Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Wittgen, Tom Das sanfte Mädchen
Kriminalroman
Der Man...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Wittgen, Tom Das sanfte Mädchen
Kriminalroman
Der Mann, der den Bagger lenkte, dachte: Noch einen Meter, dann können die Tiefbauer ihre Rohre ziehen. Noch ein paar Mäuler voll Schotter und Steine … Der Gedanke zerbrach. Wie bei einer rissigen Schallplatte tönten im Kopf des Mannes immer wieder die Worte: Schotter und Steine, Schotter und Steine. Dabei blickte er in das Loch, das sein Bagger gefressen hatte. Zwei Augen, leer und tot, starrten ihm entgegen. Es ist Anja Bindseil, die ermordet im Bauschutt liegt – ein sanftes Mädchen sagen die einen, ein kleines Biest die anderen. Auf jeden Fall, das findet die Kriminalpolizei schnell heraus, wußte Anja, was sie wollte: einen Beruf, der ihr Geld brachte, Reisen, flotte Musik und einen Mann, der sie liebte. Ohne Vorbehalte. Ohne Kompromisse. Ohne Heimlichtuerei. Aber Heinz Caster war verheiratet, und er dachte nicht daran, seine Ehe wegen eines 19-jährigen Mädchens zu lösen. Acht Tage vor ihrem Tod hatte er es Anja gesagt.
Tom Wittgen
Das sanfte Mädchen
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1975 Lizenz-Nr.: 409-160/82/75 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 228 2 EVP 2,- Mark
1 Das Warenhaus lag im Südviertel, dort, wo die Stadt aus den Nähten platzte und mit ihren Hochhäusern in das Brachland hineinwuchs. Über Lautsprecher hallten Anweisungen, für die Bauarbeiter bestimmt und noch auf dem Vorplatz der Einkaufsstätte zu hören. Sie mischten sich in die dumpfen Schläge eines Preßlufthammers, in das Knirschen der Bagger, die sich in den Boden fraßen, und in das ferne Quietschen der Straßenbahn. Für die Menschen, die, bepackt mit Körben und Taschen, durcheinanderquirlten, waren sie unbeachtete Geräuschkulisse der Großstadt. Hinter der Absperrung mit dem Schild „Achtung! Zutritt verboten!“ riß ein kleiner Bagger die ehemalige Baustraße auf. Sie hatte ausgedient, brauchte ihren buckeligen Rücken nicht mehr hinzuhalten, um Laster mit Kies, Zement und Platten darüberrollen zu lassen. Die Häuser waren fertig; hoch, schlank, weiß ragten sie in den frühlingsblauen Himmel und zeugten davon, daß Städte wachsen können, ohne alt zu werden. Der Mann, der den Bagger lenkte, dachte: Noch einen Meter, dann können die Tiefbauer ihre Rohre ziehen. Noch ein paar Mäuler voll Schotter und Steine … Der Gedanke zerbrach. Wie bei einer rissigen Schallplatte tönten im Kopf des Mannes immer wieder die Worte: Schotter und Steine, Schotter und Steine. Dabei blickte er in das Loch, das sein Bagger gefressen hatte. Zwei Augen, leer und tot, starrten ihm entgegen. Kurze Zeit später wimmelte es auf der Baustelle von Polizei. Vom Kaufhaus her schob sich eine Schar Neugieriger näher, entschlossen, das Schild „Zutritt verboten“ zu übersehen und selbst zu prüfen, was sich hier 7
ereignet hatte. Sie stießen auf eine Kette Uniformierter, die schnell und lautlos zusammengefügt worden war, und mußten sich entweder mit Gerüchten zufriedengeben oder mit dem sachlichen Hinweis, daß Informationen am nächsten Tag der Presse zu entnehmen seien. Innerhalb der Absperrung hantierten Männer in Zivil, maßen Entfernungen, fotografierten, diskutierten. Einer war darunter, der hier nicht dazu zu gehören schien. Angezogen wie zum Empfang beim Minister, lehnte er an der Wagentür eines Wartburgs, die Arme gekreuzt, mit verlorenem Blick. Was um ihn herum geschah, schien er nicht wahrzunehmen: weder den Tumult hinter der Polizeikette noch den Bagger, der umringt war von Kriminalisten und Bauarbeitern, auch den Wagen nicht, der dicht an ihm vorbeifuhr und dem ein Arzt im weißen Kittel entstieg. Erst als ein Mann, den Sturzhelm in der Hand, ihn ansprach, blickte er unwillig auf. „Ich bin der Bauleiter“, sagte der Mann, „Ihr Wagen steht ungünstig. Die Polizei muß ein- und ausfahren können.“ Und als der andere nur gedankenverloren nickte, fragte er barsch: „Wer sind Sie eigentlich?“ „Simosch. Oberleutnant der Mordkommission.“ „So.“ Das klang mißtrauisch. „Dann sagen Sie mir doch, wo ich Hauptmann Randolf finde.“ Der Oberleutnant wies mit ausgestrecktem Arm zu einer Gruppe Männer. „Bei der Toten. Er ist ein stämmiger Mensch, Ihre Figur ungefähr. Trägt einen grünen Schal und hustet.“ „Kommen Sie mit?“ „Nein“, sagte Simosch, „ich habe hier zu tun.“ Und schon lehnte er sich wieder mit gekreuzten Armen gegen den Wagen, für seine Umwelt ebensowenig existierend wie sie für ihn. 8
Er war in Gedanken ins Präsidium zurückgekehrt, sah sich – es mochten seither vierzehn Tage vergangen sein – in einem Zimmer der Abteilung Leben und Gesundheit stehen, als ein Mädchen durch die Tür trat. Sie war sehr jung, noch keine zwanzig, mit rundem Kindergesicht, einer Stupsnase, mit Locken über der Stirn und hellen Augen. Sie schaute Simosch an und sagte: „Anja ist verschwunden.“ Ihre Stimme war weich und zitterte vor Erregung. „Sie müssen sie suchen.“ „Ich nicht“, sagte Simosch, „wenden Sie sich an Leutnant Weiß.“ „Durch den Nachtdienst bin ich zu spät dahintergekommen“, fuhr sie fort, unbeirrt zu Simosch gewandt. „Dann sah ich, daß sie nicht im Bett gewesen war.“ „Wann bemerkten Sie das?“ fragte Weiß, nahm einen Bogen Papier, setzte sich an den Schreibtisch und begann zu notieren. Sie warf ihm einen Blick zu, mit dem man im Theater papierraschelnde Leute straft. „Nun sagen Sie schon, wann Sie es bemerkt haben“, forderte Simosch. Sie lächelte, verlegen und zutraulich zugleich. „Als dieser Hopfer kam.“ „So.“ Oberleutnant Simosch beugte sich vor, suchte und hielt ihren Blick fest. „Hören Sie, für Ihre Vermißtenanzeige ist Leutnant Weiß zuständig. Ich bin bloß zufällig im Zimmer.“ Sie wandte sich betont langsam zu Weiß um, musterte ihn kopfschüttelnd, sagte dann zu Simosch: „Ich kann das nur Ihnen erzählen.“ Mit unwilliger Geste wollte Simosch etwas erwidern, doch Leutnant Weiß zwinkerte ihm beschwichtigend zu, 9
rückte dem Mädchen einen Stuhl zurecht und sagte mit der Würde eines englischen Butlers: „Ich werde mir erlauben, Protokoll zu führen.“ Sie blickte irritiert, und wenn sie den Spott nicht aus Weiß’ Worten entnommen hatte, so sah sie ihn nun in seinen Augen. Sie seufzte und setzte zum Sprechen an. Simosch fragte scharf: „Wer sind Sie?“ „Susi Brehm.“ Mit dem Zeigefinger klopfte sie auf den Passierschein, den sie zusammen mit ihrem Personalausweis in der Hand hielt. Er nahm ihr beides ab, legte es, ohne einen Blick darauf zu werfen, dem Leutnant auf den Tisch. „Weiter.“ Sie sei Krankenschwester in der Frauenklinik, lebe seit sechs Monaten zusammen mit der Sekretärin Anja Bindseil, die ungefähr in ihrem Alter sei, in einer Appartementwohnung in der Bachstraße, und diese Anja Bindseil – sie arbeite in der Hauptbuchhaltung des Centrum-Warenhauses – sei nun verschwunden. Simosch beobachtete fasziniert, daß das Mädchen scheinbar sprechen konnte, ohne atmen zu müssen. Leutnant-Weiß fluchte lautlos über diesen Umstand und mühte sich, mit den Notizen nachzukommen. In kurzer Zeit erfuhren sie, daß Herr Hopfer, Hauptbuchhalter und Anjas Chef, morgens in ihrer Wohnung erschienen war, ungehalten darüber, daß seine Sekretärin schon den zweiten Tag nicht zur Arbeit gekommen sei. Wo ihre Freundin – so dürfte man sie ja wohl nennen – sich nach ihrer Meinung aufhalten könne, fragte Weiß. Sie rümpfte ihr Näschen und sagte zu Simosch: „Selbstverständlich habe ich keine Ahnung, wo sie steckt, sonst würde ich Sie doch nicht bemühen.“ Und 10
ihr Blick verriet, daß sie ihn so lange wie möglich aufzuhalten gedachte. Der Oberleutnant fragte nach Freunden und Bekannten dieser Anja Bindseil. Sie nannte Heinz Caster, Leiter der Forschungsabteilung im Chemiewerk, und den zwanzigjährigen Fensterputzer und Boxer im Federgewicht Jochen Maar. Das ist eine seltsame Mischung, dachte Simosch, ließ sich aber seine Verwunderung in keiner Weise anmerken und nickte zu der Bemerkung, daß Anja vier Jahre lang in einem Heim für Elternlose gewohnt habe und es von dorther noch Bekanntschaften geben könne, über die sie jedoch nichts wisse. Zum Schluß des Gesprächs deutete er eine Verbeugung an. „Die zuständige Abteilung wird Ihre Anzeige prüfen.“ „Aber ich habe es Ihnen gemeldet!“ Was für hartnäckige kleine Person, dachte er belustigt. Wahrscheinlich der Typ von Krankenschwester, von dem man nach Hause geschickt wird, wenn man auf der Toilette heimlich geraucht hat, und der einen in den Schlaf singt, wenn man nur alle Pillen und Tröpfchen gehorsam schluckt. Als Susi Brehm aufstand, dicht vor ihm, reichte sie ihm nicht einmal bis ans Kinn. „Man wird Sie in nächster Zeit sicherlich aufsuchen wegen dieser Angelegenheit.“ „In dieser Woche müssen Sie abends kommen“, sagte sie, „ich bin bis achtzehn Uhr im Krankenhaus.“ Weiß gab ihr die Papiere zurück, und Simosch schob sie sanft zur Tür. „Es wäre besser, wenn wir beide uns in der Angelegenheit Anja Bindseil nicht wiedersehen“, sagte er, „ich bin Mitarbeiter der Mordkommission.“ 11
Der Blick, mit dem sie sich verabschiedete, drückte Erschrecken aus. Oberleutnant Simosch hatte sich nicht um das vermißte Mädchen gekümmert; er wußte deshalb nicht, wie weit die Ermittlungen gediehen waren. Weiß hatte ihm nur einmal im Speisesaal zwischen Tür und Angel erzählt, daß Anja Bindseil noch immer verschwunden sei. Ein Foto von ihr war Simosch nie zu Gesicht gekommen, so kramte er jetzt in seinem Gedächtnis nach der Personenbeschreibung, die Susi Brehm von ihrer Freundin gegeben hatte. Demnach war sie groß, mit halblangem, dunkelblondem Haar, ovalem Gesicht, braunen Augen und – einem vernarbten linken Ohrläppchen. Mit dem Ohrring war sie irgendwo irgendwann hängengeblieben. Daß einem doch immer zuletzt einfällt, was man zuerst brauchen könnte, dachte Simosch, rieb sich die Augen, und Sekunden später lief er federnden Schrittes über das Baugelände, in nichts dem Manne gleichend, der eben verträumt an der Wagentür gelehnt hatte. Er bahnte sich mit „Augenblick bitte“ und „Moment mal“ den Weg zu der ausgebaggerten Grube, in der das tote Mädchen lag. Der Bauleiter, den Sturzhelm wie einen Einkaufskorb über dem Arm, erkannte ihn und trat auf ihn zu. „Man kommt einfach nicht an den Hauptmann ’ran“, beschwerte er sich, „jetzt ist er da hinuntergestiegen und liest Steine auf.“ Das klang verständnislos, fast empört. Simosch entdeckte Randolf, wie er, mit zwei Plasttüten in der Hand, neben der Toten hockte. Bedachtsam ließ der Hauptmann Schotter und Erde in die Beutel gleiten. „Er tut was für seine Sammlung“, kommentierte Simosch. 12
„Aber …“ „Ruhig, gleich hat er es geschafft … Hallo, Doktor!“ Der Arzt, der das tote Mädchen untersuchte, blickte auf. „Was gibt’s?“ „Bitte, sehen Sie sich ihr linkes Ohrläppchen genau an.“ Und zu einem seiner Mitarbeiter gewandt, fragte er: „Habt ihr sie identifiziert?“ „Guck einer an“, brummelte der Bauleiter spöttisch, „jetzt haben Sie wohl ausgeschlafen!“ „Ganz recht“, sagte Simosch, schob den Mann beiseite und trat näher an die Senke. „Nicht identifiziert“, meldete der Kriminalist. „Keine Ausweise …“ Der Oberleutnant winkte ab, beugte sich vor und rief: „Na, Doktor, was ist?“ „Das linke Ohrläppchen war mal eingerissen. Ziemlich vernarbt …“ „Danke … Hallo, Genosse Hauptmann!“ Randolf verschnürte die Plastbeutel und kletterte aus dem Krater heraus. „Ja?“ „Die Tote heißt Anja Bindseil.“ Ringsum wurde es still. Wie im Panoptikum standen alle erstarrt und sahen auf Simosch. Schließlich ging Hauptmann Randolf langsam auf ihn zu und fragte: „Damit rücken Sie erst jetzt ’raus? Sie haben das Mädchen doch vorhin schon gesehen.“ „Ich kenne diese Anja Bindseil nicht persönlich, trotzdem bin ich sicher, daß sie es ist. Ich erklär’s Ihnen später.“ „Und ob Sie mir das erklären werden!“ Mit strengem Gesicht blickte der Hauptmann unverwandt auf Simosch. „Wissen Sie jemanden, der die Tote identifizieren kann?“ 13
„Ja. Der Hauptbuchhalter des Warenhauses. Und die Krankenschwester Susi Brehm. Außerdem sollten wir uns bei Leutnant Weiß erkundigen, was er über die seit Tagen vermißte Anja Bindseil herausgefunden hat.“ „Ist dieser Hauptbuchhalter ein persönlicher Bekannter von ihr?“ „Er ist ihr Chef.“ „Bringen Sie ihn her“, forderte der Hauptmann. Simosch lief los. Die paar Meter zum CentrumWarenhaus lohnte es nicht, den Wagen zu benutzen. Er war gespannt auf diesen Herrn Hopfer und auf die Umgebung, in der Anja Bindseil gearbeitet hatte. Sie war für ihn ein wichtiger Ausgangspunkt, um die Lebenssphäre des Mädchens kennenzulernen. Im Warenhaus stieg er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe mit dem Hinweis „Nur für Personal“ hinauf, landete im Flur der Kaderleitung und studierte ein Türschild nach dem anderen, bis er vor dem Zimmer der Hauptbuchhaltung stand. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu konzentrieren, klopfte dann, und jemand sagte: „Bitte.“ Es war eine Frauenstimme, tief und belegt, wie nach einer durchzechten Nacht. Simosch trat ein, grüßte, blieb neben der Tür stehen; was er mit einem schnellen Blick erfassen konnte, war ein Vorzimmer mit Aktenschränken, Schreibtischen und -maschinen und einer Besucherecke. Der Teppich mochte vor einem Jahrzehnt neu gewesen sein. Trotzdem spürte er Atmosphäre, die Vorzimmern gleicher Art fehlte und die ihn verwirrte. War es der Frühlingsstrauß in der Keramikvase? Slevogts „Reiter in der Wüste“ an der Wand? Oder dieser Hauch Parfüm? Ausgerechnet Lavendel, dachte er, nimm dich zusammen, Simosch. Er war für nichts so empfänglich wie für Gerüche. 14
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte die Altstimme vom Schreibtisch her. Als Simosch die Frau erblickte, geschah etwas Seltsames: Er, der sonst jeden Gesichtsmuskel zu beherrschen wußte, ließ seine Bewunderung erkennen, stand vor ihr wie ein Zwölfklassenschüler und dachte aufgekratzt: O lala, wenn ich da meine persönlichen Wünsche äußern dürfte! Im nächsten Augenblick hatte er sich gefangen und sagte sehr sachlich, daß er Oberleutnant Simosch sei und Herrn Hopfer zu sprechen wünsche. Dabei ging er ein paar Schritte auf sie zu, wies sich aus und ließ seine Blicke über ihren Körper gleiten. Sie war groß, schlank, hatte sanft geschwungene Hüften. „Mit wem habe ich die Ehre?“ „Mit Herrn Hopfers Chefsekretärin. Vogel ist mein Name. Bitte nehmen Sie einen Augenblick Platz.“ Das waren die üblichen Worte; doch die Art, wie sie ausgesprochen wurden, und die Geste, mit der die Frau ihn in den Sessel dirigierte, erhoben sie über das Alltägliche hinaus. Simosch hatte das Gefühl, in ihrer Gegenwart könne nur geschehen, was sie ausdrücklich billigte. „Ich melde Sie jetzt Herrn Hopfer.“ Sie wiegte sich leicht in den Hüften, als sie durchs Zimmer glitt. Nicht in der herausfordernden Art mancher Mädchen, sondern verhalten, elegant und, wie Simosch fand, erregend. Als er allein war, dachte er: Wie mag sich wohl Anja Bindseil neben ihr ausgenommen haben? Gab es Spannungen zwischen ihnen? Persönliche? Berufliche? War diese selbstsichere Frau dem Mädchen ein Halt – oder ein Dorn im Auge? Fragen über Fragen, auf die er in nächster Zeit Antwort finden wollte. 15
Ihm fiel ein, daß er bislang nur den Körper dieser Frau betrachtet hatte und sich an ihr Gesicht kaum erinnern konnte. Deshalb vermochte er auch ihr Alter nicht zu schätzen. Fast lautlos öffnete sich die Tür, und sie glitt wieder herein. Hinter ihr schritt betont forsch ein kleiner dürrer Mann, der sofort Simoschs Aufmerksamkeit beanspruchte. „Hopfer mein Name“, sagte er mit fester, etwas hoher Stimme. „Bitte treten Sie näher.“ Er vollzog eine nahezu militärische Wendung und schritt zurück in sein Zimmer. Der Oberleutnant folgte ihm, setzte sich auf den angebotenen Stuhl und erklärte ohne Umschweife, weshalb er gekommen sei. Der kleine Mann, ebenso elegant gekleidet wie Simosch, betupfte mit blütenweißem Taschentuch die Stirn und sank derart im Sessel zusammen, daß Simosch fürchtete, er werde ganz und gar darin vergehen. „Entschuldigen Sie“, sagte Herr Hopfer, und seine hohe Stimme vibrierte, „ich habe noch nie eine … eine Tote gesehen. Wenn es Fräulein Bindseil sein sollte … Sie verstehen, wir arbeiten seit Monaten zusammen … so etwas geht einem nahe.“ Simoschs Gesicht drückte Verständnis aus. Im Innern jedoch blieb er reserviert wie bei jedem Gefühlsausbruch eines Menschen, den er noch nicht einschätzen konnte und den er möglicherweise später zu überprüfen hatte. „Vor dem Anblick der Toten brauchen Sie sich nicht zu fürchten“, erklärte er sachlich. „Einige große Steine haben ihren Kopf so günstig abgeschirmt, daß der darübergekippte Schotter sie kaum verunstalten konnte. Nur der Bagger hat ihr eine Schramme über die Wange gerissen.“ 16
„Soso“, sagte der kleine Herr Hopfer düster, schwang sich aus dem Sessel und holte Mantel, Schal und Hut aus dem Schrank. „Bringen wir es hinter uns.“ 2 Dämmerung zog in die Stadt. An der Baustelle flammten Tiefstrahler auf. Die Schar der Neugierigen hatte sich verzogen, die Polizeikette war aufgelöst. Vereinzelt standen hier und da noch Posten. Man hatte das tote Mädchen aus der Senke gehoben, ein weißes Tuch bedeckte ihren Körper, neben ihr saß Hauptmann Randolf auf einem Stein. Totenwache für eine Unbekannte, dachte Simosch, der mit dem Buchhalter näher kam. Aber in einigen Tagen werde ich sie kennen, ihre Hoffnungen, Wünsche, Enttäuschungen – und die Umstände ihres Todes. Er war sicher, daß Randolf ihm die Klärung des Falles übertragen würde, das hatte er dieser stupsnasigen Krankenschwester zu verdanken. Durch die Hartnäckigkeit, mit der sie sich an ihn gewandt hatte, war innerhalb der Mordkommission der Fall ihm zugespielt worden. Eigentlich war es Simosch recht. Aus zweierlei Gründen. Erstens liebte er knifflige Dinge, die logisches Denken, Phantasie und Kombinationsgabe zugleich forderten. Und hier war vom Unfall über fahrlässige Tötung bis zum Mord alles möglich. Zweitens klärte Simosch ein Ereignis ungern nur von der technischen Seite her. Er hatte zwei Jahre Psychologie studiert und konnte seine Liebe zu diesem Fach nicht verleugnen. Stets mühte er sich, die Menschen zu ergründen: ihren Lebensinhalt, ihren Intelligenzgrad, die Willensstärke und das Unbewußte in ihnen. 17
Es gab Verbrechen, bei denen der Täter fassungslos neben dem Opfer stand und lauthals jammerte, er habe vor Eifersucht rot gesehen – oder: er habe niemanden umbringen wollen, aber da sei gerade jemand hinzugekommen, als er durchs Fenster stieg. Es gab auch kaltblütige Burschen, die um eines Fünfzigmarkscheins willen Rentner niederschlugen, überreizte, brutale, krankhafte Naturen, leicht durchschaubar. Warum aber hatte dieses junge Mädchen sterben müssen? Warum auf dieser Baustelle? Existierten da Zusammenhänge mit ihren Lebensvorstellungen, führten Fäden zu ihrem Arbeitsbereich oder zu ihrem Freundeskreis? Sie standen nun vor dem Leichnam, und der Hauptmann erhob sich. Er begrüßte den kleinen Buchhalter, der wieder sagte: „Hopfer mein Name.“ Randolf faßte einen Zipfel des Tuches, das den leblosen Körper verbarg, und schlug es zurück. Der Hauptbuchhalter zwinkerte, als schmerzten ihn die Augen. Die Kriminalisten ließen keinen Blick von ihm. Sie sahen, daß er zitterte und sich mühte, einen Schwächeanfall zu verbergen. „Es ist unfaßbar“, stieß er hervor, „das ist Fräulein Bindseil, meine Sekretärin …“ Schnell wandte er sich ab, und der Hauptmann bedeckte wieder das Gesicht der Toten. Noch ehe der Oberleutnant Herrn Hopfer danken konnte, bremste neben ihm ein Polizeiwagen, ein Mädchen sprang heraus, lief zu Simosch, umklammerte ihn und drückte ihren Kopf an seine Schulter. „Nein“, sagte sie leise, von Schluchzen geschüttelt, „es soll nicht Anja sein. Bitte, nicht Anja.“ „Tapfer sein, Susi“, sagte der Oberleutnant und rüttelte sie leicht an den Schultern, um sie zu sich zu bringen. „Ich möchte, daß Sie tapfer sind.“ 18
Er hatte sie beim Vornamen genannt, da er in diesem Augenblick nicht das eigenwillige Fräulein Brehm vor sich hatte, das nur Leuten, die ihr sympathisch waren, Auskunft gab, sondern ein verstörtes, hilfloses Kind. „Kommen Sie, ich führe Sie hin.“ Sie umklammerte seinen Arm und lief wie eine Betrunkene. Wieder schlug der Hauptmann das Tuch zurück. Susi Brehm blickte in das leblose Gesicht und sagte kein Wort. Sie zitterte auch nicht mehr. Aschgrau und müde sah sie aus, als sie zusammensank. Simosch fing sie auf und trug sie zu seinem Wagen. „Ich fahre zum Krankenhaus“, sagte er im Gehen. Der Hauptmann nickte. Er rief Herrn Hopfer, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, das vergessene Dankeschön nach, dann mußte er sich um den Abtransport des toten Mädchens kümmern. Susi Brehm kam unterwegs wieder zu sich, brauchte aber eine Weile, um zu begreifen, was vorgefallen war. Leise sagte sie: „Ich möchte nicht nach Hause. Die Wohnung ist so leer – ohne sie.“ „Ich fahre zum Krankenhaus.“ Sie nickte. Nach einer Weile sprach sie weiter. „Ja, es war Anja …“ Sie lehnte den Kopf an Simoschs Schulter und weinte, leise und heftig. „Weine nur“, sagte Simosch, ohne sie anzusehen, „es ist gut, wenn man noch weinen kann.“ Am nächsten Morgen suchte er Leutnant Weiß auf. „Können Sie sich an ein Fräulein Brehm erinnern?“ „Kann ich“, sagte er schmunzelnd. „Damen, die mich verschmähen, pflege ich mir zu merken. Aber was sie behauptete, stimmt: ihre Freundin ist verschwunden.“ 19
„Sie ist tot“, sagte Simosch, „wurde gestern auf der Baustelle gefunden. Wie weit sind Sie mit den Ermittlungen gekommen? Ich würde Ihre Vorarbeit gern nutzen.“ „Nehmen Sie doch Platz, Genosse Oberleutnant.“ Schon kramte Weiß im Schubfach, zog einen Ordner heraus und murmelte dabei: „Eine Vermißte weniger, eine Tote mehr. Was für eine Bilanz! Hier, meine Berichte und Notizen.“ Simosch schüttelte den Kopf. „Es ist mir lieber, wenn Sie erzählen und ich zwischendurch fragen darf. Amtsdeutsch auf genormtem Papier ist der Tod für meine Phantasie.“ „Das wäre wahrlich ein Verlust“, entgegnete der Leutnant und begann in seinen Berichten zu blättern. „Also … am Tage ihres Verschwindens arbeitete Fräulein Bindseil bis sechzehn Uhr in der Hauptbuchhaltung des Warenhauses. Dann fuhr sie zu einer Familie Caster.“ „Woher wissen Sie das?“ „Von Fräulein Vogel, einer Kollegin der Verschwundenen.“ „Oh, Sie kennen die Dame mit den wiegenden Hüften und dem erregenden Parfüm!“ „Für mich hat sie Chefsekretärin des Hauptbuchhalters und Fräulein Bindseils Vorgesetzte zu sein“, sagte er, seufzte und fügte hinzu: „Ich lebe seit zehn Jahren in Gefangenschaft.“ Simosch lachte. Dann dachte er: Die Chefsekretärin wußte also, wen Anja nach Arbeitsschluß besuchen wollte? Da müssen sie befreundet gewesen sein, die beiden Damen. Er fragte: „Diese Casters, was sind das für Leute?“ und erinnerte sich im selben Augenblick, daß Susi Brehm erzählt hatte, der Mann sei Leiter der Forschungsabteilung im Chemiewerk. 20
Leutnant Weiß führte es auch sofort an und berichtete weiter, daß die Casters Bürger mit gutem Leumund seien. Simosch kräuselte spöttisch die Lippen. Er dachte daran, daß er Bürgern mit gutem Leumund schon gelegentlich Goldschmuck aus der Tasche gezogen hatte, der eigentlich in den Safe des Juwelierladens gehörte. Einer solcher ehrbarer Bürger hatte in betrunkenem Zustand seine Frau verprügelt … „Mich interessiert die Beziehung zwischen dieser Familie und Anja Bindseil. Haben Sie selbst mit Casters gesprochen?“ Der Leutnant nickte. „Ich war bei ihnen, draußen im Philosophenviertel, es muß ungefähr zehn Tage her sein …“ Es dämmerte schon, und im Hausflur brannte Licht, es fiel durch bunte Butzenscheiben in den Vorgarten, übergoß Steine und Pflanzen mit ineinanderfließenden, unwirklichen Farben. Leutnant Weiß drückte den Klingelknopf. Eine Frau Anfang Dreißig, mittelgroß, sehr schlank, öffnete. „Besuch für Heinz?“ fragte sie freundlich, doch ohne zu verhehlen, daß sie in Eile war und nicht die Absicht hatte, Gästen ihres Mannes viel Zeit zu widmen. Sie lief ins Haus zurück und klopfte an eine Tür. Als ihr Mann herausschaute, nickte sie zu Weiß hin und wandte sich ab. „Bitte, bleiben Sie“, sagte der Leutnant, „ich möchte Sie beide sprechen.“ Sie bohrte die Daumen in die Taschen ihrer hautengen Jeans und drehte sich auf den Absätzen um. „Mit wem haben wir die Ehre?“ Ihr Ton war so provokativ wie ihre Haltung. Weiß zeigte seine Marke. „Mit der Kriminalpolizei.“ 21
Frau Caster biß sich auf die Lippen, zog sie breit, blickte wütend und glich so einer Katze, die im nächsten Augenblick fauchen wird. Da fiel ihr Blick auf Caster, der aus dem Zimmer getreten war und sein Erschrecken nur schlecht verbergen konnte. Sofort drückte ihre Miene Heiterkeit aus, Spaß an einem gelungenen, wenn auch nicht ganz passenden Scherz. „Endlich etwas Neues in diesem Haus“, sagte sie so ironisch, als jage hier eine Sensation die andere. Weiß blieb von alldem unberührt. Er kannte verschiedenartige Reaktionen auf das Erscheinen eines Kriminalisten, und diese hier war ihm keineswegs fremd. Casters faßten sich auch schnell wieder, boten ihm im Wohnzimmer Platz an, und der Leutnant fragte: „Kennen Sie Anja Bindseil?“ Das Ehepaar warf sich einen Blick zu, den Weiß als Verwunderung deutete. „Ja“, entgegnete schließlich die Frau, „wir kennen Anja.“ „In welcher Beziehung steht sie zu Ihrer Familie?“ „In freundschaftlicher.“ Diesmal war es Herr Caster, der ihm schulterzuckend antwortete. „Können Sie uns sagen, wann Sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen haben?“ „Da … da kann ich mich keineswegs festlegen“, entgegnete Caster zögernd, „das ist schon eine Weile her …“ „Anja ist vor drei Tagen bei uns gewesen“, fiel ihm die Frau ins Wort, „aber mein Mann weiß davon nichts. Er war auf einer Versammlung und kam erst gegen einundzwanzig Uhr nach Hause.“ „Und wie lange blieb das Mädchen?“ fragte Weiß. „Sie fuhr um achtzehn Uhr dreißig mit dem Bus in die Stadt zurück.“ 22
„Was ist mit Anja?“ fragte Caster besorgt. „Warum sind Sie zu uns gekommen?“ „Sie ist verschwunden.“ „Verschwunden?“ wiederholte die Frau ungläubig. „Aber … ein Mensch kann doch nicht einfach …“ Sie brach den Satz ab und sah ihren Mann an, als erwartete sie von ihm eine Erklärung. Doch Caster hielt den Kopf gesenkt und schwieg. „Haben Sie etwas Auffälliges an Fräulein Bindseil bemerkt, als sie hier war?“ fragte der Leutnant. „Kummer, Unruhe, vielleicht Angst?“ Frau Caster schüttelte den Kopf. „Wenn sie etwas bedrückt hätte, wüßte ich das.“ „Worüber haben Sie sich unterhalten?“ „Über Dinge, die Neunzehnjährige interessieren“, entgegnete die Frau und schloß den oberen Knopf ihrer lose fallenden Hemdbluse. „Schallplatten, Mode … ach ja, wir sprachen auch über Zimmereinrichtungen. Ich bin Innenarchitektin, und sie brauchte Tips zur Ausgestaltung ihrer Wohnung.“ „Das sind normalerweise keine Anzeichen dafür, daß sie Hals über Kopf weglaufen wollte“, sagte Weiß nachdenklich. „Woher kannten Sie Fräulein Bindseil eigentlich?“ Die Frau spitzte die Lippen, überlegte einen Augenblick. Inzwischen sagte ihr Mann: „Das Chemiewerk vergibt hin und wieder Ferienplätze an das Heim für elternlose Kinder und Jugendliche. Einmal hatte ich das zu organisieren und lernte dabei die kleine Anja kennen. Sie hat weder Eltern noch Geschwister, und ich habe sie in unsere Familie gebracht.“ Leutnant Weiß erhob sich. „Ich danke Ihnen, diese Auskünfte reichen völlig. Sollte sich Fräulein Bindseil 23
bei Ihnen sehen lassen oder sollten Sie ihren jetzigen Aufenthaltsort erfahren, geben Sie uns bitte Bescheid.“ Die Eheleute begleiteten ihn hinaus, standen Arm in Arm, bis er außer Sichtweite war. Simosch rieb sich die Handgelenke, ein sicheres Zeichen für seine innere Unruhe. Wer mit ihm zusammenarbeitete, wußte davon. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte Weiß besorgt. Simosch schwieg, lauschte dem Wort, das in seinem Kopf hämmerte: Lüge, Lüge, Lüge. Casters hatten den Leutnant belogen. Ich weiß es, von Susi. Seit gestern morgen. Ich wollte Weiß sofort mitteilen, was ich erfahren hatte, doch er war unterwegs. Dann wurden wir benachrichtigt, daß eine Tote auf der Baustelle liegt. Und nun ist es für den Leutnant nicht mehr wichtig, zu erfahren, daß diese Casters raffinierte Lügner sind. „Ist Anja Bindseil an jenem Abend noch einmal gesehen worden?“ fragte er, sich zur Ruhe zwingend. „Ja. Und zwar …“, Weiß blätterte in den Unterlagen, „um neunzehn Uhr, von der Nachbarin. Sie sah Fräulein Bindseil den Schlüssel ins Schloß der Wohnungstür stecken, kann aber nicht sagen, ob das Mädchen auf- oder zuschloß, ob sie kam oder gehen wollte. Von da an fehlt jede Spur.“ Er klappte die Mappe zu und fuhr fort: „In der Küche entdeckte Fräulein Brehm noch die unbenutzte Eintrittskarte für einen Boxkampf, der an jenem Abend stattfand. Sie vermutet, daß ihre Freundin die Karte von Jochen Maar, Boxer im Federgewicht, erhalten hat. Maar ist ein Bekannter von Fräulein Bindseil. Wollen Sie seine Aussage hören?“ „Ich lese sie später durch“, erwiderte Simosch, „vielen Dank für die Information.“ Er hatte es eilig, in sein Zimmer zu kommen. 24
Das Telefon begann zu klingeln, als er noch auf dem Korridor stand. „Komme schon“, brummelte er, schloß auf und lief zum Schreibtisch. Hauptmann Randolf war am Apparat. „Hier das Neueste aus der Pathologie“, sagte er. „Erstens fällt der Tod des Mädchens mit dem Zeitpunkt ihres Verschwindens zusammen. Zweitens hat sie vor ihrem Tod eine Menge – besser: Unmenge – Alkohol getrunken und Schlaftabletten geschluckt. Drittens ist sie weder an Alkoholvergiftung noch an den Tabletten gestorben, sondern an dem Abraum erstickt, der über ihr ausgekippt wurde.“ Simosch ließ den Hörer sinken und sagte zu sich selbst: „Wie kam sie bloß auf diese Baustraße? Und warum …?“ „Genau das müssen Sie herausfinden!“ rief Randolf, und der Oberleutnant hielt erschrocken die Muschel wieder an das Ohr. „Ihnen stehen für die Ermittlung drei Genossen der MUK zur Verfügung. Brauchen Sie weitere Leute, sagen Sie mir Bescheid.“ Er nannte noch die Namen der Kriminalisten, wünschte seinem Mitarbeiter Erfolg und gab die Leitung wieder frei. Simosch war erregt. Er rieb sich die Handgelenke und lief im Zimmer auf und ab. So war das jedesmal, wenn man ihm einen kniffligen Fall übertrug. Er freute sich darauf wie ein Abiturient auf eine Prüfungsaufgabe, an der er seine Leistungsfähigkeit beweisen kann. Einen Kriminalfall lösen bedeutete für ihn: Menschen in extremen Situationen kennenlernen, Idole zerschlagen, Mutlose aufrichten, Einsichten vermitteln, den bösen Vorsatz und die affektive Verirrung auseinanderhalten, Lebensansichten revidieren. Es hieß aber auch, den Wolf im Schafspelz zu erkennen und zu greifen. 25
Er setzte sich an den Schreibtisch, fixierte erste Überlegungen für einen Ermittlungsplan, und während er arbeitete, wurde er ruhig, die Gedanken ließen sich ordnen. Als er Namen notierte, die ihm bisher im Zusammenhang mit Anja Bindseil bekannt geworden waren, kitzelte ihn Lavendelduft in der Nase, erboste ihn Casters Verlogenheit, hörte er den Hauptbuchhalter sagen: „Hopfer mein Name“, sah er Susi Brehms Stupsnase vor sich. Sie hatte sie, ohne vorher anzuklopfen, in sein Dienstzimmer gesteckt und nur gesagt: „Na, endlich.“ Ihm schien es, als sei sie schon eine Weile von Zimmer zu Zimmer gelaufen, um ihn zu finden. Das war am Morgen jenes Tages gewesen, als der Bagger ihre Freundin ausgegraben hatte. „Wer hat Sie denn in dieses Haus gelassen?“ fragte Simosch streng und dachte: So eine niedliche Krabbe! „Die Wache“, erwiderte Susi Brehm und kam, einen Zettel schwenkend, auf ihn zu. „Was haben Sie auf dem Herzen?“ „Wollen Sie mir keinen Stuhl anbieten?“ fragte sie verwundert, doch ohne Vorwurf. „Erst will ich sicher sein, daß Sie sich nicht im Zimmer oder in der Person geirrt haben … wie neulich.“ Sie sah sich um, entdeckte in der Besucherecke einen Stuhl und rückte ihn vor Simoschs Schreibtisch. „Ich habe mich nicht geirrt.“ Sie setzte sich, zupfte an ihrem Minirock, und Simosch dachte: Fein, daß er davon nicht länger wird. „Ich muß Ihnen etwas Wichtiges mitteilen“, fügte sie hinzu. „Vielleicht finden Sie Anja dann schneller.“ „Ich habe noch keinen Finger krumm gemacht, um Ihre Freundin zu suchen. Das ist Leutnant Weiß’ Arbeit.“ 26
Er sprach lauter als sonst, auch ziemlich barsch, um zu verbergen, daß er ihre Sturheit liebenswürdig fand. Sie rümpfte die Nase und sagte, für sie sei er genausogut die Kriminalpolizei wie jeder andere hier im Hause. Warum sie dann nicht zu jedem anderen gehe, wollte er wissen. „Weil es mit der Kriminalpolizei so ist wie mit den Ärzten: Man sucht sich denjenigen aus, zu dem man das meiste Vertrauen hat.“ Sieh an, dachte Simosch, zumindest gefühlsmäßig ein ernst zu nehmendes Argument, und ich dachte, sie reagiert nur eine Art jugendlicher Trotzhaltung ab. „Über Anja Bindseil kann ich eben nur mit Ihnen sprechen. Dieser Leutnant Weiß guckt so ernst, und das paßt nicht zu Anja.“ „Ihre Angelegenheit wäre bei ihm in guten Händen. Aber nun erzählen Sie schon.“ „Anja hatte … sie war …“ Röte überzog ihr Gesicht. Um die Unsicherheit zu verbergen, wurde sie widerborstig: „Ach was, am besten, man hält den Mund.“ „Wie Sie wollen.“ Es quält sie, dachte Simosch, was sie da über ihre Freundin weiß. Also kann es nicht belanglos sein. Ich werde den Passierschein unterschreiben und sie zum Gehen auffordern. Wenn es kein Theater ist, wird sie Mut fassen und sprechen. Er sah ihren hilflostrotzigen Blick und wußte, daß sie bleiben und ihm anvertrauen würde, was sie bedrückte. „Den Schein geben Sie am Ausgang ab. Auf Wiedersehen.“ „Aber … wer weiß denn, was Anja in ihrer Verzweiflung getan hat!“ Vor Erregung knüllte sie den Zettel in der Hand zusammen, und Simosch wußte schon jetzt, sie würde mit der Wache Ärger kriegen. „An diesem Mann, da hing sie doch wie an ihrem Leben.“ 27
„Das sind große Worte, Fräulein Brehm.“ „Es war auch eine große Liebe … für sie jedenfalls“, fügte sie nach einer Weile hinzu. „Wer ist der Mann?“ „Herr Caster.“ „Weiter.“ „Wissen Sie, ich wollt’s nicht sagen, weil es für Anja sehr viel bedeutet, aber sie ist schon so lange fort …“ „Vielleicht haben Sie recht. Möglich, daß wir Ihre Freundin leichter finden, wenn Sie uns die ganze Wahrheit erzählen.“ Simosch hatte sich mit Stimme und Mimik in einen verständnisvollen Zuhörer verwandelt, so daß Susi Brehm nicht anders konnte, als ihm ihr Herz auszuschütten. „Anja und Herr Caster lernten sich kennen, als sie noch im Heim wohnte. Sie hat mir erzählt, daß sie dort keine Freundin fand, sich immer absonderte, Angst vor jeglichem Kontakt mit Menschen hatte. Zuletzt lebte sie in dem Gefühl, hinter einer Glaswand zu sein, durch die sie zusah, was um sie herum vorging. Dann kam Caster und hat ihr gezeigt, wie schön es ist, wenn man einfach mitlebt. Ich glaube, von da an hat jeder Gedanke bei ihr mit Heinz Caster begonnen. – Und eines Tages erfuhr sie, daß er verheiratet ist.“ „Von wem?“ fragte der Oberleutnant. „Ich weiß es nicht. Aber seit damals war sie … Wissen Sie, ich habe im Krankenhaus mal einen Traumwandler erlebt, so einen mit leerem Blick und einem Lächeln … Also, er lief den Korridor entlang, in dem die Schwestern wohnen und der direkt zum Balkon führt. Die Balkontür wird nicht abgeschlossen, und die Brüstung ist niedrig. Als die Oberschwester den Mann sah, ging sie langsam, ebenfalls lächelnd, neben ihm her, redete leise auf ihn 28
ein, faßte schließlich seine Hand und führte ihn zurück. Ich will damit sagen, daß für Anja niemand da war, der sie bei der Hand nahm. Ich habe ihr nur ziemlich energisch geraten, nicht dorthin zu gehen.“ „Wohin?“ „Zu seiner Frau. Ich wollte ihr helfen und hab’s wohl nicht richtig angepackt. Aber in allem, was mit Caster zusammenhing, wissen Sie, da war Anja ohnehin blind und taub. Also hat sie eine Aussprache mit dieser Frau erzwungen.“ „Und was ist dabei herausgekommen?“ „Ich weiß nicht. Danach habe ich Anja doch nicht mehr gesehen. Niemand hat sie mehr gesehen. Das mußte ich Ihnen einfach sagen, wissen Sie.“ Simosch dachte, daß es nicht viel sei, was er bis jetzt wisse, doch es war ein Anfang, auf dem er aufbauen konnte. Hinter Casters Name malte er einen Kreis, sein Zeichen dafür, daß die Familie im Auge zu behalten sei. Außerdem setzte er in Klammern hinzu: Casters haben Leutnant Weiß belogen. 3 Die Kriminalisten waren schon auf der Baustelle, als Simosch mit dem Wartburg vorfuhr. Leutnant Rückert kam ihm entgegen. „Wie steht’s?“ fragte Simosch. „Schlecht um den Bauleiter.“ Das sehe ich, dachte der Oberleutnant. Gestern war er noch ein forscher Kerl, heute steht er mit hängenden Schultern vor der Polizei, als hätte er was ausgefressen. Mit dem werde ich mich mal selbst unterhalten. Nervös 29
ist er auch, fuchtelt Leutnant Wolf mit beiden Händen vor der Nase herum. „Was hat er denn?“ „Schlamperei auf der Baustelle. Vielleicht wäre das Mädchen nicht verunglückt, wenn man hier abends erkennen könnte, wo man hinläuft.“ „Und mit wem unterhält sich Hauptwachtmeister Seidel?“ „Mit dem Fahrer, der den Schotter über das Mädchen gekippt hat. Als wir es ihm sagten, dachten wir, der macht schlapp. Aber er hat sich wieder gefangen.“ „Um wieviel Uhr ist er mit der ersten Ladung gekommen?“ „Morgens halb vier.“ „Da ist es noch dunkel. Er konnte den Körper wohl nicht von den Steinen unterscheiden, wie?“ „Er behauptet, daß er von dem Punkt aus, wo er stand, das Mädchen nicht sehen konnte, selbst wenn die Mittagssonne geschienen hätte. Wir wollen das eben durch Rekonstruktion nachprüfen.“ „Richtig. Ich schicke Ihnen Leutnant Wolf noch ’rüber.“ Und schon lief Simosch auf den Bauleiter zu, der mit Worten und Gesten einem Leutnant der Kriminalpolizei etwas zu erklären versuchte. Ohne Erfolg, wie es aussah. „So ist das mit diesen gottverdammten Rowdys“, sagte er gerade, als der Oberleutnant zu ihnen trat, und zur Bekräftigung hieb er mit der Faust in die flache Hand. „Was ist mit den Rowdys?“ fragte Simosch. Der Bauleiter knallte, statt zu antworten, weiter die Faust auf den Handteller, nicht heftig, aber rhythmisch, in kurzen Abständen. Simosch fand das beängstigend. „Was mit den Rowdys ist, hab’ ich gefragt!“ „Sie demolieren die Absperrungen und die Beleuchtung“, antwortete Wolf, als der Bauleiter den Mund noch 30
immer nicht aufmachte, sondern nur abwehrend die Hände hob. „Das Gelände hier ist eine einzige Gefahrenquelle, und er ist für die Sicherheit verantwortlich.“ „Hm.“ Nachdenklich betrachtete Simosch den unruhigen, sorgenbedrückten Mann. Zu seinem Mitarbeiter sagte er: „Sie werden da drüben für eine Rekonstruktion gebraucht. Um sechzehn Uhr treffen wir uns zur Auswertung in meinem Zimmer.“ „In Ordnung.“ Leutnant Wolf nickte dem Bauleiter kurz zu und ließ ihn mit seinem Vorgesetzten allein. „Wie heißen Sie?“ fragte Simosch. „Platon“, sagte der Mann und lachte unmotiviert. „Ich heiße blödsinnigerweise Platon wie der altgriechische Philosoph.“ Erregt lief er hin und her. Immer fünf Schritte. Der Mann hatte nicht gesagt ‚wie der Philosoph‘, sondern das Attribut ‚altgriechische‘ davorgesetzt. Vielleicht liest er viel, dachte Simosch. Abends zum Beispiel, wenn er nach Hause kommt und den Sturzhelm vom Kopf genommen hat, mit dem er so grimmig aussieht. Ich mag Leute, die abends lesen. Doch vielleicht sollte er sich lieber um die Absperrungen und die Rowdys kümmern. „Aber meine Liebe zur Baustelle“, sagte Platon und blieb vor dem Oberleutnant stehen, „die ist nicht platonisch! Deshalb geht mir das auch alles so verdammt nahe. Und nun ist hier ein Mädchen zu Tode gekommen. Verunglückt, auf meiner Baustelle!“ Bei dem Wort „meiner“ schlug er sich gegen die Brust. Dann lief er wieder hin und her. Immer fünf Schritte. „Erzählen Sie ein bißchen über die Rowdys“, forderte Simosch. „Sie schlagen die Laternen auf der Baustelle ein. Ich hab’ mal zwei erwischt, die meinten rotzfrech, sie hätten 31
Nachtübung im Zielschießen. Später, auf dem Revier, wurden sie dann kleinlaut.“ „Sie hätten den Schaden tagsüber reparieren lassen sollen.“ „Hätten! Hätten!“ rief Platon sarkastisch. „Es gab Nächte, da wurden die Absperrungen an vier, fünf Stellen niedergerissen und fast alle Laternen zerschmettert. Die Reparaturbrigade hat den lieben langen Tag geschuftet – und in der folgenden Nacht haben die Burschen wieder gehaust, als ob sie ihre Schandtaten bezahlt kriegten. Tags darauf aber hatten die Kumpels von der Reparatur einen Auftrag am anderen Ende der Stadt. Das ist die eine Seite des Problems. Die andere sieht so aus: Auch für Reparaturen gibt’s Materialzuteilungen. Hab’ ich meine verbuttert, und die Laternen werden wieder eingeschlagen oder das Holz von der Absperrung geklaut, sehe ich vierzehn Tage lang alt aus, weil ich nachts immer von Unfällen träume. Und nun ist einer passiert.“ Wenn er doch endlich stehenbliebe, dachte Simosch, dem Platons Fünfschrittewanderung auf die Nerven ging. Er bot ihm eine Semper an, und der Bauleiter griff gierig zu. „Ich bin schon so durcheinander, daß ich nicht weiß, wo meine Zigaretten liegen“, sagte er und bedankte sich. Simosch schlug vor, in der „Stadtküche“, der Gaststätte zwischen Kaufhaus und Bauplatz, ein Bier zu trinken und sich mit. Zigaretten zu versorgen. Die Aussicht auf einen sitzenden, rauchenden und weniger gestikulierenden Platon war geradezu verlockend für ihn. Der Bauleiter nahm den Helm ab, hing ihn über den Arm und sagte: „Na gut, gehen wir.“ Als sie den Bauplatz verließen, tippte er Simosch auf die Schulter. „Hier zum Beispiel haben sie die Absperrung mehrmals zerstört. Eines Morgens waren sogar zwei Meter Lattenzaun 32
verschwunden. Und ich meine, wenn das Mädchen nachts im Dunkeln wirklich vom Weg abgekommen und auf die Baustraße geraten ist, dann kann das nur hier passiert sein.“ „Weil der Pfad hinter der Absperrung das Warenhaus mit der Altstadt und der nächstliegenden Bushaltestelle verbindet, nicht wahr?“ „Genau.“ „Ist Ihnen schon mal zu Ohren gekommen – vielleicht durch eine Beschwerde –, daß jemand nachts den Weg verfehlt hat und auf dem Bauplatz gelandet ist?“ „Nein. In den Beschwerden stand nur, daß hier mal was passieren könnte. Ich versteh’ aber nicht, warum das Mädchen nicht um Hilfe gerufen oder warum das niemand gehört hat, falls sie doch gerufen hat.“ „Hm“, sagte Simosch und dachte, eben das sei eines der Rätsel, das er im Fall Anja Bindseil zu lösen habe. Er blieb stehen, zog sein Notizbuch hervor und skizzierte das Stück Gelände, auf das es ihm ankam. Dabei glaubte er zu sehen, wie Anja, benommen von Alkohol und Schlaftabletten, sich den Pfad entlangtastete und schließlich da, wo der Zaun fehlte, zu weit nach links taumelte, geradewegs auf die ausgeschachtete Grube zu. War sie so betrunken, daß sie den Sturz nicht spürte? Warum nicht wenigstens ein Aufschrei im Augenblick des Abstürzens? Wurde sie von keinem gehört? Warum ging sie überhaupt allein nach Hause, vollgestopft mit Alkohol und Tabletten? Ging sie wirklich allein …? Eines nach dem anderen, dachte Simosch, zuerst muß ich von Platon noch etwas erfahren. In der „Stadtküche“ fanden sie an einem Ecktisch Platz, bestellten Bier und Zigaretten, und Platon rauchte so hastig, daß er damit seine Erregung mehr verriet als verbarg. 33
„Über die Straße möchte ich noch etwas wissen, die Sie erst gebaut haben und nun wieder aufreißen“, begann der Oberleutnant. „Das ist so …“ Platon nahm die Zigarette in die linke Hand und unterstrich die folgende Erklärung gestenreich mit der rechten: „Zu einem Bauplatz muß allerhand Material gefahren werden, Kies, Zement, Steine, Holz, auch Fertigteile, Glasscheiben und so. Damit der Transport reibungslos läuft, die Wagen und auch das Material geschont werden, errichtet man auf dem Gelände eine Zufahrts- oder Baustraße. Dabei wählt man die kürzeste und günstigste Strecke. Wir kamen damals gut voran, bis uns der Keller eines abgerissenen Hauses aufhielt. Der schluckte eine Menge Abraum. Zu jener Zeit, ich erinnere mich genau, gab es die größten Scherereien mit den Rowdys. Hab’ mir alle Schäden notiert und auch den Zeitpunkt, zu dem sie angerichtet wurden.“ „Das interessiert mich“, warf Simosch ein. Der Bauleiter sah in seinem Notizbuch nach, und sie stellten fest, daß in der Nacht vor dem Unglück mehrere Laternen eingeschlagen und etliche Meter Holz von der Absperrung weggetragen worden waren. Platon hatte auch notiert, welche Beleuchtungskörper ausgefallen waren. „Die Laterne neben dem Kellerloch brannte allerdings“, meinte er nachdenklich. „Wenn die Kleine nicht mit geschlossenen Augen umhergetappt ist, muß sie das Loch gesehen haben.“ „In jener Nacht scheint niemand etwas gehört oder gesehen zu haben“, entgegnete der Oberleutnant. „Selbst Ihr Fahrer stand mit seinem Lkw so ungünstig, daß er das Mädchen nicht entdeckte.“ „Soso“, sagte Platon, er wurde immer nachdenklicher, „daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ In seinen Noti34
zen blätternd, ergänzte er: „Der Menke ist gefahren.“ Dann schwieg er. Nach einer Weile fragte Simosch, wie das mit den Rowdys ausgegangen sei. „Die Polizei hat zwei, drei Nächte auf der Lauer gelegen und sie in flagranti ertappt. Seitdem ist Ruhe.“ „Und warum lassen Sie diese Straße jetzt wieder aufreißen?“ „Weil es, wie gesagt, nur eine Baustraße war“, erklärte Platon. „Sie hat ausgedient. Augenblicklich werden Erdkabel gelegt, Rohre für Wasser und Abwasser, dann wird alles hübsch planiert, und der Platz vor den Hochhäusern erhält sein endgültiges Gesicht mit Grünanlagen, Spielplätzen und so. Hören Sie überhaupt zu?“ „Doch, doch“, entgegnete Simosch schnell, ohne den Blick von der Tür zu nehmen. „Ich … ich war nur einen Moment abgelenkt. Eine Bekannte …“ „Die Bekanntschaft lohnt sich“, sagte Platon anerkennend, als er die schlanke Frau mit den sanft geschwungenen Hüften sah. Sie ging zum Tresen und kaufte Zigaretten. Bis auf einen Betrunkenen, der eine Ansprache an sein Bierglas hielt, schauten alle auf die Frau. Simosch sah sie im Profil und dachte an Kleopatra. „So was sollte die Zigaretten im Exquisitgeschäft kaufen“, meinte Platon und trank sein Glas leer. „So was paßt doch nicht in die ‚Stadtküche‘.“ „Sie scheint den Wirt zu kennen.“ „So jung und schon angegrautes Haar. Aber fabelhaft sieht’s aus. Oder ist das eine Perücke? He, was meinen Sie, Oberleutnant?“ „Ich weiß nicht“, sagte Simosch, der ihre Perücke faszinierend fand, tadellos frisiert, mit silbergrauen Strähnen. 35
Und so raffiniert, daß man nicht dahinterkam, ob dieses Grau ein junges Gesicht strenger oder ein alterndes Antlitz, interessanter erscheinen ließ. Sie steckte die Zigaretten in die Handtasche, verabschiedete sich vom Wirt, warf einen Blick in die Gaststube und entdeckte Simosch. Für seinen Gruß dankte sie mit der Andeutung eines Kopfnickens, dann ging sie zur Tür. „Das Gesicht“, sagte der Bauleiter, „das hab’ ich schon mal gesehen. Aber wo?“ „Sie heißt Vogel“, entgegnete der Oberleutnant und dachte: Silbervogel. „Der Name sagt mir nichts. Nur das Gesicht. Bloß, ich komm’ nicht auf den Zusammenhang.“ „Macht nichts“, meinte Simosch, winkte dem Kellner und zahlte. Auf dem Weg zur Baustelle unterhielten sie sich über belanglose Dinge. Erst als Leutnant Rückert auf sie zusteuerte, bedankte sich Simosch für alle Informationen und bat den Bauleiter, am nächsten Tag zur Dienststelle zu kommen. Das Wesentliche ihrer Unterhaltung mußte protokolliert werden. Rückert konnte es kaum abwarten, daß der Bauleiter verschwand und Simosch sein „Na, was gibt es?“ an ihn richtete. „Der Fahrer“, sagte er hastig, „der hätte das Mädchen sehen müssen. Wir haben rekonstruiert, wo sein Wagen hielt und wo er selbst stand, als er die Ladeluke öffnete. Das Mädchen war zu erkennen, da gibt es keinen Zweifel. Wir dachten, die Dämmerung sei schuld, daß er nichts bemerkt hat, aber er behauptet selbst, die Lampe habe gebrannt, daran erinnere er sich ganz genau. Und ebenso wisse er, daß in der Grube nur Steine lagen und kein menschlicher Körper.“ 36
„Herr Platon“, rief Simosch über die Baustelle, und der Mann kam zurück, hastigen Schrittes, nervös die Arme schwenkend. Simosch erklärte ihm ohne Umschweife die Widersprüche, auf die sie gestoßen waren, und daraufhin bearbeitete der Bauleiter wieder die Handfläche mit der Faust. „Das ist zum Irrewerden“, rief er in einem Anflug von Verzweiflung, „alles geht schief. Man rackert sich ab von früh bis spät, kümmert sich um Leute und Material, übernimmt Verantwortung, entscheidet so, daß Termine gehalten werden, und am Ende muß man erkennen, es war alles falsch.“ „Konkret, bitte“, forderte Simosch, „was haben Sie entschieden?“ „Daß Menke nicht entlassen wird, obwohl er oft zu spät, manchmal arg verkatert oder sogar betrunken zum Dienst gekommen ist. Wir brauchen hier jeden Mann, und seinen Schotter hat der auch noch im Schlaf gefahren. Das verdammte Kellerloch mußte aufgefüllt werden, die Straße … Ich habe Ihnen erzählt, was davon abhing. Aber wenn der Kerl an jenem Morgen wirklich besoffen war, dann hat er in der Grube niemanden gesehen – und wenn dort eine Herde Affen Twist getanzt hätte!“ 4 „Für einen Unfall gibt es zu viele Ungereimtheiten“, sagte Oberleutnant Simosch. „Angenommen, das Mädchen hatte Kummer und trank irgendwo in einer Gaststätte oder bei Bekannten – warum schluckte sie noch Schlaftabletten? Damit wartet man normalerweise, bis man zu Hause ist.“ 37
„Falls Sie andeuten wollen, daß ihr jemand die Medikamente heimlich verabreicht hat, muß ich Ihnen entgegenhalten, daß sie daran ebensowenig gestorben ist wie am Alkohol.“ Sie waren zur Dienstbesprechung in Hauptmann Randolfs Zimmer gekommen: Randolf, Simosch und seine drei Mitarbeiter. Bis jetzt hatten der Hauptmann und Simosch debattiert, Leutnant Wolf notierte hin und wieder einen Gedanken, Rückert verfolgte stumm das Gespräch seiner Vorgesetzten und nickte jedesmal heftig, wenn er in einem Argument seine eigene Auffassung bestätigt fand. Hauptwachtmeister Seidel las zum wiederholten Male die Vernehmungsprotokolle des Kraftfahrers Menke und des Bauleiters Platon durch. „Wollen Sie die auswendig lernen?“ fragte der Hauptmann schließlich leicht gereizt. „Wenn ich auf diese Art dahinterkäme, was da nicht stimmt“, entgegnete Seidel, „würde ich’s tun. Die beiden Männer widersprechen einander, und doch hat jeder die Wahrheit gesagt – meine ich.“ „Erklären Sie das bitte näher.“ „Bauleiter Platon gibt an, der Fahrer sei morgens mehrmals verkatert, ja sogar betrunken zur Arbeit gekommen, und anders könne es auch an jenem Tag nicht gewesen sein, sonst hätte er das Mädchen in dem Kellerloch sehen müssen. Das stimmt. Der Fahrer streitet seine Liebe zum Alkohol und seine Verfehlungen auch keineswegs ab, behauptet aber, an jenem Morgen nüchtern gewesen zu sein. Er erinnere sich so genau an das Datum, weil er nachts für seine Frau den Rettungsarzt holen mußte. Wirklich stocknüchtern sei er gewesen, und wenn da ein Mädchen in der Grube gelegen hätte, dann hätte er es auch gesehen. Ich habe diesen Menke 38
selbst vernommen und bin überzeugt, daß er die Wahrheit sagt.“ „Zugegeben, die Darstellung wirkt glaubhaft“, meinte Leutnant Rückert jetzt, „aber Anja Bindseil hat nun mal in der Grube gelegen, sonst hätte der Bagger sie dort nicht ausgraben können. Es ist auch erwiesen, daß sie an dem Abraum erstickte. Das kann Herr Menke nicht wegreden. Wahrscheinlich weiß er, daß wir ihn wegen unterlassener Hilfeleistung, vielleicht sogar wegen fahrlässiger Tötung belangen können.“ „Noch haben wir keinerlei Beweis“, sagte Randolf. „Vorläufig müssen wir uns mit Versionen behelfen, was geschehen sein könnte, und weiterermitteln, bis Beweise erbracht sind, die die eine oder andere Vermutung bestätigen. Sie, Oberleutnant Simosch, finden es mit Recht ungewöhnlich, daß jemand Schlafmittel schluckt, obwohl er noch einen weiten Weg nach Hause hat. Aber nehmen wir mal an, das Mädchen habe bei Bekannten gegessen und getrunken und wollte dort übernachten. Da sie in fremder Umgebung erfahrungsgemäß schlecht schlief, nahm sie Tabletten. Dann überlegte sie es sich aus irgendeinem Grunde anders und ging doch nach Hause. Müde und unaufmerksam geriet sie wegen der fehlenden Absperrung auf die Baustelle, stürzte in die Grube und wurde ohnmächtig.“ „Hm“, sagte Simosch, „so könnte es gewesen sein. Aber vielleicht auch so: Jemand, der ebenfalls unter Alkohol stand, begleitete sie. Beide gerieten auf die Baustelle, und Anja stürzte in das Kellerloch, blieb wie tot liegen. Ihr Begleiter verlor daraufhin die Nerven und verschwand. Das wäre mehr als Unfall.“ „Und Mord?“ fragte Leutnant Rückert. „Können wir Mord ausklammern? Vielleicht wurde das Mädchen vor39
sätzlich mit Alkohol und Tabletten betäubt und in das Kellerloch gestürzt.“ „Vielleicht, vielleicht!“ entgegnete der Hauptmann. „Zugegeben, eine Möglichkeit ist so ernst zu nehmen wie die andere. Erforschen Sie, wo das Mädchen am Abend vor ihrem Tode gewesen ist und warum sie sich gerade dort aufgehalten hat.“ „Wir müssen Anja Bindseils Leben kennen“, sagte Simosch, „um Antwort auf dieses Warum zu finden. Ich werde mich noch heute in ihrem Arbeitsbereich umsehen, und Sie, Leutnant Rückert, bitte ich, in der Hauptbuchhaltung die notwendigen Routinearbeiten einzuleiten. Aber so, daß Anja Bindseils engste Mitarbeiter und ihr Chef nichts davon erfahren.“ Am Nachmittag schnupperte der Oberleutnant wieder Lavendelduft in Herrn Hopfers Vorzimmer. Die Chefsekretärin hatte ihren Sessel dicht an seinen gerückt. Simosch sprach leise, und sie war sofort darauf eingegangen. Er hatte ihr sagen wollen, das Gespräch sei nicht für fremde Ohren bestimmt, doch mit wissendem Lächeln hatte sie ihm diese Erklärung erspart. „Sprechen wir leise“, bat sie, „damit der Chef ungestört arbeiten kann.“ Simosch war zufrieden mit ihr. Sehr zufrieden, und er flüsterte, sie hätte sich beim diplomatischen Korps bewerben sollen. „Wir sind hier ein diplomatisches Korps“, antwortete sie so ernsthaft, daß Simosch die leise Ironie in ihrer Stimme fast überhörte. „Das hat sogar Anja Bindseil im Laufe der Zeit begriffen.“ „Erzählen Sie mir, welchen Eindruck das Mädchen auf Sie machte, ob und wie sie sich veränderte …“, bat Simosch. 40
Die Chefsekretärin deutete mit einem Kopfnicken an, daß sie verstanden habe, worauf es ihm ankam. „Anja war lebenshungrig“, sagte sie, „aber auf eine stille, empfindsame Art. Sie erlebte alles ungemein intensiv, freute sich zum Beispiel, daß unser krumm gewachsener Kaktus am Fenster Blüten trieb, war so erfüllt davon, als sei das wunder was. Für die Baustelle draußen interessierte sie sich, nahm Anteil an jeder Wand, die hochgezogen wurde, als sei es ihr Haus, das da entstand. Nirgends ging sie achtlos vorüber, sie sog alles förmlich in sich auf …“ Fräulein Vogel stockte, mußte einen Gedanken verarbeiten, der ihr sichtlich Unbehagen bereitete, und sagte zu Simosch: „Als hätte sie gewußt, daß nicht mehr viel Zeit war.“ Eine Weile schwiegen sie. Simosch grübelte, ob Silbervogel eine angeborene Gabe dafür besaß, Menschen zu beobachten, oder ob sie sich diese Eigenschaft anerzogen hatte, weil sie zum Rüstzeug einer guten Sekretärin gehört. Als er aufsah, erschrak er ein wenig über ihren seltsam abwesenden Blick. Er hüstelte, aber sie reagierte nicht. Sie schien derart in Erinnerungen an Anja versunken, daß sie ihre Umwelt nicht mehr wahrnahm. Plötzlich atmete sie tief, fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ja … Anja …“, sie lächelte unsicher, „sie war so … ja, nun … geradlinig.“ Jetzt hatte sie sich wieder völlig in der Gewalt und fuhr fort: „Immer sagte sie genau das, was sie dachte, und oftmals im ungeeigneten Augenblick. Von der Skala menschlicher Eigenschaften kannte sie nur Gut und Böse, wie ein Kind. Und sie war der Typ, der sich mit Vehemenz für das einsetzte, was er als gut ansah. Dafür wäre sie durchs Feuer gegangen …“ „Betraf das auch Menschen?“ fragte Simosch. „Auch Menschen“, bestätigte sie, „zum Beispiel Heinz Caster.“ 41
„War Ihnen bekannt, daß er verheiratet ist?“ „Nicht von Anfang an. Ungefähr eine Woche, nachdem sie es selbst erfahren hatte, hat sie sich mir anvertraut.“ „Von wem hatte sie es gehört?“ „Von einem Jungen, der in sie verliebt ist. Jochen Maar …“ „Ah so … danke. Wie war übrigens Ihr Verhältnis zu Anja Bindseil?“ „Sie fragte mich oft um Rat, und ich habe versucht, ihr diese Entweder-Oder-Haltung auszureden. Ich wollte, daß sie lernte, auf Zwischentöne im Leben zu achten, Kompromisse einzugehen, verstehen Sie?“ „Sie haben also versucht, ihr die Geradlinigkeit auszutreiben.“ Die Art, wie sie sich im Sessel zurücklehnte, die Beine übereinanderschlug und Simosch anblickte, ließ keinen Zweifel zu: Silbervogel war gekränkt! „Seien Sie nicht böse“, bat der Oberleutnant. Obwohl Ihnen auch das reizend steht, dachte er, diese Unmutsfalte auf der Stirn, die Lippen zusammengekniffen und dieses leichte Beben der Nasenflügel! „Es klingt so … abwertend, wie Sie es formulieren“, sagte Fräulein Vogel, „dabei habe ich lediglich versucht, eine Sekretärin aus ihr zu machen. Wie hätte sie denn vorwärtskommen sollen, so naiv, wie sie war? Damals zum Beispiel, als der Chef den Kopf ins Zimmer steckte, ich erinnere mich, es war kurz vor Feierabend …“ „Fräulein Bindseil“, sagte Herr Hopfer, „bitte, besorgen Sie mir einen Bleistift. Sehr weich, Nummer sechs B.“ Anja schwenkte sich im Drehstuhl herum und griff nach dem gelben Stift auf ihrem Arbeitstisch. „Sie haben ihn …“ 42
„Oh“, unterbrach Fräulein Vogel, und das Wort triefte vor Bedauern, „ich habe ihn versehentlich mit hinausgenommen. Bitte schön.“ „Wie gut, daß wir ihn gefunden haben“, sagte Herr Hopfer und sah zufrieden aus wie jemand, der sich gern mit kleinen Lügen verwöhnen läßt. Anja kam sich vor wie in einer Komödie, und kaum war der kleine, dürre Mann verschwunden, sagte sie vorwurfsvoll: „Er hat ihn heute mittag hier vergessen.“ „Unser charmanter Garderobenständer vergißt nichts“, entgegnete die Chefsekretärin ernsthaft, doch mit der ihr eigenen leisen Ironie. Anja zuckte die Schultern. „Ich finde es nicht richtig, ihm nach dem Mund zu reden, nur weil er Hauptbuchhalter ist.“ Fräulein Vogel klappte einen Aktenordner zu und besah sich ihre Fingernägel, während sie weitersprach: „Es wird Zeit, daß Sie den Witz unseres Berufes begreifen.“ „Was soll das heißen?“ fragte Anja stirnrunzelnd. „Unter anderem, daß eine gute Sekretärin die Schwächen ihres Chefs in Tugenden verwandelt.“ Sie zog ein weiches Läppchen aus ihrem Kosmetikbeutel und fuhr damit über die Fingernägel, die silbergrau waren wie die Strähnen im Haar. „Unser Herr Hopfer“, sagte sie, „ist unansehnlich, dürr wie ein Garderobenständer, scheint aber den besten Schneider der Stadt aufgespürt zu haben und läßt bei ihm arbeiten. Das heißt, er ist eitel. Zu uns aber liebenswürdig …“ „Das ist nicht echt“, unterbrach Anja, „seine Freundlichkeit ist so gedrechselt.“ „Sie ist ein Teil seiner Eitelkeit. Er sucht Anerkennung. Deshalb gibt er auch keinen Fehler zu. Lassen wir ihn doch unfehlbar erscheinen! Ihm schmeichelt es, und 43
wir haben einen guten Tag. Darauf sollte man nicht verzichten. Schließlich müssen wir uns täglich neun Stunden lang aufeinander einstellen. Da lernt man sich gründlicher kennen als Eheleute, die nur abends zusammen sind. Wenn ich mir die Freiheit nehme, seiner Eitelkeit zu schmeicheln, vergebe ich mir nichts. Im Gegenteil: Mit meinen kleinen Tricks beherrsche ich ihn.“ „Er könnte eines Tages dahinterkommen“, sagte Anja, „was dann?“ „Aber er hat mich doch längst durchschaut! Und er beherrscht mich, indem er sich dies und das von mir bieten läßt.“ „Wenn man weiß, daß man einander belügt, kann man gleich bei der Wahrheit bleiben“, beharrte Anja. „Es geht nicht um Lüge oder Wahrheit, Kindchen. Wie verstimmt wäre dieser Mann jetzt, wenn Sie ihn eben gezwungen hätten, seine Vergeßlichkeit vor uns zuzugeben, und wie unangenehm wäre es, wenn er diese Verstimmung an uns ausließe! Das alles haben wir vermieden.“ Anja wandte sich brüsk ab, da sie es nicht mochte, „Kindchen“ genannt zu werden. „Natürlich haben Sie recht“, sagte sie übertrieben freundlich und verschluckte den Nachsatz: Wie immer! Statt dessen fuhr sie fort: „Nur mit der Ehe sollten Sie dieses Leben nicht vergleichen.“ Sie spannte einen neuen Bogen in die Maschine und deutete damit an, daß das Gespräch für sie beendet war. Doch in diesem Zimmer bestimmte Fräulein Vogel, wann geschwiegen wurde. Verwundert darüber, daß ihr jemand, mit dem sie noch sprechen wollte, den Rücken zuwandte, saß sie sekundenlang beinahe hilflos da. Dann täuschte sie Geschäftigkeit vor, holte Unterlagen aus dem Schrank, sah sie flüchtig durch und sprach dabei weiter. 44
„Sie haben vier Jahre lang in einem Heim gelebt und sich dort die Welt so zurechtgezimmert, daß sie endlich einer bestimmten Moralvorstellung entsprach“, sagte sie mit leiser, scharfer Stimme. „Das ist die sicherste Art, sich existenzunfähig zu machen. Begreifen Sie das Leben lieber so, wie es ist.“ Anja Bindseil hämmerte betont laut und verbissen auf die Schreibmaschine ein. Sie mochte derartige Moralpredigten nicht, weil sie jedesmal einen Aufruhr in ihrem Innern heraufbeschworen, ausgelöst durch Gedanken, die ihr fremd waren, und durch Lehren, die sie nicht annehmen wollte. „Sie möchten doch nicht ewig Tippmamsell bleiben, nicht wahr?“ fragte Fräulein Vogel. Anja drückte die Rücktaste und fügte ein vergessenes Komma ein. „Nein. Ich habe den Wunsch weiterzukommen“, sagte sie. „Und wie, bitte schön, wollen Sie das erreichen, wenn Sie Ihren Chef verärgern?“ „Frauenqualifizierung“, entgegnete Anja, ohne ihre Schreibarbeit zu unterbrechen. „Auch da hat Herr Hopfer ein Wörtchen mitzureden. Unsere Abteilung ist unterbesetzt, und es muß schon ein mittelgroßes Wunder geschehen, wenn er Sie zur Qualifizierung freigibt. Sichern Sie sich jedoch sein Wohlwollen, so schaffen Sie – durch seine Fürsprache – alles schneller.“ „Heinz würde mir helfen“, sagte sie und fügte hinzu: „Er möchte, daß ich weiterkomme.“ „Ihr Heinz ist Abteilungsleiter im Chemiewerk und nicht im Warenhaus, deshalb spielt das, was er möchte, hier keine Rolle. Wenn Sie ein Ziel haben, dann packen Sie unseren charmanten Garderobenständer am besten bei seinem 45
Ehrgeiz: So etwa: Hauptbuchhalter Hopfer als Vorbild bei der Förderung unserer Frauen und Mädchen …“ „Mit sozialistischem Gruß“, murmelte Anja, die eben den Brief abschloß, den sie in der Maschine hatte. Dann radierte sie das Ausrufezeichen hinter dem letzten Wort wieder weg, weil sie meinte, ein Gruß sei schließlich keine Forderung. Sie legte den Brief beiseite, brachte den Drehsessel in Schwung und lachte schon wieder, als sie sich Fräulein Vogel zuwandte. Nachtragend konnte Anja nie sein. „Mit Ihrer Hilfe werde ich dieses mittelgroße Wunder schon schaffen.“ Sie meinte das genauso ehrlich, wie sie es sagte. Ohne Ironie. „Ich habe Ihnen eine Menge zu verdanken, trotzdem bin ich manchmal wütend auf Sie.“ „Warum?“ „Weil Sie mich durcheinanderbringen. Aber meistens haben Sie recht.“ Und ernsthaft wiederholte Anja: „Doch, Sie haben fast immer recht.“ „Schluß für heute, meine Damen“, sagte Herr Hopfer, der ins Zimmer getreten war und die Tür zu seinem Büro verschloß. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“ Fräulein Vogel antwortete, auch in Anjas Namen, mit einer aalglatten Höflichkeit. Anja Bindseil war an das Fenster getreten und sagte plötzlich unwillig: „Auch das noch!“ Und zur Chefsekretärin gewandt: „Sie wissen doch Rat in jeder Lebenslage. Bitte, wie wird man einen Liebhaber los, ohne ihn zu beleidigen?“ „Das kommt darauf an, wer es ist.“ „Jochen Maar. Ein Boxer.“ „Und Sie legen Wert darauf, ihn nicht zu verletzen?“ „Ich möchte keinem Menschen weh tun“, sagte Anja schlicht. „Und mit Jochen muß man ganz behutsam umgehen.“ 46
„So empfindsam ist er?“ „Ja. Natürlich.“ Sie packte ihre Tasche. „Sonst wäre er doch nicht Boxer geworden.“ „Wieso das?“ „Er findet selbst, daß er zu sensibel für einen Jungen ist. Deshalb hat er sich diesen harten Sport ausgesucht als Gegengewicht. Auf seine Art ist Jochen prachtvoll.“ „Dann treffen Sie sich doch mit ihm.“ „Heute bin ich mit Heinz Caster verabredet, und Jochen ist jedesmal bedrückt, wenn ich zu Heinz, gehe.“ „Und wie reagiert Herr Caster darauf, daß Sie sich mit diesem Boxer treffen?“ „Er meint, das sei eine Kindergartenfreundschaft, und dagegen habe er nichts.“ Sie war schon an der Tür, als sie hinzufügte: „Er ist eben großzügig.“ „Ich kenne Großzügigkeit zumeist nur zweckgebunden, Herr Simosch“, kommentierte Fräulein Vogel, „aber ich habe mich, was Anjas Freund betrifft, nicht weiter damit beschäftigt. Na, Caster konnte Anja jedenfalls vorspielen, was er wollte, sie glaubte ihm alles.“ „Und später?“ fragte Simosch. „Meinen Sie, daß Ihre Erziehungsarbeit erfolgreich war?“ „Lassen Sie doch die Ironie.“ Ihr Blick war tadelnder als die Worte. „Sie hätten Anja vier Wochen nach diesem Gespräch erleben sollen! Wahrscheinlich erfuhr sie in dieser Zeit von Casters Ehe, und das hat sie völlig aus der Bahn geworfen.“ „Wie zeigte sich diese Veränderung?“ Fräulein Vogel stützte den Kopf mit der Hand. Denkerpose, stellte Simosch fest, und selbst diese Geste fällt graziös aus bei ihr. Einer Antwort wurde sie allerdings enthoben. Das Telefon surrte. 47
„Ein Gespräch für Sie“, sagte sie zu Oberleutnant Simosch, nachdem sie mit dem Teilnehmer ein paar Worte gewechselt hatte. Simosch nahm den Hörer entgegen und sah ihr dabei einen Moment länger in die Augen, als nötig war. Sie erwiderte diesen Blick mit einem ironischen Lächeln, doch das beachtete Simosch kaum. Ihn berührten die Wehmut und die Fragen, die er in ihren Augen zu entdecken glaubte. Fragen, die sie nie über die Lippen bringen würde. „Kommen Sie sofort zur Dienststelle!“ befahl Randolf am anderen Ende der Leitung. „Es gibt Neuigkeiten im Fall Bindseil.“ Dann knackte es im Apparat. Langsam drückte er den Hörer auf die Gabel und suchte erneut den Blick der Frau. „Ich arbeite demnächst verkürzt“, sagte Fräulein Vogel leichthin, und Simosch verstand, das diese Information eine Frage war. „Vor- oder nachmittags?“ „Von neun bis zwölf.“ „Wir sehen uns wieder“, sagte er, nahm eilig seine Sachen auf, ging zur Tür und wandte sich dort noch einmal um. „Wir müssen uns wiedersehen.“ Ihre Augen verrieten, daß sie nicht wußte, ob dieses Muß ein dienstlicher Auftrag oder ein persönlicher Wunsch war. Hauptmann Randolfs Schreibtisch ähnelte dein Arbeitsplatz eines Geologen. Steine unterschiedlicher Größe lagen aufgereiht nebeneinander, gekennzeichnet mit Buchstaben und Zahlen. Der Hauptmann hielt einen mit grobem Kies gefüllten Plastbeutel in der Hand und las laut, was auf dem darangehefteten Zettel geschrieben 48
stand. „Lehmiger Kies. Vorkommen etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt. In südlicher Richtung. Aufgeworfen bei Ausschachtungsarbeiten für das Fundament eines Hochhauses …“ Die Stimme wurde leise, murmelnd, unverständlich. „Welchen Zusammenhang gibt es denn zwischen diesem Steingarten und Anja Bindseil?“ unterbrach ihn Oberleutnant Simosch, der eben ins Zimmer getreten war. Randolf hielt ihm den mit Kies gefüllten Beutel entgegen. Eine Geste, die beinahe anklagend wirkte. „Hier ist der Beweis dafür“, sagte er, „daß man das Mädchen ermordet hat. Nehmen Sie doch Platz, Genosse Oberleutnant.“ Simosch zog sich einen Stuhl heran. „Ermordet“, wiederholte er ohne besondere Betonung, so, als müsse er sich über einen Tatbestand, der ihm unbegreiflich erschien, Klarheit verschaffen. Der Hauptmann legte den Beutel zu der Steinsammlung und nahm das Gutachten zur Hand, das ein Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Abteilung angefertigt hatte. „Ich habe mehrere Gesteinsproben untersuchen lassen“, erklärte er, „den Kies, auf dem die Leiche lag, und den Abraum, mit dem sie bedeckt war.“ „Und?“ fragte Simosch gespannt. „Außerdem wurde Leutnant Wolf von mir beauftragt, herauszufinden, woher der Abraum stammt. Ergebnis: Bis zu dem Tage, an dem das Mädchen verschwand, schütteten die Fahrer kieshaltiges Gestein, das sie aus dem entferntesten Winkel der Baustelle holten. Darauf also lag die Leiche. Am Morgen nach der Mordnacht aber brachte der Fahrer Schotter aus der Altstadt. Vom Abriß eines Hauses.“ 49
„Und damit wurde das Mädchen zugeschüttet“, sagte Simosch, als der Hauptmann schwieg. „Eben nicht. Die erste Schicht auf ihrem Körper war ebenfalls Kies von der Baustelle, der an jenem Tag überhaupt nicht mehr geschüttet wurde.“ Simosch sah blaß aus, als habe ihn eine schlechte Nachricht erschreckt, die ihn persönlich betraf. „Sie ist betäubt worden,“ sagte er bitter, „mit Alkohol und Schlaftabletten. Dann hat man sie auf die Baustelle geschleppt, in die Grube geworfen und im Kies verscharrt … bis sie erstickt ist.“ „Nun wissen wir, wie sie zu Tode kam, aber nicht, wer es getan hat.“ „Und wir wissen, daß der Kraftfahrer Menke die Wahrheit gesagt hat. Er war nüchtern und konnte das Mädchen nicht liegen sehen.“ „Stimmt. Menke hat den Abraum aus der Altstadt über der vergrabenen toten Anja Bindseil ausgekippt. Wir aber sollten denken, daß sie an ebendieser ersten Ladung Steine erstickt ist. Ein klug ausgetüftelter Plan.“ „Ein beinahe perfekter Mord“, sagte Simosch. 5 Der Oberleutnant rieb sich die Handgelenke, als er die Personaltreppe des Warenhauses emporstieg. Herr Hopfer hatte in seiner Dienststelle angerufen und ihn um eine Unterredung gebeten. Eigentlich wollte Simosch um diese Zeit bei Jochen Maar sein. Nun gut, er würde später hingehen. Das erschien ihm genausowenig problematisch wie Herr Hopfer samt seinem ihm unbekannten Anliegen. Aber das Vorzimmer … 50
Er würde Silbervogel sehen, sie freundlich grüßen und dabei denken, daß jemand Anja Bindseil ermordet hatte. Und während ihm diese ungewöhnliche Frau mit ironischem Lächeln zu verstehen geben würde, daß die Stunde für ein Gespräch ungeeignet sei, weil sie spürte, daß er nicht mit ihr reden wollte, müßte er sich fragen, ob sie bereits wußte, daß Anja ermordet worden war. In solchen Situationen wünschte Simosch, kein Kriminalist zu sein, zumindest nicht Mitarbeiter der Mordkommission. Als Psychologe wäre alles ganz anders gewesen. Doch da er kein Mensch war, der sich etwas vormachte, gab er seinen Gedanken eine ironische Wendung. Als Psychologe, dachte er, hätte ich mich sicherlich in eine Neurotikerin verliebt oder in ein madonnenschönes Mädchen mit einem Vaterkomplex oder … Die Tür zu Herrn Hopfers Vorzimmer wurde geöffnet, und Fräulein Vogel betrat den Korridor. Simosch fand sie elegant in dem dunkelgrünen Kostüm. Er stand hinter einem Pfeiler und trat hervor, als sie sich in seine Richtung wandte. Doch ihr Blick glitt über ihn hinweg, als sei er ein Fremder. Taumelnd, wie betrunken, wankte sie plötzlich nach rechts, stützte sich an der Wand ab, aber noch ehe Simosch hinzuspringen konnte, hatte sie sich wieder gefangen. Sie wandte sich rasch um und ging mit schnellen, festen Schritten dem entgegengesetzten Ausgang zu. Simosch stand wie angewurzelt, war versucht, sie anzurufen, rieb sich aber nur nervös die Handgelenke. Sie läuft vor mir weg, dachte er fassungslos. Sie hat mich bemerkt, aber es sah aus, als sei sie erschrocken, als habe sie Angst vor mir. Warum läuft sie weg … es steht schlimm um dich, Simosch. Er atmete tief, reckte die Brust und versuchte seiner verworrenen Gedanken Herr zu werden, indem er sich 51
äußerlich Halt gab. Ein wenig steif, aber doch schon auf das Gespräch mit dem Hauptbuchhalter vorbereitet, betrat er Hopfers Zimmer. Der kleine Mann schnellte vom Sessel, drückte seinem Besucher die Hand und bot ihm Platz an. Von der Warmhalteplatte holte er eine Kanne Kaffee und stellte sie samt Zubehör auf ein Tischchen. Er wirkte agil, dabei ernst und irgendwie sorgenbeladen. „Fräulein Vogel hat uns eben noch einen aufgebrüht“, sagte er. „Darf ich?“ Simosch nickte, und Herr Hopfer schenkte ein. „Sie haben eine umsichtige Sekretärin“, sagte Simosch. „Gehabt“, erwiderte Herr Hopfer seufzend und setzte sich dem Leutnant gegenüber. „Ab nächste Woche Halbtagskraft.“ „Das sieht verteufelt nach Personalmangel aus.“ „Anja Bindseil war etwas eigenwillig in letzter Zeit, aber sie war begabt und ehrgeizig. Sie hätte den ersten Platz einnehmen können nach Fräulein Vogels Abgang.“ „Abgang?“ Hopfer nickte. „Es ist nicht zu fassen, was mir in letzter Zeit alles zustößt! Wie soll ich bei derartiger Unterbesetzung für einen geregelten Arbeitsablauf sorgen? Es tut mir unendlich leid um Fräulein Vogel, aber eine Halbtagskraft als Chefsekretärin ist unmöglich.“ „Sicherlich hat sie Gründe.“ Mit einer hastigen Bewegung unterstrich Herr Hopfer diesen Einwand. „Ja, ja! Sie müsse des öfteren zum Arzt, hat sie mir gesagt. Nun, notfalls hätte sie hin und wieder eine Stunde früher gehen können, aber sie bestand auf Halbtagsarbeit. Damit hat sie sich hier selbst …“ Er fand nicht das passende Wort, um den Satz zu beenden, räusperte sich nervös, sagte: „Man kann vor Sorgen keinen klaren Gedanken fassen.“ und begleitete 52
diese Bemerkung mit einer Geste, die Resignation und Ärger ausdrückte. „Demnach war es auch eine Sorge, die Sie bewogen hat, bei uns anzurufen?“ „Sie sagen es.“ Der Hauptbuchhalter nippte an dem heißen Kaffee und warf Simosch einen schnellen prüfenden Blick zu, als müßte er sich vergewissern, daß er diesem Manne trauen konnte. „Ich nehme an, daß Sie mir diesen Kummer aufgeladen haben, deshalb in medias res: Wurde hinter meinem Rücken eine Revision beantragt?“ Simosch war verblüfft und lächelte, um Zeit zu gewinnen. Natürlich prüfte Leutnant Rückert mit Fachkräften Bücher und Unterlagen. War er zu auffällig vorgegangen? Oder war Hopfer so ausgefuchst, daß man ihm keine Revision verheimlichen konnte? „Wie kommen Sie denn darauf?“ fragte er, noch immer lächelnd. Ein ärgerliches Sesselrücken war die Antwort. Herr Hopfer schlug die kurzen Beine übereinander und drehte sich etwas von dem Oberleutnant weg, man sah, er mißbilligte Simoschs Erwiderung. „Man stellt eine konkrete Frage und erhält eine Phrase als Antwort. Mit zwanzigjähriger Berufserfahrung komme ich eben hinter Dinge, die meine Arbeit betreffen, auch wenn man sie mir zu verheimlichen sucht. Vielleicht geht Ihnen das in zehn Jahren ähnlich.“ Die Ironie, die dem letzten Satz innewohnte, wurde gebrochen durch die Art, wie Herr Hopfer ihn aussprach; sie schlug in Aggressivität um. Der Oberleutnant entschied, daß Versteckspiel mit diesem Manne unnütz sei, und sagte: „Eine Mitarbeiterin Ihrer Abteilung ist ermordet worden. Weshalb finden Sie es – bei Ihrer Berufserfahrung – da verwunderlich, daß 53
Ihr Arbeitsbereich, im weitesten Sinne natürlich, überprüft wird?“ Herr Hopfer fuhr im Sessel herum. Das Wort „ermordet“ bringt ihn aus der Fassung, dachte Simosch, doch der kleine Mann sagte: „Weil es meine Abteilung ist, wie Sie richtig bemerkten. Solange ich hier Hauptbuchhalter bin, ist nicht die geringste Unregelmäßigkeit vorgekommen. Darauf bin ich stolz. Denken Sie darüber, wie Sie wollen – ich liebe meine Arbeit, habe mir einen Namen gemacht und möchte ihn nicht fragwürdig werden lassen.“ Simosch fühlte sich an Platon erinnert. Auch er hatte von seiner Baustelle gesprochen, er sorgte sich um die Mitarbeiter, übernahm gewagte Entscheidungen, scheute kein Risiko. Ein Prachtkerl. Und dieser Hauptbuchhalter? Simosch hatte den Eindruck, er lege reichlich Wert auf persönliches Ansehen, doch seine Leistungen standen außer Zweifel, mochte nun Ehrgeiz oder sonst etwas dafür verantwortlich sein. „Wenn Ihre Buchhaltung bisher jeder Prüfung standhielt – warum dann die Aufregung?“ „Weil Mißtrauen mich kränkt.“ „Das war nicht unsere Absicht, Herr Hopfer. Doch in diesem Fall ist die Revision ein Teil der polizeilichen Ermittlungsarbeit.“ „Aber warum erst jetzt, warum nicht von jenem Tag an, als Fräulein Bindseil …“ Hopfer stockte, schloß die Augen, versuchte zu fassen, was da langsam in sein Bewußtsein drang. „Was sagten Sie vorhin? Sagten Sie: ermordet? Man hat das Mädchen ermordet?“ Simosch schwieg, beobachtete, wie dem kleinen dürren Mann der Schweiß ausbrach. „Wer? Wer hat das getan?“ 54
Simosch schwieg weiter. „Mann, nun reden Sie doch! Ein Mord. In meiner Abteilung ein Mord! Die arme kleine Bindseil! Es ist nicht zu fassen. Und das gibt Untersuchungen, auf die auch der letzte Hilfsarbeiter in diesem Hause aufmerksam wird. Das bedeutet Verdächtigungen, Polizei, die ein und aus geht. Fangen Sie doch an, fragen Sie nach meinem Alibi!“ Würde mich schon interessieren, dachte Simosch, aber ich werde danach fragen, wenn ich es für richtig halte, nicht wenn du willst! Er erhob sich. „Heute bin ich nur erschienen, weil Sie mich gerufen haben. Es stimmt, wir werden die Ermittlungen in diesem Hause fortsetzen, und ich komme wieder, sobald mein Arbeitsplan das vorsieht.“ Ein völlig verstörter Herr Hopfer geleitete Simosch zur Tür. „Plan, Plan“, wiederholte er außer sich, „meine Mitarbeiterin wird ermordet, und Sie spazieren nach Hause und machen irgendeinen Plan.“ „Ja“, sagte Simosch, „sorgfältig und detailliert, denn er muß den des Mörders durchkreuzen. Auf Wiedersehen.“ 6 Am gleichen Tag, gegen Abend, ging der Oberleutnant zu Jochen Maar. Er betrat ein altes, mächtiges Haus, stieg drei Stockwerke ausgetretene Treppen hoch und drückte die Klingel. Sie blieb stumm. Er klopfte, die Stille hielt an, er faßte nach der Klinke, und unter seinem Druck gab sie nach. Simosch betrat den Korridor, gewöhnte seine Augen an die Dunkelheit und lauschte. Aus einem Zimmer klang Musik, eine weiche Stimme sang, rhythmisch, klagend. Sie brach ab und wiederholte 55
die Strophe. Schallplatte, dachte Simosch, dazu eine, die ich mag. Nicht mehr aktuell, aber damals, als sie verkauft wurde, stand ich drei viertel Stunden im Kaufhaus an. Es war die erste Beatplatte, die Amiga herausbrachte: „Why.“ Damals liebte ich ein Mädchen, das kühl blieb. Die Platte konnte ich stundenlang hören, so wie der hinter der Tür. Er klopfte erneut, wartete ein Weilchen und trat ein. Das Zimmer war geräumig, fast hallenartig, Küche, Wohn- und Schlafraum zugleich, eine Kerze warf spärliches Licht. Simosch wäre beinahe über den jungen Mann gestolpert, der auf dem Teppich vor einem Plattenspieler hockte. Dunkles Haar kräuselte sich hinter Ohren und Nacken, dunkle Augen blickten an Simosch vorbei … Tony Sheridan sang: Why – why can’t you love me again? „Sind Sie Jochen Maar?“ Der junge Mann nickte. Warum begreifst du nur nicht, wie sehr ich dich liebe? fragte Sheridan, und Jochen Maar sah gequält aus. „Ich bin Oberleutnant Simosch.“ Der Rhythmus wurde schneller, Maars Körper zuckte, jetzt sang er mit: „Baby, won’t you tell me why …“ „Ich bearbeite den Fall Anja Bindseil.“ Die Musik brach ab. „Nehmen Sie Platz“, sagte Maar, „bitte.“ Simosch ließ sich auf einer Couch mit drei Brandlöchern nieder. „Sie sollten nicht rauchen vor dem Einschlafen.“ „Ich bin Boxer“, erwiderte Maar, „ich rauche überhaupt nicht. Normalerweise. Wenn ich’s doch getan habe, hatte ich, verdammt noch mal, Grund dazu, das können Sie mir glauben.“ 56
„Ja“, sagte Simosch. „Das glaube ich.“ Maar zeigte auf eine der verbrannten Stellen. „Die erste Niederlage im Ring.“ Er lachte verbittert. „Wenig später …“ sein Blick haftete auf dem zweiten bräunlichen Fleck, „da verunglückte meine Keule.“ Nach einer Weile fragte Simosch: „Ihr Hobby?“ und wies auf den Plattenspieler. Maar nickte. „Schlager und Kerzenlicht. Da geht nichts drüber … wenn ich nicht gerade im Ring stehe.“ „Die Beatles habe ich auch in meiner Sammlung“, sagte Simosch. „War das Ihr Lieblingslied?“ Maar zog die Beine an den Körper, senkte den Kopf und entgegnete leise: „Es macht mich verrückt, reineweg verrückt.“ „Warum spielen Sie es dann?“ „Weil es mich an Anja erinnert.“ „Sie haben sie geliebt?“ „Das haben Sie doch gehört.“ „Hm. Und auch, daß Sie nicht wiedergeliebt wurden.“ Maar hob den Kopf. „Für sie gab es eben nur Caster“, sagte er hoffnungslos. „Und für Caster?“ Er lachte böse. „Dieser tote Vogel.“ „Immerhin, Caster lebt, und Anja ist …“ „Nein! Sie ist nicht tot. Für mich lebt sie weiter.“ „Unerreichbar wie zu Lebzeiten.“ Für den Bruchteil einer Sekunde blickte der Boxer irritiert, dann sagte er: „Vielleicht hätte ich mich damit abgefunden, aber nicht, daß sie sich an diesen toten Vogel gehängt hat.“ „Warum nennen Sie ihn so?“ „Weil er nicht lebt, sondern nur rafft. Auto, Haus, Garage, Frau mit Geld, Garten, Bungalow, junge Freundin, 57
Sparkonto. Das macht was her! Wer hat mehr zu bieten? Caster hält mit!“ „Neid?“ fragte Simosch. „Haß“, entgegnete Maar aufsässig. Dann schwiegen sie. „Dem nach sind Leute, die etwas besitzen, tote Vögel für Sie?“ fragte Simosch nach einer Weile. „O nein! Ich kenne welche, die bauen ihr Haus selber und lachen und heulen und fluchen dabei. Die leben, und ihr Haus lebt auch. Caster aber blättert Scheine auf den Tisch, ein paar mehr als gefordert, und er besitzt ein Haus. Ein Ding. Ich liebe Leute, die Tomatenpflanzen an Stöcken festbinden und das Gras sensen. Ihr Garten lebt, und sie freuen sich daran. Caster bezahlt einen Gärtner. Caster ist ein toter Vogel.“ „Löschen Sie die Kerze, und schalten Sie das Licht an“, forderte Simosch. „Wir haben miteinander zu reden, aber die Stimmung in diesem Zimmer drückt aufs Gemüt.“ Maar schwang sich auf, schüttelte die steif gewordenen Beine und knipste das Lampenlicht an. Der ausgepustete Kerzendocht verbreitete beißenden Geruch. Wortlos legte Simosch eine angebrochene Schachtel Semper auf den Tisch und beobachtete Maar. Er griff zu. „Ich bin wie John“, sagte er mit verkrampftem Lächeln, „bin ein verlorner Sohn.“ „Nun kommen Sie mal ’raus aus Ihrer Schlagerwelt. Sie sind ein sportlicher junger Mann mit gesundem Menschenverstand. Was Sie da eben über Caster gesagt haben, zeugt davon. Übrigens – seit wann kannten Sie Anja?“ Er überlegte. „Seit einigen Jahren. Sie war vierzehn, als sie ins Heim gebracht wurde. Sie hat mir gleich gefallen.“ „Und Anja?“ 58
Er wies auf die eben gespielte Schallplatte. „Sheridan singt auch: ‚Baby, why are you shy for love?‘ Anja war scheu, aber auf besondere Art. Wie … wie ein Vulkan, der seine Glut zurückhält.“ Simosch fragte sich, ob der Vergleich auch aus einem Schlager stammte, die Worte schienen ihm seltsam gekünstelt, fremd im Mund des Boxers. „Sicherlich hätte mich Anja eines Tages geliebt“, sagte Maar, „das war nur noch eine Frage der Zeit. Aber da kam Caster dazwischen.“ „Was mag sie wohl so fasziniert haben an ihm?“ Schulterzucken, eine hilflose Geste. „Der war eben anders als alles, was sie bis dahin kannte.“ Mit diesen Worten drückte der Junge seine Ahnung aus, daß Caster Anja in eine andere Welt geführt hatte, in seine leere, laute, und daß sie dort außer ihm niemanden gehabt hatte. „Sie waren abgeschrieben?“ fragte der Oberleutnant. „Nein. Zu mir kam sie … wie jemand, der in der Fremde lebt und manchmal Sehnsucht nach zu Hause hat. Aber sie blieb nicht. Ich erinnere mich, daß sie einmal sagte: ‚Bis jetzt habe ich überhaupt nicht mitgelebt. Nur danebengestanden und mich danach gesehnt zu wissen, wie das ist, Musik in einem Festsaal zu hören, im Hotel zu übernachten und bedient zu werden. Oder mit dem Wagen über die Autobahn zu brausen, daß die Landschaft vorüberfliegt wie ein zu schnell gedrehter Film.‘ – Ich bin sicher, sie hat das alles ganz ehrlich erlebt und genossen und Caster die gleichen Gefühle unterschoben. Dabei hat der ihr nur demonstriert, daß er die Welt im Portemonnaie trägt, und der Welt hat er gezeigt, daß sich ein fünfunddreißigjähriger Caster eine neunzehnjährige Anja leisten kann.“ 59
Ein seltsamer Junge, dachte Simosch. Sentimental, wenn er von Anja spricht, aber seine Worte über Caster sitzen wie gutgezielte Schläge im Ring. „Wie sind Sie dahintergekommen, daß er verheiratet ist?“ „Durch Zufall.“ „Und Sie haben es Anja erzählt.“ Maar nickte. „Damals hätte ich ihn umbringen können. Oder sie. Oder mich.“ Gegen vier Uhr stand Jochen Maar am Hinterausgang des Warenhauses. Anja kam pünktlich, wurde mit einem Strom Kauflustiger durch die Tür geschwemmt, hielt ihr vollgepacktes Netz hoch, bis er auf sie zueilte und es ihr abnahm. „Guten Tag, Boxer“, sagte sie, und das Wort hatte bei ihr einen guten Klang. „Hab’ ein Glas Senfgurken für dich erwischt und Ziegenkäse.“ „Komm.“ Er faßte sie am Handgelenk, zog sie hinter sich her über den Vorplatz des Kaufhauses, bis sie den Weg entlang der Blumenrabatten erreicht hatten. „Sieh mal!“ rief sie im Weitergehen und zeigte auf kahle Stellen im Narzissen- und Tulpenbeet. „Was hier fehlt, blüht in den Vorstadtgärten. Vielleicht könnte ich auch nicht widerstehen, wenn ich ein Grundstück hätte … Du bist so ernst, Ärger gehabt?“ Seine Antwort, undeutlich gemurmelt, ging im Lärm der Baustelle unter, der sie sich jetzt näherten. „Mit dir und dem Wetterbericht bin ich heute überhaupt nicht einverstanden“, sagte sie lachend. „Was hast du denn?“ „Ich erzähl’s dir schon noch. Komm erst mal nach Hause.“ Wieder aufgesogen von der Menschenmenge, wurden sie auf den Trampelpfad für Fußgänger geschoben, den man längs der Baustelle abgegrenzt hatte. Um Anja nicht 60
zu verlieren, faßte Maar das Mädchen am Arm, schützte es vor unsanften Ellenbogen, bis sie die Hauptstraße erreicht hatten. Noch zwei Stationen im überfüllten Bus, dann die Treppen hochgekeucht, und Anja ließ sich auf den dreibeinigen Hocker fallen. „Wenn die Baustelle verschwunden ist“, sagte sie, „hält der Bus direkt vor dem Kaufhaus. Fein, nicht? Hast du einen Schluck zu trinken für mich?“ „Astoria“, erwiderte er und ging in die Küchenecke. Sie zog die Schuhe aus, massierte ihre Füße und rief zu ihm hin: „Boxer, weißt du noch, wie wir im vorigen Sommer in den Schuppen geschlichen sind und heimlich Limonadenflaschen ausgetrunken haben. Ich bin bald gestorben vor Angst. Aber der Durst war stärker.“ „Ich weiß es noch!“ rief er zurück und dachte, einmal haben wir uns sogar heimlich geküßt, eigentlich nur die Lippen gestreift, aber tags darauf kam Caster. Er trug die Flasche und zwei Gläser zum Tisch, beobachtete, wie Anja mit geröteten Wangen und blanken Augen den Einkauf auspackte. Er hätte sie gern in die Arme genommen. Sie öffnete das Gurkenglas, schnupperte am Ziegenkäse und fragte plötzlich: „Bist du schon mal geschwebt?“ „Geschwebt?“ „Ja.“ „Vielleicht im vorigen Jahr beim Fensterputzen am Hochhaus. Ein Tritt daneben, und ich schwebte zwischen Himmel und Erde. Meinst du das?“ Sie schüttelte den Kopf, schnitt dabei Brötchen auf und sagte: „Da hast du gehangen. An der Sicherungsleine. Aber wir schweben am Sonntag richtig.“ Wir, das waren sie und Caster. „Von Thale zum Hexentanzplatz hoch. Fein, was?“ 61
„Am Sonntag?“ fragte er zurück. „Ja. Und mir ist jetzt schon im Bauch ganz kribblig. So über die Bäume hinwegzurutschen … Heinz ist großartig, der läßt sich immer wieder was Neues einfallen. Aber ich revanchiere mich. Wenn wir verheiratet sind und er abends nach Hause kommt …“ „Anja!“ Er nahm ihr das Glas aus der Hand, aus dem sie trinken wollte, stellte es auf den Tisch zurück und umfaßte mit beiden Händen ihr Gesicht. „Caster wird nie dein Mann werden. Er ist schon verheiratet.“ Sie sah ihm in die Augen. „Was hast du gesagt?“ „Er ist verheiratet“, wiederholte er leise. Sie schüttelte seine Hände ab und stand da, hilflos, in sanfter Verzweiflung. „So etwas mußt du nicht sagen, Boxer, auch nicht im Spaß“, bat sie. „Aber du mußt es doch wissen.“ Er fühlte sich jämmerlich. Wenn sie bloß geschrien, getobt, losgeheult hätte – alles wäre leichter gewesen. „Es stimmt aber nicht.“ Anja schob ihm ein belegtes Brötchen zu, zog schnell die Hand zurück und wischte über die Augen. „Hör zu, Anja, wir mußten heute Fenster putzen im Chemiewerk. Sein Zimmer hatte ich übernommen. Plötzlich kommt jemand ’rein und will mit ihm sprechen, aber das Telefon klingelt. Er nimmt ab, sagt: ‚Ja, ja‘, legt wieder auf, entschuldigt sich bei seinem Besucher und läuft zur Tür ’raus. Da klingelt das Telefon ein zweites Mal. Sein Kollege geht ’ran, stürzt gleich darauf in den Korridor und ruft Caster nach: ‚Deine Frau ist am Apparat!‘ Caster kommt zurück, und dann geht’s los: ‚Hallo, Schatz … Gut, ich hole euch vom Gartenhaus ab … Hustet Steffi noch? Gib Ralph genug Geld mit, wenn er ins Kino will … Natürlich kannst du den Wagen haben, ich 62
nehme einen vom Betrieb. Steht mir ja schließlich zu … Ja. Tschüs bis heute abend.‘ Dann hat er aufgelegt und ist wieder ’raus, und ich hab’ die Zähne zusammengebissen und ihm die Scheiben schön blankgefummelt.“ „Das muß ein anderer gewesen sein“, sagte Anja abwesend. „Du gutgläubiges Schaf! Entschuldige, aber zweimal Caster als Abteilungsleiter der Forschungsstelle, rede dir nichts ein.“ Er nahm ihre Hände. „Ich mußte dir das erzählen, Anja, wir haben uns doch immer die Wahrheit gesagt.“ Sie erhob sich, blaß, ein wenig schwankend, und entzog ihm ihre Hände. Sie griff nach dem Einkaufsnetz und ging zur Tür. „Es war schon richtig so.“ „Geh nicht weg, Anja. Bleibe hier, bis du dich ein bißchen beruhigt hast.“ „Ich kann nicht.“ „Warum läufst du einem verheirateten Mann nach? Wenn er nicht dazwischengekommen wäre … vielleicht hätten wir uns ganz schnell zusammengefunden, damals …“ Die Tür fiel ins Schloß. Als Maar begriffen hatte, daß sie gegangen war, zündete er sich eine Zigarette an und drückte die Taste des Plattenspielers. Sekunden später klagte Tony Sheridan: Why – why can’t you love me again … Der Boxer warf sich auf die Couch, bäuchlings, das Gesicht in die Kissen gedrückt, die glimmende Zigarette in der Hand … Später, viel später, als das Mädchen zu ihm zurückkam, erfuhr Maar, wie sie an jenem Nachmittag gelitten hatte. Zunächst war die Welt für sie unverändert gewesen. 63
Hastende Menschen, Autos, dazwischen Straßenbahnen im Schneckentempo, lachende Kinder, Musik aus einer Einkaufstasche, Anja atmete auf. Das war böse, dachte sie. Einfach so: Das war böse. Und dann: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Der Boxer ist keiner, der lügt, aber was er da erzählt hat, stimmt nicht. Ich muß zu Heinz. Dann stand sie da wie ein Kind, das nach Hause will und vergessen hat, wo es wohnt. Wohin geh’ ich denn, fragte sie sich, wenn ich zu ihm will? Ins Werk? Er hat mir nicht einmal seine Apparatnummer gegeben, weil er aus Prinzip keine Privatgespräche während der Dienstzeit führt. Aus Prinzip. Und was hat der Boxer heute gehört? Oder laufe ich zu seiner Wirtin, der hilflosen alten Dame, wie er sie mir beschrieben hat? Wo wohnt sie denn? „Irgendwo in einem schäbigen Winkel der Stadt, und das Zimmer zur Untermiete ist klein, ziemlich mies. Aber ich halte ihr Grundstück in Ordnung und darf dafür das Gartenhaus mitbenutzen.“ Das war seine Erklärung gewesen. Nun stand sie da und grübelte, in wessen Gartenhaus sie und Caster wohl ihre Liebesstunden verbracht hatten. Und der erste Zweifel an der Lauterkeit eines geliebten Menschen ist wie der Biß einer Schlange, von dem man noch nicht weiß, ob er giftig war. Man fühlt sich hilflos, sehnt Gewißheit herbei und hat doch Angst davor. So erging es Anja, als sie am Straßenrand stand, nicht spürte, daß man sie anrempelte und sich über sie lustig machte. Der Gedanke, es gäbe überhaupt keine Wirtin, wurde immer mächtiger. Susi hat recht, dachte sie, die sagt immer, ich sei in Liebesdingen eine dumme Gans. Und der nächste Gedanke: Heinz lügt nicht, es ist irgendein Mißverständnis geschehen. Ich gehe zur Post, rufe das Chemiewerk an 64
und verlange die Forschungsabteilung. Da werde ich ihn schon an den Apparat bekommen. Und dann stelle ich alles klar … Stelle ich klar! So einen Blödsinn schreibt Hopfer in Geschäftsbriefen, aber ich werde irgend etwas stottern oder heulen oder überhaupt kein Wort rauskriegen. Und ich will ja auch gar nichts wissen, weil ich es doch nicht ertragen kann, wenn es stimmt! Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Is er nich gekomm?“ fragte einer, der nach Alkohol roch. „Nehm Se mich. Nu renn Se doch nich weg …!“ Anja lief zur Bushaltestelle. So bin ich damals gerannt, dachte sie, zu meinem ersten Rendezvous mit ihm. Viel Zeit war nicht. Um zweiundzwanzig Uhr kontrollierten die Erzieherinnen die Schlafräume, und der Hausmeister verriegelte die Tür. Heinz wartete mit dem Wolga vor dem Bäckerladen um die Ecke und fing mich mit ausgebreiteten Armen auf. „Komm, wir fahren ins ‚Continental‘.“ „Ins …“ Mir verschlug’s die Sprache. Er hatte vom vornehmsten Hotel der Stadt gesprochen. „Steig ein, Kleines. Die haben dort eine ausgezeichnete Küche.“ Ich setzte mich neben ihn und fürchtete, daß ich keinen Bissen ’runterkriegen würde. Im „Continental“! Und ich hatte nicht einmal meinen Sonntagsstaat an! Heinz mußte meine Gedanken erraten haben. Er legte mir die Hand aufs Knie. Nicht anzüglich, wie es die Bengels aus dem Heim manchmal versuchten, sondern so, daß es einfach wohltat. „Keine Angst“, sagte er, „mit dir kann ich mich überall sehen lassen.“ Das muß man sich vorstellen! Zu mir sagte er das, die ich doch immer mit einem Buch in der Ecke hockenblieb, 65
wenn die anderen ausgingen. Ich kriegte das nämlich nie so hin mit, dem Augenbrauenzupfen und dem Wimperntuschen, und er nahm mich einfach so mit, wie ich war. Es klang angenehm, wenn die Reifen über den Asphalt surrten. Kannte ich auch noch nicht bis dahin. „Hast du manchmal Angst, wenn du fährst?“ fragte ich. Er lachte. Er sieht stark und selbstsicher aus, wenn er lacht. Damals fiel mir das schon auf, und ich dachte, es müßte schön sein, immer neben ihm zu sitzen. Alle dreißig Heiminsassen hätte ich tauschen mögen gegen ihn. Sogar den Boxer, den ich ganz gern mochte. Aber der war ähnlich wie ich, auch er kam nicht richtig zurecht mit dem Leben. Wir schlängelten uns auf dem Parkplatz zwischen zwei mickrige Trabanten. Heinz nahm meinen Arm, und wir gingen auf eine hell erleuchtete Halle zu. Ich kam mir vor wie bei einem Staatsempfang oder so. Aber dann zuckte ich zusammen und trat Heinz versehentlich auf den Fuß, denn vor uns öffneten sich die Doppeltüren, ohne daß jemand sie berührt hatte. Das muß man erlebt haben! Wir setzten uns in eine Nische, und plötzlich kicherte es in mir, ich war in einer ganz albernen Stimmung. Heute meine ich, es war die Aufregung. Heinz nannte seltsame Namen von Speisen, und ich sollte etwas auswählen. Da ich nichts, aber auch gar nichts davon verstand, lächelte ich manchmal wohlwollend, zog dann und wann ein ablehnendes Gesicht, als sei es eine Zumutung, mir so etwas anzubieten, und ein- oder zweimal warf ich wohl auch ein: „Das wäre schon etwas.“ Aber ich glaube, Heinz durchschaute mich und amüsierte sich köstlich. Nach dem Essen entwarfen wir einen Schlachtplan für den ganzen Monat. Wann wir uns wiedersehen würden 66
und was wir zusammen unternehmen wollten. Eine Wochenendfahrt, Oper, Sternwarte, Tanz, Ausstellung – alles war darin, und Heinz meinte, was wir in diesem Monat nicht schafften, bliebe für den nächsten. Da wußte ich, daß es ihm ernst war mit uns. Unversehens wurde ich traurig. Das geht mir in bestimmten Situationen so, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gibt. Aber ich dachte daran, daß ich bisher wie hinter einer gläsernen Wand gestanden und dem Leben zugesehen, aber nicht an ihm teilgenommen hatte. Wenn Heinz nicht gekommen wäre … Hier wurden Anjas Erinnerungen unterbrochen, der Bus kam angebraust, vier Fahrgäste stiegen aus, zehn zwängten hinein. Ein dicker Kerl verschlang Anja mit den Augen, drückte sich bei jeder Kurve an sie. Angeekelt wandte sie den Kopf zur Seite und schaute in das lachende Gesicht eines nach Knoblauch riechenden Opas. Wenn ich zaubern könnte, dachte Anja, wäre der Bus ein Tafelwagen und die Menschen darauf Blumen. Das sieht hübsch aus, ich habe es mit Heinz auf einem Dorf zur Kirmes gesehen. Wir wären zwei Mohnblumen, und ein Kind würde uns zusammenflechten. Sie schob das Einkaufsnetz zwischen sich und den dicken Kerl, der sie belästigte. Von wegen Zaubern, dachte sie, ich kann mich nicht mal richtig durchsetzen ohne Heinz. Der würde diesen Menschen mit einer Geste, einem Blick zur Räson bringen und dann fragen, was er noch für mich tun könne. Als ich achtzehn war und er mich aus dem Heim abholte, hat er gefragt, was ich mir am meisten wünsche. „Heiraten“, habe ich gesagt, und er war richtig erschrocken. Warum fällt mir das eigentlich erst jetzt auf? „Du 67
gehst ja aufs Ganze“, hat er geantwortet. Dann bin ich dahintergekommen, daß es ein Mißverständnis war. Er dachte, ich wollte ihn an mich binden, weil er Geld hat. Warum hat er mich eigentlich so eingeschätzt? Ich habe ihm erklärt, daß ich nicht wieder mit fremden Menschen zusammen wohnen, sondern ein eigenes Zuhause haben möchte. Und Kinder, die es gut und warm haben. „Trautes Heim, Glück allein“, hat er gesagt und gelacht und mich in die Arme genommen. Da war alles gut. Genauso wird es heute abend werden. Wir müssen uns nur aussprechen. Die nächste Station ist das Postamt. Aber wir sind erst für morgen verabredet. Warum? Wegen seiner … Frau. Unmöglich. Wir sind oft am Wochenende weggefahren. Wo ist sie denn da geblieben, seine Frau? Ich steige nicht aus. Ich spioniere ihm nicht nach, nur weil ein Eifersüchtiger Gerüchte verbreitet. Herrgott, dieser ekelhafte Knoblauchgeruch! Das hält kein Mensch aus. Wenn ich doch eine Hand frei hätte, um den Dicken zu ohrfeigen! Der Bus hält! ’raus hier! „Einen Moment, bitte“, sagte sie, zerrte ihr Netz hinter sich her und riß dem Mann, der sie belästigt hatte, einen Knopf vom Jackett. Er rief ihr nach, das sei Sachbeschädigung, wollte Namen und Adresse von ihr. Einige Fahrgäste lachten, andere schimpften, er möge Ruhe geben und weiter durchtreten. Anja stellte sich taub und stieg aus. Den Weg zum Postamt beschritt eine zornige Anja. Zornig, weil sie ihr Leben an Casters Seite bedroht fühlte. Niemand sollte ihr diesen Mann nehmen, keiner durfte sie beleidigen, begrapschen wie eben der Fettwanst im Bus. Auch der kleine Herr Hopfer durfte sich ihr nicht in den Weg stellen, wenn sie vorwärtskommen wollte. 68
Heinz Caster wußte, wie man das Leben packte, und ohne ihn würde sie wieder hinter die Glaswand geraten. An seiner Seite aber konnte sie alles erreichen. Alles. An seiner Seite. Und wenn da schon eine andere stand? Sie ließ sich nicht verdrängen; die bange Frage, ob der Schlangenbiß giftig gewesen war oder nicht. Und durch die Drehtür des Postamtes wand sich eine verzagte Anja. Schließlich hielt ein hilfloses kleines Mädchen den Hörer in der Hand und bat herzklopfend die Sekretärin der Forschungsabteilung, Herrn Heinz Caster sprechen zu dürfen. In der Leitung knackte es. „Ja, bitte.“ Eine Stimme, die Anordnungen zu geben wußte. „Ich bin es. Anja.“ „Aber … Ist etwas vorgefallen?“ Sie schloß die Augen und sah ihn die Stirn runzeln. In Ärger und Sorge. „Ich muß dich sprechen.“ Tiefes Atmen, als gälte es, etwas Unangenehmes wegzupusten. „Gut, ich schreibe den Bericht nach Feierabend. Schieß los.“ „Nicht am Telefon“, sagte sie verwirrt. „Komm zu mir. Bitte!“ „Anja, ich muß diese Arbeit zu Ende bringen …“ Was er noch sagte, ging unter in dem Rauschen des Blutes, das ihr zu Kopf stieg. Zu Ende bringen, wiederholte sie in Gedanken, nur rasch zu Ende bringen. Und sie hörte sich sagen: „Du willst deine Frau vom Gartenhaus abholen. Deine Frau!“ Dann war Stille. Auch das Rauschen war vorüber. Sie fühlte sich leer, ausgepumpt. „Woher weißt du, daß ich verheiratet bin?“ fragte er so sachlich, daß sie plötzlich in seinem Arbeitszimmer zu 69
stehen glaubte, das sie nie gesehen hatte. Eine Angestellte, die das Ansehen der Firma in Mißkredit gebracht und Tadel verdient hatte. „Hör zu“, sagte die Stimme des Chefs, „ich fahre jetzt meine Familie nach Hause, und um neunzehn Uhr hole ich dich ab.“ Ein Knacken im Hörer … „Nun wußte sie“, sagte Jochen Maar zum Oberleutnant, „daß der Schlangenbiß giftig gewesen war. Sie kam zu mir zurück, erzählte mir alles und weinte sich aus. Aber sie war so ergeben in ihrer Verzweiflung, daß ich schon damals wußte, sie würde sich lieber umbringen lassen als diesen Mann aufgeben.“ „Und Sie“, sagte Simosch, den Burschen nicht aus den Augen lassend, „Sie wollten Anja lieber umbringen als sie diesem Mann ausgeliefert wissen.“ „Dieser tote Vogel“, sagte Jochen Maar wieder verächtlich. „Warum wühlen Sie das alles auf?“ „Ich durchforsche Anjas Leben, bis ich auf denjenigen stoße, der sie so gehaßt oder so geliebt hat, daß er sie tötete.“ „Nein“, sagte Maar, „nein!“ Er stand auf, stützte sich mit beiden Händen gegen die Sessellehne. „Ich werd’ irre, das gibt’s doch nicht, Sie sitzen hier … und wissen …“ „… daß es kein Unfall war“, ergänzte Simosch, „sondern Mord. Brutal. Raffiniert.“ Er sprang auf und hielt den Boxer an beiden Schultern fest. „He, nicht schlappmachen!“ Maar schüttelte ihn ab, stand betont aufrecht. „O nein! So schnell nicht. Ich bin hart im Nehmen.“ „Aber nur im Ring.“ Maar fuhr herum, grau im Gesicht. 70
„Spielen Sie nicht den Beleidigten! Sagen Sie mir lieber, wo Sie an dem Abend gewesen sind, als das Mädchen umgebracht wurde.“ Simosch nannte das Datum. „Zum Kampf war ich. Sie können es in jeder Zeitung lesen, der neue Bezirksmeister im Federgewicht heißt seit diesem Tag Jochen Maar.“ „Und anschließend?“ „Na, raten Sie mal?“ schrie er unbeherrscht. „Anschließend habe ich schnell jemanden ermordet. Und jetzt ’raus hier!“ Die letzten Worte brüllte er. „Tun Sie nicht so stark“, sagte Simosch. „Hingesetzt! Sie sind am Zusammenbrechen. Also, wo waren Sie anschließend?“ „Wir haben gefeiert“, sagte Jochen Maar abwesend. „Das läßt sich nachprüfen.“ Der Oberleutnant ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. 7 In der nächsten Arbeitsbesprechung erfuhr Simosch, daß Leutnant Rückert und die Revisoren kleine Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung des Warenhauses entdeckt hatten. Kaum ins Gewicht fallend allerdings, gemessen an dem riesigen Umsatz. Da waren Rechnungen für Lacklederschuhe und Handtaschen doppelt ausgeschrieben worden, zumindest sah es auf den ersten Blick so aus. Möglich war natürlich auch, daß man die gleichen Posten in der gleichen Menge nachbestellt hatte. Das Interesse der Kunden für diese Artikel sprach für diese Annahme. 71
Von einem Zusammenhang zwischen den eventuellen Fehlbuchungen und Anja Bindseils Tod konnte in diesem Stadium der Untersuchung noch nicht die Rede sein. „Sollte das Mädchen etwas unterschlagen haben“, sagte Rückert, „oder irgendwie in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, könnten wir das durch eine Tiefenprüfung und mit Hilfe ihres Chefs am schnellsten feststellen.“ „Was meinen Sie, Genosse Oberleutnant?“ fragte Hauptmann Randolf. „Sie kennen den Hauptbuchhalter am besten. Sollte man ihn ins Vertrauen ziehen?“ So etwas weiß man mit Sicherheit erst hinterher, dachte Simosch – wenn es sich ausgezahlt hat oder schiefgegangen ist … Er rieb sich die Handgelenke, sah den kleinen dürren Mann im Geiste vor sich, ehrgeizige Majestät im Reiche der Zahlen, der zwanzig Jahre fehlerfrei regiert hatte, dem man ohnehin keine Revision verheimlichen konnte, der schlau war wie ein Fuchs und mimosenhaft empfindsam. Aber – und das war für Simosch ausschlaggebend – er liebte seine Arbeit. „Sie werden schneller vorankommen“, sagte er zu Leutnant Rückert, „wenn Sie sich von dem Hauptbuchhalter beraten lassen. Er ist daran interessiert, die Buchhaltung sauber und in Ordnung zu wissen, verfügt über enorme Fachkenntnisse, und persönliche Bindungen zu der ermordeten Sekretärin wurden bisher nicht festgestellt.“ Er berichtete noch über sein Gespräch mit Hopfer und über den Besuch bei Jochen Maar, schlug vor, dessen Alibi zu überprüfen, die Familie Caster zu vernehmen, mit Susi Brehm zu reden und auch das Heim aufzusuchen, in dem Anja Bindseil vier Jahre lang gelebt hatte. Es kam darauf an, soviel wie möglich über die Tote zu erfahren. Auch mit der Chefsekretärin sollte man sich 72
noch einmal unterhalten. Und das alles unter dem Aspekt, daß das Mädchen vorsätzlich getötet worden war. Irgendwo mußten Hinweise für diesen Mord auftauchen, sich wiederholen, verdichten, ein Motiv bloßlegen. Simosch wollte herausfinden, was an jenem Abend, nachdem Anja von Casters Ehe erfahren hatte, zwischen dem Mädchen und seinem Freund geschehen war. Doch bevor er den Chemiker danach fragte, ging er zu Susi Brehm. Es war um die Mittagszeit, als er ein gepflegtes Treppenhaus betrat, linoleumbelegte blanke Stufen hochstieg und ihm immer wieder Anja Bindseil entgegenkam. Sanftmütig einmal, in Gedanken an Caster versunken, dann besorgt, wegen einer Aussprache mit Hopfer. Frauenqualifizierung bei Personalmangel! Bedrückt auch, weil sie wußte, vor dem Haus wartete ein verheirateter Caster. Schließlich der letzte Abend. Auch da mußte sie diese Treppe herabgestiegen sein, nicht ahnend, daß es das letzte Mal war. Kam sie voller Angst? Stockend? Sich am Geländer festhaltend, vielleicht dort, wo seine Hand jetzt lag? Wohin war sie gegangen? Der Oberleutnant stand vor ihrer Wohnung. Das Namensschild war noch am Türrahmen befestigt, auch eines von Susi Brehm. Die Krankenschwester war zu Hause. Er hörte sie durch die Zimmer laufen und dabei singen, die Liebe sei ein seltsames Spiel. Es klang zwar nicht notenrein, aber so, als sei sie vom Text überzeugt. Die Klingel funktionierte, und die Tür wurde geöffnet. Simosch stockte nach dem ersten Schritt. Er kannte Susi im Frühjahrsmantel, im Straßenkleid und in Schwesterntracht. Jetzt trug sie nichts, er glaubte es jedenfalls auf den ersten Blick, korrigierte sich jedoch beim zweiten, denn die hellblauen Dederonfäden um ihren Körper 73
waren eine Idee mehr als nichts. Eine phantastische Idee, wie er meinte. „Huch!“ rief Susi erschrocken, griff nach einem Wolltuch und bedeckte – ihren Kopf. „Die Lockenwickel!“ „Ich hab’ die Dinger völlig übersehen“, gestand Simosch ehrlich. „Darf ich trotzdem reinkommen?“ „Bitte, bitte!“ Sie wirbelte in einen kleinen, schlicht eingerichteten Raum. „Ich mach’ mich schnell zurecht. Bin erst vor einer Stunde aus den Federn. Der Nachtdienst …“ Und schon war Simosch allein inmitten einer pikanten Unordnung: Kaffeegeschirr mit Frühstücksbroten auf dem Tisch, dazwischen ein aufgeschlagenes Buch. Schlüpfer neben einer Häkelarbeit auf der Couch, von der Stuhllehne baumelte ein Büstenhalter. Aus dem Sessel hob Simosch vorsichtig einen Dederonstrumpf. Von dem zweiten war nichts zu sehen. Er nahm Platz, bewunderte zweifarbig blühende Azaleen auf dem Fensterbrett, freute sich über einen van Gogh, mit Zypressen natürlich, und wartete. Susi kam nach wenigen Minuten zurück, mit Löckchen über der Stirn, in einem zerschlissenen Morgenrock, dessen schräggeschnittenen Kragen sie nach innen geschlagen hatte, um zu erreichen, daß ihr Brustansatz unbedeckt blieb. „Es ist Anjas Mantel“, sagte sie, „wir haben ihn immer abwechselnd getragen. Zum Geburtstag wollte ihr Caster einen neuen schenken.“ Sie stellte das Geschirr zusammen. „Wir haben auch ein Tablett, aber wo …?“ Dann fiel ihr Blick auf den Büstenhalter. „Es ist zum Verzweifeln. Seit Anja fort ist, tanzt mir die ganze Wirtschaft auf der Nase herum.“ „Ihre Freundin war häuslich?“ fragte Simosch. 74
Sie suchte die Unterwäsche zusammen und stopfte sie unter ein Sofakissen. „Häuslich, sagen Sie? Die geborene Hausfrau! Ihr ging jede Arbeit flott von der Hand.“ Sie rückte den Stuhl näher an Simoschs Sessel, bis sie so ziemlich auf Tuchfühlung mit ihm saß. „Bei ihr sah immer alles ordentlich aus, und wenn ich spät vom Dienst kam, stand mein Abendbrot auf dem Tisch. Und wie! Gurkenscheibchen zwischen den Broten, Tomate mit Fleischsalat gefüllt, Petersilie als Garnierung. Ich konnte nie verstehen, weshalb sie so einen Aufriß machte wegen des bißchen Magenfüllens, aber sie sagte, sie hätte Freude daran. Hauptsache, es sei für die Familie und nicht für dreißig Fremde wie im Heim. Ich glaube, sie hat schon für später trainiert, für ihren Mann, für Caster …“ Sie seufzte, sprach aber gleich weiter: „Die Anja hat eben einen Familientick gehabt.“ „Wir können wohl nur begrenzt nachempfinden, was in Ihrer Freundin vorging“, sagte Simosch. „Jahrelang kein richtiges Zuhause! Erinnern Sie sich übrigens an den Abend, als sie erfuhr, daß Caster verheiratet war?“ Susi nickte. „Wir haben uns an diesem Tag nur kurz gesehen. Ich kam gegen neunzehn Uhr und merkte sofort, daß irgend etwas nicht stimmte mit ihr. Es stand kein Abendbrot auf dem Tisch, zum erstenmal, seit wir zusammen wohnen. Anja saß hier auf der Couch, die Hände im Schoß, und hatte verweinte Augen …“ „Nanu?“ sagte Susi Brehm verwundert, und mit dem besorgten Blick einer Krankenschwester fühlte sie Anjas Puls. „Ich bin nicht krank.“ „Aber du siehst aus wie die Kleine, der wir vor zwei Stunden den Blinddarm rausgenommen haben. Kurz vor dem Durchbruch.“ 75
Anja erwiderte nichts. „Bißchen schleppend, der Puls. Du kommst mir erschöpft vor, wie nach einer großen Aufregung.“ „Die habe ich noch vor mir.“ „Soll ich dir einen Kaffee brühen?“ „Nein, ich muß gleich weg.“ Susi ließ sich in den Sessel fallen. „Sag mal, hast du etwa Ärger mit Caster?“ „Er ist verheiraten!“ „Der ist …! Woher weißt du das?“ Anja schwieg, lächelte ergeben, traurig. „Bist du ganz sicher?“ „Dann laß die Finger von ihm.“ „Das kann ich nicht, nach alldem.“ „Irgendwo hab’ ich mal gelesen, daß einer der Vergangenheit den Rücken kehrte wie einem Feld voller Disteln. Dieser Caster muß so ein Distelfeld für dich werden. Guck dich nicht mehr nach ihm um.“ „Er wartet unten im Wagen auf mich. Wir wollen uns aussprechen.“ Sie erhob sich. „Ihr?“ fragte Susi. „Du willst das. Caster liegt bestimmt nichts daran … mach ihm nur keine Szene“, rief sie Anja nach, „das mögen Männer nicht!“ Leise, nur für sich selbst, fügte sie hinzu: „Ich weiß auch nicht, warum sie so wenig Sinn für Dramatik haben.“ Sie ging Anja in den Korridor nach, stellte sich vor die Tür und wies zum Spiegel. „Erst mach dich zurecht! Weißt du nicht, daß wir Frauen mit den Ohren lieben, die Männer aber mit den Augen?“ Anja schminkte sich flüchtig. Der verzweifelte Zug um die Mundwinkel ließ sich nicht wegwischen und die Angst in den Augen nicht übertuschen. Als sie an Susi vorbei zur Tür hinausging, fragte sie leise: „Und wer liebt mit dem Herzen?“ 76
Die Treppe war noch nie so lang und so steil gewesen wie an jenem Abend. Unten würde Caster stehen. Er würde sie nicht auffangen, nur dastehen mit Chefgesicht, wortlos die Ungeschicklichkeit seiner Angestellten tadelnd. Privatangestellte, wiederholte Anja in Gedanken, mehr bin ich nicht für ihn, wenn er verheiratet ist. Ich mache mich selbst dazu, wenn ich diese Treppe zu ihm hinabsteige. Also, ich gehe keinen Schritt weiter. Und schon hatte sie den letzten Treppenabsatz erreicht. Warum nur, dachte sie verzweifelt, an der Grenze der Selbstverachtung, warum tue ich das? Warum kehre ich nicht um, strafe ihn mit Verachtung, lasse wenigstens Zeit ins Land gehen? Ist das dieses Ins-Unglück-Rennen, von dem so oft geredet wurde? Jetzt blieb sie doch noch einmal stehen. Sie hörte Susi Brehm sagen: Laß die Finger davon! Er ist ein Feld voller Disteln, guck dich nicht um nach ihm. Er will diese Aussprache gar nicht. Und Fräulein Vogel sagte: Wie verstimmt wäre dieser Mann jetzt, würden Sie ihn zwingen, seine Fehler zuzugehen. „Heinz ist doch nicht Hopfer“, sagte Anja in die Stille des Treppenhauses hinein. Dann rannte sie los, nahm zwei Stufen auf einmal, riß die Haustür auf. Caster stand neben dem Wagen, breitete die Arme aus. Es ist wie damals, dachte Anja, als wir zum erstenmal ins „Continental“ fuhren. Sie stiegen ein. Er zündete sich eine Zigarette an, warf dabei ein Lächeln zu Anja, das schief ausfiel, wegen des Glimmstengels im Mundwinkel. Sie fand das jedesmal komisch, denn es gab ihm den Anschein des Verwegenen, was nicht zu seinem Phlegma paßte. Als 77
er den Gang einlegte, strafften sich seine Gesichtszüge, der Blick wurde fester, er konzentrierte sich auf den Wagen. Anja wurde beim Anfahren weich in die Polster gedrückt. Ich darf ihn nicht verurteilen, ohne ihn angehört zu haben, dachte sie. Sie beobachtete Caster beim Chauffieren, wußte, daß jetzt nur Lenkrad, Gaspedal, Kupplung, Straße für ihn existierten. Ihre Anwesenheit war unwichtig. Wenn ich nicht neben ihm säße, wenn es mich überhaupt nicht mehr gäbe in seinem Leben, dachte sie, er hätte doch stets etwas, das ihm Halt gäbe und auf das er sich konzentrieren könnte. Autofahren zum Beispiel, die Arbeit als Abteilungsleiter, die Kinder, seine Frau. Und ich? Ich habe es nicht verstanden, irgend etwas in meinem Leben so wichtig werden zu lassen wie ihn. Deshalb bin ich hilflos, wenn er geht. Deshalb bin ich von vornherein unterlegen in der Aussprache, die ich gewollt habe und die er nur duldet. Sie ließen die Stadt hinter sich und bogen in das Gartenviertel ein. Caster parkte den Wagen in einer Seitenstraße, sie stiegen aus und liefen schweigend nebeneinanderher. Von einem Kirschbaum flog eine Amsel auf, sonst war es still. Es ist gut, sagte sich Anja, daß er mich hierhergefahren hat. Die vertraute Umgebung gab ihr Sicherheit, und die Ruhe der Natur begann auf sie auszustrahlen. Er schloß die Gartentür auf. Ihr Blick streifte über die Koniferen. Von einem Kenner angeordnet, dachte sie. Durch die Zwergform wirkt die Koloradotanne noch schlanker, und die Pendula mit ihren hängenden Zweigen sieht nicht nur im Mondlicht rührend aus. Heinz hat Sinn für Schönheit, hat Geschmack. Und plötzlich: Oder seine Frau. Oder der Gärtner. 78
Caster faßte ihre Hand. „Geh nicht so … fremd neben mir her.“ Es klang bittend. Er drückte sie an sich, und sie spürte, daß sie ihm wieder näherrückte. „Verzeih mir, Anja.“ Ihr fiel auf, daß er diese Worte zum erstenmal aussprach, seit sie sich kannten. Und einem Mann wie ihm kam so etwas schwer über die Lippen, das wußte sie. Sie nickte, schluckte, dachte: Stockdunkel müßte es sein, damit er meine Traurigkeit nicht sieht, damit diese blöde Mondscheinstimmung weg ist und ich den Kopf oben behalte. Es ist gut, daß er mich jetzt losläßt, zur Haustür geht, gut auch, daß die Tür noch quietscht. Das hat mich schon immer geärgert. „Komm ’rein, Anja.“ Ja, ich komme. Ich bleibe nicht wie eine Fremde draußen stehen. Es ist mein Haus genausogut wie deines oder das deiner … Nein, hier bin ich deine Frau. Hier bin ich es geworden. Drüben auf der Couch. Zum erstenmal überhaupt. Was einem alles durch den Kopf geht, bevor man sich voneinander trennt! Nein, es wird kein Abschied werden. Er hängt jetzt meinen Mantel an den Haken, wie immer, und ich setze mich in das Gartenei. Er stellt Getränke auf den Tisch und Salzstangen. Mit wenig Schwung heute. Er ist bedrückt. Er hat sicherlich schon lange mit mir über alles sprechen wollen, fand keinen Mut dazu und hat sich schließlich vorgenommen, es nach der Scheidung zu tun. „Anja, ich … hatte einfach keinen Mut, mit dir darüber zu reden.“ Er füllte Traubensaft in die Gläser, stellte Bitterlemon dazu und setzte sich neben ihr in einen Sessel. „Ich dachte, später, wenn …“ Er beendete den Satz nicht. 79
„… wenn du frei bist. Wolltest du das sagen? Wird das bald sein?“ „Frei“, wiederholte er, „man ist so frei, wie man sich fühlt.“ Sie lachte. „Da hast du wohl recht. Und manchmal fühlt man sich sogar gut, wenn man unfrei ist. So wie ich. Ich lebe erst, seit ich mich an dich gebunden habe.“ Er zündete eine Zigarette an. Sie konnte sich nicht erinnern, daß dabei seine Hand jemals gezittert hatte. „Du quälst dich. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.“ „Mit der Ehe, das ist so“, sagte er, „wer drinnen ist, will ’raus, und wer draußen ist, will ’rein. Eine verrückte Welt.“ Warum sagt er so banales Zeug, dachte Anja irritiert. Aus Verlegenheit? „Unsere Ehe ist reine Formsache.“ „Das macht die Trennung leichter, denke ich.“ „Vielleicht ist jede Ehe nur Formsache.“ „Vielleicht. Aber diese Dinge muß man doch in Ordnung bringen. Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich mit einem verheirateten Mann gehe.“ Mit einem gehen, wiederholte sie in Gedanken, das klingt, als sei man ein Hund, der an der Leine geführt wird. „Sei nicht kleinlich, Anja. Wir sind schließlich erwachsene Menschen, haben unsere eigenen Lebensbereiche, aber auch Stunden, die nur uns gehören.“ „Das könnte Herr Hopfer in einem seiner Geschäftsbriefe diktiert haben!“ Das war Auflehnung, und an den folgenden Worten, die Caster als kindlich-naiv abtat, scheiterten seine Zukunftspläne mit Anja. „Wir lieben uns“, sagte sie, „wie können wir da getrennte Lebensbereiche haben! Ein schreckliches Wort! Ich will, daß wir 80
heiraten, daß ich Kinder kriege und daß du nicht mit einer anderen Frau ins Bett gehst.“ „Du bringst unsere Probleme auf einen zu einfachen Nenner.“ „So einfach ist das aber!“ rief sie, die Stimme tränenerstickt, denn jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, war sie überzeugt: Er schlief mit einer anderen Frau. Zärtlichkeit, Seufzer, Leidenschaft – nichts, was er nur mit ihr teilte. Er tat es auch mit der anderen. Warum schmerzt das so, dachte Anja, warum kann man es nicht ertragen? Und die andere? Quälte die sich auch? „Weiß sie von mir?“ Er zuckte die Schultern. „Wir führen eine moderne Ehe. Da bist du unwichtig für sie.“ Das hätte er nicht sagen sollen, er hätte beschwichtigende Worte finden müssen. Er sah, daß Anja nicht fertig wurde mit ihrer Eifersucht, zu der sich nun der Neid gesellte auf die Frau, die nicht litt wie sie. Gedemütigt fühlte sie sich, weil man sie als unwichtig abtat, übersah, beiseite schob. Man kann nicht zweimal dasselbe erleben, dachte sie verwirrt, es gehört doch der Vergangenheit an, daß ich dasitzen und begreifen mußte, wie unwichtig ich bin. Das ist längst vorbei, war damals, als ich eines Morgens in der Küche hockte und auf Mutter wartete. Sie hätte abends mit dem Flugzeug eintreffen müssen, aber das war vielleicht abgestürzt, und sie lag, in dicke Verbände gewickelt, im Krankenhaus und rief nach mir. Einmal, nur ganz kurz, war sie tot. Der Gedanke war überhaupt nicht zu ertragen, und ich stellte mir lieber vor, sie hätte das Flugzeug verpaßt. Und auch das nächste, weil Mutter am Morgen noch immer nicht eingetroffen war. Ich ging nicht zur Schule, saß nur in der Küche und wartete. 81
Gegen Mittag kamen zwei Männer in unsere Wohnung. Ich hörte vor Aufregung kaum, was sie sagten, und sie mußten das Wort wiederholen: Republikflucht. Für mich ergab das keinen Sinn. Wovor war Mutter denn geflüchtet? Warum? Was sie mitgenommen habe, wollten die Männer wissen. Was sie immer mitnimmt, wenn sie auf Dienstreise geht. Und sie kommt wieder. Ich bin doch noch hier. Das ist wohl nicht wichtig für sie, sagten die Männer. Da kam ich mir vor wie einer der verrußten Töpfe auf dem Herd. Tage später steckten sie mich ins Heim. Das Gefühl, nicht wichtig zu sein, hat mich krank gemacht und hinter die Glaswand getrieben. Bis ich Heinz traf. Und wenn ich nicht so verdammt unwichtig wäre, würde er mich heute nicht im Stich lassen, und seine Frau würde sich von ihm trennen, weil ich da bin. Was mache ich bloß falsch? Wie kann man wichtig werden? Caster rüttelte sie an der Schulter. „Sei nicht so niedergedrückt. Mir bedeutest du viel, Anja. Sehr viel. Mein Leben besteht aus Arbeit, Verantwortung, Ärger mit Angestellten, aus täglichem Kleinkram, der Ehe heißt. Aber dann bist du da. Ich kann für ein paar Stunden das Leben mit deinen Augen sehen. Da wird es problemlos, freundlich. Ich brauche dich.“ Ich weiß: Wir lieben uns, sind vertraut miteinander. Aber du mußt dich scheiden lassen. Du mußt es tun, sonst … Anja wollte ihre Gedanken in Worte fassen, doch da stand Fräulein Vogel plötzlich vor ihr und legte den Finger an die Lippen: Keine Alternativen stellen! Kompromisse, Fräulein Bindseil, das Leben besteht aus Kompromissen! „Ich will dich auch in keiner Weise hintenansetzen“, sagte Caster, „oder war ich jemals geizig? Ich kann dir 82
sowieso nicht widerstehen, wenn du mich um etwas bittest. Das alles hier“, er beschrieb mit einer Geste Haus, Grundstück, Wagen, „das ist auch für dich da. Wir müssen uns nur richtig arrangieren.“ Und wenn du mit deiner Frau im Garten bist, Auto fährst, im Bett liegst, dann sitze ich zu Hause und denke: Jetzt ist er mit seiner Frau im Garten, fährt mit ihr Auto, liegt im Bett bei ihr. Ich kann ohne Haus und Wagen und so leben. Bloß leben will ich! Nicht die Zweite sein und warten, bis man dran ist. Dich will ich. Nur das zählt für mich. Dieser tote Vogel, sagte Jochen Maar von sehr weit her. Die Chefsekretärin dagegen fragte sehr deutlich: Warum wollen Sie denn auf all die Annehmlichkeiten verzichten? „In meinem Alter und bei meiner Position“, fuhr Caster fort, „kann man nicht alles hinwerfen und in einer Zweizimmerwohnung von vorn anfangen. Ich stelle gewisse Ansprüche. Muß sie stellen! Und du, Anja, solltest das auch tun. Der Mann, den du heiraten willst, müßte für zwei Kinder Alimente zahlen, wäre mürrisch, weil er wissenschaftliche Texte am Küchentisch ausarbeiten soll, könnte für seinesgleichen nie mehr Gastgeber sein bei dieser Art begrenzter Räumlichkeit. Und du wärst die längste Zeit meine unbeschwerte, wißbegierige, heitere Anja gewesen. Dich würden die Sorgen bedrücken, unansehnlich machen, und mit der Liebe wär’s vorbei.“ „Nein! Nein! Nur am Anfang haben wir’s schwer. Wir rappeln uns hoch. Unsere Liebe wird nur zerstört, wenn du mit einer anderen Frau lebst …“ Sie fühlte, daß ihre Worte ihn nicht erreichten. „Überlege es dir in Ruhe, Anja. Nein, weine nicht. Was ist denn geschehen? Ich habe mich in dich verliebt, 83
obwohl ich verheiratet bin, und du erwiderst meine Gefühle. Das gibt es tausendfach auf der Welt, und tausendfach richtet man sich so ein, daß unter den gegebenen Umständen jeder auf seine Kosten kommt.“ Begreifen Sie das Leben endlich so, wie es ist, sagte Fräulein Vogel. Anja weinte. Das ist so, sagte Susi Brehm, wir Frauen lieben mit den Ohren und die Männer mit den Augen. „Aber … ich“, sagte Anja und schluchzte. „Was hast du nur? Weine nicht so, bitte.“ Hilflos sah er, wie sie die Hände vor das Gesicht schlug und die Tränen durch die gespreizten Finger tropften. „Ich … kann das alles nicht. Ich … liebe so schrecklich mit dem Herzen.“ „Sie hatte einen Nervenzusammenbruch“, erzählte Susi Brehm. „Caster brachte sie mit dem Wagen hierher. Erst nach Tagen konnte sie mir alles erzählen.“ „Und dann?“ fragte Simosch. „Während sie sich erholte, wurde eine andere Anja aus ihr. Sie war verbittert, aber irgendwie wirkte sie selbstsicherer. Sie kaufte sich schicke Kleider und Schuhe, lernte sogar, sich richtig zu schminken. Und sie sah toll aus! Eine Gefahr für die Männer. Oder für deren Frauen.“ „Traf sie sich wieder mit Caster?“ „Nein. Aber einmal sagte sie: ‚Den hol ich mir noch.‘ Manchmal war sie richtig aggressiv, zum Beispiel als sie darauf drang, mit seiner Frau zu sprechen. Aber davon konnte sie mir nichts mehr erzählen, weil sie danach verunglückt ist.“ „Susi“, sagte Simosch behutsam, „Ihre Freundin ist gar nicht verunglückt.“ 84
„Aber … ich habe sie doch selbst liegen sehen. Damals, auf der Baustelle …“ „Jemand hat sie dort hingelegt. Ermordet. Tapfer sein, Susi.“ Doch diesmal machte sie nicht schlapp. Sie sah nur sehr blaß aus. „Und – wer?“ fragte sie. „Ich bin dabei, Anjas Leben zu durchforschen, und werde denjenigen finden, der es getan hat.“ „Sie müssen ihn finden. Oder – sie. Wenn ich Ihnen nur helfen könnte!“ Sie stand auf, ging zum Schrank und blieb dort stehen, Simosch den Rücken zugewandt. Sie griff nach etwas, das auf dem Schrank lag, und drückte es gegen die Augen. Simosch sah, das es der zweite Strumpf war, den er vorhin vergebens gesucht hatte. Er ging zur Tür, strich ihr im Vorübergehen flüchtig übers Haar. „Sicherlich brauche ich Sie noch. Ich rufe Sie an.“ Sie nickte, ohne den Strumpf von den Augen zu nehmen. „Anja war in der Liebe wie ein Kind“, sagte sie, „und so starrköpfig. Vielleicht hat sie deshalb sterben müssen.“ 8 Die Bäume warfen ihre Schatten schon im Mondlicht, als Simosch den Kiesweg zu Casters Haus betrat. So wie damals, als Leutnant Weiß hier vorgesprochen hatte, fiel auch jetzt Licht durch die Butzenscheiben, vielfarbig, zerfließend, und wie damals öffnete eine Frau Mitte Dreißig die Tür. Doch diesmal war Frau Caster weniger höflich. Sie sagte nur sehr spitz: „Bitte“, nachdem Simosch seinen. 85
Ausweis vorgezeigt hatte, und trat zur Seite. Simosch hatte auf den ersten Blick gesehen, daß ihre Augen gerötet waren. Sie ging vor ihm her in ein Zimmer mit einem imitierten Kamin und sagte wiederum: „Bitte!“ Einfach so, ohne ihm Platz anzubieten oder gar ein Glas von dem roten Wermut, den sie sich eingoß. Simosch registrierte: Die Dame des Hauses ist gereizt. Plötzlich drehte sich der Ohrensessel, neben dem der Oberleutnant stand. Simosch fuhr leicht zusammen, aber weder Frau Caster noch ihr Mann, der sich müde aus dem Sessel erhob, merkten etwas davon. Der Oberleutnant stellte sich noch einmal vor und dachte: Das also ist der Mann, der Anja Bindseils Leben so stark verändert hat. Er sah aus wie jemand, der seit Stunden in einem überhitzten Zimmer sitzt: das Gesicht gerötet, die Hemdbrust offen, die Ärmel hochgekrempelt und feine Schweißtropfen auf der Stirn. Im Zimmer aber war es kühl. Wer hier ins Schwitzen gerät, muß ein sorgenbeladener Mensch sein, dachte Simosch. Sie setzten sich um den Couchtisch, Frau Caster ließ sich nun doch herbei, zwei Weingläser zu holen, aber der Oberleutnant lehnte dankend ab. Wermut war nicht seine Geschmacksrichtung. Außerdem wollte er einen klaren Kopf behalten. Die Eheleute saßen einander gegenüber, und Simosch hatte sich so postiert, daß er beide im Auge behalten konnte. Er hatte das Gefühl, in eine eheliche Auseinandersetzung geraten zu sein, die noch nicht beigelegt, sondern durch sein Hinzukommen nur unterbrochen worden war. Simosch fand, die Atmosphäre in diesem Zimmer sei die eines unfreiwilligen Waffenstillstandes. Er sagte: „Ich möchte mich mit Ihnen über Anja Bindseil unterhalten.“ 86
Sie schwiegen und hefteten ihre Blicke auf ihn, weder erwartungsvoll noch interessiert, sondern weil sie vermeiden wollten, daß einer den anderen ansah. „Wie waren Ihre Beziehungen zu dem Mädchen?“ „Wir … haben das der Polizei schon einmal erzählt“, wehrte die Frau zögernd ab. Simosch wandte sich an Caster, ohne auf die Worte der Frau einzugehen. „Sie standen ihr sehr nahe, nicht wahr?“ Er sagte es mitfühlend und dachte: Wehe dir, wenn du jetzt Theater spielst! Sekundenlang lag in Casters Blick Mißtrauen, doch die freundliche Gelassenheit des Oberleutnants beruhigte ihn und verleitete ihn dazu, genau das zu tun, wovor Simosch ihn in Gedanken gewarnt hatte: Er begann Theater zu spielen. Zuerst fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch das Haar, dann nickte er mehrmals. „Seit wir von diesem Unglück in der Zeitung gelesen haben, sind wir verwirrt und … deprimiert … Deshalb sehen Sie uns auch heute abend nicht gerade im besten Zustand.“ Er schluckte. „Wir … sind noch immer völlig fassungslos“, brachte er stockend hervor, „das werden Sie gewiß verstehen.“ Dich werde ich gleich fassungslos sehen, dachte Simosch grimmig, ich will nur noch wissen, welche Rolle die Dame zu spielen gedenkt. „Sie zählen zu den Menschen, Frau Caster, mit denen Fräulein Bindseil kurz vor ihrem Tod noch einmal gesprochen hat.“ „Hören Sie schon auf“, sagte die Frau mit rauher Stimme, „das ist alles so furchtbar. Ich hatte die Kleine richtig ins Herz geschlossen.“ Simosch lehnte sich im Sessel zurück, schwieg ziemlich lange, bevor er sagte: „Da sind Sie aber die erste 87
Frau, von der ich erfahre, daß sie ihre Nebenbuhlerin ins Herz geschlossen hat.“ Nach einer Schrecksekunde begehrte Caster, der plötzlich blaß geworden war, auf: „Was erlauben Sie sich! Verleumdung in meinem eigenen Haus, an meinem Tisch, gegen meine Frau …“ Nur deine Freundin hast du vergessen, dachte Simosch, jetzt kommst du also in Schwung! Er nickte beipflichtend, sagte: „Ich habe mich wirklich nicht ganz präzise ausgedrückt, Herr Caster. Eine ernsthafte Nebenbuhlerin ist Anja Bindseil Ihrer Frau nie gewesen, Sie wollten das Mädchen ja sowieso nicht heiraten. Oder …?“ „Wir hatten keinerlei intime …“ „Bitte“, unterbrach die Frau ihn ärgerlich, „so ein Verhältnis bleibt auf die Dauer nicht unentdeckt. Das habe ich dir vorhin schon klarzumachen versucht.“ Caster atmete schwer, trank einen Schluck, sagte: „Also gut, Anja war meine Freundin. War sage ich nicht, weil sie tot ist, sondern weil ich dieses Verhältnis vor Wochen bereits gelöst hatte.“ „Sie schon“, entgegnete Simosch, „aber das Mädchen nicht.“ „Das ist eine Unterstellung …“ Frau Caster lachte spitz, und er brach den Satz ab. „Selbst wenn es so wäre“, fuhr er nach kurzem Schweigen gereizt fort, „was geht das Sie an?“ Um diesen Gefühlsausbruch gleichsam zurückzunehmen, bot er seinem Gast Zigaretten an und reichte ihm Feuer. Mit ruhiger Hand, wie Simosch feststellte. „Das passiert Tausenden“, sprach Caster weiter und zündete sich auch eine Zigarette an, „daß sie sich in ein junges Mädchen verlieben. Na und? Ich habe mich vor meiner Frau zu 88
rechtfertigen, nicht vor Ihnen. Oder schnüffelt die Polizei neuerdings in Bettgeschichten herum?“ „Nein. Aber sie klärt unter anderem Morde auf.“ „Sie klärt … wie bitte?“ „Ich bin Leiter der Mordkommission im Falle Anja Bindseil.“ Casters Hand sank kraftlos in den Schoß, zitternd jetzt. Er saß vornübergebeugt, zu bestürzt, als daß er auf Haltung achten konnte. Er vergaß sogar die Situation, in der er sich befand, und tat, was er in zehn Ehejahren immer getan hatte, wenn ihm Leid oder Ärgernis widerfahren war: Er wandte sich hilfesuchend an seine Frau. „Ermordet, er sagt, jemand hat Anja ermordet.“ Sie war ganz ruhig, umklammerte noch das Glas, das sie eben abgesetzt hatte, und nickte ihrem Mann zu, sprachlos, entsetzt und – tatsächlich mitleidig, wie es Simosch schien. Simosch wartete. Ihm kam es auf das Verhalten der beiden nach diesen Schrecksekunden an. „Wir … müssen versuchen, damit fertig zu werden“, brachte Frau Caster schließlich stockend hervor, den Blick fest auf ihren Mann gerichtet. Caster bot noch immer ein Bild der Hilflosigkeit. Die Zigarette war seinen Fingern entglitten und auf den Teppich gefallen. Er hielt den Mund leicht geöffnet, als wollte er zum Sprechen ansetzen, blieb aber stumm. „Bitte, Heinz, nimm dich zusammen.“ In ihren Worten schwang nun schon wieder leise Ungeduld mit. „Der Herr Oberleutnant wird uns sicherlich einiges zu fragen haben.“ Casters Gesichtszüge strafften sich. Nun endlich schien ihm zu dämmern, daß dieser Mord der Polizei das Recht gab, tiefer in sein Privatleben einzudringen. 89
„Er wird an unserem Alibi interessiert sein.“ Caster griff nach dem Feuerzeug, bemerkte die heruntergefallene Zigarette, starrte sie einen Augenblick lang an, als müßte er sich besinnen, wodurch dieses Malheur passiert sei. Dann fingerte er eine neue aus dem Etui und steckte sie an. „Aber wir waren doch zu Hause.“ Auch er ignorierte Simoschs Anwesenheit und sprach nur zu seiner Frau. Elvira Caster trank, ohne abzusetzen, das Glas Wermutwein leer und sagte zu ihrem Mann: „Aber wenn er uns nicht glaubt?“ Kaum merklich lächelte Simosch, dachte: Treibt euer Spiel nur weiter! Es ist eine Art Selbstverständigung, durch die ihr Herr zu werden versucht über das Unbehagen, das in diesem Zimmer aufgekommen ist, seitdem ihr wißt, daß Anja Bindseil ermordet wurde. Warum habt ihr Angst, in den Mordfall verwickelt zu werden? Aus Spießigkeit? Aus althergebrachtem Mißtrauen gegenüber der Polizei, oder habt ihr etwas zu befürchten? „Warum sollten wir unglaubwürdig sein?“ fragte Caster beinahe naiv. „Wach endlich auf“, fuhr ihn seine Frau scharf an, „wir sind in eine Mordaffäre verwickelt. Und das alles, weil du dir ausgerechnet dieses …“ Sie suchte nach einem Wort, und Simosch fand, daß der Wein nun wohl doch ein paar Hemmungen in ihr getilgt hatte, als sie unbeherrscht rief: „… dieses Biest aussuchen mußtest!“ „Elvira! Du gehst zu weit!“ „Hätten Sie denn ein anderes Mädchen als Freundin Ihres Mannes akzeptiert?“ fragte Simosch schnell. „Ich akzeptiere niemanden als seine Freundin, aber ich mache nicht viel Aufhebens davon, wenn er sich mal 90
verliebt und das Mädchen die Grenzen eines solchen Verhältnisses nicht überschreitet.“ „Anja Bindseil hatte sie überschritten?“ Sie nickte. „Sie bildete sich ein, ich würde kampflos das Feld räumen, weil sie mir Jugend und Frische und wahrscheinlich auch ein bißchen Sex voraushat.“ „Ist es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihr und Ihnen gekommen?“ „Leider ja, weil Fräulein Bindseil das so wollte. Sie ließ sich nicht davon abbringen, mich aufzusuchen.“ „Darüber möchte ich Genaueres wissen“, sagte Simosch. „Elvira“, mahnte Caster, „überlege dir genau, was du sagst. Du mußt nichts erzählen. Ich kann Rechtsanwalt Doktor Schirmer anrufen, und er wird dich beraten.“ Sie füllte ihr Weinglas wieder, trank es diesmal aber nur halb leer. „Mach, was du für richtig hältst, ich habe nichts zu verbergen. Soll er …“ Sie nickte zu Simosch hin. „Soll er doch zusehen, wie dein Bild von dieser Bindseil zu dem paßt, was ich über sie erzähle.“ Zu dem Oberleutnant gewandt, fügte sie hinzu: „Sie werden merken, es ist beinahe, als sprächen wir jeder von einem anderen Mädchen.“ „Und wie erklären Sie sich das?“ „Entweder war mein Mann so verliebt, daß sein Verstand nicht funktionierte, wenn er mit ihr zusammen war, oder sie hat sich meisterhaft verstellt. Aber ihr wahres Gesicht hat sie mir gezeigt.“ „Ich kenne Anja als ein lebenslustiges, sehr sanftes Mädchen“, sagte Caster ruhig. „Sie war ein berechnendes Biest. Die sanfte Tour hatte sie allerdings auch drauf, und das machte sie gefährlich. Ich habe es gleich gemerkt, als sie mich zum erstenmal anrief.“ 91
„Wer ist am Apparat?“ fragte Elvira Caster fassungslos. „Die Freundin Ihres Mannes“, sagte eine sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung. „Unverschämtheit!“ „Nein … ich … habe nicht vor, unverschämt zu sein. Ich möchte nur, daß Sie die Wahrheit wissen. Dann wird alles leichter für uns drei.“ „Ich denke nicht daran, mich mit Ihnen zu unterhalten!“ „In einer Stunde ungefähr bin ich in der Hegelstraße. Übrigens haben Sie mich schon einmal gesehen. Vor zwei oder drei Wochen stand ich an Ihrem Gartentor.“ „Wenn Sie meinen, daß Sie mir unbedingt etwas erzählen müssen, Sie dreiste Person, dann kommen Sie meinetwegen morgen um achtzehn Uhr hierher.“ „Wir sprechen uns in einer Stunde.“ „Ich sagte ‚morgen‘!“ Elvira Caster legte den Hörer mit einem Knall auf die Gabel. Sie zitterte, schleppte sich zum Sessel. Eine Verrückte, dachte sie, eine Psychopathin. Warum habe ich nicht gefragt, wo sie arbeitet? Sicherlich so ein Blaustrumpf aus der Forschungsabteilung von Heinz, mit den Nerven ’runter und statt Liebesleben nur ungesunde Träume davon. Sie erinnerte sich vage an ein Mädchen, das vor Wochen am Gartentor gestanden hatte; es sah aus, als wartete es auf seine Mutter oder seinen Freund, ein unscheinbares, sehr junges Ding. Nein, die konnte unmöglich … Und wenn sie nun in einer Stunde doch hier erscheint, dachte Elvira Caster und band die Küchenschürze ab. Höre ich sie überhaupt an? Ich werde sie anhören, ruhig, gelassen, überlegen. Überlegenheit ist das wichtigste. Meine Antworten müssen sehr von oben herab kommen. 92
Sie trat vor den Spiegel, griff nach dem Lippenstift – und legte ihn wieder beiseite. „Ich habe gesagt, morgen abend“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu, „dabei bleibt es.“ Langsam fühlte sie sich ruhiger werden, sie gewann ihre Beherrschung zurück und begann die wirren Gedanken zu ordnen. Heinz hat also eine Freundin, dachte sie, während sie eine Zigarette anzündete und sich wieder in den Sessel sinken ließ. Das ist ja lachhaft, schließlich führen wir eine intakte Ehe, haben zwei Kinder, und die beiden Jahre, die ich älter bin als er, sieht man mir nicht an. Außerdem lege ich monatlich ein paar Scheine mehr in die gemeinsame Kasse. Unser Leben ist so eingerichtet, daß wir nicht nur schlechthin haben, was man braucht, wir können uns auch Extras leisten: eine Haushaltshilfe, echten Schmuck, seltene Pflanzen, Auslandsreisen. Aber das funktioniert nur, wenn wir zusammenhalten. Eine Vermögenstrennung wäre ohnehin katastrophal, da wir alles gemeinsam gekauft haben. Heinz hat Beziehungen und legt unser Geld genau für die Dinge an, für die ich es auch ausgeben würde. Ich finde, so gut wie wir harmoniert nicht jedes Ehepaar. Nun hat er also eine Freundin. Falls das überhaupt stimmt, was die Kleine da erzählt. Bis jetzt stinkt die Sache nämlich nach Taktlosigkeit, und das ist durchaus nicht seine Art. Elvira Caster blieb zwei volle Stunden im Sessel sitzen, dann wußte sie, daß das Mädchen ihrer Aufforderung gefolgt war und an diesem Abend nicht mehr kommen würde. Sie fühlte sich, als sei die erste Runde eines Entscheidungskampfes zu ihren Gunsten ausgegangen. Gegen zwanzig Uhr betrat Caster das Haus, ein wenig abgespannt, höflich, fragte nach den Kindern, nach ihr – es war alles wie sonst. Nur, daß sich Elvira etwas früher 93
zurückzog. Sie geriet im Beisein ihres Mannes zu sehr in Versuchung, von dieser Anruferin zu erzählen. Doch falls das Mädchen wirklich seine Freundin war, hätte er es zur Räson gebracht, und sie würde nie erfahren, was hinter alldem eigentlich steckte. Am nächsten Tag betrat Anja Bindseil pünktlich um achtzehn Uhr den Kiesweg, der zum Casterschen Anwesen führte. Die Frau des Hauses stand hinter der Gardine. Sie ließ das Mädchen dreimal klingeln, dann erst ging sie zur Tür. „Guten Abend“, sagte Anja, „ich nehme an, Sie sind Frau Caster.“ Sie antwortete ihr nicht – einmal, weil sie keinen Grund dafür sah, zum anderen, weil sie zu überrascht war. Das Mädchen, das vor Wochen an der Gartentür gestanden hatte, schien eine entfernte Verwandte dieser Person zu sein, die jetzt ihre Wohnung betrat: selbstsicher, zielbewußt, das ebenmäßige, sehr junge Gesicht leicht geschminkt. Sie trug ein mattblaues Kleid nach der neuesten Mode, raffiniertes Dekolleté, weiße, moderne Exquisitschuhe. Elvira Caster führte das Mädchen in das Zimmer mit dem imitierten Kamin, bot Platz an, setzte sich in ihren Sessel, nippte am Wermut und beobachtete ihre Besucherin. Die schien von der Räumlichkeit beeindruckt, und Elvira Caster dachte: Bilde dir nur nicht ein, daß dies alles eines Tages dir gehören wird. Anjas Blick glitt über die holzgetäfelte Wand zu einer Bodenvase mit großköpfigen Sonnenblumen. „Sie sind Innenarchitektin, nicht wahr?“ „Warum wünschen Sie mich zu sprechen?“ „Es geht um Ihren Mann. Wir haben uns vor Monaten kennengelernt, und nun kommen wir nicht mehr voneinander los.“ 94
Ihr Blick war wachsam, während sie sprach, als hoffte sie, daß ihre Worte eine bestimmte Reaktion auslösen würden. „Davon hat er mir aber nichts erzählt“, sagte Elvira Caster. Es klang amüsiert, obwohl sie sich gekränkt fühlte. Weniger von diesem Mädchen und ihrer – so schien es ihr – frechen Naivität, sondern von ihrem Ehemann. Hin und wieder war es vorgekommen, daß er sich in eine andere Frau verliebt hatte, aber er war stets so ehrlich gewesen, ihr das einzugestehen. Dadurch gab er ihr die Möglichkeit, sich großzügig zu zeigen und ihm zu verzeihen. Außerdem besaß er Charme genug, sie am Ende einer solchen Liaison spüren zu lassen, daß andere Frauen ihn nur vorübergehend zu entflammen vermochten, sie hingegen ihn stärker und auf die Dauer fesselte. „So, er hat Ihnen nichts erzählt“, wiederholte Anja leise. Auch sie war verletzt, und zwar über den amüsierten Ton dieser Frau, mit dem sie nicht gerechnet hatte, den sie unpassend fand und als Täuschungsmanöver nicht durchschaute. Sie mußte sich sehr zusammennehmen, damit sie ruhig blieb, als sie entgegnete: „Glauben Sie, er ist so taktlos, sich mit Ihnen über etwas zu unterhalten, was nur uns beide angeht?“ „Das ist keine Frage des Taktes, sondern der Ehrlichkeit. Und in bezug auf solche … nun, Liebeleien sind wir ehrlich zueinander.“ „Das ist schamlos“, sagte Anja bestürzt. „Sie sind doch miteinander verheiratet.“ „Eben. Seit mehr als zehn Jahren. Und wir gedenken, es auch weiterhin zu bleiben.“ Sie wollte ihr noch erklären, wie belanglos ein Seitensprung für das eheliche Zusammenleben zweier Menschen sein konnte, wenn man Treue nicht ausschließlich 95
auf den Begriff sexueller Monogamie reduzierte, doch dann kam ihr wieder zum Bewußtsein, daß ihr Mann diesmal zu weit gegangen war. Diese Liaison hatte er ihr verschwiegen und sie damit in die demütigende Situation gebracht, seiner Geliebten gegenüberstehen zu müssen. Das schlimmste aber war, daß er dieses Mädchen durch sein Verhalten dazu ermutigt haben mußte, seine Ehe in Frage zu stellen. Deshalb erklärte sie nichts, sondern hüllte sich in feindseliges Schweigen. „Sie irren sich“, sagte Anja nachsichtig. „Ihr Mann meint nicht mehr Sie, wenn er mit Ihnen spricht, ißt und schläft.“ Frau Caster preßte die Lippen zusammen, um eine heftige Entgegnung zurückzuhalten. Abscheulich, dachte sie, diese Art, sich mit mir zu unterhalten wie mit einer Kranken, der man schonend beibringen muß, daß eine Operation notwendig ist. „Sie werden sich deshalb von ihm trennen müssen, Frau Caster.“ Elvira Caster lachte. Es hatte überlegen klingen sollen, ein wenig abfällig vielleicht, aber sie traf die rechte Tonart nicht. Es klang zu schrill. Zehn Jahre, dachte sie, und nichts hat uns auseinandergebracht. Keine räumliche Trennung – Caster hatte vor einiger Zeit zwei Jahre im Großbetrieb einer anderen Stadt gearbeitet –, keine Frau und keine Eigenwilligkeit von mir. Und ich war eigenwillig, wenn ich Beruf und Familie gegeneinander abzuwägen hatte. Ein Auftrag, der mich interessierte und mir Geld brachte, hat mich die Familie zuweilen vergessen lassen. Nein, nicht vergessen. Ich habe einfach auf Heinz vertraut, daß er in solchen Zeiten zurücksteckt, und zwar gründlich. Und er hat es getan, hat sich um die Kinder und den Haushalt 96
gekümmert, bis ich meine Arbeit beendet haue und wieder ansprechbar war. „Er hat zuviel Familiensinn, als daß er einfach davonlaufen würde“, sagte sie. Anja stutzte, und gewiß wäre ihr Heinz Casters Ehe und sein Verhältnis zu ihr, seiner Geliebten, in einem anderen Lichte erschienen, wenn Frau Caster ihre Gedanken hätte laut werden lassen. Doch die Enttäuschung über das Verhalten ihres Mannes – Elvira empfand es schlechthin als Verrat – vertrieb sie von der Position einer lebenserfahrenen Frau, die ein naives Mädchen nachhaltig und mit Würde in die Schranken zu weisen versteht. Deshalb fügte sie nur ziemlich gereizt hinzu: „Hören Sie auf, ihn erobern zu wollen.“ „Das liegt mir fern“, beteuerte Anja. „Ich nehme nur, was mir schon lange gehört.“ Es war die ruhige, mitleidvolle Art, in der das Mädchen seine Forderungen stellte, die Frau Caster schließlich völlig unbeherrscht reagieren ließ. „Ach, Ihnen gehört also mein Mann!“ rief sie. „Und das Gartenhaus wohl auch? Möchten Sie nicht vielleicht das Meißner Porzellan gleich mitnehmen? Oder demnächst dieses Haus beziehen? Mein Mann ist nämlich an einen gewissen Komfort gewöhnt und wird sich in einer Zweizimmerwohnung mit Außentoilette nicht wohl fühlen!“ Sie erhob sich. „Und jetzt machen Sie, daß Sie hinauskommen.“ Langsam stand Anja auf. Sie ließ Frau Caster nicht aus den Augen, als sie sagte: „Sie haben ihn verdorben. Jetzt weiß ich es. Es war gut, daß ich Sie kennengelernt habe, denn nun ist mir auch klargeworden, daß Sie zu schlagen sind. Mit Ihren eigenen Mitteln …“ „Übernehmen Sie sich nicht dabei“, entgegnete Frau Caster kalt und ging ihr voraus zur Tür. 97
„O nein.“ Anjas Stimme war noch immer sanft und freundlich. „Ich habe inzwischen begriffen, was Geld für eine Macht ist.“ „Was meinen Sie, Herr Caster?“ fragte Simosch. „War das nur Bluff, oder verfügte Fräulein Bindseil über ein gewisses Vermögen?“ „Solange ich sie kenne“, entgegnete er nachdenklich, „hatte Anja weder etwas von der Macht des Geldes begriffen, wie sie sich meiner Frau gegenüber ausdrückte, noch besaß sie welches. Sie hatte sich zwar ein Sparbuch angelegt, als Grundstein für ihre künftige Hauswirtschaft, aber sie konnte nicht mehr als rund dreißig Mark monatlich einzahlen, denn außer ihrem Sekretärinnengehalt stand ihr nichts zur Verfügung. Andererseits war es nicht ihre Art, dermaßen zu bluffen.“ Der Oberleutnant wandte sich an die Dame des Hauses. „Haben Sie nach Fräulein Bindseils Besuch Ihren Mann zur Rede gestellt?“ „Ja.“ Da sie außer dem einen Wort offenbar nichts zu entgegnen wünschte, blickte der Oberleutnant zu Caster. Er zuckte die Schultern. „Ich habe meiner Frau die Wahrheit gesagt. Und daß ich zu jenem Zeitpunkt mit Anja schon gebrochen hatte, ist die Wahrheit.“ „Was mag das Mädchen dann bewogen haben, Ihre Frau aufzusuchen und gewisse Forderungen zu stellen?“ Die Antwort war eine nichtssagende Geste. „Wann haben Sie Fräulein Bindseil zum letztenmal gesprochen?“ „Ein oder zwei Tage vor ihrem Besuch bei meiner Frau. Aber nur telefonisch. Wir haben uns ab und zu noch angerufen.“ 98
„Und was wurde da besprochen?“ Nach einem schnellen Blick zu seiner Frau, die um eine unbeteiligte Miene bemüht war, sagte Casters: „Ich war bestrebt, eine vernünftige Lösung für uns zu finden. Ich … ich bin es im Zusammenleben mit meiner Frau einfach gewohnt, Meinungsverschiedenheiten auf eine sachliche Weise zu regulieren.“ „Genau das hättest du auch dieses Mal tun sollen“, warf Elvira Caster ein. „Aber ich wüßte wohl bis jetzt noch nichts von dieser Verbindung, wenn das Mädchen nicht so anmaßend gewesen wäre, hierherzukommen. Wer weiß, was geschehen wäre …“ „Elvira! Du nimmst doch nicht im Ernst an, daß ich meine Familie im Stich gelassen hätte?“ „Zumindest fällt es mir schwer, das zu glauben. Diesmal war eben irgend etwas anders als sonst.“ „Was hat Sie so fasziniert an dem Mädchen?“ fragte Simosch. „Ihre Unkompliziertheit“, antwortete Caster leise, ohne seine Frau oder den Oberleutnant anzusehen. „Für sie war jeder Tag ein Geschenk, über das sie sich freute. Und so etwas in einer Zeit, da man sich morgens schon wünscht, der Tag möge vorüber sein, weil kräftezehrende Sitzungen bevorstehen, weil der hundertundfünfte Laborversuch wieder negativ ausgefallen ist, weil man Neuerungen durchboxen muß und am Quartalsende meßbare Ergebnisse vorliegen sollen. Da trifft man dann einen Menschen, der es fertigbringt, sich einfach darüber zu freuen, daß er lebt.“ „Genauer gesagt: Sie freute sich, daß sie mit Ihnen leben durfte, Herr Caster. Denn bevor Fräulein Bindseil Sie kennenlernte, war ihr Dasein ziemlich trist.“ „Ich weiß. Vielleicht hat sie deshalb immer wieder mit 99
einer – wie meine Frau es nennt – sanften Sturheit versucht, unser Verhältnis zu legalisieren.“ „Waren nach der Auseinandersetzung im Gartenhaus die Fronten für Sie klar?“ „Das waren sie von Anfang an. Es gibt für mich keinen Grund, meine Frau, die Kinder und alles, was wir uns geschaffen haben, im Stich zu lassen. Nein, auch Anja war kein Scheidungsgrund für mich.“ Nur ist. dir diesmal der Rückzug an die „Heimat-Front“ ziemlich sauer geworden, dachte Simosch, und Caster bestätigte seine Gedanken mit den Worten: „Allerdings habe ich versucht, sie zu überreden, in der bisherigen Weise mit mir zusammenzubleiben, nachdem sie erfahren hatte, daß ich verheiratet bin und eine Scheidung nicht in Frage kommt. Das hätte niemandem weh getan – höchstens mir selbst eines Tages, wenn sie sich in einen Burschen verliebt hätte, der jünger ist als ich und unverheiratet.“ „Damit haben Sie gerechnet?“ „Mußte ich doch“, erwiderte Caster schulterzuckend. „Er hat wohl mit allem möglichen gerechnet“, mischte sich Frau Caster ein, „nur nicht damit, daß das Mädchen uns derartige Scherereien machen würde. Dabei habe ich es ihm auf den Kopf zugesagt, nach der Begegnung mit ihr.“ „Mit welchen Schwierigkeiten rechneten Sie denn?“ „Zum Beispiel, daß Fräulein Bindseil sich häufiger und auffälliger mit meinem Mann in der Öffentlichkeit zeigen, das Verhältnis zu ihm an unpassender Stelle ausposaunen und mich dadurch so lächerlich machen würde, daß ich einfach Konsequenzen ziehen mußte. Nur an eines habe ich nicht gedacht …“, sie trank einen Schluck, ehe sie weitersprach, „nämlich daß sie sterben würde.“ „Sie wurde ermordet“, berichtigte Simosch und dachte, daß er bis jetzt niemanden kennengelernt hatte, dem 100
ihr Tod so gelegen kommen mußte wie dieser Familie Caster. „Was haben Sie getan, nachdem Anja Bindseil gegangen war?“ „Ich habe auf meinen Mann gewartet. Als er – übrigens später als sonst – eintraf, ist es zu der erwähnten Aussprache gekommen. Wir sind an jenem Abend nicht mehr aus dem Haus gegangen.“ Sie schaute zur Kaminuhr, verglich die Zeit mit ihrer Armbanduhr und warf dem Oberleutnant einen mißbilligenden Blick zu, der ihn aufforderte, endlich das Haus zu verlassen. Simosch reagierte absichtlich nicht darauf. „Und Sie?“ fragte er, an Caster gewandt. „Meine Frau sagte Ihnen doch, wir sind den Abend über zu Hause gewesen. Ich hatte bis neunzehn Uhr Versammlung und bin anschließend hierhergefahren. Das heißt, ein Viertel nach sieben war ich in der Wohnung.“ Frau Caster erhob sich rasch. „Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt“, sagte sie entschlossen, „wir erwarten in einer halben Stunde Gäste, und ich habe noch einiges vorzubereiten.“ Nun blickte auch Caster zur Uhr und geriet in Unruhe. „Richtig, Doktor Friedhauer pflegt pünktlich zu sein, und da wir ein Anliegen an ihn haben … wir wollen uns ein Motorboot zulegen, verstehen Sie, Doktor Friedhauer ist sozusagen Experte auf diesem Gebiet und könnte uns gut beraten.“ „Es ist ohnehin alles gesagt.“ Simosch stand auf. „Nur eines hätte ich von Ihnen gern noch einmal bestätigt bekommen: Seit dem Abend im Gartenhaus, als Sie sich von Anja Bindseil trennten, haben Sie das Mädchen nicht wiedergesehen?“ Heinz Caster schüttelte stumm den Kopf. 101
9 Der Oberleutnant wälzte sich seit Stunden von einer Seite auf die andere, doch das vertrieb weder die Bilder, die hartnäckig vor seinem Auge standen, noch brachte es ihm den erwünschten Schlaf. Jetzt sah er Elvira Caster, Wermut trinkend und mühsam beherrscht, vor Anja sitzen. Hatte diese Frau ihm wirklich alles mitgeteilt, was an jenem Abend besprochen worden war? Vielleicht hatte sie die Worte, die gefallen waren, richtig und sogar vollständig wiedergegeben, aber welche Gedanken hegte sie, und wie sah es mit den Plänen aus, die sie in den Stunden vor und nach Anjas Besuch schmiedete? Das Mädchen war ihr ein Dorn im Auge, der ihr um so gefährlicher erschien, je mehr sich Elvira Caster in die Vorstellung verbiß, Anja Bindseil könne irgendwie zu Vermögen gekommen sein. War diese Frau, der Wohlstand und Geltung offensichtlich viel bedeuteten, imstande, einen Menschen einfach auszulöschen, wenn er ihre bisherige Existenz bedrohte? Die durchtriebene Art, auf die Anja getötet worden war – man hatte sie eingeladen, mit Alkohol und Schlaftabletten traktiert und die Ohnmächtige oder zumindest Willenlose dann in einer Baugrube verscharrt –, das konnte nach Simoschs Erfahrung durchaus auf eine Frau als Täterin deuten. Bewies nicht die Geschichte des Verbrechens, daß die raffiniertesten Tötungsarten von Frauen ersonnen wurden? Den Abteilungsleiter Caster hingegen konnte sich Simosch weniger als Mörder seiner Geliebten als den Mann vorstellen, der Anja Bindseil betäubte und im Gestein verbuddelte. Doch seine Vorstellungen waren kein Beweis und somit kaum von Nutzen, fand Simosch, besonders 102
nachts nicht, wenn sie einen nicht schlafen ließen. Wenigstens gegen Mitternacht, dachte er unwillig, müßte man sie abstellen können wie Jochen Maar seinen geliebten Plattenspieler. Natürlich, nun kam auch der noch! Der Schlagerfan mit dem weichen Gemüt und der harten Linken. Fensterputzer. Warum, fragte er sich, arbeitete dieser Junge eigentlich als Fensterputzer? Simosch hatte den Eindruck gehabt, Maars Intelligenz reiche zu anderer, qualifizierterer Beschäftigung aus. Aber was geht mich das an, dachte er, mich hat einzig zu interessieren, ob dieser Junge seine enttäuschte Liebe überwunden hat oder ob er zu einem modernen José wurde, der seine Carmen lieber tötete als sie in den Armen eines Wohlstandstoreros zu wissen. Simosch fluchte, laut und kräftig. Er stieg aus dem Bett, ging ins Bad und langte eine schmale, grünblaue Schachtel mit der Aufschrift Radedorm aus der Hausapotheke. Zwar war er ein Gegner vom Tablettenschlucken, aber er konnte es sich nicht leisten, nach einer schlaflosen Nacht mit Kopfschmerzen und bleierner Müdigkeit in den Gliedern an die Arbeit zu gehen. Morgen, dachte er, als er das Medikament mit einem Schluck Wasser hinunterspülte, morgen wird der Hauptwachtmeister Jochen Maars Alibi überprüfen, und Leutnant Wolf muß herauszufinden versuchen, ob die Familie Caster in der Mordnacht wirklich zu Hause war, und ich stehe um acht Uhr wieder im Zimmer des Hauptbuchhalters. Oder in seinem Vorzimmer … Als Simosch den Besuch bei Casters beendet hatte, war er noch einmal in die Dienststelle gegangen. Er wollte sehen, ob wichtige Nachrichten eingelaufen waren. Tatsächlich hatte ein Zettel auf seinem Schreibtisch gelegen, 103
Leutnant Rückert teilte ihm darauf lakonisch mit, daß es sich bei den Fehlbuchungen im Warenhaus um kein Versehen handeln könne und die Anwesenheit des Oberleutnants vorübergehend erforderlich sei. Anja Bindseil hat im Gespräch mit Elvira Caster etwas über die Macht des Geldes geäußert, sinnierte Simosch, nun endlich müde werdend, und im Warenhaus sind offensichtlich Unterschlagungen begangen worden. Der arme, eitle Herr Hopfer! Morgen werde ich sein Selbstbewußtsein als untadeliger Hauptbuchhalter durch Fragen und Maßnahmen wieder ins Wanken bringen müssen. Simosch gähnte. Hoffentlich ist Silbervogel morgen da. Und im Einschlafen dachte er noch: Ach, Silbervogel, warum bist du weggelaufen vor mir … Am nächsten Morgen wurde er zunächst von Hauptmann Randolf aufgehalten und traf deshalb erst eine Viertelstunde später als Leutnant Rückert in der Hauptbuchhaltung ein. Im Vorzimmer war nichts verändert. Simosch stellte mit raschem Blick fest, daß alles an seinem gewohnten Platz war, die Sessel in der Besucherecke, der Slevogt an der Wand und Silbervogel hinter ihrem Schreibtisch. Sie sah aus wie vor ein paar Tagen, als er sie kennengelernt hatte: elegant, interessant und erregend. Sie hatte beide Fensterflügel weit geöffnet, doch im Raum lag noch immer ein Geruch von – Baldrian. Natürlich bemerkte sie, daß Simosch die Nase kräuselte. Sie erhob sich, um ihn zu begrüßen, und sagte lächelnd: „Ich bevorzuge Lavendel, aber Herr Hopfer war so schrecklich aufgeregt.“ „Aus welchem Grunde denn?“ wunderte sich Simosch. „Es scheint hier einiges drunter und drüber zu gehen.“ 104
Sie selbst war völlig ruhig, als fände dieses Drunter und Drüber auf einem anderen Planeten und nicht in ihrem Arbeitsbereich statt. „Ich möchte Sie später auch noch sprechen“, sagte Simosch, „wenn ich mich mit Ihrem Chef unterhalten habe“, und sie erwiderte, daß sie mit einer Tasse Kaffee auf ihn warten werde. Herr Hopfer sah um Jahre gealtert aus. Er nickte dem Oberleutnant einen müden Gruß zu. Die Baldriantropfen schienen gewirkt zu haben, er saß still und gefaßt vor den zahlreichen Büchern, in denen Leutnant Rückert und zwei Revisoren emsig blätterten. Sie verglichen, notierten, und hin und wieder informierten sie den Hauptbuchhalter von einem neuentdeckten falschen Eintrag, oder sie stellten ihm Fragen, die er sachkundig beantwortete. Simosch beobachtete das Treiben ein Weilchen, bis Rückert Gelegenheit fand, ihn davon zu unterrichten, was herausgefunden worden war: Die bisherigen Unregelmäßigkeiten deuteten auf einen großangelegten, raffinierten Betrug. Die Revisoren waren bereits mehrfach auf doppelt ausgestellte Rechnungen gestoßen. Rückert erklärte dem Oberleutnant, daß das Warenhaus vor zwei Monaten beispielsweise dreihundert Posten Bettwäsche vom Großhandel bezogen hatte, die zweimal bezahlt worden waren. „Das ist doch unmöglich“, sagte Simosch leise, „es würde ja sofort auffallen.“ „Wem denn?“ entgegnete der Leutnant. „Etwa dem ökonomischen Leiter? Oder Herrn Hopfer? Oder einem seiner Buchhalter, denen täglich Hunderte von Rechnungen zur Unterschrift vorgelegt werden?“ Simosch rieb sich die Handgelenke. „Trotzdem! Bei dem Betrag, der gezahlt werden muß, handelt es sich 105
zweimal um die gleiche Summe, da wird man gewiß stutzig.“ „Die Rechnungen hat man selbstverständlich nicht unmittelbar nacheinander zur Unterschrift vorgelegt. An einem Nachmittag die eine, die andere vielleicht zwei Tage später. Inzwischen sind unzählige Beträge über Stoffe, Gartengeräte, Küchenmaschinen, Lampen, Schuhe, Haushaltartikel und was weiß ich noch unterschrieben worden. Da kann es weder Herrn Hopfer noch irgendeinem anderen, der zeichnungsberechtigt ist, auffallen, ob sich eine Rechnung vom Vortag wiederholt.“ Der Hauptbuchhalter hatte das Gespräch der Kriminalisten verfolgt, wenn er nicht gerade auf Fragen der Revision antworten mußte, und sagte nun zu Simosch: „Zumal die Unterlagen oft ungenau formuliert sind. Bettwäsche kann glatt, gemustert, weiß, bunt, kann einfaches Leinen oder Damast sein. Unsere Einkäufer kaufen heute zum Beispiel dreihundertmal Bettwäsche, Leinen weiß, und zwei Tage später den gleichen Posten in gleicher Qualität, aber diesmal gemustert. Doch auf den Unterlagen steht: Bettwäsche. Ohne nähere Angaben. Wie soll man da hinter einen Betrug kommen?“ Rückert nickte. „Die Unterlagen können von der Hauptbuchhaltung auch nicht täglich eingesehen werden. Hier unterschreibt man nur Beträge.“ Wie auf ein Stichwort sprang Herr Hopfer auf und ging zu seinem Schreibtisch. „Genauso ist es“, sagte er, mit einer Kopfbewegung Leutnant Rückerts Worte unterstreichend. „Ein gewisses Vertrauen von Abteilung zu Abteilung ist unumgänglich. Die Listen, die ich vorgelegt bekomme, enthalten Zahlen, nichts als Zahlen.“ Er zog ein Stück Papier aus der Schublade und reichte es dem Oberleutnant. Simosch warf einen Blick darauf, 106
doch er wußte mit den Zahlenkolonnen nichts anzufangen und wartete auf eine Erklärung. „Hier erscheint überhaupt kein Name mehr“, sagte Herr Hopfer. „Der Käufer hat sich in eine Nummer verwandelt.“ Er tippte auf eine. „Das sind wir, dort steht die Ware, als Zahl verschlüsselt, und ihr Einkaufspreis, und vom Verkäufer …“, wieder fuhr sein Finger eine Zahlenkolonne entlang, „wird nur die Kontonummer ausgeworfen.“ Mit einem Seufzer legte Hopfer die Listen in den Schreibtisch zurück. Oberleutnant Simosch kam sich wie in einer fremden Welt vor, mit deren Gesetzmäßigkeiten er sich nur schwer anzufreunden vermochte. Hinter den Zahlen von eins bis null verbargen sich Institutionen, geleitet von Menschen, die sich wiederum als Zahlen verschlüsseln ließen. Mit ihnen konnte man offensichtlich jonglieren, manipulieren. Und wer waren solche Zahlenkünstler? Betriebsleiter, ökonomische Direktoren, Hauptbuchhalter, Buchhalter – und sicherlich auch deren Sekretärinnen. Leise sagte Simosch zu Leutnant Rückert: „Ich habe später noch ein paar Fragen an Sie. Wenn es Neuigkeiten gibt, halten Sie mich bitte auf dem laufenden. In der nächsten Stunde können Sie mich noch im Vorzimmer erreichen.“ Fräulein Vogel stellte die Kaffeekanne auf den Tisch, als der Oberleutnant eintrat. Jede Sekretärin dieser Abteilung hätte für den Betrug in Frage kommen können, davon war Simosch überzeugt. Aber bei Anja Bindseil war klar, daß sie Geld brauchte, um sich Caster „holen“ und die Innenarchitektin Elvira Caster ausstechen zu können. Ich sehe nur die Fäden noch nicht, dachte er, die das Ganze mit dem 107
Mord verknüpfen. Vielleicht kann Silbervogel weiterhelfen. Sie wußte, daß Anja Frau Caster zu einem Gespräch gezwungen hatte, also mußte zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis bestanden haben. „Sie sind sehr nachdenklich heute“, sagte die Chefsekretärin. „Gehen Sie mal für eine Viertelstunde da ’rein“, Simosch deutete mit einer Kopfbewegung zum Arbeitszimmer des Hauptbuchhalters, „da werden Sie auch nachdenklich sein, wenn Sie wieder herauskommen.“ „Es steht mir nicht an, die heiligen Hallen ungerufen zu betreten. Und, unter uns Pastorentöchtern“, sie zwinkerte Simosch zu, „ich habe auch kein Verlangen danach.“ Simosch lächelte, wurde aber sofort wieder ernst und fragte: „Wissen Sie wirklich nicht, was hier vorgeht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Obwohl ich Chefsekretärin der Hauptbuchhaltung bin, sitze ich doch noch zu weit an der Peripherie dieses Hauses, als daß ich in interne Vorgänge eingeweiht werden müßte. Allerdings kann ich mir dieses und jenes zusammenreimen, und ich reime mir zusammen, daß es um Anja Bindseil geht. Herr Hopfer sagte mir, sie sei nicht verunglückt, sondern ermordet worden. Das bedrückt mich sehr.“ Aus ihren Worten sprach keine Sensationsgier, in ihnen schwang auch nicht die ängstliche Frage mit, ob sie nun verdächtigt werde, Silbervogel zeigte weder Panik noch übertriebenes Bedauern. Nur in ihren Augen glaubte Simosch etwas von dem Schrecken zu erkennen, den sie bei dieser Nachricht empfunden haben mochte. „Bei unserem letzten Gespräch“, sagte er, „deuteten Sie an, in Anja Bindseils Wesen hätte sich kurz vor ihrem Tod etwas verändert. Bitte, erzählen Sie mir mehr darüber.“ 108
Noch während er sprach, hörte er Susi Brehm sagen: Nachdem sie die Krankheit überwunden hatte, wurde eine andere Anja aus ihr. Verbittert sei sie gewesen, aber auch selbstsicherer. Sie lernte sogar, sich zu schminken und sich nach der neuesten Mode zu kleiden … Fräulein Vogels Altstimme riß Simosch aus seiner Versunkenheit. „Anja war ungefähr eine Woche lang krank. Das kam überraschend für uns, und wir waren in Sorge um sie, da sie offensichtlich unter einem Nervenschock stand. Herr Hopfer fragte mich immer wieder, ob ich sie mit Arbeit überlastet hätte, aber das war wirklich nicht der Fall gewesen, und ich dachte mir, daß sie im Privatleben eine Enttäuschung erfahren haben müsse. Genaueres wußte ich damals noch nicht, aber wer sie kannte, konnte sich ausrechnen, daß es mit Heinz Caster zusammenhing. Nach einer Woche kam sie wieder. Ernst, blaß, verschlossen.“ Sie schwieg ein Weilchen, offensichtlich von Erinnerungen gepackt. Plötzlich fragte sie: „Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?“ Simosch nickte. Sie schenkte ein, lehnte dankend die Zigarette ab, die er ihr anbot; sie lächelte gezwungen und atmete so hastig, daß Simosch die plötzliche Veränderung sofort auffiel. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte er besorgt. „O doch, es ist nur … zur Zeit muß ich hier alles allein bewältigen. Wenn ich eine Kopfschmerztablette nehme, ist sicherlich gleich wieder alles in Ordnung.“ Sie erhob sich, ließ sich aber sofort in den Sessel zurückfallen und sagte abwesend: „Ach, es wird vielleicht auch so gehen.“ „Wo liegen Ihre Tabletten?“ fragte Simosch und stand schon am Schreibtisch. 109
„Im mittleren Fach, neben dem Tast-Ex. Nun müssen Sie noch den Samariter spielen. Tut mir leid …“ Simosch brachte ihr die Schachtel Copyrkal und sagte: „Die sind aber ziemlich stark.“ „Sie helfen“, entgegnete sie einfach. „Ich werde in nächster Zeit mit der Arbeit etwas kürzer treten, dann habe ich sie nicht mehr nötig.“ „Können Sie mir jetzt weitererzählen?“ fragte Simosch behutsam, als sie die Tablette genommen hatte. „Selbstverständlich.“ Sie trank noch einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort: „Wenn ich sagte, Anja war verschlossen, meine ich nicht, daß sie plötzlich wortkarg gewesen wäre oder bockig. Sie war eher wie ein Mensch, der ein Geheimnis hütet. Aber es muß ein trauriges Geheimnis gewesen sein, denn ihre Unbefangenheit hatte sie völlig verloren. Sie war kritischer geworden, vielleicht sogar berechnend. Das klingt hart, ich weiß … möglich, daß ich ihr unrecht tue, aber mir schien es wirklich so, als sei sie berechnend geworden. Andererseits war sie Dingen gegenüber, die sie vorher beinahe zu ernst genommen hatte, nun von einer eigentümlichen Nachlässigkeit.“ Mit einer Psychologin könnte ich mich nicht besser unterhalten, dachte Simosch. Dann stellte er sich einen Augenblick vor, er träte nach Dienstschluß in seine Wohnung, Silbervogel säße am Abendbrottisch, und er könnte sich mit ihr über all das aussprechen, worüber er in der Einsamkeit seines Junggesellenzimmers grübelte, bis er überwach vor Müdigkeit, in sein kaltes, leeres Bett kroch … „Könnten Sie mir das an einem Beispiel erläutern?“ fragte er schnell, um seine Phantasie daran zu hindern, ihm weitere Bilder vorzugaukeln. 110
„Das ist nicht leicht“, sagte sie ernsthaft, „weil Sensationen rar sind im Leben und auch Anjas Wandlung sich hauptsächlich an den kleinen, alltäglichen Dingen ablesen ließ. Erinnern Sie sich, neulich haben wir schon davon gesprochen, daß ich ihr ab und zu Tips gab, wie unser Chef zu behandeln sei.“ Simosch nickte. „ ‚Wenn Sie pünktlich zur Arbeit erscheinen‘, habe ich ihr geraten, ‚einen guten Kaffee kochen, seine Termine im Kopf haben und ihm stets zur rechten Zeit die richtigen Listen und Rechnungen zur Unterschrift vorlegen, dann können Sie sich keinen besseren Chef als unseren Herrn Hopfer wünschen.‘ Diese Prophezeiung hatte sich bestätigt, und da Anja es an Fleiß und Pünktlichkeit nicht fehlen ließ, war er mit ihr zufrieden. Das ging gut, bis zum dritten Tag nach ihrer Krankheit. Am Morgen dieses Tages betrat sie unser Sekretariat erst eine Viertelstunde nach Arbeitsbeginn.“ „Unser charmanter Garderobenständer verlangt nach Ihnen“, sagte die Chefsekretärin, als Anja endlich erschien. „Ich bin aufgehalten worden.“ Sie hängte ihren Mantel in den Schrank, trat zum Spiegel, puderte sich die Nase, betupfte die Augenlider und vermochte die Spuren einer durchweinten Nacht doch nur schlecht zu verwischen. „Noch hat er Sie nicht gesehen“, sagte Fräulein Vogel. „Wenn Sie wollen, verschwinden Sie wieder. Sie wissen ja, man fährt bei ihm besser, wenn man einen Tag krankmacht, als wenn man zwanzig Minuten zu spät kommt.“ „Danke“, sagte Anja, „ich weiß, Sie meinen es gut mit mir. Aber ich gehe schon zu ihm.“ Ein trotziger Zug lag auf ihrem Gesicht, als sie an die Tür des Hauptbuchhalters klopfte. 111
Von dem kleinen, dürren Mann hinter dem Schreibtisch waren nur Kopf, Schultern und Arme zu sehen. Anja fand, daß er sich wie eine Puppe ausnahm, die man mit zu großen Möbelstücken umgeben hatte. Er zog die Stirn in Falten und starrte das Mädchen sekundenlang an. Dann lächelte er. „Ich hoffe, Sie haben heute nicht nur lange, sondern auch so gut geschlafen“, sagte er, „daß Sie die vertane Zeit durch intensives Arbeiten wieder aufholen können.“ Anja entschuldigte sich und sagte, sie würde eine Viertelstunde länger bleiben, doch Herr Hopfer winkte ab. „Man sagt uns Buchhaltern gern Pedanterie nach, nur weil wir jede Arbeit pünktlich zur rechten Zeit verrichten und jedes Ding dort ablegen, wohin es gehört. Ich nenne das Arbeitsdisziplin und Ordnung und verlange sie von mir selbst ebenso wie von meinen Mitarbeitern. Daß man den Wecker überhört, kann passieren, aber es sollte nur einmal im Jahr geschehen.“ Jetzt lächelte er. „Sie haben Ihre Reserve eben nach dem ersten halben Jahr verbraucht.“ „Es kommt bestimmt nicht wieder vor.“ So wie Anja es sagte, klang es höflich, aber einstudiert. „Nach der Gardinenpredigt eine kleine Aufmunterung: Ich bin mit Ihrer Arbeit zufrieden, und sie wissen ja, so ein Lob hört man von mir nicht oft.“ Herr Hopfer wies auf ein Schränkchen neben dem Aktenordner. „Bitte, holen Sie den Kaffee heraus, und brühen Sie uns einen Lebenswecker … jawohl, ich sagte ‚uns‘. Mir scheint, eine kleine Anregung können Sie heute morgen vertragen.“ Es war neun Uhr, als Anja das Zimmer des Hauptbuchhalters verließ. Die Frage, die auf Fräulein Vogels Lippen lag, blieb unausgesprochen, als sie das Mädchen ansah. Anja war so in Gedanken versunken, daß sie ihre 112
Umgebung nicht wahrnahm. Sie setzte sich an die Schreibmaschine, starrte lange auf den am Vorabend eingespannten leeren Briefbogen und begann schließlich wortlos zu arbeiten. Gegen Mittag holte der Bote die Post ab. Fräulein Vogel konnte eben noch verhindern, daß Anja ein Schreiben für die Kreditabteilung der Sparkasse in einen Umschlag schob, der an den VEB Chemie Export-Import adressiert war. Als sie allein waren, sagte Anja: „Ich danke Ihnen. Es war einfach zuviel, was heute morgen auf mich einstürmte. Zuerst versperrte mir der Boxer an der Haltestelle den Weg, und ich komme zu spät zum Dienst, und dann …“ Sie schwieg und schien wieder zu grübeln. „Meinen Sie den jungen Mann, der nach Feierabend manchmal auf Sie wartet?“ fragte die Chefsekretärin, obwohl sie wußte, wer gemeint war. Doch sie hoffte, daß das Mädchen sich auf diese Weise am ehesten bereit finden würde, weiterzuerzählen. „Ja“, entgegnete Anja gedehnt, „und ich mag ihn noch immer … als Freund. Aber er fordert hartnäckig, daß wir heiraten sollten. Heute morgen – stellen Sie sich das vor! – gab es eine Auseinandersetzung auf offener Straße. So unbeherrscht kenne ich ihn gar nicht. Er hätte beinahe geweint. Zuletzt hat er mir eine Karte für den nächsten Boxkampf geschenkt. Im Grunde genommen ist er ein guter Junge.“ Das alles mag dich mitgenommen haben, dachte Fräulein Vogel, aber die Schatten unter deinen Augen haben eine andere Ursache. „Versuchen Sie, Ihre privaten Sorgen während der Arbeitszeit zurückzudrängen“, riet sie freundlich, „vor allem während der nächsten drei Tage, wenn ich nicht hier bin.“ 113
Anja nickte. „Das wäre vorhin beinahe böse ausgegangen, wenn Sie nicht auf mich aufgepaßt hätten. Und solche Dummheiten kann ich mir nicht leisten, wenn ich mich zur Disponentin qualifiziere.“ Einen Moment lang schien es, als wollte Fräulein Vogel auf ganz unfeine Art durch die Zähne pfeifen, aber dann spitzte sie nur verblüfft die Lippen und sagte: „Ich gratuliere. Wie haben Sie denn das geschafft?“ „So wie Sie es mir empfohlen haben. Ich bin dem Chef vorhin bei einer Tasse Kaffee ziemlich um den Bart gegangen, und nun tritt er als Initiator der Frauenförderung auf – zumindest bei uns in der Buchhaltung.“ „Lassen Sie sich aber nicht mit Versprechungen abspeisen. Dringen Sie auf einen ordentlichen Qualifizierungsvertrag.“ „Darüber wird noch heute mit der Kaderleitung gesprochen. Ich werde die Betriebsakademie besuchen und eines Tages als Disponentin arbeiten.“ Bei dem Mädchen ist anscheinend der Knoten geplatzt, dachte Fräulein Vogel, und das kann nur gut für sie sein. „Aber was soll aus Herrn Hopfer werden?“ Diesen Gedanken sprach sie fast gegen ihren Willen aus. „Wieso?“ „Ich habe vor, für einige Monate verkürzt zu arbeiten, und Sie werden an manchem Nachmittag die Schulbank drücken müssen.“ „Wegen des Papierkrams hier und wegen eines Mannes, der daran einen Narren gefressen hat, werde ich doch nicht auf etwas verzichten, was mir nutzt“, sagte Anja unwillig. „Soll ich ewig Tippmädchen bleiben und zusehen, wie das Leben an mir vorbeigeht und nur andere ein gutes Geld einstecken? Hopfer wird schon wieder eine Sekretärin finden, wenn es soweit ist. Als Buchhalterin 114
oder Disponentin oder Einkäuferin stehe ich jedenfalls anders da als jetzt, und nur das ist wichtig für mich.“ „Natürlich“, sagte Fräulein Vogel und dachte: Vor vier Wochen noch wolltest du nichts weiter sein als das Hausputtchen für deinen Freund Caster. „Es ist schon richtig, daß Sie an Ihre Entwicklung denken. Trotzdem sollten wir versuchen, unsere Wünsche mit den Pflichten hier unter einen Hut zu bringen. Sehen Sie, ich arbeite seit Jahren als Chefsekretärin der Hauptbuchhaltung, und mir liegt am Herzen, daß nicht plötzlich alles drunter und drüber geht, weil Personal fehlt.“ „Ja, ja“, sagte Anja, aber ihr Blick verriet, daß es ihr gleichgültig war, wie die Arbeit ohne sie bewältigt werden würde. „Auf jeden Fall haben Sie heute etwas recht Verblüffendes zustande gebracht“, sagte Fräulein Vogel lächelnd. „Sie qualifizieren sich aus dieser Abteilung fort und behalten trotzdem das Wohlwollen unseres charmanten Garderobenständers.“ Anja schwieg. Auf ihrem Gesicht lag wieder der nachdenkliche Ausdruck, mit dem sie das Zimmer des Hauptbuchhalters verlassen hatte. Fräulein Vogel schien es, als sei Anja selbst erstaunt über diesen Erfolg. Sie sagte: „Nun haben Sie den Beweis dafür, was man mit Zivilcourage erreichen kann.“ Anja nickte. „Vielleicht haben wir bislang nur nicht richtig bemerkt, daß der Chef auch schwach werden kann – uns Frauen gegenüber.“ Wieder nickte Anja. „Vielleicht ist es das.“ Pünktlich um siebzehn Uhr flog mit Schwung die Tür auf. „Feierabend, meine Damen“, sagte Herr Hopfer, und zu Anja gewandt: „Achten Sie bitte morgen besonders 115
auf die Lohnlisten! Sobald der Bote eintrifft, prüfen Sie in seiner Gegenwart die Unterschriften, und danach kommen Sie sofort zu mir, damit ich abzeichnen kann. Das muß wie am Schnürchen klappen, die Leute wollen ihr Geld pünktlich ausgezahlt haben.“ Der Bote trat um elf Uhr ins Vorzimmer. Anja kontrollierte die Unterschriften. Sie waren vollzählig, und sie sagte dem Jungen, daß alles in Ordnung sei. Während sie zur Tür des Hauptbuchhalters ging, fiel ihr ein, daß er in den nächsten beiden Stunden nicht gestört werden wollte. Aber gestern, dachte sie, hat er verlangt, daß ich ihm die Listen sofort bringen soll. Sie entschied schließlich, den Chef während der nächsten zwei Stunden in Ruhe zu lassen. Nehmen wir an, der Bote sei nicht ganz pünktlich gekommen, sagte sie sich und legte die Listen auf Fräulein Vogels Arbeitsplatz. Eine halbe Stunde später ging sie aus dem Zimmer, um sich im Korridor, wo auf einem eisernen Gestell Topf und Tauchsieder bereitstanden, einen Kaffee zu brühen. Die Tür zur Hauptbuchhaltung war von diesem Platz aus nicht zu sehen. Anja trank eben den letzten Schluck, als Herr Hopfer zu ihr ins Zimmer sah. Er fragte freundlich, ob die Lohnlisten gebracht worden seien. „Ja.“ Sie trat zum Schreibtisch der Chefsekretärin, stutzte. „Ach, Sie … haben sie wohl eben weggenommen?“ „Aber Fräulein Bindseil! Dann würde ich Sie doch nicht danach fragen.“ Es klang amüsiert. „Einen Augenblick, bitte!“ Anja fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Jede Mappe, jeden Aktenvorgang, 116
der wohlgeordnet auf Fräulein Vogels Schreibtisch lag, hob sie auf, blätterte ihn durch. Was sie suchte, war nicht zu finden. „Ich verstehe das nicht“, sagte sie fassungslos, „sie lagen doch eben noch da.“ Der Hauptbuchhalter blickte auf seine Armbanduhr, stirnrunzelnd, unwillig. „Ich lasse Ihnen eine Viertelstunde Zeit, Fräulein Bindseil, dann möchte ich unterschreiben. Ab dreizehn Uhr wird Gehalt gezahlt.“ Er ging in sein Zimmer zurück. Die Listen werden heruntergefallen sein, als ich die Tür geöffnet habe, dachte Anja, legte sich flach auf den Fußboden und suchte. Verzweifelt durchwühlte sie Aktenschränke, den Papierkorb, sie sah an den unsinnigsten Stellen nach, getrieben von der Hoffnung, die Listen zu finden. Nach einer Viertelstunde trat der Hauptbuchhalter wieder ins Zimmer. Wie eine Gewitterwolke, dachte Anja, lächelte über diesen Vergleich, wunderte sich, daß sie in einer solchen Situation lächeln konnte, und fand, daß sie ganz schön mit den Nerven ’runter sei. „Na?“ „Nichts.“ Der kleine Mann wurde geisterhaft blaß. „Nichts“, wiederholte er, „ich verstehe.“ Dann sprach er weiter, hastig, erregt und mit Schärfe, aber ohne laut zu werden: „Seit gestern laufen Sie wie im Traum umher. In Ihrem hübschen Köpfchen spukt die Vorstellung von Fräulein Bindseil in der Betriebsakademie, Fräulein Bindseil als Disponentin, Fräulein Bindseil in gehobener Position mit entsprechender Gehaltsstufe. Und für diese Träume müssen nun die Angestellten und Verkäuferinnen des größten Warenhauses unserer Stadt büßen, denn sie können zum gesetzlich festgelegten Zahltag kein Gehalt ausgezahlt 117
bekommen. Ganz abgesehen davon, daß Sie mich unmöglich machen. Das wird Kontrollen und Untersuchungen nach sich ziehen, und an mir, dem Hauptbuchhalter, bleibt der Makel hängen. An mir, verstehen Sie, nicht an einer kleinen Sekretärin!“ Sein Ärger war so maßlos, daß er sich erregt gegen die magere Brust schlug. „Aber ich werde schon dafür sorgen, daß dieser Vorfall auch für Sie nicht ohne Folgen bleibt. Ich wünsche jedem, daß er vorwärtskommt, doch er muß auch das Zeug dazu haben. Über Ihren Qualifizierungsvertrag werde ich mich noch sehr eingehend mit der Kaderleiterin unterhalten.“ Nach diesen Worten zog er sich geräuschvoll in sein Zimmer zurück. Anja saß wie gelähmt. Selbst das Telefon löste sie nicht aus ihrer Erstarrung. Herr Hopfer kam hereingeweht, riß den Hörer von der Gabel, sagte: „Augenblick“ und drückte ihn Anja in die Hand. „Ein Herr Caster ist am Apparat“, sagte er ärgerlich, „können Sie nicht einmal mehr Ihr eigenes Gespräch entgegennehmen?“ „Als ich nach drei Tagen die Arbeit wiederaufnahm, fand ich das Mädchen völlig verbittert vor“, erzählte Fräulein Vogel. „Die Listen blieben unauffindbar. Es gab ziemlich viel Ärger mit den Angestellten, denen das Gehalt nicht ausgezahlt werden konnte, und die Kaderleiterin schob – natürlich auf Drängen von Herrn Hopfer – den Abschluß des Qualifizierungsvertrages auf. Was die verschwundenen Listen angeht, so stand Anja vor einem unlösbaren Rätsel. Ich übrigens auch, falls sich alles so zugetragen hatte, wie sie es mir darstellte. In den folgenden Tagen wurde ich das Gefühl nicht los, daß ich der einzige Mensch war, dem Anja ohne Mißtrauen und 118
innere Abwehr begegnete. Damals erzählte sie mir auch, daß Caster verheiratet sei und wie sie es erfahren hatte. Da kannte ich den Grund für ihren Nervenzusammenbruch und ihr verändertes Wesen.“ „Unglaublich, wie tief dieser Mann in Anjas Leben eingegriffen hat“, sagte Simosch. Wenn ich nur wüßte, ob das wörtlich zu nehmen ist, dachte er. Es gibt zwei Bereiche, wo ich den Täter und das Motiv für den Mord zu suchen habe: in der Beziehung des Mädchens zu Caster und in ihrer Arbeitssphäre. Ich muß unbedingt auf Verbindungsglieder zwischen beiden Lebenskreisen achten. Eines kenne ich schon – das Geld, das sie hier verdiente oder unterschlug und das sie brauchte, um Caster zurückzugewinnen. „Manchmal“, sagte die Chefsekretärin, „hat eine Kleinigkeit eine Wirkung, die in gar keinem Verhältnis zu den Ereignissen steht, die durch diese Kleinigkeit ausgelöst werden. Es passiert wohl tausendfach: Ein Mädchen kommt dahinter, daß der Mann, den es liebt, eine andere hat oder gebunden ist, aber es wird vielleicht nur einmal eine solche Tragödie daraus wie bei Anja Bindseil. Für sie war Caster – verzeihen Sie, wenn es pathetisch klingt – das Leben, an dem sie bisher nicht teilzunehmen gewagt hatte.“ „Wie wurde sie denn damit fertig, daß die Kaderleiterin ihren Qualifizierungsvertrag hinauszögerte?“ „Ich weiß nicht, ob sie überhaupt damit fertig geworden ist. Wäre Caster noch bei ihr gewesen, hätte sie die ganze Situation sicherlich leichter, mit mehr Selbstbewußtsein durchgestanden. Sie dachte in diesen Tagen sehr oft an ihn. Ich entnahm es vielen ihrer Bemerkungen. Sie vertraute mir auch an, daß sie ihn eines Abends wieder angerufen habe; am Morgen darauf kam sie mit 119
verweinten Augen zu spät zur Arbeit. Sie hatten wohl beide noch nicht den Schlußstrich unter ihre Beziehungen gesetzt, aber ihre und seine Erwartungen unterschieden sich wesentlich voneinander. Für Anja war ein Satz, den Caster einmal geäußert hatte, von besonderer Bedeutung. Er hatte zu ihr gesagt: Ich brauche dich doch. Darauf schien sie ihre Hoffnung und ihre Zukunftspläne zu bauen, und deshalb wollte sie unbedingt seine Frau kennenlernen. Sie wollte wissen, wer das war, der da zwischen ihr und Caster stand, und so fuhr sie eines Abends in die Hegelstraße. Vom Gartentor aus beobachtete sie Casters Frau und seine Tochter. Als Caster mit dem Wagen in die Straße einbog, lief sie davon. Am nächsten Tag sagte sie mit naiver Gewißheit zu mir: ‚Diese Frau ist auszustechen.‘ Auch das waren Worte, die sie vor ihrer Krankheit nicht über die Lippen gebracht hätte.“ Nachdenklich nickte der Oberleutnant. „Wie hat sie eigentlich gearbeitet nach dieser Panne mit den Lohnlisten?“ „Wie besessen“, sagte Fräulein Vogel spontan. „Sie erledigte ihre Aufgaben mit nahezu pedantischer Gewissenhaftigkeit und kümmerte sich sogar um Dinge, die nicht unmittelbar zu ihrem Arbeitsbereich gehörten.“ Simosch horchte auf. „Was waren das für Dinge?“ „Anja hielt sich zum Beispiel länger als nötig bei den zu unterschreibenden Quittungen auf und prüfte die Unterlagen. Ich glaube, sie wollte die vermasselte Qualifizierung auf ihre Art durchsetzen, indem sie sich Einblick in die buchhalterische Praxis verschaffte, vom Wareneingang bis zum Verkauf.“ „Hm. Und wie hat sie das zeitlich bewältigt?“ „Indem sie von morgens bis abends durchgeackert hat. Mittags trank sie am Schreibtisch eine Brause und aß 120
mitgebrachte Brote. Es hat sich hier eingebürgert, daß wir Sekretärinnen uns zur Kaffeepause zusammensetzen oder gemeinsam zu Mittag essen. Anja schloß sich nach ihrer Krankheit davon aus. Sie sprach kaum noch mit jemandem und war, wie ich schon sagte, auf ihre stille Art sehr verbittert. Doch das heißt nicht, daß sie sich gehenließ. Im Gegenteil, sie begann mehr denn je auf ihr Äußeres zu achten. Vielleicht gehörte das zu ihrem Plan, Frau Caster auszustechen, vielleicht gab ihr ein gepflegtes Äußeres einfach mehr Selbstgefühl.“ „Und wie verhielt sich Herr Hopfer zu ihr?“ „Korrekt. Es gibt, wahrhaftig kein passenderes Wort dafür. Er traf seine Anordnungen sachlich, hin und wieder mit einem freundlichen Wort, aber er ging nie so weit, sich nach ihrem persönlichen Befinden zu erkundigen oder überhaupt eine Bemerkung fallenzulassen, die nicht mit der Arbeit im Zusammenhang stand. Ihren Qualifizierungsvertrag erwähnte er ebensowenig wie die verschwundenen Listen. Bis zu dem Tag, an dem sie sich wieder einfanden. Aber da erschien Anja nicht zur Arbeit.“ „Am Abend zuvor war sie bei Casters Frau gewesen“, sagte Simosch. „Sie wußten davon, nicht wahr?“ „Ja. Ich habe versucht, ihr das auszureden, aber sie, die früher meine Ratschläge in Ruhe geprüft und durchdacht hatte, lehnte sie jetzt rundweg ab. Nicht grob oder verletzend, noch immer ruhig, behutsam beinahe, aber konsequent.“ „Ich denke, Ihnen hat sie als einzige hier vertraut?“ „Das ist etwas anderes. Ich war eine Art seelischer Müllabladeplatz für Anja, und ich bin ihr deshalb nicht böse. So etwas braucht wohl jeder Mensch. Von Zeit zu Zeit wenigstens. An jenem Abend jedenfalls, als sie zu 121
Frau Caster gehen wollte, zog sie pünktlich um siebzehn Uhr die Hülle über ihre Schreibmaschine …“ Anja deckte die Schreibmaschine zu und räumte ihren Arbeitsplatz auf. Herr Hopfer rief eben sein „Feierabend, meine Damen!“ durch die Tür. Während die Chefsekretärin Papiere im Schrank verschloß, beobachtete sie unauffällig Anja, die, den Spiegel ihrer Puderdose vor das Gesicht haltend, sich die Lippen nachzog. Langsam, vorsichtig. Der helle Perlmuttstift paßte ausgezeichnet zur Frische ihrer Haut. Zögernd griff sie nach dem Wangenrot. „Nein!“ rief Fräulein Vogel, als sei das Mädchen im Begriff, eine schwerwiegende Sünde zu begehen. „Das Rouge lassen Sie bitte weg, dazu sind Sie noch zu jung. Geben Sie den Lidstrichen einen kleinen Schwung nach oben, und Sie sind perfekt zurechtgemacht.“ „Danke“, sagte Anja, „genau das wollte ich heute abend erreichen. Ich gehe jetzt zu Frau Caster.“ Da der Hauptbuchhalter eben mit der Aktentasche unter dem Arm durch das Zimmer schritt, hielt Fräulein Vogel eine Erwiderung zurück. „Angenehmen Abend wünsche ich.“ Er lächelte seiner Chefsekretärin zu und warf auch einen Blick auf Anja, nicht flüchtig, wie er es in den letzten Tagen getan hatte, sondern verwundert, fragend. Aha, dächte Fräulein Vogel, sogar er beginnt den Schwan in unserem Entlein zu entdecken. Vielleicht schafft sie es, mit typisch weiblichen Mitteln sein Wohlwollen zu erlangen. Anja erwiderte den Blick ihres Chefs nicht. Sie kramte in der Handtasche. Als sie allein waren, sagte Fräulein Vogel: „Sie sollten das lieber bleiben lassen, Anja.“ 122
„O nein, es muß sein.“ „Warum? Was versprechen Sie sich davon?“ „Ich habe lange über alles nachgedacht, und es fällt mir gar nicht leicht, ihm zu verzeihen, denn er hat mich monatelang belogen und betrogen. Aber warum hat er es denn getan? Doch nur, um mich nicht zu verlieren.“ „Oder um seine Familie nicht aufzugeben.“ „Warum das? Womit hält ihn diese Frau? Das muß ich herausfinden, aber ich kann es nicht, wenn ich mich abends vor ihr Gartentor stelle und sie anstarre. Ich muß mit ihr sprechen, um zu erfahren, wie sie denkt und fühlt. Sie ist fünfzehn Jahr älter als ich, aber sie ist nicht häßlich. Und dumm wohl auch nicht. Und sie verdient eine Menge Geld als Innenarchitektin. Ist es nur das, was Heinz an sie bindet? Ich weiß jetzt, wie empfänglich er für Äußerlichkeiten ist, aber ich weiß genausogut, daß er darunter leidet, nicht mehr mit mir zusammen zu sein. Und ich brauche ihn auch. Ich habe versucht, mich in andere Männer zu verlieben – sie bedeuten mir nichts. Ich bin lahm ohne ihn und blind, habe zwei linke Hände und keinen Mut.“ „Das bilden Sie sich nur ein. Sie haben doch in letzter Zeit eine Menge verkraftet.“ „Aber wie“, sagte sie traurig, „und nur, weil ich hoffe, Heinz wiederzukriegen.“ „Anja, glauben Sie mir, das geht nicht gut aus. Die Bekanntschaft eines jungen Mädchens löscht nicht einfach zehn Jahre Ehe aus.“ „Das kommt wohl auf die Ehe an, denke ich. Was wir füreinander fühlen, ist stärker als zehn Jahre Form ohne Inhalt.“ „Was Sie für ihn fühlen, vielleicht. Aber seine Liebe scheint mir doch sehr mit Konventionen, Bequemlichkeit und Wohlstand belastet zu sein.“ 123
„Ich bin bereit, Zugeständnisse zu machen und mehr Wert als bisher auf diese Dinge zu legen …“ Sie unterbrach sich, hing einem Gedanken nach und fragte schließlich lächelnd: „Haben Sie schon mal durch ein verkehrt ’rum gehaltenes Opernglas geguckt?“ „Natürlich.“ „Ist es nicht verblüffend, wie entfernt da Menschen und Dinge sind, nein, zu sein scheinen, die in Wirklichkeit neben uns stehen? Sehen Sie, so geht es mir zur Zeit mit Heinz. Er ist mir nach wie vor nah, aber in seiner Ehe sehe ich ihn wie durch ein verkehrt ’rum gehaltenes Opernglas. Ich muß diese falsche Optik zerbrechen, damit ich Heinz wieder mit eigenen Augen dort stehen sehe, wo er immer sein wird, neben mir.“ Sie ergriff ihre Handtasche, nickte Fräulein Vogel einen Gruß zu und verließ das Zimmer. Am nächsten Morgen schloß die Chefsekretärin wie gewohnt ein Viertel vor acht das Vorzimmer auf und räumte ihre Arbeitsutensilien aus dem Schrank. Zehn vor acht dachte sie, daß Anja nach dem Besuch bei Frau Caster wohl wieder eine schlechte Nacht gehabt haben mochte und zu spät kommen würde. Von nun an blickte sie alle zwei Minuten zur Uhr und durch die ein wenig offenstehende Tür in den Korridor hinaus. Fünf vor acht deckte sie Anjas Schreibmaschine auf, spannte einen Bogen ein und legte Papier, Stenoblock und Bleistifte zurecht. Als Herr Hopfer eintrat, konnte er annehmen, beide Sekretärinnen seien im Hause. Er begrüßte Fräulein Vogel und bat sie, Fräulein Bindseil Bescheid zu sagen, daß er sie zwanzig Minuten nach acht zum Diktat erwarte. Nach weiteren zehn Minuten saß eine absolut ratlose Chefsekretärin an der Schreibmaschine und sagte leise zu 124
sich selbst: „Mädchen, wenn du in den nächsten fünf Minuten nicht hier auftauchst, sehe ich keine Möglichkeit mehr, dir zu helfen.“ Sie stand mit dem Rücken zur Tür, als diese aufgerissen wurde. „Nun aber Tempo“, sagte sie aufatmend, „der Chef …“ Dann merkte sie, daß es nicht Anja war, die ins Zimmer trat, sondern die Sekretärin des ökonomischen Direktors, vierzigjährig, korpulent, mit goldumrandeter Brille und seil einem Jahrzehnt im Dienst. Mit hochrotem Gesicht hielt sie Fräulein Vogel eine Mappe entgegen. „Das … habe ich nicht gewußt und nicht gewollt. Bitte, glauben Sie mir. Und es tut mir so leid für Fräulein Bindseil.“ Verständnislos nahm die Chefsekretärin den Hefter entgegen und schlug ihn auf. „Die Lohnlisten“, sagte sie entgeistert, „um Himmels willen, wo haben Sie die gefunden?“ Die Frau ließ sich auf Anjas Stuhl nieder und erzählte, was geschehen war. Am Tage der Gehaltszahlung hatte sie mit einem Stapel Papiere, die sie zur Ablage bringen wollte, das Sekretariat des Hauptbuchhalters betreten, um mit Anja zu sprechen. Aber das Zimmer war leer. Sie legte ihre Bürde ab, setzte sich und wartete. Da es ihr zu lange dauerte, bis das Mädchen zurückkam, raffte sie ihren Papierkram schließlich zusammen und fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller zur Ablage, nicht wissend, daß sie die Lohnlisten mitgegriffen hatte. An diesem Morgen nun hatte ihr Chef eine Auskunft erbeten, die sie ihm nur geben konnte, wenn sie einen Brief aus dem vor Wochen abgelegten Stapel noch einmal durchlas. Bei der Suche nach diesem Brief war sie auf die Lohnlisten gestoßen. 125
Nachdem sie gegangen war, klopfte die Chefsekretärin an Herrn Hopfers Tür.. „Kommen Sie nur herein, Fräulein Bindseil.“ Wortlos trat sie ein, schenkte seinem erstaunten „Nanu?“ keine Beachtung und legte den Hefter auf den Schreibtisch. „Fräulein Bindseil ist heute nicht zur Arbeit gekommen“, sagte sie, ließ ihre Hand einen Augenblick lang auf den Hefter ruhen, schlug ihn dann langsam auf und schob ihn zu Herrn Hopfer hinüber. „Ich glaube, sie hat sehr darunter gelitten.“ „Das sind ja … die Lohnlisten!“ rief er überrascht. „Was soll das? Woher haben Sie die?“ Sie erklärte es ihm, ruhig, sachlich und doch mit leisem Vorwurf. „Und ich dachte …“ Sein Blick bat um Entschuldigung. „Aber wer hätte denn daraufkommen können?“ Fräulein Vogel schwieg, er aber sprach weiter, als habe sie seine Frage beantwortet: „Sie meinen, man hätte gründlicher nachforschen müssen, prüfen, ob jemand das Zimmer betreten hat? Aber Fräulein Bindseil gab sich so … so schuldbewußt, daß …“ Er brach den Satz ab, kam hinter dem Schreibtisch hervor und fragte: „War ich ungerecht zu ihr?“ Fräulein Vogel suchte noch nach einer Antwort, als er schon weitersprach: „Bitte, Sie können es doch beurteilen: Habe ich das Mädchen ungerecht behandelt?“ „Ein Irrtum kann jedem unterlaufen“, entgegnete sie zurückhaltend. „Ansonsten waren Sie korrekt.“ Er nickte mehrmals. „Und nun ist sie nicht zur Arbeit gekommen! Wahrscheinlich wieder die Nerven. Ich werde zu ihr gehen. Was halten Sie davon, wenn ich Fräulein Bindseil mit ein paar netten Worten sage, daß sich die Listen angefunden haben, und ich mich 126
dafür entschuldige, daß ich sie verdächtigt habe. Ob sie das ein bißchen aufrichtet?“ „Ich denke schon.“ Er holte Hut und Mantel aus dem Schrank und sagte, bereits in der Tür: „Es tut mir aufrichtig leid. Aber nun kommt gewiß alles in Ordnung.“ „Er hat Anja an diesem Morgen nicht angetroffen“, erzählte Fräulein Vogel, „sie war wohl schon …“ Sie verschluckte das letzte Wort und stützte den Kopf wieder in die Hände. „Ja, an diesem Morgen war sie bereits tot.“ Eine Weile saßen sie schweigend da und vermieden es, einander anzusehen. „Glauben Sie mir“, sagte Simosch schließlich leise, „ich würde lieber über angenehmere Dinge mit Ihnen sprechen. Aber es ist …“ „Ich verstehe. In diesem Mordfall sind erst einmal alle verdächtig, die Anja gekannt haben. Ohne Ausnahme, nicht wahr?“ „Ja. Ohne Ausnahme. Doch irgendwann wird auch dieser Fall geklärt sein. Und dann …“ „Wer weiß, was dann ist.“ Simosch stand schon in der Tür zu Herrn Hopfers Zimmer, in Gedanken bei Anja Bindseil und bei den Unterschlagungen, die im Warenhaus begangen worden waren, deshalb fiel ihm die Hoffnungslosigkeit nicht auf, die aus Silbervogels Worten sprach. Er winkte Leutnant Rückert, fragte ihn, ob er ein paar Minuten Zeit habe, und Rückert kam heraus. Fräulein Vogel, die Situation schnell erfassend, sagte: „Ich muß noch Geschirr spülen.“ und verließ das Zimmer. „Wie steht’s?“ fragte Simosch. 127
„Schlimm. Um das ganze Ausmaß dieses Betruges aufzudecken und um dahinterzukommen, wer daran beteiligt war, müssen wir mehrere Revisoren einsetzen und Mitarbeiter aus dem Finanzministerium hinzuziehen.“ „Ist ein solcher Aufwand unbedingt nötig?“ „Leider. Das ist nun mal kein Knopfladen hier, sondern ein Centrum-Warenhaus, dessen Unterlagen vom Wareneingang über sachliche und finanzielle Werte bis hin zu den Verkaufsbelegen überprüft werden müssen. Inventurlisten sind einzusehen, und es muß festgestellt werden, ob die Geldbewegungen mit den anderen Vorgängen synchron laufen oder ob sich aus irgendwelchen Gründen Abweichungen ergeben.“ „Anja Bindseil hat sich in den letzten Wochen vor ihrem Tod auffällig für die Unterlagen der zu zahlenden Rechnungen interessiert. Können Sie mit diesem Hinweis etwas anfangen?“ „Es wäre ein Grund“, sagte Rückert nachdenklich, „vom Gericht die Erlaubnis einzuholen, daß ihr Konto überprüft wird. Vielleicht haben wir dann eine Täterin ganz schnell entdeckt. Haben Sie gehört, ob sie in letzter Zeit über ihre Verhältnisse gelebt hat?“ „Kaum. Etwas Garderobe und Kosmetik hat sie sich zugelegt. Wieso betonen Sie eine Täterin?“ „Wer immer die Rechnungen gedoubelt hat – ein solcher Betrug kann nicht von einer Person allein bewältigt werden. Zumindest ein Vertrauter oder eine Vertraute muß im Spiel gewesen sein.“ „Aber Anja Bindseil hatte in diesem Hause zu keinem Menschen nähere Beziehungen, ausgenommen die Chefsekretärin.“ „Dann ist vielleicht diese Chefsekretärin mehr als eine Frau, die man gern ansieht. Aber wie gesagt: Es ist 128
alles noch offen. Und daß zwei Sekretärinnen aus der gleichen Abteilung so ein Ding gedreht haben … na, ich weiß nicht. Für wahrscheinlicher halte ich, daß der Helfershelfer in einer GHG zu suchen ist, wo er das Geld der doppelt ausgestellten Rechnungen abfangen und auf ein Konto überweisen konnte.“ „Vielleicht ist es so gewesen“, sagte Simosch ohne Schwung. Er überlegte, wie Anja Verbindung zu einem Mitarbeiter einer GHG aufgenommen haben könnte. Ihre Welt war Caster gewesen und das Vorzimmer hier und … ja, und Silbervogel, die seit Jahren in diesem Haus arbeitete, die einen größeren Weitblick und bessere Möglichkeiten hatte, geschäftliche Verbindungen zu Großeinkaufszentren aufzunehmen und zu nutzen. Blöder Beruf! Wenn Silbervogel hinter diesen Betrügereien steckt, gebe ich keinen Pfennig mehr für meine Menschenkenntnis. Und der Hauptbuchhalter? Daß Anja Bindseil mit ihm zusammengearbeitet hat, war wohl bei dem gespannten Verhältnis der beiden kaum anzunehmen. Er fragte den Leutnant: „Für die Unterzeichnungsberechtigten war es also schwierig, hinter den Betrug zu kommen?“ „So gut wie unmöglich, solange sie keinen Verdacht schöpften. Selbst bei einer Routinerevision stößt man schwerlich darauf.“ „Und wie haben Ihre Leute es herausgefunden?“ „Durch den verrückten Betrag von siebentausendsieben Mark. Der Revisor lachte darüber, aber als er am nächsten Tag die gleiche Rechnung mit der gleichen GHG in der Hand hielt, stutzte er, suchte die geprüften Rechnungen vom Vortag heraus und brachte damit die Lawine ins Rollen.“ 129
„Hm.“ Simosch rieb sich die Handgelenke. „Die böse Sieben also.“ Er dachte, daß dem pedantischen Hopfer oder einem anderen der Zeichnungsberechtigten die doppelte Siebenerrechnung auch hätte auffallen können. Und wie zum Beispiel hätte dieser Prototyp eines Hauptbuchhalters reagiert, wenn er durch solchen Zufall hinter ein derartiges Vergehen in seiner Abteilung gekommen wäre? War sein Ehrgeiz so groß – oder gar krankhaft, daß er einen Menschen tötete, um die Unterschlagungsaffäre zu vertuschen? Der Oberleutnant konnte sich mit dieser Version nicht anfreunden. Der kleine, sicherlich oft unbequeme Herr Hopfer erschien ihm zu klug, als daß er gleich zur Schere gegriffen hätte, um ein Loch herauszuschneiden, das seinen Anzug verunzierte. „Brauchen Sie mich noch?“ fragte Leutnant Rücken. „Nur eine Frage: Halten Sie es für richtig, daß wir den Hauptbuchhalter eingeweiht haben?“ „Unbedingt. Anfangs dachte ich zwar, er dreht durch, als er erfuhr, wie es in seinem geliebten, untadeligen Arbeitsgebiet wirklich aussieht, aber er hat es geschluckt. Mit Fassung und Baldrian. Jetzt ist er uns eine große Hilfe.“ „Ich möchte sein Alibi überprüfen. Bitte, schicken Sie ihn zu mir.“ Fast im gleichen Augenblick, als der Leutnant das Zimmer verließ, steckte die Chefsekretärin den Kopf zur Tür herein. „Na?“ „Oh“, sagte Simosch, „ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch ein bißchen Geschirr fänden, das gespült werden muß.“ „Läßt sich einrichten.“ Sie holte ihr Manikürezeug aus dem Schreibtischfach, zwinkerte Simosch zu und verschwand wieder. 130
Der Hauptbuchhalter wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er eintrat, und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. „Bitte, Herr Oberleutnant“, sagte er matt. Er sieht mitgenommen aus, dachte Simosch. Rückert muß darauf achten, daß man ihn nicht überfordert. „In diesen Tagen werden Sie größeren Belastungen ausgesetzt sein als sonst“, begann er. „Sagen Sie uns Bescheid, wenn wir Sie über Gebühr beanspruchen.“ Der kleine Mann seufzte. „Vor der Arbeit kapituliere ich nicht so schnell. Es sind die Umstände, die mich belasten. Einen Betrug über Tausende, vielleicht Zehntausende Mark, das … verkrafte ich schwer.“ „Haben Sie irgendeinen Verdacht, Herr Hopfer?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nur sicher, daß es niemand aus meiner Abteilung gewesen sein kann.“ „Wieso?“ „Ich bitte Sie! Mit meiner Chefsekretärin arbeite ich seit Jahren zusammen. Es gibt keinen zuverlässigeren Menschen als sie. Und Fräulein Bindseil war wohl zu kurze Zeit hier beschäftigt, als daß sie ein solches Betrugsmanöver hätte organisieren können.“ „Na, lassen wir das“, sagte Simosch. „Wo haben Sie sich am Vorabend jenes Tages aufgehalten, an dem Ihre Sekretärin nicht zur Arbeit erschien?“ Völlig überrascht entgegnete der kleine Mann: „Aber … woher soll ich das jetzt noch wissen?“ „Am folgenden Tag tauchten die verschwundenen Lohnlisten wieder auf, und Sie fuhren zu Fräulein Bindseils Wohnung …“ „… ich traf sie aber nicht an und unterhielt mich mit einem Mädchen, das mit ihr zusammen wohnte.“ Hopfer blickte Simosch dankbar an. „Daran erinnere ich mich genau. Es ist, als hätte man ein Knäuel in der Hand, von 131
dem man die zurückliegenden Ereignisse wie einen Faden abspulen kann. Mir fällt jetzt auch ein: An jenem Abend bin ich nach Birkenwalde zum Frühlingsfest gefahren. Wie in jedem Jahr. Der Wirt vom ‚Stillen Otto‘ ist ein Bekannter von mir. Er hatte mir wieder ein Zimmer reserviert.“ „Ein Frühlingsfest mitten in der Woche?“ fragte der Oberleutnant skeptisch. „Es dauert von Donnerstag bis Sonntag und beginnt mit einem Schlachtefest. Deshalb fahre ich hin. Den Freitag lasse ich aus, und dann bin ich Samstag und Sonntag wieder dort.“ Simosch versuchte sich den spillerigen Mann inmitten von Dorfschenkenlärm, Blasmusik und drallen Mädchen vor einer Schüssel frischer Wurst mit Sauerkohl vorzustellen, doch seine Phantasie streikte. Stille, Papier und Zahlen – das war alles, womit er sein Bild von Herrn Hopfer garnieren konnte. „Birkenwalde“, wiederholte er nachdenklich, „das liegt mindestens fünfzig Kilometer von hier entfernt.“ „Sechzig Kilometer Bahnstrecke“, präzisierte der Hauptbuchhalter. „Ist wirklich ziemlich anstrengend, abends den Zug zu nehmen und morgens um fünf Uhr vierzig mit dem Bus zurückzufahren.“ „Haben Sie diese Verbindung benutzt?“ „Ja.“ „Sind Sie von Bekannten gesehen worden, die das bezeugen können?“ „Von niemandem, mit dem ich persönlichen Kontakt pflege. Aber auf der Hin- und auch auf der Rückfahrt waren Leute im Abteil, die sich sicherlich an mich erinnern würden, wenn man sie fragte. Eine Frau zum Beispiel, die hier in der Stadt als Kellnerin arbeitet.“ 132
Simosch notierte sich das Lokal. „Das waren exakte Auskünfte. Ich danke Ihnen, Herr Hopfer.“ Er begleitete ihn in sein Arbeitszimmer zurück und sagte leise zu Leutnant Rückert: „Um siebzehn Uhr in der Dienststelle.“ Als er ging, ließ er die Tür zum Vorzimmer absichtlich zuschlagen, aber Silbervogel schien das ebensowenig gehört zu haben wie seine betont lauten Schritte im Korridor. Er schaute um die Ecke, wo das Gestell mit Wassertopf und Tauchsieder stand, riskierte sogar einen Blick durch die Tür mit der Aufschrift Waschraum Frauen. Dann quälte er sich noch ein trockenes Husten ab, aber Silbervogel zeigte sich nicht. 10 Mit einem Alibi, dachte der Oberleutnant, kann es einem wie mit einer Frau ergehen: Wer sich zu sehr damit brüstet, dem traut man nicht. Eine schöne Freundin provoziert den Gedanken, sie könne nicht treu sein, so wie ein auffälliges Alibi Mißtrauen herausfordert. Ewig Unbeweibten gegenüber neigt man zum Argwohn, sie gleichen Verdächtigen ohne Alibi. Doch blind vertrauen, resümierte Simosch, sollte man weder einer Frau noch einem Alibi. Jochen Maar, dachte er weiter, hatte seines schlicht und glaubwürdig vorgebracht, und doch war es Lüge gewesen. Hauptwachtmeister Seidel war dahintergekommen. Nun stand Simosch, der eben aus dem Polizeiwagen gestiegen war, vor einer Mauer aus Backsteinziegeln, gewaltig wie ein Schutzwall, den man gegen bewaffnete Eindringlinge errichtet hatte. Doch hier drang niemand 133
gewaltsam ein. Wer hergebracht wurde, kam unfreiwillig, hatte sein Zuhause verloren oder war verlassen worden, so wie vor Jahren Anja. Der Oberleutnant schritt über einen sauber geharkten Weg, der zu beiden Seiten von Stiefmütterchen und Margeriten gesäumt wurde. Das Haus, ehemals die Villa eines Industriellen, war bis unter das Dach efeubewachsen, es wirkte warm, lebendig und verträumt zugleich. Der Kriminalist hatte sich telefonisch angemeldet und wurde vom Heimleiter erwartet, einem vital wirkenden, nicht sehr großen Mann mit wasserblauen Augen. Er empfing den Besucher in einem Eckzimmer, halb Wohnraum, halb Büro, freundlich eingerichtet und doch ohne Atmosphäre, fand Simosch, der es mit Silbervogels Vorzimmer verglich. Im Haus war es still wie in einer Wohnung, wenn die Familie ihren Sonntagmittagsschlaf hält. Der Heimleiter bot Simosch Platz an und wies auf zwei Schnellhefter, die nebeneinander auf seinem Schreibtisch lagen. Anja Bindseil stand auf dem einen, Jochen Maar auf dem anderen, und der Leiter sagte: „Für uns gehörten sie zusammen, Anja und Jochen, eine saubere Jugendfreundschaft. Wir haben den beiden mehr Freiheiten zugebilligt als den anderen Pärchen.“ Wie das zu verstehen sei, wollte Simosch wissen. In diesem Alter, zwischen vierzehn und achtzehn, erklärte der Heimleiter, suchen Jungen und Mädchen normalerweise einander, und häufig kommt es zu Partnerbeziehungen, die nur auf sexueller Neugier beruhen. Derartige Verbindungen zerfallen leicht wieder, neue werden gesucht und eingegangen. Einige Zöglinge seien in dieser Hinsicht echte Sorgenkinder, und man müsse ihren Umgang überwachen. 134
Nicht so bei Anja und Jochen. Sie, in sich gekehrt, von sanftem Wesen, vertraute sich dem Jungen an wie einem Bruder. Er, ruhig, von etwas schwerfälliger Natur, war ihr ein guter Freund und Beschützer gewesen. „Vor wem mußte Anja denn beschützt werden?“ fragte der Oberleutnant. Vor jungen Burschen, meinte der Heimleiter, deren heftiges Werben sie erschreckte. Die hätten sich ihr gern genähert, wäre nur dieser Jochen Maar nicht gewesen. „Es war eine der saubersten Freundschaften“, erinnerte sich der Heimleiter, „die es in diesem Haus je gegeben hat.“ Als Simosch fragte, ob der Name Caster dem Heimpersonal bekannt sei, erfuhr er, daß Casters Betrieb dem Heim sechs Urlaubsplätze an der See und zehn im Harz zur Verfügung gestellt und Caster die Verhandlungen geführt hatte. Über eine persönliche Beziehung zwischen ihm und Anja Bindseil wußte der Heimleiter nichts, und der Oberleutnant ließ dieses Thema schnell fallen. Ihn interessierte Jochen Maar. „Warum wurde der Junge hier eingewiesen? Ich habe gehört, seine Mutter lebt noch.“ „Sein Stiefvater auch“, ergänzte der Heimleiter, öffnete den Hefter, auf dem Jochen Maars Name stand, schlug ihn aber wieder zu, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. „Ich kenne seine Geschichte auch so“, sagte er. „Der Junge war weich und sensibel und besaß die für ein Kind erstaunliche und, wie sich später herausstellte, auch gefährliche Fähigkeit, seine Gefühle verbergen zu können. Er verkraftete eine ganze Menge, wie man so schön zu sagen pflegt. Er verkraftete, daß seine Mutter einen Mann heiratete, der sich nichts aus Kindern machte und ihr mühevoll verdientes Geld zur Rennbahn trug, er nahm ohne sonderliche Regung hin, daß der Mann ihn 135
beschimpfte, manchmal sogar schlug und daß die Mutter doch mehr zu ihm hielt als zu ihrem eigenen Kind. Eines Tages brachte Jochen eine junge Katze mit …“ „Schaff sie aus dem Haus“, sagte Frau Maar, „der Alfred mag keine Katzen.“ „Wenn ich sie zurückbringe, wird sie ersäuft.“ „Das passiert auch, wenn sie dem Alfred über den Weg läuft.“ „Nein“, sagte der Junge, er war damals fünfzehn fahre alt. Er drückte das Tier an sich und brachte es in sein Zimmer. An der Tür sah er sich nach seiner Mutter um, und mit einem nahezu fanatischen Ausdruck in den Augen, den Frau Maar bis dahin noch nicht an ihm bemerkt hatte, sagte er: „Die Katze bleibt am Leben. Sie hat nur mich, und ich habe nur sie.“ Frau Maar empörte sich, was er da für Zeug rede. Ob etwa sie, seine Mutter, ihm weniger bedeute als eine Katze? „Du bist nur für diesen Alfred da“, entgegnete der Junge, „und ich bin ein Stück Pflicht, das du noch erfüllen mußt, bis ich achtzehn werde.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, kaufte noch am gleichen Abend Milch und einen Bückling und gab es der Katze. Er baute ihr ein Kästchen, erzog sie zur Sauberkeit, und sie gewöhnte sich schnell an ihn. Ging er aus dem Haus, begleitete sie ihn bis zur Straßenecke; kam er zurück, sprang sie vom Fensterbrett und strich ihm um die Beine. Sie störte niemanden. Herrn Alfreds gelegentliche Schimpftiraden über stinkende Katzenviecher quittierte sie mit verächtlichem Maunzen. Eines Abends saß sie nicht am Fenster. Jochen rief vergeblich nach ihr, im Zimmer, in der Küche, im Hof. Er fragte die Mutter und merkte, daß sie log, als sie sagte, sie 136
wisse von nichts. Er ahnte schon, was geschehen war, und vielleicht wäre alles noch anders gekommen, wenn die Mutter mit ihm gesprochen und er sich bei ihr ausgeweint hätte, bevor Herr Alfred erschien. So aber verdrängte der Junge die Tränen ebenso wie den Haß, der ihn zittern ließ. Abends fragte er den Stiefvater, ob er wisse, wo seine Katze sei. Wo sie hingehöre, antwortete der, in der Mülltonne. Der Junge stürzte aus dem Zimmer, und Herr Alfred lachte. Er trank eben einen Schluck Bier aus der Flasche, weil es ihm so am besten schmeckte, als Jochen wieder eintrat, keuchend, einen Laut ausstoßend, der von einem kranken Tier hätte stammen können. Dann flog Herrn Alfred der Katzenkadaver ins Gesicht, die Bierflasche fiel zu Boden, und der Mann sank vom Stuhl. Jochen hatte mit einem Hammer zugeschlagen. Die Psychologen sprachen von einem Gefühlsstau, der sich in dieser Tat entladen hatte. Der Junge wurde in ein Heim eingewiesen, sein Stiefvater, mit einer schweren Kopfverletzung, mußte wochenlang im Krankenhaus liegen. Im Heim zeigte Jochen Maar keinerlei Anzeichen von jener Gewalttätigkeit, die einige Erzieher anfangs befürchtet hatten. Er wirkte auf schwerfällige Art gutmütig und war doch leicht verletzbar. Den Gleichaltrigen fiel das nicht weiter auf, da er auch hier seine Gefühle kaum äußerte. Oft zog er sich in einen stillen Winkel des Hauses zurück und hörte Schlagermusik. Seine Mutter hatte ihm als Abschiedsgeschenk ein Transistorgerät mitgegeben. Seither kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Ein Vierteljahr später kam Anja, sanft, scheu, in sich gekehrt. Sie fand zu niemandem Kontakt, obwohl alle sie mochten. 137
An einem Sonntag, die Jugendlichen spazierten mit ihren Besuchern im Garten umher, saßen auf Bänken oder Decken im Grünen, tobten auf dem Sportplatz oder machten sich schick für einen Stadtbummel – an diesem Sonntag stand Anja wie schon so oft am Fenster und sah hinaus. Jochen Maar beobachtete sie eine Weile, trat schließlich auf sie zu, das kleine Radio in der Hand. „Mir geht’s wie dir, ich mag nicht ’raus zu denen“, sagte er, „es ist alles so … laut. und falsch.“ Sie blickte ihn erstaunt an und wußte keine Antwort. „Stört’s dich, wenn ich Musik mache?“ Sie schüttelte den Kopf. „Schlager sind mein Hobby. Hör mal: ‚Es geht ein Zug nach nirgendwo …‘ Schön gesagt, finde ich!“ Anja blickte ihn an, sagte: „Stimmt. Man weiß ja wirklich nicht, was aus einem wird.“ „Was machst du am liebsten?“ „Ich weiß nicht, vielleicht so wie jetzt dastehen und zusehen und mir ausmalen, was man alles anfangen könnte, wenn …“ „Wenn?“ „Na, wenn das Leben anders wäre.“ „Sind deine Eltern tot?“ „Meine Mutter nicht. Aber sie ist fort. Drüben.“ Von diesem Tage an unterhielt sich Jochen Maar hin und wieder mit dem Mädchen, unaufdringlich, behutsam, als würde ein scheues Tier an einen Menschen gewöhnt. Mit der Zeit galten sie als ein Paar, als ein klassisches sozusagen, und dem Wort haftete etwas Altertümliches, Unmodernes an. Einige belächelten sie, doch der Spott wurde nicht laut, dafür sorgten die Erzieher und Jochen Maar selbst, der boxen lernte und alle diejenigen mit unguten Blicken ansah, die bei Anja einen Flirt versuchten. 138
Dann tauchte Caster auf, und der Junge fühlte sich unterlegen – nicht weil dieser Nebenbuhler älter, weltmännischer, mit mehr Geld versehen war, sondern weil es Anja zu ihm hinzog. Er litt, aber er verriet Anja nicht, und so blieb ihr Verhältnis zu diesem Mann im Heim unentdeckt … Simosch saß wieder im Fond des Polizeiwagens. Es war ein heißer Vorsommertag, der die Luft flimmern ließ. Vor den Eisdielen standen Tische und Stühle im Freien, ein Junge zog auf dem Gehsteig Strümpfe und Schuhe aus. Auf den Bänken vor dem Centrum-Warenhaus saßen junge Mädchen, lachend, in Heften blätternd, Limonade trinkend. Zum Mittagessen trank Anja meistens Limonade, hatte Silbervogel erzählt, und sie aß mitgebrachte Brote am Schreibtisch. Sie hätte lieber dort auf der Bank zwischen Blumen und Mädchen und jungen Burschen sitzen sollen, dachte Simosch. Er bat den Chauffeur, entgegen seiner bisherigen Anordnung bei der Dienststelle vorbeizufahren, da er etwas nachsehen müsse. In seinem Zimmer lag auf dem Schreibtisch ein Zettel mit einer Notiz in Leutnant Rückerts Handschrift: Kontoüberprüfung Anja B. negativ. Einzelheiten später. Simosch ließ den Zettel liegen und steckte den Kopf ins Nebenzimmer, in dem Leutnant Weiß residierte. „Hat sich Jochen Maar gemeldet?“ „Nein“, entgegnete Weiß, „aber eine junge Dame, die die Kriminalpolizei erst vom Oberleutnant an aufwärts akzeptiert.“ „Ach, die Susi. Was hat denn die gewollt?“ „Sie. Und mich hat sie angestarrt, als sei ich Hiob, der so gewisse Botschaften zu überbringen pflegte. Ich hatte 139
ihr nämlich sagen müssen, daß Sie außer Haus sind und erst zu Ungewisser Zeit zurückkommen würden.“ „Und sie hat nichts hinterlassen?“ „Nur einen Seufzer.“ „So ein Herzchen“, sagte Simosch und war schon wieder im Treppenhaus. Er fuhr zum VEB Glas- und Gebäudereinigung, ließ sich Jochen Maars Einsatzstelle nennen – es war an diesem Tag die Halle des Hauptbahnhofes – und begab sich unverzüglich dorthin. Zehn Minuten später stand er ratlos inmitten kofferschleppender Reisender, hastender Passanten und ungeduldig Wartender, die, von irgendwelchen Zügen kommend, mit dem Bus oder der Straßenbahn weiterfahren wollten. Nur wenige bemerkten, was er sah: Zwischen Himmel und Erde, an die Verglasung der riesigen Bahnhofshalle gepreßt, arbeitete Jochen Maar, einer Spinne ähnlich, die sich an ihrem Faden langsam vorwärts schiebt. Und mehr als ein Faden war, von Simoschs Standort aus, die Sicherungsleine wirklich nicht. Wie sollte er sich mit dem Burschen verständigen? Rufen würde nichts als einen Menschenauflauf einbringen, den Jochen Maar von seiner Höhe herab vielleicht belustigt registrieren würde, ohne zu ahnen, daß er ihm galt. Simosch schätzte, daß der Junge mit der oberen Glaswand noch eine Stunde beschäftigt sein würde, also ging er zum Wagen zurück und ließ sich zu Susi Brehm fahren. Unterwegs fragte er sich, ob Jochen Maar wohl auch während der Arbeit Schlager hörte oder vor sich hin summte, ob er sich vielleicht erhaben fühlte, da oben, über den kleinlichen Vorgängen des Alltags stehend, nur seine Arbeit sehend und die Gefahr, in der er buchstäblich 140
zwischen Himmel und Erde schwebte. Für diese Tätigkeit war gewiß nicht jedermann geschaffen. Es gehörten starke Nerven dazu, man mußte sich in der Gewalt haben, Unsicherheitsgefühle und Angst ausschalten können. Also Eigenschaften, über die ein Jochen Maar verfügte. Bis sich der Gefühlsstau in einer Aggression entlädt, dachte der Oberleutnant. Der Stiefvater hatte ihm das Tier getötet, das er liebte und mit dem er die Einsamkeit teilte, und er hatte zugeschlagen. Caster hatte ihm Anja entfremdet, an der er mit einer etwas schwerfälligen Liebe hing. Hatte er auch hier nach langer Zeit des Leidens seine Enttäuschung abreagiert mit einem im wahrsten Sinne des Wortes vernichtenden Schlag? Warum aber gegen das geliebte Wesen selbst? Logischerweise hätte er Caster angreifen müssen. Der Mensch ist doch keine Maschine, korrigierte sich Simosch, die bei einem bestimmten Hebeldruck vorprogrammierte Reaktionen zeigt. Der Wagen bremste vor Susi Brehms Wohnung, der Oberleutnant stieg rasch die Treppen empor, klingelte, aber es öffnete ihm niemand. Daraufhin ließ er sich zum Krankenhaus fahren. Susi holte benutztes Geschirr aus den Zimmern, stapelte es auf fahrbare Tische und rollte diese zur Stationsküche. Für jeden Kranken, der sie ansprach, fand sie ein gutes, aufmunterndes Wort, und Simosch, der sie ein Weilchen beobachtete, spürte die Zuversicht, die sie ausstrahlte. Routinehafte Trostsprüche waren ihr fremd. Mit einem Gruß vertrat er ihr den Weg. „Ach, da sind Sie ja endlich!“ rief sie erleichtert, als sei sie an diesem Tag und zu dieser Stunde mit ihm verabredet gewesen. „In der Dienststelle bin ich wieder mal auf Ihren bierernsten Kollegen gestoßen.“ 141
Leutnant Weiß besitzt vielleicht mehr Humor als die gesamte Redaktion einer Witzzeitung, dachte Simosch erheitert, doch er behielt diesen Gedanken für sich, da Susi Brehms Ansicht in diesem Punkt ohnehin nicht zu ändern war. „Was gibt es denn so Eiliges?“ fragte er. Die Krankenschwester bat eine Kollegin, sie für ein paar Minuten zu vertreten, zog ein Stück Papier aus der Schürzentasche und wiederholte: „Eilig? Das weiß ich nicht. Ich find’s nur seltsam. Was hat Anja mit einem Grundstück gewollt?“ Sie hielt Simosch ein amtliches Schreiben vom Staatlichen Notariat entgegen. Eintragebescheid stand in fetten Buchstaben darauf, und der kurze gedruckte Text besagte, daß das von Fräulein Anja Bindseil käuflich erworbene Grundstück im Ortsteil Lindenhain nunmehr in das Grundbuch eingetragen und sie damit rechtmäßige Eigentümerin geworden sei. „Verstehen Sie das?“ Ich glaube schon, dachte Simosch, es gehörte wohl zu Anjas Plan, Caster zurückzugewinnen. Ich muß herausfinden, was das für ein Grundstück ist und was es gekostet hat. Statt einer Antwort fragte er: „Hat sie Ihnen nie davon erzählt?“ „Nein.“ Susi tippte gegen das Schriftstück. „Glauben Sie, daß sie es für … ihn gekauft hat?“ „Für sich und für ihn.“ „Aber woher hatte sie denn so viel Geld? Und schließlich kann man sich in einem Garten nicht einfach in die Brennnesseln setzen, man muß verschiedenes anschaffen, was auch wieder Geld kostet.“ „Eben“, erwiderte Simosch leise. Für ihn war die Angelegenheit ziemlich durchsichtig. Anja hatte durch Unterschlagungen eine Geldquelle zum Fließen gebracht, 142
und was da heraussprudelte, steckte sie in den Nestbau. Für sich und für Caster, Das Geld war der Kompromiß, den sie mit dem Leben schloß. Sie hatte weder von Elvira Caster gelernt, daß organisiertes Wohlstandsleben kein Garantieschein für eine glückliche Ehe ist, noch von Silbervogel, daß man kluge Kompromisse eingehen muß, um das Alltagsleben in den Griff zu kriegen. Anjas Benehmen, so schien es ihm, glich dem eines kleinen schlauen Kindes inmitten schöner schlauer Frauen. „Sehr gesprächig sind Sie heute nicht“, klagte Susi. „In meinem Kopf“, sagte Simosch stirnrunzelnd, „spielen die Gedanken Einkriege, und wenn der eine den anderen gefaßt hat, dann versteckt er ihn, und ich muß zusehen, wie ich ihn wiederfinde.“ Er meinte das ganz ernsthaft, denn er hatte einen bestimmten Gedanken verfolgt, der ihm jetzt entglitten war und sich nicht wieder einfangen lassen wollte. Wovon war er ausgegangen? Von dem gekauften Grundstück? Nein. Von Anjas Unterschlagungen. Sie hatte … „Für Menschen, die sich in einem solchen Zustand befinden“, konstatierte Susi, „ordnet der Arzt vernünftigerweise Ruhe an, Entspannung, Abwechslung.“ „Hm.“ Er hörte kaum, was sie sagte, war nur ärgerlich, daß der Gedanke, den er für wichtig hielt, nun wohl endgültig entschlüpft war. „In dieser Woche könnten wir abends mal zum Wäldchen rausfahren, ich habe bis Sonnabend noch Tagschicht. Dort ist ein neues Restaurant eröffnet worden, rustikal, mit Schlachtefest und so.“ „Natürlich.“ Natürlich kann Herr Hopfer zum Schlachtfest fahren, wann er will, aber es paßt nicht zu ihm, dachte er. Warum … 143
„Zum Donnerwetter! Können Sie denn nicht mal zwei Minuten lang privat mit jemandem sprechen?“ „Nein“, sagte Simosch, hilflos die Schultern zuckend, „in diesem Stadium der Ermittlung geht das wohl nicht mehr.“ Sie war gerührt von seiner Offenheit, doch ohne Verständnis für ihn. „Oder geht’s nur bei mir nicht?“ Sie biß sich auf die Unterlippe, schämte sich ihrer Schwäche und hätte die Worte gern zurückgenommen. Simosch tat, als habe er sie überhört, und fragte: „Welchen Eindruck machte Herr Hopfer auf Sie, als er damals wegen Anja in Ihre Wohnung kam?“ Erleichtert nahm sie seinen sachlichen Ton auf und entgegnete: „Ich fand ihn ehrlich besorgt, mit einer Spur von schlechtem Gewissen. Er hatte sie beschuldigt, irgendwelche Lohnlisten verbummelt zu haben, und die hatten sich an diesem Morgen wieder angefunden. Ihm war Anjas Verschwinden ebenso rätselhaft wie mir, und er war bedrückt, als er sich verabschiedete.“ Simosch bedankte sich, daß sie ihn wegen der Grundstücksangelegenheit benachrichtigt hatte, er sagte zerstreut auf Wiedersehen und ging zum Ausgang – in Gedanken schon wieder bei dem Mordfall. Die Enttäuschung stand wie ein Kainsmal auf Susis Stirn. „Wenn Sie so weitermachen“, rief sie ihm nach, „sehe ich Sie wirklich bald wieder. Und zwar in einem dieser Zimmer hier!“ Jochen Maar hatte sich bis auf drei Meter Höhe hinuntergelassen und hörte deutlich, daß der Oberleutnant ihn rief. Beim erstenmal reagierte er überhaupt nicht, beim zweitenmal fluchte er leise: „Mist!“, beim drittenmal rief er: „Ja doch, bin schon unterwegs!“ Er hakte die Sicherungsleine aus und stieg die Leiter hinab. 144
„Sie haben eine Aufforderung erhalten, sich bei uns zu melden“, sagte Simosch. „Warum sind Sie nicht gekommen?“ „Laßt mich endlich in Ruhe!“ Der Boxer stand, die Füße etwas auseinander, leicht geduckt, in Abwehrstellung. Wenn du nun noch mit den Fäusten das Gesicht schützt, machst du schon eine recht gute Figur, dachte Simosch, aber hier ist kein Ring, mein Freundchen. „Sooo“, erwiderte er sarkastisch und zog das Wort in die Länge. „Er möchte seine Ruhe haben, der Schlagerfan.“ Dabei blickte er auf Maars Jackentasche, aus der Musik quoll. Shanties diesmal. Jemand behauptete, er segele ganz langsam um Kap Hoorn. Maar stellte den Ton lauter. „Schalten Sie mal ab.“ „Es stört nicht mehr als die Straßenbahnen, die hier vorüberquietschen. Außerdem versetzt es mich in Stimmung.“ „Das schaffe ich vielleicht noch besser.“ Simosch fand, dieser Bursche sei ein sonderbares Gemisch aus Aggression und Melancholie. Jochen Maar stellte das Radio ab. „Versuchen Sie’s.“ „Wo sind Sie an dem Abend gewesen, an dem Anja verschwand?“ Der Bursche schwieg. „Was denn?“ fragte Simosch, „Noch keine neue Ausrede vorbereitet? Daß wir sehr schnell hinter den Schwindel mit der Feier kommen würden, mußte Ihnen doch klar sein.“ „Es gab eine Feier.“ „Zu der Sie sich aber erst gegen Mitternacht gesellt haben.“ Jochen Maar hockte sich auf einen leeren Gepäckwagen, den man neben ihnen abgestellt hatte. Mit dem 145
Blick eines verlassenen Kindes sah er zu Simosch auf und sagte: „Ich will nicht mehr daran denken. Lassen Sie mich doch in Ruhe.“ Der Oberleutnant setzte sich zu ihm. „Anja wäre enttäuscht, wenn sie das hören könnte.“ Und nach einer Weile fragte er: „Waren Sie bei ihr, damals?“ Jochen Maar nickte. „Am selben Abend waren doch die Bezirksmeisterschaften im Boxen, und ich hatte ihr eine Karte geschenkt.“ Simosch wollte fragen, ob sie gekommen sei, aber als er den Blick des Burschen sah, wußte er, daß Maar in Gedanken diesen Abend noch einmal erlebte und von selbst zu sprechen anfangen würde. „Ich kam aus der Garderobe“, sagte Maar, „und stieg in den Ring. Im Saal waren die Lampen schon gelöscht, aber ich konnte erkennen, daß Anjas Platz besetzt war. Sie ist da wie zu jeder Meisterschaft, dachte ich. Das läßt sie sich nicht nehmen. Da kann auch kein Caster gegen an. Ich war froh wie seit Wochen nicht mehr, und die Bezirksmeisterschaft hatte ich schon in der Tasche. In solchen Augenblicken weiß man das einfach. Während des Kampfes habe ich dann abgeschaltet. Da existiert für mich nur das Gesicht meines Gegners. Besonders die Augen, die verraten am meisten. Erst als der Ringrichter meinen Arm hochriß, meinen Namen ausrief und die Zuschauer jubelten, dachte ich wieder an Anja. Ich wußte, daß sie vom Sitz springen, in die Hände klatschen und ordentlich mitbrüllen würde. So ruhig sie sonst war – beim Boxen, da ging Anja aus sich heraus. Sehen konnte ich sie noch nicht. Ich hatte ein paar dicke Sachen einstecken müssen, und um mich herum wirkte alles seltsam verschwommen. Mein Trainer sagte, es sei eine Wucht gewesen, wie ich geboxt hätte. Hart und sauber. 146
Ich hab’ gelacht und gedrängelt, sie möchten mich bloß schnell herrichten, weil ich gleich Damenbesuch bekäme. Endlich hingen sie mir den Bademantel um. Ich schlich zu Anjas Platz. Und dann kam der große Hammer: Das Mädchen sah ihr nur ähnlich …“ Sie hatte ungefähr Anjas Figur und brünettes Haar. Als Jochen Maar ihr auf die Schulter tippte, wandte sie ihm ein kleines, hartes, lackiertes Gesicht zu. Er schloß die Augen, riß sie wieder auf. Es blieb ein fremdes Gesicht. „Nein“, sagte er leise, „das gibt’s nicht.“ Sie faßte seinen Arm, zog Maar auf ihren Stuhl. „Ich rück’ zur Seite. Für Sie ist immer noch Platz. Herzlichen Glückwunsch! Sie waren Super …“ „Wo ist Anja?“ Sie faßte seinen Ausruf als die etwas schroffe, ungelenke Art eines Boxers auf, sich an ein Mädchen heranzumachen, lachte deshalb nur, stieß ihn leicht mit dem Ellenbogen an und wies zum Ring. „Da geht’s wieder heiß her.“ Ein Mannschaftskamerad von Maar war gerade am Boden, die Menge schrie, und einige halfen dem Ringrichter lautstark beim Zählen. Jochen Maar blieb seltsam unbeteiligt, dachte nur, der sei schon immer hart im Nehmen gewesen und werde wieder auf die Beine kommen. Bei „vier“ raffte er sich auch auf, bei „fünf“ schüttelte er sich, als habe man einen Eimer Wasser über ihn ausgeschüttet, und bei „sechs“ war er wieder kampfbereit. „Sie waren besser als die beiden zusammen“, sagte das Mädchen. Ihr Blick glitt über sein Gesicht, seinen Körper; er verriet, daß sie am nächsten Tag ihren Freundinnen gegenüber diese Begegnung zu einer Sensation machen würde. 147
„Wo Anja ist, habe ich gefragt!“ „Was für eine Anja?“ Sie staunte, daß sein Interesse für diesen Namen ernsthafter Natur war. „Sitzen Sie schon den ganzen Abend hier?“ „Natürlich.“ „Wer hat Ihnen die Karte gegeben?“ „Eine Schwester aus unserem Krankenhaus.“ „Susi Brehm?“ „Ja. Aber warum …“ Er war bereits fort, lief zurück zur Garderobe, setzte sich auf die Liege und starrte vor sich hin wie ein Kind, dem man zum Geburtstag ungültig gewordenes Geld in Silberpapier gewickelt hat. Nach einer Weile kam sein Mannschaftskamerad hereingewankt, der auf den Brettern gelegen hatte, er umarmte Maar und rief, daß knapp gewonnen auch gewonnen sei, daß der andere bis acht angezählt worden war und danach keine gute Figur mehr gemacht habe. Jochen Maar fand langsam in die Gegenwart zurück und gratulierte dem aufgeregten Sieger. Schließlich ging er unter die Dusche und kleidete sich dann an. Mit den Worten „Wir sehen uns später im Tivoli.“ verließ er den Raum. Er nahm ein Taxi und fuhr zu Anjas Wohnung. Das Mädchen, das öffnete, war Anja und war sie doch nicht. Ihr hellblaues Kleid mit dem raffinierten Dekollete, der unverhohlene Ärger über sein Kommen, der entschlossene, fast trotzige Blick ließen sie Jochen Maar so fremd erscheinen wie das Mädchen in der Sporthalle. Er trat ein, und sie betonte, daß er höchstens fünf Minuten bleiben dürfe. „Warum bist du nicht zu meinem Kampf gekommen?“ fragte er. „Ich hatte eine Aussprache mit Frau Caster.“ 148
„Und?“ In dem Wort schwang die Hoffnung mit, dieses Gespräch könne ihre Beziehung zu Heinz Caster endgültig beendet haben. „Weißt du, er hat oft betont, daß er mich braucht. Ich habe ihm zwar geglaubt, aber was er damit wirklich meinte, habe ich erst heute begriffen.“ „Sie jagt ihn fort?“ „Im Gegenteil. Sie verzeiht ihm.“ „Aber was willst du …“ „Ich will ihn mir holen. Diese Frau kann blenden, und ich bin mir wahrhaftig für kurze Zeit in ihrer Gegenwart wie eine dumme Gans vorgekommen. Ich war überzeugt, daß ich keine Ahnung habe von der Ehe und den Schwierigkeiten, die es zwischen den Partnern geben kann und die fester binden, wenn man sie überwunden hat. Aber dann zeigte sie mir, was sie wirklich denkt.“ „Und was ist das?“ fragte Jochen Maar hoffnungslos. „Geld! Nur Geld!“ rief Anja, und der Haß, den sie nun nicht mehr zu verbergen suchte, entstellte ihre Züge. „Ach, diese ekelhafte Großzügigkeit ihm und mir gegenüber! Und das alles nur, weil sie Angst hat, mit ihm könnte der Wagen, das Konto, der ganze zusammengeraffte Wohlstand verschwinden!“ „Dann paßt sie ja zu Caster“, sagte Jochen Maar. „Nein! Sie verdirbt ihn. Aber ich … ich hole ihn ’raus aus diesem goldenen Käfig …“ „Ohne den er weder existieren kann noch existieren will. Anja, du bist jetzt aufgebracht, weil du gesehen hast, daß Caster dort lebt, wohin er gehört. Du mußt begreifen: Er paßt nicht hierher, in deine Welt.“ Diese Welt war der kleine Raum mit den gekauften Gebrauchtmöbeln, den abgetretenen, sauber gewischten 149
Dielen ohne Teppich und den mühevoll ausgebesserten Baumwollgardinen. „Das weiß ich selbst“, fuhr Anja auf, „aber ich erreiche mein Ziel schon noch. Und jetzt geh bitte, Boxer, ich muß fort.“ „Zu Caster?“ Sie schwieg. Sie kämmte sich, hängte ihren Sommermantel griffbereit über die Stuhllehne, nahm noch einmal Platz und polierte mit einem weichen Tuch die Fingernägel, wie sie es oft bei Fräulein Vogel beobachtet hatte. Die Stille zwischen ihnen wurde feindselig. „Caster ist Mitte Dreißig“, meinte Jochen Maar schließlich, „den kann man nicht mehr ändern, und den verdirbt auch keiner mehr. Aber du …“ „Geschenkt“, sagte Anja. Noch gab er nicht auf. Er spürte, daß diese Minuten entscheidend waren für den Fortbestand oder das Ende ihrer Freundschaft. „Caster kriegst du nur, wenn du seiner Frau ähnlich wirst, aber dann bist du nicht mehr die Anja, die sich für ihn jetzt so wohltuend von dieser Frau abhebt.“ Ihre Augen wurden feucht. Als Jochen Maar sie anblickte, sah er, daß das Mädchen verzagt war und sich quälte. Die Tränen, die sie nicht mehr zurückhielt, schienen ihm wie eine Brücke, auf der sie ihm entgegenkam. Er wollte aufspringen, sie in die Arme schließen, doch da sagte sie mit fremder Stimme: „Laß mich. Ich gehöre nun mal zu Heinz. Daran kann niemand etwas ändern.“ Die Brücke war jetzt aus Eis. Wer sie zu betreten versuchte, glitt aus. Jochen Maar fiel es schwer, diesem Gefühlsumschwung zu folgen; er spürte nur, daß sich das Mädchen an eine Sache klammerte, die selbst ihr nicht geheuer erschien und sie deshalb unsicher und reizbar machte. 150
Anja zog den Mantel über und steckte ein Dederontuch in die Handtasche, holte es dann jedoch wieder hervor und wechselte es gegen einen leichten, wollenen Schal aus. Der Junge schloß daraus, daß sie erst nachts, wenn es kühl geworden war, zurückkehren würde. „Ich muß gehen“, sagte sie. „Darf ich mitkommen?“ „Meinetwegen bis zur Straßenbahn.“ Er packte sie an beiden Schultern, und in plötzlicher Angst bat er: „Anja, sag mir, was du vorhast.“ Sie lächelte, und er hatte sie noch nie so falsch und angstvoll lächeln sehen. „Aber Boxer, ich bin mit einer Bekannten verabredet. Weiter nichts …“ Er ließ sie los, stieß sie von sich. „Du lügst, und noch dazu ganz jämmerlich. Du gehst zu Caster.“ „In gewissem Sinne, ja. Ich werde immer zu Heinz gehen, damit mußt du dich endlich abfinden.“ Jetzt sprach sie wieder ruhig und sanft und lächelte dabei. Jochen Maar spürte, daß er sie endgültig verloren hatte. Er vermochte dieser verkommenen Unschuld nichts mehr entgegenzusetzen. „Haben Sie sie zur Straßenbahn begleitet?“ fragte Simosch. „Ja. Sie ist mit der Vier gefahren, Richtung Hagenau.“ Simosch kannte diese Strecke, verfolgte sie im Geiste. Sie führte am Hauptbahnhof vorbei, zehn Meter von der Stelle entfernt, an der sie jetzt standen, am Stadtpark, an dem Operettentheater vorbei, durch ein Neubaugebiet, und sie endete im Vorort Hagenau. Wie weit mochte Anja mitgefahren sein? „Und Sie? Was haben Sie getan?“ „Ich bin nach Hause gegangen.“ 151
„Obwohl Ihre Sportkameraden feierten?“ „Danach war mir nicht zumute. Eher nach heulen oder was zerschlagen oder so.“ Leise fragte Simosch: „So wie damals, als man Ihnen die Katze genommen hatte?“ „Ja“, sagte er und war sich im gleichen Augenblick der Gefahr bewußt, in die er sich freiwillig begeben hatte. „Ach, so ist das, Sie schnüffeln mir nach, wollen mir die Sache mit Alfred anhängen, einen Strick draus drehen …“ Auch er sprach leise, aber sein Atem ging schnell, fast keuchend. „Bleiben Sie ruhig“, sagte Simosch, „niemand will Ihnen einen Strick daraus drehen. Ich möchte nur wissen, was damals in Ihnen vorgegangen ist, um schlußfolgern zu können, was Sie getan haben könnten.“ „Was ich getan haben könnte“, wiederholte Maar langsam, um diesen Satz und das, was er andeutete, richtig zu begreifen. „Ich könnte Anja umgebracht haben. Das ist es doch, nicht wahr?“ Simosch schwieg. „Es wäre dumm von Ihnen, das ernsthaft zu erwägen, denn die Anja, die ich gekannt habe, die gab es schon lange nicht mehr. Aber wenn Sie mich nicht bald in Ruhe lassen, damit ich das alles vergesse, kann es passieren, daß ich doch noch die Nerven verliere. Und dann ist Caster dran.“ „Was wiederum sehr dumm von Ihnen wäre. Übrigens sind Sie um Mitternacht doch bei Ihren Sportkameraden aufgetaucht.“ „Ja“, entgegnete Jochen Maar, „gegen Mitternacht war ich Soweit.“ 152
11 „Bitte, verbinden Sie mich mit Herrn Caster.“ „Das ist zur Zeit nicht möglich“, erwiderte eine Frauenstimme, der man das Bemühen anmerkte, freundlich zu klingen. „Der Chef befindet sich im Sitzungszimmer.“ „Gibt es dort kein Telefon?“ „Natürlich. Aber …“ „Hier spricht Oberleutnant Simosch. Kriminalpolizei.“ „Oh, einen Augenblick bitte!“ Casters Stimme klang frostig, als er sich meldete. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagte Simosch, „kennen Sie sich in Lindenhain aus?“ „Tja, auskennen … ich komme selten in diesen Stadtteil. Das ist doch schon Vorort.“ „Mit kleinen, alten Gärten, von denen manchmal einer zum Verkauf angeboten wird.“ „Ich verstehe nicht …“ „Wußten Sie, daß Fräulein Bindseil einen dieser Gärten gekauft hat? Dreihundert Quadratmeter, mit einer Holzlaube, weinbewachsen, verschwiegen. Fürs Wochenende gerade das richtige Liebesnest. Kostenpunkt zweitausend Mark. Von der Käuferin in bar bezahlt.“ „Nein. Ich … ich bin völlig überrascht.“ „Haben Sie dem Mädchen mal eine größere Geldsumme gegeben?“ „Wieso? Gegeben?“ „Geschenkt. Geliehen. Was weiß ich!“ „Nein. Nichts dergleichen.“ „Und Sie hatten keine Ahnung von dem Grundstückskauf?“ „Keine.“ „Hm. Danke. Das war’s.“ Simosch hängte den Hörer ein und verließ die Telefonzelle. Ein Weilchen verharrte 153
er, überlegte, ob er zurück zu Anja Bindseils Grundstück oder zu seinem Wagen gehen sollte. Der Oberleutnant hatte sich, bevor er Caster anrief, mit einer Rentnerin unterhalten, deren Grundstück an das von Anja erworbene grenzte. „Mein neuer Nachbar“, hatte sie gesagt, „scheint sich ebensowenig um das Gärtchen zu kümmern wie der alte Rinkel, sein Vorgänger.“ „Wieso Nachbar?“ wollte Simosch wissen. „Ist Ihr Nachbar nicht eine Frau?“ Davon sei ihr nichts bekannt, beteuerte die Alte, sie habe nur ein einziges Mal einen jungen Mann gesehen, der sich abends fast zwei Stunden lang in der Laube aufhielt. Das sei vor einigen Wochen gewesen. Daraufhin erkundigte sich der Oberleutnant in der Nachbarschaft nach dem Käufer des kleinen Grundstückes. Zwei Personen hatten mehrmals ein junges Mädchen beobachtet, „aber schon vor Wochen“, schränkten sie ein, und eine Frau war an einem Abend einem elegant gekleideten Herrn begegnet, als der eben die Gartentür aufschloß. Niemand hat einen Wagen erwähnt, dachte Simosch, aber Caster würde seinen Wartburg wahrscheinlich auch nicht vor dem Grundstück abgestellt haben – vorausgesetzt, er hatte Anja hier draußen überhaupt besucht. Ein alter Mann kam mit einem Korb voller Brötchen und Tüten aus einem Seitenweg, und Simosch fragte ihn, wo es hier etwas zu kaufen gäbe. „Drüben im Konsum. Brot, Milch, Scheuerbürsten …“ „Zigaretten auch?“ „Zigaretten auch.“ „Wohnen Sie hier draußen?“ fragte Simosch freundlich. „Ja. Und niemand kriegt mich wieder in die Stadt.“ „Kann ich verstehen. Haben Sie eine Ahnung, wer den Garten von Herrn Rinkel gekauft hat?“ 154
„Ja. Ein Fräulein, ein ganz junges Ding, aber die hat ihn wohl bald wieder abgegeben an einen Herrn, der vielleicht was von Autos, aber nichts von Gärten oder Enten versteht.“ „Enten?“ „Hat mir eine tot gefahren. Warum interessiert Sie das? Wollen Sie den Garten jetzt übernehmen?“ Simosch wies sich aus, und der Alte meinte erschrocken, der Autofahrer sei ihm nichts mehr schuldig, er habe den Schaden bezahlt. „Ich habe auch gar keine Anzeige erstattet, weil er doch mit dem Geld ziemlich großzügig war, und den Zettel mit seiner Wagennummer habe ich zerrissen.“ „Können Sie sich an die Nummer erinnern, oder wissen Sie seinen Namen?“ „Hat mich alles nicht mehr interessiert, weil er mir das Geld gleich gegeben und die Ente außerdem noch dagelassen hat.“ „Was für ein Wagen war es denn?“ „Ein heller Wartburg. Cremefarben.“ „Erinnern Sie sich zufällig, wann das passiert ist?“ Der Alte wiegte den Kopf hin und her. „Schwer zu sagen. Vor Wochen schon. Mein Junge ist in der Stadt gewesen … Richtig, jetzt hab’ ich’s! Zum Boxen war er, zur Bezirksmeisterschaft. Lobbe hatte gewonnen, Reichelt und Maar …“ „Danke“, sagte Simosch, der es jetzt eilig hatte, „Sie haben mir sehr geholfen.“ „Hat er was ausgefressen, der Kerl mit dem Wagen? Oder die Grundstückssteuer nicht bezahlt? Solche Typen kenn’ ich, schaffen sich alles an und leben dann mit Schulden.“ Simosch lächelte nur und machte sich schnell davon. 155
Eine Stunde später unterhielt er sich bereits mit Hauptwachtmeister Seidel über die Möglichkeiten, das Alibi von Herrn und Frau Caster zu überprüfen, und gegen Mittag saß er in der Dienststelle einem zähneknirschenden Leutnant Rückert gegenüber. „Da hocken wir nun in der Buchhaltung wie Schuljungen, die ihre Hausaufgaben nicht machen können, weil der kleine Bruder die Hefte versteckt hat. Gestern haben wir noch geglaubt, gut voranzukommen. Die gedoubelten Rechnungen bezogen sich sämtlich auf Textilien, Bettwäsche, Stoffe, Tischdecken und so. Nie waren sie beispielsweise für Lebensmittel oder optische Geräte ausgestellt. Das legte die Vermutung nahe, einer der Betrüger könne in der GHG Textilwaren sitzen. Um diesen Verdacht zu untermauern, brauchten wir die Unterlagen der doppelten Rechnungen. Und die sind über Nacht verschwunden.“ „Wer hat Zugang zu diesen Materialien?“ fragte Simosch. „Alle, die mit buchhalterischen Dingen zu tun haben. Also der gleiche Personenkreis, der für den Betrug in Frage kommt.“ „Vom ökonomischen Direktor bis zur letzten Sekretärin der Buchhaltung“, sagte Simosch versonnen. „Aber Anja Bindseil ist tot.“ „Sie kann das nicht allein gewesen sein. War doch meine Rede von Anfang an.“ „Was hat denn ihre Kontoüberprüfung genau ergeben?“ „Zweihundertfünfunddreißig Mark und siebenundneunzig Pfennige“, gab Rückert Auskunft. „Der Höchststand ihres Kontos betrug siebenhundert Mark. Im letzten Monat hat sie nach und nach rund fünfhundert abgehoben.“ 156
„Das brauchte sie wohl für Kleidung, Kosmetik und Schuhe“, sagte Simosch, erhob sich und trat ans Fenster. Rückert wollte etwas erwidern, doch der Oberleutnant winkte ab. Er starrte eine Weile durch die Glasscheiben, rieb sich die Handgelenke, murmelte: „Moment, ich hab’s gleich.“ und sah sich wieder im Krankenhaus vor Susi Brehm stehen, deren freundliche Geschwätzigkeit ihm eine Gedankenverbindung zerrissen hatte. Er hielt den Eintragebescheid über Anjas Grundstück in den Händen, und Susi hatte sich lauthals gewundert, wie ihre Freundin zu dem Geld gekommen war. Und er, Simosch, war plötzlich sicher gewesen, die Zusammenhänge zu kennen: Anja Bindseil hatte in den Unterschlagungen eine Geldquelle entdeckt … Entdeckt! Da war es wieder, das Schlüsselwort für neue Gedankenverbindungen. Anja hatte entdeckt … Simosch sah müde aus, als er sich Leutnant Rückert zuwandte. „Und wenn das alles ganz anders war, als wir bisher vermutet haben?“ fragte er. „Wenn das Mädchen nicht unterschlagen, sondern Unterschlagungen entdeckt hat?“ Sekundenlang schwieg er, sprach dann leise und hastig weiter, als fürchtete er, die Gedanken könnten wieder ins Nichts zerfließen, bevor er sie in Worte gefaßt hatte. „Würde das nicht alles erklären, was uns bisher rätselhaft geblieben ist? Auch den Mord? Anja beschäftigte sich mit Unterlagen, die sie unmittelbar nichts angingen. Möglicherweise hat sie das getan, um einem Betrüger auf die Spur zu kommen und – zu erpressen? Daß sie buchhalterische Kenntnisse erwerben wollte, diente ihr bloß als Vorwand. Liegt hier vielleicht das Motiv für einen Mord?“ „Das ist eine von vielen Möglichkeiten“, erwiderte Leutnant Rückert, „und ich gebe zu, daß es bis jetzt die einleuchtendste Version ist. Aber wir brauchen Beweise.“ 157
„Wir müssen so schnell wie möglich die Betrüger ermitteln. Ob sie auch Anjas Mörder sind, wird sich dann herausstellen. Wir sollten dem kleinsten Hinweis nachgehen, auch dem Verdacht, daß einer der Betrüger eher in der GHG Textilwaren als in einem anderen Zulieferbetrieb sitzen könnte. Was müßte er dort in Szene gesetzt haben, um die doppelte Rechnung zu vertuschen?“ „Angenommen, die GHG liefert Geschirrtücher“, erklärte Rückert, „und die Buchhaltung des Warenhauses zahlt den geforderten Betrag zweimal, dann wird die Überbezahlung normalerweise zurückgeschickt.“ „Sind Sie bei Ihren Untersuchungen auf derartige Vorgänge gestoßen?“ „Wir haben einmal eine falsch ausgeschriebene Rechnung entdeckt. Statt eintausendzweihundert sind eintausenddreihundert Mark für Papierwaren gezahlt worden. Die hundert Mark Überbezahlung kamen prompt zurück.“ „Das war also kein Betrug, sondern eine Fehlbuchung, wie sie eben mal passieren kann.“ „So ist es“, bestätigte Rückert, „aber unser angenommener Betrüger in der GHG würde den Betrag nur pro forma abschicken und das Geld einkassieren. Dann brauchte er nur noch die Unterlagen zu vernichten, und die Sache würde funktionieren.“ „Haben Sie einen Vorschlag“, fragte Simosch, „was wir in diesem ungewöhnlichen Fall außer den üblichen Ermittlungen unternehmen sollten?“ „Wir kommen kaum weiter, ohne die Unterlagen der doppelt ausgestellten Rechnungen eingesehen zu haben, aber die sind, wie gesagt, über Nacht verschwunden. Man könnte dem Staatsanwalt die Dringlichkeit und die Kompliziertheit dieses Falles vor Augen führen und ihn 158
fragen, ob er die Konten eines größeren Personenkreises von uns überprüfen lassen würde.“ „Ich kümmere mich darum“, sagte Simosch. „Auch um die Angestellten in der Buchhaltung der GHG Textilwaren. Wir werden dazu noch ein paar Leute anfordern und sehr schnell herausfinden, ob es dort irgendwelche Auffälligkeilen gibt.“ „Unangenehm wäre natürlich“, sagte Rückert nachdenklich, „wenn die Betrüger ihren Reibach nicht auf die Sparkasse gebracht haben …“ „Malen Sie den Teufel nicht an die Wand. Im übrigen werden wir auch in diesem Fall einen Ausweg finden. Mich beunruhigt am meisten, daß einer der Täter unsere Arbeit im Warenhaus offensichtlich genau verfolgt und eingreift, wenn er es für richtig hält. Damit ist er uns immer um eine Nasenlänge voraus.“ „Freilich“, sagte Rückert, „und doch ist das nur die eine Seite der Medaille. Die andere sieht so aus, daß jeder Eingriff in unsere Arbeit ein Fehler ist, den der Täter begeht.“ „Sie hoffen, er verrät sich eines Tages?“ „Ja. Außerdem überlege ich, ob es nicht möglich wäre, ihm eine Falle zu bauen, ihn herauszufordern.“ „Seien Sie vorsichtig damit!“ warnte der Oberleutnant. „Wenn er die Falle wittert, sind wir übler dran als vorher. Im übrigen weiß man nie, wie einer reagiert, dem das Wasser bis zum Hals steht. Ein Mord ist schon geschehen.“ „Es war nur so ein Gedanke“, meinte der Leutnant, „einer von vielen … und noch nicht ausgereift.“ „Ich … habe auch so einen unausgereiften Gedanken“, sagte Simosch zögernd. „Seit wir hier sitzen, überlege ich hin und her, ob wir nicht gar den Bock zum Gärtner gemacht haben.“ 159
„Hopfer?“ Simosch nickte. Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Rückert: „Kann ich mir einfach nicht vorstellen, aber zugegeben, das ist nicht entscheidend.“ „Wir sollten trotzdem darüber sprechen, Sie haben diesen Mann täglich um sich.“ „Ja, dieser Hopfer, ich würde sagen, an dem ist entweder ein Schauspieler verlorengegangen, oder er hat wirklich nichts mit der Sache zu tun. Mir kommt es vor, als würde er an so etwas wie einem Überwertigkeitsfimmel leiden …“ „Komplex.“ „Na ja, Psychologie haben Sie studiert. Jedenfalls hält er sich, wenn nicht gerade für den Nabel der Welt, so doch für den des Centrum-Warenhauses. Wir haben seine berufliche Entwicklung überprüft. Kein Senkrechtstarter, aber ein sehr ehrgeiziger Mensch, der sich verbissen hochgearbeitet hat. Wäre er das nicht, würde er sicherlich zu denjenigen gehören, die das Leben links liegenläßt … körperlich unansehnlich, wie er nun mal ist. Niemand sähe einen Grund, ihn sonderlich zu beachten. Aber seine Leistungen sind – zumindest in seiner Branche – nicht zu unterschätzen. Da er sich sehr wichtig nimmt, leidet er auch unter dem, was in der Buchhaltung geschehen ist. Und er hilft uns. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Hm. Wie ist er denn so privat?“ fragte Simosch. „Da kenne ich ihn nicht. Sollten wir in dieser Richtung etwas ermitteln?“ „Bis jetzt nicht. Ich dachte nur, daß in den letzten Tagen das Gespräch vielleicht einmal auf private Dinge gekommen wäre.“ „Seltsam“, entgegnete Rückert, „ich weiß gar nicht, was ich mir bei Hopfer unter Privatleben vorstellen soll. 160
Außerdem ist der Mann augenblicklich so eingespannt, daß ihm dafür wohl kaum Zeit bleiben wird. Er hat seine Arbeit und zusätzlich noch uns auf dem Hals. Die neue Sekretärin, die man ihm vorübergehend aus einer anderen Abteilung zugeteilt hat, findet sich ziemlich schwer in ihre Arbeit hinein, und seine Chefsekretärin, diese Vogel, kriegt ausgerechnet jetzt entweder Starallüren oder sie dreht durch … Sie sollten sich die Dame mal etwas genauer unter die Lupe nehmen.“ Simosch hatte Mühe, seine Unruhe zu verbergen. „Was ist mit ihr?“ fragte er. „Der Hauptbuchhalter meint, daß sie sich in den letzten vierzehn Tagen auffallend verändert hat. Sie benimmt sich tatsächlich seltsam, ist nervös, unruhig bis zur Gereiztheit.“ Unmöglich, dachte Simosch, Silbervogel kenne ich als eine Frau, die jederzeit die Situation und sich selbst beherrschen kann. Aber plötzlich schoß ihm durch den Kopf: Und warum ist sie neulich vor mir weggelaufen? „Außerdem kommt sie unregelmäßig zur Arbeit“, sagte Rückert. Ungläubig fragte Simosch: „Sie bummelt doch nicht etwa?“ „Das nicht. Aber sie scheint sich ihre eigene Arbeitszeit zulegen zu wollen, kommt morgens ein, zwei Stunden später und bleibt dafür länger.“ „Gestern auch?“ fragte Simosch. „Gestern auch.“ „Das muß gar nichts bedeuten.“ „Natürlich nicht. Aber die eigentliche Überraschung ist, daß sie heute dem Chef mitgeteilt hat, sie würde ab nächster Woche für längere Zeit krank geschrieben werden. Sie müsse sich mal ordentlich generalüberholen 161
lassen. Herr Hopfer hat nach dieser Mitteilung seine Dosis Baldrian verdreifacht.“ „So“, sagte Simosch abwesend, ihm war elend zumute. „Nachdem er seine Medizin geschluckt hatte“, berichtete Rückert weiter, „und wir mit einem ruhigen Herrn Hopfer in einem übelriechenden Zimmer wieder arbeiten konnten, da meinte er: ‚Wenn Fräulein Vogel ernsthaft krank wäre, hätte man ihr doch irgendwann einmal etwas anmerken müssen. Sie ist aufgegangen in ihrer Arbeit, sie war meine rechte Hand. Warum zieht sie sich nun plötzlich zurück? Ausgerechnet jetzt?‘ Und als wir ihm darauf keine Antwort gaben, fügte er hinzu: ‚Vielleicht hat sie es nicht mehr nötig zu arbeiten. Vielleicht ist sie zu Geld gekommen.‘ Sehen Sie, das ist auch ein unausgegorener Gedanke, der mich die ganze Zeit über beschäftigt.“ Simosch öffnete den oberen Hemdenknopf. „Wir werden Fräulein Vogels Konto ebenfalls einsehen“, sagte er schwunglos und dachte: Silbervogel! Verdammt, ich bin doch kein Zehnklassenschüler, dem man mit einem hübschen Frätzchen was vormachen kann! Diese Frau hat Format, das steht fest. Aber was besagt das? Es gibt große Kämpferinnen, Staatsoberhäupter, Künstlerinnen, Dirnen, Giftmischerinnen – alles Frauen von Format. Silbervogel kannte Anja besser als jeder andere. Da kam Jochen Maar nicht mit und auch Caster nicht, denn die sahen vor allem die Frau in ihr. Silbervogel wußte ziemlich genau um Anjas Eigenheiten und Sorgen und Wünsche. Sie hatte ihr helfen wollen, sich im Leben zurechtzufinden, aber Anja hatte es abgelehnt, das Leben mit Silbervogels Augen zu sehen, sie hatte einen falschen Schluß gezogen. Auch das war Silbervogel nicht entgangen. Wenn sie nun hinter den Betrügereien steckt und Anja beobachtet hat, als die die Unterla162
gen prüfte. Zumindest wäre sie dann gewarnt gewesen. Aber was hat Anja wirklich getan? Betrogen oder erpreßt? Alles Unsinn, dachte Simosch. Eine Frau wie Silbervogel läßt sich nicht erpressen. Sie kann ebenso unnahbar wie feinfühlig sein. Die kleine Anja wäre als Erpresserin bei ihr nicht weit gekommen. Sie ist nicht weit gekommen. Nur bis in die Baugrube vor dem Warenhaus. Vollgestopft mit Alkohol und Schlaftabletten. Copyrkal schluckt Silbervogel gegen Kopfschmerzen. Ob sie auch Schlaftabletten nimmt? Er sah die Frau wieder vor sich und bemühte sich, einen unsympathischen Zug in ihrem Gesicht zu entdecken. Etwas Hinterhältiges, Unehrliches, Boshaftes vielleicht. Da zwinkerte sie ihm zu mit so einem Blick, der Brücken schlägt … Ich werd’ noch verrückt, dacht Simosch und sagte: „Wir überprüfen ihr Alibi, ihren Bekanntenkreis, alles. Wissen Sie, wo sie wohnt?“ „Mozartstraße drei. Das ist im Neubauviertel hinter dem Operettentheater. Straßenbahnlinie Vier.“ Das letzte, was Jochen Maar von Anja gesehen hatte: Sie war in einen Straßenbahnwagen der Linie Vier gestiegen. Sie ist in Richtung Hagenau gefahren, überlegte Simosch, vorbei am Bahnhof und am Operettentheater. Wie weit sie gefahren ist, wissen wir nicht. Noch nicht. 12 Man brauchte weder Kriminalist zu sein noch besondere Menschenkenntnis zu besitzen, um Herrn Wilfried Rennhaak als auffällig zu empfinden. Er war jung, schlank, schwarzhaarig, hatte ein ebenmäßiges Gesicht von vor163
nehmer Blässe und war stets nach der neuesten Mode gekleidet. Und immer in auffälligen Farben: rote Weste, grünes Jackett, lila Pullover. An dem Tag, an dem Oberleutnant Simosch mit ihm sprach, trug er einen knallgelben wollenen Westover. Herr Wilfried Rennhaak arbeitete in der Buchhaltung der GHG Textilien. Er war bei jedermann beliebt und angesehen, bei den Frauen ein bißchen mehr als bei den Männern. Er gab sich liebenswürdig, und zwar zu den Männern ein bißchen mehr als zu den Frauen. Aber um das herauszufinden, mußte man ihn näher kennen und einen Blick für so etwas haben. Oberleutnant Simosch hatte einen Blick dafür. Er war in seinem Beruf etlichen Rennhaaks begegnet, die ganz vorsichtig ein bißchen anders lebten als andere Männer. Neben der Kleidung und der wohldosierten Liebenswürdigkeit war es noch die Großzügigkeit, durch die Rennhaak auffiel. Auch das wirkte, oberflächlich betrachtet, angenehm. Zum Beispiel wartete er jeder Kollegin und jedem Kollegen zum Geburtstag mit einer kleinen Extraüberraschung auf – Pralinen, Parfüm, eine Neuigkeit aus dem Kunstgewerbe –, obwohl er die obligate Mark für das Gemeinschaftsgeschenk schon beigesteuert hatte. Herr Wilfried Rennhaak mied das Essen der Werkküche. Er verzehrte sein Mittagsmahl in einem Restaurant. Möglichst in keinem billigen und möglichst nicht allein. Zumeist bat er eine Kollegin, ihm die Ehre anzutun und sein Gast zu sein. Nach Feierabend stieg er in seinen rotlackierten Trabant und verschwand aus dem Gesichtskreis seiner Mitarbeiter. Die Kriminalpolizisten, die sich in Simoschs Auftrag für ihn interessiert hatten, wußten, daß er dann meistens 164
nach Hause fuhr und ein, zwei Stunden später in einem Lokal auftauchte, wo vorwiegend Männer verkehrten, alle farbenfreudig gekleidet und auffallend liebenswürdig im Umgang miteinander. Manchmal begab sich Herr Rennhaak ohne häusliche Zwischenstation in einen Vor- oder Nachbarort, verbrachte den Abend dort in einem Lokal und erwies sich wiederum als sehr spendabel. An Geld schien es dem jungen Mann jedenfalls nicht zu mangeln, obwohl er, nach den Berechnungen der Kriminalisten, mehr ausgab als einnahm. Die Kunde, daß ein Mann in Zivil Herrn Wilfried Rennhaak während der Arbeitszeit unter vier Augen zu sprechen wünschte, war wie ein Lauffeuer durch die GHG gegangen. Dabei wurde, wechselnd von Abteilung zu Abteilung, aus Simosch ein Angestellter des Ministeriums für Staatssicherheit, der um Rennhaaks Mitarbeit bat, ein honoriger Ehemann, den der schöne Wilfried gehörnt hatte (einige Mitarbeiter lächelten über diese Mutmaßung), und ein zweifelhafter Freund, der den großzügigen jungen Mann um ein Darlehen bat. Inzwischen saß Wilfried Rennhaak mit großen, staunenden Augen vor dem Oberleutnant, immer wieder fragend, weshalb sich die Kriminalpolizei für ihn und seinen Bekanntenkreis interessierte. Doch Simosch ging auf keine Frage ein, bestand nur darauf, daß er präzise Antworten erhielt. „Kennen Sie einige Angestellte des Centrum-Warenhauses?“ wollte er wissen. „Ach, das Warenhaus!“ rief der junge Mann in einem Ton, in dem man über amüsante Erinnerungen plauscht. „Dort kenne ich die eine Hälfte der Angestellten, und die andere Hälfte kennt mich.“ Er lachte leise. Plötzlich wurde er ernst, beugte sich über den Tisch zu Simosch, als 165
habe er ihm etwas streng Vertrauliches mitzuteilen. „Da ist doch … eine ganz schreckliche Sache geschehen. Mit einem Mädchen, so einem sanften, jungen Ding …“ „Sie meinen Anja Bindseil. Sie ist ermordet worden. Kannten Sie Fräulein Bindseil?“ „Ja … das heißt, nein, kennen ist übertrieben. Ich habe sie einige Male gesehen, aber nur wenige Worte mit ihr gesprochen. Sie saß im Zimmer von diesem hübschen Vogel …“, wieder ein anzügliches Lächeln, „Herrn Hopfers Chefsekretärin, meine ich.“ „Sind Sie mit Herrn Hopfer befreundet?“ Ein Ausdruck des Bedauerns breitete sich über sein Gesicht, wie der Schatten über eine Landschaft, und ließ Simosch die Antwort ahnen. „Herr Hopfer ist ein ausgezeichneter Buchhalter, und ich tausche gern Erfahrungen mit ihm aus, aber befreundet? O nein. Er ist mir zu … pedantisch, zu förmlich, einfach zu sehr Buchhalter, auch im Privatleben.“ „Und Fräulein Vogel?“ „Eine reizende Person. Wirklich bezaubernd …“ „Ich habe selbst Augen im Kopf“, unterbrach Simosch ihn ärgerlich. „Ich möchte wissen, ob Sie näher mit ihr bekannt sind und mir einige Auskünfte über sie geben können.“ „Ich muß schon wieder passen“, klagte Rennhaak. „Ich weiß nichts über sie. Ich habe sie nur zwei- oder … halt, dreimal zum Essen eingeladen. Sie ist ja so charmant …“ „Sind Sie auch mit Fräulein Bindseil essen gegangen?“ „Nein“, entgegnete er verblüfft und fragte dann mit freundlicher Zudringlichkeit: „Ich hätte es tun sollen, nicht wahr? Es ist eine Unterlassungssünde …“ 166
„Wer von Ihren Bekannten aus dem Warenhaus steht Ihnen am nächsten?“ „Am nächsten?“ wiederholte Rennhaak ein wenig hilflos, zuckte die Schulter, schlug die Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück. „Das … das klingt so verbindlich, wie Sie es formulieren. Wissen Sie, ich verstehe mich mit Herrn Steiger ganz gut, dem ökonomischen Direktor. Wir waren zusammen zur Kur in Bad Schandau. Aber auch das ist keine ausgesprochen persönliche Bekanntschaft …“ Er lächelte, entschuldigend, wie es schien, weil er dem Oberleutnant so wenig helfen konnte. „Woher beziehen Sie eigentlich das Geld, das Sie Tag für Tag so großzügig ausgeben?“ fragte Simosch unvermittelt. Sekundenlang erstarrte das Lächeln in Herrn Rennhaaks Gesicht, ein mißtrauischer Blick streifte den Oberleutnant. Dann brach es mit übergroßer Dankbarkeit aus ihm heraus: Sein über alles geliebter Vater habe das Zeitliche gesegnet und ihm eine kleine Summe hinterlassen … Auch darüber war Simosch informiert. Herr Rennhaak senior war vor drei Jahren gestorben und hatte seinem Sohn achttausend Mark vermacht. Daraufhin hatte sich Rennhaak junior einen Trabant gekauft, was bedeutete, daß von dem Geld kein Pfennig mehr vorhanden sein konnte. „Das Ererbte setze ich jetzt so nach und nach zu“, erklärte der junge Mann. „Man lebt nur einmal, und dieses eine Mal soll so gut wie möglich ausfallen, sage ich mir.“ „Hm. Und der Trabant?“ Herr Rennhaak wurde sichtlich unruhig. Vergebens suchte sein Blick im Zimmer nach einem Halt, glitt immer 167
wieder über Simoschs Gesicht, das nicht verriet, was der Kriminalist dachte oder vorhatte. „Ich … ich habe gespart“, antwortete er schließlich, „jahrelang. Weil mein Traum ein fahrbarer Untersatz war, wenn auch nur von kleinem Format.“ „Und jetzt? Sparen Sie jetzt auch noch?“ „Nein.“ „Wieso eigentlich nicht? Haben Sie keine Träume mehr?“ „Nicht so große – im materiellen Sinne. Ich lebe ein bißchen aufwendig. Das macht mir Spaß, und was wäre das Leben, sage ich mir, wenn man keinen Spaß daran hätte? Manche haben Vergnügen daran, Geld zu horten, ich muß es eben unter die Leute bringen, wenn ich mich wohl fühlen will.“ Er war ruhiger geworden, während er sprach. Doch Simoschs nächste Frage ließ ihn erneut unsicher werden. „Soll das heißen, daß Sie überhaupt keine Rücklage mein besitzen, sozusagen von der Hand in den Mund leben?“ „Ja, so ist das. Und … und …“ Rennhaak suchte nach einer Erklärung, die Simosch nicht verlangt hatte, die er aber geben zu müssen glaubte. „Was mir mein Vater vererbt hat, das habe ich vom Sparbuch abgehoben. Um es eben nach und nach zusetzen zu können.“ Er lächelte, weil er offensichtlich annahm, eine glaubwürdige Erklärung gefunden zu haben, und Simosch lächelte zurück. „Aber warum interessiert Sie das alles? Oder darf man der Polizei keine Fragen stellen?“ „Doch“, entgegnete Simosch, „und nach Möglichkeit beantworten wir sie auch. Im Centrum-Warenhaus sind Unterschlagungen begangen worden. Da Sie Bekannte 168
dort haben, hoffte ich, von Ihnen einige Hinweise zu erhalten.“ „Ach!“ rief Rennhaak erschrocken. „Aber warum überprüfen Sie dann meine finanziellen Verhältnisse?“ „Aus dem gleichen Grund“, entgegnete Simosch freundlich, „weil Sie Bekannte dort haben. Übrigens: Interessieren Sie sich für Boxen?“ „Nein, kein bißchen.“ „Schade. Ich möchte wissen, wo Sie an jenem Abend waren, an dem in unserer Stadt die Bezirksmeisterschaften ausgetragen wurden.“ „Hängt, das auch mit diesen Unterschlagungen zusammen?“ fragte Herr Rennhaak voller Mißtrauen. „Hm.“ „Wenn Sie mir das Datum nennen …“ Simosch nannte es, und Rennhaak blätterte daraufhin in einem Taschenkalender, von dem er behauptete, daß er ein Tagebuch in Kurzform sei. „Damals“, sagte er schließlich erleichtert, „war ich in den ‚Haifisch‘ eingeladen, Architektenklub und Klub der bildenden Künstler. Ich war von zwanzig Uhr bis zwei Uhr nachts dort.“ Simosch betrachtete ihn nachdenklich, wiederholte in Gedanken Architektenklub und fragte: „Kennen Sie Frau Elvira Caster? Sie ist Innenarchitektin.“ Wilfried Rennhaak zog ein Taschentuch hervor, blütenweiß selbstverständlich, und wischte sich über die Stirn. Dabei lächelte er betreten. „Entschuldigung. Heute hätte ich mich doch etwas leichter kleiden können. Wie war der Name?“ Er hat schlechte Nerven, dachte Simosch, und ich könnte vielleicht Schlag auf Schlag eine Menge aus ihm herausfragen, aber diese Typen fangen auch schamlos an zu lügen, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen, 169
widersprechen sich, und wenn man es ihnen vorwirft, tischen sie einem lächelnd das nächste Märchen auf. Und bei der zweiten Vernehmung widerrufen sie alles. Er nannte den Namen noch einmal. „Ah so“, sagte Herr Rennhaak und steckte umständlich sein Taschentuch weg. „Caster. Nein, ich wüßte nicht …“ Simosch erhob sich, sagte, daß sei vorläufig alles, wünschte einen guten Tag und verschwand. Zurück blieb ein bestürzter junger Mann, der mehrmals nach dem Telefonhörer griff und ihn doch nicht abhob, der mit weinerlicher Stimme leise vor sich hin fluchte und schließlich aschfahl im Gesicht in sein Zimmer zurückschlich. Inzwischen fuhr der Oberleutnant zur Dienststelle, beauftragte zwei Kriminalisten, Herrn Wilfried Rennhaak nicht aus den Augen zu lassen und darauf zu achten, mit wem er Kontakt aufnahm. Hauptwachtmeister Seidel, der inzwischen herausgefunden hatte, daß Frau Caster am Mordabend in der Stadt gesehen worden war, gab er den Tip, im Architektenklub „Haifisch“ weiterzuermitteln. Er selbst suchte die Kellnerin Loni Bach auf, die – wie Herr Hopfer gesagt hatte – sein Alibi bestätigen konnte. Da sie nur zwei Straßenzüge von der Dienststelle entfernt wohnte, ging er zu Fuß. Unterwegs traf er den Bauleiter Platon, auf dessen Baustelle man die tote Anja Bindseil gefunden hatte. „Na, wie kommen Sie voran?“ fragte Platon. „Na ja. Und was machen Ihre Rowdys?“ „Die haben sich verwandelt“, sagte Platon lachend. „Ein Teil in einsichtige, ein Teil in nachdenkliche und 170
der Rest in knurrige junge Männer. Das ist der Erfolg einer nächtlichen Debatte mit ihnen, die ursprünglich nur als kurze Aussprache gedacht war. Ich denke, unsere Absperrungen werden künftig sicher sein.“ „Freut mich. Hat jemand etwas Auffälliges bemerkt an jenem Abend?“ „Leider nicht. Die Burschen wollten zum Boxkampf gehen, aber es gab keine Karten mehr. Ihren Unmut darüber haben sie an den Barrieren ausgelassen. Übrigens, erinnern Sie sich an diese hübsche Frau – fast möchte ich ‚Dame‘ sagen –, die wir neulich in der ‚Stadtküche‘ getroffen haben?“ Silbervogel, dachte Simosch und sagte: „Ja. Was ist mit ihr?“ „Ich weiß jetzt, weshalb sie mir bekannt vorkam. Sie hat entweder eine Schwester oder eine Doppelgängerin. Ein bißchen schmaler im Gesicht und mit schulterlangem schwarzem Haar. Und genauso hübsch. Ich treffe sie manchmal beim Arzt, wenn ich zur Kurzwelle gehe.“ „Interessant“, sagte Simosch. Das wäre wie im Märchen, dachte er. Die gute und die böse Schwester. Und Silbervogel ist an allem unschuldig. Er verabschiedete sich von Platon und ging schnell davon. Die Kellnerin Loni Bach wohnte mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem Neubau. Im Haus roch es nach frischem Mauerwerk und nach Farbe, und Frau Bach klagte, man habe sich noch nicht richtig eingewohnt. Sie bot Simosch Platz an, suchte nach einem Ascher, der in der alten Wohnung seinen Platz unter der zerfransten Stehlampe gehabt hatte, aber die war beim Umzug ausrangiert worden, und mit ihr war auch der Ascher verschwunden. Als Ersatz brachte Frau Bach schließlich eine Untertasse. „So, um das Frühlingsfest geht es Ihnen 171
also, und ob Herr Hopfer dort gewesen ist“, begann sie. „Ja, er war dort. Zumindest in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag. Das weiß ich genau. Wir saßen abends im Schnellzug im gleichen Abteil. Am Freitagmorgen stand er an der Bushaltestelle, fuhr mit in die Stadt, vom Feiern müde, wie mir schien, und ich war müde vom Arbeiten.“ „Sie waren nicht zu Ihrem Vergnügen dort?“ fragte Simosch. Sie lachte. „Wo denken Sie hin? Dann hätte ich zumindest meinen Mann mitgenommen. Ich habe eine Nachtschicht als Aushilfskellnerin eingelegt. Und nun fragen Sie um Himmels willen nicht gleich, was die Gewerkschaft dazu sagt.“ „Mich interessiert nur, ob Herr Hopfer die ganze Nacht im ‚Stillen Otto‘ zugebracht hat.“ „Die ganze Nacht?“ wiederholte Loni Bach nachdenklich. „Ich glaube schon. Beschwören kann ich’s natürlich nicht, bei dem Trubel …“ „Erinnern Sie sich, ob er allein war oder sich irgend jemandem anschloß?“ „Wenn Herr Hopfer ausgeht, bleibt er nie allein“, entgegnete sie. „Dann hat er ein, zwei oder auch drei der schönsten Mädchen um sich.“ „Scherzen Sie?“ „Keineswegs. Sie denken, weil er klein, dürr und unansehnlich ist, würden ihn die Frauen meiden, nicht wahr? Das ist ein Fehlschluß. Es gibt, eine Faszination des Häßlichen. Berufserfahrung von mir. Ich habe oft ungestaltete Männer in Begleitung der hübschesten Frauen gesehen.“ „Vielleicht ist es auch die Faszination des Geldes“, sagte Simosch. Sie zuckte die Schultern. „Bei Herrn Hopfer? Ich weiß nicht recht … nein, dazu kann ich mich nicht äußern.“ 172
„Wen hatte er sich denn an jenem Abend eingeladen?“ „Zwei Blondinen. Ich kannte sie nicht. Auch nicht vom Ansehen.“ Es wird nicht wichtig sein, dachte Simosch. Wenn Hopfer spätabends sechzig Kilometer von der Stadt entfernt feierte und am nächsten Morgen in jenem Ort an der Bushaltestelle stand, wie soll er da um Mitternacht in die Stadt gekommen sein? Frau Bach hatte offensichtlich den gleichen Gedanken, als sie sagte: „So spät am Abend fährt kein Zug mehr in die Stadt zurück, Und nach zwanzig Uhr ist auch mit der Busverbindung Schluß.“ Vielleicht ist Anja bei ihm gewesen, überlegte Simosch, die Straßenbahnlinie Vier fährt am Hauptbahnhof vorbei … Er zog eine Fotografie von Anja aus der Tasche und zeigte sie der Kellnerin. „Ist das eines der Mädchen, mit denen Herr Hopfer feierte?“ Sie betrachtete das Bild, sagte entschieden: „Nein. Das ist ja fast noch ein Kind. Herr Hopfer bevorzugt Damen.“ Sie dehnte das letzte Wort und lächelte zweideutig. „Da fällt mir ein, daß der Wirt vom ‚Stillen Otto‘ die eine kennen muß. Sie hat sich längere Zeit mit ihm unterhalten.“ Simosch bedankte sich und verließ die Kellnerin mit einiger Erleichterung: Wenn der Hauptbuchhalter ein akzeptables Alibi besaß, konnte das für die Ermittlungen im Warenhaus nur vorteilhaft sein. Inzwischen war die Mittagszeit herangerückt, und der Oberleutnant beschloß, noch einmal die Dienststelle aufzusuchen, bevor er zur Vernehmung der Chefsekretärin ins Warenhaus fuhr, eine Pflicht, die ebenso unerfreulich wie unausweichlich war. 173
Er aß in der Kantine zu Mittag, ohne Appetit, in Gedanken bei Fräulein Vogel. Das Telefon klingelte, als er sein Zimmer aufschloß. Es meldete sich einer der Kriminalisten, die Herrn Wilfried Rennhaak im Auge behalten sollten. „Er hat auf das Essen verzichtet“, berichtete er, „und ist in der Mittagspause in das Neubauviertel am Operettentheater gefahren, und zwar zur Mozartstraße drei. Dort hat er sich knapp zehn Minuten bei einer Frau Christina Vogel aufgehalten und ist dann sofort in die GHG zurückgefahren.“ „Danke“, sagte Simosch. „Bleiben Sie weiter auf Ihrem Platz.“ Er hielt noch den Hörer in der Hand, als der Teilnehmer längst aufgelegt hatte. Silbervogel, dachte er, was hast du nur getan? Er fühlte eine Traurigkeit, die so stark war, daß sie ihm körperliche Schmerzen verursachte: Stechen in der Herzgegend und Würgen im Hals. Langsam legte er den Hörer zurück. Er erinnerte sich an Täter, die von sich aus nicht die Kraft aufbrachten, zur Polizei zu gehen, obwohl sie sich von ihren Straftaten innerlich längst distanziert hatten. Für sie war die Festnahme und das anschließende Geständnis meist eine Erleichterung gewesen. Vielleicht geht es ihr auch so, dachte Simosch, ihr verändertes Wesen, dieser Rückzug in sich selbst, läßt zumindest auf eine seelische Verwirrung schließen. Hoffentlich hat sie Vertrauen zu mir, erzählt, wie sie hineingeglitten ist, von welchen Motiven sie geleitet, nein, verleitet wurde. Und hoffentlich sind es nur die Unterschlagungen … Mit einem Seufzer griff er zum Telefon und rief Leutnant Rückert an. Mit wenigen Worten, aus denen zufällige Mithörer kaum etwas entnehmen konnten, teilte er ihm seinen Verdacht mit, daß ihr Bekannter (den Namen Rennhaak nannte er nicht), den er eben aufgesucht habe, 174
ihre weitere Fürsorge brauchen könnte. Dann fragte er, ob die Dame des Hauses anwesend sei. „Sie war von acht bis elf Uhr zu sprechen“, erwiderte Rückert ironisch, „weitere Audienzen finden in der Privatwohnung statt.“ „Eben da will ich jetzt hin“, sagte Simosch. „Ach, Sie …?“ In Fräulein Vogels Stimme lag Erstaunen und Freude, als sie dem Oberleutnant die Tür öffnete. „Darf ich eintreten?“ Er sah, daß sie geweint hatte. Ihre Lider waren leicht gerötet. Sie hatte sich nicht geschminkt, nur die Brauen ein wenig nachgezogen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, ein kombinierter Wohn- und Schlafraum, ausgestattet mit neuen Möbeln, sachlich und doch feminin eingerichtet. In der Luft lag ein Hauch von Lavendel. Simosch nahm in einem Sessel neben einem Intarsientisch Platz, sie setzte sich ihm gegenüber und fragte: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ Er blickte sie an, spürte wieder die schmerzhafte Traurigkeit und sagte abwesend: „Nein, danke. Ich bin gekommen, um zu erfahren, was mit Ihnen los ist.“ „Es geht mir nicht gut“, sagte sie müde und stützte den Kopf in die Hand. „Überarbeitet?“ „Kaum.“ „Herr Hopfer sagte, Sie seien früher nie krank gewesen.“ „Früher“, erwiderte sie bitter, „was gilt das jetzt noch!“ Sie quält sich, dachte Simosch, weil sie mit sich selbst unzufrieden ist. „Als Anja Bindseil sich qualifizieren wollte, haben Sie ihr geraten, persönliche Belange mit den Pflichten in Einklang zu bringen. Sie wollten 175
nicht, daß es in Ihrer Abteilung drunter und drüber geht. Und nun …“ „Ich weiß“, sagte sie. „Aber jetzt kann ich es nicht mehr ändern.“ Es klang verzagt. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, verkrampfte die Hände ineinander, und Simosch sah, daß sie Angst hatte. „Christina, bitte, haben Sie Vertrauen zu mir. Was ist los mit Ihnen?“ „Ich … weiß nicht.“ „Doch. Ich stelle Ihnen jetzt Fragen, und Sie werden sie mir alle wahrheitsgemäß beantworten. Auch wenn es Sie Kraft kostet und Überwindung.“ „Ich weiß nicht“, sagte sie wieder. „Was waren das für Unterlagen, mit denen sich Anja Bindseil befaßt hat?“ „Die Unterlagen?“ fragte sie mit einer Stimme, die noch dunkler war als sonst. In dem Blick, den sie Simosch zuwarf, lag Befremden. Sie schien eine ganz andere Frage erwartet zu haben. „Ich sagte es Ihnen doch schon, es waren Belege vom Wareneingang bis zum Verkauf.“ „Und die sah sich Fräulein Bindseil an? Ungefähr so, wie man sie bei einer Revision prüfen würde?“ „Ungefähr so.“ „Wer außer Ihnen wußte das?“ „Ich nehme an, keiner außer mir.“ „Haben Sie diese Belege – oder zumindest einige davon – später einmal zur Hand genommen?“ „Nein.“ „Gestern abend vielleicht?“ „Aber … dazu hatte ich gar keine Zeit. Ich mußte meine Arbeit nachholen.“ „Wer ist außer Ihnen gestern noch länger im Haus gewesen?“ 176
„Unser ökonomischer Direktor. Ich traf ihn im Treppenhaus, als ich ging, und er lobte meinen Arbeitseifer. Ich war sehr verlegen, denn ich bin vormittags schließlich mit zwei Stunden Verspätung gekommen.“ „Warum halten Sie Ihre Arbeitszeit nicht mehr ein, Christina?“ „Ich … möchte darauf nicht antworten“, sagte sie mit traurigem Lächeln. „Das hat sehr persönliche Gründe. Aber bitte, denken Sie nicht, daß ich die Situation ausnutze, in der sich Herr Hopfer jetzt befindet. Er hat nämlich fast keine Möglichkeit mehr, mich zu tadeln, da Ihre Leute ständig anwesend sind.“ „Das wird sich bald ändern. Die Belege, die wir brauchen, sind zwar über Nacht verschwunden, aber wir kommen trotzdem zum Ziel.“ „Zu welchem Ziel?“ fragte sie ahnungsvoll. „Nach dem letzten Vorfall – damit meine ich, daß Unterlagen beseitigt wurden – brauchen wir kein Geheimnis mehr aus unserer Arbeit zu machen“, antwortete Simosch und ließ sie nicht aus den Augen. „Im Bereich der Buchhaltung sind Unterschlagungen begangen worden, und die Täter beginnen zu fürchten, daß wir ihnen auf die Schliche kommen. Christina, was wissen Sie von dieser Angelegenheit?“ Sie blickte an Simosch vorbei und schwieg. Sie sah enttäuscht aus. „Christina!“ drängte Simosch. „Ich weiß nichts.“ „Dann muß ich weiterfragen.“ „Bitte.“ „Möglicherweise hat Fräulein Bindseil beim Studium dieser Unterlagen heraufgefunden, daß Veruntreuungen begangen worden sind. Hat sie Ihnen gegenüber etwas geäußert?“ 177
„Nein.“ „Wußten Sie, daß sie sich ein Grundstück gekauft hat?“ „Nein. Sie fragte nur eines Tages, das war, kurz bevor sie getötet wurde: ‚Was meinen Sie? Eine Datsche muß man wohl heutzutage haben, um in zu sein?‘ Ich mußte darüber lachen und sagte ihr, daß ich zum Beispiel keine besitze und mich trotzdem als gesellschaftsfähig betrachte. Doch sie meinte, für Heinz Caster sei das von praktischem Nutzen, und es habe gewiß auch eine moralische Bedeutung, wenn er sagen könne, er fahre aufs Grundstück.“ „Sie hat zweitausend Mark für einen Garten mit Laube investiert.“ „Das war viel Geld für Anja“, sagte Fräulein Vogel überrascht. „Sie brauchte noch mehr, um sich Caster zurückzuholen. Wie oder von wem konnte sie sich das beschaffen?“ „Ich habe ihr nie etwas geliehen, falls Sie das vermuten.“ „Ich denke an die Unterschlagungen. Ich denke daran, daß Anja die Unterlagen kannte, die jetzt verschwunden sind; ich denke, sie wußte, wer der Wolf im Schafspelz ist, und münzte ihr Wissen in Geld um. Und ich denke auch, daß so etwas für den Erpreßten zum Mordmotiv werden kann.“ Fräulein Vogel stützte die Ellenbogen auf den Tisch und preßte die Finger gegen die Schläfen. „Entschuldigen Sie, aber das ist ein bißchen viel auf einmal.“ Sie atmete in kleinen hastigen Stößen. „Ich wünschte, ich hätte es Ihnen ersparen können, aber …“ Simosch brach den Satz ab, sah sie an, bittend, auffordernd, doch sie wich seinem Blick aus und sagte leise: 178
„Und ich wünschte, daß ich mit Ihnen darüber sprechen könnte, aber ich weiß nichts.“ Er betrachtete sie schweigend, das schmale Gesicht, den schlanken Hals, über dem sich die schwarz-silbernen Löckchen ringelten, die dunklen, leicht schräggestellten Augen, in denen Angst saß. Sie ist starrköpfig und stolz, dachte er. Sie muß so sein. Sie strahlt Anziehungskraft aus, und ich fühle mich zu ihr hingezogen. Aber ich vermute, daß sie irgend etwas Schreckliches angestellt hat, und ich, ausgerechnet ich, muß sie überführen. „Was wollte Herr Rennhaak vorhin von Ihnen?“ fragte er unvermittelt. „Er hat mich zum Essen eingeladen“, entgegnete sie ruhig. Sie schien sich mit der Situation und mit Simoschs Fragen abgefunden zu haben. „Und?“ „Mir war nicht danach.“ „Wie gut kennen Sie Herrn Rennhaak?“ „So gut, wie man einen Kollegen aus einem anderen Betrieb eben kennt – flüchtig.“ „Da kommt er in der Mittagspause extra zu Ihnen nach Hause gefahren, um Sie zum Essen einzuladen?“ „Das ist so seine Art“, sagte sie, „das hat überhaupt nichts zu bedeuten.“ Nur, daß ihn diese täglichen Einladungen eine Menge Geld kosten, dachte Simosch. „War er heute anders als sonst?“ Sie nickte. „Noch charmanter, lustiger. Wie aufgezogen. Aber das war nicht echt.“ „Hatte er Verbindung zu Anja Bindseil?“ „Das ist mir nie aufgefallen.“ „Erinnern Sie sich an Fräulein Bindseils letzten Arbeitstag?“ 179
„Ja. Sie wollte zu Frau Caster gehen, und ich konnte sie nicht davon abbringen.“ „Wo waren Sie an jenem Abend?“ „Zu Hause.“ Sie sprach noch immer ruhig, fast apathisch, wie jemand, der sich einem unabänderlichen Geschehen fügt. „Wir haben jemanden gefunden, der Fräulein Bindseil abends noch gesehen hat, als sie längst von Frau Caster zurückgekehrt war. Sie stieg in die Straßenbahn der Linie Vier …“ „Ich … habe kein Alibi“, sagte sie mit ihrem traurigen Lächeln und sah Simosch ins Gesicht. Sie blickte ihn auch noch an, als ihr die Augen schon feucht wurden. „Nein“, sagte Simosch, „Sie haben kein Alibi. Sie haben etwas auf dem Herzen, das Sie nicht mehr froh werden läßt. Christina, bitte, sprechen Sie endlich. Sagen Sie mir, was mit Ihnen los ist, was Sie bedrückt.“ „Vorhin war ich beinahe soweit, es Ihnen anzuvertrauen, einfach so“, erwiderte sie. „Jetzt muß ich es tun, weil Sie mich verdächtigen.“ „Es spricht vieles gegen Sie, und ich muß die Wahrheit wissen.“ Sie tupfte mit dem Handrücken gegen die Augen und sagte betont sachlich: „Sie sind der erste, der es erfährt. Ich habe einen Tumor. Nächste Woche fahre ich nach Berlin-Buch zur Operation.“ „Einen Tumor?“ wiederholte Simosch fassungslos. „Ja. Die Ärzte nennen es ein Astrozytom, das ist ein Kleinhirntumor, ein gutartiger.“ „Wissen Sie das schon lange?“ „Ich leide seit einiger Zeit unter starken Kopfschmerzen. Als dann Begleiterscheinungen auftraten wie Schwindel180
gefühl, leichte Reizbarkeit und Unsicherheit beim Gehen, habe ich mich gründlich untersuchen lassen.“ „Niemand hat Ihnen etwas angemerkt.“ Sie nickte. „Das wollte ich ja gerade. Es hat mich davor bewahrt, ein kleiner, verzweifelter Mensch zu werden.“ „Konnten Sie sich nicht wenigstens mit jemandem aussprechen, der Ihnen persönlich nahesteht?“ „Nein. Ich wollte meine eigenen Ängste nicht in den Augen eines anderen wiederfinden, der sich um mich sorgt.“ „Aber man hätte Ihnen die Arbeit erleichtern, mehr Rücksicht auf Sie nehmen können.“ „Ich habe die Arbeit gebraucht. Viel Arbeit, um meine Furcht abzulenken und mir diese Krankheit und die Operation nicht weiter auszumalen. Nur in der letzten Woche, da habe ich nicht mehr durchgehalten.“ „Sie lassen sich ab sofort krank schreiben!“ „Ja, Herr Oberleutnant“, sagte sie wehmütig lächelnd, aber sie zwinkerte ihm zu. „Christina, neulich im Warenhaus, da sind Sie vor mir davongelaufen. Warum?“ „Es ging mir schlecht an diesem Tag. Ich hatte Gleichgewichtsstörungen, dieses verflixte Taumeln. Sie sollten mich so nicht sehen und mich nicht fragen und trösten. Es wäre gräßlich gewesen, wenn Ihre Stimme so einen mitleidigen Klang gekriegt hätte.“ „Sie haben sich wunderbar gehalten.“ „Danke. Aber nun ist’s auch damit vorbei. Ich kann kaum noch arbeiten, traue mich oftmals nicht auf die Straße, und das alles, weil ich der Angst nicht mehr Herr werde. Diese verteufelte Angst …“ Er hätte ihr gern etwas Gutes, Aufmunterndes entgegnet, fürchtete aber, daß es banal klingen und ihn in die 181
Rolle des nichtssagenden Trösters drängen würde. Deshalb sagte er einfach: „Sie müssen durchhalten, Christina. Sie müssen. Ich befehle es Ihnen.“ Sie lachte. „Und jetzt koche ich uns doch einen Kaffee.“ „Darf ich mit in die Küche kommen?“ „Gern.“ Sie setzte einen Kessel mit Wasser auf die Elektroplatte, und während die Kaffeemühle kreischte, dachte er: Nächste Woche um diese Zeit ist sie vielleicht schon operiert worden. Dann hat sie alles überstanden. Und angstvoll fragte er sich, was das wohl in diesem Falle sei, dieses „alles“. Es ist eine schwierige Operation, überlegte er, aber sie wird von Fachleuten ausgeführt, für die sie keine Seltenheit mehr darstellt. Trotzdem: Es können Nerven verletzt werden, oder es kann sich ein Hirnödem bilden – und das weiß sie. Ihre Gedanken liefen die gleichen Bahnen, denn sie sagte: „Selbst wenn alles gut geht, bleibt eine Unannehmlichkeit – geschorenes Haar.“ „Du liebe Zeit“, rief Simosch, „wenn Sie weiter keine Sorgen drücken!“ „Auf jeden Fall habe ich vorgesorgt und trage seit längerer Zeit eine Perücke.“ „Und in Wirklichkeit haben Sie schulterlanges dunkelbraunes Haar … Lassen Sie die Kanne nicht fallen.“ Er brühte den Kaffee auf und erzählte ihr schmunzelnd von Platon, der sie ohne Perücke für ihre eigene Schwester gehalten hatte. Als sie wieder am Tisch saßen, sagte er: „Über unsere Unterhaltung dürfen Sie zu niemandem sprechen. Darauf muß ich mich verlassen können.“ Sie nickte. 182
„Bitte, denken Sie in Ruhe noch einmal über alles nach, über Eigenheiten, Äußerungen, Veränderungen Ihrer Kollegen. Jetzt, da Sie wissen, was geschehen ist, sehen Sie vielleicht manches in einem anderen Licht. Aber grübeln Sie nicht soviel, damit sich Ihre Kopfschmerzen nicht verschlimmern.“ „Im Gegenteil“, sagte sie, „ich bin froh, daß meine Gedanken etwas haben, woran sie sich festhalten können. Nur muß ich das Ganze erst einmal begreifen. Ich muß mir klarmachen, daß unter den Menschen, mit denen ich täglich zusammenarbeite, jemand sein könnte, der Anja Bindseil getötet hat. Bis jetzt hatte ich angenommen, der Mörder sei in ihrem privaten Bekanntenkreis zu suchen.“ „Caster?“ „Caster oder dieser Boxer.“ „Auch das ist möglich“, sagte er und dachte: Zumindest müssen wir uns die Familie Caster noch einmal genau ansehen. Vielleicht wissen wir auch durch die Kontenüberprüfung heute abend schon den Namen des Betrügers, überlegte er, und wenn wir diesen Namen dem Herrn Rennhaak präsentieren, wird der hübsche Junge mit den schwachen Nerven gewiß zu reden anfangen. Auch über Frau Caster, die er mit Sicherheit vom Klub her kennt. Inzwischen wird der Hauptwachtmeister noch einiges über sie erfahren haben. Ganz gleich, ob der Mörder im Warenhaus sitzt oder sich an einem anderen Ort aufhält – er kommt nicht mehr weit. Wir haben ihm den Fluchtweg von allen Seiten versperrt. „Wann fahren Sie nach Berlin?“ fragte er. „Montag morgen.“ „Wenn ich es möglich machen kann, bringe ich Sie zum Bahnhof. Aber bitte, verlassen Sie sich nicht darauf. Sie wissen, bei meinem Beruf …“ 183
Jetzt war sie es, die ihm aufmunternd zulächelte. „Wenn Sie es nicht möglich machen können“, sagte sie, „werde ich daran denken, wie gern Sie gekommen wären.“ 13 Dem roten Trabant entstieg Herr Rennhaak, papageienbunt gekleidet. Er betrat den Vorraum der VP-Dienststelle und schaute mißmutig drein, als der Wachhabende ihm einen Passierschein ausschrieb und ihn aufforderte, sich in der ersten Etage, Zimmer 25, zu melden. Betont forsch stieg er die Treppe empor, klopfte und betrat stirnrunzelnd Oberleutnant Simoschs Dienstzimmer. „Das geht entschieden zu weit“, klagte er nach einem kurzen Gruß, „Ihretwegen muß ich schon wieder meine Arbeitszeit opfern.“ „Nehmen Sie Platz, und halten Sie mich bei guter Laune, Herr Rennhaak“, entgegnete Simosch. „Ich lasse manchmal eine Lüge durchgehen, aber wenn man es ein zweites Mal versucht, werde ich ungemütlich.“ „Was soll das?“ rief Herr Rennhaak, sprang auf und setzte sich sofort wieder. Fürchterlich nervös heute, konstatierte Simosch, schlechtes Gewissen wahrscheinlich. „Wir wissen, daß die Geldscheine, die Sie Tag für Tag und Abend für Abend aus Ihrem schönen roten Lacklederportemonnaie ziehen, einer trüben Quelle entstammen.“ „Aber … wieso? Woher kennen Sie übrigens mein Portemonnaie und …“ „Und?“ fragte Simosch ruhig, als Rennhaak stockte. „Was heißt ‚trübe Quelle‘?“ 184
„Unsauberes Geschäft. In Ihrem Falle: Beteiligung an den Betrügereien im Warenhaus.“ In Herrn Rennhaaks Augen saß die Angst, und seine wortreiche Entgegnung, in der von Unterstellung und Protest die Rede war, glich zuletzt einem hilflosen Gestammel. Außerdem irritierte ihn offensichtlich die Tatsache, daß seine Geldtasche genau der Beschreibung entsprach, die der Oberleutnant gegeben hatte. Man schien eine Menge über ihn in Erfahrung gebracht zu haben. „Mit wieviel Prozent sind Sie an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt?“ „Ich verstehe nicht …“ „Ich möchte wissen, was Sie dafür bekommen, daß Sie Rechnungen abfangen, die in der Buchhaltung des Warenhauses gedoubelt wurden.“ Der Mann mit der roten Weste und dem buntgeblümten Binder schwitzte. Aber er gab nicht auf. „Entweder liegt hier ein gräßlicher Irrtum vor, oder Sie bluffen“, sagte er, deutlich bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Natürlich bluffe ich, dachte Simosch, was bleibt mir denn anderes übrig? Mit großer Wahrscheinlichkeit bist du die linke Hand des Mannes, nach dem wir fahnden. Hätten wir eindeutige Beweise dafür, könnte ich auf den Versuch verzichten, dich aufs Glatteis zu locken. „Wer hat denn Rechnungen gedoubelt?“ fragte Herr Rennhaak, atmete auf, weil der Oberleutnant schwieg, und fuhr dann etwas dreist fort: „Mit wem soll ich überhaupt unsaubere Geschäfte gemacht haben, bitte schön?“ „Wir kennen die Person noch nicht, aber wir wissen, daß sie gefährlich ist. Haben Sie überhaupt eine Ahnung davon, daß das unterschlagene Geld seit einigen Wochen durch drei geteilt wurde?“ 185
Rennhaaks Blick war jetzt bestürzt, aber er sagte: „Ich weiß überhaupt nichts. Es muß sich um einen Irrtum handeln, so glauben Sie mir doch endlich!“ „Dann werde ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen. Sie dürfen darüber lachen, wenn Ihnen danach zumute ist: Irgendwo im Warenhaus sitzt jemand, der sich einen Dreh ausgedacht hat, wie man ohne Arbeit zu Geld kommen kann, und zwar zu beträchtlichen Summen. Er läßt etliche Warenposten, die aus der GHG Textilwaren stammen, doppelt bezahlen. Sein Helfer in der GHG fängt das Doubel auf, aber statt den Mehrbetrag an das Warenhaus zurückzuschicken, bringt er ihn beiseite. Den größeren Teil davon muß er allerdings an den bewußten Jemand, der sich den Dreh ausgedacht hat, abgeben. Die Sache funktioniert tadellos, und man kann im Laufe der Jahre an die hunderttausend Mark zusammenraffen. Da kommt eines Tages eine kleine Sekretärin hinter den Betrug, und sie möchte sich ein Stück abschneiden von dem großen Kuchen. Sie droht und erpreßt oder steigt ein ins Unternehmen – gleichviel, sie wird zu einer Gefahr. Der Mann in der GHG ahnt davon allerdings nichts, denn sein ‚Chef weiht ihn in solche Zwischenfälle nicht ein. Der löst das Problem auf seine Art: Das Mädchen verschwindet. Die Polizei findet es nach einiger Zeit in einer Baugrube verscharrt. Dies jedoch löst Untersuchungen aus, und man kommt hinter den Trick mit den doppelten Rechnungen. Den Betrüger kann man nicht sofort greifen, er ist zu gut getarnt. Allerdings wird er es nur so lange sein, wie der Komplize in der GHG unentdeckt bleibt, schweigt, nicht nervös wird, keinen Fehler begeht. Jedoch von dem Augenblick an, da die Polizei sich für ihn interessiert, ist er eine permanente Gefahr für den ‚Chef‘, der solche Probleme auf seine Art löst. Sie haben es 186
gehört, Herr Rennhaak, das Mädchen war in einer Baugrube verscharrt …“ Simosch schwieg. Sein Gegenüber saß mit aschegrauem Gesicht und nervös zuckenden Händen vor ihm. „Wollen Sie mich … hierbehalten? Verhaften?“ fragte er schließlich. „Hierzubleiben wäre das sicherste für Sie. Und Sie dürfen es tun, wenn Sie sich mit mir über diesen Mann – oder ist es eine Frau? – unterhalten wollen. Wollen Sie es nicht, gehen Sie bitte nach Hause und lachen Sie herzhaft über meine Geschichte, denn dann droht Ihnen ja keinerlei Gefahr.“ Herr Rennhaak erhob sich, wischte den Schweiß von der Stirn und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich gehe.“ Als er an der Tür war, rief ihn der Oberleutnant zurück. „Eine Frage noch: Wie war das an jenem Abend im Architektenklub? Sie lernten dort Frau Elvira Caster kennen, nach der ich Sie schon einmal gefragt habe. Oder irre ich mich da wieder?“ „Aber nein!“ Herr Rennhaak kam zurück, blieb neben dem Stuhl stehen, sagte: „Ich hatte diesen Namen nur nicht mit der richtigen Person in Zusammenhang gebracht. Entschuldigen Sie …“ Ihm schien ein Gespräch über Frau Caster weitaus willkommener zu sein als eine Geschichte, in der es um Betrug und Tod ging. „Wie lernten Sie Frau Caster kennen?“ fragte Simosch. „Sie kam sehr spät an jenem Abend. Ich fand sie ziemlich aufgekratzt, aber es gab auch Augenblicke, in denen sie mit ihren Gedanken weit weg zu sein schien. Gegen Mitternacht verschwand sie, ein Mann, mindestens zehn Jahre jünger, begleitete sie. Nach zwei Stunden ungefähr tauchten beide wieder auf.“ 187
„Beide?“ fragte Simosch und dachte: Von einem Begleiter hat der Hauptwachtmeister nichts erzählt. Wahrscheinlich hatten diejenigen, die er befragte, den Mann nicht wahrgenommen. Ansonsten aber stimmten Rennhaaks Angaben mit dem überein, was Seidel herausgefunden hat. „Beide“, bekräftigte Herr Rennhaak. „Und was geschah dann?“ „Ich habe mich nicht ausschließlich um diese Frau gekümmert. Wenn sie sich nicht so gräßlich betrunken hätte, wäre sie mir wahrscheinlich nicht in Erinnerung geblieben.“ „Frau Caster betrank sich also.“ „Ja. Und sie wurde dabei immer grantiger, schwamm förmlich in abfälligen Äußerungen über andere Gäste.“ „Erinnern Sie sich, wann sie den ‚Haifisch‘ verließ?“ „Darüber kann ich nichts sagen. Sie brach nämlich erst nach mir auf.“ „Gut. Ich danke Ihnen. Möchten Sie mir sonst noch etwas mitteilen?“ Herr Rennhaak zögerte, sah Simosch fast flehend an, murmelte aber dann: „Nein, ich weiß wirklich nichts …“ und ging zur Tür. Diesmal hielt ihn der Oberleutnant nicht zurück. Er griff zum Telefon, und als sich sein Gesprächspartner meldete, sagte er: „Er geht jetzt zu seinem Wagen. Laßt ihn keinen Augenblick mehr aus den Augen.“ Sie trafen sich im Stadtpark. Christina Vogel trug einen weinroten Hosenanzug, schwarze Schuhe und eine gleichfarbene Lackledertasche. Nicht die kleinste äußere Nachlässigkeit verriet, daß sie krank war und von zunehmender Angst gequält wurde, je näher der Tag heranrückte, 188
an dem sie operiert werden sollte. Aber blaß sah sie aus, und – sie trug ihre Perücke nicht. Ihr Haar fiel über die Schultern, braun, voll, weich, für Simosch eine Versuchung, es zu streicheln. Seine Augen verrieten ihr das, und sie wurde verlegen unter diesem Blick. „Ich wollte, daß Sie mich auch einmal so gesehen haben“, sagte sie, „nächste Woche ist es vorüber mit der Pracht.“ „Ich möchte Sie wieder so sehen“, entgegnete er. „In einem halben Jahr vielleicht oder noch später.“ „Das macht nichts. Ich kann warten.“ Sie verstand, was Simosch ihr sagen wollte, spürte, daß er ihr immer nahe sein würde. Oftmals nur in Gedanken oder Wunschträumen, das brachten die Umstände mit sich, ihre Krankheit, sein Beruf. Doch es tat ihr gut, zu wissen, daß er sich nach ihr sehnte … „Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken“, sagte sie schließlich, „große Erkenntnisse sind mir dabei nicht gekommen, trotzdem möchte ich Ihnen das wenige, das ich für bemerkenswert halte, mitteilen.“ „Gut“, erwiderte Simosch, „und scheuen Sie sich nicht, auch anscheinend Nebensächliches zu erwähnen. So etwas kann ein Bild abrunden oder neue Akzente setzen.“ „Zum Beispiel verstehe ich bis heute nicht – und im Unterbewußtsein hat mich das die ganze Zeit beschäftigt –, warum Herr Hopfer so schnell der von Anja gewünschten Weiterbildung zur Disponentin zustimmte. Drei Dinge irritieren mich daran: Anja Bindseil war erst kurze Zeit bei uns und hätte sich eigentlich noch für den Arbeitsplatz qualifizieren müssen, um später zur Chefsekretärin aufrücken zu können. Dazu kommt der Personalmangel in unserer Abteilung. Herr Hopfer ist so betriebsegoistisch, daß 189
er eingearbeitete Mitarbeiter am liebsten gar nicht abgibt. Weshalb dann diese offenkundige Ausnahme? Wollte er das Mädchen ‚fortqualifizieren‘? Was könnte der Grund für dieses Verhalten sein? Am absonderlichsten aber erscheint mir die Situation, in der Anja ihr Anliegen durchgedrückt hat. Ich sehe das alles noch vor mir: Anja kommt fast zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit. Ein Vergehen, das Herr Hopfer bis dahin stets mit Ungerechtigkeiten quittierte, keinesfalls mit großzügigen Zugeständnissen! Wäre es möglich, daß sie etwas gegen ihn in der Hand hatte?“ „Möglich wäre vieles“, erwiderte der Oberleutnant ausweichend. „Noch etwas ist mir eingefallen, ich hatte es längst vergessen, weil ich es für bedeutungslos hielt, und vielleicht ist es das auch …“ Sie zögerte weiterzusprechen. „Erzählen Sie nur“, sagte Simosch, „vielleicht finden wir eines dieser Mosaiksteinchen, die in der rechten Zusammensetzung ein Bild ergeben.“ „Vor einem Jahr ungefähr, an einem Sonntag, sah ich Herrn Hopfer in Begleitung eines Mädchens. Es war größer als er, gut gewachsen, blond – kurz: was man im landläufigen Sinne hübsch nennt. Sie kamen vom Bahnhof und gingen zum Parkplatz. Aus weiblicher Neugier wollte ich wissen, welchen Wagentyp das Mädchen chauffieren würde. Sie stiegen in einen dunkelblauen Škoda, doch zu meiner Überraschung setzte sich nicht das Mädchen, sondern Herr Hopfer hinter das Lenkrad und steuerte den Wagen exakt nach Buchhalterart durch die eng beieinanderstehenden Autos zur Straße. Dann fuhr er in scharfem Tempo davon.“ Silbervogel schwieg, warf Simosch einen fragenden Blick zu, sah, daß er grübelte, und fuhr fort: „Das mag 190
alltäglich klingen für jemanden, der diesen Mann nicht kennt. Aber ich habe im Laufe der Jahre ein Gespür für Dinge entwickelt, die ihm wesensfremd sind – oder zu sein scheinen, denn ich kann nur davon ausgehen, wie er sich wochentags zwischen acht und siebzehn Uhr gibt.“ In Simoschs Kopf jagten sich die Gedanken, deshalb beantwortete er Silbervogels letzte Bemerkung nur mit einem Nicken. Führte dieser Hopfer etwa ein Doppelleben? Man mußte das blonde Mädchen finden, denn auch die Kellnerin hatte ihn in ihrer Begleitung gesehen, beim Frühlingsfest, sechzig Bahnkilometer von der Stelle entfernt, an der Anja Bindseil ermordet wurde. Wenn die beiden einen Wagen fuhren … „Haben Sie Herrn Hopfer später einmal in diesem Škoda gesehen?“ „Nein. Er hat auch nie erwähnt, daß er einen besitzt. Vielleicht spielt er nur den Kavalier, wenn er eine Bekannte oder Verwandte trifft, die einen Wagen besitzt. Das sähe ihm ähnlich.“ „Haben Sie sich noch über Herrn Rennhaak Gedanken gemacht?“ „Ja.“ Sie seufzte. „Aber dabei ist überhaupt nichts herausgekommen. Wenn er mich oder irgendeine andere Kollegin zum Essen einlädt, dann ist das nur so – zur Schau. Sie haben gewiß bemerkt, daß er sich aus Frauen nichts macht. Und warum er gestern plötzlich bei mir auftauchte und wieder verschwand, dafür habe ich wirklich keine Erklärung. Ich fürchte, nun halten Sie statt der erwarteten Mosaiksteinchen nur ein paar Sandkörner in der Hand.“ „Das wird sich noch herausstellen.“ „Unser charmanter Garderobenständer“, sagte Silbervogel versonnen, „er ist wirklich eine ausgezeichnete Fachkraft, und doch kommt er mir manchmal so … so 191
hilflos vor. Er wird im Warenhaus geachtet und geschätzt, und bis auf den Spitznamen ist nie ein Wort des Spottes laut geworden über ihn. Doch der Respekt gilt eben nur dem Buchhalter. Es gibt wohl keinen Menschen, der diesem kleinen, unansehnlichen Manne gut ist. Wer weiß, wie es in ihm aussieht! Trotzdem glaube ich nicht, daß er fähig wäre, jemanden umzubringen. Allerdings kann ich mir sowieso nicht vorstellen, daß ein Mensch einen anderen tötet, nur um des eigenen Vorteils willen.“ „Man darf es sich auch nicht vorstellen können“, erwiderte Simosch leise. Leutnant Rückert war ziemlich bestürzt gewesen, daß Simoschs Verdacht neuerlich und nicht ohne Grund auf den Hauptbuchhalter fiel. Um so befreiter atmete er auf, als er ihm mitteilen konnte, Herr Hopfer besitze weder einen Škoda noch sonst einen Wagen. Vor fünf Jahren habe er allerdings die Fahrerlaubnis erworben. Rückert ermittelte zur Zeit gegen den ökonomischen Leiter des Warenhaus, in dessen Leben und Verhalten keineswegs alles so in Ordnung war, wie es nach außen hin den Anschein hatte. Trotzdem wies nichts darauf hin, daß er an den Unterschlagungen beteiligt war. Für den kommenden Nachmittag hatte Simosch den Leutnant zu einer „Landpartie“ eingeladen. Sie wollten nach Birkenwalde fahren und herausfinden, ob es für Herrn Hopfer eine Möglichkeit gegeben hatte, in der Mordnacht doch zur Stadt zurückzufahren. Außerdem mußten sie das blonde Mädchen aufspüren, das zweimal in seiner Begleitung gesehen worden war. Über Wilfried Rennhaak hatten sie in Erfahrung gebracht, daß er nach dem Gespräch mit Simosch nicht in 192
die GHG, sondern zu seinem Arzt gefahren war, der ihn wegen totaler Erschöpfung krank geschrieben hatte. Ruhe vor dem Sturm, dachte Simosch. Er war auf dem Weg zur Hegelstraße, vormittags, zu einer Zeit, da er Frau Caster allein anzutreffen hoffte. Als er den Wagen vor ihrem Haus parkte, verbannte er aus seinem Kopf alle Gedanken, die nichts mit der kommenden Begegnung zu tun hatten. Er mußte sich auf das Gespräch mit dieser Frau konzentrieren, denn es konnte die Klärung des Mordfalles Anja Bindseil bringen – oder wiederum einen Verdächtigen ausschließen. Dann aber blieb nur noch einer … Elvira Caster gab Simosch recht unverblümt zu verstehen, daß er störe. Sie habe Arbeit, Aufträge, Termine … Auf dem Tisch lagen Zeichnungen ausgebreitet, daneben in einer Schale Dreieck, Lineal, Bleistifte. Da sie ihm keinen Platz anbot, blieb Simosch mitten im Zimmer stehen und sagte: „Ich suche Sie ohnehin zum letztenmal auf, um Ihnen die Chance zu geben, mir endlich die Wahrheit zu sagen.“ „So?“ Frau Caster sagte es spöttisch, provozierend, zündete sich eine Zigarette an und wies dann doch auf einen Sessel. Sie selbst nahm am Arbeitstisch Platz. „Und was kommt nach diesem ‚letztenmal‘?“ „Ihre Festnahme.“ Sie tat überrascht. „Ach? Und warum?“ „Weil Sie im Verdacht stehen, Anja Bindseil ermordet zu haben.“ „Sie sind verrückt“, erwiderte sie spontan und klopfte die Zigarettenasche in die dafür bereitstehende Schale. Ihre Bewegungen waren heftig und nervös. „Entschuldigen Sie, aber das ist absurd, falls es kein übler Scherz sein sollte.“ „Wo waren Sie in der Mordnacht?“ 193
„Sie haben es also herausgefunden. Hätte ich mir denken können.“ „Also?“ „Im Architektenklub. Im ‚Haifisch‘.“ „Die ganze Nacht?“ Sie überhörte die Frage und rauchte schweigend. „Wer war der junge Mann, mit dem Sie gegen Mitternacht verschwunden sind?“ „Ich erinnere mich nicht“, sagte sie abweisend, „ich hatte ziemlich viel getrunken.“ „So kommen wir nicht weiter, Frau Caster. Das heißt, für Sie führen diese Ausweichmanöver zu nichts. Ich finde den Burschen auch ohne Ihre Hilfe. Warum haben Sie mir nicht gleich erzählt, daß Sie in jener Nacht noch einmal weggegangen sind? Wegen Ihres Mannes?“ Sie blickte auf, unsicher, fragend. „Ich habe geglaubt, das würde Sie nicht interessieren.“ Sie sprach jetzt ruhig, wie jemand, der sich mit etwas Unabänderlichem abzufinden beginnt. „Inzwischen haben Sie Ihre Meinung geändert?“ „Ich weiß nicht recht …“ Sie drückte ihre Zigarette aus. „Im Grunde weiß ich doch überhaupt nichts.“ „Sind Sie im Streit von Ihrem Mann fortgelaufen?“ „Versuchen Sie mal, sich mit dem zu streiten! Irgendwie ähnelt er diesem Mädchen, er tut alles auf so eine unerträglich stille Art ab.“ Simosch stutzte. „Alles?“ „Ich sagte doch, ich weiß es nicht. Aber dieses Mädchen hat über seinen Tod hinaus erreicht, was es wollte: nämlich uns zu trennen. Wie sieht es denn zwischen uns aus! Gegenseitiges Belauern, Mißtrauen, Argwohn. Jeder spinnt sich in seine Welt ein und verwehrt dem anderen den Zugang zu sich.“ 194
Plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen und schluchzte. „Erzählen Sie mir, was an jenem Abend geschehen ist“, sagte der Oberleutnant nach einer Weile. Sie tupfte die Tränen ab und mühte sich, ruhig zu sprechen. „Mein Mann kam, als Fräulein Bindseil längst gegangen war, und ich stellte ihn sofort zur Rede. Ich war sehr erregt, und die Ruhe, mit der er meine Anschuldigungen hinnahm, brachte mich ziemlich aus der Fassung. Er beteuerte, das Verhältnis sei zu Ende, und es tue ihm leid, daß er mir weh getan habe. Zum erstenmal in unserer Ehe glaubte ich ihm kein Wort. Ich spürte, daß er noch an dieser Anja hing und versuchen würde, sie zurückzugewinnen. Vielleicht bedeutete sie ihm nicht mehr als ich, aber irgend etwas fand er bei dem Mädchen, das ich ihm nicht geben konnte. Sie haben es inzwischen selbst von ihm gehört: Aus ihrer Jugend und Unkompliziertheit schöpfte er angeblich Kraft für den Alltag. Ich war enttäuscht, beleidigt, wütend, nahm ein Taxi und fuhr zum Klub, um mich ein bißchen abzulenken. Aber es gelang mir nicht, gegen Mitternacht trieb es mich wieder nach Hause. Ein Kollege hat mich begleitet … nein, denken Sie nicht, daß ich mich auf so eine kleinliche Art an meinem Mann rächen wollte. Danach war mir wirklich nicht zumute. Wir verabschiedeten uns vor dem Gartentor. Ich ging sofort ins Schlafzimmer, die Betten waren unberührt, meinen Mann konnte ich im ganzen Hause nicht finden. Schließlich sah ich einen Zettel im Wohnzimmer auf dem Tisch liegen. Ich werde diese leidige Sache aus der Welt schaffen. Verzeih mir, Heinz, stand darauf. Er war also bei ihr. Ich verzieh ihm nichts und vertraute ihm auch nicht, dachte nur daran, daß er wieder zu ihr gegangen war. Vielleicht können Sie es verstehen: 195
Plötzlich glaubte ich es in dem verlassenen Haus nicht aushalten zu können. Mein Kollege hatte an der Hauptstraße eben ein Taxi erwischt und wollte gerade einsteigen, als ich ihm zurief, ich würde wieder mitkommen. Im Klub habe ich mich dann betrunken.“ „Ihr Mann hat also die ‚leidige Sache‘ aus der Welt geschafft?“ fragte der Oberleutnant. Er ließ Elvira Caster nicht aus den Augen. Sie weinte leise und schwieg. Simosch sah sich im Zimmer um, entdeckte auf der Anrichte eine Flasche bulgarischen Rotwein, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es. „Trinken Sie einen Schluck“, sagte er. Sie gehorchte. Simosch fiel auf, daß sie in den letzten Tagen scheinbar um fahre gealtert war. Auch ihr Makeup wirkte vernachlässigt. „Am nächsten Tag erzählte er mir, das Mädchen sei nicht zu Hause gewesen, aber ich brauche mir ohnehin keine Sorgen mehr zu machen, die Affäre sei vorüber, endgültig und für immer.“ „Haben Sie ihm geglaubt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Seither ist er mürrisch, gereizt, wortkarg, in sich gekehrt. Zuerst versuchte ich es damit zu entschuldigen, daß er Zeit braucht, um Abstand zu gewinnen, aber dann kam die Polizei, und es hieß, das Mädchen sei verschwunden. Seit jenem Abend! Ich kann die Ungewißheit nicht mehr ertragen. Deshalb habe ich es Ihnen erzählt. Ob er sie so sehr geliebt oder in den letzten Stunden so gehaßt hat, daß er …“ Sie stockte. „Grübeln Sie nicht länger, Frau Caster. Ihr Mann hat Anja Bindseil nicht umgebracht. Er traf sie zu Hause nicht an und fuhr auf ihr neuerworbenes Grundstück. Fräulein Bindseil aber war inzwischen in entgegengesetzter Richtung auf und davon. Wir wissen nicht genau, was 196
Ihren Mann bewog, in dem baufälligen Gartenhaus auf das Mädchen zu warten. Vielleicht hatten sie verabredet, sich in Ausnahmefällen dort zu treffen oder füreinander Nachricht zu hinterlassen. Eines ist jedenfalls sicher: Ihr Mann hat für die Tatzeit ein Alibi, aber das Ihrige weist eine Lücke von zwei, drei Stunden auf.“ Frau Caster lachte. Nicht fröhlich, sondern beinahe ein bißchen irre, fand Simosch. Aber ihr war wohl zumute wie jemandem, der, schon unterm Galgen stehend, begnadigt wird. „Ihr Verdacht gegen mich ist völlig unbegründet“, sagte sie. „Da läßt sich jede Minute nachprüfen.“ Sie nannte den Namen des Mannes, der sie in die Hegelstraße begleitet hatte. „Ich wollte ihn in diese Geschichte nicht hineinziehen. Wozu auch? Ich dachte, Heinz sei stärker darin verwickelt, als er zugab. Aber nun …“ „… liegt auch kein Grund zu einer Freudenfeier vor“, entgegnete Simosch. „Sie sollten sich lieber fragen, weshalb Ihre Ehe durch nicht viel mehr als eine gutgefüllte gemeinsame Wirtschaftskasse zusammengehalten wird.“ „Sicherlich, Sie haben wohl recht“, gestand Elvira Caster und nippte an ihrem Weinglas. „Bei uns lebt jeder, vom anderen abgekapselt, in seiner Welt – innerlich. Dieses Mädchen aber hat teilgenommen an dem, was meinen Mann bewegte, und ihn das Leben manchmal mit ihren Augen sehen lassen. Das hat ihm wohlgetan und ihn zugleich verwirrt. Ich hoffe, wir finden wieder zueinander. Aber jetzt ist mir erst einmal der berühmte Stein vom Herzen gefallen, weil mein Mann an ihrem Tode nicht schuld ist.“ „Im juristischen Sinne wohl nicht, aber sonst …“, entgegnete Simosch. 197
14 Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen, und das Brausen des Straßenverkehrs wurde leiser. Der Chauffeur gab mehr Gas. „Das Korn reift schon“, sagte Leutnant Rückert. „Und wie hübsch die Mohnblumen dazwischen aussehen! Als Kind bin ich oft in die Felder hineingelaufen, um sie zu pflücken, und man hat mich dabei nur einmal erwischt …“ Er lächelte. „Wenn mir damals jemand prophezeit hätte, daß ich einmal in der Stadt wohnen, wochenlang in Büroräumen hocken und Listen und Zahlen prüfen würde …“ Er brach den Satz ab, sah Simosch an und sagte: „Es gibt Zeiten, da wünsche ich mir, einen anderen Beruf zu haben. Ich glaube, ich bin kein guter Polizist.“ Du bist einer der besten, dachte Simosch. In den letzten Wochen bist du über Gebühr gefordert worden. Tagein, tagaus ermüdende Überprüfungen von Konten, Akten, Belegen. Oft bis zum späten Abend und ohne das geringste Anzeichen eines Erfolges. „Ihr gelegentlicher Wunsch“, sagte er, „zeugt nur davon, daß Sie ein Mensch sind und keine Maschine. Welchen Eindruck machte denn Herr Hopfer gestern abend, als Sie die Buchhaltung verließen?“ „Er sah bekümmert aus wie oft in den letzten Tagen.“ „Er hat Grund dazu“, sagte Simosch, „so oder so.“ „Manchmal denke ich, wir stoßen noch ganz überraschend auf eine Person, die bislang nicht mit im Spiele ist. Meine Vorstellungskraft versagt einfach, wenn ich in Herrn Hopfer einen Betrüger oder sogar einen Mörder sehen soll. Und wie kann er so viel Geld verpulvert haben? Auf sein Konto wurde nichts eingezahlt, und er scheint, abgesehen von der teueren Garderobe, genügsam zu sein wie ein Klosterbruder.“ 198
„Warten wir ab, was sich in Birkenwalde herausstellt“, entgegnete der Oberleutnant. „Gibt es über Wilfried Rennhaak etwas Neues?“ Simosch schüttelte den Kopf. „Der liegt noch auf der Couch und schwitzt vor Angst. Wenn er damit fertig ist, wird er wahrscheinlich irgend etwas unternehmen. Dann werden wir weitersehen.“ „Meinen Sie wirklich, daß er in Gefahr schwebt?“ „Wenn der Sachverhalt zutrifft, den ich ihm dargelegt habe, wäre das schon möglich. Unsere Leute werden ihn nicht aus den Augen lassen.“ Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Der Leutnant blickte unverwandt zum Fenster hinaus, genoß den Fahrtwind und die Landschaft. Simosch saß mit geschlossenen Augen und zwang sich, an nichts zu denken. Das Gasthaus lag einige Meter abseits von der Straße in einem parkähnlichen Garten. Unter den Birken- und Lärchenbäumen standen Tische, mit sauberen Plastdecken belegt, die Stühle waren elfenbeinfarben gestrichen. Drei junge Mädchen löffelten Eis aus Bechern und kicherten, als Simosch und Rückert den Weg entlangkamen. Über der Tür zur Gaststätte stand in schrägen, altmodischen Buchstaben Zum Stillen Otto. „Sehen Sie sich vor allem Hopfers Zimmer genau an“, sagte Simosch leise, dann traten sie ein. Der Raum war im Baudenstil eingerichtet, sauber und gemütlich. Nur der fade Biergeruch, der in der Luft hing, erinnerte an eine Kneipe. Noch waren erst wenige Gäste da: kaffeetrinkende alte Damen und ein paar Handwerker, die ihren Feierabend vorverlegt hatten. Hinter dem Tresen stand der Wirt, feist, glatzköpfig und mit flinken Augen, die alle Verän199
derungen im Raume auf einen Blick zu erfassen schienen. Der Leutnant setzte sich an einen leeren Tisch. Simosch ging zum Tresen, stemmte die Ellenbogen auf und drehte sich so, daß keiner der Gäste sehen konnte, was er in der Hand hielt. Er zeigte dem Wirt seinen Ausweis und sagte: „Wir möchten kein Aufsehen. Sie kommen am besten zu uns an den Tisch und bringen drei Bier mit.“ Der Wirt reagierte überhaupt nicht. Er spülte Gläser. Als Simosch Platz genommen hatte, zapfte er fünf Gläser Bier ab, trug zwei davon zu den Handwerkern, dann setzte er sich zu den Kriminalisten. „Kennen Sie einen Mann namens Arthur Hopfer?“ fragte Simosch. Der Wirt nickte. „Wann war er das letztemal hier?“ „Zum Frühlingsfest.“ „Erzählen Sie von ihm: wie er auftritt, was er für einen Umgang hat, wie Sie ihn einschätzen, alles, was Sie über ihn wissen.“ „Ich schätze meine Gäste nicht ein. Ich bediene sie. Möglichst schnell und ohne viel Worte.“ „Das zeichnet Sie als einen guten Wirt aus. Doch der Polizei gegenüber sollten Sie Ihre Zurückhaltung lieber aufgeben. Besonders, wenn es um einen Mord geht.“ Seine Wangen wurden schlaff. „Mord?“ fragte er. „Ist der Arthur …“ „In welchem Zimmer hat er zum Frühlingsfest gewohnt?“ fragte Leutnant Rückert schnell. „Vierzehn. Erste Etage.“ Rückert trank mit einem Zug sein Glas leer, erhob sich und ging zur Hintertür. „So, und nun zu meinen Fragen“, beharrte Simosch. 200
Der Wirt wiederholte, was der Oberleutnant bereits von Hopfer und von der Kellnerin erfahren hatte, und Simosch fragte: „Kennen Sie eines der Mädchen, die bei ihm saßen?“ Der Wirt nickte. „Die Beier-Renate.“ „Hübsch?“ „Groß, blond, Klasse.“ Er strich sich mit der Zunge über die Lippen. „Nanu?“ fragte Simosch verwundert. „Habt ihr keine jungen Burschen im Dorf?“ Der Wirt lachte still in sich hinein. „Also, was halten Sie von dem Mädchen?“ „Viel. Die hätt’ ich gern als Kellnerin. Die ist von der Sorte, die aus Vegetariern Fleischfresser macht.“ „Und umgekehrt?“ „Und umgekehrt – vorausgesetzt, es paßt ihr in den Kram.“ „Daß Herr Hopfer noch ein anderes Mädchen eingeladen hatte, störte Fräulein Renate wohl nicht?“ „Kein bißchen. Im vorigen Jahr kreuzte Arthur sogar mit vier Weibern auf. Renate war mit dabei. Die kratzt das nicht, die fühlt sich als Queen.“ „Und wie geht so ein Abend aus? Ich meine, ein Mann und zwei bis vier Frauen …“ „Arthur zieht sich in vorgerückter Stunde zurück.“ „Allein?“ „Allein.“ „Und die Zeche?“ „Die zahlt er am nächsten Morgen. Darauf kann ich mich verlassen. Er begleicht auch alles, was die Mädchen nach seinem Weggang noch essen und trinken.“ „Soso. Wie ist Ihr Urteil über ihn?“ „Spießbürger“, sagte der Wirt bedächtig. „Kleiner Gernegroß. Hockt wahrscheinlich Tag für Tag brav hinter 201
seinem Schreibtisch, kriecht abends zeitig ins Bett, um Licht und Essen zu sparen, und einmal im Jahr haut er auf den Pudding. Sechzig Kilometer von der Stadt entfernt, in der er arbeitet, damit nur ja kein Kollege spitzkriegt, wie er auch sein kann. So einer ist das, denk’ ich mir.“ Eine Dame rief nach dem Wirt, um ihren Kaffee zu bezahlen. „Gehen Sie nur“, sagte Simosch, „und vielen Dank! Wo arbeitet dieses Fräulein Renate Beier?“ „In der Verkaufsstelle der BHG.“ Leutnant Rückert kam zurück. „Nichts als Widersprüche“, sagte er, als er mit Simosch allein am Tisch saß. „Zimmer vierzehn hat sozusagen einen Hinterausgang in Form eines niedrigen, breiten Fensters, das auf ein schräges Schuppendach hinausgeht. Der Schuppen ist kaum mannshoch. Theoretisch könnte ein Hänfling wie Arthur Hopfer da hinausgelangen und ohne Schwierigkeiten auch wieder hineinklettern.“ „Warum nur theoretisch?“ fragte der Oberleutnant. „Weil es praktisch keinerlei Möglichkeit gibt, gegen Mitternacht in die Stadt zurückzugelangen.“ „Vielleicht hat ihn jemand im Wagen mitgenommen.“ „Und anschließend wieder zurückgefahren, denn als die Frau von diesem ‚stillen Otto‘ um drei Viertel fünf an seine Tür klopfte, war Hopfer im Zimmer. Daß er um fünf Uhr vierzig den Bus genommen hat, wissen wir ohnehin schon.“ „Er scheint mit dem Mord wirklich nichts zu tun zu haben. Aber wer, zum Kuckuck …! An den Unbekannten glaube ich nicht. Es ist einer von denen, die in Anja Bindseils Leben eine Rolle gespielt haben! Wahrscheinlich kennen wir ihn bereits.“ 202
„Das Ganze ist verdammt schlau eingefädelt, und während wir einen Mörder suchen, klären wir für das Betrugsdezernat ein Wirtschaftsverbrechen auf – ohne entsprechende Gegenleistung.“ Rückert starrte in sein leeres Glas. „Ich glaube, in dieser Buchhaltung habe ich mir eine Staublunge geholt.“ Simosch grinste und rief nach dem Wirt. „Noch zwei?“ fragte der vom Tresen her. „Drei!“ rief der Oberleutnant zurück. Der Wirt verstand und setzte sich wieder zu ihnen. „Hat Herr Hopfer noch andere Bekannte hier?“ fragte Simosch. „Sieht nicht danach aus.“ „Halten Sie es für möglich, daß ihn jemand nachts im Wagen mitgenommen hat?“ „Er hat hier übernachtet.“ „In einem Zimmer, das er auch durchs Fenster und übers Schuppendach verlassen kann. Bewohnt er immer die Vierzehn?“ Der Wirt nickte. „Es ist der ruhigste Raum im Hause. Auch den Lärm aus der Gaststube kann man dort nicht hören.“ Plötzlich kicherte er. „Der Arthur und nachts durchs Fenster! Sie reden vielleicht einen Stuß.“ Er wollte sich erheben. „Ich habe noch mehr von dem Stuß auf Lager. Amüsieren Sie sich ruhig noch ein bißchen!“ Der Wirt setzte sich wieder und ließ seine Augen flink und verwundert über Simosch gleiten. „War Herr Hopfer nur zu den Frühlingsfesten oder auch zwischendurch bei Ihnen zu Gast?“ „Auch zwischendurch. Ich glaube, immer dann, wenn er Renatchen sehen wollte – oder sie ihn.“ „Demnach mag sie ihn?“ 203
„Wenn sie zusammen waren, hatte sie wenige Tage später was Neues auf dem Leib. Das mag sie.“ „Aber in diesem Jahr ist er nach dem Frühlingsfest nicht wieder hier gewesen?“ Der Wirt verneinte, und Simosch zog Anjas Foto aus der Tasche. „Kennen Sie dieses Mädchen, oder haben Sie es einmal in Herrn Hopfers Begleitung gesehen?“ „Hübsch“, sagte der Wirt, „aber zu jung für Arthur. Der hält’s mit den Attraktiven zwischen dreißig und vierzig. Und ich bin ihr leider nie begegnet.“ Simosch nahm das Foto zurück und legte eines von Wilfried Rennhaak auf den Tisch. Der Wirt sah es aufmerksam an und schüttelte den Kopf. „Unbekannt.“ „Danke, das war alles.“ Der Wirt erhob sich. „Sechs Bier haben Sie zu zahlen.“ Simosch beglich die Zeche und sagte dann zu Rückert: „Ich gehe ’rüber zur BHG. Sie nehmen den Wagen und lassen sich in einem Umkreis von sechs, sieben Kilometern von Dorf zu Dorf fahren. An jeder Bushaltestelle prüfen Sie, ob man um Mitternacht noch in die Stadt und morgens zurückkommen kann.“ „Das ist das letzte!“ rief Rückert. „Möglich. Aber auch das letzte muß getan werden.“ Irgendwo in den hinteren Räumen schrillte das Telefon. Gleich darauf rief eine Frauenstimme: „Otto! Sind die beiden aus der Stadt noch hier?“ Simosch war schon am Tresen, als der Wirt zurückrief: „Ja. Moment mal!“ Er öffnete dem Oberleutnant die Tür zu einem dunklen Flur. Auf einem Tischchen stand der Telefonapparat. Simosch meldete sich. „Er ist aufgestanden“, sagte eine Stimme, „und fährt seinen Trabant in Richtung Birkenwalde.“ 204
„Gut. Wenn er hier landet, sehen wir uns ja. Wenn nicht, versuchen Sie, mich auf alle Fälle entweder über diese Telefonnummer oder über die Dienststelle zu erreichen. Dort hinterlasse ich, wo ich mich aufhalte. Danke.“ Er hängte ein. Zu dem Wirt sagte er: „Sollte Sie jemand, der sich nicht als Polizist ausweisen kann, nach Herrn Hopfer oder nach uns fragen, dann machen Sie dem Schild über Ihrer Tür alle Ehre.“ Der Wirt lächelte still und nickte. Simosch verließ mit Leutnant Rückert den Raum. Draußen sagte er: „Wilfried Rennhaak ist unterwegs nach Birkenwalde.“ An der Tür, die nur angelehnt war, stand Bitte, nicht mehr als zwei Personen eintreten. Simosch steckte den Kopf ins Zimmer, sah, daß nur ein Kunde zugegen war, und trat ein. Die Frau hinter dem Verkaufstisch war groß, blond und attraktiv zurechtgemacht. Der Oberleutnant schätzte sie Anfang Dreißig. Sie sagte: „Leider besteht auch keine Aussicht auf Kalk. Aber Torfmull ist frisch eingetroffen und geht weg wie warme Semmeln. Greifen Sie zu!“ Der Mann vor dem Verkaufstisch beteuerte, daß ihm weder an Torf noch an warmen Semmeln gelegen sei, sondern an Kalk. Er sprach schüchtern, fast flehend, und er ließ dabei die Augen nicht von dem Mädchen. Sie lächelte vertraulich. „Sehen Sie, mit Kalk ist das so eine Sache. Natürlich kann man saueren Boden damit neutralisieren, aber Sie als Gartenfreund wissen doch, daß viele Pflanzen keinen Kalk vertragen, nicht wahr?“ Der Mann erwies sich selbstverständlich als Gartenfreund und stimmte ihr zu. „Es ist nur“, sagte er, „ich 205
brauche den Kalk nicht für den Garten, ich möchte die Decke weißen.“ „Oh! Sicherlich haben Sie ein kleines Häuschen?“ Er strahlte sie zustimmend an. „Wunderbar. In sechs oder acht Wochen wird es Kalk geben. Kommen Sie dann jeden Tag nachfragen. Aber wollen Sie bis dahin Ihr Gärtchen verkümmern lassen?“ Ein zarter Vorwurf, der den Mann tief zu treffen schien. Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. „Gesunder Boden, auf dem es nur so grünt und blüht, und im Herbst ein sauber geweißtes Häuschen darauf – das möcht’ ich sehen!“ schwärmte sie. „Wirklich?“ Sie nickte und schrieb schon die Rechnung aus. „Sagen wir – fünf Sack?“ Dann war für sie die Angelegenheit erledigt, und sie wandte sich Simosch zu. „Wieviel darf ich Ihnen aufschreiben?“ „Tut mir leid“, sagte Simosch belustigt, „aber ich bin von der Sorte, der man weder Torfmull noch einen Bären aufbinden kann.“ Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und betrachtete Simosch neugierig. Schließlich sagte sie: „So ein forscher Kerl ist hier lange nicht aufgetaucht.“ „Aber nun bin ich da.“ Er hielt ihr seinen Ausweis hin. Als sie begriffen hatte, daß er von der Polizei war, rückte sie den Stuhl ein Stück zurück und zog beide Lippen zwischen die Zähne. „Nicht doch“, sagte Simosch, „das macht Sie nur älter.“ Mit einer heftigen Bewegung knallte sie den Stift auf den Rechnungsblock. „Ich habe nichts Ungesetzliches getan. Der Torfmull muß ’raus, wir brauchen Platz im Lagerschuppen. Nächste Woche rollt endlich wieder Zement 206
an, den können wir schließlich nicht im Freien liegen lassen. Außerdem ist Torf doch wirklich …“ „Schon gut“, unterbrach Simosch, „Sie verstehen halt Ihr Handwerk, aber mich interessiert weder Ihr Zement noch der Lagerschuppen. Ich bin von der Mordkommission.“ Sie wiederholte das Wort, fragend, verständnislos. „Und da kommen Sie zu mir?“ stieß sie schließlich hervor. „Können wir uns hier ungestört unterhalten?“ „Natürlich.“ Sie nahm ein Schild mit der Aufschrift Wegen Warenannahme geschlossen aus einem Regal und hing es an die Tür. „Ist das nicht bißchen dick aufgetragen?“ „Sie wollten, daß wir uns ungestört unterhalten“, sagte sie, „außerdem ist bald Feierabend.“ Sie öffnete den Durchgang und bot Simosch hinter dem Verkaufstisch einen Stuhl an. „Ich möchte von Ihnen etwas über Herrn Hopfer erfahren“, begann er. „Und das interessiert die Mordkommission?“ fragte Fräulein Beier erstaunt, und erschrocken fügte sie hinzu: „Ist ihm etwas passiert?“ „Herr Hopfer lebt, falls Sie das meinen. Also?“ „Wir haben uns vor drei Jahren auf dem Frühlingsfest kennengelernt, drüben beim ‚Stillen Otto‘. Seitdem sind wir befreundet.“ „Was hält Ihre Freundschaft zusammen? Ich meine …“ „Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. Sehen Sie, ich verkaufe hier tagaus, tagein Steine, Torf oder Kalk, und zu Hause fällt mir abends die Decke auf den Kopf. Für die FDJ bin ich zu alt und für die Rentnerveranstaltungen zu jung. Drei Jahre kinderlose Ehe habe ich auch hinter mir. Ich möchte nicht versauern. Im Urlaub fahre ich ins 207
Ausland, aber das sind nur drei Wochen im Jahr. Ansonsten … selbst wenn man ins Kino will, muß man erst ins nächste Dorf fahren. Und da schneit Arthur Hopfer in unser Nest, klein, unansehnlich, aber mit ’ner dicken Marie im Jackett und einem Hang zum Angeben, der schon beinahe krankhaft ist. Zuerst hab’ ich mich ja geniert, aber dann dacht’ ich mir, ein kleiner Mann ziert eine große Frau, und hab’ mir aus keinem Gelächter was gemacht. Bin gut gefahren dabei. Er ist spendabel. Hat mich so richtig ausstaffiert. Seiner Frau nehme ich nichts weg, hat er mir gesagt, die kriegt genug.“ „Er hat Ihnen erzählt, daß er verheiratet ist?“ „Natürlich. Wir sind ziemlich offen zueinander. Er denkt nicht an Scheidung und ich nicht an die Ehe. Also harmonieren wir ganz gut miteinander. Ich weiß sogar, daß er noch andere Mädchen hat, meistens bloß so zum Angeben. Was stört’s mich! Die kommen und gehen, aber wir bleiben ziemlich dicke Freunde. Nur eines hat er nicht gern – wenn ich in die Stadt komme. Es ist wegen seiner Frau.“ „Die gemeinsamen Stunden verbringen Sie demnach in Ihrer Wohnung?“ fragte Simosch. Sie lachte. „Das wäre mir wohl doch zu langweilig. Und was hätte er davon? Arthur Hopfer will nicht mit mir ins Bett, er will angeben mit mir. Nein, er ruft mich an, sagt, wann er kommt, und wartet dann mit seinem Wagen außerhalb des Dorfes auf mich. Wir fahren in irgendeine Stadt und lassen es uns gut gehen.“ „Was für einen Wagen hat Herr Hopfer?“ „Einen dunkelblauen Škoda.“ „Sicherlich wissen Sie auch die Nummer.“ Sie nannte sie ihm. Simosch schrieb sie in sein Notizbuch und ging zum Telefon. „Sie gestatten doch?“ 208
Die Verbindung war schnell hergestellt, und Simosch ordnete an, daß man sofort den Wagenbesitzer ermitteln und ihm Namen und Adresse mitteilen solle. Dann setzte er sich wieder zu dem Mädchen. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen überhaupt noch etwas erzähle. Herr Hopfer war immer anständig und großzügig zu mir. Ich habe keine Lust, ihn in irgend etwas reinzureißen.“ „Sie reißen Ihn in nichts ’rein, höchstens in den Dreck, in dem er sowieso schon sitzt. Hat er manchmal über seine Arbeit gesprochen? Über Kollegen, Sekretärinnen …“ Sie unterbrach ihn ärgerlich: „Ich weiß nur, daß er mit Leib und Seele Buchhalter ist. Und wenn Sie mir einreden wollen, daß er mit dieser oder jener ein Verhältnis hat, dann sparen Sie sich das. Es interessiert mich nicht.“ „Auch nicht, daß er Junggeselle ist?“ „Arthur Hopfer?“ fragte sie ungläubig. „Unsinn! Dann brauchten wir doch nicht so heimlich zu tun.“ Ein hübsches Kind an seiner Seite, dachte Simosch, das hätte Anlaß zu Gerede gegeben, Tuschelei, Fragen und Kopfzerbrechen. Das alles wäre seinem Nimbus als untadeligem und etwas spießigem Hauptbuchhalter abträglich gewesen. „War er dieses Jahr zum Frühlingsfest auch mit seinem Wagen hier?“ fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Wenn er trinkt, fährt er nie.“ „Wo hat er denn den Škoda untergestellt?“ „Was interessiert mich das!“ rief sie ungehalten. „Vielleicht in einer Garage in der Stadt, vielleicht drüben bei …“ Sie brach den Satz ab, fragte aufgeregt: „Hat er was angestellt? Jemanden überfahren?“ „Nicht, daß ich wüßte“, entgegnete Simosch. „Also: Wo kann der Wagen noch stehen?“ 209
„Drüben bei seiner Mutter. In Berghamichen.“ „Ich brauche die genaue Adresse.“ Sie gab sie ihm und fügte hinzu: „Wenn Sie die alte Dame nach ihm fragen wollen, haben Sie Pech gehabt. Die ist vor einem Jahr gestorben.“ „Kennen Sie das Haus?“ „Ich war nur einmal dort. Die kleine Verrückte, die ihm die Wirtschaft führt, ist mir zuwider.“ „Eine Verwandte von Herrn Hopfer?“ „Eine, die seine Mutter gepflegt hat und die Anhänglichkeit zu ihr nun auf ihn überträgt. Zufrieden?“ „Sehr. Ich bin drauf und dran, Ihnen zehn Sack Torfmull abzukaufen.“ Leutnant Rückert erklärte Simosch, es sei unmöglich, um Mitternacht von dieser Ortschaft aus in die Stadt zu fahren. Er habe sämtliche Verbindungen im Umkreis von etlichen Kilometern überprüft. „Hopfer fahrt einen blauen Škoda“, erwiderte Simosch, „der vermutlich auf den Namen seiner Mutter eingetragen ist. Sie ist im vorigen Jahr verstorben und hat ihm in Berghamichen ein Haus hinterlassen.“ „Dann sollten wir uns schleunigst dort umsehen.“ „Ist Rennhaak noch nicht eingetroffen?“ Der Leutnant schüttelte den Kopf. „Aber er müßte längst hier sein“, sagte Simosch nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Entweder hat er eine Panne, oder wir treffen ihn in Berghamichen.“ „Verflixt“, rief Rückert, „das sind ja völlig neue Perspektiven!“ Sie rasten los. Erst an der Ortseinfahrt von Berghainichen drosselte der Fahrer das Tempo. Simosch fragte 210
eine Frau nach der Adresse, die Renate Beier ihm aufgeschrieben hatte. Das Haus stand in einer Seitenstraße. Rennhaaks Wagen war weder auf dem Fahrweg noch in dem verwilderten Garten zu sehen, der wohl nicht halb so hübsch gewirkt hätte, wenn er gepflegt gewesen wäre. Das Tor stand offen, ein breiter, betonierter Weg führte zu einer Garage. Leutnant Rückert versuchte eben, die Garagentür zu öffnen, als vom Haus her jemand mit einer unangenehmen, schneidenden Stimme rief: „Herr Hopfer bittet Sie hereinzukommen!“ Unter der Haustür stand ein Mädchen unbestimmten Alters, das brünette Haar so straff nach hinten gekämmt, daß einem die eigene Kopfhaut schon beim Hinsehen schmerzte. Eine dicke Brille verbarg runde, hervorquellende Augen. Das Lächeln des Mädchens sollte wohl einladend sein, wirkte aber so, daß man sich aufgerufen fühlte, auf der Hut zu sein. Das ist gewiß die Kleine, von der Renate Beier gesprochen hat, dachte Simosch. Er winkte dem Leutnant, und sie traten ins Haus. „Ich bin Maritta Klee“, sagte das Mädchen. „Möchten Sie ablegen?“ „Was ist das wieder für ein Theater?“ brummte Rückert. „Ich glaube, das ist echt“, flüsterte Simosch und betrachtete das Mädchen, das in devoter Haltung neben der Garderobe stand, noch immer dieses rätselhafte Lächeln um die Lippen. „Wo dürfen wir denn Herrn Hopfer begrüßen?“ fragte er. In einem der Zimmer klirrte es, als sei etwas versehentlich umgestoßen worden. Der Leutnant riß die Tür auf. „Bleiben Sie stehen!“ rief er, und Simosch, der hinzugesprungen war, sagte: „Und nun setzen Sie sich mal 211
wieder, Herr Rennhaak, bei Ihrem Gesundheitszustand sollte man nicht so verwegen durchs Fenster springen. Wo ist Hopfer?“ „Ich weiß nicht“, sagte Wilfried Rennhaak. Rückert warf ihm einen spöttischen Blick zu und ging hinaus. „Wir werden ihn schon finden.“ „Ich weiß es aber wirklich nicht“, lamentierte Rennhaak, und der Oberleutnant war geneigt, ihm zu glauben. Die Tür wurde aufgeklinkt. Fräulein Klee trug ein Tablett mit Kaffee, Tassen und Kuchentellern zum Tisch. „Wo kann ich denn Herrn Hopfer begrüßen?“ fragte Simosch wieder. Sie lächelte ihn an, doch ehe sie antworten konnte, schrillte die Klingel, und ihr Blick irrte hilflos von Simosch zur Tür. „Beantworten Sie ruhig erst meine Frage“, sagte Simosch. Sie wandte sich ihm wieder zu. „Ich soll Kaffee kochen, hat Herr Hopfer gesagt, weil bestimmt noch Freunde kommen. Und er wollte zum Bäcker gehen, Kuchen holen.“ Wieder klingelte es. Simosch hörte Leutnant Rückert zur Tür gehen. Maritta Klee begann den Tisch zu decken. „Wieviel Gäste werden denn noch kommen?“ fragte sie neugierig. Vom Korridor her rief ein Mann: „Ist er hier?“ Simosch faßte das Mädchen am Handgelenk und führte es aus dem Zimmer. „Sie haben die Gäste wunderbar empfangen, Herr Hopfer wird sehr zufrieden sein mit Ihnen. Jetzt gehen Sie in die Küche, und dort warten Sie, bis er den Kuchen bringt.“ Sie strahlte und verschwand mit steifen Schritten, die auf eine sonderbare Weise stolz wirkten, hinter einer Glastür. 212
„Kommen Sie herein“, sagte Simosch zu dem Kriminalisten, der im Korridor stand. „Wilfried Rennhaak ist hier. Wo hat er Sie denn abgehängt?“ „An der Bahnschranke. Er flitzte gerade noch durch. Dann sahen wir seinen Wagen hier in Berghainichen vor der Kaufhalle stehen. Wir nahmen an, er wollte sich was zu essen holen, da kommt plötzlich ein ziemlich kleiner Mann, schließt auf, steigt ein und fährt los.“ Herr Rennhaak begehrte auf. „Mit meinem Wagen? Aber warum …“ „Wo haben Sie Ihre Autoschlüssel?“ unterbrach ihn Simosch. „Im Mantel. Er hängt im Korridor.“ Leutnant Rückert verließ das Zimmer. „In welche Richtung ist er gefahren?“ fragte Simosch den Kriminalisten. „Stadtwärts. Der Wachtmeister ist ihm hinterher, und ich bin ausgestiegen, um mich nach Rennhaak umzusehen. Dabei entdecke ich Ihren Wagen, und der Fahrer erzählt mir, Sie seien in diesem Haus hier.“ Rückert kam und meldete, in Rennhaaks Manteltasche befänden sich keine Autoschlüssel. Der Jüngling schlug sich auf die rote Weste und beteuerte weinerlich seine Unschuld. Simosch schnitt ihm kurzerhand das Wort ab, er befahl Rückert, vom nächsten Polizeirevier aus die Fahndung nach Arthur Hopfer einzuleiten, mit dem Staatsanwalt zu telefonieren und zwei Polizisten herzuschicken. Der Leutnant verschwand, und der Kriminalist, der Rennhaak beobachtet hatte, rückte auf einen Wink von Simosch seinen Stuhl neben die Tür. „Und nun zu Ihnen!“ Der Oberleutnant wandte sich Wilfried Rennhaak zu: „Wer hat sich die Sache mit den doppelten Rechnungen ausgedacht?“ 213
„Er“, sagte Rennhaak und schluckte. „Wieviel haben Sie bekommen?“ „Dreißig Prozent. Siebzig mußte ich auf sein Konto einzahlen.“ Schade, daß Rückert schon fort ist, dachte der Oberleutnant, sein Gesicht würde ich jetzt gern sehen. Er fragte streng: „Auf wessen Konto, bitte?“ „Auf das seiner Mutter“, bekannte Rennhaak. „Sie heißt Eismann. Sie war gelähmt, und er hatte eine Vollmacht über ihr Sparbuch. Außerdem ist er der einzige Erbe. Er meinte, mit dem Sparbuch sei es am sichersten.“ Ausgekochter Bursche, dachte Simosch. „Gehört der Škoda seiner Mutter?“ Rennhaak nickte. „Er hat ihn auf ihren Namen gekauft, aber sie ist ja seit Monaten tot. Das Haus hat er renovieren lassen von dem Geld und antike Möbel reingestellt.“ „Was ist eigentlich mit dem Mädchen los, das hier den Haushalt führt?“ fragte Simosch. Der junge Mann zuckte die Schultern. „Hat irgendeinen Tick, aber gefährlich ist sie nicht. Sie hat seine Mutter gepflegt, und Hopfer behält sie hier, damit jemand das Haus besorgt.“ Ein Mensch also, der von alldem, was hier vorgeht, nur soviel versteht, daß er nichts damit anfangen kann, konstatierte der Oberleutnant. „Warum sind Sie heute nach Berghainichen gefahren? Hat er Sie hierherbestellt?“ Rennhaak schüttelte den Kopf. „Ich durfte nie von mir aus Verbindung zu ihm aufnehmen. Das hat er getan, wenn er es für richtig hielt. Aber heute habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten zu Hause. Immer nur die Decke anstarren und grübeln, ob er das Mädchen 214
umgebracht hat … und ob er es auch mit mir tun wird. Hopfer weiß, daß Sie in der GHG auf mich gestoßen sind.“ „Und?“ „Er meinte, ich solle ruhig so weiterleben wie bisher und vor allem jegliche Begegnung mit ihm vermeiden. Aber heute habe ich ihn angerufen und ihm kurzerhand mitgeteilt, daß ich zu unserem Treffpunkt nach Berghainichen fahre.“ „Er ist gekommen?“ „Wie sein eigener Schatten.“ Rennhaak schluckte. „Er hat mich so eigentümlich angesehen und gesagt, daß ich alles verpatzt hätte, denn nun würde die Polizei auf dieses Haus stoßen.“ Er sprach leise und abgehackt und bemühte sich, einen Weinkrampf zu unterdrücken. „Wir wären auch ohne Sie auf dieses Haus gestoßen“, sagte Simosch und dachte an das blonde Mädchen in der BHG. Es klingelte. Der Kriminalist, der an der Tür saß, öffnete, und Leutnant Rückert betrat mit zwei Männern in Uniform das Haus. „Die Fahndung nach Hopfer ist eingeleitet“, sagte er, „aber er ist noch nirgends aufgetaucht. Daß der Škoda Frau Eismann gehört, wurde inzwischen bestätigt. Der Staatsanwalt möchte bei der Durchsuchung anwesend sein, er ist mit den entsprechenden Papieren schon unterwegs.“ „Gut“, sagte Simosch, „dann fahre ich jetzt in die Stadt zurück. Es ist möglich, daß Sie bei der Durchsuchung auf Notizen stoßen, eine Art Tagebuch vielleicht. Pedantische Menschen wie Hopfer pflegen aufzuschreiben, was sie so erleben. Und noch etwas: Gehen Sie mit dieser Maritta Klee behutsam um, damit sie keinen Schock erleidet. Sie ist übel genug dran.“ 215
An der Tür wandte er sich noch einmal zu Rennhaak um: „Warum sind Sie kürzlich in die Wohnung von Hopfers Chefsekretärin gefahren?“ „Das … war eine reine Verzweiflungstat“, bekannte er matt. „Ich hoffte irgend etwas zu erfahren, was in der Buchhaltung los sei, aber sie war sehr abweisend. Ich merkte gleich, daß ich einen Fehler gemacht hatte.“ „Es war nicht Ihr schlimmster“, sagte Simosch zu dem grellbunten Häufchen Unglück in Hopfers Ledersessel. 15 Simosch drückte den Telefonhörer auf die Gabel und sagte: „Zu Hause ist er noch immer nicht aufgetaucht.“ „Aber er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben“, protestierte der Wachtmeister, der Hopfer verfolgt hatte, als der mit Rennhaaks rotem Trabant stadtwärts gefahren war. Wie schon mehrmals in der letzten halben Stunde, zeichnete er auf der Karte mit dem Finger die Strecke nach und sagte: „Hinter dieser Kurve ist er verschwunden, und es gibt nur zwei Möglichkeiten, von dort aus die Stadt zu erreichen.“ Das Telefon klingelte, und nachdem Simosch sich gemeldet hatte, sagte eine Stimme: „Der Wagen ist gefunden. Er steht vor den ‚Drei Katzen‘, einer Kneipe im westlichen Vorort.“ „Unbeschädigt?“ „Ja. Aber keine Spur vom Fahrer.“ „Ich komme“, rief Simosch und legte auf. „Sie bleiben als Verbindungsmann hier“, sagte er zu dem Wachtmeister, dann stürmte er hinaus. 216
Es war inzwischen dunkel geworden, und er mußte die Scheinwerfer einschalten. Er fuhr in raschem Tempo, bis er von einem Verkehrspolizisten gestoppt und auf einen roten Trabant aufmerksam gemacht wurde, hinter dem zwei Polizeiwagen standen. Über der Tür des Hauses, vor dem sie parkten, baumelte ein Blechschild mit drei schwarzen Katzenköpfen. Simosch sprang aus dem Wagen und fragte einen der Polizisten, ob sie den Fahrer des roten Trabant gefunden hätten. Er erfuhr, daß sie noch immer nach ihm suchten, in der Kneipe, in den umliegenden Häusern, in den Gärten. Es war Sonnabend abend, der Wirt hatte viele Gäste zu bedienen und konnte sich an einen kleinen dürren Mann nicht erinnern. Einige Polizisten waren damit beschäftigt, die Gäste zu befragen. Der Oberleutnant betrat das Lokal. Es gab den üblichen Lärm, den Geruch nach Zigarettenrauch und Alkohol, am Stammtisch die Skatspieler, Angetrunkene und ein paar, die sich noch ganz gut hielten. Durch die Tür, die zu den Toiletten führte, betrat ein Kriminalist den Gastraum, er erkannte Simosch und winkte ihm zu. „Einer der Skatspieler hat angeblich einen kleinen, dürren Mann durch diese Tür gehen sehen, allerdings hat er nicht darauf geachtet, ob er wieder zurückgekommen ist.“ „Holen Sie mal so unauffällig wie möglich den Wirt her“, sagte Simosch. Er verließ den Raum und trat in den Hausflur. Links lagen die Toiletten, geradezu konnte man ins Freie gelangen. Der Oberleutnant trat hinaus. Vereinzelt blinkten Sterne am Himmel. Fader Mondschein lag über dem Hof, löste einen Holzstapel, alte Bierfässer und zerbrochene Stühle aus dem Dunkel. Quer zum Hauptgebäude stand 217
ein schuppenartiger Bau. Aus der ersten Tür, die Simosch vorsichtig öffnete, drang der Geruch von Hühnermist. Der Polizist schob den aufgeregten Wirt durch die Tür. „Was ist denn vorgefallen? Nun rücken Sie doch endlich mit der Sprache ’raus!“ rief er ungehalten. „Wir suchen einen Mann“, sagte Simosch, „er muß sich hier versteckt halten.“ „Im Hühnerstall bestimmt nicht. Da wär’ schön was los! Und der Ziegenverschlag ist zu klein, als daß da noch einer übernachten könnt’.“ „Die dritte Tür?“ fragte Simosch. „Ein Schuppen, in dem allerlei Gerümpel steht.“ Simosch ging ein paar Schritte weiter und rief: „Herr Hopfer, wir wissen, daß Sie in dem Verschlag sind! Kommen Sie heraus!“ Nichts rührte sich. „Sie sind doch ein kluger Mann und wissen, wann die letzte Chance vertan ist“, fuhr Simosch fort. „Verstecken oder fliehen ist jetzt gleichermaßen unsinnig.“ Er stieß die Tür auf und knipste im selben Augenblick die Taschenlampe an. Der Strahl schnipste wie ein langer bleicher Finger in den Raum, verharrte eine Moment, tastete über Obststiegen und einen kleinen Tisch, den jemand umgestoßen hatte. Dann erfaßte er die Füße, die darüber baumelten. Der Wirt schnaufte, als sei ihm die Luft zu dünn geworden. „Führen Sie ihn hinaus“, sagte Simosch, „und schicken Sie zwei von unseren Leuten her.“ „Sie hatten recht“, meinte der Polizist im Hinausgehen, „der konnte genau einschätzen, wann für ihn die letzte Chance verspielt war.“ Es war nach Mitternacht, als Simosch gähnend vor dem Wagen des Staatsanwalts stand, der eben aus Berghaini218
chen zurückgekehrt war. Leutnant Rückert kroch aus dem Polizeiauto und sagte: „Ich glaube, ich könnte drei Tage und drei Nächte lang schlafen.“ „Von mir aus tun Sie’s doch!“ erwiderte Simosch. Der Staatsanwalt sagte: „Wir haben alles gefunden, vom Škoda bis zu einem Geheimfach in einem antiken Sekretär. Zum Glück kannte der Leutnant den Trick aus einem Museum, und wir spielten ‚Sesam, öffne dich‘. Das Sparbuch von Hopfers Mutter lag neben dichtbeschriebenen und in Schweinsleder gebundenen Seiten. Eines ist so aufschlußreich wie das andere.“ „Dieses Tagebuch“, fragte Simosch stockend, „hat er darin etwas über Anja Bindseil geschrieben?“ „Natürlich. Um die ging es ja schließlich.“ „Das interessiert mich.“ Der Staatsanwalt zögerte, sagte dann aber: „Es war ein sehr raffinierter Mord. Sie waren zäh genug, keine Kleinarbeit zu scheuen, und haben den Täter aufgespürt …“ „Darum geht es nicht“, unterbrach Simosch ihn leise. „Es ist mir um das Mädchen zu tun. Sie ist mir wie ein Freund geworden, der sich im Nebel verirrt hat.“ Der Staatsanwalt drückte ihm das Buch in die Hand. „Am Montag finde ich es um elf Uhr auf meinem Schreibtisch vor.“ „Danke“, sagte Simosch. Dann verabschiedete er sich, fuhr nach Hause und legte sich zu Bett. Er schlief sofort ein und verschlief den halben Sonntag. Nach dem Mittagessen begann er zu lesen. Die ersten Seiten, die nichts mit dem Fall zu tun hatten, überflog er. Schließlich stieß er auf ein Weisheitssprüchlein des Buchhalters: „Die Welt will betrogen sein“, stand da, „und ich werde ihr diesen Gefallen tun.“ Detailliert legte er dar, wie der Plan durchzuführen sei, und er bedauerte 219
nur, daß er einen Mitwisser brauchte. Aber alles verlief wie vorgesehen, bis die neue Sekretärin ihm schüchtern ein paar Fragen stellte. „Sie ist wohl ehrgeizig“, schrieb Hopfer, „und will sich schnell einarbeiten. Das ist mir recht, nur soll sie mir nicht hinter die Kulissen gucken. Zum Beispiel vergleicht sie Warenanforderungen, Eingänge und Rechnungen.“ Und zwei Tage später: „Diese Anja Bindseil ist auf zwei gleichlautende Rechnungen über Spannstoff gestoßen. Ich habe sie auf die oft unvollständig ausgefüllten Unterlagen hingewiesen und hoffe, sie gibt sich zufrieden. Ich muß dieses Mädchen im Auge behalten.“ In der darauffolgenden Woche notierte Hopfer folgendes: „Irgend etwas stimmt nicht mit dieser Anja Bindseil. Sie hat ihre Naivität verloren, fängt an, sich zu schminken, und arbeitet etwas zuviel. Ich werde sie aus der Abteilung wegloben. Sie möchte Disponentin werden. Hoffentlich war es kein Fehler, ihr das so schnell zuzugestehen. Sie ging richtig verstört aus meinem Zimmer.“ Am nächsten Tag nur ein kurzer Eintrag: „Mit dieser Bindseil gibt es nichts als Ärger. Sie hat Lohnlisten verbummelt. Man wird Untersuchungen anstellen. Ich habe mitbekommen, daß sie in einen verheirateten Mann verliebt ist und daß die Sache schiefgeht. Vielleicht kann man ihr daraus einen Strick drehen.“ „Sie hat es herausgefunden!“ schrieb er einige Tage später. „Und das schlimmste: Ich weiß nicht, wie ich die Katastrophe abwenden soll. B. hat so eine Art, mit der schlecht fertig werden ist. Sie läßt sich nichts vormachen, stellt ihre unverschämten Forderungen sanft und wissend, wie jemand, der seine Macht kennt und tun und lassen kann, was er für richtig hält. Sie verlangt fünfzig Prozent 220
von meinem Anteil. Das bedeutet eine erhebliche Gewinneinbuße bei größerem Risiko. Immerhin sind es nun zwei Mitwisser. Aber wenn ich mich weigere, bin ich verloren.“ Der folgende Eintrag lautete: „Mit beleidigender Selbstverständlichkeit hat sie das erste Geld in Empfang genommen. Sie zerstört mich auf eine verflucht behutsame Art. Ich bin in Not, und ich muß mich wehren. Ja, das ist es: Notwehr.“ Einige Tage später: „Ich habe Tag und Nacht gegrübelt. Mein Plan ist fertig. Er ist gut, denn ich brauche zu seiner Ausführung keine Helfer. Anja Bindseil wird zu einer ‚Geschäftsbesprechung‘ nach Berghainichen kommen. Sie nimmt den Zug um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, und zwar an dem Tag, an dem ich in Birkenwalde zum Frühlingsfest bin. Ich werde den Abend mit Renate verbringen (Warum bin ich nur so auf blond versessen?), die nichts weiter von mir will als ein gutes Abendbrot, eine Flasche Wein und fünfzig Mark als symbolische Entschuldigung dafür, daß ich mich gegen Mitternacht zurückziehe. Den Wagen stelle ich außerhalb des Dorfes ab. Um diese Zeit sind wahrscheinlich nur ein paar Betrunkene auf der Straße, und ich kann unbemerkt nach Berghainichen fuhren. Die kleine Verrückte verläßt die Wohnung gegen zwanzig Uhr und geht zu ihrer Mutter schlafen. Der Bindseil habe ich den Hausschlüssel gegeben.“ Sie saß im Ohrensessel, hatte die Leselampe angeschaltet und blätterte in alten Magazinen. Sie war damenhaft zurechtgemacht und nickte Hopfer einen Gruß zu, als sei er der Gast und sie die Dame des Hauses. Er begrüßte sie mit all dem Charme, der ihm zur Verfügung stand, und dachte dabei, daß er nicht übertreiben dürfe. Sie mußte sich völlig sicher fühlen. 221
„Liebes Fräulein Bindseil“, sagte er, „ich freue mich außerordentlich, daß Sie meine Einladung zu einer zwanglosen geschäftlichen Besprechung angenommen haben. Schlagen Sie mir die Bitte nicht ab, daß wir ein Gläschen Wein auf unsere Partnerschaft trinken.“ Hopfer ging in die Küche, um einen schweren, bittersüßen Wermutwein zu holen, den sie trinken würde, ohne die darin aufgelösten Schlaftabletten zu schmecken. Hastig schlang er ein paar Bissen Brot hinunter und Wurst und trank etwas Tafelöl. Das würde die Wirkung des Weines reduzieren. „Erstaunlich“, sagte Anja, als er serviert hatte, „Sie sind ein ebenso perfekter Gastgeber wie Buchhalter.“ Und sie tranken auf ihre Partnerschaft. Er reichte ihr Salzstangen, die durstig machten, und erklärte ihr, wie er die Idee mit den doppelten Rechnungen ausgebrütet habe. Nun komme es darauf an, Herrn Rennhaak zu überzeugen, daß man ohne Gefahr noch größere Summen beiseite bringen könne. Mit Anjas Hilfe sei das durchaus möglich. Sie stießen ein zweites Mal auf ein florierendes, künftig noch besser gehendes Geschäft an. Anja leerte ihr Glas. Herr Hopfer verschluckte sich angeblich und stürzte aus dem Zimmer. In der Küche spie er den Wein ins Spülbecken und trank Wasser. Anja nahm seine Entschuldigung gnädig auf. Die Bitternis der letzten Stunden, die durch das Gespräch mit Elvira Caster übermäßig in ihr geworden war, verflüchtigte sich allmählich. Sie fühlte sich gelöst und zuversichtlich. Hopfer hatte ihr Glas wieder gefüllt, sie knabberte Salzstangen und trank schlückchenweise den schweren Wein dazu. „Ich muß Ihnen ein Kompliment machen“, sagte sie. „Anfangs dachte ich, Sie seien nichts als ein versierter 222
Buchhalter und ein guter Komödiant. Doch Sie haben etwas bestechend Realistisches an sich. Mir imponiert nicht nur, wie Sie das Geld beiseite gebracht haben, sondern vor allem, wie Sie mein unvorhergesehenes Dazwischenkommen hinnehmen und versuchen, es in Vorteil umzumünzen.“ Hopfer lachte und hob das Glas. Anja trank und achtete nicht darauf, daß er an seinem nur nippte. Als er ihr wieder einschenkte, wehrte sie ab: „Danke, nun ist es genug.“ „Wissen Sie“, fragte Hopfer lächelnd, „daß Sie mich anfangs ziemlich erschreckt haben? Ein Partner bedeutet Unsicherheit, wenn er kein Format hat. Sie haben Format. Prosit!“ Sie trank ihr Glas halb leer und sagte mit schwerer Zunge: „Daß ich so hinter dem Geld her bin, ist über mich gekommen wie eine Krankheit. Ich bin sozusagen angesteckt worden und muß es nun durchstehen.“ Mechanisch griff sie wieder nach dem Glas und sagte entschuldigend: „Ich sollte wohl nicht so viel trinken.“ „Vor allem sollten Sie nicht Trübsal blasen. Es gibt keinen Grund dafür.“ Hopfer erklärte ihr, bei welchen Artikeln man nach wie vor mit doppelten Rechnungen arbeiten könne und wie die veruntreuten Beträge sich noch erhöhen ließen. Es klang nicht sehr logisch, was er ins Feld führte, doch sie protestierte nicht, sondern nickte nur ab und zu mit schwerem Kopf. Er sah, daß der Wein seine Schuldigkeit getan hatte, und überredete sie zu einem allerletzten Glas. Diesmal von einer anderen Sorte, die sie unbedingt noch kennenlernen müsse. Er ging in die Küche, löste die Schlaftabletten in wenig Wasser auf und setzte sie ihrem Wein zu. Anja lächelte ihn mit glasigen Augen an, trank das Glas leer und sagte: „Nun ist 223
aber Schluß, sonst kriege ich einen Schwips.“ Hopfer räumte gehorsam die Gläser ab. Als er in das Zimmer zurückkam, war sie vornübergekippt und schlief. Er rief ihren Namen, schüttelte sie, und ihre Glieder schlenkerten wie bei einer Puppe. Er ging hinaus, fuhr den Škoda rückwärts vor die Haustür und holte das Mädchen. Sie war schwerer, als er erwartet hatte. Er schleifte und zerrte sie und geriet dabei ins Schwitzen. Als sie endlich auf den hinteren Sitzpolstern lag, verschloß er das Haus und fuhr los. „Es ist alles nach Plan verlaufen“, schrieb er an einem der nächsten Abende. „Die Gegend um das noch unbewohnte Warenhaus ist morgens gegen zwei Uhr wie ausgestorben. Ich habe die B. mit Steinen bedeckt. Eine saubere, unblutige Arbeit für mich – und für sie nichts als ein langer Schlaf. Die Arbeiten auf der Baustelle verliefen am Morgen darauf normal.“ Die folgenden Einträge überflog Simosch wieder, nur den letzten, vom Vortag, las er noch. „Sie wird mich doch noch vernichten“, schrieb Hopfer, „die Polizei sucht ihren Mörder und ist auf den einzigen Menschen gestoßen, der mir gefährlich werden kann, auf Rennhaak, diesen nervenschwachen Schwulen. Er fährt jetzt nach Berghainichen, will mich in Mutters Haus treffen. Ich fürchte, die Polizei wird sich an seine Fersen heften. Ich bin kein Mörder. Das mit der B. war Notwehr. Wenn ich merke, daß die Polizei meinen Unterschlupf in Berghainichen entdeckt, hat es keinen Sinn mehr, sich zu wehren. Dann ist es aus.“ Simosch legte das Buch beiseite. Er hatte Anja Bindseil nie lebend gesehen, und doch war sie ihm so gegenwärtig, als sei sie eben erst zur Tür hinausgegangen. Ein 224
sanftes Mädchen ist sie gewesen, dachte er, das nicht zu leben wagte, bis Caster ihr endlich Mut dazu machte. Aber dann hielt Anja das Leben für ein Märchen, in dem nur Gut und Böse existierte. Wieder war es Caster, der sie aus der Traumwelt in die Wirklichkeit stieß, ohne ihr zu helfen, sich darin zurechtzufinden … Am folgenden Tag informierte Simosch Hauptmann Randolf, daß der Mordfall Anja Bindseil abgeschlossen sei. Er faßte sich kurz und verwies auf seinen schriftlichen Bericht. Dann holte er Hopfers Tagebuch aus seinem Zimmer, um es dem Staatsanwalt ins Gericht zu bringen. Er sagte Leutnant Weiß Bescheid, wo er zu finden sei; daß er vorhatte, einen Abstecher zum Bahnhof zu machen, verschwieg er. „In Ihrer Abwesenheit“, sagte Weiß, „hat sich ein Wunder ereignet. Am Samstagnachmittag traf ich eine Krankenschwester, klein, hübsch, mit Stupsnase. Sie sagte: ‚Guten Tag, Herr Leutnant, ich hoffe, es geht Ihnen gut?‘ Dabei strahlte sie mich an, als hätte ich sie zur Oberschwester befördert. ‚O ja‘, entgegnete ich, ziemlich aus der Fassung geraten. ‚Und Ihnen?‘ ,Ausgezeichnet! Ich bin nur sehr in Eile.‘ Dann sauste sie davon. Nicht weit, aber zielgerichtet – nämlich an die Brust eines jungen Mannes. Und der legte die Arme um sie, als wollte er sie nie mehr hergeben.“ „Keinen Gruß an mich?“ fragte Simosch. „Ich glaube, nicht einmal ein Gedanke.“ „Wie heißt es doch im ‚Faust‘? Sie ist gerettet!“ rief Simosch lachend. Bis zum Gericht war es nicht weit, und er traf noch rechtzeitig ein, um Hopfers Tagebuch pünktlich auf den Tisch des Staatsanwaltes zu legen. Aber auf dem Weg 225
zum Bahnhof schienen die Verkehrsampeln diesmal für ihn nur rotes Licht reserviert zu haben, sie gingen geradezu verschwenderisch damit um. Der Zug fuhr an, als Simosch den Bahnsteig betrat. Aus einem der Fenster flatterte ein buntes Kopftuch. Er rannte los. „Christina!“ „Simosch!“ rief sie. „Ich freue mich so, daß Sie gekommen sind!“ Sie weiß nicht einmal meinen Vornamen, dachte er und blieb ganz außer Atem stehen. „Ich besuche Sie!“ schrie er, als er wieder sprechen konnte. „Alles Gute!“ Dann fühlte er ein eigenartiges Würgen im Hals und biß die Zähne aufeinander. Als er zum Parkplatz zurückging, sah er Familie Caster. Frau Caster nickte ihrem Mann, der ihr die Wagentür aufhielt, freundlich zu und stieg ein. Caster setzte sich hinter das Lenkrad. Ehe er losfuhr, tätschelte er seiner Frau die Hand. Vielleicht fahren sie zum Wasser, um ihr Segelboot einzuweihen, dachte Simosch. Jedenfalls haben sie sich wieder gefunden, wahrscheinlich beim gemeinsamen Griff in die gemeinsame Kasse. Auf dem Schreibtisch des Oberleutnants lag eine Notiz. Sofort bei Hauptmann Randolf melden, stand darauf. Es war Rückerts Schrift. Simosch eilte in das Zimmer seines Chefs. „Na, endlich“, sagte der Hauptmann ungeduldig. „In der Buschallee hat man eine junge Frau tot aufgefunden. Gasvergiftung. Sieht nach Selbstmord aus.“ „Eine junge Frau“, wiederholte Simosch kopfschüttelnd, „aber warum …“ „Das sollen Sie herausfinden. Und auch, ob es wirklich Selbstmord war. Leutnant Rückert wird Sie begleiten.“ 226
Als Simosch an die Tür des Nebenzimmers klopfte, war Rückert schon marschbereit. „Kommen Sie“, sagte er, „der Wagen wartet. Scheint wieder eine Angelegenheit mit Fragezeichen zu sein.“ Und während sie zur Buschallee fuhren, dachte Simosch: Jeder Fall hat sein Warum. Und die Antwort darauf ist ein Menschenschicksal.
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