einem Augenblick totalen und schuldbewußten Verzeihens: Dieser Mann ist ja ein Genie! Er erhob sich, als der blinde Europäer, auf seinen Spazierstock gestützt, von seinen Leidensgenossen, den verblüfften Männern der Taubstummenbande, zur Theke geführt wurde. Der Anführer langte in einem Anfall brüderlicher Liebe nach hinten, nahm dem Beobachter die Papiertüte ab und zog ein Geldbündel heraus, das er seinem neuen Freund, dem Blinden mit dem Stock, reichte, der seinerseits, da er blind war, nichts damit anzufangen wußte. Der Gangster stopfte es ihm sogar noch in die Tasche und schaute fast im selben Augenblick völlig erschreckt und verblüfft drein, als sich der schwarze Spazierstock in den Lauf einer Winchester aus bestem Winchesterstahl verwandelte und ihn mit einem Hieb bewußtlos werden ließ, so daß er gegen die Wand taumelte und dort zu Boden sank. Der Beobachter starrte auf die Szene. Sein Blick traf auf die Mündung eines kurzläufigen Revolvers, den der keineswegs blinde Spencer in seiner rechten Hand hatte, und konnte sich nicht mehr davon lösen. Seine Nambu-Pistole folgte dem bewußtlosen Anführer auf den Boden, und ihr folgte gleich danach auch noch die Schußwaffe des Akne-Banditen. Spencer sagte: »Polizei!« Der Beobachter starrte ihn an, während der Akneräuber verständnislos dreinschaute. Spencer sagte klar und deutlich, zunächst auf Chinesisch: »Ging-gwoon.« Dann noch einmal auf Englisch: »Polizei!« Die zwei Räuber schüttelten die Köpfe. »Po-li-zei.« Er ließ den Gewehrlauf fallen und langte mit der linken Hand in seine Brusttasche, zeigte ihnen seine Dienstmarke. »Uggph ... Mmm ...« Noch einmal sagte Spencer: »Polizei!« Die beiden Räuber schauten ihn an und schienen nicht zu begreifen. Spencer befahl Mr. Fan: »Schreiben Sie es ihnen auf.« Mr. Fan schrieb auf die Rückseite des Zettels, auf dem 94
»Geld« stand, in chinesischen Schriftzeichen: Polizei. Ihr seid geliefert. Dann beugte er sich über die Theke zum Beobachter hinüber und tauschte den Zettel gegen die Papiertüte mit dem Geld aus. Der Beobachter schaute verständnislos auf das Stück Papier und dann auf Spencer. Er nahm einen Bleistiftstummel aus seiner Hemdtasche und hielt den Zettel flach in der Hand, um etwas daraufzuschreiben. Spencer befahl Mr. Fan: »Rufen Sie im Revier an und sehen Sie zu, daß man gleich ein paar Constables herschickt.« Er trat vor und stieß die drei Pistolen weg. Sie blieben vor der Rückwand liegen. Der Anführer stöhnte. Er hatte eine bösartig aussehende Verletzung an der linken Schädelseite. Er langte vorsichtig mit der Hand hin und berührte die Wunde. Dann schaute er P.P. Fan traurig an. P.P. Fan sagte zu Spencer, und es war schon beinahe eine Orgie der Bewunderung: »Das haben Sie gut gemacht. Ich nehme alles zurück. Großartig! Einfach großartig!« Diese Worte wiederholte er wie ein Gedicht, während er die Geldbündel nacheinander in seiner Schublade verschwinden ließ. Dann nahm er dem Beobachter den Zettel ab, schaute darauf, stellte fest, daß er diesmal nicht »Geld« daraufgeschrieben hatte, und reichte ihn dann Spencer. Und noch einmal sagte er: »Gut gemacht! Großartig! Sie sind ein überaus brillanter junger Mann mit der allerrosigsten Zukunft, der –« Doch dann gingen ihm die Superlative aus. Spencer erinnerte ihn: »Sie sollten jetzt wirklich beim Revier anrufen.« »Ja. O ja, natürlich!« P.P. Fans Finger drehten die Wählscheibe. Er schaute hinüber zu den drei Mitgliedern der Taubstummenbande, deren Anführer sich jetzt mühsam hochrappelte, und stieß einen spöttischen Laut aus. Dann senkte er den Kopf und wiederholte: »Gut gemacht!« Erst als Spencer wieder auf dem Revier war, las er die Rückseite des Zettels und die Schriftzeichen, die der Beobachter draufgemalt hatte. Nach der sorgfältigen Kalligraphie zu urteilen, waren das die einzigen Worte, die der Beobachter schreiben konnte, und der deutlichen und raschen Schreibweise nach zu schließen, mußte er sie unzählige Male geübt 95
haben. Spencer fühlte noch immer die Hand des Mannes auf seiner Schulter, sah noch den erstaunt-erschreckten Ausdruck im faltigen Gesicht des Anführers vor sich, als ihn sein »Spazierstock« am Schädel getroffen hatte. Das von P.P. Fan ausgerufene Genie las die Schriftzeichen immer und immer wieder. Sicher, der Zettel war ein Beweismittel, ein Indiz. Er mußte aufbewahrt werden. Aber Spencer nahm sich vor, bei der Verhandlung anzugeben, daß er den Zettel auf dem Weg zum Revier verloren haben mußte. Wieder las er die Notiz, zum letzten Mal, auf der Toilette des Reviers, zerriß sie dann in kleine Fetzen und spülte diese hinunter. Einen Augenblick lang sah er noch die Fragmente der Schriftzeichen, als sie sich im Wasser drehten und schließlich nach unten gesogen wurden. Sie bedeuteten: SCHWERBESCHÄDIGTER BITTET UM HILFE Spencer hätte sich am liebsten auf den Boden gesetzt und geheult. Bauer Kwok hockte neben seiner Holzhütte auf den Hacken und beobachtete drei uniformierte chinesische Constables, mehrere Leute vom Gerichtsmedizinischen Institut und einen kettenrauchenden medizinischen Sachverständigen mit Hakennase. Sie alle taten das, was er am meisten befürchtet hatte: Sie gruben in seinem Feld herum. Da, wo er das Skelett ausgegraben und die Grube wieder mit Erde aufgefüllt hatte, war jetzt ein riesiges Loch im Boden, und dort, wo er im kommenden Jahr eine besonders gute Ernte an Süßkartoffeln erwartete – auf seinem fruchtbarsten Stück Land, ein paar Meter von dem riesigen Loch entfernt –, klaffte ein zweites, riesiges Loch, und im Umkreis von zehn Metern hatte man obendrein die wertvolle Humuserde der obersten Schicht abgehoben. Wo er gelegentlich angelte, um seine äußerst eintönige Ernährung zu ergänzen, an einer winzigen Bucht seines Strandes, wateten zwei weitere chinesische Constables mit hohen Gummistiefeln durchs Wasser, wühlten den Sand auf und verscheuchten die Fische. Im Vergleich dazu war die vorausgegangene Durchsuchung seiner Hütte und seines Geräte96
schuppens geradezu harmlos gewesen, und er dachte: Na ja, damit bin ich erledigt. Dem Himmel sei Dank, daß ich Junggeselle geblieben bin. So werde ich die paar Monate in einem geheizten Gefängnis überstehen und danach Hilfe von der Genossenschaft erhalten. Er schaute hinüber zu dem großen, weißgekleideten Europäer, der neben seinem Wagen stand und über Funk mit jemandem sprach. Und er dachte: Der bestellt mir jetzt gerade eine Zelle im Stanley-Gefängnis und erkundigt sich, ob sie dort genug Reis haben, um mich durch den Winter zu füttern. Er nahm eine Handvoll sandige Erde und ließ sie durch die Finger rinnen. Feiffer sagte in das Mikrophon des Funkgeräts: »Die sind jetzt alle hier und nehmen den Bauernhof auseinander. Mit Kwok habe ich schon gesprochen.« »Und?« fragte O’Yees Stimme. »Der ist sauber. Er hat das Skelett durch Zufall gefunden und ausgegraben.« Er warf einen Blick hinüber zu Kwok, der neben seiner Hütte auf den Hacken hockte. »Ich kann nichts gegen ihn unternehmen. Abgesehen davon – er ist schon genug gestraft, wenn man bedenkt, wie wir auf seinem Grund und Boden gewütet haben.« Feiffer dachte einen Augenblick lang nach. »Hören Sie, es tut mir leid, daß ich vorhin bei Mr. Lee so verärgert geantwortet habe. Christopher ...« »Das können Sie vergessen. Jetzt jedenfalls sind Sie erheblich freundlicher.« »Ich bin auch nicht mehr so wütend. Und Sie?« »Ach ja, Sie wissen schon – die Treue höret nimmer auf.« Er wartete einen Moment, dann fragte er rasch: »Was bedeuteten die Süßkartoffeln auf dem Floß? Eine Opfergabe an die bösen Geister?« »Genau. Und der Priacanthus niphonius, den man hier ›japanisches Großauge‹ nennt, diente demselben Zweck. Nahrung für die Geister auf der Reise. Lew von der Wasserpolizei meint, die Bauern hier seien ganz besonders abergläubisch. Er scheint recht zu haben. Und der Strick, mit dem man die Knöchel des Skeletts zusammengebunden hatte, war, wie Yan schon sagte –« »Spencer«, korrigierte ihn O’Yee. »Was?« 97
»Es war Spencers Idee, daß der Strick dazu diente, den Geist des Verstorbenen an der Rückkehr zu hindern. Yan hat es nur gemeldet und als seinen eigenen Geistesblitz ausgegeben.« »Na ja, egal. Die Theorie jedenfalls war richtig. Und das Rohr war ebenfalls eine Vorsichtsmaßnahme; es sollte verhindern, daß das Skelett vom Floß rutschte und davonschwamm. Ich wollte Kwok darauf hinweisen, daß Skelette nicht schwimmen, sondern untergehen, aber er hat für heute schon genug Unerfreuliches erfahren müssen, also ließ ich es dabei. Skelette schwimmen doch nicht, oder?« »Das weiß ich nicht.« O’Yee versuchte, sich an Filme zu erinnern, in denen Skelette im Wasser trieben. Gab es Skelette in »Unter dem Riff«? Oder in »Haie«? Er sagte: »Da würde ich mal Dawson Baume fragen.« Und wie war das in »Das Ungeheuer der Schwarzen Lagune«? »Nein«, sagte O’Yee, »Skelette schwimmen nicht. Sie gehen unter.« Dann fragte er: »Haben Sie sonst noch was Neues?« »Nicht viel. Wir haben das ursprüngliche Grab geöffnet und den fehlenden Fingerknochen gefunden, aber sonst nichts. Kwok hat anscheinend alles umgegraben, nachdem er das Skelett entdeckt hatte, und das, was er dabei fand, auf sein selbstgebasteltes Floß gesetzt. Ich hatte die Hoffnung, wir würden vielleicht in seinem Geräteschuppen die Tatwaffe finden, oder zumindest den Spaten, mit dem das Grab gegraben wurde, aber das liegt bekanntlich zwanzig Jahre zurück, und in dieser Zeit wurde jedes Werkzeug so lange benützt, bis es in Rost zerfallen ist. Außerdem besitzt Kwok das Land erst seit zehn oder elf Jahren, und zuvor hatte es brachgelegen.« Aus dem Funkgerät kam keine Antwort. »Christopher, sind Sie noch da?« »Ja. Ich habe nachgedacht ...« Dann sagte O’Yee eine Spur zu begeistert: »Und damit wäre ja wohl alles geklärt, nicht wahr?« »Wir wissen zumindest, woher das Skelett stammt. Fragt sich nur, wie es überhaupt hierhergekommen ist. Damals, vor zwanzig Jahren. Aber da wir ja wissen, um wen es sich handelt –« »George Edward Putnam.« 98
»Richtig. Da wir seinen Namen kennen, geht es jetzt nur noch darum, daß wir uns mit Hilfe der Archive seine damalige Adresse besorgen und danach seine Freunde und Bekannten unter die Lupe nehmen. Da es sich um einen Hieb mit einem stumpfen Gegenstand handelt, und da das Grab nicht sonderlich tief war, können wir davon ausgehen, daß die Tat im Affekt begangen wurde, und zwar von jemandem, den Putnam kannte. Finden wir also heraus, wer seine Bekannten waren, und wir stoßen sicher auch auf ein Motiv – vorausgesetzt, der Täter lebt noch in der Kronkolonie.« Er fügte rasch hinzu: »Es muß ein ziemlich heftiger Schlag gewesen sein, und der Tote war ziemlich groß. Daraus können wir schließen, daß es sich um einen männlichen Täter handeln muß.« »Das klingt ganz einfach.« »Nun ja, besonders schwierig kommt es mir nicht mehr vor.« Feiffer war erleichtert. Er dachte einen Augenblick an die Umrisse unter der Plane. »Warum auch nicht? Das ist doch alles, was an der Sache dran sein kann – oder?« »Doch. Ja, sicher.« »Was meinen Sie mit ›doch, ja sicher‹?« »Ich meine –« O’Yee überlegte lange, ehe er fortfuhr: »Ich meine, ich will Ihnen den Erfolg nicht madig machen.« »Es ist kein Erfolg. Es ist nichts weiter als das Ergebnis einer Routineuntersuchung. Wieso – womit könnten sie ihn denn madig machen?« »Ich meine ... Ich meine ...«, sagte O’Yee. »Ich meine, für Sie läuft immer alles ganz glatt. Aber ich frage mich, ob Sie auch alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben. Angenommen, der Tote war zum Beispiel ein Tourist?« »Es ist etwas unwahrscheinlich, daß sich ein Tourist ausgerechnet hier ein künstliches Gebiß anfertigen ließ. So etwas macht man normalerweise zu Hause. Bedauerlich, daß der Zahntechniker nicht Putnams Adresse auf der Karteikarte vermerkt hat, aber es dürfte nicht allzu schwer sein, herauszufinden, wo dieser Putnam gewohnt hat.« Danach herrschte längeres Schweigen an beiden Funkgeräten. »Sind Sie noch da?« fragte Feiffer schließlich. Und: »Christopher – wissen Sie vielleicht etwas, was ich noch nicht weiß?« »Ich? Nein. Nein, nein.« 99
»Schon wieder dieser komische Ton.« Feiffer wurde ärgerlich. »Was ist es? Raus mit der Sprache! Gibt es irgend einen schwachen Punkt in meiner Theorie?« »Nein. Nein, nein.« »Was ist es?« »Es ist nichts. Sie haben Ihre Aufgabe hervorragend gelöst. Keiner hätte es besser machen können als Sie. Ich freue mich, daß Sie sich darüber freuen. Und ich möchte nicht, daß Sie glauben –« Wieder eine Pause. »Ja nun ...« »Was?« »Ja nun, da ist nur noch eine Kleinigkeit –« »Was für eine Kleinigkeit?« »Es – äh – es hängt zusammen mit der amerikanischen –« »Mit der Botschaft?« »Ja.« »Hat Ihnen die Botschaft einen zusätzlichen Hinweis auf den Mord gegeben?« »Nein.« »Oder ist es etwas über Putnam?« Feiffer brüllte ins Mikrophon : »Verdammt noch mal – was soll das eigentlich werden? Ein Quiz fürs Fernsehen?« »Die haben mir eine Auskunft über Putnam gegeben.« »Na und? Raus damit!« Wieder Schweigen. Nach fünf Sekunden sagte Feiffer drohend ins Mikro: »Christopher, wenn Sie jetzt nicht sofort –« »Ach ja, Spencer hat die Taubstummenbande gefaßt. Großartig, nicht wahr?« »Was hat das mit unserer Sache zu tun?« »Nichts. Gar nichts. Ich – ich dachte nur, es interessiert Sie, denn ...« »Aber es interessiert mich momentan einen Dreck! Schön, es freut mich für Spencer. Gut gemacht. Meine Gratulation. Hurra! Und was hat man in der Botschaft über Putnam gesagt?« O’Yee stand in der Kriminalbereitschaft des Reviers Yellowthread Street und schaute nach der Katze. Sie hatte sich offensichtlich auf einen Atomkrieg vorbereitet und einen Schutzbunker hinter den Aktenordnern gefunden. O’Yee fühlte, daß er den Finger am Knopf hatte, der die Bombe aus100
löste. Der Atomkrieg stand unmittelbar bevor. Trotz der achtundzwanzig Grad Celsius, für die der munter zischende Kerosinofen sorgte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rükken. Er schloß die Augen und sagte ganz langsam und behutsam: »Harry, Ihr zwanzig Jahre altes Skelett auf dem Floß – Ihr George Edward Putnam –, er ist, nach Auskunft der amerikanischen Botschaft ...« O’Yee holte tief Luft. »Ja?« Und O’Yee sagte mit völlig gelassener Stimme in das Funktelefon: »Er ist noch am Leben.« Kapitel
9
»Was, zum Teufel, soll das heißen: Er ist noch am Leben?« Feiffer schlug die Tür der Kriminalbereitschaft zu, was einen Feuerstoß des Kerosinofens verursachte. Die Tür ging wieder auf; das Schloß war ein wenig diffizil. Auden saß in Hemdsärmeln da und sagte fröhlich zu Spencer: »Es war nur eine Sache des überlegenen Geistes. Er hat eben seinen Gegner gefunden, das ist alles.« Und Feiffer fragte zum zweiten Mal: »Was meinen Sie damit?« O’Yee blickte zu ihm auf. Er hatte seine Lesebrille auf der Nase. »Putnam ist noch am Leben, das habe ich gemeint. Bei der Botschaft hat man gesagt, sein Paß ist noch nicht abgelaufen, und er ist noch am Leben.« Dazu grinste er ein wenig dämlich. Auden, auf den keiner achtete, ging zu Spencer hinüber, der an einem der seitlichen Schreibtische saß. »Deduktion, das war es. Wenn alles mögliche eliminiert ist, bleibt nur das Unmögliche. Das ist echter Sherlock Holmes.« Er richtete den Blick auf Feiffer. »Ich habe den Lifträuber gefaßt, Harry – wußten Sie das schon?« »Pässe können gefälscht sein. Haben Sie den ›Schakal‹ gelesen?« »Aber amerikanische Pässe sind nicht gefälscht.« Und O’Yee fuhr fort, mit deutlicher werdendem Westküsten-Ak101
zent: »Britische Pässe vielleicht, aber amerikanische Pässe sind nicht gefälscht.« »Wieso denn nicht? Man braucht nur den Namen eines Toten anzunehmen, sich eine halbwegs glaubhafte Referenz zu besorgen, und –« »Wenn man einen amerikanischen Paß beantragt«, unterbrach ihn O’Yee, »muß man in der Botschaft erscheinen, und ein Botschaftsbeamter vergleicht Ihr Gesicht mit dem auf dem Paßfoto, und dann geraten auch noch alle Computer von hier bis Washington in Bewegung. Man bekommt ja nicht einmal ein Visum für das Land, ohne daß alle Geburtsdaten und Kennzeichen überprüft werden.« »Ich weiß nicht – das kann mich nicht überzeugen.« Auden gab es auf, von Feiffer ein paar Worte der Bewunderung zu erwarten, und versuchte es statt dessen wieder bei Spencer. Er sagte leise und verständnisvoll: »Ich habe gehört, daß Sie die Taubstummenbande gefaßt haben, Bill – aber das war ja nur eine Sache, in der es ums Ausharren ging. Und vielleicht um Gewalt. Aber der moderne Kriminalbeamte muß seinen Kopf benützen, um zu Resultaten zu kommen. Die Revolverhelden sind passé. Wir befinden uns jetzt im Zeitalter des Intelligenzverbrechers, und man muß –« »Halten Sie doch endlich den Mund!« fuhr ihn Feiffer an. Der Kerosinofen stieß wieder eine gewaltige Stichflamme aus, und Feiffer schob ihn zur Seite. »Nein, Christopher, das überzeugt mich nicht. Es ist durchaus möglich, daß sich jemand Putnams Identität angeeignet hat – Computer hin oder her.« O’Yee erwiderte leise: »Und dann kommt er alle fünf Jahre zur Botschaft und läßt seinen Paß erneuern?« »Genau.« »Und in der Zwischenzeit bleibt er in Deckung, wie es so schön heißt. Ich weiß nicht – wer käme schon auf die Idee, ausgerechnet als dieser Putnam aufzutreten? Putnam zahlt zum Beispiel Steuern.« »An wen?« »An die Vereinigten Staaten. Auch das hat die Botschaft überprüft. Ein Paß wird nur dann erneuert, wenn die Steuerbehörde keine Einwände dagegen vorbringen kann – wie bei 102
Putnam. Tut mir leid, Harry, ich weiß ja nicht, wessen Skelett das war, aber es war sicherlich nicht das Skelett eines gewissen George Edward Putnam.« »Aber wer, zum Teufel, soll es dann sein?« Auden begann zu flüstern: »Dieser Bursche – Ong, so heißt er – hat sich für besonders schlau gehalten. Und man muß zugeben, daß er es recht raffiniert angestellt hat. Aber gegen einen klaren, scharfen Geist konnte er dann doch nicht –« »Du hast sicher gute Arbeit geleistet, Phil«, unterbrach ihn Spencer. »Du brauchst nicht zu glauben, daß ich deinen Erfolg herunterspielen will. Aber diese Taubstummenbande war schließlich nicht –« Auden sagte leise: »Die ist doch ein bißchen plump vorgegangen, oder? Weißt du, den Verbrecher unserer Tage muß man einschüchtern. Er muß von Anfang an wissen, daß man schlauer ist als er.« Er sagte großzügig: »Ich werde nicht einmal Einspruch erheben, wenn Ong bis zur Verhandlung gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt wird. Warum auch? Soll er doch nach Hause gehen und im eigenen Saft schmoren. Er läuft bestimmt nicht weg – jetzt, da er weiß, daß ich ihn jederzeit wieder schnappen kann.« Er schaute Spencer triumphierend an und fragte dann: »Deine Leute dagegen werden wohl in U-Haft bleiben müssen.« »Ehrlich gesagt, ich dachte, ich lasse Sie auch gegen Kaution frei ...« »Wieso?« »Ich glaube ... Um die Wahrheit zu sagen, Phil, sie tun mir ein bißchen leid ...« »Sie tun dir – leid?« »Auden, halten Sie den Mund«, sagte Feiffer. Er wandte sich an O’Yee, warf zwischendurch dem Kerosinofen einen wütenden Blick zu und sagte dann: »Also gut, Christopher, gehen wir einmal davon aus, daß die Auskunft der Botschaft den Tatsachen entspricht. Aber die Tatsache, daß das Skelett – dank des falschen Gebisses – als Putnam identifiziert wurde, weist doch darauf hin, daß es eine Verbindung zwischen diesem meinetwegen noch lebenden Putnam und diesem ... Hat die amerikanische Botschaft die Adresse dieses Putnam? Natürlich. Wo wohnt er?« 103
»Seine Adresse ist ein Schließfach in Hongkong. Ich habe mich bei der Postdirektion erkundigt; der Besitzer des Schließfaches wohnt in Hong Bay, in der Woodcarvers’ Road Nummer 6. Ich habe im Adreßbuch nachgesehen und festgestellt, daß es sich dabei um eine Geschäftsadresse handelt. Das Geschäft trägt den Namen ›W & P Enterprises‹. Danach habe ich mich mit dem Wirtschaftsredakteur der hiesigen Tageszeitung in Verbindung gesetzt und erfahren, daß ›W & P Enterprises‹ in Wirklichkeit eine Bar ist, mit dem Namen ›The Crap Game‹.« Er holte Luft. »Danach habe ich beim Handelsregister angerufen und herausgefunden, daß die Bar zwei in Hongkong lebenden Amerikanern gehört. Sie heißen Charlie Weale und – wer, glauben Sie, steckt hinter dem P?« Feiffer schaute zu Spencer hinüber. Dann sagte er: »Putnam.« »Richtig. Danach habe ich beim Fremdenverkehrsverein angerufen und erfahren, daß man dort einen recht guten Singapore Sling bekommt. Und an diesem Punkt angelangt, habe ich gedacht, Meister, daß ich es für heute genug sein lasse. Es ist heiß hier drinnen.« »Natürlich ist es heiß«, sagte Auden. »Warum dreht ihr das verdammte Ding nicht kleiner?« »Weil man das verdammte Ding nicht kleiner drehen kann. Verdammt noch mal, warum hackt ihr eigentlich alle auf mir herum?« O’Yee wandte sich wieder an Feiffer. »Was ist denn so wichtig an seinem Beruf? Ich meine, bei ihm handelt es sich doch um nichts weiter als ein paar ausgebleichte Knochen. Warum lassen wir es nicht –« »Weil er ermordet wurde!« unterbrach ihn Feiffer. »Viele Leute werden ermordet«, sagte O’Yee. »Was hat eigentlich dieser Dawson Baume mit Ihnen angestellt?« »Er hat gar nichts mit mir angestellt. Die Tatsache, daß jemand schon zwanzig Jahre tot ist, ändert nichts an der Tatsache, daß es sich um einen Mord handelt.« Feiffer schaute zu Auden und Spencer hinüber. »Und da ihr beide im Einzelgang die gesamte Verbrecherwelt von Hong Bay erledigt habt, sehe ich nicht ein, daß wir den Fall Putnam einfach aus unseren Akten streichen.« 104
»Es ist nicht Putnam«, korrigierte ihn O’Yee. »Um so besser. Wer er auch sein mag.« Er wandte sich an alle Anwesenden in dem überheizten Raum. »Ist es euch denn allen gleichgültig, daß jemand diesem armen Teufel den Schädel eingeschlagen hat? Das war nicht nur ein Knochenmann, das war ein lebendiger Mensch. Ich weiß gar nicht, warum man die Tatsache, daß von jemandem nur noch das Skelett übrig ist, als komisch empfindet.« »Harry, sein Tod liegt zwanzig Jahre zurück.« »Na und? Wenn mich jemand mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen hätte, wäre mir das nicht einmal egal, wenn es zweihundert Jahre zurückläge!« O’Yee’s Telefon klingelte. Er schüttelte wütend den Kopf. »Harry, ich hoffe nur, daß Sie es gegenüber Ihren Vorgesetzten rechtfertigen können, wenn Sie einen zwanzig Jahre zurückliegenden Todesfall untersuchen. Wenn Sie meine Meinung hören wollen –« Das Telefon klingelte unaufhörlich, und er nahm den Hörer ab. »Kriminalbereitschaft.« Die Stimme des Polizeichefs dröhnte aus dem Hörer. »Was, zum Teufel, geht eigentlich vor bei euch? Die Hälfte meiner Leute ist draußen in einer Gärtnerei an der Hop-Pei-Bucht. Spreche ich mit O’Yee?« »Jawohl, Sir.« O’Yee wartete, während der Polizeichef Atem holte zu einer gewaltigen Schimpfkanonade. Dann sagte O’Yee ins Telefon: »Einen Moment, Sir.« Er lächelte und hielt Feiffer den Hörer hin. »Harry, ich glaube, es ist für Sie«, sagte er freundlich. Der Polizeichef sagte mit drohender Stimme: »Ich will jetzt sofort wissen, was, zum Teufel, da draußen vor sich geht.« »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Sir.« »O ja, was wissen Sie ganz genau. In North Point haben wir einen Doppelmord, und das Revier hat das Gerichtsmedizinische Institut um Hilfe gebeten. Aber das Gerichtsmedizinische Institut ist mit der gesamten Mannschaft zu einer Süßkartoffelfarm gefahren. Na schön. Also hat North Point beim medizinischen Sachverständigen der Regierung angerufen, und – was glauben Sie? Der MS ist ebenfalls draußen bei der Süßkartoffelfarm und sucht nach zwanzig Jahre alten 105
Skeletten. Okay. Also hat North Point beim Leichenhaus angerufen – aber die Leute sind draußen bei einer Süßkartoffelfarm, um ebenfalls alte Knochen zu suchen. Bei einer Rückfrage stellt sich dann heraus, daß die Knochen in Wirklichkeit schon im Leichenhaus sind. Unser komplettes Skelett. Und daher frage ich mich, was all die Leute noch da draußen bei den Süßkartoffeln zu suchen haben.« Gleich danach explodierte er endgültig. »Außerdem hat irgendso ein kommunistischer Idiot bei mir angerufen und irgend was von seinem Vetter erzählt; daß sein Vetter gar nicht sein Vetter ist und es sich in Wirklichkeit um eine kapitalistische Verschwörung handelt; daß die Polizei die arbeitende Klasse mißachtet und betrügt und nun versucht, den Sozialismus in den Dreck zu ziehen – und was, glauben Sie, ist das für eine Genossenschaft, die dieser Wahnsinnige vertritt? Genau die Scheiß-Genossenschaft, die für den Süßkartoffelbauern zuständig ist, auf dessen Grund und Boden man Knochen finden will!« Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht, warum Sie mir das antun, Harry. Ich möchte wissen, wodurch ich dieses unstillbare Rachegelüst in Ihnen geweckt habe, aber ich weiß es nicht. Und das macht mich mehr als nur nervös.« Jetzt brüllte er durch die Leitung: »Und, Harry, wenn ich nervös bin, haben einfache Kriminalinspektoren gefälligst zu zittern!« »Tut mir leid, wenn Sie das denken, Neal.« »Nennen Sie mich nicht Neal! Aus irgendeinem mir unbekannten Grund haben Sie sich entschlossen, Feiffer, mich zu erledigen. Vor fünf Minuten hat mich die amerikanische Botschaft angerufen und gefragt, ob die polizeiliche Untersuchung eines ihrer Staatsangehörigen bereits durch diplomatisches Einverständnis gedeckt sei. Und jetzt frage ich Sie noch einmal – ganz ruhig, ohne Feindschaft und ohne den mir verdammt noch mal zustehenden Wahnwitz in der Stimme: Was, zum Teufel, macht ihr da draußen?« Erwartete. »Nun? Nun?« »Wir untersuchen einen Mordfall.« »Na, Gott sei Dank! Ich dachte schon, es ginge um einen Strafzettel wegen falschen Parkens! Wer wurde ermordet?« »Ein Mr. X.« 106
Die Stimme des Polizeichefs kennzeichnete jetzt die Ruhe vor dem Sturm. »Gut. Ein Mr.-X-Mord. Gut, sehr gut, Harry. Weiter!« Spencer sah, wie sich Auden über die Akten im Regal beugte. Plötzlich sagte Auden: »He, da hinten liegt eine tote Katze!« »Laß sie in Frieden«, sagte O’Yee. »Aber sie ist tot!« Auden zeigte mit dem Finger auf die Aktenordner. »Sie hat sich hier hereingeschlichen und ist gestorben.« »Sie ist nicht tot!« »Vermutlich ist sie an einem Hitzschlag gestorben.« »Nein, sie ist nicht am Hitzschlag gestorben. Sie ist nur hereingekommen, um sich aufzuwärmen.« O’Yee warnte Auden: »Laß die Katze in Frieden!« »Harry, ich warte! Wenn Sie mir jetzt gefälligst ein paar Details liefern können ...« »Wir haben keine.« »Ach, ihr habt keine. Gut. Das erleichtert mich sehr. Eine überaus beruhigende Information. Ein Mordfall. Mr. X. Ohne Identifikation. Und was hat das alles mit den alten Knochen zu tun, Harry?« »Die sind die Knochen des Opfers«, sagte Feiffer. »Das Opfer ist in Gestalt eines Skeletts aufgefunden worden.« »Ich verstehe. Vielleicht eine Braut, die ihren Verlobten in Säure aufgelöst hat? Und Sie graben diese alten Knochen aus –« »Nein. Das Skelett ist vom Meer hereingetrieben.« Feiffer hörte – ja, er hörte tatsächlich! –, wie der Polizeichef am anderen Ende der Leitung die Augen aufriß. »Das Skelett ist vom Meer hereingetrieben, Harry?« Dann sagte die Stimme des Polizeichefs ganz leise: »Aber Skelette schwimmen nicht, Harry ...« »Nein, Sir. Das Skelett ist auf einem Floß hereingetrieben.« Auden sagte nachdrücklich: »Aber die Katze ist tot!« Er stocherte mit einem Bleistift nach ihr, und die Katze kratzte ihn mit ihren Krallen am Handrücken. Er schrie: »Au!« »Was war das, Harry? Vielleicht jemand, der auf ihrem Revier überfallen wurde?« 107
»Nein, Sir. Einer meiner Leute ist von einer Katze gekratzt worden.« »Von einer Katze? Ach so, ich verstehe, Harry. Die Katze des Skeletts, nicht wahr.« »Nein, eine andere Katze.« »Ich will nichts von dieser Katze hören, Harry.« Die Stimme klang so, als balanciere sie auf dem schmalen Grat zwischen Vernunft und Wahnsinn. »Und wie ist das Skelett auf das Floß gekommen, Harry?« »Es wurde ausgegraben und auf das Floß gebunden, Sir. Das Floß ist hereingetrieben, und wir –« »Und wie lange ist es schon tot?« »Zwanzig Jahre.« »Aha. Und was hat das mit der amerikanischen Botschaft zu tun? War das Skelett Amerikaner?« »Anscheinend nicht.« »Warum ruft mich dann die amerikanische Botschaft an, Harry?« »Wir dachten, es handelt sich bei dem Skelett um einen Amerikaner namens Putnam. Aber er –« Er warf einen Blick auf O’Yee. »Aber es ist möglich, daß wir uns getäuscht haben, Sir. Wir dachten, er sei der Besitzer einer Bar an der Woodcarvers’ Road, aber er war es anscheinend nicht. Jetzt möchte ich mich mit ihm unterhalten.« »Mit dem Skelett?« »Nein, mit dem Barbesitzer, Sir.« Am anderen Ende der Leitung war es still geworden. »Ich möchte diesen Fall weiter bearbeiten, Sir«, sagte Feiffer. »Vorausgesetzt, Sie sind einverstanden damit.« Wieder Schweigen. »Sir?« fragte Feiffer. »Aber ja. Warum nicht? Ich bin entzückt. Ganz, wie Sie meinen. Aber natürlich, mein Lieber. Jedesmal wenn mich jemand in dieser Sache anruft, oder wenn mich die Wärter in der Zwangsjacke abholen, um mich in ein Sanatorium zu bringen, werde ich das Vergnügen haben, antworten zu dürfen: ›Ich weiß gar nichts davon – das ist der Fall meines Freundes Harry Feiffer.‹ Natürlich. Ganz wie Sie meinen.« Er ließ eine sehr kurze Pause entstehen und fragte dann in 108
seltsamem Ton: »Und was ist mit der Taubstummenbande? Oder darf ich nicht danach fragen?« »Die ist bereits verhaftet.« »Ach, wirklich?« Jetzt schien der Polizeichef einen Frosch verschluckt zu haben. »Oh – sehr gut. Vielen Dank. Die Taubstummenbande – fein, fein. Und wie habt ihr das geschafft?« »Einer meiner Kriminalbeamten hat so getan, als sei er blind.« »Ach? Aber natürlich! Wie dumm von mir! Wie sollte man sonst eine Bande von Taubstummen erwischen? Man braucht nur so zu tun, als sei man blind.« Er sagte: »Und ich schenke es mir daraufhin auch, Sie zu fragen, wie Sie einen Räuber zu fangen gedenken, der sein Opfer in einem Stockwerk niederschlägt, das es gar nicht gibt, weil ich annehme, daß mein armes, schwaches Gehirn soviel Raffinesse nicht begreifen kann. Ich schaute gerade auf meinen Schreibtischkalender, Harry, und stelle fest, daß ich in ein paar Jahren pensioniert werde. Wird das nicht wunderschön? Dann kann ich im Garten der Irrenanstalt Rosen züchten. Ich freue mich schon darauf, Harry.« Und dann fügte er mit warmer, freundlicher Stimme hinzu, die an einen guten Onkel erinnerte, welcher seinem Lieblingsneffen frohe Weihnachten wünscht: »Leben Sie wohl, Harry – und die besten Grüße an Sie und die Ihren.« Feiffer räusperte sich und schaute sich um. Die anderen schwiegen. Auden ließ die Fingergelenke knacken. Und Feiffer sagte lahm: »Wenn er den Paß von einem anderen benützt, ist das doch Betrug, nicht wahr?« Dann erklärte er leise: »Das war der Chef. Er hat uns gestattet, den Fall weiter zu bearbeiten.« Feiffer merkte, daß Auden betrübt war, weil man seine detektivischen Verdienste nicht hoch genug gelobt hatte. »Er hat gesagt, das mit der Taubstummenbande war gute Arbeit.« Dann schaute er zu O’Yee hinüber. Auch dieser schien beleidigt zu sein. »Ja, nun ...« Selbst der Kerosinofen wirkte beleidigt. Er gurgelte elend vor sich hin. Feiffer lächelte alle nacheinander an, streichelte zuletzt auch noch den Kerosinofen besänftigend und zog sich dann zurück, so schnell er konnte. 109
Kapitel
10
Die Bar war am Ende der Woodcarvers’ Road. Feiffer trat ein und schaute sich um. Der Barkeeper mit dem glattrasierten Schädel wischte gerade die Theke mit einem Handtuch, das die Worte »Hongkong Hilton« eingestickt hatte, und sagte gelangweilt zu Feiffer: »Sie sind ein Bulle.« Außer ihm war kein Mensch in der Bar. Der Barkeeper schaute zu Feiffer herüber und zündete sich dann eine lange Zigarette aus einem Päckchen an, das er unter der Theke hervorgeholt hatte. »Und bevor Sie erst fragen: Es gibt hier keine Poker-Schule; hier wird nicht geknobelt, und ich habe weder ein Roulett noch andere Vergnügungsinstrumente in irgendwelchen Hinterzimmern oder oben im ersten Stock. Aber wenn Sie meinen, können Sie gern nachsehen.« Und damit fuhr er fort, die Theke zu polieren. »Mein Name ist William Charles Weale; ich besitze die Konzession Nummer neunundvierzig-acht-dreiundsechzig, und meine Steuern sind bezahlt.« »Harry Feiffer«, sagte Harry Feiffer. Er ging auf die Bar zu und setzte sich auf einen der Hocker. »Das Vergnügen ist ganz Ihrerseits.« Die Augen des Barkeepers waren auf die Theke gerichtet, die inzwischen geradezu mustergültig poliert war. »Nein, sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten: Sie sind ein Kriminaler.« »Und Sie sind der Mitbesitzer der Firma W & P Enterprises. Ihr Kompagnon heißt George Edward Putnam.« »Was wollen sie?« »Ich will George Edward Putnam.« »Er ist nicht hier.« Weale war mit dem Polieren fertig und schaute auf. Er hatte ein helles, völlig glattes Gesicht, ohne besondere Merkmale. »Okay – also darf ich annehmen, daß Sie nicht von der Sitte sind oder von den Fahndern nach illegalen Glücksspielen. Was wollen Sie von Eddie?« »Wird er so genannt?« »Klar. Und was hat er diesmal ausgefressen?« »Was hat er denn das letzte Mal ausgefressen?« Weale langte nach einer Whiskyflasche und stellte sie auf die Theke. Feiffer schüttelte den Kopf. 110
»Seit wann kennen Sie ihn ?« Weale stieß die Luft aus. »Lang. Wir haben das Kapital für diese Kneipe beim Knobeln gewonnen – auf einem Schiff, das draußen im Hafen lag.« Er lächelte müde. »Also außerhalb der Grenzen des Gesetzes. Zuvor waren wir miteinander in Korea.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ich kenne ihn schon von zu Hause, in Alabama. Ich habe das Gefühl, ich kenne den Schweinehund schon seit zweihundert Jahren. Warum wollen Sie das alles wissen?« Er senkte wieder den Blick und fing noch einmal mit dem Polieren an. »Er ist möglicherweise tot.« »Ja? Großartig! Wie ist es passiert? Dieser – Schweinehund. Ich soll den Leichnam identifizieren, nicht wahr? Jederzeit, mein Freund, Tag und Nacht ... An was ist er gestorben? An einem Herzanfall? Aber der Kerl war doch stark wie ein Ochse. Meine Güte, und er hat sich ganz schön geschont, dieser Blutsauger. Ich wußte nicht mal, daß er wieder hier ist.« »Von wo –« »Wo ist er?« fragte Weale abrupt. »Ist er wieder in Hongkong?« Feiffer nickte. »Er lebte auf Macao. Und einmal im Jahr schicke ich ihm seinen verdammten Anteil.« Glücklich fügte er hinzu: »Jetzt ist er tot – na, ist das nicht eine gute Nachricht? Großartig!« Dann sagte er: »Wie haben Sie das gemeint – er ist möglicherweise tot? Also, ist er nun tot oder nicht?« »Wir sind nicht sicher, ob er der Tote ist oder nicht.« »Ich bin gern bereit, ihn zu identifizieren.« »Das können Sie nicht.« »Ach was! Den Halunken kenne ich gut – so gut, daß ich seine Visage im Leben nicht vergesse.« »Was hat er Ihnen eigentlich angetan?« »Was er mir getan hat? Er hat mich zu dieser Sache hier überredet, und sobald wir den Vertrag unterschrieben hatten, hab’ ich gemerkt, daß nur drinnenstand, wir sollten den Gewinn teilen. Davon, daß er hier mit mir zusammenarbeitet, war nicht die Rede. Also ist er abgehauen und hat als stiller Teilhaber seine fünfzig Prozent kassiert, ohne auch nur je ei111
nen Finger krummzumachen.« Er fügte, wütend geworden, hinzu: »Und dieser Schweinehund läßt sich pünktlich jedes Jahr das Geld geben. Das hat er mir angetan, Mister. Also gut, bringen Sie mich zu Ihrer Leichenhalle, nehmen Sie das Laken von seinem verdammten Kadaver, und danach trinken wir einen – auf meine Rechnung.« »Enthält Ihr Vertrag eine Erbschaftsklausel?« »Das können Sie glauben!« Weale hielt plötzlich inne. Dann fragte er, wobei er erbleichte: »Jesus Christus, er ist doch nicht umgebracht worden, oder? Jesus Christus – also, ich hab’ es nicht getan!« »Wir haben Grund zu der Annahme –« »Mein Gott – was rede ich bloß für Blödsinn daher.« »Wir sind vorläufig nicht sicher, daß es sich bei dem Toten um Putnam handelt.« »Hören Sie, Mister –« »Feiffer.« »Hören Sie, Mr. Feiffer –« »Hat er von dem Geld, das Sie ihm gegeben haben, Steuern abgeführt?« »Woher soll ich das wissen? Hören Sie, nur weil ich den Kerl nicht mehr leiden konnte, habe ich ihn doch nicht –« »Niemand macht Ihnen irgendwelche Vorwürfe, Weale. Ich versuche vorläufig nur, seine Identität festzustellen. Wir haben den Leichnam in – in einem weitgehend verwesten Zustand gefunden. Er kann keinesfalls durch sein Aussehen identifiziert werden. Man hat ihn in der Hop-Pei-Bucht gefunden.« »Im Wasser?« »Ja und nein. Aber wenn Sie vor kurzem mit ihm in Kontakt standen, ist es ausgeschlossen, daß es sich bei dem Toten um Putnam handelt. Ich möchte nur wissen, wann er zuletzt –« »Seinen Anteil hat er zuletzt im Juni bekommen.« »Im Juni dieses Jahres?« »Klar. Und er hat den Scheck auch eingelöst. – Er war es also nicht? Hatte der Tote denn nichts bei sich? Einen Ausweis oder –« »Nein, gar nichts.« 112
»Wieso nehmen Sie dann an, daß es Eddie Putnam gewesen sein könnte?« »Er ist es ganz offensichtlich nicht.« Feiffer stand auf. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen verfrühte Hoffnung gemacht habe. Dennoch vielen Dank für Ihre Auskunft ...« Er drehte sich um, um zu gehen. »Aber ich habe ihn ja gar nicht gesehen.« »Was sagen Sie?« »Ich sage, ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe ihm nur das Geld geschickt.« »Wohin?« »Ich habe es auf seine Bank überwiesen. Auf die Prosperity-Bank in Macao.« Weale sagte: »Ich weiß ja nicht, wie lange Ihr Toter schon tot ist, aber ich habe Putnam nicht mehr gesehen seit damals, als wir den Vertrag geschlossen haben.« »Wie lange ist das her?« »Wie lange?« Weale war plötzlich ganz leise geworden. »Mein Gott, er ist es also doch! Hat er mich endlich aus seinen Klauen gelassen! Er ist tot! Es ist dieser verdammte Putnam, nicht wahr?« »Das kommt darauf an, wie lange Sie ihn schon nicht mehr gesehen haben. Ist das – drei Jahre her?« »Ist er denn vor drei Jahren gestorben?« »Oder fünf? Zehn? Wann haben Sie ihn das letzte Mal lebend gesehen?« »Ach, jetzt begreife ich. Ich brauche Ihnen nur eine Zahl zu nennen, und wenn der Leichnam schon vorher tot war, kann es nicht Putnam sein. Das alte Spiel.« »So ungefähr.« »Aber dann, fürchte ich, haben wir beide kein Glück.« »Wieso ?« »Weil ich den guten alten Eddie Putnam nicht mehr gesehen habe, seit dem Tag, als wir den Vertrag unterzeichneten. Und Ihr Toter ist sicher nicht so lange tot.« Weale fügte wehmütig hinzu: »Nun, sei’s drum. Es war ein angenehmer Gedanke, und ich hatte mich schon fast als freier Mensch gefühlt, aber –« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Seit wann ist der Tote denn tot?« 113
Feiffer lächelte ihn an. »Sie müssen es zuerst sagen.« »Okay. Zwanzig Jahre. Zwanzig verdammte Jahre. Und wie lange ist Ihre Leiche tot? Zwei Jahre? Drei?« Er sah, wie sich Feiffers Ausdruck verändert hatte. »Ist es das? Habe ich die richtige Zahl?« Dann keuchte er erschreckt: »Jesus Christus !« »Meine Gratulation«, sagte Feiffer leise. Weale hatte den Mund weit aufgerissen. Jetzt langte er mit zitternder Hand nach der Whiskyflasche. Und sagte ungläubig: »Jesus Christus!« Und schüttelte den Kopf voll Erstaunen. Feiffer kam in die Kriminalbereitschaft und steuerte direkt auf das Telefonbuch von Macao zu. Er schlug es auf und suchte nach einer Nummer. O’Yee fragte: »Haben Sie mit diesem Weale gesprochen?« Feiffer nickte. Er blätterte um und ließ den Zeigefinger entlang einer Spalte mit Regierungsstellen in Macao gleiten. »Was ist das für ein Kerl?« Er fand eine Nummer, überlegte kurz, und der Finger glitt weiter. »Eine Art verfetteter Yul Brynner.« »Wußte er etwas – über Putnam?« »Ja.« »Und?« Feiffer fand die Nummer, die er suchte. Er schrieb sie auf einen Zettel. »Und er ist tot.« »Wer? Weale?« »Nein. Putnam.« »Er ist tot?« Feiffer nickte und begann zu wählen. O’Yee sagte im Brustton tiefster Verzweiflung: »Schon wieder?« Captain Augusto Chagas von der portugiesischen Kolonialpolizei in Macao war das Produkt eines Weinbauern aus Oporto und einer weinseligen Mutter aus Cambridge. Er sagte in perfektem Englisch: »Harry, mein lieber Junge ...« Und er kicherte leise dazu. »Ich fürchte, ich spiele die Rolle von Captain Louis Renault. Der Film läuft schon wieder im 114
›Estoril‹. Jetzt habe ich ihn diese Woche schon zum fünften Mal gesehen. Ah, diese Ingrid Bergman ... ›Casablanca‹ ... Was für ein Film! Er läuft allein in diesem Jahr schon das dreiundzwanzigste Mal in Macao.« »Erstaunlich.« »Nicht wahr?« Der Captain räusperte sich. »Und was kann ich für Sie tun?« »Kennen Sie die Prosperity-Bank?« »Natürlich.« »Ein anständiges Institut?« »Hochanständig. Warum? Ist etwas Komisches –« »Ich würde Sie bitten, Augusto, daß Sie dort einmal vorsprechen und –« »Moment, Harry«, unterbrach er ihn. »Keine Bank in Macao wird Ihnen irgendwelche Auskünfte erteilen. Nicht einmal, wenn Sie einen Gerichtsbeschluß vorlegen. Den Sie hier nicht bekommen. Wenn Sie über den Kontostand von einem –« »Ich interessiere mich nicht für einen Kontostand. Ich möchte nur die Beschreibung eines Mannes, der von seinem Konto bei dieser Bank Geld abhebt.« »Und vermutlich seinen Namen. Aber den wird man Ihnen auch nicht sagen.« »Den Namen kenne ich. Der Mann heißt George Edward Putnam. Ich will lediglich wissen, wie dieser George Edward Putnam aussieht. Ich glaube, das können Sie herausfinden. Außerdem würde ich Sie bitten, einmal in Ihrem Archiv nachzuschauen, ob Putnam eine Adresse in Macao hat.« »Ja, lebt er denn hier?« »Ja.« »Dann dürfte das nicht allzu schwierig sein. Was hat er denn angestellt?« »Bis jetzt gar nichts. Ich nehme vielmehr an, er ist tot.« »Und die Person, die sein Konto benützt, ist ein Schwindler?« »Genau.« »Und Sie wollen, daß ich die Adresse überprüfe und feststelle, ob es dort einen Toten gibt, ja?« »Nein – den Leichnam haben wir. Ich möchte wissen, wer 115
unter seinem Namen dort lebt – wenn überhaupt. Wir haben eine Beschreibung des echten Putnam – von der hiesigen amerikanischen Botschaft –, und ich möchte die Angaben vergleichen.« Daraufhin herrschte Funkstille in Macao. »Sind Sie noch dran?« »Ja, Ich ... Ich blättere gerade die Liste der zur Zeit in Macao lebenden Ausländer durch – ich habe sie zufällig auf dem Schreibtisch ... und –« Seine Stimme wurde lauter, als er die Liste durchgesehen hatte. »Und hier ist niemand mit diesem Namen verzeichnet. Wenn Ihr Mann allerdings erst vor kurzem zugezogen ist –« »Meines Wissens muß er vor etwa zwanzig Jahren nach Macao gekommen sein.« »Und Sie sind sicher, daß er die Insel nicht nur besucht hat? Ich könnte mich bei der Einwanderungsbehörde erkundigen und feststellen, wann er ein- oder ausgereist ist.« »Das wäre nett.« »Gern geschehen. Wann soll ich mich wieder bei Ihnen melden?« »Wann findet die nächste Vorführung von ›Casablanca‹ statt?« »In genau dreiundneunzig Minuten.« »Und bis dahin werden Sie vermutlich heftige Kopfschmerzen bekommen und früher nach Hause gehen. Habe ich recht?« »Malaria, genau gesagt. Morgen gibt es eine Sondervorstellung am Vormittag und eine zweite am Nachmittag. So lange kann man Kopfschmerzen nicht ausdehen. Soll ich mich also innerhalb der nächsten Stunde erkundigen, oder hat es Zeit bis nach meinem Malaria-Anfall?« »Lieber vorher.« »Gut.« Und Chagas fügte freundlich hinzu: »Also, ich mache mich gleich auf die Socken. Ich spüre nämlich schon, wie das Fieber ansteigt. Es ist mir stets ein Vergnügen, mit der Polizei von Hongkong zu sprechen. Wenn wir sonst noch etwas für Sie tun können ...« Er legte eine Pause ein. »Sie wissen ja.« Feiffer lächelte. Er sagte leise: »Louis, ich habe das Gefühl, 116
dies ist der Anfang einer wunderbaren Freundschaft ...« Er hörte, wie Chagas hustete, während er auflegte. O’Yee las laut von einer Fotokopie ab – einem Duplikat von Putnams Paß, das die Botschaft geschickt hatte: »›George Edward Putnam, geboren in Nelson, Alabama, am siebten April neunzehnhundertfünfundzwanzig. Eltern Edward R. Putnam und Mary K. Putnam, geborene Robertson, beide verstorben. Größe einsachtzig. Haarfarbe braun. Augen braun. Vollbart. Besondere Merkmale: keine‹. Und das ist schon alles. Ich habe die Botschaft gebeten, sich per Telex in Washington nach seiner Militärdienstakte zu erkundigen. Der Paß ist gültig, seine Steuern sind bezahlt, er ist nicht vorbestraft.« Er fragte: »Wie groß ist Ihr Skelett?« »Einsachtzig.« »Aber es gibt viele Leute, die einsachtzig groß sind.« Das Telefon klingelte, und Feiffer nahm rasch den Hörer ab. Chagas’ Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »Ich muß schnell machen, weil sich schon die ersten Anzeichen eines Malaria-Anfalles eingestellt haben.« »Das tut mir aufrichtig leid.« Es klickte in der Leitung, als sich der Telefonist in der Zentrale der Polizeibehörde von Macao ausschaltete. »Haben Sie schon mit der Bank gesprochen?« »Ich habe dort angerufen. Und ich habe mit einem der chinesischen Kassierer gesprochen. Sie wissen, Harry, daß dieser Putnam nur einmal im Jahr die Bank besucht, ja?« »Ja, das habe ich vermutet.« »Nun, in diesem Fall können Sie natürlich keine besonders genaue Beschreibung erwarten. Übrigens hat sich niemand außer diesem einen Kassierer an ihn erinnert. Putnam spricht mit einem ausgeprägten Südstaaten-Akzent, so daß ihn kaum jemand richtig verstanden hat. Der Kassierer, mit dem ich gesprochen habe, war eine Weile in Virginia, daher konnte er ihn als einziger gut verstehen.« Er fragte: »Woher stammte Ihr richtiger Putnam?« »Aus Alabama – das ist auch im tiefen Süden.« »Aha – dann hat da jemand seine Hausaufgaben gemacht. Und wer es auch ist – er lebt hier nicht unter dem Namen Put117
nam. Auch nicht als Besucher. Es gibt keine Eintragung unter diesem Namen. Sie werden wissen wollen, als wen er sich bei der Bank ausgibt. Aber das hat man mir nicht verraten.« »Ich nehme an, er legt einfach Putnams Paß vor.« »Ach, wirklich?« fragte Chagas interessiert. »Dann muß er wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem echten Putnam aufweisen. Ich habe hier eine Beschreibung für Sie. Keine besonders gute allerdings. Wollen wir unsere einzelnen Punkte gleich miteinander vergleichen?« »Fein«, sagte Feiffer. »Größe: Bei mir steht einsachtzig.« »Bei mir auch.« »Augen?« Chagas sagte: »Braun. Und der echte?« »Braun. Haarfarbe?« »Braun. Und ein brauner Vollbart.« Chagas wartete. »Dito.« »Besondere Kennzeichen?« Feiffer sagte: »Keine.« »Dann ist auch dieses dito, wie Sie sagen. Haben Sie sein Alter, Harry?« »Mitte Fünfzig.« »Genau wie der Mann, der das Geld abhebt.« Chagas fügte ermutigend hinzu: »Eine Beschreibung, die auf viele Leute zutrifft.« »Auch auf viele Leute, deren Gesicht dem eines anderen auf einem Paßfoto gleicht?« »Pässe kann man fälschen. Haben Sie sein Foto?« »Ich habe die Fotokopie seines Passes. Das Foto ist etwas undeutlich – das übliche Paßfoto. Durch den Bart stimmt es fast mit jedem Bartträger überein.« »Jaja«, sagte Chagas nachdenklich. »Also, ich bin noch eine halbe Stunde hier. Der Kassierer will noch ein bißchen nachdenken, und wenn ihm was einfällt, wird er mich hier anrufen. Wissen Sie sonst noch was über diesen Putnam?« »Nichts.« »Und – ist er es, oder ist er es nicht?« »Ich wollte, ich wüßte es.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht dienlicher sein konnte.« Dann fügte Chagas großmütig hinzu: »Ich sage das außer Ih118
nen keinem anderen Menschen, aber wenn es nötig ist, können sie mich unter der Nummer des Kinos erreichen.« Er gab Feiffer die Nummer durch. »Wenn es sich um etwas sehr Wichtiges handelt, vergeht vielleicht sogar mein Malaria-Anfall. Und inzwischen –« »Inzwischen wünsche ich Ihnen viel Vergnügen in Casablanca.« Es klickte, als der Telefonist sich einschaltete, um festzustellen, ob noch gesprochen wurde. Mit der schauspielerischen Fähigkeit eines Humphrey Bogart stieß Chagas ein Stöhnen aus, das nur von einem schweren Malaria-Anfall hervorgerufen worden sein konnte. Zwei Telefone klingelten gleichzeitig. O’Yee nahm den Hörer seines Apparats ab und sagte: »Kriminalwache.« Er hörte, wie auch Feiffer sich meldet, drüben an seinem Schreibtisch: »Ja, Mr. Weale?« Chagas sagte, vor der Geräuschkulisse eines starken Verkehrslärms: »Ah, Christopher – ich stehe gerade vor einem Kino. Ich habe unterwegs bei der Prosperity-Bank vorbeigeschaut. Es war nur ein paar Schritte von hier ...« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Weale«, sagte Feiffer. »Nein, wirklich – Ihr Interesse ist uns sehr willkommen ... Klar, jede Information kann wichtig sein ... Nein, die Beschreibung ist momentan noch sehr lückenhaft.« Er antwortete vorsichtig: »Nein, ich fürchte, wir können nicht bekanntgeben, was wir bei dem Skelett gefunden haben, das uns zu der Vermutung veranlaßt hat ... Ja, alles, was Sie ergänzen können, ist für uns ... Gut ... Weiter.« O’Yee sagte in seine Muschel: »Ich weiß nicht, Augusto ... Es kann alles wichtig sein. Harry hält ihn für tot, obwohl die Meinung vorherrscht, daß er –« Er lauschte eine Weile. »Ja, den hab’ ich vor ein paar Wochen im Fernsehen gesehen. Meine Lieblingsstelle ist, wenn er zu Sam sagt: ›Spiel es noch mal, Sam.‹ Das sagt er doch, oder? Nein, Sie haben recht, er sagt nur ›Spiel es, Sam.‹ Nicht ›noch mal‹.« O’Yee lachte über etwas, das Chagas sagte. »Richtig. Und was haben Sie rausgebracht?« Feiffer fragte leise: »Wirklich? ... Ich kann das natürlich nicht am Telefon mit Ihnen besprechen ... Das möchte ich 119
lieber nicht sagen, Mr. Weale. Ich verstehe ja, daß das für Sie wesentliche Erleichterungen bringen könnte, aber Sie müssen begreifen, daß unsere Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald das der Fall ist.« Er hatte Mühe, seine Erleichterung nicht durch den Klang seiner Stimme zu verraten. »Vielen Dank, Mr. Weale, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, uns zu informieren.« O’Yee sagte zu Chagas: »Viel Vergnügen im Kino.« Er legte gleichzeitig mit Feiffer auf und schaute zu ihm hinüber. Feiffer lächelte. »Das war Weale am Telefon«, sagte er. »Er erinnerte sich an etwas im Zusammenhang mit Putnam. Er sagte, er wüßte nicht, ob es uns hilft, aber er wolle es uns nicht verschweigen.« Und, noch immer lächelnd: »Putnam hat sich mal den Knöchel gebrochen. Hier in Hongkong.« Er sagte triumphierend: »Er hinkte! Der echte Putnam hinkte! Genau wie das Skelett!« Und er nickte. »Fein, fein, fein.« Dann fragte er: »Mit wem haben Sie gesprochen?« »Mit Augusto Chagas in Macao.« »Und?« »Der Kassier erinnerte sich an etwas im Zusammenhang mit dem falschen Putnam.« Schweigen. Feiffer schaute O’Yee an und ahnte Schreckliches. »An was?« O’Yee sagte zögernd: »Der Putnam, der das Geld abgeholt hat und dessen Beschreibungen genau mit dem Foto übereinstimmen ...« Er sagte schwach: »Er hat gehinkt.« Dann schaute er Feiffer in die Augen und nahm an, daß er es ihm nicht näher zu erläutern brauchte. Kapitel
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Es war neun Uhr morgens; die Tagesschicht hatte eben begonnen. Die Temperatur im Büro der Kriminalbereitschaft lag mehrere Grad unter Null. Während der Nacht hatte jemand mit technischem Verstand einen Satz Schraubenschlüssel genommen und den Kerosinofen damit ordentlich und fast 120
chirurgisch ermordet. Jetzt lag das Ding, ein Opfer der technologischen Vivisektion, in einer Ecke; seine Innereien waren rings um den Radiator verstreut, und die Katze lag obendrauf und träumte von der Wärme, die der Ofen bis vor kurzem ausgestrahlt hatte. O’Yee sagte zum zweiten Mal in fünf Minuten, wobei er versuchte, sich nicht nur auf Rachegedanken zu konzentrieren: »Alles, was Sie haben, um das Skelett zu identifizieren, ist das Gebiß. Wenn man die Sache einmal objektiv betrachtet, deutet das darauf hin, daß der Mann, der das Geld in Macao in Empfang nimmt, kein Schwindler, sondern der echte Putnam ist.« »Und wer hat dann in dem Grab gelegen? Jemand, den Putnam umgebracht hat?« »Ja, möglicherweise. Vielleicht hat er das Gebiß deshalb dazugelegt.« »Unter der Annahme, daß er unerkannt bleiben würde, wenn er dem Toten sein Gebiß beigibt?« fragte Feiffer müde. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Wenn er selbst nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden wollte – warum hat er sich dann nicht einfach ganz rausgehalten? Oder – wenn schon, warum hat er nicht irgendein anderes Gebiß benützt?« »Nun ja«, sagte Spencer, »man kommt nicht so leicht an ein künstliches Gebiß heran, könnte ich mir denken.« »Das weiß ich auch. Und deshalb gehe ich ja davon aus, daß das Gebiß entweder Putnam selbst oder seinem Mörder gehörte.« »Harry, Putnam ist der Mörder!« O’Yee warf einen wehmütigen Blick auf den hingerichteten Kerosinofen und zwang sich, seine Gedanken auf etwas weniger Trauriges zu konzentrieren. Er schaute Auden an. »Du hast bis jetzt noch gar nichts gesagt. Was denkst du über die Sache?« Auden rieb sich nachdenklich das Kinn. »Großartig«, fauchte O’Yee. »Was für ein sensationeller Beitrag!« Er wandte sich wieder an Feiffer. »Hören Sie, das Telex über seine Militärakte sagt uns nur, daß Putnam ein ganz durchschnittlicher Bursche war, der so aussah wie zehn Millionen gesunde junge Amerikaner zur Zeit des Koreakriegs. Das Paßfoto zeigt einen ebenso durchschnittlichen 121
Amerikaner in mittleren Jahren mit einem Vollbart, der Putnam sein kann oder auch nicht. Ich verstehe nicht, wieso Sie an der Theorie hängen, daß das Skelett die sterblichen Überreste von Putnam darstellt. Besonders, nachdem eigentlich alles dagegen spricht.« Er fragte Spencer: »Oder etwa nicht?« »Ja nun, Christopher, ich möchte mich da weder in dem einen noch in dem anderen Sinn entscheiden ...« Plötzlich sagte Auden dazwischen: »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß es sich bei dem Fall mit dem Lift um eine klassische Konstellation handelte – ein Verbrechen in einem geschlossenen Raum. Und das bedeutet, daß ich ein klassisches Kriminalrätsel gelöst habe ... Hat Sherlock Holmes eigentlich jemals ein klassisches –« O’Yee fragte Feiffer: »Warum kann das Skelett nicht einem anderen gehören?« »Weil es keinen Sinn ergibt, wenn das Skelett von einem anderen stammt.« »Und warum nicht?« Feiffer ließ einen Augenblick verstreichen. Er saß an seinem Schreibtisch und kritzelte etwas auf einen Schmierblock. Auden sagte langsam und mit Nachdruck zu Spencer: »Sie wissen ja, das berühmteste Kriminalrätsel, das sich in einem geschlossenen Raum abspielte, war das mit dem Mann, dessen Schädel eingeschlagen worden war, während er in einem Sessel saß und ein Buch las. Das Zimmer war von innen versperrt, und als die Polizei die Tür aufbrach, gab es nicht die geringste Spur einer Mordwaffe. Der Mann saß in seinem bequemen Sessel unter der Deckenlampe, und außer dem Toten war niemand in dem Raum ...« Spencer betrachtete ihn voll Interesse. O’Yees Blick fiel unwillkürlich auf die Überreste seines Heizofens. Dann kam ihm ein Gedanke. Er fragte Auden mit eisiger Stimme: »Das warst doch nicht du, oder?« Feiffer sagte zu dem Schmierblock: »Wenn jemand den echten Putnam umgebracht hat und dann seinen Platz einnahm – warum hat er dann dem Opfer den einzigen Gegenstand, der auf Putnams Tod hinweisen konnte, nämlich die ohne weiteres identifizierbaren falschen Zähne beigegeben? 122
Er hätte ebensogut einen Zettel beilegen können mit der Aufschrift: ›Putnam ist tot. Bei dem Toten handelt es sich um Putnam. Und ich bin ein Schwindler ...‹ Nein, es ergibt einfach keinen Sinn. Wenn er wollte, daß man glaubte, Putnam sei noch am Leben – warum hat er dann nicht alles, was diesen als tot identifizieren konnte, vernichtet? Kwok sagt, daß er das Gebiß auf dem Skelett gefunden hat, also gibt es nur zwei Möglichkeiten: Erstens sind die falschen Zähne dem Toten herausgefallen, und der Mörder hat sie nicht mitgenommen, was angesichts dessen, daß der sogenannte Schwindler an alles andere gedacht hat, äußerst unwahrscheinlich ist – oder zweitens, er hat das Gebiß absichtlich dem Toten mitgegeben, damit man ihn, falls er gefunden wird, auch identifizieren kann. Aber auch das deutet wieder darauf hin, daß es sich bei dem Gebiß um das von Putnam, dem Opfer, handelt – ich meine, man hat schließlich nicht eine Handvoll künstliche Gebisse bei sich, um sie als falsche Spuren auszulegen für den Fall, daß man gerade mal die Absicht hat, jemanden umzubringen und ihn danach zu vergraben.« Spencer sagte: »Vielleicht sind die Zähne einfach unbemerkt herausgefallen und –« »Er wurde mit einem Eisblock erschlagen«, erklärte Auden, »der an der Deckenlampe befestigt war. Der Eisblock löste sich aus seiner Verankerung, als die Wärme der Lampe ihn zu schmelzen begann ...« Er packte Spencer am Arm. »Und danach ist das Wasser einfach verdunstet.« Feiffer erklärte langsam: »Die Tatsache, daß es auch nicht die geringsten Überreste von Kleidung gab, deutet darauf hin, daß der Mörder den Leichnam ausgezogen hat, bevor er ihn eingrub. Das zeigt, daß er es nicht eilig hatte. Er ließ sich Zeit. Aber in diesem Fall leuchtet mir einfach nicht ein, daß er das künstliche Gebiß übersehen hätte. Und Kwok sagte, es habe auf dem Brustkorb des Skeletts gelegen. Also hat der Mörder es dorthin gelegt. Fragt sich nur, warum.« O’Yee antwortete zurückhaltend. »Wenn man von der Theorie ausgeht, daß es sich bei dem Skelett um Putnam handelt, haben Sie jetzt doch eigentlich gerade nachgewiesen, daß es nicht Putnam war.« Auden sagte nachdenklich: »Es ist ein Kriminalfall, der 123
durchaus einige Ähnlichkeit aufweist mit ...« Wieder rieb er sich das Kinn. »Mit dem Geheimnis des –« »Aber wenn alles darauf hindeutet«, meinte Spencer, »daß der Putnam, der das Geld in Macao abholt, der echte ist – zu wem gehört dann das Skelett?« Er fragte: »Harry, wieso können Sie behaupten, daß der Mann in Macao der Schwindler ist?« »Gute Frage«, sagte Auden. Er nickte Spencer ermutigend zu. »Ich behaupte, daß der Mann in Macao ein Schwindler ist, weil er ganz einfach ein Schwindler sein muß. Wenn er der echte Putnam wäre, und wenn alles stimmte und er tatsächlich in Macao lebte, warum hat ihn dann Chagas nicht auf seiner Liste? Schön, nehmen wir einmal an, er lebt nicht in Macao und kommt nur dorthin, um sein Geld abzuholen. Aber selbst dann müßte es Eintragungen geben in der Liste der Einwanderungsbehörde. Es gibt jedoch weder einen einzigen Eintrag über seine Einreise, noch einen über seine Ausreise. Also haben wir es einerseits mit einem Mann zu tun, der darauf bedacht ist, den braven, anständigen Bürger zu spielen und seine Steuern abzuführen, und der andererseits unter einem falschen Namen nach Macao ein- und von dort wieder ausreist.« Und er fügte mit bösem Lächeln hinzu: »Wenn er das tut, dann kann er nicht Putnam sein. Und zwar aus dem einfach Grund, weil Putnam seit zwanzig Jahren tot ist, und weil der Kerl, der das Geld abhebt, sein Mörder sein muß.« Er fragte: »Aber warum hat er sich eigentlich die Mühe gemacht, den Beweis zu führen, daß es sich bei dem Skelett um die sterblichen Überreste von Putnam handelt? Warum?« Auden nickte geheimnisvoll und sagte: »Wenn alle möglichen und wahrscheinlichen Erklärungen nicht zutreffen, ist es eben das Unmögliche, das –« O’Yee wandte sich Feiffer zu. »Aber damit sagen Sie doch praktisch, daß derjenige, welcher Putnam umgebracht und Putnams Zähne bei der Leiche hinterlassen hat, sich nicht im geringsten darum kümmerte, ob das Opfer danach identifiziert werden konnte oder nicht. Mit anderen Worten: Putnam diente seinen Zwecken, ganz gleich ob er als lebend oder als tot galt.« Er fragte: »Wie ist das eigentlich mit seinem Ge124
schäftspartner, diesem Weale? Der erbt doch den Anteil von Putnam, oder?« »Weale hat fünfzig Prozent seiner Erträge an Putnam ausgezahlt, und das seit zwanzig Jahren. Wenn er Putnam umgebracht hätte, wäre es ihm darauf angekommen, daß der Leichnam möglichst bald entdeckt wird. Ein lebender Putnam nützte ihm gar nichts. Und er hat offensichtlich all die Jahre geglaubt, Putnam sei noch am Leben.« »Dann ist der Mann in Macao vielleicht doch der echte Putnam«, sagte O’Yee verzweifelt. »Und warum macht sich der echte Putnam die Mühe, sein Kommen und Gehen geheimzuhalten?« »Ich weiß es nicht.« Spencer sagte leise: »Ich habe die Fingerabdrücke der Militärakte per Funk an Captain Chagas geschickt, wie Sie es angeordnet haben, Harry. Chagas dürfte sie heute nachmittag erhalten.« »Vorausgesetzt, er hat etwas, womit er sie vergleichen kann«, erwiderte Auden, der Schlaue. »Wie wäre es mit den Bankquittungen? Er muß doch irgendeine Quittung unterschrieben haben, als er das Geld abholte.« »Und die hat die Bank aufbewahrt«, ergänzte Feiffer. »Zumindest aber seinen Antrag auf Eröffnung des Kontos. Chagas könnte die Fingerabdrücke damit vergleichen.« »Richtig.« »Harry hat schon daran gedacht«, sagte Spencer. »Deshalb habe ich die Abdrücke per Funk übermittelt.« »Tut mir leid, aber ich habe bis jetzt an einem anderen Fall gearbeitet«, entschuldigte sich Auden. »Ja, natürlich Phil. Ich wollte damit nicht sagen, daß du –« »Jeder Hinweis hilft uns«, sagte Feiffer. »Danke, Phil – war gut gemeint von Ihnen.« »Und wie hoch schätzen Sie die Chancen ein«, fragte O’Yee, »daß man anhand der Fingerabdrücke Putnam als den Besitzer des Kontos identifiziert?« »Gleich null«, erwiderte Feiffer. »Weil der echte Putnam in Dawson Baumes Leichenhalle liegt.« »Und Sie sind sich dessen vollkommen sicher, nicht wahr?« 125
»Nein, vollkommen sicher bin ich mir nicht.« »Warum wollen Sie eigentlich, daß es sich bei dem Skelett um Putnam handelt?« fragte Spencer. »Ich will ja gar nicht, daß es sich um Putnam handelt!« explodierte Feiffer. »O doch«, sagte O’Yee. »Ich weiß nicht, was in der Leichenhalle mit Ihnen passiert ist, aber seit Sie da waren, wollen Sie unter allen Umständen, auch den widrigsten, beweisen, daß es sich um das Skelett dieses George Edward –« »Aber die Indizien sprechen doch eindeutig dafür. Und wir waren vor nicht allzu langer Zeit beide davon überzeugt –« »Sie wollen einfach jemanden, dem Sie den Mord an Putnam anhängen können«, sagte O’Yee. »Jemand muß ihn ja wohl ermordet haben.« »Und wenn es nicht Putnams Skelett ist?« fragte Auden, der sich schon wieder das Kinn kratzte. Feiffer ignorierte ihn. Er fragte Spencer: »Wissen Sie, wo das Einwanderungsbüro von Hongkong sein Archiv hat?« »Ja, Harry. Warum?« »Weil Sie und Auden dort die nächsten paar Stunden Ermittlungen für mich anstellen sollen.« »Was denn für Ermittlungen?« fragte Auden betrübt. »Und – Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« »Was denn für eine Frage?« O’Yee beobachtete Feiffers Gesicht. Er sagte leise: »Sie wissen genau, was für eine Frage. Und die Antwort darauf liegt nahe. Wenn es sich bei dem Skelett nicht um die Überreste eines gewissen Putnam handelt, werden wir niemals herausfinden, wessen Überreste es sind.« Feiffer erklärte störrisch: »Es ist Putnams Skelett.« O’Yee nickte. Er warf erst einen Blick auf den ermordeten Heizkörper, dann auf Feiffer. Und fragte dann leise: »Wirklich?« »Ja.« O’Yee nickte wieder. »Okay. Sicher.« Er hielt die Hände hoch. »Ganz wie Sie meinen.« Aber er war alles andere als überzeugt.
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AUSZUG AUS DER MILITÄRAKTE ... NICHT KLASSIFIZIERT ... GEORGE EDWARD PUTNAM ... GEBURTSDATUM APRIL SIEBEN 1925 ... NELSON ALABAMA USA ... WEISS MÄNNLICHEN GESCHLECHTS ... ELTERN EDWARD R UND MARY K ... BEIDE BEI AUTOUNFALL VERSTORBEN KALIFORNIEN 1946 ... EINBERUFUNG AUGUST 1951 ... AUSBILDUNG MARYLAND USA ... ZUGEHOERIGKEIT ZU DEN UN-STREITKRÄFTEN KOREA ... ENTLASSUNG MAI SECHS 1954 HONGKONG ... ENTLASSUNG EHRENHAFT ... AUSZEICHNUNG WEGEN GUTER FÜHRUNG ... MILITÄRISCHER RANG BEI ENTLASSUNG SERGEANT ... MILITÄRISCHER WERDEGANG SCHREIBSTUBE ZAHLMEISTEREI ... AUSKUNFT DES TRUPPENKOMMANDEURS BEFRIEDIGEND ... AUSKUNFT DER MILITÄRPOLIZEI KEINE VERFEHLUNGEN BEKANNT ... GRÖSSE EINSACHTZIGEINHALB ... KÖRPERBAU DURCHSCHNITTLICH ... GEWICHT SECHSUNDSIEBZIG KILOGRAMM ... AUGEN BRAUN ... HAARFARBE BRAUN ... BESONDERE MERKMALE KEINE ... KRANKENGESCHICHTE LEICHTE NEIGUNG ZU NEBENHÖHLENENTZÜNDUNG ... SEHSCHÄRFE 20-20 ... HÖRVERMÖGEN 96% ... IQ NORMAL ... BLUTDRUCK ETC NORMAL ... ALLERGIEN NEIGUNG ZU REAKTIONEN AUF TIERFELLE (DAHER NEBENHÖHLENENTZÜNDUNGEN) ... VERERBTE ODER VERERBBARE KRANKHEITEN KEINE ... BLINDDARMNARBE ... MEDIZINISCHE BEURTEILUNG BEI ENTLASSUNG ZUFRIEDENSTELLEND ... FOTO FOLGT ... FINGERABDRÜCKE FOLGEN ... FAMILIENSTAND BEI ENTLASSUNG LEDIG ... NÄCHSTE ANGEHÖRIGE KEINE ... LETZTE BEKANNTE ADRESSE POSTFACH HONGKONG ... SICHERHEITSRISIKO GERING ... BESONDERE FÄHIGKEITEN MASCHINENSCHREIBEN ... AUS127
BILDUNG AN HANDFEUERWAFFEN PISTOLEN UND REVOLVER GROSSKALIBERGEWEHRE HEERESKARABINER ... FÄHIGKEITEN DURCHSCHNITTLICH ... KEINE WEITEREN INFORMATIONEN ... KEINE WEITEREN INFORMATIONEN ... FOTOGRAFIE UND FINGERABDRÜCKE FOLGEN ... ABGESANDT GLEICHZEITIG US-BOTSCHAFT HONGKONG ... ENDE DES FERNSCHREIBENS ... ENDE NICHT KLASSIFZIERTE AUSKUNFT ... O’Yee sagte: »Er ist also nichts weiter als eine Ziffer unter Millionen.« Er nahm die Reproduktion des Fotos und betrachtete es einen Augenblick lang. »Das paßt eigentlich zu jedem. Er sieht aus wie der typische Mr. Niemand mit GIHaarschnitt und Pickeln im Gesicht. Kein Wunder, daß er sich einen Bart stehen ließ.« Er ließ den Finger an den Buchstabenreihen des Fernschreibens entlanggleiten und hielt inne an der Stelle »Besondere Fähigkeiten Schreibmaschineschreiben«. »Ein Schreiber ...« Dann gab er Feiffer das Blatt und sagte als einzigen Kommentar zu George Edward Putnam, den man zwanzig Jahre später als Skelett am Strand gefunden hatte, zugleich aber auch zu denjenigen, die mit Hilfe von Pässen Geld einsammelten, das ihnen anscheinend nicht gehörte, zur amerikanischen Armee, zur schlafenden Katze, zum zerstörten Kerosinofen und zur Welt im allgemeinen: »Fabelhaft ...« Kapitel
12
In den staubigen Gewölben des Archivs der Einwanderungsbehörde von Hongkong legte der Große Sherlock Holmes eine Pause ein und schaute seinen Assistenten an. Der Assistent neigte sich eben über einen Schreibtisch, der mit staubigen Karteikarten, alle in Schachteln, vollgepackt war. Und der Große Sherlock Holmes sagte: »Wir vergeuden unsere Zeit.« Er hatte ein ähnliches Gebirge von Karteikarten auf 128
seinem Schreibtisch, das er jetzt beiseiteschob, um nachdenken zu können. Auden, der Große Sherlock Holmes, sagte bedächtig: »Es steht für mich einwandfrei fest, daß er – falls das wirklich so war – Hongkong verlassen und Macao betreten haben muß, ohne die Einwanderungsbehörde darüber zu informieren. Und die Einwanderungsbehörde ist in diesem Fall auch nicht von selbst dahintergekommen.« Eine Deduktion. »Meiner Meinung nach vergeuden wir nur kostbare Zeit.« Eine Folgerung. Und dann das Resümee: »Ich neige mehr und mehr zu der Ansicht von Harry Feiffer – daß der echte Putnam als Skelett in der Leichenhalle liegt.« Spencer nahm ein weiteres Hundert Karteikarten und blätterte sie rasch durch. »Du mußt versuchen, die Gedanken des Kriminellen nachzuvollziehen.« Auden schob seine Karten noch weiter weg. »All dieses Kramen in Archiven ist reine Zeitverschwendung. Ich frage dich: Wer hat Ong, den Räuber, geschnappt?« »Du hast ihn geschnappt, Phil«, sagte Spencer. »Stimmt. Und ich habe ihn nicht geschnappt, indem ich irgendwelche Karteikarten durchgesehen habe, sondern ich habe ihn durch meine Logik besiegt.« Er sagte nachdenklich: »Es gibt irgendein schwaches Glied in unserer Kette, und wir müssen uns auf dieses konzentrieren, um es herauszufinden.« Vermutlich hielt er den Fall für eine Ein-Zigaretten-Affäre. Er zündete sich die Zigarette an und inhalierte den Rauch. Der Rauch kringelte sich danach um seinen Kopf. »Betrachten wir doch das Skelett einmal gleichzeitig von zwei verschiedenen Blickpunkten aus. Der eine ist die Annahme; es handle sich um Putnam, und der andere, er sei es nicht ...« Spencer lehnte sich zurück und lauschte den Worten des Meisters. »Jetzt – versuch’ mal, mir genau zu folgen –, jetzt nehmen wir einmal an, der Mann, der das Geld in Macao einsammelt, ist der echte Putnam. Er holt das Geld mit seinem eigenen Paß auf der Bank ab – was folgt daraus? Er kann nicht das Skelett sein, das wir im Wasser gefunden haben. Richtig?« »Klar.« »Okay.« Er inhalierte wieder einen tiefen Zug aus seiner 129
Zigarette und bereitete somit seinen gewaltigen Geist auf dessen zweiten Vorstoß in die Tiefen dieses Rätsels vor. »Und wenn die Person in Macao, die behauptet, Putnam zu sein, gar nicht Putnam ist, dann können wir wohl vermuten, daß er – da er dessen Dokumente und so weiter besitzt – den wirklichen Putnam umgebracht hat, und daß es sich bei dem wirklichen Putnam um unser Skelett handelt.« Er ließ gedankenverloren eine kurze Pause entstehen. »Von diesem Blickpunkt aus ist also Putnam das Skelett, nicht wahr?« Spencer nickte. »Wir wissen inzwischen aber, daß die Person, die Macao betritt und auch wieder verläßt, dabei nicht Putnams Paß benützt. Ob sie das beim Betreten und Verlassen von Hongkong tut, ist nebensächlich.« Er deutete mit geringschätziger Geste auf die Karteikarten. »Wichtig ist vielmehr, daß sie nicht als Putnam in Macao einreist. Und warum tut die Person das nicht?« »Weil der wirkliche Putnam tot ist«, sagte Spencer. »Genau. Und der andere hat das Gebiß auf Putnam gelegt, um den Verdacht von sich abzulenken.« »Aber wenn das Skelett Putnam ist, dann passen die Zähne doch dazu!« Auden inhalierte wieder einen Zug und begann zu husten. »Richtig. Ich hoffte, daß du das einsehen würdest.« Dann sagte er rasch: »Er hat das Gebiß natürlich nicht auf Putnam gelegt, um jemanden irrezuführen, sondern er fand das Gebiß einfach, als er Putnam getötet hatte, und legte es mit ihm ins Grab, um es verschwinden zu lassen.« »Aber mußte er nicht annehmen, daß wir den Leichnam früher oder später finden würden?« »Deshalb hat er ihm die Kleider ausgezogen.« »Und warum hat er ihm dann das falsche Gebiß gelassen?« Auden mußte erst überlegen. Er ließ sich Zeit. Dann sagte er: »Hmmm ...« Spencer erklärte leise: »Nach den Beschreibungen ist der Mann in Macao Putnam. Ich neige zu der Ansicht von Christopher O’Yee, daß es sich bei dem Skelett um die sterblichen Überreste eines anderen handelt.« »Um wen?« 130
»Um jemanden, den Putnam getötet hat, und den Putnam als seine eigene Leiche vortäuschen wollte.« Auden sagte rasch: »Das ist richtig. Um sich in einen anderen zu verwandeln.« »Aber warum hebt er dann das Geld unter seinem richtigen Namen ab?« »Weil das Geld das Motiv für das Verbrechen ist. So einfach.« Spencer erklärte: »Also gibt sich der Mörder als Putnam aus. Aber gerade hast du gesagt, er selbst ist Putnam.« »Nein. Ich wollte dir nur beweisen, daß er es nicht war.« »Du hast bewiesen, daß er es war.« »Aber nein!« »Doch, wirklich, das hast du bewiesen, Phil«, sagte Spencer sanft. »Ach, habe ich das?« »Ja ...« Auden ließ eine Pause entstehen. Zeit, um einen anderen Gedankengang zu entwickeln. »Das Motiv war auf jeden Fall das Geld in Macao.« Er schaute Spencer erwartungsvoll an. »Nun, bis jetzt hat sich jedenfalls kein anderes Motiv ergeben.« »Schön, meinetwegen – das Motiv ist also vorläufig das Geld in Macao.« »So vorläufig ist es das nun auch wieder nicht, oder?« »Halt den Mund!« Der Große Detektiv wurde ein wenig nervös. Nach einer Weile sagte Auden: »Also dann ...« Er inhalierte wieder einen Zug und verpaßte dem berühmten Gehirn damit eine Nikotinwäsche. »Wenn der Mörder also nicht Putnam war, dann hat er Putnam ermordet und gibt sich nun als Putnam aus, um sein Geld in Empfang nehmen zu können. Richtig?« »Aber warum hat er –« »Langsam, mein Lieber. Dazu kommen wir noch. Er hat sich also Putnams Paß angeeignet und ihn mit seinem Foto benützt – richtig?« »Aber das Foto war nicht das seine.« »Ach was, Paßfotos schauen immer ähnlich aus, oder 131
nicht? Sie schauen jedem ähnlich, nur nicht dem Besitzer des Passes.« Spencer schüttelte den Kopf. »Außerdem trug er ja einen Bart, nicht wahr?« »Ja, sicher ...« »Er fuhr einfach nach Macao, zeigte bei der Einwanderungsbehörde seinen eigenen Paß vor, während er bei der Bank, um das Geld zu bekommen, Putnams Paß vorzeigte. Ganz einfach. Daraus kann man schließen, daß das Skelett das von Putnam ist. Richtig?« »Aber warum hat er nicht auch die Zähne verschwinden lassen, wenn er ihm schon die Kleidung ausgezogen hat?« »Vielleicht hat er das einfach vergessen – woher soll ich das wissen?« »Er hat das Gebiß auf die Brust des Skeletts gelegt, damit es gefunden wird. Und damit wir, als wir es fanden, daraus schlössen, es sei Putnams Gebiß und Skelett.« »Es ist Putnams Skelett«, erklärte Auden. »Das habe ich eben bewiesen.« »Aber warum hat er sich dann soviel Mühe gemacht? Warum hat er nicht Putnam die Kleider angelassen? Und wenn er an Putnams Stelle das Geld kassieren wollte, warum sollten wir dann wissen, daß Putnam tot ist? Das hätte doch das Ende der Geldüberweisungen bedeutet.« Er schüttelte den Kopf. »Nein – wer auch immer diesen Mann umgebracht hat, es war ihm egal, ob wir ihn als Putnam identifizierten oder nicht.« »Richtig«, sagte Auden. »Und deshalb hat er den Leichnam ausgezogen.« »Wieso?« »Nun, wegen dem, was ich dir eben gesagt habe ...« »Aber du hast mir im Grunde gar nichts gesagt«, erwiderte Spencer. »Und das, was du gesagt hast, führt mich nicht weiter. Ich meinte nur, daß es dem Mörder egal war, ob wir das Skelett als Putnam identifizierten oder nicht. Andererseits war es ihm doch nicht so egal, denn er hat ja die Leiche ausgezogen.« »Es war ihm egal, ob wir Putnam mit Hilfe des Gebisses identifizierten, aber es war ihm nicht egal, ob wir ihn mit 132
Hilfe seiner Kleidung oder seiner persönlichen Dokumente identifizierten.« Auden sprach jetzt wie zu einem völlig verblödeten Dorftrottel. »Du siehst doch – dadurch, daß er das Gebiß zurückließ, mußten wir annehmen, daß der Leichnam der von Putnam war.« »Ich dachte, du teilst Harry Feiffers Meinung, daß das Skelett wirklich Putnam war?« Er schaute Auden in die Augen. »Phil, he?« Auden gab keine Antwort. Die Zigarette verbrannte, ohne daß er einen Zug daraus inhalierte. Spencer sagte hilfreich: »Wenn wir so weitermachen, finden wir sicher noch die richtige Lösung ...« Er blätterte ein paar Karteikarten auf den Schreibtisch, für den Fall, daß der Große Sherlock auf den Gedanken kommen könnte, die Lösung läge in den Karten. Bei einem Detektiv wie Auden wußte man das nie so genau ... Und sein klassischer Kriminalfall in dem geschlossenen Lift war zweifellos etwas ganz anderes als Spencers Auftreten bei P.P. Fan ... Spencer fand, daß ein guter Detektiv immer noch von den Methoden der anderen lernen konnte. Er wartete. Auden schaute ihn an. Spencer lächtelte ihn ermutigend an. Er beugte sich vor, war ganz Ohr. Auden sagte: »Dieser Putnam ... »Ja?« Ein Muskel unter Audens linkem Auge zuckte kaum merklich. »Meiner Meinung nach ... also ich glaube, dieser verdammte Putnam –« »Ja?« fragte Spencer aufgeregt. »Es gibt ihn gar nicht!« brüllte Auden. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Karteikarten zu. Chagas’ Stimme sagte am Telefon: »Harry, ich bin da auf was gestoßen. Ich fand die Sache mit dem Kassierer in der Bank, der so besonders hilfreich war, nicht ganz sauber – vor allem, wenn man bedachte, daß er diesen Putnam nur einmal im Jahr zu sehen bekam. Also habe ich mich mit ihm auf Englisch unterhalten. Und dabei bin ich dahintergekommen, daß 133
die Geschichte mit Putnams Südstaatenakzent, den niemand verstehen konnte, nur dummes Gerede war. Sein Englisch ist nämlich mehr als miserabel. Er erinnert sich an Putnam aus einem ganz anderen Grund: Weil er ihm nämlich mal einen kleinen Gefallen erwiesen hat, und weil er sich damit ein paar zusätzliche Dollar verdient hat. Er hat ihm nämlich ein Mädchen vermittelt. Na, was sagen Sie dazu?« Feiffer legte seine Hand auf die Sprechmuschel und schaute zu O’Yee hinüber. Dann nahm er die Hand wieder weg und fragte Chagas: »Wie heißt dieses Mädchen.« »Ach, du meine Güte ...« »Was meinen Sie mit ›ach, du meine Güte‹?« Chagas flüsterte angewidert: »Wenn man bedenkt, was sich diese chinesischen Mädchen für europäische Namen geben! Sie nennt sich Muschi Yi.« »Ist sie noch in Macao?« »Das gehört auch zu dem ›ach, du meine Güte‹. Wir wissen es nicht. Und der zuhälterische Bankkassierer weiß es auch nicht. Wenigstens behauptet er das. Bis jetzt haben wir uns auch nur kurz am Bankschalter unterhalten. Wenn ich jetzt barsch werde und nach diesen kleinen schwarzen Notizbüchern frage, in denen er die Adressen und die Telefonnummern von solchen Mädchen verzeichnet hat, wird er behaupten, er habe keine Ahnung, wovon ich spreche, und die ganze Sache geht unter im Geschrei von protestierenden Bankangestellten.« Und um die Andeutung noch ein wenig deutlicher zu machen, fügte er hinzu: »Die Polizei von Macao hat nichts dagegen, hier und da den Kollegen in Hongkong kleine Gefälligkeiten zu erweisen, aber wenn ich zur großen Treibjagd blasen soll, muß ich mir das erst durch einen Vorgesetzten absegnen lassen.« Er fragte: »Stehen Sie zur Zeit gut mit Ihrem Polizeichef?« Feiffer schwieg. »Aha, ich verstehe.« Chagas schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß noch nicht einmal, was ich eigentlich rausfinden soll. Dieser Mann, der das Geld von der Bank abhebt, ist nicht derjenige, welcher er zu sein vorgibt – ist das richtig?« »Ich glaube.« »Nun, ist er der Richtige oder nicht?« 134
»Ich weiß es nicht. Wir haben hier einen Toten und wir – das heißt, ich glaube, es handelt sich dabei um einen Amerikaner namens Putnam. Daher neige ich auch zu der Ansicht, daß Ihr Putnam in Macao ein Schwindler ist.« Er sagte: »Die Tatsache, daß es keine Registrierung gibt, würde bestätigen, daß –« »Es bestätigt unter Umständen nur, daß die Einwanderungsbehörde schlampig arbeitet. Und ich kann nicht zu einer Bank in Macao gehen und dort Himmel und Hölle in Bewegung setzen wegen einem so lächerlichen Vergehen.« Er wartete einen Augenblick, dann sagte er: »Ich kann versuchen, daß der Kassierer freiwillig etwas ausspuckt, aber ich bräuchte eine stärkere Handhabe, um ihm drohen zu können. Und wenn ich ihm sage, daß es sich vielleicht um einen Bankbetrug handelt, dreht er mir womöglich völlig durch.« Feiffer fragte lahm: »Was würde Louis Renault in einem solchen Fall tun?« »Louis Renault würde mit Ingrid Bergman am Horizont verschwinden.« Dann fügte Chagas sehr ernst hinzu: »Ich bin jederzeit bereit, Harry, Ihnen die eine oder andere Gefälligkeit zu erweisen. Aber wenn ich erst in einem freien Hafen wie Macao die Banken gegen mich aufhetze, komme ich ganz schnell mit den Eiern in den Mixer.« »Dann vergessen Sie das mit dem Bankbetrug.« »Und ersetzte es wodurch?« »Durch den Mord.« »Ja, gern, Harry – aber durch was für einen Mord?« Chagas atmete tief ein. »Ich brauche keine umfassende Information, dazu ist es vermutlich auch noch zu früh. Aber ich müßte wenigstens wissen, ob dieser Putnam noch lebt, oder ob er tot ist.« »Und das weiß ich nicht.« »Na ja, ich weiß es auch nicht.« Feiffer dachte einen Moment an die Konturen unter der Plane ... dann sagte er verzweifelt: »Augusto, ich weiß nicht, ob er tot ist oder nicht. Aber jemand ist tot!« Er legte die freie Hand auf die Stirn und stöhnte: »Allmächtiger ...« Danach war es lange still auf der Seite von Macao, bis schließlich Chagas’ Stimme leise »okay ...« sagte. 135
»Tut mir leid, Augusto, aber ich weiß momentan wirklich nicht, was ich –« »Schon gut.« Chagas fügte freundlich hinzu: »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Und die Leitung wurde unterbrochen, als Chagas in seinem Büro an der Avenida de Sidonio Pais hinausschaute auf die breiten, ruhigen Straßen der ältesten Kolonie Asiens, und den Hörer auflegte. O’Yee starrte die Katze an. Feiffer saß an seinem Schreibtisch und las die Kopie des Auszugs aus der Militärakte zum x-ten Mal. O’Yee sagte: »Man kann doch nicht nach Macao fliegen, oder?« Feiffer schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Flugplatz auf Macao.« »Und der Hafen ist nicht für größere Passagierschiffe geeignet?« »Nein. Aber das wissen Sie doch. Warum fragen Sie mich ständig nach Dingen, die Sie schon wissen?« »Ich weiß es nicht. Ich denke gerade darüber nach ...« Er dachte: Gibt es einen Landweg? Zu dämlich – wie sollte man auf dem Landweg nach Macao gelangen? Sicher, Macao war durch einen schmalen Isthmus verbunden mit – ja, natürlich! Es gab einen Landweg nach Macao, und der führte über – Er sagte: »Der einzige Landweg nach Macao führt durch Rotchina.« Feiffer erwiderte müde: »Sie sind wirklich ein schlaues Kerlchen. Gut – Sie bekommen eine Eins in Erdkunde.« Er schaute O’Yee an, dann wandte er sich wieder dem Auszug aus der Armeeakte zu. Und sagte beiläufig: »Den können Sie vergessen – den Landweg, meine ich.« »Ja«, erwiderte O’Yee. Er nickte. »Den kann ich vergessen, ja. Sie haben vollkommen recht. Verdammt recht haben Sie!« »Ach, tun Sie mir doch einen Gefallen und halten Sie den Schnabel, ja?« sagte Feiffer, ohne aufzuschauen. O’Yee nickte stumm. Feiffer sagte freundlich: »Phil – na, wie geht es Ihnen?« 136
Auden schaute sich in der Kriminalbereitschaft um, als gebe es vielleicht noch einen anderen mit dem Namen Phil. »Haben Sie Glück gehabt mit der Aufgabe, die ich Ihnen gestellt habe, Phil?« »Nein.« Feiffer schaute Spencer an. Und Spencer sagte freundlich: »Hallo, Boss.« Feiffer ignorierte ihn. »Ich habe über Ihre Theorien nachgedacht, Phil, und bei Gott, ich bin sicher, daß mehr als nur ein Körnchen Wahrheit drinsteckt ...« »Mehrere Körnchen«, fiel O’Yee ihm ins Wort. »Vielleicht sogar ein ganzer Haufen Körnchen.« Er hatte die Hand am Hörer und war bereit, eine Nummer zu wählen. »Ach, wirklich?« fragte Auden. »Ja, wirklich, Phil.« Feiffer ballte seine rechte Hand und schmetterte sie in eine Richtung, die so allgemein war, daß man darunter die ganze Welt samt ihrer ungelösten Rätsel verstehen konnte. »Ein Mann wie Sie –« »Ach, ja?« sagte Auden. Dann schaute er Spencer an und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Feiffer sagte beiläufig: »Phil, was diesen Ong betrifft, den Sie festgenommen haben – Sie wissen, schon, der mit dem Vetter bei irgendeiner kommunistischen Organisation ...« »Ich erhebe keinen Einspruch, wenn er verlangt, gegen Kaution entlassen zu werden«, sagte Auden. »Aber Phil ...« »Ich habe ihm Angst eingejagt, Harry – warum sollte ich Einspruch gegen Entlassung auf Kaution erheben?« Er sah Feiffers Miene und O’Yees Hand, die noch immer den Hörer hielt. Dann sagte er in einem Ton, der die kommende Niederlage bereits beinhaltete: »O nein, Harry ...« Feiffer erklärte freundlich und vernünftig: »Phil, ich habe keine Lust, Ihnen gegenüber als Vorgesetzter aufzutreten, aber –« Und Auden erwiderte wie ein kleiner Junge: »Prima, Harry ...« Sein Begleiter, Untergebener und Chronist, sein Dr. Watson, hatte bereits den Blick abgewendet. 137
Kapitel
13
Chagas’ Stimme sagte fröhlich: »Wir haben sie, unsere Miss Muschi Yi. Sie zwitschert wie ein Vögelchen – alles, was wir hören wollen.« Feiffer fragte ruhig: »Na, und was erzählt sie denn?« »Die kurvenreiche Muschi? Eine ganze Menge. Also, zunächst einmal legt sie Wert auf die Feststellung, daß sie ein armes Mädchen ist mit einem Herzen aus purem Gold, einer verwitweten Mutter und drei kleineren Geschwistern, die sie ernähren muß. Und daß sie bereit ist, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, aber fürchtet, daß man sie für ein schlimmes Mädchen hält, da sie einmal – ein einziges Mal! – vom Pfad der Tugend abgekommen und gestrauchelt ist.« Nach der langen Rede war ihm die Luft ausgegangen, und er mußte erst einmal Atem schöpfen. »Und sie ist verlobt – hätten Sie das gedacht? – mit einem armen, schwer arbeitenden Bauern, der mit seinen bloßen Händen das Traumhaus zu bauen versucht, das sie sich schon immer gewünscht haben, aus dem Lehm dieser Erde ...« Er hustete. »Herzzerreißend, nicht wahr? Und sie wurde geschlagen, ja, zwei bis dreimal täglich geschlagen. Von wem? Von dem grausamen Mann, der sie zu einem lasterhaften Leben zwang.« Er sagte leise: »Sie hat mir sogar den Anblick ihrer Striemen versprochen – zum Vorzugspreis.« Er hielt einen Moment inne. »Putnam –« »Ja?« »Sie hat ihn nur ein einziges Mal getroffen. Vor etwa vier oder fünf Monaten. Stimmt das mit dem überein, was Sie wissen?« »Es stimmt. Und – sie erinnert sich noch an ihn?« »Ja, das fand ich auch erstaunlich. Aber nachdem sie, wie sie behauptet, nur einmal, oder vielleicht auch zwei- oder dreimal, vom Pfad der Tugend abgewichen ist ... immerhin, sie erinnert sich an ihn. Er war einer ihrer besonders merkwürdigen Kunden. Normalerweise besteht ihr Kundenkreis ausschließlich aus Chinesen, Leuten der besten Gesellschaft und deren Bekannten. Der Bankkassierer ist kein berufsmäßiger Zuhälter, er macht das nur nebenberuflich, und Putnam 138
ist der einzige Weiße, den er ihr je geschickt hat.« »Paßt die Beschreibung?« fragte Feiffer. »Genau.« »Bis hin zum Hinken?« »Ach ja, dieses Hinken. Das Hinken ist nur zeitweise zu bemerken, wie sie behauptet. Und es ist nicht sehr auffallend – eher eine etwas sonderbare Gangart.« Feiffer lächelte zufrieden. Chagas sagte leise: »Nach einer Sitzung mit der ziemlich athletischen Muschi kann ich mir vorstellen, daß so mancher eine etwas sonderbare Gangart an den Tag legt ...« »Aber wenn sie ihn in der Bank aufgegabelt hat, muß er diese komische Gangart schon vor der Sitzung gezeigt haben.« »Klar. Und weil wir schon dabeisind: Eine solche ›Sitzung‹ hat in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden. Das ist auch einer der Gründe, weshalb sie sich so gut an ihn erinnert.« Er fügte hinzu: »Nach ihrer Aussage ging Putnam mit ihr aufs Zimmer und saß dann den ganzen Nachmittag dort im Dunkeln, wobei er immer wieder auf seine Armbanduhr schaute. Muschi dachte schon, er sei vielleicht ein Schwuler, der mit Gewalt ein Nichtschwuler werden wollte.« Und er sagte mit nachdrücklicher Betonung: »Ich erspare Ihnen die ausführlichen Details von Muschis Kurmitteln, die sie für Schlappschwänze bereithält – aber falsch geraten, Muschi –: Er erklärte ihr in sehr maskulinem, heterosexuellem Ton, sie solle ihn gefälligst in Ruhe lassen. Er saß einfach da und schaute auf die Uhr. »Worauf wartete er? Können Sie sich das denken?« »O ja – auf die Fähre.« »Nach Hongkong?« »Jawohl, auf die Nachtfähre nach Hongkong. Die mit den Privatkabinen. Dieser Bursche wollte ganz einfach nicht gesehen werden. Ungefähr fünfzig Minuten vor der Abfahrtszeit schickte er Muschi weg.« »Um was zu tun?« »Ja – das ist die Frage. Um allein zu sein, sicher – und weil er irgend etwas vorhatte, bei dem er keine Zeugen brauchen konnte. Die schlaue Muschi, ein Mädchen, das sich nicht einfach wegschubsen läßt, wartete natürlich prompt unten auf 139
der Straße, bis er das Haus verließ.« »Hinkend?« »Nein, nicht hinkend«, sagte Chagas. »Es war dunkel, daher konnte sie nur seine Silhouette erkennen – aber nein, er hat nicht gehinkt.« »Ich wußte doch, daß es Putnam war!« »Was?« »Ich wußte, daß Putnam tot ist ...« »Aha. Na schön; wenn Ihr Freund Putnam hinkte, dann war Muschis Freund nicht Putnam. Aber ich habe noch mehr. Was ich Ihnen jetzt sage, klingt vielleicht etwas sonderbar, aber ich gebe es Ihnen zum gelegentlichen Gebrauch einfach weiter. Muschi, deren Englisch nicht besonders gut ist, während ihre Körpersprache weit über dem Durchschnitt liegt, hat mich davon in Kenntnis gesetzt, daß dieser Kerl zwar schon um die Fünfzig war oder so ...« Er fragte mit Nachdruck: »Wäre das in etwa das Alter von diesem Putnam?« »Ja.« »Jedenfalls, sie schätzte ihn zwar als einen Mann um die Fünfzig ein, aber ... Das klingt wirklich ein bißchen blöd.« »Weiter«, drängte ihn Feiffer. »Nun ja, er hat sich betragen wie ein Zwanzigjähriger. ›Jungenhaft‹, war das Wort, das Muschi dafür benützte. Und ich nehme an, sie muß es wissen. Na, können Sie was damit anfangen? Er betrug sich zunächst wie ein Fünfziger, und dann plötzlich, als er das Haus verließ, waren seine Bewegungen die eines Twens, und –« Er brach ab und fragte: »Können Sie sich das erklären, oder war es nur so ein Gerede von der allzu eifrigen Muschi?« »O nein, es ergibt durchaus einen Sinn.« »Wie denn?« »Der echte Putnam wurde umgebracht, als er Ende zwanzig war. Wenn dieser andere versucht, seine Rolle zu spielen, dann imitiert er ihn so, wie er sich an Putnam erinnert ...« »Aha. Ich verstehe. Und der Mörder hat ihn gut gekannt, wie ich daraus schließe?« »Das steht hundertprozentig fest.« Chagas sagte: »Und wenn er ihn all die Jahre zu imitieren 140
versuchte, so ist diese Darstellung nicht ›mitgewachsen‹, sozusagen – ein faszinierender Gedanke! Ich sollte diese Muschi auf Staatskosten in der Polizeiakademie ausbilden lassen.« Und er fügte hinzu: »Hab’ ich vergessen, Ihnen zu berichten, daß die Bank einen Stapel von Quittungen schickte, die Putnam jeweils beim Empfang der Geldsummen ausgestellt hat? Sie sind praktisch unberührt aufbewahrt worden, einige davon fast an die zwanzig Jahre. Ich bekam sie durch einen Boten mit weißen Handschuhen, der mir die Quittungen in einem Zellophanbeutel übergab. Ich habe sie ans Labor weitergegeben, damit man die Fingerabdrücke mit denen vergleicht, die Sie mir von Putnam geschickt haben. Ich nehme an, ich kann Ihnen die frohe Botschaft spätestens heute nachmittag durchgeben.« Dann fragte er: »Gibt es sonst noch was, das der Held des Ostens für Sie tun kann?« »Der Mann, der das Geld abholt, ist demnach nicht Putnam.« »Ich würde sagen, das ist zu diesem Zeitpunkt eine vernünftige Folgerung – ja.« »In diesem Fall haben Sie alles für mich getan, was Sie tun konnten.« Und Feiffer fügte freundlich hinzu: »Es sei denn, Sie halten das Beste bis zum Schluß zurück.« »Das tue ich doch immer, oder?« »Unverbesserlich.« Feiffer fragte: »Und was ist das? Hat ihm die schlaue Muschi vielleicht ein Betäubungsmittel in den Tee gegeben, um anschließend seine Taschen zu filzen? Sagen Sie bloß nicht, daß Sie auch noch wissen, wie der Bursche wirklich heißt!« Er fragte: »Wissen Sie es, Augusto?« »Falsch geraten. Meine Muschi ist ein braves Mädchen.« Er ließ wieder eine Pause entstehen. »Nein, aber Muschi, die Frau von Welt, hat etwas gerochen.« Feiffer sagte betrübt und enttäuscht: »Ich fürchte, ich weiß, was Sie jetzt sagen werden ...« »Sie haben keine Ahnung. Nein: Muschi, das bildungsbeflissene Wesen, hat einmal in einem Etablissement der darstellenden Kunst gearbeitet – ich glaube, der Name bedeutet auf Englisch ›Nackte Kätzchen‹ ... Sicher, nach Darstellern wie Laurence Olivier oder einer Dame wie Edith Evans sucht man dort wohl vergebens, aber immerhin –, und dort machte 141
Muschi zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Geruch, den sie in Putnams Gegenwart festgestellt hat ...« »Was war das für ein Geruch?« »Mastix.« »Was?« »Mastix. Putnam roch deutlich danach.« »Das kapiere ich nicht.« Chagas stieß einen gedämpften Laut der Mißbilligung aus. »Man muß ziemlich nahekommen, wenn man den Geruch wahrnehmen will. Aber in einem gewissen Stadium des Nachmittags scheint sie ihm ziemlich nahegekommen zu sein. Mastix, das Klebemittel. Er hatte offenbar eine Menge Geld dafür ausgegeben, wie mir Muschi, die Erfahrene, versicherte; er war angeblich eine Spitzenleistung – wenn man vom Geruch absah.« Wieder wartete er einen Augenblick und gab Feiffer die Chance, zu kapieren. »Und dann, als sie ihn auf der Straße sah, war er weg. Genau wie das Hinken. Nun wußte sie, warum er sie auf die Straße geschickt hatte. Er hatte ihn abgenommen, bevor er zur Fähre ging, um als ein anderer nach Hongkong zurückzukehren.« Chagas sagte: »Ich habe Ihre Beschreibung des echten Putnam vor mir: durchschnittlich gebaut, braunes Haar, braune Augen, Vollbart.« Er fuhr rasch fort: »Der Bart, Harry, und Mastix, um ihn festzukleben!« Dann, triumphierend: »Der Bart! Er war falsch. Er nahm ihn ab, nachdem er das Mädchen hinausgeschickt hatte. Und bevor Sie mich fragen: Die Kabinen kann man nicht vorbestellen, sie werden bei der Ankunft auf der Fähre vergeben. Daher können wir nicht feststellen, wer er wirklich war, aber wir wissen, daß der Bart falsch war, und daher kann ich Ihnen versichern: der Mann, der das Geld auf der Bank abholte –« »– war auf keinen Fall Putnam«, ergänzte Feiffer. Feiffer sagte mit Entschiedenheit ins Telefon: »Putnam ist tot.« »Ist das sicher?« Weales Stimme klang ein bißchen rauh. Er schien sich sehr zu bemühen, seine Begeisterung im Zaum zu halten. »Ich meine, ist das wirklich sicher? Der Schweinehund ist wirklich tot?« 142
»Ja.« »Mein Gott – wundervoll ...« »Ich erwarte noch die hundertprozentige Bestätigung aus Macao, heute nachmittag, aber nach unseren Ermittlungen liegt Putnams Skelett in der Leichenhalle von Hong Bay, und das braucht nur noch bestätigt zu werden.« »Mein Gott! Das ist –«, sagte Weale. »Das ist –« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gott, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lange ... Und dann war er es gar nicht! Jesus Christus, es war ein ganz anderer, der mich Jahr für Jahr gemolken hat! Haben Sie den Kerl schon erwischt?« »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.« »Aber es ist sicher, daß Eddie tot ist?« »So gut wie sicher.« »So gut wie ... ?« »Es ist sicher«, sagte Feiffer. »Ich nehme an, der Coroner wird es demnächst bestätigen, und dann kann das Skelett begraben werden.« Weale rief begeistert: »Dafür bezahle ich! Mein Gott, all die Jahre, und ich dachte, Eddie läßt mich bluten – dabei war der arme Teufel schon seit ... Also, ich komme für das Begräbnis auf!« Er wartete einen Augenblick und fuhr dann verwundert fort: »Ich dachte, mich würde so leicht nichts mehr erschüttern, aber, mein Gott, das bringt mich jetzt doch aus der Fassung. Es war also gar nicht Eddie, sondern jemand anders ...« Er schloß überschwänglich: »Mr. Feiffer, wenn Sie mal in der Nähe meiner Kneipe vorbeikommen und Lust haben, das ganze Haus leerzusaufen – lassen Sie Ihr Portemonnaie daheim!« »Danke.« »Ich meine es im Ernst. Jesus Christus.« Er zögerte. Seine Stimme wurde nachdenklich und leise. »Ich – ich glaube, ich muß die Sache jetzt erst mal genau überlegen. Ich muß sie mit einem Anwalt besprechen. Ich habe seit –« Dann plötzlich: »Und derjenige, welcher das Geld kassiert hat, ist vermutlich auch sein Mörder, nicht wahr?« »Das ist anzunehmen.« »Und Sie werden ihn erwischen?« »Möglicherweise.« 143
»Ja, Sie werden ihn erwischen. Mein Gott, wenn ihn jemand erwischt, dann Sie und Ihre Leute. Kann ich etwas für Sie tun?« »Sie können die nächste Rate nach Macao überweisen.« »Was? Sind Sie nicht ganz bei –« Er brach ab. »Ja, natürlich! Und wenn der andere kommt, um das Geld zu kassieren, dann werden Sie ihn – aber wann wird das sein? Die nächste Rate ist ja erst im Juni nächsten Jahres fällig. Und was wird mit Eddie?« »Ich fürchte, der muß noch eine Weile warten.« »Richtig! Ja, ich verstehe. Ja.« Weale fügte hinzu: »Großartige Arbeit – mein Gott, was für eine Erleichterung!« Seine Stimme wurde vertraulich. »Wissen Sie, ich arbeite seit zwanzig Jahren hier in dieser Bar und – und die ganze Zeit habe ich Eddie verflucht, und jetzt stellt sich heraus ...« Es klang so, als wäre er den Tränen nahe. »Armer Teufel. Armer, armer Eddie. Ich habe ihn zwanzig Jahre lang für einen Dreckskerl, für eine miese Ratte gehalten, und jetzt ...« Weale sagte traurig: »Wenn man jemanden so haßt, wie ich Eddie in all den Jahren gehaßt habe, dann verliert man das Augenmaß; man vergißt, daß es sich um einen lebenden Menschen handelt, und daß er –« Er suchte offenbar nach Worten. Dann sagte er: »Mein Gott! Ich bin sicher, Sie verstehen, was ich meine.« Dann verstummte er. Feiffer sagte leise: »Ja, ich verstehe sehr gut, was Sie meinen.« Die Stimme des Polizeichefs sagte drohend: »Harry, den CIA. Ich hatte den CIA am Telefon, Harry ...« »Ach, tatsächlich, Sir?« »Ach, tatsächlich, Sir? Freut mich, daß Sie es so gelassen aufnehmen. Oder haben Sie die drei Buchstaben nicht verstanden? Ich sagte C-I-A! Central Intelligence Agency – der amerikanische Geheimdienst! Und welchen Anruf habe ich als nächsten zu gewärtigen, Harry? Vielleicht den des KGB?« »Einer meiner Leute hat sich mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt, um ein paar Details in einem Mordfall zu erfahren. Es scheint, daß die Sache an den CIA weitergegeben wurde.« 144
»Das müssen Sie mir schon näher erläutern, Harry«, sagte der Polizeichef drohend. Und er fuhr Feiffer an, ehe dieser antworten konnte: »Und, Harry, es würde mich sehr beruhigen, wenn Sie mir versichern könnten, daß der Mann, hinter dem Sie her sind, nicht in Rotchina lebt.« »Nein, er lebt nicht in Rotchina. Jedenfalls, soweit ich das überblicken kann.« »Was soll das heißen – soweit Sie es überblicken können? Also ist er in Rotchina oder nicht?« »Nein, Sir, er ist nicht in Rotchina.« »Gut. Und wo ist er dann?« »Wir nehmen an, entweder in Hongkong oder in Macao.« Feiffer fügte beruhigend hinzu: »Abgesehen davon, waren wir bis jetzt noch hinter niemandem her. Wir haben lediglich versucht, die Identität dieses –« »Es geht also wieder um das gottverdammte Skelett, was?« »Jawohl, Sir.« »Wessen Skelett ist es?« »Das Skelett eines Amerikaners namens George Edward Putnam.« »Sind Sie sicher?« »Ja, ich bin sicher. Er wurde vor über zwanzig Jahren ermordet. Seit damals benützt jemand seine Identität, um einen hiesigen Barbesitzer zu betrügen – und zwar über die Prosperity-Bank in Macao.« »Ich verstehe.« »Jawohl, Sir.« Der Polizeichef sagte: »Wenn Sie es mir in einem Ton erklären, als wüßten Sie die Antworten auf alle Fragen, klingt es seltsamerweise ganz einfach.« Er fragte: »Ist es denn ganz einfach, Harry?« »Jetzt ist es einfach, jawohl, Sir.« Der Polizeichef schien besänftigt zu sein. Jedenfalls schwieg er bis auf weiteres. Feiffer sah ihn geradezu vor sich, wie er hinausschaute aus seinem Büro im dritten Stock und die Schiffe im Hafen betrachtete. »Und diese Spionagegeschichte – die haben sich die Burschen beim CIA nur ausgedacht, um ihre Daseinsberechtigung zu beweisen, was?« »Ich sehe keinerlei Zusammenhang zwischen diesem Fall 145
und irgendwelchen Spionageaffären, Sir.« »Gut. Sehr gut. Ich verstehe. Und was ist mit dem Kerl von der kommunistischen Genossenschaft, der mich dauernd wegen seinem Vetter anruft?« »Das ist ein bereits abgeschlossener Fall, Sir.« »Sehr gut.« »Und, Sir, ich darf vielleicht hinzufügen, daß wir bei unserer Untersuchung –« »Nun übertreiben Sie nicht, Harry. Sie haben mich beschwichtigt, aber Sie sollten es nicht übertreiben.« »Nein. Sir.« »Und wann werden Sie diesen Fall mit dem Skelett abschließen?« fragte der Polizeichef. »Wissen Sie schon, wer der Mörder und Betrüger war?« »Nein, Sir.« »Und wer ist der Hauptverdächtige?« »Wir haben bisher keinen«, sagte Feiffer rasch. »Um die Wahrheit zu gestehen, Sir –« Er brach ab, weil er glaubte, gehört zu haben, daß der Polizeichef ein entrüstetes »Ha!« ausgestoßen hatte. »Um die Wahrheit zu gestehen, wir haben unsere Zeit und unsere Bemühungen bisher darauf konzentriert, herauszufinden, wer das Opfer war. Jetzt ist der Fall vergleichsweise einfach –« »Einfach?« fragte der Polizeichef skeptisch. »Soll ich Ihnen das glauben? Oder wollen Sie damit nur –« »Es ist jetzt wirklich ganz einfach, Sir. Wir brauchen lediglich eine Untersuchung des Coroners einzuberaumen, für einen Zeitpunkt in etwa sechs Monaten, und –« Der Polizeichef war sprachlos. »– und dann wird das Opfer des Betrugs seine übliche Zahlung an die Bank in Macao leisten, und die Polizei von Macao kann denjenigen ermitteln, der das Geld dort abhebt. Danach brauchen wir noch ein Auslieferungsbegehren an die Polizei von Macao zu richten, und die Sache ist erledigt.« Der Polizeichef fragte zurückhaltend: »Das ist alles?« »Jawohl, Sir, das ist alles.« »Uns sonst ist nichts mehr dran an dem Fall?« »Nein, Sir.« »Nichts, das schieflaufen kann in diesem zauberhaften 146
Idyll, das Sie mir eben beschrieben haben?« »Ich könnte mir nicht vorstellen, was.« Der Polizeichef wartete ein paar Sekunden, dann sagte er langsam, Wort für Wort, als fürchte er, daß eine seiner Silben zurückprallen und wie eine Bombe explodieren könnte: »Nun, in diesem Fall gratuliere ich Ihnen zu einem gut gelösten Fall.« »Danke, Sir.« »Sie fassen das doch hoffentlich in Ihrem Bericht zusammen, damit ich es den verschiedenen Stellen zeigen kann, die mich seit Tagen schikanieren.« »Selbstverständlich, Sir.« »Und es ist klar, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« Danach entstand eine sehr lange Pause, ehe der Polizeichef sagte: »Harry, Sie haben mich sehr, sehr glücklich gemacht. Wirklich, sehr, sehr glücklich. Ein alter Mann wie ich –« »Sie sind nicht so alt, Sir«, unterbrach ihn Feiffer. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen –« »Übertreiben Sie nicht schon wieder, Harry«, sagte der Polizeichef, und seine Stimme klang plötzlich gar nicht mehr freundlich. »Ich warne Sie. Übertreiben Sie nicht ...« »Nein, Sir.« Feiffer lächelte noch, als er den Hörer auflegte. Chagas’ Stimme am Telefon sagte: »Harry, tut mir leid, daß ich nicht früher angerufen habe, aber wir mußten noch ein paar Dinge überprüfen. Die Aussage von Muschi Yi, und –« Er setzte rasch hinzu: »Sie hat alles, was Sie zuerst sagte, noch einmal bestätigt, so daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Es ist nur, weil ...« Er wartete einen Moment. »Hören Sie, ich muß es jetzt genau wissen. Das ist doch der echte Putnam, der als Skelett bei Ihnen in der Leichenhalle liegt, oder?« »Natürlich«, erwiderte Feiffer fröhlich. »Das hab’ ich mir gedacht.« Er wartete noch einen Augenblick und atmete tief ein. »Dann ...« Anscheinend suchte er noch nach Worten. »Äh – hören Sie, Harry, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das beibringen soll, aber ... aber wir haben die 147
Fingerabdrücke überprüft, die Sie uns geschickt haben, und mit den Abdrücken auf den Quittungen der Bank verglichen. Bevor Sie jetzt etwas dazu sagen: Wir haben alle Quittungen verglichen, nicht nur die aus der ersten Zeit, und dann haben wir uns hingesetzt und noch einmal von vorn angefangen ... Sehen Sie, deshalb hat es solange gedauert, bis ich Sie anrufen konnte.« Seine Stimme klang jetzt etwas strapaziert. »Und dieser Schwindler, der Kerl mit dem falschen Bart, mit dem vorgetäuschten Hinken und so weiter ... Wir haben seine Fingerabdrucke überprüft, einen nach dem anderen ...« Feiffer fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er fragte mit gepreßter Stimme: »Und?« Jetzt stieß Chagas in einem Atemzug hervor, damit er es so rasch wie möglich hinter sich hatte: »Und der Mann, der in all den Jahren das Geld kassiert hat – darüber besteht überhaupt kein Zweifel, dieser Mann ist ...« »Wer?« fragte Feiffer, und seine Stimme überschlug sich fast. »Er ist der echte Putnam«, sagte Chagas. Kapitel
14
O’Yee hatte seinen Kerosinofen wieder repariert. Jetzt, an einem bitterkalten Spätnachmittag im Winter, brodelte das Büro der Kriminalpolizei in der Yellowthread Street vor sauerstoffarmer Heißluft. Die Katze, deren Träume von sonniger Karibik Wahrheit geworden waren, streckte sich in voller Länge auf dem Boden. Sie krümmte den Rücken, schaute sich mit trüben, hedonistischen Augen um, tappte dann genau zu der Stelle zwischen Spencers und Audens leeren Sesseln, verglich die Gerüche und entschied sich für Auden. Sie sprang geräuschlos auf den Sessel, rollte sich zusammen und blinzelte kurz hinüber zu O’Yee. Gleich danach schlief sie ein. O’Yee sagte: »Ich habe das Gefühl, daß sich jeden Augenblick Orson Welles am Rundfunk melden und verkünden wird, es war alles nur ein Scherz.« Er sah, wie Feiffer ihn fragend anschaute. »Der Krieg der Welten: dieses Hörspiel, das 148
viele Leute für echt hielten, und in dem man so tat, als seien die Marsmenschen tatsächlich auf der Erde gelandet ...« Seine Stimme wurde ganz leise. »Na, Sie wissen schon.« »Aber es ist kein Scherz.« »Das habe ich auch nicht behauptet. Und – er ist tatsächlich der ›Mann, der niemals lebte‹, nicht wahr? Und wenn das, was Chagas von seinen Fingerabdrücken behauptet, der Wahrheit entspricht, dann hat er das verdammte Recht, das zu tun, was er getan hat. Es ist nicht gegen das Gesetz, sich einen falschen Bart anzukleben, wenn man sein eigenes Geld von der Bank abhebt, und es ist sicherlich auch nicht –« Feiffer unterbrach ihn mit düsterer Miene. »Wenn es tatsächlich Putnam war, der das Geld abgehoben hat.« »Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Die Fingerabdrükke –« »Dafür haben wir bis jetzt nichts als die Auskunft von Chagas.« »Sie glauben doch nicht, Augusto hätte ein Interesse, uns –« »Nun, jeder Mensch macht mal einen Fehler.« »Aber nicht, wenn es um Fingerabdrücke geht. Sie wollen mir nicht weismachen, daß die Polizei von Macao nicht in der Lage wäre, zwei Fingerabdrücke miteinander zu vergleichen.« »Also schön! Dann war es eben Putnam! Sind Sie jetzt glücklich? Okay, es war Putnam!« »Okay«, wiederholte O’Yee leise. Er richtete den Blick auf die Katze. »Ist es Ihnen zu heiß hier drinnen, Harry?« »Was soll das nun wieder heißen?« Feiffer schob die Kopien des Reisepasses und der Militärakte beiseite. »Also gut, es ist Putnam – okay ? Zufrieden ? Der Mann in Macao ist Putnam. Er war es all die Jahre. Er ist regelmäßig zur Bank gegangen und hat sein Geld abgehoben – okay? Ich gebe es ja zu. Und das Skelett ist nicht Putnam, sondern jemand anders, klar? Sind Sie jetzt endlich zufrieden?« »Also, mir ist es, offen gestanden, egal.« »Ich weiß, daß es Ihnen egal ist. Ihnen ist alles egal. Ich bin ja nichts als ein beschränkter Trottel, der die Affäre so behandelt hat, als wenn ein wirklicher Mensch ermordet worden 149
wäre. Für euch ist das nichts weiter als ein Puzzlespiel, eine Art Kreuzworträtsel, wie man es auf der Unterhaltungsseite der Tageszeitungen findet. Okay, okay, ich habe mich geirrt, es war also nicht George Edward Putnam. George Edward Putnam läuft gesund und munter herum, kratzt sich am Hintern und trägt einen falschen Bart – meinetwegen. Und wer, zum Teufel, ist der Tote? Sagen Sie mir, wer der Tote ist!« »Ich weiß es nicht.« »Natürlich. Sie können es auch gar nicht wissen.« »Wissen Sie es denn?« »Nein, ich weiß es auch nicht. Und bevor Sie mich fragen: Ich weiß nicht, warum wir ausgerechnet Putnams Gebiß bei dem Skelett gefunden haben, wer immer der Besitzer dieses Skeletts gewesen sein mag, und ich weiß auch nicht, warum Putnam ihn umgebracht und es so eingerichtet hat, daß man ihn für den Toten hielt, während er andererseits frisch und munter herumspazierte und als Putnam seine Dividenden kassierte. Ich weiß nicht, warum er das getan hat – und ich könnte Ihnen nicht einmal den Grund dafür nennen, wenn es wirklich so gewesen ist. Ich weiß auch nicht, wer da in Wirklichkeit ermordet wurde. Obendrein kann ich mir nicht vorstellen, wie wir das herausfinden sollen – sind Sie jetzt zufrieden?« O’Yee nickte. Feiffer sagte langsam: »Wer weiß – vielleicht hat das falsche Gebiß keinerlei Verbindung mit dem Skelett. Vielleicht hat es Putnam durch puren Zufall dort verloren, und es ist irgendwie –« Er sagte im Tonfall eines geschlagenen, besiegten Mannes: »Ich weiß es nicht.« Er nahm die beiden Fotokopien in die Hand. »George Edward Putnam, ein ehemaliger Schreibstubensoldat. Ein ganz normaler Durchschnittsbürger.« Er schob die Blätter weg. »Und da steht auch nichts drin, was mir weiterhelfen würde.« O’Yee sagte nachdenklich: »Es gibt bis jetzt kein Motiv, Harry. Das einzige, was wir über Putnams Leben wissen – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – ist diese Partnerschaft mit Weale. Wäre Putnam tot aufgefunden worden, und hätte Weale ihm kein Geld überwiesen, so wäre Weale unser Hauptverdächtiger. Aber Weale hat ihm Geld überwiesen, 150
und zwar jahrelang.« Er kratzte sich am Kopf. »Wenn es sich aber bei dem Toten nicht um Putnam handelt, muß es jemand anders sein. Ich glaube nicht, daß es irgendwelche Querverbindungen gibt. Wovon können wir schon ausgehen? Von dem falschen Gebiß und von dem mehr als vagen Gefühl, daß –« Feiffer sagte: »Und davon, daß er hinkte.« »Ein Zufall.« »Das kann ich nicht glauben.« »Sie müssen es aber glauben. Es ist schließlich nicht völlig auszuschließen, daß sich zwei Männer innerhalb einer Periode von mehreren Jahren hier in Hongkong die Knöchel gebrochen haben.« »Es ist so gut wie auszuschließen, wenn man zudem das Gebiß hat, das eine Verbindung herstellt.« »Aber das Gebiß stellt keine Verbindung her, Harry. Der Mann in Macao war wirklich Putnam.« Er senkte die Stimme. »Hören Sie, ich weiß nicht, warum Ihnen ausgerechnet dieser Fall soviel bedeutet, aber Sie müssen doch die Tatsachen akzeptieren, daß alles gegen Sie steht. Es gibt im Grunde gar keinen Fall.« »Und was ist mit dem Paß? Warum benützte er ihn nicht? Und wo, zum Teufel, ist dann dieser echte, der lebende, herumhinkende Putnam – ich meine, wo lebt er jetzt?« »Ich weiß es nicht. Aber kommt es denn darauf an? Sie tun ja gerade so, als hätte die Welt erst an dem Tag ihren Anfang genommen, als der Besitzer dieses Skeletts ermordet wurde. Es ist doch auch durchaus denkbar, daß Putnam irgendeinen Grund hatte – meinetwegen einen etwas zweifelhaften –, all die Jahre unerkannt und ungesehen durch die Weltgeschichte zu hinken. Aber das sagt noch lange nicht, daß er irgend etwas zu tun hatte mit dem Skelett, das wir in der Hop-PeiBucht gefunden haben.« Feiffer erwiderte nichts. Er starrte wieder auf die Kopien. Seine Aufmerksamkeit schien sich auf etwas gerichtet zu haben, doch dann verwarf er offensichtlich den Gedanken. »Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Harry?« »Aber warum hat dann Putnam seine eigene Zahnprothese auf den Leichnam gelegt?« 151
»Ich weiß es nicht.« »Und ich weiß es auch nicht. Aber es muß irgendeinen Grund dafür geben.« Er nickte sich selbst zu. »Und wenn es einen Grund dafür gibt, dann gibt es auch eine Verbindung, und wenn es eine Verbindung gibt, werde ich herausfinden, worin sie besteht.« O’Yee sagte leise: »Sie haben wirklich einen Narren gefressen an diesem Putnam. Aber gut, setzen Sie sich mit der Polizei in Macao in Verbindung und bitten Sie sie, den Mann zu schnappen, der in sechs Monaten das Geld von der Bank abhebt. Ich weiß freilich nicht, was Sie sich davon versprechen, wenn Chagas Leute ihn dann fragen: ›Entschuldigen Sie, haben Sie in letzter Zeit mal ein Gebiß verloren? Sagen wir, vor zwanzig Jahren. Ja, ich sagte zwanzig. Ja, wissen Sie, es gibt da einen vom Teufel besessenen Kriminalbeamten in Hongkong, der glaubt, Sie hätten jemanden ermordet – das heißt, eigentlich glaubte er, jemand hätte Sie ermordet. Und warum tragen Sie einen falschen Bart? Weil es Ihnen Spaß macht, einen falschen Bart zu tragen? Aha. Ja, nun, Sie wissen es vielleicht nicht, aber das Tragen eines falschen Bartes ist hier in Macao verboten, und wir müssen Sie daher leider ...‹« »Halten Sie den Mund«, sagte Feiffer. »Und was wird die Polizei von Macao dann zu ihm sagen? ›Haben Sie was dagegen, wenn wir Sie nach Hongkong abschieben damit Ihnen dieser Verrückte, der uns schon soviel Arbeit gemacht hat, noch dämlichere Fragen stellen kann?‹« »Es gibt irgendeine Verbindung!« »Großartig. Dann besorgen Sie sich Zeugen dafür.« »Verdammt, aber er tut doch etwas Verbotenes!« »Was denn?« »Das –« Feiffer sagte ganz leise: »Das weiß ich eben nicht.« Er wandte sich ab und sagte zum Kerosinofen: »Nein, Orson Welles meldet sich nicht am Radio und sagt, daß es nur ein Scherz war. Dies ist eine Sache, die wirklich passiert ist, und es muß eine Lösung geben. Ich kann einfach nicht anders: Ich muß diese Lösung finden.« »Eine Lösung?« fragte O’Yee scharf. »Na, großartig. Eine Lösung. Phantastisch.« Er wartete, bis Feiffer wieder auf ihn hörte, dann fragte er: »Was denn für eine Lösung?« 152
Feiffer biß die Zähne zusammen. Dann sagte er kaum hörbar: »Ich – weiß –es – nicht!« »Ist Ihnen denn noch immer nicht aufgefallen, daß es durchaus logisch erscheint, wenn man davon ausgeht, daß es nicht Putnam ist, der ermordet wurde? Wenn man das erst einmal akzeptiert, überrascht es keineswegs, daß er noch lebt. Das mit dem Gebiß kann reiner Zufall sein – vielleicht hat er es Jahre später in der Nähe des bewußten Grabes verloren –, und der einzige Grund, weshalb er einen falschen Bart trägt, besteht darin –« Er fragte sehr nachdrücklich: »Harry, verstehen Sie denn nicht, daß es jetzt nicht mehr darum geht, ob es eine Lösung gibt oder nicht, sondern einzig und allein darum, ob die ganze Affäre überhaupt so rätselhaft und verbrecherisch ist, wie Sie das von Anfang an ohne weiteres vorausgesetzt haben?« »Es ist rätselhaft und verbrecherisch.« »Was?« »Das weiß ich nicht.« Feiffer wandte sich wieder ab. »Das klingt so vage wie –« »Ich erwische ihn!« brüllte Feiffer. »Ich erwische ihn, weil ich mir vorgenommen habe, ihn zu erwischen!« »Wen denn? Wen wollen Sie denn erwischen? Und – weshalb?« O’Yee wartete vergebens auf eine Antwort. Dawson Baumes Stimme am Telefon sagte sehr leise und zurückhaltend: »Harry?« Dann schien er es sich anders überlegt zu haben und sagte: »Kriminal-Chefinspektor – äh – Feiffer?« »Am Apparat.« »Äh – hier ist Dr. Baume. Ich wollte wissen, ob Sie inzwischen irgendwelche Fortschritte gemacht haben, in dieser Sache – äh –« Feiffer sagte: »Nein.« »Aha.« In der Leichenhalle herrschte eine Weile jene Stille, die man für einen solchen Ort voraussetzt. »Ich denke häufig darüber nach, und ich dachte, Sie wollten vielleicht eine bestimmte Sache genauer erfahren, oder, äh –« Dawson hatte noch immer den ungeöffneten Brief aus Rußland in seiner 153
Hosentasche. Er nahm ihn jetzt heraus und hielt ihn in der freien Hand. »Vielleicht etwas, das Ihnen bei Ihrem ersten Besuch noch nicht ganz klar war, oder –« Er steckte seinen Zeigefingernagel unter die Briefmarke, bis er sie an einer Ecke gelöst hatte. »Gibt es vielleicht etwas, das ich – äh –« »Ich fürchte, in diesem Fall kommen wir überhaupt keinen Schritt weiter.« »Ich verstehe.« Er hatte den Umschlag jetzt auf seiner Handfläche liegen und drückte ihn danach langsam zusammen. »Aber das mit der Identifikation hat doch geklappt, oder?« »Nein.« »Ach?« Er räusperte sich. Der Umschlag war jetzt zu einer Papierkugel zusammengeknüllt. Er knetete die Kugel mit seinen langen, knochigen Fingern. »Und warum – wenn ich fragen darf?« »Die Person, die ich mit dem Skelett in Verbindung gebracht hatte, erwies sich als noch am Leben befindlich. Ein Mann namens Putnam.« Feiffer warf einen Blick auf O’Yee. O’Yee stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich verstehe.« Eine Pause. »Ja, ich verstehe.« Dawson gluckste, als würde er mehrmals schlucken. »Ich hatte gedacht, wenn alles glatt gelaufen ist und Ihnen die Informationen, die Sie von mir erhielten, eine Hilfe waren, könnten wir uns bei Gelegenheit, wenn alles vorbei ist –« Er brach ab und sprach in völlig verändertem Ton weiter. »Das Problem, wenn jemand so allein arbeitet wie ich, ich meine, mit all den Quellen der Wissenschaft im Rücken, besteht darin, daß man nach einer Weile dahin kommt –« Er brach ab. »Wohin denn?« »Nun ja, man denkt schließlich, daß man sich niemals irren kann.« »Aber Sie haben sich nicht geirrt. Es ist nicht Ihre Schuld, daß ich den falschen Mann mit dem Skelett zu identifizieren versuchte. Schließlich haben nicht Sie ihn identifiziert, sondern ich.« »Nach dem falschen Gebiß, nicht wahr?« »Richtig.« »Das Gebiß, das zu dem Toten gehört.« 154
»Es ist nicht Ihre Schuld –« »Aber ich weiß noch gar nicht, ob das Gebiß wirklich dem Toten gehört. Verstehen Sie – ich sagte zuvor: zu dem Toten. Man hat es bei ihm gefunden, als gehörte es zu dem Toten. Ich weiß nicht, ob es dem Toten gehört«, sagte Dawson Baume mit fester Stimme. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, ich bin einfach davon ausgegangen, es müßte sich um das Gebiß des Toten handeln, weil man es bei dem Skelett gefunden hat; eine ganz automatische ...« Er schluckte hart. »Ich habe nicht ausprobiert, ob es überhaupt in den Kiefer des Schädels paßt.« »Und – haben Sie es jetzt ausprobiert?« »Ja.« »Und?« »Es paßt nicht«, sagte Dawson Baume niedergeschlagen. »Ich hätte Ihnen mit dieser Information vermutlich viel Zeit und Mühe ersparen können. Ich hätte versuchen müssen, mit Wachs den Gaumen nachzubilden, und ich hätte –« Der Brief in seiner Hand war so zerknüllt, daß er vermutlich nicht mehr brauchbar war. »Ich habe einfach vergessen, das auszuprobieren.« Und er fügte im Ton eines kleinen, schüchternen Jungen hinzu: »Harry, es tut mir sehr, sehr leid. Ich – ich dachte einfach nicht an die Möglichkeit –« »Vergessen Sie’s.« »Es tut mir aufrichtig leid.« Feiffer versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. Er sagte in fast gleichgültigem Ton: »Ach, was macht das schon? Es hat zunächst so ausgesehen, als hätte ich einen interessanten, rätselhaften Fall zu bearbeiten. Aber so ist es eben wieder mal ein nicht identifizierbares Skelett. Lassen wir doch den geldabhebenden, einen falschen Bart tragenden, hinkenden Putnam weiterhin nach Macao hinken und sein Geld abheben, und legen wir diesen Fall zu den ungelösten Fällen –« »Ich verstehe nicht.« »Ich will damit sagen, daß wir in einer totalen Sackgasse gelandet sind. Der echte Putnam hat einen falschen Bart, und er –« »Hinkt er denn immer noch?« fragte Dawson neugierig. 155
»Immer noch?« Feiffer erwiderte in väterlichem Ton: »Nein, bei dem Skelett handelt es sich nicht um Putnam. Putnam lebt. Ich weiß nicht, warum er wollte, daß man ihn für den Toten hielt, und um ehrlich zu sein, ich bin nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt etwas von der Existenz dieses Skeletts gewußt hat, aber –« »Er würde auf keinen Fall hinken«, sagte Dawson. »Das ist ausgeschlossen! Nach so langer Zeit!« »Wer würde nicht mehr hinken?« »Derjenige, welcher sich den Knöchel gebrochen hatte, wie ich das bei der Untersuchung des Skeletts festgestellt habe. Sicher, es ist möglich, daß er eine Weile hinkte, aber nach all den Jahren würde er bestimmt nicht mehr hinken.« »Aber er ist es ja gar nicht!« sagte Feiffer völlig verwirrt. »Nun, dann handelt es sich eben um einen Zufall, und –« Feiffer sagte langsam: »Ein Zeuge hat ausgesagt, daß das Hinken kommt und wieder verschwindet.« »Meinen Sie, er täuscht es vor?« »Möglich.« Dann fragte Feiffer: »Warum?« Dawson ließ sich Zeit, ehe er sagte: »Vielleicht wollte er sich als der Tote ausgeben, der seiner Meinung nach noch immer hinkte, weil er zum Zeitpunkt seines Todes gehinkt hat. Der Mörder müßte schon medizinisch beschlagen sein, um zu wissen, daß das Hinken eine vorübergehende Behinderung war. Vielleicht dachte er, es sähe glaubwürdiger aus –« Dann sagte Dawson abrupt: »Nein – ich kann und darf keine solchen Spekulationen anstellen. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid –« Und Feiffer sagte zum zweiten Mal: »Vergessen Sie’s.« Dawson schwieg, dann fragte er: »Hinkt denn der wirkliche Putnam, oder –« »Ich weiß es nicht.« »Sie haben ihn nie gesehen?« »Nein.« Dann fügte Feiffer langsam hinzu: »Warum sollte er? Ich meine, warum sollte er hinken?« Dann fragte er leise: »Wer ist er denn? Ich frage: Wer ist denn der Tote?« Dabei schaute er unwillkürlich O’Yee an. Am anderen Ende der Leitung legte Dawson sachte den Hörer auf. Er schaute auf den zerknüllten Brief in seiner 156
Hand. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln widerte ihn an. Er verschränkte seine langen Finger. Der Geruch von Lysol und weißen Kacheln und Toten war plötzlich sehr stark geworden. Dawson Baume war den Tränen nahe, als er versuchte, den zerknüllten Brief glattzustreichen. Feiffer hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er starrte auf seinen Schreibtisch und fragte noch einmal: »Verdammt – wer ist der Tote?« O’Yee schüttelte den Kopf. Auden verschaffte sich einen großen Auftritt, als er hinter Spencer das Büro der Kriminalbereitschaft betrat und die Götter schmähte: »Das ist ja wohl das Letzte!« Er richtete seinen anklagenden Blick starr auf Feiffer. »Jetzt habt ihr es endlich geschafft! Ich bin bis auf weiteres erledigt, fertig, aus!« Er erreichte seinen Schreibtisch, scheuchte die Katze vom Sessel, brüllte ihr ein wütendes »Hau ab!« nach, als sie quer durch den Raum flog, und informierte dann die ganze Welt in markerschütterndem Ton: »Ich bin fertig, erledigt, erniedrigt!« O’Yee sagte leise: »Na, wenigstens ein Lichtblick.« Er schaute der Katze voll Mitleid nach. Sie kroch gerade in ihren atombombensicheren Bunker hinter den Aktenordnern. »Gehe ich recht in der Annahme, es handelt sich um den Prozeß Krone gegen Ong?« Spencer trat an das Regal, langte hinter die Akten und streichelte die Katze; dabei schaute er Auden ebenso mitleidig an wie das Tier. »Jawohl, ich spreche vom Prozeß Krone gegen Ong, Inspektor O’Yee. Jawohl.« Feiffer ignorierte er völlig. »Ich spreche von der Tatsache, daß man einen gewissen Kriminalinspektor Auden lächerlich gemacht hat. Man hat Ong als harmlosen Gauner dargestellt – dabei ist Ong genau der Typ des Intelligenzverbrechers, der in mir seinen Meister gefunden hat!« Jetzt schaute er wieder düster zu Feiffer hinüber. »Hoffentlich war er das wenigstens wert. Hoffentlich haben Sie diese verdammte Skelett-Geschichte wenigstens unter Dach und Fach, wenn Sie mich schon dafür opfern mußten!« Er war noch nicht imstande, sich zu setzen. Er ging auf und 157
ab und deklamierte dazu wie ein Schauspieler, der seine Rolle memoriert. »Ich habe versucht, darzulegen, daß Ong ein gefährlicher, raffinierter Verbrecher ist, und der Kerl hat einfach dagesessen und hat dümmlich dreingeschaut. Wissen Sie, was er zum Haftrichter gesagt hat? Wissen Sie es? Er sagte: ›Ich bin ein geschlagener Mann. Ich hielt mich für besonders schlau, aber Kriminalinspektor Auden ist mir ohne Mühe auf die Schliche gekommen‹. Und dann hat er mich auch noch um Verzeihung gebeten!« O’Yee schaute Spencer fragend an. Auden brüllte: »Hört nicht auf ihn! Außerdem – sein Ruf hat ja nur gewonnen. Er könnte gar nicht besser dastehen. Er hat seine Leute gegen Kaution freibekommen, alle drei. Und ich mußte gegen die Freilassung eines einzigen ›kleinen Gauners‹ reden.« Jetzt schaute er wieder Feiffer vorwurfsvoll an. »Wissen Sie, was die Kollegen von North Point zu mir gesagt haben? Sie sagen: ›Was regst du dich denn so auf, Phil? Hast du vielleicht Angst, der kleine Ong kommt um Mitternacht zu dir und legt dich um?‹« Er atmete tief ein und karikierte dann die Kollegen von North Point, die nicht gerade berühmt waren wegen ihres Taktgefühls. »›Schau doch deinen Freund an, Bill Spencer: Der macht sich nicht einmal Gedanken, wenn eine ganze Bande bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt wird. Und was hast du, Phil? Ein armseliges, kleines Würstchen wie diesen Ong, ha, ha, ha!‹« Dann wandte er sich endgültig an Feiffer. »Nun, wie steht es in Ihrer Skelett-Sache? Wer hat denn nun den Mord begangen? Wo ist er, dieser Kerl. Ich will ihn sehen, diesen Killer, dem ich meinen Ruf opfern mußte.« Spencer erläuterte milde: »Phil mußte aber auch unbedingt vorbringen, er fürchte Ongs Rache, wenn man diesen auf Kaution freiließe.« »Und wie wollt ihr wissen, daß das nicht tatsächlich zu befürchten ist?« Jetzt wandte Auden seinen Zorn gegen den Katzenstreichler. »Woher willst du das denn wissen? Du warst ja im anderen Gerichtssaal und hast dich für deine Bande eingesetzt.« »Die Leute von North Point haben es mir erzählt«, sagte Spencer ruhig. 158
»Dann hör’ zur Abwechslung mal mir zu, und sperr’ gefälligst deine Ohren auf! Was, meinst, du, hat der Haftrichter am Ende der Verhandlung gesagt, mit seiner hochnäsigen Stimme? Er hat gesagt: ›Wenn Angehörige der Polizei um ihr Leben fürchten, kann keine Haftentlassung befürwortet werden.‹ Dann hat er mich angeschaut, hat seine blöde Brille bis zur Nasenspitze nach vorn geschoben und gesagt: ›Vielleicht ist freilich auch Ihr Naturell nicht für die Arbeit bei der Polizei geeignet, Inspektor ...‹ Das hat er gesagt, zu mir, der ich diesen Ong geschnappt habe!« Er starrte O’Yee an. »Sie sind Chinese!« (O’Yee wollte etwas entgegnen.) »Sie wissen, wie das ist, wenn man das Gesicht verliert!« »Aber kein Chinese würde jemals mit anderen darüber sprechen«, entgegnete O’Yee gelassen. Jetzt meldete sich Feiffer zu Wort. »Zu Ihrer Information, Phil: In der Skelett-Affäre sind wir nicht weitergekommen. Ihr ›Opfer‹, oder was immer Sie darunter verstehen, war also umsonst.« Dann fragte er: »Haben Sie dazu noch irgend etwas zu bemerken?« »Ja, das habe ich!« »Dann sparen Sie sich das für Ihre Memoiren auf!« fauchte ihn Feiffer wütend an. Und sprang hoch, als Auden beim Hinausgehen die Tür hinter sich zuschlug, daß es wie eine Detonation klang. In der Filmversion vom »Krieg der Welten« hatten die fliegenden Untertassen mit ihren Strahlenwaffen alles verdampft. Ein vielversprechender Gedanke, wie Feiffer fand. Auden war nach einer Weile zurückgekommen und hatte den ganzen Nachmittag an seinem Schreibtisch gehockt, dabei ununterbrochen leise vor sich hingemurmelt. Spencer hatte irgendwo eine Tasse Milch aufgetrieben und versuchte nun, die Katze vom Regal herunterzulocken. Und O’Yee äußerte in kurzen Abständen in Worten und Taten seine Mißbilligung. Irgendwo in diesem ganzen Durcheinander mußte etwas sein, etwas Winziges, das sie bis jetzt übersehen hatten ... Feiffer ging die ganze Sache noch einmal in Gedanken durch, ohne Ergebnis. 159
Irgend etwas. Das Skelett ... Putnam ... Ein Mann, der hinkte ... Ein falscher Bart – das mutete ja an wie die Zutaten zu einem Schauerroman ... Warum wollte jemand unbedingt so tun, als sei er das Skelett, und ... Und warum lief er danach frei herum und ... Es ergab alles keinen Sinn. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte ekelhaft und kratzte im Hals. Feiffer schaute auf das Telefon und fragte sich, ob es möglich war, bei der Sekretärin des Polizeichefs eine Nachricht zu hinterlassen. Aber nein, der Polizeichef hatte keine Sekretärin. – ›Entschuldigen Sie, Sir, aber alles, was ich vorhin zu Ihnen sagte, ist Unsinn. Putnam lebt. Ich habe mich leider geirrt. Also sind wir da, wo wir angefangen haben ... Sir? Sir? ...‹ Allmächtiger! Auden sagte: »Sie müssen den Polizeichef benachrichtigen.« Dabei grinste er hämisch. »Du meine Güte«, fügte Spencer hinzu. Er schaute Feiffer mitleidig an. Feiffer sagte: »Das weiß ich schon selbst.« Auden grinste immer noch. Feiffer fragte O’Yee: »Wie spät ist es?« O’Yee zuckte mit den Schultern. »Es ist höchste Zeit, den Chef anzurufen«, sagte Auden. »Sie müssen ihm erklären, daß es schiefgelaufen ist, Sir.« Dabei zeigte er seine Zähne in einem erbarmungslosen Grinsen. Die Katze zog sich vorsichtshalber hinter die Aktenordner zurück. Feiffer sagte: »Sie mich auch, Auden.« Auden grinste noch immer; sein Haß hatte jetzt das Stadium einer milden Überlegenheit erreicht. Er sah zu, wie Feiffer nach dem Telefon langte. Die Tür ging auf, und Weale kam herein, eine Aktenmappe in der Hand. Er schaute erwartungsvoll drein. Dann schlug er sich auf seinen üppigen Barkeeperbauch und lächelte. »Mr. Weale – aha!« sagte Feiffer. Seine Hand entfernte sich blitzartig vom Telefon. »Gut, daß Sie hier sind.« Und Auden sagte zerknirscht: »Ach, Scheiße!« 160
Kapitel
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Weale strich sich langsam mit der Hand über den glattrasierten Schädel; eine Geste der Hoffnungslosigkeit. In der anderen Hand hatte er eine brennende Zigarette; jetzt inhalierte er einen Zug und stieß dann den Rauch in einem langen Seufzer aus. Er setzte sich in den Stuhl vor Feiffers Schreibtisch, schnalzte dann seltsam mit der Zunge und starrte zu Boden. Feiffer sagte leise: »Ich weiß, ich habe Ihnen gesagt, er sei tot, aber wir wußten es zu dem Zeitpunkt noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit.« Weale nickte. »Und ein Irrtum ist ausgeschlossen?« »Völlig ausgeschlossen. Die Fingerabdrücke haben den Mann, der das Geld auf der Bank in Macao abhebt, eindeutig als Ihren Partner ausgewiesen.« Er schaute Weale in die Augen. »Es ist sicher merkwürdig, jemandem die schlechte Nachricht überbringen zu müssen, daß jemand anders noch lebt, aber in Ihrem Fall hätte die Nachricht kaum schlechter ausfallen können.« Er schaute O’Yee an. O’Yee sagte nichts. Weale versuchte, Fassung zu bewahren. »Ich zahle ihm jetzt seit zwanzig Jahren seinen Anteil. Es beruhigt mich, daß wenigstens er es ist, der das Geld bekommen hat, nicht irgendein anderer.« »Sie nehmen die Sache von der besten Seite«, erklärte Spencer leise. Er schaute sich nach der Katze um, aber das Tier war nicht zu sehen; vermutlich war es noch in seinem Bunker verschanzt. Auden fragte: »Können Sie sich denken, warum er sich verkleidet?« »Wer?« fragte Weale. »Putnam«, antwortete Feiffer. »Verkleidet ist vielleicht nicht das richtige Wort – aber er trägt einen falschen Bart, wenn er das Geld abhebt.« »Aber Eddie trägt meines Wissens einen Bart«, sagte Weale. »Sind Sie sicher, daß der Bart falsch ist?« »Ziemlich.« »Ich weiß es nicht«, sagte Weale. Offensichtlich hatte er das Interesse an den Einzelheiten verloren. Er deutete auf seine Aktentasche. Einen Augenblick lang schien er im Be161
griff zu sein, in Tränen auszubrechen. »Ich habe das alles mitgebracht – die Papiere vom Anwalt und das – das Zeug, das man braucht, um Eddie offiziell für tot erklären zu lassen. Ich wollte eigentlich nur eine Bestätigung der Polizei und eine Kopie des Totenscheins, und dann ...« Er wartete einen Augenblick, mußte sich räuspern. »Dann wäre ich frei gewesen.« »Tut mir leid«, sagte Feiffer. »Es ist nicht Ihre Schuld. Sie haben bestimmt Ihr Bestes getan, und ich kann mich nicht beklagen, daß Sie die falsche Karte gezogen haben. Sie haben es ja gut gemeint.« Er zuckte mit den Schultern. »Und wer war der Tote, wenn nicht Putnam?« »Das wissen wir noch nicht.« »Sie können es sich nicht denken?« Feiffer schüttelte den Kopf. O’Yee sprang für ihn ein. »Harry ist, soviel ich weiß, immer noch davon überzeugt, daß Putnam irgend etwas mit der Sache zu tun hat.« »Was denn?« »Das können wir noch nicht sagen«, erklärte Feiffer. »Denken Sie, Eddie hätte vielleicht – den anderen umgebracht?« »Ich weiß es nicht. Und ich möchte momentan auch nicht darüber reden.« »Okay.« Weale verfiel in Schweigen. Er schniefte mehrmals und wischte sich dann die Nase mit dem Taschentuch. »Aber ich dachte, Sie hätte gesagt, daß dieser Kerl in jeder Beziehung wie Eddie war – das Skelett? Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß er hinkte und alles, genau wie Eddie –« »Zufall«, erklärte Auden. »Und es bleibt dabei?« Feiffer nickte. Weale schien deutlich geschrumpft zu sein, als er in dem Stuhl vor Feiffers Schreibtisch saß. In seinen Augen lag jetzt der Ausdruck eines von Gott geschlagenen Mannes. Er zog wieder das Taschentuch heraus, schneuzte sich und sagte dann sehr leise: »Zwanzig Jahre – nein, mehr als zwanzig Jahre. Eddie Putnam hat mich mehr als zwanzig Jahre ausgesogen, und ich bekam nicht einmal die Chance, in 162
all den Jahren wenigstens einmal mit ihm darüber reden zu können.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich hoffte, daß ich einmal frei sein würde. Einmal mein eigener Herr, ohne diesen Schatten über mir, der mich ausquetscht wie eine Zitrone ...« Er schaute Feiffer an. »Nun, ich weiß, daß Sie sich sehr viel Mühe gemacht haben, und ich danke Ihnen dennoch für alles, was Sie getan haben – ehrlich.« Spencer sagte ermutigend: »Vielleicht erwischen wir ihn doch noch. Ich meine, möglicherweise hat er diesen anderen umgebracht, oder ...« Er schaute Feiffer an. Feiffer schüttelte den Kopf. »Na ja, vielleicht ...« Dann lächelte er Weale optimistisch zu. »Man weiß nie, wie die Dinge laufen.« Weale schniefte wieder. Dann sagte er: »Mein Gott, es haut einen wirklich um, wenn man sein ganzes Leben praktisch für nichts gearbeitet hat. Aber Eddie Putnam ist eben doch wesentlich schlauer als ich, und ich wette, wenn Sie ihn in Macao treffen, werden Sie feststellen, daß er wie immer ohne zu arbeiten in den Tag hineinlebt und mich ausnützt, wie er mich stets ausgenützt hat – vorausgesetzt, Sie finden ihn überhaupt.« »Wir schnappen ihn, sobald er das nächste Mal sein Geld abhebt.« »Eddie? Das würde ich mir an Ihrer Stelle aus dem Kopf schlagen, Mr. Feiffer. Der weiß inzwischen längst, was vor sich geht, und ist uns allen einen Schritt voraus, wie immer. Wahrscheinlich bekomme ich früher oder später einen Brief aus Bombay oder Timbuktu oder irgendeinem Ort, wo die hiesigen Behörden keine Rechtsbefugnisse besitzen. In dem Brief teilt er mir dann mit, daß er seine Bank gewechselt hat, und damit basta.« Er fügte ohne Hoffnung hinzu: »Nein, Eddie Putnam läßt sich nicht erwischen – der nicht!« »Wenn er sich irgend etwas zuschulden hat kommen lassen«, wandte Feiffer ein, »dann schnappen wir ihn.« »Wenn«, erwiderte Weale. »Ja, wenn.« Er schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, manchmal denke ich, daß es diesen Eddie gar nicht wirklich gegeben hat, oder daß er seit Jahren tot ist, genau wie Ihr Skelett. Vielleicht besteht der Sinn seines Lebens nach dem Tode darin, mich zur Verzweiflung zu treiben. Und damit hatte er bis jetzt immerhin einigen Erfolg.« 163
Wieder schneuzte er sich in sein Taschentuch. »Es ist in mir wie eine Krebsgeschwulst, und es bringt mich um, ganz langsam, aber sehr sicher.« Er schniefte mehrmals, dann mußte er heftig niesen. Nachdem er sich noch einmal geschneuzt hatte, stand er auf, um sich zu verabschieden. »Also nochmals vielen Dank, Mr. Feiffer.« Er reichte Feiffer die Hand, dann wandte er sich an O’Yee, Auden und Spencer. »Sie alle haben getan, was in Ihren Kräften stand, und ich bin Ihnen sehr dankbar.« Er schniefte wieder. »Und wenn Sie vorbeikommen – Sie sind jederzeit willkommen in meiner Kneipe.« Er hob die Aktentasche auf und nieste. Dann sagte er sehr nasal: »Hier drinnen muß irgendwas sein, wogegen ich allergisch bin. Vielleicht ist es das Gespenst von Eddie Putnam ...« »Es tut mir sehr leid«, sagte Feiffer wieder einmal. »Schon gut. Und – es hätte noch schlimmer kommen können. Vielleicht stellt sich doch noch eines Tages heraus, daß der Schweinehund das Zeitliche gesegnet hat. Ich könnte mir denken, daß es einige Leute gibt, die diesen Wunsch hegen, und wenn ich lange genug warte ...« Und er schloß: »Es tut mir leid, daß ich Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe.« »Aber das macht doch nichts«, sagte Feiffer. »Um so besser. Ich werde jetzt nach Hause gehen und mich dort bemitleiden.« Er nieste wieder heftig und fragte dann: »Mein Gott, was habt ihr eigentlich hier drinnen? Vielleicht ein totes Kamel, oder was?« »Nur die Leichen unserer verstorbenen Theorien«, erwiderte Feiffer. »Ja? Kann ich mir denken. Jedenfalls, ich möchte mich noch einmal bedanken.« Dann grinste er sie alle an. »Und wenn Sie in meiner Gegend sind – vergessen Sie es nicht, klar?« Feiffer nickte. »Also dann – bis demnächst.« Er machte eine Handbewegung und ging dann rasch hinaus. Vor der Tür, auf dem Korridor, nieste er noch einmal heftig.
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Feiffer wiederholte die Frage des Polizeichefs. »Was wir jetzt tun werden? Gut, daß Sie mich das fragen, Neal. Wir warten jetzt darauf, daß sich Orson Welles am guten alten Dampfradio meldet und uns erklärt, das alles sei nur ein kleiner Scherz der Waschmittelindustrie gewesen, die das Hörspiel gesponsert hat, und die Marsmenschen seien nicht wirklich gelandet. Genau das werden wir jetzt tun.« Auf der anderen Seite der Leitung herrschte daraufhin einige Sekunden lang totale Funkstille. Dann erwiderte eine erstickte Stimme: »Sie wollen mir damit sagen, daß –« »– daß Putnam lebt.« »Ich hab’ es gewußt. Verdammt, ich hab’ es gewußt! Ich wußte, das war alles zu schön, um wahr zu sein! Ich hab’ es gewußt!« »Nun das freut mich, daß Sie es wußten, denn ich hatte keine Ahnung, bis –« »Was, zum Teufel, ist denn geschehen?« »Putnam lebt.« »Das haben Sie schon einmal gesagt. Wo lebt er?« »In Macao. Es gibt keinen Irrtum. Seine Fingerabdrücke beweisen es hundertprozentig. Er lebt. Oder, um es noch genauer auszudrücken, er ist nicht tot. Er kann also nicht das Skelett sein. Und wir sind wieder am Ausgangspunkt angelangt.« Er sagte in erschüttertem Ton: »Tun Sie mir einen Gefallen: Versetzen Sie mich zur Verkehrspolizei.« »Glauben Sie nicht, ich hätte das nicht schon in den letzten Tagen mehrfach erwogen. Und worin besteht dann diese Verbindung mit dem CIA und anderen –« »Ich weiß es nicht.« »Und was soll ich den Leuten sagen, wenn sie –« »Das weiß ich auch nicht. Sagen Sie ihnen, Putnam ist der Erbe des Vorsitzenden Mao, und das Politbüro in Peking steht ab morgen früh unter seiner Führung. Woher soll ich denn wissen, was Sie ihnen sagen sollen?« »Sie regen sich zu sehr über die Sache auf, finde ich.« »Ach, wirklich? Dieser Putnam hat mich geschafft. Wie soll ich es denn hinnehmen? Mit der abgeklärten Weisheit des Philosophen?« »Das wäre immerhin ein Fortschritt.« Dann sagte der Poli165
zeichef: »Ich frage nicht gern danach, aber was hat eigentlich Orson Welles mit der Sache zu tun?« »Er hat gar nichts damit zu tun.« »Warum haben Sie ihn dann eben erwähnt?« »Das können Sie vergessen. Er hat mal ein Hörspiel inszeniert, in den Dreißiger Jahren, in dem –« »O ja, ›Der Krieg der Welten‹. Eigentlich sind Sie zu jung, um sich daran zu erinnern. Damals ist halb New York in Panik geraten; man mußte die Sendung abbrechen und den Leuten sagen, es sei nur ein –« Jetzt brach auch er ab, weil der Groschen gefallen war. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen.« Dann fuhr er in bedeutend freundlicherem Ton fort: »Hören Sie, Harry, ich fürchte, Sie haben sich mit diesem Fall zu sehr auf eine emotionelle Ebene begeben. Vielleicht, wenn jemand anders sich damit befaßt und versucht, ihn aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten –« »Sie haben recht. Meinetwegen übergeben Sie den Fall dem CIA. Sagen Sie den Leuten, Putnam ist ein Marsmensch, dann reichen sie die Ermittlungen vielleicht an die NASA weiter, und dort kann man dann wie bei Orson Welles eine Rakete zum Mars schicken und –« »Bis jetzt, muß ich zugeben, konnte ich nur wenig zu Ihrem Fall beitragen«, unterbrach ihn der Polizeichef. »Aber nun sind Sie an einem Punkt angelegt, wo ich gut mitreden kann. Lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß Orson Welles im ›Krieg der Welten‹ keine Rakete zum Mars geschickt hat.« »Großartig«, sagte Feiffer schwach. Der Polizeichef fuhr munter fort: »Nein, die Marsianer wurden auf andere Weise erledigt. Und wissen Sie, wie? Durch Mikroben!« »Tatsächlich?« »Ja. Man hat sie –« Die Katze hatte sich an Spencer herangeschlichen. Jetzt rieb sie den Kopf an seinem Jackenärmel. Feiffer sagte: »Er hat geniest!« »Wer?« Der Polizeichef fuhr ruhig und freundlich fort: »Hören Sie, Harry, vielleicht hat dieser Fall –« »Er hat geniest! Er hat gesagt, es müßte etwas hier drinnen sein ... Und die Katze war ... Er konnte die Katze nicht se166
hen, weil sie sich hinter den Akten versteckt hatte, und daher ... Aber er hat geniest!« Dann brüllte er plötzlich: »Mein Gott! Er ist es!« Und, noch einmal, ins Telefon: »Gott im Himmel, er ist es!« »Wer?« O’Yee und Auden waren zum Telefon herübergekommen. Die Katze verschwand wieder hinter den Akten. O’Yee fragte: »Was? Was ist?« »Wer ist es?« fragte der Polizeichef. Feiffer antwortete: »Er!« Er biß die Zähne zusammen. »Er ist es, und kein anderer!« »Wer denn, in Dreiteufelsnamen?« fragte der Polizeichef. »Putnam!« Die Stimme des Polizeichefs antwortete: »Harry, ich möchte nicht –« Aber er hörte nur noch ein lautes Klicken, als Feiffer den Hörer auf die Gabel knallte und gleich danach eine andere Nummer wählte. Feiffer sagte langsam und vorsichtig am Telefon: »Mr. Weale?« Im Hintergrund hörte er Geräusche aus der Bar. »Ja?« »Kriminal-Chefinspektor Feiffer. Ich möchte Sie bitten, heute abend noch einmal in die Yellowthread Street zu kommen.« Das klang irgendwie unheimlich. Weale sagte nach einer kurzen Pause: »Und warum?« »Ach, ein paar kleine Fragen, die ich noch geklärt haben möchte.« Dann fügte Feiffer mit ironischem Ton hinzu: »Vorausgesetzt, Sie haben Ihre Fassung wiedergewonnen, nach Ihrer Szene bei uns.« Wieder schwieg Weale. Dann: »Ist das ein Befehl, oder –« »Oh, ich dachte, Sie wüßten, daß ich in diesem Stadium meiner Ermittlungen nicht in der Lage bin, Ihnen Befehle zu erteilen. Ich wollte Sie lediglich fragen, ob Sie bereit sind, aus freiem Willen hierherzukommen und ein paar Fragen zu beantworten, sich vielleicht auch einiger erkennungsdienstlicher Prozeduren zu unterziehen.« Er warf einen Blick hinüber zu Auden, der an seinem Schreibtisch saß. »Sind Sie dazu bereit, Mr. Weale?« 167
»Nun, wenn ich Ihnen damit helfen kann ...« »Darüber sprechen wir dann, wenn Sie hier sind.« »Und wenn ich nicht komme?« »Warum sollten Sie nicht kommen?« Es schien, daß es plötzlich still geworden war in der Bar. Weales Stimme klang gepreßt, als er nach ein paar Sekunden antwortete: »Sie wissen es, nicht wahr?« O’Yee war am anderen Telefon damit beschäftigt, einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen. Er schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß es noch eine Weile dauern würde. Weale schwieg wieder eine Weile, dann sagte er in völlig verändertem Ton: »Er hat mich aufgefressen, verstehen Sie. Wie ein –« Er brach ab. »Putnam, meine ich. Er hat mir das Blut ausgesaugt, seit über zwanzig Jahren.« Seine Stimme klang jetzt sehr nahe. »Mein Gott ...« »Also kommen Sie zu uns oder nicht?« »Sie haben keine Beweise. Natürlich haben Sie keine Beweise.« »Nein?« »Nein. Ich habe alles sorgfältig überdacht, und nach all den Jahren kann es keine Beweise mehr geben. Es ist alles reiner Zufall: das Gebiß und –« »Auch die Fingerabdrücke?« fragte Feiffer. »Die beweisen gar nichts. Verstehen Sie denn nicht: Die beweisen bestimmt nicht so etwas wie einen Mord. Sie beweisen höchstens –« »Nun, aber damit könnte man doch beginnen.« »Sie werden nicht weiterkommen damit«, sagte Weale. »Und das Hinken, als ich Ihnen sagte, das könnte man mißverstehen – nach all den Jahren – das beweist auch gar nichts, und –« Wieder ließ sich Weale Zeit, ehe er sagte: »Es war das Korsett – daher das Hinken. Ich weiß, das Mädchen in Macao hat es Ihnen gesagt. Ich weiß, daß Sie das Mädchen gefunden haben, weil – und das Haar, nicht wahr, Sie hat Ihnen das von dem Haar gesagt.« »Sie meinen den Bart.« »Nicht das Haar? Das überrascht mich. Sie war so stolz darauf, daß sie mal in einem Striplokal gearbeitet hat oder so – sie hat Ihnen von dem Klebstoff erzählt. Ich dachte, sie hätte 168
es am Haar gerochen.« »Nein, am Bart.« »Erstaunlich. Nur am Bart? Dann war sie wohl doch nicht so schlau, wie sie dachte, oder?« »Vielleicht nicht.« Feiffer warf O’Yee einen besorgten Blick zu. O’Yee sagte gerade: »Um ein Lokal mit Privatwohnung in der Woodcarvers’ Road zu durchsuchen ... Jetzt ... Sofort. Ehe mögliche Beweismittel zerstört oder entfernt werden können ... Ja, sofort!« Feiffer sagte zu Weale: »Ist denn wenigstens die Geschichte mit dem Glücksspiel wahr, bei dem Sie beide gewonnen haben?« »Ja.« »Und das mit der Partnerschaft?« »Ja.« Weale fügte hinzu: »Und auch, daß er nicht mitarbeiten wollte. Ja.« Dann fragte er: »Sie wissen – alles über Putnam, nicht wahr?« »Ziemlich alles, würde ich sagen.« »Er hat mich ausgesaugt ... Können Sie das verstehen? All die Jahre hat Eddie Putnam mich ausgesaugt.« Und er flüsterte heiser: »Sie können sich nicht vorstellen, wie ich ihn in all diesen Jahren gehaßt habe. Können Sie begreifen, was das aus mir gemacht hat?« »Kommen Sie auf unser Revier, und wir können darüber reden.« »Ich habe immer gewußt, daß es eines Tages dazu kommen würde, und ich dachte immer – ich dachte, als ich noch jünger war, ich würde es durchstehen, und es gäbe nichts, was mich mit dieser Sache in Verbindung bringen könnte, aber jetzt, nach so langer Zeit ...« Dann schrie er ins Telefon: »Um Himmels willen, Sie wissen es doch, oder?« Feiffer sagte leise: »Das mit dem Gebiß war damals eine großartige Idee. Damals ...« »Es fiel ihm heraus, als er starb. Es fiel ins Wasser, und ich – ich fand, es gehörte –« Er senkte die Stimme. »Ich fragte mich, ob ich ihm das Gesicht mit einer Schaufel zerschlagen sollte ...« Dann, so leise, daß es kaum hörbar war: »Aber ich habe es nicht fertiggebracht. Ich – ich hatte plötzlich eine Vorahnung, was – wie es sein würde, wenn man ihn nach Jah169
ren entdeckte, und ich habe es nicht fertiggebracht. Ich hätte nicht gedacht, daß er noch einmal gefunden werden würde. Nicht nach so langer Zeit!« Feiffer drängte: »Und der Unterschied im Körperbau – Putnam war eher schlank, während Sie ... Das war der Grund für das sogenannte Hinken, die sonderbare Gangart: ein Stützkorsett für den Bauch. Und Putnam hatte immer dichtes Haar.« »Ja. Daher die Perücke, der falsche Bart und das Korsett, weil – weil « Schließlich sagte er verzweifelt: »Verstehen Sie denn nicht? So hat Eddie Putnam vor zwanzig Jahren ausgesehen. Nicht heute. Vor zwanzig Jahren! Ich bin alt geworden und habe einen Bauch bekommen, aber Eddie Putnam nicht. Eddie Putnam wird immer neunundzwanzig bleiben. Er altert nicht – genau wie ein Gespenst. Eddie Putnam bleibt immer neunundzwanzig!« Feiffer schaute zu O’Yee hinüber. O’Yee sagte in sein Telefon: »Gut. Wir sind in zehn Minuten bei Ihnen, um ihn abzuholen.« Dann nickte er Feiffer zu. Feiffer fragte Weale: »Kommen Sie zu uns, ja?« Keine Antwort. Feiffer nickte O’Yee zu und deutete ihm an, daß er sich beeilen solle. O’Yee fragte: »Die auch?« Dabei zeigte er auf Auden und Spencer. Feiffer hatte die Hand auf die Sprechmuschel seines Hörers gelegt und rief: »Los, haut schon endlich ab!« Dann sagte Weale sehr, sehr leise: »Sie wissen jetzt, wer in dem Grab gelegen hat, oder?« »Ja.« In der Bar schien alles ruhig zu sein. Feiffer sah, wie O’Yee, Auden und Spencer hinauseilten. Dann sagte er ruhig ins Telefon: »Das waren Sie.« »Ja«, sagte Weale. »Ich glaube, das war ich.« Und noch einmal: »Ja.« Nach einer Pause fragte er: »Und wie sind Sie daraufgekommen? Ich war der einzige, der etwas davon hatte, wenn Putnam einerseits tot und andererseits am Leben war, aber das kann es nicht gewesen sein, oder? Nein, dafür habe ich Sorge getragen. Es muß etwas Kleines, Unbedeuten170
des gewesen sein.« »Putnam war allergisch gegen Tierfell«, erklärte Feiffer. »Das wissen wir aus seiner Militärakte.« Weale schwieg. »Und als Sie uns heute besuchten, war eine Katze bei uns im Raum. Kein totes Kamel. Eine Katze. Aber sie hatte sich versteckt.« »Ich verstehe.« Dann sagte Weale: »Ich möchte nicht zu Ihnen aufs Revier kommen. Sie wollen meine Fingerabdrükke, das ist es.« Dann, fast gleichgültig: »Nun, da muß ich Ihnen ja wohl gratulieren. Wenn es auch kein großartiger Sieg ist. Ich habe meine Strafe schon verbüßt – es war ein Urteil über zwanzig Jahre.« Dann, plötzlich, sprudelte er rasch heraus: »Wissen Sie, ich brauchte das alles, die Verkleidungen, das Haar und den Bart, das Korsett und –« Er schien zu zittern. »Weil, wissen Sie –« »Kommen Sie jetzt zu mir aufs Revier«, sagte Feiffer freundlich. »Weil ich, Gott im Himmel, nicht mehr so aussehe, wie ich damals aussah!« »Ja.« »Ich sehe jetzt aus wie der Mann, den ich getötet habe. Oder wie dieser Mann, den ich getötet habe, in meinem jetzigen Alter ausgesehen hätte. Ich blicke morgens in den Spiegel und sehe – den Mann, den ich getötet habe. Ich sehe nicht mehr aus wie ich. Und in Macao sehe ich aus wie Eddie Putnam vor zwanzig Jahren, weil Eddie Putnam nicht altert.« Feiffer wartete. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Als er längere Zeit nichts von seinem Gesprächspartner hörte, fragte er: »Sind Sie noch da?« Keine Antwort. Feiffer sagte laut: »Sie! Sie!« Er atmete tief ein, dann rief er: »Putnam! Sind Sie noch da?« »Ja ...« Jetzt konnte man deutlich den Südstaatenakzent erkennen. Es war die Stimme eines jungen Mannes. Weale sagte leise: »Ja, hier spricht Eddie Putnam.« Feiffer nickte. Er wollte sagen – »Der arme, alte Charlie Weale ist tot. Ich habe ihn vor zwanzig Jahren in einer Nacht am Strand getötet. Er wollte nicht seine Verpflichtungen mit mir teilen, verstehen Sie, und 171
es kam zum Streit. Ich habe ihn umgebracht, und dann habe ich ihn ausgezogen und habe mein falsches Gebiß dazu benützt, um ihn ...« Die jugendliche Stimme sagte: »Ja, hier spricht Eddie Putnam.« »Kommen Sie zu uns und legen Sie ein Geständnis ab, Mr. Putnam.« Putnam sagte sehr leise: »Ich wollte es eigentlich gar nicht tun, wissen Sie, aber es ist jetzt so lange her, und ich – ich brachte es einfach nicht mehr fertig, Eddie Putnam zu sein, nach all diesen ...« Seine Stimme schwankte. »Selbst auf der Bank, wenn sie Mr. Putnam zu mir gesagt haben, kam es mir vor, als sei das der Name von einem anderen, und da habe ich mich auf der Fähre rasch wieder in Charlie Weale verwandelt und meinen eigenen – ich meine, Charlie Weales Paß benützt, um ... Ich bin jetzt Charlie Weale, verstehen Sie das nicht?« »Ja.« Feiffer drängte ihn leise: »Kommen Sie.« Plötzlich brüllte Putnam/Weale durch die belebte Bar: »Ich weiß überhaupt nicht mehr, wer ich bin!«, und bis O’Yee sich am Telefon in der Bar meldete und berichtete, daß sie die Perücke, den Bart, das Korsett und die Papiere in der Wohnung über der Bar gefunden hätten und daß der Barbesitzer nicht mehr anzutreffen sei, saß Feiffer allein in seinem Büro und hielt den Telefonhörer in der Hand, während die Katze um seine Beine strich. Trotz des Kerosinofens, der noch immer in dem kleinen, stickigen Raum brannte, war es eiskalt: die Kälte eines vor langer Zeit gestorbenen Todes, die Feiffer durch alle Poren drang.
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EPILOG Hop-Pei-Bucht Ein bitterkalter Wintermorgen. Dichter Nebel, der von der See hereindringt, alle Umrisse aufweicht. Etwas, das sanft im Wechsel der Gezeiten hereingetragen wird an den Strand und wieder hinaustreibt auf das Wasser. Im Nebel das Geläut einer Boje, ein hoffnungsloser Ton, eine Totenglocke. Dann legt sich der Wind und die Glocke verstummt. Und dann eine einzelne Welle: die Glocke ertönt wieder. Der Körper treibt hin und her in der Strömung, ein Ertrinkender in Hemdsärmeln; die Finger bewegen sich unaufhörlich unter der Wasseroberfläche, als wollten sie jemanden beschwören, wollten ihm klarmachen, daß es keinen Grund gibt ... Daß alles geregelt und geklärt ist ... Finger, die den Sand berühren und flüchtige Zeichen in der Unendlichkeit der gelblichen Körnchen hinterlassen ... Hinein zum Strand ... Sergeant Lew von der Küstenwache rief an. Er sagte mit seiner tüchtigen, präzisen Stimme: »Wir haben einen Toten im Wasser gefunden. Ungefähr dort, wo das Floß mit dem Skelett gestrandet ist. Glatzköpfig, Mitte fünfzig, ein Weißer. Es sieht so aus, als habe er sich ertränkt. Jedenfalls gibt es keine Anzeichen für eine Fremdeinwirkung an der Leiche.« Er fragte Feiffer: »Wollen Sie den Fall übernehmen, oder sollen wir uns darum kümmern? Ganz, wie Sie wollen.« »Wir übernehmen ihn.« »Sind Sie sicher?« »Wir übernehmen ihn.« »Haben Sie eine Ahnung, wer der Tote sein kann – nur für meinen Bericht?« »George Edward Putnam.« Sergeant Lew sagte: »Fein.« Dann, nach ein paar Sekunden: »Haben Sie Putnam gesagt?« »Richtig.« Und Sergeant Lew fragte ungläubig: »Schon wieder?«