C.H.GUENTER
Das Mallory Projekt
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Adriadünung schäumt an den Strand. – Palme...
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C.H.GUENTER
Das Mallory Projekt
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Adriadünung schäumt an den Strand. – Palmen rauschen im Wind. – Heiße Nächte in Rimini… Aber in den Abruzzen fällt Schnee: Sommer in Italien. Mitten in der Nacht, am vergangenen Dienstag früh um 01.43 Uhr, wanderte über den Bildschirm der NATO-Frühwarnstation auf dem Monte Velino ein hellgrüner Punkt. Er kam aus Westen, also von Born her, und geriet Sekunden später aus dem Bereich des 3-D-Radars. Registriert wurde das Eindringen eines unbekannten Flugobjekts ohnehin nicht, denn der Sessel vor dem Bildschirm stand leer. Egenio Varzi, Techniker der dritten Schicht, hatte den überheizten Raum verlassen. Trotz vier Tassen Espresso war er fast eingeschlafen. Schlafen im Dienst, in einer so wichtigen Position, wurde aber streng bestraft. Deshalb war er auf den höchsten Balkon Italiens, wie sie die Terrasse vor dem Bunker nannten, hinausgetreten. Sie lag ziemlich genau 2467 Meter über dem Mittelmeer. In klaren Nächten konnte man die Lichter von Rom sehen. Egenio Varzi schaute häufig dorthin, denn in Rom lebte sein Mädchen. – Wenn er an sie dachte, krampften sich seine Eingeweide zusammen. Immerzu quälte ihn die Frage, ob sie in ihrem Bett lag oder ob sie sich in Discos herumtrieb. Und wenn sie im Bett lag, war sie allein dort? – Nach außen hin trug sie eine Zuckerschicht, aber innen, da bestand sie aus Pfeffer. Heute war von Rom kein Schimmer zu erkennen. Dichtes Schneetreiben nahm jede Sicht. Was in den Gärten von Tivoli als lauer Regen niederging, kristallisierte in den Bergen zu Eis. Kein Wunder bei minus neun Grad. Der Radartechniker Egenio Varzi fror mit einemmal. Rasch trat er wieder in den Bunker und schlug die Stahltür zu. Davon erwachte Sergente Morroso. Fluchend wälzte er sich herum. 3
„Tür zu! Es zieht. Wie oft habe ich dir gesagt, hingucken allein nützt nichts! Sie treibt es jede Nacht mit zehn Ragazzi. Mach’s besser, oder finde dich damit ab.“ In diesem Augenblick wurde der hellgrüne Punkt auf dem Radarschirm noch einmal sichtbar. Jetzt näherte er sich deutlich dem Zentrum des kreisenden Suchstrahls und blieb abrupt stehen – ein Manöver, zu dem ein normales Flugzeug gar nicht fähig war – und verblaßte langsam. Auch diesmal hatte Egenio Varzi das Objekt nicht bemerkt. Wütend über Morroso, hatte er den Kühlschrank geöffnet und sich ein Glas Wein eingeschenkt. Laut NATO-Dienstvorschrift war der Genuß von Alkohol streng untersagt. Er konnte die Aufmerksamkeit von Radarpersonal erheblich beeinträchtigen. Die Italiener kümmerten sich jedoch wenig darum. Sie hielten es ohnehin für unvorstellbar, daß sowjetische Atomraketen ausgerechnet auf ihr Land abgeschossen werden würden. – Und Raumschiffe mit Menschen von anderen Sternen, die gab es sowieso nur im Kino. Im rheinischen Geilenkirchen stieg das teuerste Flugzeug der Luftfahrtgeschichte auf. Für eine Boeing 707 NATO-Typ E-3A zum Stückpreis von 250 Millionen hätte man nach dem Krieg noch die olympischen Sommerspiele ausrichten können. Besonders kostbar an dem Vogel waren die fünfzig Tonnen Elektronik. Die Rundsichtantenne in der pilzförmigen Fiberglaskuppel erkannte auf 500 Kilometer im Umkreis alle Bewegungen zwischen der Erde und den Sternen. Die AWACS-Boeing stieg auf 10 000 Meter Höhe und flog Kurs Süd, immer am Eisernen Vorhang entlang. Zehn Stunden sollte der Kontrollraid dauern, vom Rhein bis an die türkischsowjetische Grenze und wieder zurück führen. Der Operation-Officer ergriff das Mikrofon und hielt eine kurze Ansprache an die dreizehn Mann vor den Bildschirmkonsolen, aber auch an die vier Piloten im Cockpit. 4
„Herrschaften, letzte Nacht ist eine Radarstation in Hochanatolien ausgefallen. Gleichzeitig registrierte ein Satellit Panzerkonzentrationen der Roten Armee bei Tiflis. Bei ersterem kann ein technischer Defekt vorliegen, bei letzterem eine Manöve rbewegung. Es sind auch andere Gründe denkbar. Sie herauszufinden ist unser Auftrag für diese Nacht.“ Der fliegende Feldherrenhügel, wie die AWACS-Maschinen auch genannt wurden, fand die Lage im Kaukasus jedoch völlig normal vor. Beim Rückflug hingegen, über der Oberen Adria, blinkte an Bildschirm Nr. 11 die rote Lampe. Alle nicht gemeldeten Flugbewegungen registrierte dieses supermoderne Gerät automatisch. Der Techniker ging auf Ve rgrößerung, und schon stand der Operation-Officer hinter ihm. „Was gibt’s?“ „Nicht gemeldetes Flugobjekt über den Abruzzen.“ „Wo?“ „Monte Velino, genau… achtundsiebzigtausend südöstlich von Rom.“ Der Offizier betätigte die Tastatur eines Speichers und rief gewisse Daten ab. „Da oben haben wir eine Frühwarnstation. Anruf auf QFrequenz.“ „Verschlüsselt?“ „Zerhacker genügt.“ Die Verbindung mit der Station Velino kam. Dort meldete man Luftraumlage negativ. Obwohl das Ortungssignal nur noch schwach zu sehen war, lief an Bord des Himmelspähers die Routine an. Der Rechner verglich die Werte des unbekannten Objektes mit denen aller eingespeicherten Flugobjekte. Per Videoaufzeichnung wurde die Beobachtung groß auf die Bildwand projiziert. „Ergebnis“, faßte der Operation-Officer zusammen. „Hat vermutlich tellerartige Form. Durchmesser maximal achtunddreißig Fuß, offenbar senkrecht gelandet. Aufkommpunkt 5
Nordflanke Monte Velino, ein Schneefeld auf zwotausendvierhundert Meter Höhe.“ Um keine Horrormeldung ins Hauptquartier abzusetzen, wurden alle Fakten noch einmal überprüft und als korrekt befunden. Noch während die Meldung verschlüsselt ins NATO-Oberkommando Brüssel lief, besprach sich der Kommandant mit seinem Stellvertreter. „Ein Flugobjekt mit unbekannter Technik. Was halten Sie davon, Captain?“ „Ein Überraschungsangriff, Sir.“ „Vermutlich auf die Frühwarnstation.“ „Entschlossenen Agenten können dort modernstes Gerät, Dechiffriermaschinen, Codebücher, wer weiß was noch alles in die Hände fallen.“ „Ein Kommandounternehmen, meinen Sie? Der Sowjets?“ Der junge Captain zögerte. „Andererseits kam das Flugobjekt aus West. Außerdem hätten sie wohl einen Kampfhubschrauber verwendet und nicht eine…“ „Eine was?“ wollte der Commander den Captain festlegen. „Und keine fliegende Untertasse, Sir.“ „Unsinn!“ Der Colonel hängte sich ans Funktelefon. Zum erstenmal nützte ein AWACS-Kommandant all seine Vollmachten aus. In Notfällen sollte er nicht nur kontrollieren, sondern auch Gegenmaßnahmen steuern. Der Colonel alarmierte ein Luftlandebataillon der 4. USDivision in Erding bei München. Dadurch mißachtete er seine Vorschriften insofern, als er ausschließlich amerikanische Kommandostellen von dem Vo rfall in Kenntnis setzte. So kam es wohl auch zu dem Blitzeinsatz einer Kompanie Green Berets vom Hubschrauberträger „Minnesota“ der mit anderen Einheiten der 6. Flotte vor Pescara lag. 6
Als Vorauskommando überflog ein Spähhubschrauber im Morgengrauen die Nordflanke des Monte Velino. Er meldete starke Schneeböen, glaubte aber eine rauchgeschwärzte Landespur im Eisfeld ausgemacht zu haben und an ihrem Ende ein silbrig glänzendes Etwas, halb im Schnee versunken. „Rund wie ‘n Silberdollar“, fügte der Pilot hinzu. Unter Berücksichtigung seiner Flughöhe und der Sichtweite errechnete man die Größe des unbekannten Flugobjekts auf etwa 15 Meter im Durchmesser. „Geschwärzte Landespur“, bestätigte der Major im nachfolgenden Transporthubschrauber, „keinerlei Bewegung um das UFO. Wir gehen runter.“ Die Sonne schleuderte ihre ersten Lichtbahnen über den Gran Sasso, als die Marineinfanteristen aus dem Hubschrauber in den tiefen Neuschnee sprangen. Eisiger Wind preßte die Kälte selbst durch ihre dicken Kampfoveralls. Aber das Schneefeld zog sich steil hin. Aufkletternd gerieten die Männer in Schweiß. Mit jedem Ausatmen schlugen sich Eiskr istalle an den Augenbrauen nieder. Der Major stellte das Zeissglas scharf. Zwischen zwei Felsnasen, die ihre Umrisse durch das Schneetreiben drückten, waren die Konturen einer kreisförmigen Mulde zu erkennen. Und darin etwas Chromblitzendes, als habe es sich tief hineingekrallt, um Halt im Gestein zu finden. Der Major gab ein Handsignal und sprach ins Walkie-talkie. Jeder seiner Männer hörte den Befehl im Helmlautsprecher. „Ausschwärmen! Abstände vergrößern! Kein Ziel abgeben! – Vorwärts!“ Der Kameramann, statt Waffen schleppte er eine ko mplette Video-Apparatur, filmte den Einsatz in jeder Phase mit. Aber der Zoom-Motor streikte. Er mußte das Objektiv mit der Hand bedienen. Seine Finger blieben am kalten Metall kleben. Immer wieder blies er warmen Atem in die Hände, um sie vor Erfrierungen zu schützen. Plötzlich ein gleißendes Licht. Die Sonne war höher gewan7
dert. Ihr rötlicher Schein blendete sie wie eine Feue rwand. Die Marines setzten Brillen auf. Dreißig Meter vor dem unbekannten Flugobjekt befahl der Major Stopp. „Gebt mir Feuerschutz!“ Seine Stimme klang blechern im Funk. „Ich schau’ mir das Ding jetzt an.“ Allein, aber geschützt von vierzig schußbereiten Maschine npistolen, näherte er sich dem UFO. Die letzten Meter überwand er mit großer Vorsicht und legte endlich seine Hand auf das schimmernde Metall. Es war kalt wie der Weltraum. Der Major wischte Schneestaub weg, um eine Schweißnaht zu entdecken. Es gab keine. Das verdammte Ding schien wie aus einem Guß zu sein. Irgendwo ging der Stahl in glasartig durchsichtiges Material über. Ein Bull’s eye. Dahinter glaubte er zwei Punkte gesehen zu haben – Augen, ein Gesicht mit Bart, das Antlitz eines uralten Mannes. Er legte das Ohr an. Kein Ton von innen, kein motorisches Summen. Nichts. Auch hinter den anderen Bull’s eyes zeigte sich keine Bewegung. Ungeduldig hämmerte der Major mit dem Kolben der Waffe gegen die Außenhaut des Raumschiffes. Da sich auch weiterhin nichts ereignete, zog er sich zurück, um sich mit seinem Zugführer zu beraten. „Funkspruch an Träger“, entschied er. „Sie sollen einen Kranhubschrauber schicken. Am besten einen S-65 Big Lift. Schätze das Gewicht des UFO zwanzig To nnen.“ Die Anforderung ging hinaus. Wenig später kam die Bestätigung des Trägers. „Kampfzonentransporter ist unterwegs.“ Die Meldung wurde kaum beachtet. Fasziniert hörten die Marines das Summen und sahen die Umrißveränderung an der makellosen UFO-Hülle. Die Fugen eines Rechtecks wurden 8
sichtbar. Die Fugen weiteten sich zu Spalten, eine Klappe fuhr auf. In der Öffnung entstand unwirkliches blaues Licht, als sei es von Lasern erzeugt. Und mit einemmal stand, wie hinprojiziert, eine mensche nähnliche Gestalt in der Öffnung. – Zweifellos ein Lebewesen mit Rumpf, Beinen, Annen und Kopf. Das Lebewesen schritt bis zum Rand des Raumschiffes, hob beide Hände, als bitte es beschwörend um Gehör. Dann gab es Laute von sich. Aber was für eine Sprache war das? – Sie klang singend wie eine Mischung aus Philippinisch und Französisch. „Haben Sie ihn drauf?“ fragte der Major den Kameramann. „Bild und Ton.“ Der Funker richtete sein Mikrofon. Die Sprache des fremden Wesens wurde mitgeschnitten und gleichzeitig zum Träger „Minnesota“ übertragen. Die Rede des fremden Wesens dauerte nur wenige Minuten. In dieser Zeit hatten die Experten auf dem Träger bereits die erste Analyse fertig. „Das ist ein Himalajadialekt. Althindukusch.“ „Teufel, wie kommen die zu so was?“ fragte der Major erstaunt. „Und was erzählt er?“ „Wir übersetzen noch. Wohl irgendeine Ankündigung.“ Mit einemmal war es auf dem Schneefeld still geworden. Der Fremde im Raumschiff hatte aufgehört zu sprechen. Aber er blieb, wo er war, offenbar um seine Worte wirken zu lassen. – Und wieder dröhnte seine lautsprecherverstärkte Stimme. Diesmal in der am meisten verbreiteten Sprach der Welt, in Englisch. Er sprach es hart, als habe er es nur aus Büchern gelernt, aber er war deutlich zu verstehen. „Menschen“, sagte er, „Brüder! Wir Außerirdischen kommen in großer Sorge zu euch.“ Er machte lange Pausen, als falle ihm das Atmen in dieser Höhenluft schwer. „Aber der Untergang eurer Welt ist auch der Untergang unserer Welt. – Und 9
eure Welt wird sterben in einem Ozean voll Blut, in siebentausendfünfhundert Tagen, durch euer eigenes Verschulden… Ihr hört nicht auf, euren Planeten zu zerstören. Sei es durch Bomben oder durch Vergiftung der Umwelt. – Wir alle sind Opfer, die Täter aber nur wenige. – Unser Besuch soll eine erste und letzte Mahnung sein!“ Von der Einsatzzentrale auf See kamen eindeutige Befehle: „Versucht, einen von den Burschen zu kriegen, lebend oder tot. Am besten das ganze Schiff.“ Als könne sie die Absichten der Soldaten erraten, begann sich die Gestalt zurückzuziehen. Der Motor summte, die Klappe am Schiff schloß sich. „Knallt ihn ab!“ befahl der Major. Feuerstöße aus zwanzig MPi jagten heraus, trafen die Gestalt und zerstanzten sie geradezu. Es war, als durchlöchere man einen dünnen Vorhang. Mit einem jämme rlichen Laut brach das fremde Wesen zusammen. Ein anderes tauchte auf, um es ins Innere des Schiffes zu zerren. Auch dieses durchsiebte der Feuerhagel. Seinem Befehl folgend, Besatzung und Raumschiff in die Hand zu bekommen, tot oder lebend, intakt oder als Schrott, sprang der Major auf, riß eine Handgranate ab und warf sie durch die Einstiegsklappe, ehe sich diese vollends geschlossen hatte. Dann zählte der Major leise. Bei drei erfolgte die Detonation. Es war, als hätte ein Zitterrochen eine Preßluftpatrone geschluckt, deren Explosion ihn aufblähte und hochschleuderte. Beim Zurückfallen war er tot, ohne seine äußere Form verändert zu haben. „Das war’s“, bemerkte der Major. Vom Aterno-Tal her erscholl jetzt hartes Dröhnen. Drei Gasturbinen warfen ihre 14 000 PS auf den siebenblättrigen Rotor des Sikorsky. Der Kampfzonentransporter schraubte sich auf Gipfelhöhe. Unter seinem Rumpf hing ein riesiges Netz. 10
Seine stählernen Maschen waren dazu bestimmt, das Raumschiff aus einer anderen Welt aufzunehmen, es we gzuschaffen und notfalls verschwinden zu lassen. Für immer und ewig. 2. Blauer Himmel mit hohen Föhnwolken. – Bier und Blasmusik… Oktoberfest: Herbst in München. Vor langer Zeit hatte Robert Urban das Star-Boot gekauft. Rumpf, Deck, Mast, Blöcke, alles war aus Holz und die Segel aus Leinwand. Irgendwo in Schottland gab es noch einen Weber, der keine Kunstfasern verarbeitete. Bei der Taufe hatten seine Freunde „Mister Dynamit“ auf den Heckspiegel gemalt. In der Werft hatte er die weiße Farbe wieder abbeizen lassen. Seitdem trug das Boot keinen Namen. Es war das einzige namenlose Boot auf dem Starnberger See. Gekauft hatte er das rassige Schiff leider für nichts und wi eder nichts. Es lag am Steg und vergammelte. Einmal im Jahr vielleicht kam er zu einem kurzen Törn. Und nun ausgerechnet so was. – In der Kajüte lag eine Frau. Mit ihrem kurzgeschnittenen goldblonden Haar, den blauen Augen, der sportlich braunen Figur sogar eine recht hübsche. Darin bestand kein Zweifel, denn sie war nackt. Aber leider auch tot. Jeden anderen hätte das in Panik versetzt, nicht einen Geheimagenten, für den der Umgang mit Leichen Routine war, auch wenn er ihnen lieber aus dem Weg ging, um sie der Polizei zu überlassen. Urban beugte sich über die Tote. Äußere Verletzungen konnte er nicht feststellen. Der Körper war makellos, ohne frische oder verwachsene Narbe, ohne Einstiche. Urban verstand sich darauf. Die Hauttemperatur der Toten lag weit unter 37 Grad. Ehe eine Leiche so weit abkühlte, bedingt durch Beendigung der Sauerstoffversorgung, trat die Starre ein. Die Starre begann 11
etwa fünf Stunden nach dem Tod und löste sich nach maximal zwei Tagen. Die Glieder der schönen Toten waren bewegbar, also mußte sie schon am Montag dahingegangen sein. Mit geübtem Griff öffnete Urban ihren Mund und spiegelte das Sonnenlicht hinein. Er hob auch die Zunge an. Darunter sah er geronnenes Blut. – Vermutlich hatte man sie durch eine Injektion unter die Zunge ins Jenseits befördert. Demnach waren Profis am Werk gewesen. Als einzigen Schmuck trug sie am Handgelenk ein Platinkettchen mit Namensschild. „Melina Mallory“, las er. Auf die Seerunde verzichtend, eilte Urban zu seinem BMW. „Keine Lust heute?“ rief einer hinter ihm her. „Soll vorkommen“, sagte Urban. Er sperrte das Coupé auf, zog den Telefonhörer aus der Klemmenhalterung und rief das BND-Hauptquartier in Pullach an. „Man hat mir da ein Mädchen in die Bootskajüte gelegt.“ „Ein Glück hast du.“ „Leider lebt sie nicht mehr. Mord. Vermutlich. Forscht über das BKA nach, ob eine Melina Mallory vermißt wird. Der Name ist nicht alltäglich.“ „Darf es auch ein bißchen Mordkommission sein?“ „Sie sollen erst antanzen, wenn es dunkel ist. Ich erwarte sie am Bootshafen.“ Im Hauptquartier versprachen sie, daß alles erledigt würde. Urban ging ins Clubhaus einen trinken. Um 17 Uhr war er herausgefahren, um die Abendbrise zu nutzen, jetzt ging es auf 19 Uhr. Die Dunkelheit kam rasch. Und mit ihr zwei graue Limousinen und ein Kombi mit dem Blechsarg zur Aufnahme der Leiche. Urban kannte den Kommissar und die Leute vom Erke nnungsdienst. „Ich weiß Bescheid“, sagte der Beamte. „Kein Aufsehen. Alles ist unauffällig abzuwickeln. Anweisung von oben.“ 12
Sie warteten noch eine Zigarettenlänge. Inzwischen waren die letzten Segler hereingekommen und der Steg so gut wie leer. Sie schlenderten zu Urbans Star-Boot hinaus, und der Kommissar sagte: „Bitte an Bord gehen zu dürfen, Captain. Muß ich. die Latschen ausziehen?“ „Die Täter haben auch nicht gefragt.“ Urban öffnete die Schiebetür zur Kajüte und leuchtete hinein. Dann blickten er und der Kommissar sich verblüfft an. „Jetzt wird es kompliziert“, meinte der Kriminalbeamte. „Eine Leiche ist was Normales, aber keine Leiche, das fängt an komisch zu werden.“ „Und du bist sicher, daß…?“ „Bin ich etwa bescheuert? Sie lag hier. Bütte Zwanzig, einssiebzig groß, schlank, blond, blaue Augen, Name Melina Mallory.“ Sie schauten auch in der Segelkiste nach. „Und jetzt ist sie fort. Futschikato!“ Sie gingen an Land und nahmen an der Bar im Clubhaus einen zur Beruhigung. „Bourbon“, sagte der Kommissar. „Für mich auch einen.“ „Wir sind eigentlich im Dienst.“ „Dann einen doppelten“, bestellte Urban. „Und keine Spuren?“ vergewisserte sich Urbans Chef, Oberst a.D. Sebastian. „Nichts Verwertbares.“ Der Oberst mit dem Schmerbauchansatz, so kurzbeinig wie kurzsichtig, schraubte das Monokel ins schwache Auge. „Zufall?“ „So zufällig wie der Kater nach einem Rausch. Eine Leiche auf dem Segelboot eines Agenten – erst ist sie da, dann ist sie weg, das hat Methode.“ 13
„Wenn sie seit achtundvierzig Stunden tot war, muß man sie hingebracht haben, weil man wußte, daß Sie heute segeln gehen.“ „Schön, man wollte mich mit ihr in Kontakt bringen. Aber warum holte man sie dann wieder ab? Das reimt sich nicht.“ „Und wenn sie doch erst an Bord getötet wurde und die Täter von Ihnen überrascht wurden?“ „Die Hauttemperatur lag weit unter normal…“ Urban hielt mitten im Satz inne und schnippte mit den Fingern. „De r See hat um diese Jahreszeit kaum neunzehn Grad. Sie schwamm vom Ufer herüber in den Bootshafen. Auf der Yacht erwartete sie der oder die Täter. Ich überraschte sie, und die wasserkalte Haut täuschte mich. Die Tat liegt nicht zwei Tage zurück, sondern wurde unmittelbar vor meiner Ankunft verübt.“ „Die Täter brachten sie weg.“ „So bekommt das ganze Sinn.“ Urban trat zum Fenster und blickte auf die kahl werdenden Ulmen. „Melina Mallory“, murmelte er, „in ganz München und Oberbayern gibt es keine einzige Mallory.“ „Ein englischer Name.“ „Und im übrigen Bundesgebiet wohnt kaum eine Handvoll Mallorys.“ Der Oberst ließ das Monokel aus dem Auge fallen, indem er die Braue hob. „Ist sie BKA-bekannt?“ „Nein, das wurde überprüft.“ „Am besten“, riet der Operationschef, „Sie vergessen die Geschichte und widmen sich dieser verflixten Monte-VelinoSache.“ „Alles nur Gerüchte“, tat es Urban ab. „Die Italiener wissen nichts, und die Amerikaner fühlen siech nicht zuständig. In den letzten Jahren gab es massenhaft Meldungen über UFOs. Keine einzige hielt der Nachprüfung stand.“ Sebastian kniff die Augen in die kleinen Fettpolster. 14
„Und Ihre Leichenstory, würde sie einer Nachprüfung standhalten?“ „Ein Mensch suchte meine Hilfe“, antwortete Urban, „das kam schon öfter vor.“ „Er wurde aber durch eine tödliche Injektion daran gehindert und war wenig später nicht mehr vorhanden.“ „Ebenso wie das angeblich gelandete Raumschiff.1“ „Aber Sie behaupten, die Tote sei Realität gewesen. Könnte nicht auch das Raumschiff… ich meine, dieses eine Mal nur…“ Urbans Gesichtsausdruck zeigte ein Lächeln, das seine Züge nicht öffnete, sondern eher verschloß. „Mallory“, rief er plötzlich, „verdammt ich hab’s. Professor Mallory, der Geophysiker! Gilt er nicht seit einer KordillerenExpedition als verschollen?“ Sebastian erinnerte sich ebenfalls. „Er wurde gefunden. Das kam vor kurzem in den Nachrichten durch.“ „Aber tot, mit den Wunden von zwei Dutzend indianischen Pfeilen im Körper. Man brachte ihn zurück in die Heimat. Nach Basel.“ Urban schaute auf die Uhr. Knapp vierhundert Kilometer. Morgen früh konnte er dort sein. „Haben Sie hier ein Fischrestaurant?“ fragte Urban den Mann mit der Gummischürze. „Dies ist das kommunale Leichenhaus, mein Herr.“ Städtische Angestellte waren schlecht bezahlt. Und Schweizer galten als geschäftstüchtig. Urban brauchte diesen Mann vielleicht noch öfter. Also machte er einen Hunderter locker. Der Leichenverwahrer nahm den Schein, strich damit symbolisch über seine Glatze und ließ ihn unter der Gummischürze verschwinden. „Mallory hundertvier.“ Im Entenschritt watschelte er in einen 15
Nebenraum mit Kühlfächern in drei Reihen übereinander. Eine der Isoliertüren zog er samt Bahre heraus. Der Tote war nicht abgedeckt. – Mit Kennkarte am Handgelenk lag er nackt, grau und kalt da. Seinen Leib bedeckten zwischen Hals und Schambein eine Vielzahl von millimeterschmalen, fingergliedlangen schwarzen Strichen. „Wunden von Pfeilspitzen“, äußerte Urban, ohne sie zu zählen. „Das sind keine Pfeilwunden“, bemerkte der Leichenwäscher fachkundig. „Scheint mir auch so, als habe man sie chirurgisch vergrößert.“ „Wozu?“ fragte der Mann in der Gummischürze. – Der Zustand dieser Löcher hatte ihn offenbar auch schon nachdenklich gemacht. „Ein Mann, der so viele Pfeile erwischt, ist ein toter Mann. Bei einem Toten zieht man die Pfeilspitzen ohne Umstände heraus. Diese aber wurden rausgeschnitten. An einem Toten? Wozu? frag ich Sie. – Aber mir kann’s ja Wurscht sein.“ „Mir nicht.“ Entfernt man mit dem Messer Projektile, wie man sie in Faustfeuerwaffen verschießt? überlegte Urban. Etwa Maschinenpistolenkugeln? Zugegeben, die rissen andere Löcher, aber die neuen Maschinenpistolen hatten kleinere Kaliber und Hochgeschwindigkeitsmunition. Indianer bekamen solche Waffen aber nicht in die Hand. In hundert Jahren vielleicht. „Und dann die Erfrierungen“, sagte der Leichenwäscher, „wie am Nordpol.“ Er deutete auf eine Stelle am Fuß und links am Unterschenkel. „Er lag im Flugzeug während des Rücktransports auf Eis“, erwähnte Urban. Der Glatzkopf winkte ab. „Davon gibt es keine Erfrierungen. Trockeneis kühlt nur bis auf drei vier Grad plus. Ich habe auch meine Erfahrungen.“ 16
„So kalt ist es in den Kordilleren um diese Jahreszeit gar nicht.“ „Dann starb er anderswo. Jedenfalls an einem kalten Ort.“ „An einem verdammt kalten, meinen Sie.“ Urban hatte genug gesehen. Wenn noch mehr aus Mallorys Leiche herauszulesen war, dann nur durch einen Experten. „Ich komme wieder vorbei“, sagte er, „heute nachmittag.“ „Da bin ich leider nicht hier“, bedauerte der Mann in der Gummischürze. Urban belastete sein Spesenkonto mit einem weiteren Fünfziger. „Dann werde ich vielleicht da sein“, versprach der Schwe izer. „Aber nicht gleich alles verprassen“, riet Urban. Vom Hotel aus rief er München an. Nach einigem Hin und Her hatte er einen bekannten Kriminologen, den Chef der Pathologischen Abteilung der Medizinischen Fakultät, am Draht und schilderte ihm die Situation. „Eine Ferndiagnose ist nicht möglich“, bedauerte der Professor, „andererseits kann ich auf die schnelle hier nicht weg. Wenn die Sache so wichtig ist, dann ziehen Sie meinen Kollegen Dr. Hämmerli aus Basel zu Rate.“ „Ich würde die Sache lieber diskret behandeln.“ „Verstehe, an der Kripo vorbei. Dann machen Sie folgendes, Bob…“ Urban bekam genaue Anweisungen. Er sollte sich, so vo rhanden, den Obduktionsbefund besorgen, einige Fotos schießen, und zwar mit einer guten Farbkamera, und sich eine Gewebeprobe beschaffen. „Aus den Erfrierungszonen“, betonte der Experte. „Ich bin heute abend damit in München“, erklärte Urban. Als er das Hotel verließ und seinen BMW bestieg, lag auf dem Beifahrersitz ein wurstförmiges Paket, in Zeitungspapier gewickelt. 17
Sein Beruf hatte früh begonnen, ihn zu lehren, wie man überlebt. Aber das Ding tickte nicht wie eine Bombe und fühlte sich auch nicht so an. Außerdem praktizierte kein Killer Höllenmaschinen auf den Beifahrersitz. Urban wickelte den Inhalt aus und hatte eine noch blutige Ochsenzunge, ein mächtiges Trumm, vor sich. An der Unterseite steckte die Nadel einer Injektionsspritze. Offenbar war diese Andeutung dem Spender aber nicht genug. Er hatte noch etwas auf das Papier geschrieben – in Englisch und Französisch: „Du bist der nächste“. Bei der Zeitung handelte es sich um den „France Miroir“, und die Zunge war auch nicht mehr frisch. Urban warf sie in den nächsten Abfallkübel und fuhr noch einmal zur kommunalen Leichenhalle. Der Glatzkopf mit der Gummischürze macht ein zu freundliches Gesicht, als daß alles in Ordnung hätte sein können. Mit einem ungeheuren Aufwand an Entschuldigungen erklärte er Urban, daß es nicht möglich sei, die Leiche hundertvier noch einmal zu besichtigen. „Und warum, zum Teufel?“ wollte Urban wissen. „Ist es eine Geldfrage?“ „Keineswegs, mein Herr. – Gib nicht mehr als tausend Fränkli pro Tag aus, sagte meine Mutter, sonst wird es happig, mein Junge.“ Der Mann in der Gummischürze führte Urban zum Nordfenster, öffnete es und deutete auf einen Schornstein, der etwa einen Kilometer entfernt zwischen Bäumen aufragte. Schwarzer Rauch kräuselte heraus. „Das Krematorium“, sagte der Glatzkopf. „Mallory hundertvier wird gerade eingeäschert.“ „Und das wußten Sie nicht?“ „Feuerbestattung ist eine andere Abteilung, mein Herr.“ Urban fuhr nach München zurück. Der Wind trieb Nieselregen heran. Er machte die Autobahn schmierig. 18
Urban dachte den Fall noch einmal durch. Dabei kam er zu dem Ergebnis, daß sich alles anders entwickelte, als er im vo raus berechnet hatte. Deshalb dachte er lieber an etwas anderes. 3. Paris. – Angler an den Seineufern. – Vor den Boulevardcafes sitzen Mädchen in der Nachmittagssonne. – Der erste Nachtfrost färbt die Lindenblätter Chromgelb. Mit achtzehn war er noch Autowäscher in Nagasaki. Sieben Jahre später Chef einer Metallhandelsfirma mit 400 Millionen Yen Jahresumsatz. In einem Herrenmagazin nannten sie ihn den Unternehmer des Jahres. Er begann, marode Fabriken aufzukaufen und sie zu sanieren. Wenn ihm das nicht gelang, riß er sie nieder und baute Häuser auf dem Areal. Einmal wurde er wegen Steuerhinterziehung eingesperrt. Doch das machte ihm wenig aus. In Tokio galt das als Kavaliersdelikt. Außerdem hatte er damals schon den größten Teil seines Vermögens auf den Bahamas und in der Schweiz. Mittlerweile gehörte er zu den Männern, deren Jahreseinkommen nicht mehr zu schätzen war. Ebensowenig wie ihre wirtschaftliche Macht. Dabei lebte er äußerst bescheiden. Er vermied jeden Prunk und fuhr einen ganz gewöhnlichen serienmäßigen Rolls-Royce. – Nur unter einer Tatsache litt der Präsident von WOLF, daß er Japaner war. Die dunkelblaue Luxuslimousine überquerte den Fluß auf dem Pont Mirabeau, wurde an der Ampel abgebremst und zog dann am Quai Citroen wieder an. Yamamuto hob den Telefonhörer aus und betätigte den goldenen Knopf der Bordsprechanlage. Auf diese Weise konnte er dem Fahrer vor der schalldichten Trennscheibe Anweisungen erteilen. „Halten Sie an der Place de la Resistance kurz an, George.“ 19
„Wie jeden ersten Freitag im Monat, Monsieur.“ Yamamuto liebte vorlaute Angestellte wenig. „Heute ist Mittwoch, George.“ „Bedaure, Monsieur, heute ist leider Freitag.“ „Wenn ich sage Mittwoch, dann ist Mittwoch“, entgegnete Yamamuto, hängte ein und widmete sich weiter dem Studium der New York Times, die er jeden Morgen im Briefkasten seiner Villa vorfand. Der Rolls schwamm im Verkehr mit. Avenue de Suffren – Seineknie. Ein Schlepper tutete im Nebel. Der Quai d’Orsay kam in Sicht. Der Rolls hielt am Gehsteigeck. Ein Mann spurtete los, als habe er im Startloch gekauert, stieg ein, schlug die Tür zu. Der Rolls fuhr weiter Richtung Innenstadt. „Guten Morgen, Sir.“ Der kleine Japaner musterte den Europäer jedesmal aufs neue. Ihre heimlichen Begegnungen dauerten nur kurz, selten länger als fünf Minuten. Was Yamamuto an dem Burschen sympathisch fand, war dessen Ähnlichkeit mit ihm. Klein und von schwächlicher Figur, besaß er eine scharfe Intelligenz und schwache Augen, weshalb er eine Metallgestellbrille trug. Im Gegensatz zu der Yamamutos war sie jedoch nur aus Silber. Irgendwann, wenn er Millionär war, würde er auch eine goldene tragen. Kein Zweifel, daß er sich auf dem Weg dorthin befand. Nach kaum beendetem Studium kassierte er bei WOLF schon fünftausend Dollar im Monat. So ganz nebenbei. „Konnten Sie meine Information verwerten, Sir?“ fragte er in englisch. Yamamuto lächelte fein. „Hat man noch etwas von dem Vorfall gehört?“ „Kein Wort in Presse, Rundfunk und Fernsehen, Sir.“ „Dann muß wohl etwas schiefgelaufen sein. Bei den anderen natürlich.“ „Fabelhaft, wie Sie das in den Griff kriegten, Sir.“ Yamamuto hob die Hand und ließ sie wieder auf das Conolly-Leder der Polsterung fallen. 20
„Ich bin Präsident der Weltorganisation der Interessenve rbände der Großindustrie.“ „Trotzdem, Sir“, sagte der junge Mann, „über Millionen ve rfügen und sie im rechten Moment an der richtigen Stelle ve rwenden und den Einsatz erfolgreich durchziehen, das sind verschiedene Dinge, Sir.“ „Man darf die Zukunft nicht Phantasten überlassen“, bemerkte Yamamuto und wandte sich anderen Dingen zu. „Die Gefahr ist zunächst beseitigt. Wie wird man reagieren?“ „Die Verantwortlichen sind noch im Schock, Sir.“ „Hypnotisiert wie das Huhn vom Kreidestrich, meinen Sie.“ „Sicher werden sie eines Tages handeln, aber sie haben kein Konzept.“ „Meines Erachtens“, äußerte Yamamuto, „gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder schweigen und alles vertuschen oder es an die große Glocke hängen. Aber dazu braucht man Beweise, und die hat man nicht, denn die haben wir.“ Der junge Mann nahm die Brille ab und putzte sie, obwohl die dicken Gläser blitzblank waren. „Hüten Sie die Beweise, Sir“, riet er dem Japaner. „Erstens das“, versicherte Yamamuto, „zweitens weiß niemand, daß wir sie haben. Drittens ist dafür gesorgt, daß sie unter Verschluß bleiben. Notfalls bis zum Jüngsten Tag. Nun ist es Ihre Sache, mein Freund…“ Der junge Mann hob das leicht beflaumte Kinn. „Sir?“ „… uns weiter auf dem laufenden zu halten, damit wir nicht nur steuern, sondern notfalls gegensteuern können. Sie genießen unser Vertrauen.“ „Danke, Sir.“ Der Rolls hielt an der Place de la Concorde. Yamamutos Gesprächspartner stieg aus. Noch zwei Kilometer bis zum achtzehnstöckigen Bürohochhaus, dessen oberste Etage von den darunterliegenden abgeschüttet war wie die drucksicheren Abteilungen eines U-Bootes. 21
Nur ein Speziallift führte bis zum Penthouse. Neben diesem Lift war eine mattschimmernde Titanplatte montiert. Darauf vier Buchstaben eingeätzt: WOLF. Für World Föderation. Als die Akte, eine von sieben durchnumerierten Exemplaren, Paris erreichte, trug der Umschlag lediglich die mit Filzstift geschriebene Adresse: WOLF-Zentrale – Chefsache. Yamamutos Assistent trug sie persönlich in das Präsidentenbüro, wo Carrara-Marmor und seidenmattes schwarzes Mahagoni ausdrückten, daß hier die Weltindustrie gesteuert wurde. „Überbracht durch Sonderkurier, Sir.“ Ehe der Präsident das Siegel aufbrach, deutete er auf die Ziffer. „Wer bekam eins bis sechs?“ Hier konnte der Assistent nur blind tippen. „Washington, London, Düsseldorf, Rom, Sidney und Moskau, Sir.“ „Mutmaßen kann ich auch“, spottete der Japaner und schlitzte das dicke Natronpapier auf. Außer einem zweiten verschlossenen DIN-A4-Kuvert fand er weder Notizen noch Begleitschreiben. Ein untrügliches Anzeichen dafür, daß der Inhalt von höchster Brisanz war. Wenig später hatte der WOLF-Präsident den roten Schnellhefter vor sich liegen. Er war dünn, Inhalt vielleicht zehn beschriebene Bogen. Yamamuto winkte seinen Assistenten hinaus und vertiefte sich in die Akte. Abgefaßt war sie von einem WOLF-Sympathisanten in einem der größten Geheimdienste der Welt. Unter „betrifft“ stand nach dem Doppelpunkt: Das Mallory-Projekt. Dann folgte eine detaillierte Schilderung der Ereignisse von Anfang des Monats in den italienischen Abruzzen, welche Maßnahmen ergriffen worden waren und der Konsequenzen, die sich aus diesen Maßnahmen ergaben. 22
Der Bericht hatte ebenso journalistische wie analytische Qualitäten und gipfelte in der Mahnung, daß alles getan werden müsse, um die Vorgänge am Monte Velino geheimzuhalten. Die Geheimhaltung sei durch eine Person namens Melina Mallory und deren Versuch, einen Geheimagenten einzuschalten, kurzfristig gefährdet gewesen. Der WOLF-Präsident blätterte weiter. Auf der nächsten Seite war das Foto eines Mannes eingeheftet. Er mochte Mitte Dreißig sein, hatte einen Feudalschädel mit energischem Kinn, intensiv blickende graue Augen, braunes, kräftig gewelltes Haar und einen Zug um den Mund, als belächle er alle Welt. Deutlich erkennbar trug er ein Glenchecksakko von englischem Schnitt in dezenter, nicht zu grober Musterung, Maßhemd, dazu einfarbige Krawatte, vermutlich aus Seide gewirkt. – Darunter stand: Robert Urban, BNDAgent, Code-Nr. 18, genannt „Mister Dynamit“. Der folgende Absatz beschäftigte sich mit dem Mann, den das Foto zeigte, und schilderte ihn als einen der gefährlichsten seines Faches. Weil er nie einer Quelle allein traute, wählte Yamamuto eine Amerika-Nummer und bekam einen seiner Freunde an den Draht, einen Insider aus dem Pentagon. „Kannst du“, setzte er an, „mit dem Stichwort ,Mister Dynamit’ was anfangen?“ Der Amerikaner zierte sich nicht lange. „Den möchte ich nicht zum Feind haben.“ „Präziser!“ „Ein Kerl, mehr wert als eine deutsche Panzerdivision.“ „Käuflich?“ „Nicht mal mit der schönsten Frau Hollywoods. Was hat man nicht schon alles versucht.“ „Das klingt, als sei er der Größte.“ „Zwischen Mittelmeer und Nordpol allemal.“ „Ein berühmter Weichspüler also.“ 23
„Wie einer von den neuen Robotern, die Tag und Nacht arbeiten, ohne Gefühl, ohne Ermüdung, ohne Gewissen.“ „Diese Alleskönner“, bemerkte Yamamuto abfällig, „taugen für richtige Arbeit im Grunde wenig.“ „Ich würde es nicht auf ein Exempel ankommen lassen“, riet der Amerikaner. Das Gespräch machte Yamamuto nachdenklich. Dieser Mister Dynamit war, wie es aussah, der einzige Punkt, der als kritisch bezeichnet werden konnte. Getreu der WOLFDevise, daß es besser sei, auch Mücken mit Kanonen zu beschießen, als sie gar nicht zu treffen, fällte Yamamuto eine Entscheidung. „Buchen Sie mir“, sagte er zu seinem Assistenten, „einen Flug nach Washington. In der Mittags-Concorde. Ich muß zu General Hunding.“ „Die Maschine wird randvoll sein, Sir“, befürchtete der Assistent. In der doppelschallschnellen Kontinentschleuder, der Co ncorde Paris-New York, war an Werktagen kaum Platz zu bekommen. Man hätte schon Generaldirektor der Air France sein müssen. Yamamuto aber war Präsident von WOLF und kannte alle großen Männer dieser Welt. Und gerade die Chefs der Fluglinien suchten in letzter Zeit verstärkt Kontakt mit WOLF als der schlagkräftigsten Organisation, die noch in der Lage war, Gesetze gegen die Ve rschmutzung der Atmosphäre zu verhindern. Yamamuto bekam den Platz. Ein als links verschriener Filmregisseur wurde höflich gebeten, seine Buchung einem wichtigen Mann der Wirtschaft frei zu machen. Da der Künstler behauptete, er sei mindestens ebenso wichtig, verweigerte man ihm kurzerhand die Bordkarte. Yamamuto flog an seiner Stelle in drei Stunden über den Nordatlantik. 24
4. Frankfurt. – Die Wolkenkratzer der Geldkonzerne täuschen Wallstreet vor. – Im Bahnhofsviertel die höchste Kriminalität Deutschlands. – Chicago am Main. Punkt 11.30 Uhr erfolgte der Richterspruch. Die Dritte Strafkammer des Landgerichts verurteilte Myrna Ziegler zu sieben Monaten Gefängnis wegen Betrugs, ausgesetzt auf Bewährung. Vom Staatsanwalt wurde der Finanzjournalistin vorgeworfen, ihre Anlagetips im Magazin „Mark- & Pfennig“ weniger zum Nutzen der Leser als zum eigenen Vorteil verwendet zu haben. Der ehemaligen Redakteurin konnte nachgewiesen werden, daß sie Schreibarbeit und Börsentätigkeit zu stark miteinander verknüpft hatte. Sie hatte heimlich miese Aktien billig gekauft, sie dann in frisierten Artikeln hochgeputscht und mit Gewinn veräußert. Danach fielen die Aktien wieder in den Keller auf ihren wahren Wert. Und die geleimten Anleger waren bitterböse. Myrna Ziegler hatte mühelos eine Millionen verdient – die man ihr allerdings wieder weggepfändet hatte. Niedergeschlagen verließ sie das Gerichtsgebäude durch die Hintertür, fuhr mit ihrem Porsche zu einem Autohändler, schlug das Sportcabrio für 27 000 Mark weit unter Wert los und hatte nur noch eins im Sinn: abhauen, untertauchen. Zu Hause waren die Koffer schon gepackt und in dem alten VW verstaut. Per Taxi fuhr sie zu ihrem Apartment, um die letzte Flasche Champagner leer zu machen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate rechnete sie mit allem, mit einem wütenden Überfall durch geprellte Anleger, auch mit Taschenpfändung durch den Gerichtsvollzieher, aber nicht mit einem Burschen, der in ihrer Couchecke fläzte und schlief. Sie wollte sich leise empfehlen, da öffnete er die Augen und rief: „Bleib!“ 25
An einem einzigen Wort erkannte sie ihn. „Du?“ rief sie überrascht. „Wie kommst du hierher, was suchst du bei mir?“ „Dich“, antwortete Bob Urban. „Und marschierst einfach übern Balkon.“ „Durch die Tür.“ Er spielte mit einem schmalen Plastikstreifen. „Wie lange kennen wir uns? Zehn Jahre? Damals warst du achtzehn und Volontärin bei der ,Süddeutschen’.“ In ihrer Antwort klang eine Spur Ärger mit. „Kann mich aber nicht erinnern, mit dir je so intim gewesen zu sein, daß ich dir meinen Schlüssel… Außerdem bin ich in Schwierigkeiten.“ „Weiß ich“, sagte er, „der Prozeß, die Reifenstecher, wütende Anleger, die dich verfolgen und dir die Bude auf den Kopf stellen.“ Sie holte eine Flasche mit braunem Inhalt aus dem Barschrank, füllte zwei Gläser halb und trank erst einmal. „Es war ganz anders.“ „Es ist immer anders“, bemerkte er und lehnte sich zurück. „Wie war’s denn wirklich?“ Strenggenommen war Myrna keine Schönheit, aber attraktiv und elegant. Sie verstand sich zu präsentieren. Sie schlug die langen Beine übereinander, der dunkle Wadenflaum war vom selben Schwarz wie ihr Bubikopf. „Die Börsenaufsicht fand heraus“, begann sie mit ihrer katzenhaft weichen Stimme, „daß ich ab Herbst letzten Jahres eine kleine Arzneimittelfirma im Schwäbischen immer stärker favorisierte. In anderen Blättern schrieb ich unter Pseudonym, daß die Äskulap-AG ein Antikrebsmittel auf Interferon-Basis so gut wie fertig und erprobt habe. Im Frühjahr zogen die Aktien sprunghaft an und kletterten kurzfristig auf viertausend. Über einen Strohmann hatte ich mich schon im Winter damit eingedeckt und stieß bei knapp fünftausend ab. Gewinn: zwei Millionen Mark. Leider nur kurzfristig. Den Rest kennst du wohl aus der Presse. Die Sache mit dem Krebspräparat platzte, die 26
Kurse rutschten binnen weniger Wochen auf unter fünfzig. Eine Anlegergruppe, die durch meine Empfehlungen hohe Verluste erlitt, erstattete Strafanzeige. Andere gingen den direkten Weg. Durch Detektive und Schlägerkommandos ve rsuchten sie, sich an mir schadlos zu halten. Ich wurde gehetzt und gejagt. Du ahnst nicht, was ich hinter mir habe.“ „Die Story vom schnellen Geld“, kommentierte Urban. „Ein paar Tausender in der Tasche ist alles, was übrigblieb. – Und Angst ums Leben.“ „Ja, die Leute werden radikal, wenn man sie bescheißt. – Ist der uralte Käfer hinter dem Haus dein Zweitwagen?“ „Heute morgen war er noch in Ordnung.“ „Fahrbereit mag er noch sein“, schätzte Urban, „allerdings sind die Fenster eingeschlagen, der Kofferraum ausgeplündert und die Reifen ohne Luft.“ Myrna ließ sich nicht anmerken, wie entsetzt sie war. „Bring mich weg“, flüsterte sie. „Okay.“ Er dachte nicht lange nach und stand auf. „Gehen wir!“ Sie ergriff seine Hand. „Und dein Problem?“ „Das hat Zeit. Wir reden unterwegs darüber. Hast du ein Archiv?“ Sie deutete gegen die Stirn. „Hier oben. – Und gute Informanten.“ „Auch in Wissenschaft und Forschung?“ „Auf diesem Sektor habe ich angefangen zu schreiben. Forschung, Wirtschaft, Geldmarkt. Man kommt automatisch dahin.“ Er schien zufrieden zu sein. Im Moment. Myrna raffte zusammen, was ihr nach dem Verlust der Koffer noch blieb. „Wo fahren wir hin?“ „Ich habe ein Jagdhaus im Kaisergebirge.“ „Wo ist das?“ 27
„Hinter Kufstein gleich links.“ „Weiter Weg, oder?“ Ihre Stimme klang mit einemmal anders. Zu der Weichheit kam ein unbestimmtes Vibrato. „Da fahren wir doch glatt einen halben Tag.“ Sie kam aus dem Badezimmer, lehnte sich an den Türpfosten, kreuzte im Stehen die Beine. Ihre Oberschenkel drückten sich unter dem engen Rock deutlich ab. „Machen wir es jetzt oder später?“ „Du meinst, jetzt auf die schnelle oder später auf die ruhige.“ „Ein bißchen Reiseproviant mitnehmen wäre nicht übel, oder?“ „Beides“, schlug er vor, „gleich und später.“ Obwohl es ein Blitzdurchgang war, er warf sie nur aufs Bett, und sie zogen sich nicht einmal aus, fragte er sich, wie er so lange auf sie hatte verzichten können. Sie war in der Liebe wie im Schreiben ziemlich ungewöhnlich. Die Tachonadel pendelte locker um hundertsechzig. Er fuhr verhalten. In den Spessartwäldern hingen Nebelfetzen. „Wer ist Mallory?“ kam Urban zu seinem Problem. „Ein Kriminalschriftsteller.“ „Nicht der. Professor James H. Mallory.“ Myrna schien ihn zu kennen. „Der ist tot.“ „Ja, gestorben an einem Dutzend Maschinengewehrkugeln oder mehr.“ „Hieß es nicht, durch die Pfeile von Indianern?“ „Indios haben keine MPis.“ In diesem Punkt stimmte sie ihm zu. „Und er war auch nicht in den Kordilleren. Er ist Geophysiker. Ich hörte, er sei vor Monaten zu einer Höhlenexkursion aufgebrochen, irgendwo in den Dalmatinischen Karst, um magnetische Messungen vorzunehmen, Schwerkraftforschung, Meteoritenfrequenzen zu zählen, was weiß ich.“ 28
Urban legte etwas Tempo zu, denn in Richtung Würzburg kam die Sonne durch und die Fahrbahn war trocken. „In Höhlen ist es zwar kalt, aber nie unter Null. Mallory hatte aber Erfrierungen dritten Grades.“ Sie bat um eine Zigarette. Er deutete auf das Handschuhfach. Drinnen lagen zwei Päckchen seiner Privatsorte, der Goldmundstück-MC. Myrna stieß ein Stäbchen aus der blauen Packung, steckte es an und fand es zu stark. „Du rauchst selten“, stellte er fest. „Fast nie“, sagte sie. „Und was Mallory betrifft, so hatte er einen Kollegen, mit dem er seit langen Jahren zusammenarbeitete. Man kann sagen, daß sie befreundet waren. Ohne Erfolgsneid wie sonst in der Forschung. Der eine bekam den Nobelpreis vor vier Jahren, der andere scho n neunzehnhundertsiebzig.“ „Dann ist Coburg der andere.“ „Jack Coburg, Professor für Biochemie an der Universität Oxford. Er erhielt den Nobelpreis für die Entdeckung von Abwehrstoffen gegen Strahlenverseuchung. Aber seit er gegen die Umweltvergiftung auf die Barrikaden ging, ist es still um ihn geworden. Weiß nicht, was er im Moment macht.“ Sie blickte nach links unten auf die Konsole zwischen den Sitzen. „Darf ich dein Telefon benutzen?“ Sie telefonierte eine Weile in der Gegend herum. Das dauerte bis Ingolstadt. Dann faßte sie das Ergebnis zusammen: „Mein Informant behauptet, Jack Coburg sei tot. Unfall. Er stürzte irgendwo in Afrika mit einem Privatflugzeug ab.“ „Wann?“ „Vor zwei Wochen.“ „Da kam auch Mallory um. Wer ist dein Informant?“ „Der Assistent des Lehrstuhlinhabers der Biologischen Fakultät der Universität Heidelberg.“ „Auch Mallorys Tochter starb vor kurzem“, erzählte er, „als 29
sie wegen gewisser Vorgänge Kontakt mit mir aufnehmen wollte. Man injizierte ihr eine tödliche Dosis unter die Zunge.“ „Dosis von was?“ „Keine Ahnung. Die Leiche war fort, als die Polizei kam.“ Myrna versteifte sich, stemmte sich mit den Füßen gegen das Bodenbrett, hob die Arme und zeigte ihre ausrasierten Achselhöhlen. „Es gibt tödliche Dosen und belebende. Was hältst du davon?“ Es dämmerte stark. Es ging auf halb acht. Die Wagen fuhren schon mit Licht. Jenseits der Donaubrücke steuerte er einen Parkplatz an. Urban ging vom Gas und rollte aus. Der Parkplatz war leer. Da das Coupe keinen brauchbaren Rücksitz hatte, kippte er Myrnas Sessel flach. Er hatte immer gewußt, daß er auf braunhäutige Frauen besonders scharf abfuhr. Es stellte sich auch diesmal als richtig heraus. „Wie lange“, flüsterte sie, „wollen der Herr eigentlich noch fummeln? – Komm, pack’s an, Darling!“ Es ging noch schneller und noch besser als in Frankfurt. „Junge“, stöhnte sie auf, „du bist in der Liebe wie in deinem Job. Höchst ungewöhnlich.“ Einen Tag später wußte Urban über Myrna Ziegler einiges mehr. Im Grunde war sie ein Reinfall. Sie sah gesund aus, hatte eine prima Figur und war eine Sensation im Bett. Nicht, daß man sie eine Puppe nennen konnte, aber ihre Intelligenz machte sie anziehend. Ihre großen dunklen Augen konnten mitunter sogar faszinieren. Sie war klug und überhaupt nicht streitsüchtig, aber sie war leider geldgierig. Schlimmer als bei jeder Hure, die alle haben mußte, die sie kriegen konnte, war ihr Verhältnis zu harter Währung. Und deshalb war sie für die meisten Männer wohl ein Reinfall. 30
„Wo haben Sie sie versteckt?“ fragte Sebastian, der Operationschef. „In meinem Haus im Gebirge.“ „Auch nicht gerade ein Adlerhorst. Man ist hinter ihr her und hinter ihren krummen Geschichten. Wer suchet, der findet.“ „Hoffentlich findet Myrna, was sie sucht.“ „Und Sie, was wir suchen“, bemerkte Sebastian, „nämlich eine Spur zu diesem Raumschiff.“ „Gerüchte“, schränkte Urban ein, „Hirngespinste.“ „Die anderen Dienste schweigen zu dezent über den Vorfall, als daß er ein Hirngespinst sein könnte. Wen man auch anspricht, sei es in London, in Rom oder in Paris, jeder schweigt und kocht seine eigene Suppe.“ „Soviel steht jetzt schon fest“, Urban wechselte das Thema fast nahtlos, „Mallory und sein Freund, der Engländer Coburg, kamen zur selben Zeit auf ungewöhnliche Art ums Leben. Aber es geht noch weiter. Mallory und Coburg gehörten einem Kreis von Gleichgesinnten an.“ „Gleichgesinnt in bezug auf was?“ „Umweltschutz, Rüstungsbeschränkung, Geburtenkontrolle.“ „Vom wirtschaftlichen Standpunkt alles reiner Wahnsinn.“ „Was nützt eine gesunde Weltwirtschaft, wenn es keine Menschen mehr gibt, die davon profitieren?“ Der Alte ließ das Monokel fallen. „Sind Sie auch so ein Grüner?“ Urban winkte ab. „Thesen, mit denen täglich hausiert wird, die ziehen bei mir nicht. Außerdem bin ich selbst Ingenieur genug, um zu wissen, daß alles halb so wild ist. Ich fliege und fahre pausenlos über halb Europa hinweg, nirgendwo habe ich den Wald sterben sehen. Höchstens ganz hinten im Bayrischen. Und da gibt es überhaupt keine industrielle Verschmutzung. Es ist alles zuwenig erforscht.“ Mit einer symbolischen Handbewegung versuchte der Oberst das Thema vom Tisch zu wischen. 31
„Schluß jetzt mit Mallory und Genossen.“ Urban nickte zustimmend und erklärte, auch wenn es an Sarkasmus grenzte: „Es geht gar nicht anders. Mallory und sein Freundeskreis, bestehend aus lauter prominenten Wissenschaftlern, ist nämlich nicht mehr vorhanden.“ Der Alte wirkte einen Moment erstaunter, als zu erwarten war. „Gerüchte“, tat er es ab. „Wie das mit dem Raumschiff in den Abruzzen.“ Sebastian beugte sich vor. „Diese ganze Einstein-Clique ist verschwunden, sagen Sie?“ „Zumindest ist sie nicht auffindbar.“ „Sicher sitzen sie auf einer Palmeninsel in einem Luxushotel und brüten neue Schreckensthesen aus. – Und bei uns regnet es dauernd.“ „Einfach nicht mehr da“, wiederholte Urban. Der Alte war aufgestanden und auf seinen kurzen Beinen in der Ziehharmonikahose zum Fenster gegangen. Die Ulmen verloren immer mehr Blätter. Es war so finster, daß man Licht brauchte. Sebastian machte kehrt, daß der Gummiabsatz quietschte. „Schluß jetzt! Entweder Sie beenden hier und auf der Stelle diesen Mallory-Unsinn und kümmern sich um die UFO-Sache, oder ich übergebe den Fall an…“ „An wen?“ „Und schaffen Sie sich dieses kompromittierende Weib vom Hals. Sie wird gesucht, sie steht auf der Fahndungsliste. Eigentlich durfte sie Frankfurt gar nicht verlassen. Wie brachten Sie sie über die Grenze nach Österreich?“ „Mit meiner Sammlung an falschen Pässen.“ „BND-Material, zu treuen Händen überlassen. Das nenne ich Amtsmißbrauch, Vertrauensbruch.“ „Sie hielt an der Grenze den Ausweis ihres Golfclubs hoch, und sie winkten uns durch.“ 32
Der Alte fühlte sich veralbert. „Der Fall Raumschiff ist Ihnen hiermit entzogen.“ „Danke.“ „Der Fall Mallory ist Sache von Interpol. Sie stehen sofort anderweitig zur Verfügung.“ Urban nahm seinen Pepitahut und schlüpfte in den BurberryCoat. „Sie wissen, wo ich zu erreichen bin“, sagte er. „In Schwabing.“ „Oder die Autobahn lang bis Kufstein, dann die kleine Straße durch das Kaisertal Richtung Stripsenkopf. Das ist zwischen dem Zahmen und dem Wilden Kaiser. Im Wald dann bergwärts drei Stunden Aufstieg. Es gibt auch einen Fahrweg, aber nur für Könner und Kenner.“ Der Alte hatte nie einen Heiligenschein, aber heute hatte er den ausgesprochen bösen Blick. Als Urban sein BMW-Coupé bei Dunkelheit bis auf Höhe 1200 quälte, sah er Spuren von Geländereifen, dachte sich aber nichts dabei. Kurz vor dem Haus kam er nicht mehr weiter, denn ausgerechnet am letzten Steilstück war der Wiesenhang glitschig vor Nässe, obwohl es gar nicht regnete. Außerdem mißfiel ihm der Zustand der Hütte. Sie war voll illuminiert, alle Fenster und Türen standen offen, überlaute Rockmusik lärmte zu Tal. – Und er hatte Myrna ausdrücklich gebeten, sie möge vorsichtig sein. Weiter oben stellte er fest, daß jemand den Brunnentrog umgekippt hatte, um ihn herum war alles Matsch. Er richtete ihn auf, trat ins Haus, rief nach Myrna und sah sie auf dem Flekkerlteppich liegen. Seitlich am Kopf hatte sie eine Schürfwunde, am Hals hatte man sie offenbar stranguliert, ihre Ellbogen bluteten. Zwei Fingernägel waren abgerissen, die Nylons zerfetzt. Aber sie 33
atmete. Er trug sie auf die Couch vor dem Kamin, machte das Haus zu und entfachte dann ein Feuer. Später, als er heißen Glühwein aus der Küche brachte, lag sie mit offenen Augen da. „Dieser verdammte Brunnen. Ich dachte, du kämst, stürmte raus, fiel über den Trog, kippte mit ihm um, und es hat mich schlimm erwischt.“ „Du hast schon besser gelogen“, sagte er, „aber schriftlich lügst du wohl am allerbesten.“ „Es ist die Wahrheit.“ „Dein Kleid ist trocken.“ Sie blieb dabei: „Es war so.“ Für eine Weile wirkte sie niedergeschlagen und hatte wohl auch Schmerzen. Als er ihr eine Tablette gab und später eine Flasche Pommery entkorkte, ging es ihr wieder gut. Noch einmal begann er zu bohren. „Und was ist wirklich geschehen?“ „Ich erzählte es doch. Details kann ich nicht wiedergeben. Der Schock hat alles ausgelöscht. Ich war wohl kurzfristig sehr benommen.“ Er holte eine Havanna aus der klimatisierten Kiste und entdeckte neben dem Telefon einen Zettel mit einer Reihe von Notizen. Alles in Steno. Er konnte Steno lesen, aber nicht Myrnas private Kurzschrift. Er wedelte damit. „Was gibt es Neues?“ Sie blickte ins Feuer und sah hübsch aus. Doch dann machte sie mit einem Schlag die ganze Romantik kaputt. „Da muß eine ungeheure Geschichte passiert sein.“ „Es gibt keine ungeheuren Geschichten. Nur wahre oder erfundene.“ „Sie wäre selbst erfunden noch ungeheuerlich.“ „Dann mach es kurz, falls es dich quält.“ Stockend, als müsse sie sich jedes Wort genau überlegen, begann sie: „Ich bekam die Namen des Mallory-Kreises und rief sie alle 34
an. Keiner ist erreichbar. Man wollte mir nicht sagen, wo sie sich aufhalten, diese Leute. Man machte Ausflüchte, aber bei jedem Wort hörte ich die Angst heraus, als stünden sie alle unter Druck.“ „Weiter!“ drängte er. „Ich schlußfolgere, daß Mallorys Freunde alle beseitigt und weggebracht wurden. Man ließ sie verschwinden. An einen Ort, von dem es kein Entkommen gibt.“ „Warum“, murmelte er. Es war keine Frage, denn zur Not ließ sich eine Antwort zurechtbiegen. „Weil es mächtige Gruppen gibt, die Angst vor der konzentrierten Intelligenz dieser Männer haben.“ „Vor ihrem Verstand und den Konsequenzen daraus?“ „Wovor auch immer, sie sind einfach nicht mehr da. Als habe man sie in den Weltraum hinaufgeschossen.“ Wie kam Myrna auf Weltraum? – Urban fand es absurd. Er mußte an die Gerächte mit dem Raumschiff denken. Allerdings hieß es, daß ein Schiff gelandet sei, und nicht, daß man eines gestartet habe. Er erwähnte die Sache mit dem UFO. Es war ihm, als erschrecke Myrna Ziegler. Darauf angesprochen, äußerte sie sich jedoch nicht. Er spürte den Punkt auf, von dem ab sie schwieg. Sie machte es äußerst geschickt, aber er merkte die Sperre. „Fast ein Dutzend Nobelpreisträger einfach beseitigt“, faßte er zusammen, „und niemand prangert das an? Das ist so unfaßbar, daß…“ Zwar hatte Sebastian verboten, an der Sache weiterzudoktorn, aber wenn es doch einen Zusammenhang mit dem UFO gab… „Wo lebte Coburg?“ „In Oxford. Er arbeitete im Auftrag eines italienischen Forschungsinstitutes nahe Rom an irgendeinem Projekt.“ Urban verschwand und kam nach wenigen Minuten mit der gepackten Tasche wieder. Es war alles darin, was man für eine Erdumrundung brauchte, wenn man von allzu eleganten Auftritten in Frack und Smoking Abstand nahm. 35
„Erlauben es deine mysteriösen Verletzungen mitzukommen?“ fragte er. „Wohin?“ „Zunächst nach Innsbruck. Ich chartere dort einen Flieger.“ Er rief in München-Riem an und bestellte privat eine Piper nach Innsbruck. Wegen des Nachtflugverbots konnte die Piper erst um sechs Uhr starten und brauchte etwa zwanzig Minuten. Wenn er gemütlich fuhr, trafen sie am Flugplatz in Innsbruck gemeinsam ein. „Ich bin okay“, versicherte Myrna Ziegler mehrmals. „Ja, du bist okay“, sagte er und meinte es so offen und ehrlich wie ihr Verhalten den ganzen Abend lang. Im Inntal lag Nebel. Frost machte ihn zu Rauhreif. Die Bä ume, die Telefonmasten, die Häuser sahen aus wie mit Puderzucker bestäubt. Als Urban zum Flugplatz abbog, raschelte das gefrorene Gras unter den Rädern. Er ließ den Motor und die Heizung laufen. Myrna fror leicht. An den Wagen gelehnt, wartete er eine Montechristo-Länge. Dann sah er den Hochdecker hereinkommen und anschweben. Seine Freunde von der Isaria-Charter brachten eine zweimotorige Beech 76. Demnach war die Piper in der Werft. Die Beech setzte auf, wendete draußen und rollte herüber. Und dann schaute Urban einen Augenblick fassungslos aus dem Kragen seines zartblauen Maßhemdes. Noch vor dem Piloten kletterte ein älterer Herr heraus, klein, untersetzt, ein Körper, wie ihn vielleicht Napoleon gehabt hätte, wenn ihm dieses Alter beschieden gewesen wäre. Er mochte Mitte Sechzig sein und zeigte ein übernächtigtes Dakkelgesicht. Mit Oberst Sebastian hatte Urban nicht gerechnet. Der Alte ging auf ihn zu, legte den Arm um seine Schultern, zog ihn ein Stück beiseite. 36
Freundlichkeiten des Alten waren immer verdächtig„Uns entgeht natürlich nichts“, sagte der Oberst. „Wäre auch traurig.“ „Der Weg in den Wilden Kaiser war mir doch etwas beschwerlich. Wollte schon lange mal wieder im Goldenen Dachl frühstücken. So richtig deftig mit rotem Tiroler, Speck, Ah nbutter und Vintschgauer Vorschlag. Heimwärts nehmen wir Ihren BMW.“ „Das steht Ihnen dienstgradmäßig zu, Großmeister“, spottete Urban. „Übrigens, eine Empfehlung vom Präsidenten.“ Er ließ nicht grüßen, sondern empfahl sich. Das hatte meist Unangenehmes zu bedeuten. „Unser Raumschiff-Ärger ist also vergessen.“ „Es ergaben sich einige neue Erkenntnisse.“ „Welcher Art?“ wollte Urban wissen. „Der dritten?“ „Machen Sie in Sachen Mallory weiter. Man fürchtet, da tut sich eine Kloake auf.“ „Dann übernimmt Pullach die Kosten?“ „Nicht offiziell.“ „Was bedeutet das schon wieder?“ „Sie kennen doch die Lage. Es gibt die großen Spiele in den Stadien mit allem Drum und Dran. Dann gibt es die Heimspiele, die Freundschaftsspiele und die…“ „Taschenspiele.“ Urban hatte verstanden. „Also grünes Licht.“ „So weit können wir nicht gehen“, erklärte der Oberst, „es ist nicht rot und nicht grün. Nennen wir es die Gelbphase.“ „Man kann noch über die Kreuzung wischen, darf sich aber nicht kriegen lassen.“ Sebastian klopfte Urbans Schulter. „Genauso ist es.“ „Und wenn es schiefgeht, dann will es keiner gewesen sein.“ Der Alte holte das Virginia-Etui heraus und spendierte einen von seinen Stinkbolzen. Wer ihn kannte, wußte, um welch großherzige Geste es sich dabei handelte. 37
„Alles klar?“ fragte er. „Alles paletti“, sagte Urban. Zwanzig Minuten später hatte er die Beech übernommen und startete aus dem böigen Inntalschlauch. Die Sonne ging auf. Ein prächtiger Tag. Aber er hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. – Nicht allein wegen der Zigarre. 5. Fünf heilige Berge. – An den steinig-kahlen Hängen des SongShan das geheimnisvolle Kloster Chinas. – Räucherkerzen für Buddha – und die Kunst, zu töten. Das Areal war vierzig Hektar groß und lag in den Hochvogesen ziemlich genau im Mittelpunkt des Dreiecks Epinal – Belfort – Colmar. Mit messerscharfem NATO-Draht eingezäunt, bestand es im wesentlichen aus einem von bewaldeten Hügeln umschlossenen Tal und einer canonartigen Schlucht, durch die ein kleiner Fluß rhônewärts schäumte. Die Gebäude auf diesem schwer zugänglichen Privatbesitz – sie bestanden meist aus Holz und trugen pagodenartige Dächer – wurden überragt von einem Haus, das an ein Buddhakloster erinnerte. – Irgend jemand hatte hier ein Stück China nach Frankreich verpflanzt. Ob Sommerhitze über dem Tal brütete oder Schnee lag, ob es Tag war oder Nacht, immer konnte man die Schreie von Männern hören, die Kampfrufe trainierender Shaokas. Ebensowenig wie die Jahreszeiten in diesem Camp Beachtung fanden, wurden auch die Tage und Monate nicht gezählt. Aber es war ein Montag, kurz vor Sonnenuntergang, als sich ein Hubschrauber dem einsamen Waldtal näherte, es einmal umkreiste und dann im Klosterhof zur Landung ansetzte. Dem aussteigenden Japaner Yamamuto kam ein Mann in schwarzem, bodenlangem Gewand entgegen. 38
Sie verbeugten sich höflich. Dann umarmte der Greis in Schwarz den Präsidenten von WOLF wie einen Sohn. Obwohl Yamamuto einer der Finanziers dieser Schule war, bestand zwischen ihm und dem Alten immer ehrfurchtsvolle Distanz wie zwischen Priester und Laien. „Daß Sie uns besuchen, Yamamuto-San!“ rief der Chinese. „Welche Ehre!“ Yamamuto, dessen Terminkalender so voll war, daß er bei der Nahrungsaufnahme Akten studierte und im Bad Schriftsätze auf Band diktierte, war heute besonders unter Zeitdruck. Leider entwickelten sich Dinge, die WOLF gefährdeten, wenn man sie nicht sofort abstellte. Er bat den Greis um Vergebung für seine Eile und kam zur Sache. „Es geht um meine Männer.“ Ruckartig blieb er stehen, denn aus der offenen Fensterfront eines Klosterflügels drang ein Geräusch, als schnaubten Pferde und schrien Wildkatzen. Unbemerkt hinter verspiegeltem Glas stehend, sah er, wie halbnackte Männer am Boden hockten und ihre Hände mit abgespreizten Fingern immerzu in Töpfe stießen. Dabei gaben sie tierhafte Laute von sich. „Das sind unsere Novizen“, erklärte der alte Mann. „Zwar bedienen sich Shao-Kämpfer auch modernster Waffen, aber die furchtbarste Waffe ist ihr gestählter Körper. Die Hände wie Messer, die Füße wie Hämmer. Um die Hände abzuhärten, stoßen sie sie stundenlang in Töpfe voller Kieselsteine. Nach sechs Monaten wird der Topf mit Sand gefüllt.“ „Ist das nicht äußerst schmerzhaft?“ wandte Yamamuto ein. „Das schon, aber eines Tages sind die Fingerspitzen wie Stahlnadeln, die dem Gegner die Eingeweide aus dem Leib reißen.“ Weiter hinten standen andere Schüler und hämmerten die Fäuste gegen eine Stahlwand. Zwischen Stahl und Faust befand sich eine Art großer Abreißkalender. „Zuerst schlagen sie gegen dreihundert Blatt Papier“, erklärte 39
der Alte, „täglich reißen sie ein Blatt ab. Am Ende hämmern sie gegen blanken Stahl.“ In anderen Gebäuden, die offenbar der Gymnastik dienten, sah Yamamuto kriechende wie springende Schüler. „Unsere Väter im Shaolin-Kloster in China haben einst die Tierwelt beobachtet, wie sie sich bekämpft, wie sie angreift und sich verteidigt. Von allen Tieren übernahmen wir die stärksten Fähigkeiten. Von der Schlange, vom Affen wie vom Tiger.“ Im nächsten Studio wurde eine Nahkampftechnik geübt, die dem erfahrenen Yamamuto ebenfalls fremd war. „Von euch Japanern“, fuhr der Chinese fort, „haben wir Teile aus Karate und Judo übernommen. Von den Koreanern übernahmen wir das Beste aus Taekwondo. Wir adoptierten auch einige Elemente des Jiu-Jitsu.“ „Und machtet Shao daraus“, ergänzte der WOLFPräsident. „Ich glaube, ein Mann, der aus dieser Schule hervo rgeht, wird unbesiegbar sein.“ „Falls er den Ti gerschlag beherrscht.“ „Was ist der Tigerschlag?“ Der priesterhafte Greis legte den Finger senkrecht an die Lippen. „Der Tigerschlag ist mehr als ein Schwert in jeder Hand. Nur solche Schüler, die alle Prüfungen bestanden haben, und die sind verteufelt schwer, lernen ihn kennen.“ Yamamuto erfuhr, daß nach zwei Jahren, nach siebenhundert Tagen, an denen von vier Uhr morgens bis zweiundzwanzig Uhr trainiert und gekämpft wurde, ein Mann vielleicht soweit war. Dann mußte er sich durch eine Gasse kämpfen, die vo n seinen Mitschülern gebildet wurde. Jeder durfte eine List anwenden, um ihn aufzuhalten. Nur wer diese Gasse überwand und lebend ihr Ende erreichte, galt als Shaoka-Meister. „Und wie weit sind meine Leute?“ fragte Yamamuto, dem Grund seines Besuches näher kommend. Sie traten ins Freie, wo sich eine Reihe von Männern zehn 40
Kilo schwere Bleisohlen an die Füße gekettet hatten und damit hügelan liefen. Manche betätigten sich auch als Steinbrucharbeiter, wobei sie als Werkzeug nur ihre Handkanten einsetzten. „Eine Übung haben wir allerdings abgeschafft“, bemerkte der Greis. „Wir lassen unsere Schüler nicht mehr minutenlang mit geöffneten Augen direkt in die Sonne blicken. Das schärft nicht die Sehkraft, wie man früher annahm, sondern schädigt die Netzhaut.“ Yamamuto wiederholte seine Frage: „Und wie beurteilen Sie meine Leute, Meister?“ Der Alte lächelte zum erstenmal. „Das Geld war gut angelegt bei ihnen. Ihre Shao-Schulung ist beendet. Zusammen mit den Kenntnissen in moderner Technik, die sie ja mitbrachten, sind sie“, der Alte flüsterte, „sind sie perfekte Tötungswerkzeuge, deren Sie sich mit Vorsicht bedienen sollten, Yamamuto-San.“ „Wo sind sie?“ wollte der WOLF-Präsident, dem es nicht möglich war, unter diesen gebräunten Athletenkörpern seine drei Männer herauszufinden, wissen. „Sie ruhen vor einem schweren Nachtmarsch, der sie dreißig Meilen durch die Wälder führen wird. Mit dem Gewicht eines ausgewachsenen Steinblocks auf dem Rücken werden sie senkrechte Felswände erklettern, breite Gräben überwinden und sich nur nach den Sternen orientieren, nach dem Wind und den Geräuschen der Nacht.“ Yamamuto folgte dem Greis in den hinteren Teil eines Gebäudes. Es war wie alle anderen ungeheizt. Selbst im tiefsten Winter wurde kein Feuer angemacht mit Ausnahme der Öfen in der Küche, wo Reis und Tee zubereitet wurden. Vor einer schweren Eichentür blieb der Alte stehen. „Ihre Männer“, er senkte die Stimme, „unterziehen sich täglich me hrere Stunden den geheimen Exerzitien, die ihre Seele so hart machen wie ihren Körper. Wir erziehen sie in dieser Richtung, weil Sie es wünschten, Yamamuto-San. Sie werden ihrem Herrn dienen und notfalls blind für ihn in den Tod gehen.“ 41
Der Alte öffnete nun die Tür. An der Wand eines Raumes in zwei Meter Höhe lagen sie. Ihre Betten bestanden aus jeweils fünf Wasserleitungsrohren, die horizontal in die Mauer getrieben waren. „Soll ich sie wecken?“ fragte der Alte, eine hölzerne Ratsche zur Hand nehmend. „Ja, ich muß sie sprechen“, antwortete Yamamuto, „aber in einem völlig abgedunkelten Raum. Ich werde ihnen meine Befehle erteilen, aber sie dürfen mich nicht erkennen.“ „Das ist klug, Yamamuto-San“, sagte der Alte, „sehr klug.“ Yamamuto erkannte ihre Anwesenheit nur am scharfen Schweißgeruch, den ihre austrainierten Körper verbreiteten. Aber er hörte nicht ihren Atem. Selbst ihn zu kontrollieren hatte man sie gelehrt. „Gentlemen“, begann der WOLF-Präsident, seiner Stimme eine gekünstelte Höhe gebend, „Sie wissen nicht, wer Ihre Ausbildung bezahlt, Ihre Studien finanziert, für Ihren Lebensunterhalt sorgt. – Ich bin der Beauftragte dieser Organisation.“ „Wir danken Ihnen, Sir“, antworteten sie im Chor auf englisch, „und für die großzügige Rente, die Sie für unsere späten Jahre ausgesetzt haben.“ Sie meinten die hunderttausend Dollar, die jeder von ihnen auf einem Sperrkonto liegen hatte, und die Lebensversicherung, die für sie abgeschlossen worden war. Noch ehe er fortfuhr, in dieser nur wenige Sekunden dauernden Pause, gewann Yamamuto die Überzeugung, daß die halbe Million Dollar hier gut angelegt war. Schon vor Jahren, als er WOLF mitgegründet hatte und zu ihrem ersten Präsidenten ernannt worden war, hatte er für eine Spezialeinheit plädiert. Ahnend, daß Zeiten kommen würden, wo WOLF eine kleine, aber schlagkräftige Truppe brauchte, hatte er Späher ausgeschickt und eine Reihe von jungen Burschen rekrutieren lassen. Sie mußten Oberschulbildung besitzen, sich sportlich hervorge42
tan haben und arm, möglichst elternlos sein. In psychologischen Eignungstesten waren diese drei aus mehreren Dutzend herausgefiltert worden. „Es ist Ihr erster Einsatz, Gentlemen“, fuhr Yamamuto fort, „die Dunkelheit um uns dient Ihrer und meiner Sicherheit. Sie wissen nicht, wer Sie beauftragt, ich weiß nicht, wen ich beauftrage, nur eines weiß ich, daß ich mich auf Sie verlassen kann.“ Seiner Sakkotasche entnahm er einen dicken Umschlag. Er war zugeklebt und extra mit Gummiband gesichert. „In diesem Kuvert finden Sie Einzelheiten Ihres Einsatzes sowie die Beschreibung eines Mannes nebst seiner Fotografie. Um ihn allein geht es. Er ist so rasch wie möglich auszuschalten. Die Art und Weise, wie das vor sich geht, überlassen wir Ihnen. Wichtig ist, daß Sie keine Spuren für Polizei oder Geheimdienste hinterlassen. Und noch etwas: Sollte einer von Ihnen je in die Hände gegnerischer Organisationen fallen, so wird er schweigen müssen, oder wir sehen uns gezwungen, ihn durch die Hand eines seiner Shao-Brüder zu eliminieren.“ Yamamuto streckte die Hand in die Richtung, wo er die drei Männer vermutete, und fühlte, wie einer von ihnen den Umschlag mit der Order entgegennahm. „Man wird Sie sofort nach Marseille bringen“, ergänzte er, „dort wird man Sie einkleiden, mit Waffen und der nötigen Technik ausstatten, mit Fahrzeugen, Pässen, Scheckkarten, Bargeld et cetera. – Das Objekt wird sich möglicherweise in den nächsten Tagen nach Rom begeben. Unser Informationsdienst wird Sie auf dem laufenden halten. Aber einmal an der Front, operieren Sie auf sich allein gestellt. Bedenken Sie immer, das Objekt ist ein starker und erfahrener Agent, aber kein unlösbares Problem für Sie. – Man hat mir erklärt, Sie würden keiner Fliege ohne Grund etwas zuleide tun, aber, ohne zu fragen, einen Feind killen. – Guten Abend, Gentlemen. Und viel Erfolg.“ Yamamuto wartete, bis sie gegangen waren, dann verließ auch er den völlig abgedunkelten Raum. 43
Das Tal in den Hochvogesen wirkte im kalten Licht des Mondes wie vereist. Der Hubschrauber startete. Wenige Stunden später saß Yamamuto wieder an seinem Schreibtisch in Paris, um per Drucktastentelefon und irrsinnig hohe Gebühren WOLF zu dirigieren. Schon war WOLF so mächtig, um den Regierungen in Washington und Moskau notfalls den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. 6. Frascati in den Tavernen – Mandolinen in den Gassen von Trastevere… Aber auch Verkehrschaos an der Piazza Venezia, Eleganz und Luxus – das andere Rom. Der BND-Agent Robert Urban begann sich innerlich auf den Fall einzuschießen. Konzentriert flog er die Beech über den Brenner, das Eisacktal hinunter nach Verona, durch die Poebene weiter nach Florenz. Gegen 09.20 Uhr rief er den Tower eines Sportflugplatzes nahe Rom. – Er bekam Landeerlaubnis. „Du liebst Italien?“ fragte Myrna neben ihm im Cockpit. Er leitete den Sinkflug ein, fuhr die Klappen aus, drosselte die beiden Motoren. „Wie kommst du darauf?“ „Man sieht es dir an.“ „Wenn du glaubst, es gebe ein Land, wo die Menschen freundlich sind“, sagte er, „wo du dich wie zu Hause fühlst oder als willkommener Gast, dann fahre lieber gleich in die Sahara.“ Er nahm die dunklere Brille. Nach der Landekurve blendete die Sonne stark. Er sah die Hangars, den Tower, die lange schmale Graspiste, die bis zu einem Wäldchen führte. Hart setzte er die ungewohnte Beech hin. Mit zuviel Speed kam er auf, rollte erheblich zu schnell, und 44
dann gerann ihm das Blut in den Adern. Vor sich im Sonnenglast blitzte ein silberner Strich. Etwa zwei Meter hoch spannte er sich über die Piste. Das war die Höhe des Cockpits, die Höhe seines Halses, seiner Augen. Für Bruchteile von Sekunden hielt er es für eine Irritation, dann für einen Reflex und viel zu spät für das, was es wirklich war, nämlich ein straffgespanntes Stahlseil. Brutal trat er die Bremsen. Aber das Gras war noch taunaß. Das Fahrwerk kam ins Schlittern, die Radprofile griffen nicht. Die Zweimotorige brach aus. Er gab Gegenruder, versuchte, die Beech zu fangen, erhöhte die Motorendrehzahl, nahm sie wieder zurück. Noch einmal abheben und durchstarten war leider unmöglich. Das Stahlseil, das sie köpfen würde, das unweigerlich ihre Rümpfe halbierte, war noch 90 Meter entfernt, maximal. Sein Magen und sein Gehirn rebellierten gegen diesen schlimmsten Moment seines Fliegerlebens. In achttausend Flugstunden war ihm das nicht vorgekommen. Zwar gab es oft Hindernisse auf Rollbahnen, mal einen Tankwagen, mal irgendein Baugerät, aber immer war Zeit gewesen, drüber we gzuhüpfen oder auszuweichen. Mit dem Restsprit war die Beech gut drei Tonnen schwer. Noch hatte sie die Hälfte ihrer Landegeschwindigkeit. In Mikrosekunden mußte er sich entscheiden. – Schleudersitze wie im Starfighter gab es nicht. Sie saßen fest angeschnallt da. Bauchlandend wäre er unten durchgeschlittert, aber die Beech stand fest auf den Rädern, einziehen war nicht mehr möglich. Endlich wußte er, was zu tun war. Es gab nur eine Chance: Er mußte die Bodenrolle vorwärts riskieren. Er überbremste die Maschine, riß sie hart herum und drückte die Steuersäule ganz nach vorn. Keine Reaktion. Es war, als gleite man auf Eis mit eingeschlagenen Rädern geradeaus. – Noch 70 Meter bis zum Seil. Und fast hundert Kilometer Geschwindigkeit. Myrna erkannte die Situation. Weil sie nicht zu schreien in 45
der Lage war, stemmte sie sich in den Sitz und erwartete mit geweiteten Augen und geöffnetem Mund das Unabänderliche. In diesem Moment begann sich das Heck zu heben. Vom Schwanz her richtete sich das Flugzeug auf. Das Heck warf Schatten, schien sie zu überholen. Ein Gefühl, als bohre man sich in die Erde. Das Heck stand senkrecht. – Dann war der Himmel unten und die Erde oben. – Überschlag. Die Propeller frästen die Piste, die Blätter bogen sich krumm. Aluminium barst, Glas splitterte. Es stank nach heißem Öl. „Mein Gott!“ stöhnte Myrna. In den Gurten hängend, rutschten sie weiter, wurden irgendwo federnd aufgenommen. Das Drahtseil hatte den Rumpf abgefangen, riß ihn auf und entzwei. – Dann war Stille. Von den Motoren her knisterte es verdächtig. Urban hatte zwar die Brandhähne geschlossen und die Zündung herausgenommen, aber brechende Treibstoffleitungen gab es immer, und die Motoren waren nach tausend Kilometer Flug glühendheiß. Er machte sich frei, half Myrna, hämmerte gegen die Cockpittür, warf sich dagegen, wälzte sich herum, trat sie mit den Füßen frei, arbeitete sich hinaus und zog Myrna hinter sich her. Irgendwo spürte er stechenden Schmerz. Feuer blowte auf. Sie kamen auf die Beine, rannten um ihr Leben. Irgendwo heulte eine Sirene. Alles um ihn herum, Wolken und Gras begannen zu schlieren wie ein Bild unter Wasser. Ebenso änderte sich der Zeitbegriff. Seine Bewegungen liefen in Zeitlupe ab. Er versuchte, sie zu beschleunigen. Vergebens. Dann die Explosion. Er warf sich schützend über Myrna, spürte die Hitze des Be nzinfeuers. – Irgendwann stellten sie ihn wieder auf die Füße. Leute vom Flugplatz, Hangarmechaniker. Die Beech war total hin. Nur noch ein Wrack. Sie fuhren ihn hinüber zur Flugleitung. Urban stieg aus, wankte auf die Glastür zu. Er fühlte sich erledigt. Wer war 46
dieser Kerl mit dem toten Blick, den hängenden Schultern, dem schleppenden Gang? Der mußte völlig unten durch sein. Nie wieder würde der groß rauskommen… „Wir leben“, sagte Myrna. Urban packte einen der Flughafenleute, einen rotblonden, beinah amerikanisch aussehenden Hünen, beim Jackett. „Was für ein Schwein“, stieß er hervor, „hat das Drahtseil gespannt?“ Alle blickten sich erstaunt an. „Welches Drahtseil, Signore?“ fragten sie kopfschü ttelnd. Die Beech war versichert. Am Rumpf gab es Spuren, als habe ihn eine Kreissäge der Länge nach halbiert. Urban erledigte den Papierkram und telefonierte nach einem Taxi. „Wohin jetzt?“ fragte Myrna, die die Vorgänge erst allmä hlich zu begreifen schien. „Weiter nach Plan, Gnädigste.“ „Ich brauche ein Bad, ein Bett.“ „Sie wollten mich skalpieren“, sagte er. „Jetzt mach’ ich erst recht weiter.“ „Du solltest dir besser ausrechnen, was sie nach diesem mißglückten Anschlag noch alles anstellen werden.“ „Im Moment kann ich mir keine Steigerung vorstellen.“ „Du mußt einen Optimisten verspeist haben.“ „Ein Optimisten-Ehepaar.“ Er warf sich in den Fiat. „Hotel Hassler, Villa Medici!“ Er fühlte sich wie ein Terrier, den man getreten hatte, mißtrauisch, bissig, überwach. „Das war eine deutliche Warnung“, bemerkte Myrna. „Die zweite.“ „Eine Verwarnung wegen zu großer Neugier.“ „Ich werde es ihnen heimzahlen“, schwor er, „mit Falschgeld.“ 47
Kaum war er geduscht, hatte Hose und Sakko aus der Reinigung zurück, rief er bei Professor Coburg an. Der Engländer hatte in einem Haus in Castel Porziano gelebt. Wie sich ergab, sprach Urban mit seiner Haushälterin. Er log ihr einen Roman vor, behauptete, er sei wissenschaftlicher Nachlaßverwalter im Auftrag der Universität Oxford. Die einfache Frau – Urban entnahm dies ihrem eher schlichten Italienisch – sagte, daß sie keine Auskünfte mehr gebe. Darauf erklärte Urban, daß er nur in des Professors letzte Forschungsarbeit Einblick nehmen wolle, vielleicht auch in seinen Terminkalender. „Sie schwindeln doch alle“, erwiderte die Römerin, „Coburgs Arbeitsmaterial wurde längst abgeholt. Später kamen noch mal drei andere Herren, die es ebenfalls an sich nehmen wollten. Jeder belügt einen. Auch der Dottore hat mich belogen. Er sagte, er bleibe nur ein paar Tage weg, er verlasse Italien gar nicht, und dann fiel er weitab in Asien oder Afrika einem Flugzeugabsturz zum Opfer. Wem soll ich da noch glauben? Sind doch alles Betrüger, sind die.“ Es gelang Urban nicht, sie umzustimmen, aber sie gab ihm wenigstens einen Rat. „Wenn Sie was wollen, wenden Sie sich an den Club.“ „Was für einen?“ „Nun, an den Club.“ Sie nannte ihm eine Straße im Zentrum und eine Telefonnummer. Urban machte ein schiefes Gesicht, als er auflegte. „Sie war ziemlich unfreundlich“, stellte Myrna fest. „Mit Recht“, erwiderte Urban und rief die Auskunft an. Dort bekam er die zu dem Anschluß gehörende volle Adresse. Sie löste einen erstaunten Pfiff aus. „Es ist kein Club im englischen Sinn mit Bar, Rauchsalon und Billardzimmer. Jetzt halte dich fest, Marie. Es ist der Club of Rome.“ Myrna tat, als sei ihr das kein Begriff. Damit stellte sie ihr Licht zweifellos unter den Scheffel. Den Club of Rome kannte 48
heute jedes Kind. Was der Club of Rome bedeutete, stand in jedem modernen Lexikon, fast schon in jedem Wörterbuch. „Der Club of Rome ist eine lockere Verbindung der we ltbesten Wissenschaftler mit dem Ziele der Friedenssicherung und der Erhaltung der Lebensbedingungen für die Menschheit“, dozierte Urban. „Danke, es fiel mir soeben wieder ein.“ Urban brauchte einen Bourbon. Als er getrunken hatte und über Rom Richtung Ostia blickte, wußte er, daß damit alles eine neue Dimension erhielt. Er zog das Telefon heran, wählte die C.o.R.-Nummer. Es wurde abgehoben. Also war das ständige Büro besetzt. Dann rief er ein Taxi. „Kommst du mit, oder bleibst du hier?“ fragte er Myrna. „Ich bin ziemlich groggy“, sagte sie, „aber dein Wahnsinn ist ansteckend.“ Auf der Fahrt von der Piazza di Spagna Richtung Corso Emmanuele glaubte Urban, daß ihr Taxi verfolgt würde. Ein schwarzer Mercedes blieb auffällig lange hinter ihnen. Wenn dich hier einer ernsthaft verfolgt, dachte Urban, benutzt er einen Fiat oder einen Alfa Romeo, der nicht aussieht wie ein Leichenauto. „Was ist?“ fragte Myrna. „Nichts“, sagte er. „Außerdem sind wir gleich da.“ „Du kennst dich aus in Rom?“ „Als wäre ich hier geboren.“ Urban zahlte die geforderte Summe, obwohl der Taxifahrer das Doppelte von dem verlangte, was üblich war. Aber der Mann sah aus, als habe er zwei Frauen und vier Kinder. Außerdem war sein 131er schon recht klapprig. Der Club residierte in einem der großen Bürokästen aus der Mussolinizeit. Urban hatte Mühe, bis zu einem der maßgebenden Männer vorzudringen. Wie sich ergab, war es Dottore Spinola, einer der Geschäftsführenden Vizepräsidenten. 49
„Ich habe wenig Zeit“, bedauerte der elegante grauhaarige Italiener. „Was auch immer Sie von mir wollen, ich bin nicht der richtige Ansprechpartner. Ich halte hier nur den Apparat am Laufen bis zur nächsten Konferenz im Frühjahr. Ich bin der Büropräsident, ich spreche und korrespondiere mit Mitgliedern in aller Welt, aber nicht über Sachfragen, nur über Termine.“ Der Dottore redete für Urbans Gefühl zu viel, um nicht etwas vertuschen zu wollen. „Der Club steckt in der Krise“, erwiderte Urban. „Ihre Studie 2000 war eine Sensation, aber es folgte nichts nach. Außer ein paar Intellektuellen hat sie keiner gelesen. Man versucht, Ihre wichtigsten Thesen als Spinnerei abzutun. Und nun noch dieser Aderlaß bei Ihren besten Köpfen.“ Urban hatte den Finger absichtlich in die Wunde gelegt. Der Italiener setzte eine leidende Maske auf. „Sie heben offenbar auf Professor Mallory ab.“ „Und auf Coburg.“ „Zwei tragische Unfälle. Aber Sie kennen doch diese Wissenschaftler. Für neue Erkenntnisse gehen sie jedes Risiko ein.“ „Nur daß Mallory nicht in Südamerika durch Indianerpfeile starb und Coburg nicht…“ Eine Handbewegung des Vizepräsidenten sollte Urban am Weitersprechen hindern. „Darüber wissen wir zuwenig. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, alle Fragen zu beantworten.“ „Aber vielleicht sollten Sie Ihrerseits eine Frage stellen“, konterte Urban, „nämlich die nach dem Verbleib von weiteren Männern aus dem engsten Freundeskreis der Toten.“ Urban zählte ein paar Namen auf: „Professor Velasquez aus Madrid, Santos, der Mexikaner, Porvecic, der Jugoslawe, der Pole Ko rzew, der Inder Shinor, was ist mit ihnen?“ Der Vizepräsident steckte sich nervös eine Zigarette an. „Die Herrschaften befinden sich alle wohlauf.“ „Nur weiß man nicht, wo sie sich im Moment befinden.“ 50
„Ich habe noch mit ihnen telefoniert.“ „Wann?“ „Nun“, Spinola kam ins Stottern, „vor kurzem.“ Urban stand so brüsk auf, daß der Stuhl umstürzte. „Was verschweigen Sie mir, Signore?“ polterte er los. Der Dottore nahm den Zettel, mit dem sich Urban unter Angabe falscher Daten angemeldet und Eintritt verschafft hatte. „Sie recherchieren für ein deutsches Nachrichtenmagazin, Signor Urban?“ „Und ich arbeite für ,Money’“, ergänzte Myrna. „Ich habe das Gefühl, Dottore, daß hier etwas vor den Augen der Weltöffentlichkeit verborgen werden soll. Irgend etwas Ungeheures. Wäre es möglich, daß eine Reihe von Wissenschaftlern eine bis heute unbekannte Gefahr exakt definierten, die zum Kollaps dieses Erdballs führt, weshalb man diese Experten aus kommerziellen oder politischen Gründen eliminierte?“ Der Italiener verlor alle Farbe. „Davon müßte ich wissen, Signorina.“ „Dachte, Sie seien hier nur geschäftsführender Koordinator.“ Urban beugte sich über den Schreibtisch nach vorn. „Geben Sie uns eine Adresse, nennen Sie uns einen Namen, den eines Mannes, der mehr weiß als Sie. – Oder ich frage Sie: Was zum Teufel wird hier gespielt?“ Kaum hatte Urban geendet, da entdeckte er etwas in den Augen des Italieners, was ihn erschreckte. Er hatte es im Einsatz oft gesehen, meist kurz vor der entscheidenden Sekunde, bei Männern, die in Todesangst verfallen waren, ohne dies zugeben zu wollen. Aber dieser Mann hatte nicht nur Angst. Er stand in Panik. Urban setzte noch einen Hammerschlag darauf. „Dottore“, erklärte er, „wenn hier etwas vertuscht werden sollte zum Schaden dieser hervorragenden Männer, dann wird man Sie zur Verantwortung ziehen.“ Trotz eines verstärkt einsetzenden Zuckens schien der Vizepräsident noch einen klaren Blick zu haben, vielleicht weniger für das Problem als für seine Lage. 51
„Ich weise solche Verantwortung mit Entschiedenheit von mir“, entgegnete er. „Wir, der Club, sind für unsere Mitglieder in keiner Weise verantwortlich.“ „Sollten Sie aber.“ „Laß uns gehen, Bob“, schlug Myrna vor. „Mir wird schlecht, wenn ich mir das noch länger anhören muß.“ „Ich hoffe“, betonte Urban, „Sie werden Ihr Verhalten niemals bereuen, Signore.“ Der Vizepräsident erhob sich ebenfalls. Seine Stimme klang, als habe er Mandelentzündung. „Tut mir leid“, versicherte er, „wir legen gewöhnlich großen Wert auf gute Zusammenarbeit mit den Medien.“ „Was hindert Sie daran, heute anders zu handeln?“ „Einen Rat noch“, gab er seinen Besuchern mit auf den Weg, „verlassen Sie Rom. Am besten, Sie verlassen Italien.“ „Vielleicht sogar die Erde“, kommentierte Urban den Vorschlag ironisch. Der Dottore schien es nicht zu hören. „Es wäre zu Ihrem Besten.“ „Laß uns gehen, Bob“, drängte Myrna, „die sind doch alle so was von verkackt hier.“ Sie fuhren mit dem Lift hinunter. „Natürlich stimmt da etwas nicht“, sagte Urban. „Warum zittert er um sein Leben?“ Ein Stockwerk tiefer hielt der Lift. Ein junger Mann stieg zu. Er trug einen dunkelblauen Anzug, weißes Hemd, Krawatte, die Kleidung der mittleren Managementebene. Erst als sich die Lifttür schloß und die Kabine nach unten glitt, drehte er sich um. Sein Gesicht war, abgesehen von der Tatsache, daß er Haftschalen benutzte, von jener Ausdrucksarmut, daß es einem nicht in Erinnerung blieb. „Ich glaube, ich kann etwas für Sie tun“, begann er unvermittelt. Wie sich ergab, war er der ständige Sekretär des jeweils amtierenden Vizepräsidenten. Im Grunde machte er die Arbeit, während die anderen repräsentierten. 52
Der Lift war unten angekommen. Der junge Mann drückte den Knopf für das oberste Stockwerk. Der Lift fuhr wieder hoch. „Riet Ihnen der Dottore, Italien zu verlassen?“ erkundigte er sich. „Der Mann ist krank“, bemerkte Urban, „oder steht unter ungeheurem Druck.“ „Das stimmt“, bestätigte der Sekretär. „Und warum?“ forschte Urban. Der junge Mann lächelte. „Die Gründe hierfür sind nicht einmal mir zugänglich. Ich würde sagen, das ist Chefsache und verschlossen im Chefsafe, zu dem nur diese den Schlüssel haben.“ Urban konnte das glatte Gefasel nicht mehr hören. „Ich dachte, Sie wollten etwas für uns tun.“ „Ja, richtig“, schien sich der junge Mann zu erinnern. Offenbar war er von Myrna mehr fasziniert als von seinem Anliegen. Doch dann wandte er sich wieder an Urban: „Verlassen Sie Italien, Signore. Aber erst morgen. Es gibt ein paar Leute, die Ihnen weiterhelfen können.“ „Und wo finde ich die?“ „In Ostia.“ „Am Meer also. Und wann?“ „Ich würde meinen, ab einundzwanzig Uhr.“ „In einer Bar, in einer Villa?“ „Auf einer Yacht, Signore“, äußerte der Sekretär und machte Myrna an, als wolle er sie ermuntern, daß sie Urban gut zurede. „Eine lockere Yachtparty. Aber mit hochinteressanten Leuten.“ „Kenne ich einige?“ „Den Namen nach sicher, Signore.“ „Ich bin nicht eingeladen.“ „Ich lade Sie hiermit ein“, sagte der Sekretär. „Sind Sie dazu befugt?“ „Das nicht, aber wie ich Sie einschätze, Sie und die Signorina, werden Sie als Reporter wohl nicht lange um Erlaubnis 53
bitten, an Bord kommen zu dürfen, wenn es um eine heiße Story geht.“ Der Lift war wieder oben und wurde sanft gebremst. Die Lamellentür summte auf. „Bootshafen Ostia. Die Yacht heißt ›Cosmos‹.“ Damit war er weg. „Nichts wie hin“, schlug Myrna vor. „Ich hoffe nur“, meinte Urban, „sie verwöhnen uns nicht mit ihrem italienischen Spumante.“ Vom Tiber her wehte ein lauer Wind. Er wärmte sie wie die erste Frühlingssonne nach einem Winter mit zwanzig Grad Frost. „Das nenne ich eine Mauer des Schweigens“, bemerkte Urban, „und dies hier ein Dinnerjacket für einen Dinosaurier.“ Vom BND-Residenten in Rom hatte er eine weiße Smokingjacke ausgeliehen, die mehrere Nummern zu groß war. Myrna versetzte einen Knopf, und sich selbst nähte sie in einen leichten Abendfummel hinein. „Wem gehört das Schiff?“ fragte sie. „Einem Turiner Industriellen“, übermittelte Urban die Auskunft des ständigen BND-Mannes in Rom. „Er ist der größte europäische Hersteller für Schwefelfilteranlagen.“ „Die er an alle Kraftwerke verkaufen könnte, wenn die Abgasgesetze verschärft werden.“ „Ein Milliardengeschäft.“ „Und an Bord sollen Leute vom Club of Rome sein?“ „So wäscht ein Händchen das andere“, höhnte Urban. „Fertig, Donna Ziegler?“ „Nicht fertig.“ Myrna ging ins Bad, kam wieder, schluckte eine Tablette und legte sich aufs Bett. „Kopfschmerzen?“ „Mehr als das.“ „Vor einer Stunde waren Gnädigste noch recht munter.“ 54
Sie lächelte schuldbewußt. „Zu munter“, befürchtete sie. „War wohl ein bißchen übertrieben, das Spielchen. Jetzt ist mir eigentlich kotzübel.“ „Nimm einen Fernet-Branca mit Espresso, der hilft sogar gegen Strahlenschäden.“ Sie hob den Kopf und stopfte ein Kissen unter den Nacken. „Würde es dir etwas ausmachen, allein zu gehen?“ Er zögerte. „Zwei sehen mehr als einer.“ „Nicht einer wie du. Ich fühle mich völlig verspannt. Muß noch von dem Sturz herrühren.“ „Bestell dir einen Masseur“, riet er ihr und verließ das Apartment im Hassler. Als er, wie der Etagenservice eine Bestellung entgegennahm, und zwar auf eine Flasche französischen Champagner. Fünfzig Minuten später verließ Urban das Taxi in Lido di Roma. Er brauchte nicht weit zu gehen, schon sah er die beleuchtete Luxusyacht an der Pier liegen. Ein Dutzend Wagen parkten in der Nähe. Cadillac, Jaguar, zwei Rolls-Royce, ein älterer Mercedes 600. Wer mit einem Porsche kam, wirkte schon ausgesprochen ärmlich. Oben an der Gangway des 45-Meter-Schiffes stand eine Art Decksteward, ganz in Weiß mit etwas Gold verziert. Er begrüßte die Gäste mit Namen. Bei Urban zögerte er. „Dottore Urbano.“ Urban spendierte sich ein O. Er konnte es sich leisten, er sprach Italienisch nahezu perfekt. Mit der Zunge des Florentiners und mit dem Kopf des Römers, so, wie man es ihn gelehrt hatte. Der Chefsteward wandte sich an ein Besatzungsmitglied. Der brachte eine Liste, ein kurzer Blick darauf, Dottore Urbano war nicht zu finden. „Scusi, Signore…“ „Hallo, Urbano!“ rief jemand, eilte von Backbord her und auf Urban zu und zog ihn, ohne auf den Majornavis zu achten, an diesem vorbei nach achtern. Dort schob er Urban an die Bar 55
unter dem Sonnensegel. „Einen doppelten Bourbon mit einem Spritzer Wermut im Verhältnis eins zu dreißig. Ist das korrekt?“ „In kritischen Zeiten“, wandte Urban ein, „erhöht sich der Whiskyanteil im Verhältnis zum Blutdruck. Kennen wir uns, Sir?“ „Ich Sie.“ Der elegante, quecksilbrige Fünfziger, er war zweifellos Nordafrikaner, dunkelhäutig mit arabischen Zügen – auf Algerier mit Pariser Großmutter tippte Urban – stellte sich als Nardos vor. „Der Mikrobiologe?“ „Der Nobelpreis machte mich um hundertzehntausend Dollar reicher“, sagte der Professor, „aber ich weiß immer noch nicht, was den Schnupfen auslöst. Schön, daß Sie bei uns sind, Dottore.“ Urban hätte gern erfahren, woher ihn der Algerier kannte. „Spencer hat Sie mir avisiert.“ „Vom Club?“ Nardos nickte. „Es gibt da ein paar Sachen, Spencer weiß davon. Ich bringe Sie mit meinen Kollegen zusammen. Natürlich haben wir keinerlei Fakten… Nun, Sie sind ja kein Anfänger.“ Der Mann, der ihn an Bord gelotst hatte, verließ Urban, um irgendeinen Botschafter zu begrüßen. Wenig später ließ der Gastgeber ablegen. Die stromlinienförmige Luxusyacht warf die Leinen los und setzte sich in Fahrt. Nachdem sie die Mole passiert hatte, ging sie auf Südkurs parallel zur Küste. Ein Mädchen, sehr schön, offenherzig und offenbar noch allein, machte sich an Urban heran. Sie war schon angetrunken. „Ich bin hier für die einsamen Herzen da. Sind Sie zufällig für die einsamen Damen da?“ „Hätten Sie Bedarf?“ „Dachte nur, weil Sie der einzige gutaussehende Bursche an 56
Bord sind und der Commendatore an seinem Fünfzigsten etwas für seine Gäste tun möchte.“ Der Turiner hatte also Geburtstag. Urban ließ sich Champagner geben, es war kein französischer, sondern einer aus den Kellereien des Turiners, aber er stand einem Pommery in nichts nach. Dann tanzte er mit dem Callgirl, aber die Musik war nicht sein Geschmack. Zum Glück wurde bald darauf das kalte Büfett im grünen Salon eröffnet. Kaviar lag pfundweise auf Eis. Doch Urban schmeckte er wie alter Streuselkuchen. Schuld daran war ein Gesicht. Es gehörte zu einem Mann mit Baseballspielerfigur. Ein typisches Amerikanergesicht, rund, frech, sommersprossig, mit roten, schwer zu bändigenden Locken. Er war ganz sicher, diesen Burschen hatte er schon gesehen. Und zwar heute. – Klar, auf dem Flugplatz. Sofort stellte sich Urban die Frage, was in diesem erlauchten Kreise der Spritzapfer eines Sportflugplatzes zu suchen hatte. Da er die Frage nicht beantworten konnte, beschloß er, den Typen im Auge zu behalten. Dies gelang ihm für einige Zeit und mit einemmal nicht mehr. Der Rothaarige hatte sich mit einem anderen Zehnkampfathleten unterhalten, und nun waren sie beide verschwunden. Die Yacht glitt fast geräuschlos am Ufer entlang nach Süden. Immer mehr Sterne kamen durch den Dunst. Man sah die Lichter von Autos auf der Küstenstraße, manchmal das Blinken eines Leuchtfeuers. Eine laue Nacht. Die Stimmung an Bord wurde durch die Musik und die Drinks mächtig angeheizt. Das Callgirl erhielt laufend eindeutige Angebote. „Machen wir den Anfang“, schlug sie vor, „du gefällst mir. Nur so zum Warmwerden. Kabine vier. Va bene?“ „Geh voraus“, sagte Urban, „bis später.“ Er suchte die zwei Athleten und sah sie an der Tür zur Pantry wieder. Sie wollten offenbar an Deck. 57
Im Begriff, ihnen zu folgen, entdeckte ihn Nardos und packte ihn am Ärmel. „Haben Sie jetzt Zeit, Sir?“ „Komme gleich“, antwortete Urban. „Im Rauchsalon“, rief Nardos, „wir warten.“ An Deck verschwanden die beiden Athleten durch ein Schott ins Yachtinnere. Urban sah das Smokingbein des Rothaarigen gerade noch, wie es über den Süllrand gezogen wurde. Es war der Niedergang vor dem Maschinenraumschott. Vier Meter weiter waren die Skylights halb geöffnet, um die Motorwärme abziehen zu lassen. Urban hob sie einen Zahn höher und konnte jetzt über die schweren Turbodiesel blicken. Auf den Grätings zwischen den vier Meter langen Motorblöcken lag ein Mann im Overall. Er war gefesselt und hatte hautfarbenes Klebeband um den Mund und über den Augen. Urban warf sich flach hin, denn am Backbordgenerator tauchte der Rothaarige auf. Er öffnete einen Metallkoffer, betätigte dort mehrere Drehschalter an radioähnlichen Skalen, verschieß den Koffer wieder und schob ihn unter den Wärmetauscher für das Kühlwasser. Der zweite hatte ebenfalls einen Alukoffer, aber wohin er damit ging, konnte Urban nicht erkennen. Deshalb verließ er seinen Standort, folgte den beiden durch das Schott und tastete im Dunkeln den Niedergang hinab. Der Motorenlärm wurde lauter. Das hatte zur Folge, daß er die beiden durch die halboffene Maschinenraumtür beobachten konnte, ohne daß sie ihn bemerkten. Sie arbeiteten wie Profis. Jeder Handgriff saß. Verständigung war kaum nötig. Kein Zweifel, die Koffer enthielten Sprengstoff und Zünder. Was sie eingestellt hatten, waren die Empfindlichkeit der Zünder und der Vorlauf. Wenn es sich um einigermaßen gutes Material handelte, Perspex oder ähnliches, dann genügte das Zeug, um einen Zerstörer auf den Meeresgrund zu setzen. 58
In diesem Moment bedauerte Urban, daß er keine Waffe, sondern nur seine Fäuste zur Verfügung hatte. Der zweite Mann machte dem Rothaarigen jetzt Zeichen. Dieser nickte. Daraufhin streckte der andere zehn Finger weg, und nachdem er mit den Händen ein schiefes Kreuz in die Luft geze ichnet hatte, abermals zehn Finger. „Hundert Sekunden“, bestätigte der Rothaarige. Beide griffen wie in einer synchronen Aktion zu den Koffern und schienen dort einen Schalter zu betätigen. Urban kannte sich gut genug bei Sprengmaterial aller Art aus, um zu wissen, daß sie damit die Zündung eingeschaltet hatten. Hundert Sekunden, das war eine erbärmlich kurze Zeit. Mit einem Satz hechtete er den Rothaarigen von hinten an. Der fiel durch den Aufprall vornüber. Im selben Augenblick schoß der andere. Die Kugel traf den Hilfsdiesel und sirrte quer. Urban federte auf und sah zu seinem Entsetzen, daß der andere seine Waffe wegwarf und eine Angriffsstellung bezog, die so eindeutig war wie das fallende Beil eines Henkers. Kenner nannten das „die Shaolin-Schule“. Für Männer, die darin ausgebildet waren, wurden Arme zu Stahlgreifern, Fäuste zu Hämmern, Finger zu tödlichen Dolchen. Auch der Rothaarige kam wieder auf die Knie. Urban sah nur eine Chance im blitzartigen Rückzug. Er hechtete wieder dorthin, wo er hergekomme n war, durch das Schott, warf die ovale Stahltür zu, bekam die Vorreiber gegen den Druck von innen zu fassen und hielt die Hebel fest, bis seine Halsadern anschwollen. Die Shaokas versuchten, das Schott zu öffnen, und er wußte, daß er der Kraft dieser zwei ausgebildeten Shao-Kämpfer nicht lange würde widerstehen können. Da sah er den Feuerlöscher. Mit dem Fuß riß er ihn aus der Halterung und preßte das Blechgehäuse zwischen die Verlängerung der Vorreiber. Jetzt 59
konnte der obere nicht mehr nach unten und der untere nicht mehr nach oben ausweichen. Sie waren eingeschlossen. Inzwischen waren dreißig Sekunden vergangen. – Noch siebzig bis zur Explosion. Er stürzte den Niedergang hinauf an Deck. Die illuminierte Yacht spiegelte sich in der See wie eine Lichterprozession. Mit langsamer Fahrt glitt sie dahin. Abstand zur Küste etwa eine Viertelmeile. Dumpf hämmerte die Baßgitarre der Band. Die Männer suc hten Hautkontakt, die Frauen flirteten. Noch 65 Sekunden. – Urban rannte an der Backbordseite nach achtern, stürzte sich in die Menge der Tanzenden, verzweifelt wie ein Hirtenhund, der seine Herde vom Abgrund wegbringen wollte. „Bombe an Bord!“ schrie er, und keiner hörte ihn. „Eine Höllenmaschine! Los, springen Sie!“ Er packte ein Tanzpaar, das eng umschlungen die Welt um sich zu vergessen schien, schob es zur Reling, riß die Frau aus den Armen des Mannes, hob sie hoch und warf sie über Bord. Die Demonstration genügte. „Retten Sie Ihr Leben! Ich scherze nicht. Noch fünfzig Sekunden.“ Der Ausdruck seines Gesichtes ließ keine Zweifel daran aufkommen, daß er es todernst meinte. „Nur vierhundert Meter bis zur Küste. Springen Sie. Ich hoffe, Sie können schwimmen.“ „Ich nicht“, sagte das Callgirl ganz ruhig. Urban würgte eines der Schlauchboote aus der Halterung, warf es ins Dunkel und das Mädchen hinterher. Oben auf der Brücke hatte man offenbar kapiert, was los war. Die Yacht hielt auf das Ufer zu, und der Skipper schleuderte alle verfügbaren Rettungsringe und Schwimmwesten an Deck. Noch 45 Sekunden. 60
Kreischend sprangen die Gäste ins herbstkühle Wasser. „Weg vom Schiff!“ befahl ihnen Urban und sah die letzten stehen. Sie zögerten, als glaubten sie nicht an seine Warnung. Neben Urban trat der Nordafrikaner an die Reling und holte noch einen Zug aus seiner Gauloise. „Ich kann leider auch nicht schwimmen“, gestand Professor Nardos, „habe mich nie um diese Kunst bemüht.“ Urban kippte ihn wortlos über die Reling und sprang hinter ihm her. Nardos tauchte sofort weg. Urban erwischte ihn, zog ihn hoch, nahm ihn in den Rettungsgriff und versuchte Abstand zu der „Kosmos“ zu kriegen. Abstand bedeutete überleben. Noch dreißig Sekunden. Eine halbe Minute. – An Deck war kein Mensch mehr zu sehen. Die Yacht überholte die Schwimmer und fuhr mit etwa 12 Knoten Geschwi ndigkeit auf die Küste zu. „Zusammenbleiben!“ rief einer. „Nein, verteilt euch!“ Der Skipper bemühte sich um die Schlauchboote und diejenigen, die sich daran festklammerten. Doch alle blickten gebannt auf die Yacht wie Kinder auf den Beginn eines Feuerwerks. Urban konnte eine Schwimmweste greifen. Er ließ Druck aus der Preßluftflasche auf die Kammern und schob sie unter Nardos. Der hatte Wasser geschluckt und spie es gurgelnd aus. „Ich sehe noch etwas an Deck!“ schrie er. „Nur das Sonnensegel. Es hat sich im Wind bewegt.“ „Da muß noch einer an Bord sein.“ „Noch zwei“, verbesserte Urban, „aber denen ist nicht zu helfen.“ „Wer?“ „Die Saboteure oder wie immer Sie sie nennen wollen.“ „Und wo entdeckten Sie sie?“ „Heute morgen versuchte man mich mit einem Stahlseil zu köpfen. Einer von ihnen war dabei und so unvorsichtig, daß er sein Gesicht zeigte.“ 61
„Wir verdanken Ihnen unser Leben.“ Eine innere Automatik in Urban hatte mitgezählt. Noch zehn Sekunden oder fünf, vielleicht war die Zeit schon um. Als er sicher war, daß die Zündung längst hätte erfolgt sein müssen, hatte sich noch immer nichts ereignet. Die Yacht rauschte auf Land zu mit Kurs Ost, und hatte schon bald den Rand des Fahrwassers erreicht. „Wenn sich jemand mit uns einen Witz erlaubte“, rief eine ältere Dame, „dann war dies ein übler.“ Die letzten Buchstaben wurden ihr von den Lippen gefetzt. Ein greller Blitz flammte empor und löste ein berstendes Kr achen aus. Magnesiumweißes Feuer hüllte die Yacht ein. Aus ihm heraus blowte es rot. Der Feuerball wurde vom Inhalt der Dieseltanks und der Propangasflaschen der Kombüse genährt. Eine neue, noch lautere Explosion folgte. Trümmer wurden hochgeschleudert. Donner rollte herüber, hinter ihm ein Schwall heißer Luft, vermengt mit TNT-Gestank. „Auch ich hielt Sie für einen Lügner“, gestand der Nordafrikaner in Urbans Armen. 7. Wiesen in Moor übergehend. – Altwässer mit Inseln, die seit der Eiszeit kein Menschenfuß betreten hatte. – Laubwälder, dicht wie Dschungel. – In der Ferne der meistbesungene Fluß Mitteleuropas. Seit beinah einer Woche wanderte der einsame Naturfreund durch diesen fünfzig Quadratkilometer großen Auwald. Außer einem Rucksack hatte er noch eine Kamera dabei und eine Art Botanisiertrommel zur Aufnahme von seltenem Getier. Er orientierte sich mit Hilfe einer Generalstabskarte, die aber ziemlich ungenau war. Sie stammte aus dem Jahr 1939. Später waren keine Korrekturen mehr vorgenommen worden, und die Natur hatte sich seitdem stark verändert. 62
Wo die Karte Pfade aufwies, endeten diese abrupt in Moorseen. Wegweiser oder Hinweisschilder waren unleserlich, verfault oder gar nicht mehr vorhanden als sei jemandem daran gelegen, dieses Gebiet in seinen Urzustand zurückzuversetzen. Der einsame Wanderer hatte damit gerechnet. Was er an Wildnis und Urweltlandschaft vorfand, bestätigte seinen Verdacht, daß die Spur nur hier enden konnte. – Aber er fand sie nicht. Wenn es eine gab, dann hatte sie der schwammige Boden sofort wieder eliminiert. Trotzdem gab der Wanderer nicht auf. Am sechsten Abend errichtete er sein Schlafsackzelt auf einem einigermaßen trockenen Hügel. Mit einer Tablette Hartspiritus wärmte er den Inhalt einer NATO-Dose Bohnen und Rindfleisch. Er fand die Einsatzverpflegung, wie es sie überall zu kaufen gab, äußerst schmackhaft. Auch das Getränk – zwar nur Beuteltee, aber er kam aus England – genügte seinen Ansprüchen. Nachdem er sich verköstigt hatte, lag er da, lauschte in die Dunkelheit und konnte weder Verdächtiges hören noch sehen. Fünfunddreißig Minuten vor Mitternacht öffnete er eine Aluminiumbüchse. Ihr Inhalt, eine Flasche Chloroform, Pinzette, Nadeln sowie eine Reihe seltener Käfer und Schmetterlinge, sollte ihn als Sammler ausweisen. Die Büchse enthielt aber auch einen Transistor, ein handgroßes japanisches Radiogerät. Im Versandhandel war es für neun Pfund erhältlich. Plus Batterien. – Experten hatten darin allerdings eine Schaltung vorgenommen, die es nicht nur als Empfänger, sondern auch als Sender benutzbar machte. In diesem Fall ging alles seinen umgekehrten Weg. Der Lautsprecher wirkte als Mikrofon, die Antenne strahlte ab. Der einsame Naturfreund wartete die volle 30. Minute nach 23 Uhr ab und ging dann auf Kontakt. „Lederstrumpf an Bärentöter!“ sprach er leise, aber deutlich. „Folgende Lage…“ 63
Der Wald wurde immer wieder von Hubschraubern überflogen. Meist gelang es dem Wanderer, unter die Tarnplane in Dekkung zu gehen. Wo die Hubschrauber herkamen und wohin sie flogen, war nicht ersichtlich. Einmal schossen sie überraschend hinter einem Hügel hervor, dann wieder zogen sie hoch, bis man sie nicht sehr ausmachen konnte. Ehe Generalstabskarte verzeichnete innerhalb des Auwaldes militärisches Gebiet. Die rotgepunktete Linie bezog sich jedoch auf eine Sperre vor dem zweiten Weltkrieg. Die neuesten Karten im Halbmillionenmaßstab verzeichneten sie nicht mehr. Deshalb überraschte es den Naturfreund, als er am Nachmittag plötzlich vor einem Schild stand. Ein weißer Knochenschädel auf Schwarz zeigte eine Art Todeszone an. Zaun gab es jedoch keinen. Der Wanderer verhielt sich, als habe er das Schild nicht gesehen, und beschrieb nun einen enger werdenden Kreis von etwa vier Kilometer Durchmesser. In der Nacht sah er die Positionslichter eines Hubschraubers. Die Wipfel der Bäume verschluckten sie bald. Irgendwo im Zentrum des Waldes mußte er gelandet sein. In dieser Nacht lautete der Funkspruch des Wanderers anders: „Lederstrumpf an Bärentöter!“ meldete er. „Rauchzeichen erkannt!“ Sieben Stunden später hatte er den Beweis. Hinter einer perfekt getarnten Weggabel sah er die Abdrücke von Kettenfahrzeugen und dazwischen Rillen, wie sie Tieflader hinterlassen. Die Reifenabdrücke waren profillos, demnach handelte es sich um hartgummierte Laufflächen für überschwere Lasten. Bewegt hatte den Tieflader ein Raupenschlepper. Mit anderen Zugmaschinen kam man hier nicht durch. 64
Der Wanderer folgte der Spur entlang einer Schneise, die das Gespann durchs Unterholz gepflügt hatte, bis hin zu einem kleinen Flußlauf. Auf ihm lagen noch die Teile einer Pionierbrücke. Er hatte die langgesuchte Fährte. Aber auch ihn hatten sie. Sie schienen aus dem dichten Grün zu wachsen wie Marsmänner. Ihre Helme waren mit Laub geschmückt, die Kampfanzüge gefleckt, die Gesichter mit Ruß unkenntlich gemacht. Welcher Nationalität sie angehörten, verrieten sie nicht. Sie sagten kein einziges Wort. Sie traten aus der Deckung, aus dem Unterholz hinter Bäumen hervor und umringten ihn. Erst musterten sie ihn aus der Distanz, dann wurde er abgetastet und durchsucht. Der Ring öffnete sich, sie stießen ihn vorwärts. Er setzte sich in Bewegung. Sie marschierten nach Westen. Vor ihm zwei, seitlich und hinter ihm je zwei. Auch für Tarzan hätte es kein Entkommen gegeben. Außerdem hätte ihn jeder Widerstand verdächtig gemacht. Anstandshalber protestierte er. „Dies ist Naturschutzgebiet. Ihre Handlungsweise stellt einen Übergriff auf meine persönliche Freiheit dar. Das bringe ich in die Presse.“ Sie lächelten nicht einmal. Nach halbstündigem Marsch verließen sie die Tiefladerspur, bis sie vor einer grünen Wand ankamen, die wegen der hohen Felsen dahinter unüberwindbar schien. Der Führer der Patrouille klippte vom Overall eine Art Sturmfeuerzeug, das wohl einen Infrarotsender, wie man ihn zur Steuerung von TV-Geräten verwendete, enthielt. Auf sein Signal hin begann ein Motor zu summen. Das Buschwerk fuhr auf Schienen auseinander, raschelnd wie Plastiklaub. Der feuchte Felsen dahinter war eine Bunkerwand. Ein Teil davon, ein türgroßer Ausschnitt, glitt hydraulisch nach innen 65
und gab eine Treppe frei. Diese führte in die Tiefe. Neonlampen flammten zuckend auf. Der Spähtruppführer tippte einen Code in Taschenrechnertasten, die in die Wand eingelassen waren. Rotes Licht sprang auf Grün. Gitterschleusen hoben sich scheppernd. Ein eiserner Liftkäfig kam aus der Tiefe gefahren und nahm sie auf. Dann ging es abwärts. – Bis ins Innere der Erde, wie es dem Wanderer schien. Wem der Naturfreund auch begegnete, jeder trug Uniform. Allerdings ohne Rangabzeichen oder ein Emblem, das auf die nationale Zugehörigkeit schließen ließ. Die Männer konnten ebensogut von der U.S.Army wie von der Roten Armee sein. Das Innere des Forts sah aus, als sei es schon vor hundert Jahren aufgegeben worden. Man hatte es nur vorübergehend nutzbar gemacht… Generatoren waren eingebaut worden, eine Klimaanlage, moderne Kommunikationssysteme. Aber die Verhörmethoden stammten aus dem Jahr tausend vor Christus. Sie waren damals schon sehr subtil und wirkungsvoll gewesen. Der Naturfreund saß gefesselt auf einem Hocker, umgeben von starken Lampen. Die Tortur dauerte bereits Stunden. „Sie behaupten also immer noch, Botaniker zu sein. Franzose aus Nantes.“ „Ich unterrichte am dortigen Knabengymnasium.“ Der Mann hinter den Halogenscheinwerfern lachte leise in sich hinein. „Natürlich gibt es in Nantes einen Lehrer namens Jules Rosar. Bei einem Einsatz wie dem Ihren wäre eine Legende ohne Basis glatter Selbstmord.“ „Was bitte ist eine Legende in diesem Zusammenhang?“ fragte der Naturfreund. Wieder dieses Lachen. „Ihre Doppelrolle. – Wir wissen, wer Sie sind. Ihr Dienst hat natürlich einen Mann ausgewählt, der unter dem Begriff Jung66
frau läuft, aber auch Jungfrauen werden in Karteien geführt, zu denen wir Zugriff haben.“ „Ich bin Jules Rosar aus Nantes“, beharrte der Gefangene, „und wer sind Sie, Sir?“ Der Verhörspezialist schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Jetzt haben Sie sich verraten. Ihr Französisch mag makellos sein, aber nie wird ein Franzose das Wort Sir benutzen. Ihr Auftraggeber ist der MI-six.“ „Wer bitte?“ tat der Gefangene verblüfft. „Der Auslandsgeheimdienst Ihrer Britischen Majestät. Sie glauben doch wohl nicht, daß wi r Ihr Schmetterlingsfängermärchen abnehmen. Wir mußten in diesen Tagen schon eine Reihe schlechter Storys anhören. Der eine nannte sich Fotojäger, der zweite trainierte angeblich für eine AmazonasDurchquerung. Alles Lüge.“ Der Unsichtbare hinter dem gleißenden Ring aus Licht schrie mit einemmal erbost: „Alles Lüge! Aber wir werden die Wahrheit aus Ihnen herauslösen, ebenso wie aus den anderen.“ Sie prüften jedes Detail seiner Ausrüstung. Ihr Elektroniker kam dahinter, daß sich das Transistorradio durch Betätigen des Wellenschalters von Empfang auf Sendung bringen ließ, bei fest eingeschalteter Frequenz. „Perfekt gemacht“, sagte er, „so neu aber auch wieder nicht.“ Ein Mann der Nachrichtenstation horchte die Frequenz ab, bis er dreißig Minuten vor Mitternacht einen Ruf auffing: „Bärentöter an Lederstrumpf!“ Der Ruf wurde mehrmals wiederholt, ehe sie abschalteten. Gegen Morgen wurde der Naturfreund in seiner feuchten Kasematte geweckt. „He, Lederstrumpf“, höhnte eine bekannte Stimme, „ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.“
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In den langen Betonstollen stand Sickerwasser. Der Gang we itete sich zu einer Kaverne. Ein glitschig veralgtes Schiebetor wurde geöffnet, ein Lichtschalter betätigt. Der große Lagerraum wurde nur zum Teil ausgeleuchtet. Die Ecken lagen im Dunkel, doch was er sah, genügte dem einsamen Wanderer. Ein Hügel aus verbeultem, silbrig schimmernden Material war es nur, durch den Transport arg mitgenommen, aber zwe ifellos das Wrack eines Raumschiffs. Tellerrund, gewölbt wie ein riesiger Diskus mit Bull’s eyes und einer mannshohen Einstiegklappe. „Das wollten Sie doch sehen“, sagte der Experte in der hochgeschlossenen Litewka, „das haben Sie gesucht und nichts als das.“ Von diesem Moment ab mußte der Gefangene Schlimmes befürchten. Sie hätten ihm das Raumschiffswrack nie gezeigt, wenn er die geringste Chance gehabt hätte, die Sonne jemals wiederzusehen. Das Tor schloß sich hallend. Sie marschierten weiter zu einer Art Zellentrakt. In jeder Tür gab es ein Fenster mit eiserner Blende. Eine dieser Blenden klappte der Verhörexperte herunter. Das Licht seiner Taschenlampe erhellte den Raum nur mäßig. Doch was im wandernden Kegel sichtbar wurde, erfüllte den Naturfreund mit Entsetzen. Lemurengleich kauerten Gestalten am Boden. Die meisten weißhaarig vergreist, in Lumpen gehüllt. Mit toten Augen starrten sie vor sich hin. Kaum daß die Helligkeit eine Reaktion bei ihnen auslöste. Der Naturfreund zählte fünf Köpfe. Ob sie alle noch lebten, ließ sich nicht erkennen. Nach wenigen Sekunden wurde die Klappe wieder geschlossen. „Auch dies wollten Sie sehen“, bemerkte der Mann in der kahlen Uniform. „Nun haben Sie es gesehen. Sie sind am Ziel – aber auch am Ende, Sir.“ 68
„Die Männer aus dem Raumschiff“, bemerkte der Gefangene tonlos. „Logischerweise.“ „Ein Verbrechen.“ „Gegen wen, Sir?“ „Gegen die Menschheit“ Der andere schüttelte geringschätzig den Kopf. „Jeder Halbgebildete glaubt sich hier zum Propheten der Apokalypse erheben zu können. Die einen sagen, die Welt gehe an Selbstvergiftung zugrunde, die anderen, sie sprenge sich atomar in die Luft. Es ist zu spät. Aufzuhalten ist nichts. Wenn man es aufhalten wollte, wäre nichts mehr so, wie es war. Alles käme zum Stillstand. Die Industrieproduktion, die Erzeugung von Energie, der Weltverkehr, die Lebensmittelherstellung. Was ist besser, eine Zukunft unter unvorstellbaren Einschränkungen oder der faustische Urknall des Overkill? Was ist besser?“ Ihre Schritte hallten durch die Stollen. Sie stellten den Naturfreund vor eine Wand, wo man alte Eisenschwellen aufgeschichtet hatte. Ein Mann im Overall entsicherte seinen Revolver. „Sie sind Bill Marlove“, sagte der Verhörexperte noch. Der andere nickte. „Im Dienst des MI-six.“ Es hatte keinen Sinn mehr zu lügen. „Angenehme Reise ins Jenseits“, wünschte der andere. „Es lebe die Königin!“ rief der britische Geheimagent. Wenig später hallten zwei Schüsse durch das unterirdische Fort.
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8. Küstenebene. – Vor hundert Jahren noch malariaverseuchte Sumpfe – Entwässerungskanäle – weidende Büffel. – Heller Nachthimmel über Rom. Der Mercedes 600 Pullman rollte luftgefedert auf der Straße von Pontinia nach Littoria. Professor Nardos hatte seinen Fahrer herbeitelefoniert. Jetzt saßen sie mit salzwasserfeuchter Abendgarderobe in den feinen Velourpolstern. Nardos entnahm der Bar eine Flasche, entkorkte sie und reichte sie herum. Die Herren, für gewöhnlich nur stilvoll aus Muranoglas genießend, setzten die Flasche reihum an und schlürften den alten Cognac. „Ich fühle mich“, gestand der Vizepräsident vom Club of Rome, „wie ein Pfadfinder nach dem ersten Geschlechtsverkehr.“ „Vergessen wir nicht, wem wir das verdanken“, erinnerte der Turiner Commendatore, der soeben eine Zwei-MillionenDollar-Luxusyacht verloren hatte. „Wie können wir Ihnen danken, Dottore Urban?“ „Durch ein bißchen Wahrheit“, sagte Urban. Es klang bescheiden, war aber wohl ein hoher Preis. „Wir sind die einzig Aufrechten und Wahrhaftigen“, rief das Turiner Clubmitglied, „nur eines bedrückt uns: daß wir jetzt den Tatsachen ins Gesicht blicken müssen.“ „Beinah wären wir diese Sorge ein für allemal los gewesen.“ „Was“, fragte der CoR-Vizepräsident, „möchten Sie wissen, Dottore?“ Urban fand es eigentlich überflüssig, alles noch einmal zu wiederholen, aber er tat es. „Wo und wie kamen Mallory und Coburg um? Und wo sind Ihre Freunde Velasquez, Santos, Porvocic, Korzew, Shinor?“ Die Insassen des Mercedes blickten sich verstohlen an. 70
„Ist er unser Verbündeter?“ fragte der Commendatore. „Er ist es.“ „Hat er unser Vertrauen verdient?“ Ohne die Zustimmung der anderen abzuwarten, begann Professor Nardos: „Wir alle gehören dem Club of Rome an. Was der Club of Rome ist und was er will, dürfte Ihnen bekannt sein, Signor Urban.“ „In etwa.“ „Sicher haben Sie auch schon von Green Peace gehört oder von Robin Wood. Das sind die aktivsten Umweltschützer. Sie suchen Säureverklappung im Meer zu verhindern, das Abschlachten von Robben, Seehunden, Walen und so weiter.“ „Mit weltweitem Aufsehen“, fügte der Vizepräsident hinzu, „und mit einigem Erfolg.“ „Mit weit mehr Erfolg, als uns je zuteil wurde“, bedauerte der Commendatore aus Turin. „Wir sind lediglich die großen Theoretiker. Man belächelt uns beinah schon.“ „Und das wollen wir ändern.“ Sie fielen sich jetzt gegenseitig ins Wort. „Deshalb kam Mallory, einer unserer führenden ideologischen Köpfe, auf eine brillante Idee.“ „Leider aber auch auf eine tödliche, wie mir scheint.“ Durch eine Handbewegung stoppte Nardos den Redefluß des Mailänders. „Davon später. Zunächst die theoretischen Grundlagen des Projekts. Es ging um die Verdeutlichung des Notwendigen, um das Aufstellen von Forderungen, die endlich zu erfüllen sind, oder die Reise in den Abgrund ist unaufhaltsam. Diese Forderungen lauten: Erstens, die Atemluft, die Allgemeingut des Menschen ist, nicht weiterhin als Müllabladeplatz für Gifte zu verwenden. Das richtet sich an die Automobilindustrie wegen Blei, an die Kraftwerke wegen Schwefeldioxyd, an die Luftfahrt wegen der Stickoxyde, an die Rüstungsindustrie wegen ABC-Verseuchung. Damit meine ich atomare, bakterielle und chemische Waffen.“ 71
„Allein Ihr Land“, erwähnte der Commendatore, „die Bundesrepublik, jagt jährlich zwei Millionen Tonnen Schwefelgas aus den Schloten westdeutscher Kohlenkraftwerke, die zu neunundneunzig Prozent weggefiltert werden könnten.“ „Wir fordern weiter“, meldete sich nun der Vizepräsident zu Wort, „totale Abwasserreinigung, denn unsere Flüsse und Meere sind so gut wie tot.“ „Ausnutzung alternativer Energien wie Wind, Sonne und Wasserkraft.“ Sie nannten ihren Katalog, aber noch immer hatte Urban nichts über das Mallory-Projekt erfahren. Er spürte Nardos’ Griff an seinem Unterarm. „Und nun nehmen wir Sie auf in die Riege der Geheimnisträger des Club of Rome, Mister Dynamit. So nennt man Sie doch. Aber bitte glauben Sie nicht, wir täten dies ohne Absicht.“ „Sag es ihm endlich“, drängte Dr. Spinola. „Mallory“, begann Nardos mit kehliger Stimme, „machte uns klar, daß es so nicht weiterginge mit Verlautbarungen, Kommuniques und dicken Büchern. Es mußte etwas getan werden, was der Öffentlichkeit unter die Haut ging, eine Art Bergpredigt, wenn Sie wissen, was ich meine. Mallory wollte unsere Forderungen auf eine Weise verkünden, daß sie bis in den letzten Iglu am Nordpol und bis in die letzte Nomadenhütte in der mongolischen Steppe gehört und verstanden würde.“ Urban dämmerten jetzt die Zusammenhänge. „Das Raumschiff“, platzte er heraus. „Richtig. Mallory wollte versuchen, mit sieben seiner berühmtesten Kollegen das Raumschiff auf der Erde zu landen, um sich so Gehör zu verschaffen.“ „Mitten auf dem Petersplatz in Rom“, fügte der Vizepräsident des Clubs hinzu. „Mitten in der Nacht. Wenn die Sonne aufging über Rom, sollte alle Welt das Raumschiff vorfinden. Der Platz sollte voller Menschen sein, voller Reporter und Kameras, wenn Mallory die Klappe öffnete und hinaustrat, um die Menschen mit seiner Prophezeiung zu schockieren.“ 72
Urban war viel zu sehr Ingenieur, um nicht an der technischen Durchführbarkeit zu zweifeln. „Das Raumschiff war nicht flugfähig. Um so etwas zu bauen, braucht man Organisationen wie die NASA oder die sowjetische Satellitenindustrie.“ „Ein Transporthubschrauber sollte es am Haken vor den Petersdom schleppen.“ „Von Cinecittá“, erwähnte der Commendatore die römische Filmstadt, „haben wir das Ding. Dort lag in Halle vier ein komplettes Raumschiff, Überbleibsel aus einem amerikanischen Science-fiction-Film. Der Club mietete es unter dem Namen eines Hongkonger Produzenten an. – Ja, und fast hätte es geklappt.“ Wieder war es Urban, der sich überraschend scharfsinnig zeigte. „Wenn der Hubschrauberpilot die Raumschiffsattrappe mit den Nobelpreisträgern nicht in den Abruzzen abgesetzt hätte.“ „In den eisigen Höhen des Monte Velino, in einer Nacht, in der Neuschnee gefallen war und die Temperaturen auf minus fünfundzwanzig Grad absanken.“ „Zufall war das nicht.“ „Nennen wir es ruhig beim Namen, es war Verrat. Der Pilot des Transporthubschraubers war gekauft oder unter Druck gesetzt. Dadurch wurde alles zunichte gemacht. Seit jener Nacht fehlt von dem Raumschiff und von unseren Freunden jede Spur.“ Urbans analytischer Agentenverstand hakte sofort ein. „Wer bestach den Piloten?“ Er blickte in ratlose Gesichter. Sie machten Ausflüchte. „Zwischen Moskau und Tokio gibt es zu viele Gegner unseres Programms.“ „Wo liegt die undichte Stelle in Ihrem Club?“ Nach einigem Schweigen meinte Nardos: „Unser langjähriger dritter Vizepräsident, Professor McGovern aus Sidney/Australien, beging offenbar Selbstmord.“ 73
„Den Piloten konnten Sie wohl nicht befragen?“ „Er ging am nächsten Tag in Urlaub. Nach Ibiza. Dort entdeckte ihn einer unserer spanischen Freunde. Der Pilot verfügte über erhebliche Geldmittel, aber woher sie kamen, das weiß auch er nicht. Wir holten lediglich aus ihm heraus, daß er das Raumschiff zum Nordhang des Monte Velino brachte.“ „Wo Sie umgehend Nachschau hielten.“ „Die erfahrensten Bergsteiger des Club stiegen auf. Es hatte heftig geschneit in diesen Wochen. Wenn es noch Spuren der Ereignisse gab, dann lagen sie metertief unter dem Firn.“ Urban hatte viele Fragen, während der Mercedes 600 durch die Pontinischen Sümpfe Richtung Rom rollte. Er beschränkte sich jedoch auf die wichtigsten. „Was geschah mit Mallory und Coburg?“ „Dafür gibt es nur eine Erklärung: Man tötete sie. Ihr spurloses Verschwinden hätte aber zuviel Aufsehen erregt und wohl auch zu Nachforschungen geführt. Deshalb stellte man es so hin, als seien sie auf Expeditionen umgekommen. Verunfallt, wie man so schön sagt.“ „Bei den anderen wird man es ähnlich handhaben, wenn es soweit ist. Schön peu á peu wird man einen nach dem anderen finden lassen. – Denn leben lassen werden sie keinen. Er wü rde öffentlich machen, was geschah, und Mallorys großartiges, wenn auch verrücktes Projekt hätte am Ende doch noch Erfolg.“ „Man muß gewaltige Dinge tun, oder man wird nicht gehört“, erklärte der Commendatore und nahm noch einen Schluck Cognac. „Was sagen Sie nun?“ fragte Nardos nach Urbans Meinung. „Der BND wie auch andere Dienste versuchten sich Durchblick zu verschaffen, um die wirren Gerüchte auszuräumen. Bisher kamen wir aber zu keinem Ergebnis.“ „Nun kennen Sie die Hintergründe und sind zutiefst erschüttert.“ 74
„So weit würde ich nicht gehen“, erwiderte Urban. „Natürlich bin ich einigermaßen verblüfft.“ „Was können wir noch tun“, fragte der Commendatore, „wir vier Schiffbrüchigen?“ „Alles in Presse, Radio und Fernsehen bringen.“ „Zu spät. – Man würde uns nicht glauben. Wo sind die Beweise?“ „Man würde uns tüchtig das Maul stopfen. Gewiß mit Erfolg.“ „Finden Sie die undichte Stelle im Club, Signori“, riet ihnen Urban. „Ihr toter Freund in Australien kann nicht allein der Verräter gewesen sein. Woher hätte das Sprengkommando sonst Kenntnis von dieser Yachtparty gehabt?“ „Es sei denn, der Anschlag galt allein Ihnen.“ „Man muß die Drahtzieher finden.“ „Finden Sie lieber unsere Freunde“, erweiterte Nardos das Problem, „alles andere ist unwichtig. Retten Sie unsere Gesinnungsgenossen, dann ergibt sich alles andere von selbst.“ Es klang nicht wie eine Bitte, es war mehr. „Retten Sie unsere Freunde“, wünschte auch der Commendatore aus Turin, „damit helfen Sie uns und dem Rest der Welt.“ Urban ließ sich in die Velourpolster zurücksinken. Er spürte die Nasse der Kleidung auf der Haut. Die Kälte der Berührung ließ ihn erschauern. Sie warteten auf eine Antwort. Nardos mit seinem Beerdigungsgesicht, traurige Mundwinkel, Augen halb geschlossen. Dann der Commendatore, wie ein Bernhardiner, Brauen hochgezogen, hechelnd vor Eifer, und der Vizepräsident, undurchdringlich, den Blick nach innen wie ein Pokerspieler. „Nun?“ Urban antwortete nicht. Er war längst auf dem Trip und wü rde auf ihm bleiben. Das war Hinrichtung pur. Er war sicher, daß sie ihn diesmal erwischten, daß er daran krepierte. Trotzdem marschierte er weiter. – Notfalls Richtung Ewigkeit. 75
Das Appartamento im Hotel Hassler fand Urban bis auf Kleinigkeiten so vor, wie er es verlassen hatte. Die Lichter brannten auf dieselbe Weise, ein Duft von Miß Dior, Myrnas Parfüm, lag in der Luft. Nur Myrna selbst war nicht vorhanden. Auf der linken Kopfrolle, wo sie geschlafen hatte, lag ein Zettel. Darauf in ihrer klaren etwas steilen und spitzen Schrift zwei Zeilen: „Den Schutz, den ich suchte, ich fand ihn bei Dir nicht – ich kam vom Regen in die Traufe. – Sei gegrüßt! Myrna.“ Das hörte sich nach vorsätzlichem Abschied an. Aber die Umstände sprachen dagegen. Im Kühler standen zwei leere Flaschen Champagner. Angetrunken faßte man solche Entschlüsse nicht spontan. Vielleicht am nächsten Morgen, aber kaum mitten in der Nacht, wenn es regnete. Außerdem hatte sie ein paar wichtige Dinge, auf die keine Frau, erst recht nicht Myrna Ziegler, verzichtete, zurückgelassen. In der Seifenschale im Bad lag ihre brillantenbesetzte CartierUhr, und über der Wanne hingen Nylons und zwei Slips, frisch gewaschen. – Das sah verdammt nicht nach freiwilliger Abreise aus. Andererseits war diesem Biest manches zuzutrauen. Gewisse Vorfälle in den letzten achtundvierzig Stunden gaben ihm zu denken. Der angebliche Sturz über den Brunnentrog, die plötzlichen Kopfschmerzen, um die Party zu schwänzen, als habe sie gewußt, was passieren würde. – Und jetzt hatte sie Leine gezogen. Das machte ihn stutzig. Die Champagnerflaschen enthielten nur noch wenige Tropfen. Er bestellte beim Roomservice eine dritte, dann duschte er, gab seine Klamotten ein zweites Mal an die Schnellreinigung und rief München an. Der Apparat des Operationschefs war auf Anrufbeantworter geschaltet. Urban hatte dreißig Sekunden für seinen Bericht. Er 76
faßte ihn in zwei, drei prägnante Sätze und war sicher, daß er in Kurzfassung noch unglaublicher klingen würde. „Versuchen Sie, Myrna Ziegler zu finden“, beendete er den Anruf, „über Interpol, BKA, die befreundeten Dienste, was immer sich dafür einspannen läßt. Ihr Verschwinden könnte uns weiterhelfen. – Ende.“ Er legte auf, der Pommery kam. Er steckte sich eine MC an, trank, legte die Füße auf den Stuhl und dachte nach. Da fiel sein Blick schräg unter die Couch, ein Schuh lag dort, ein Damenpumps mit mittelhohen Absätzen, ein elegantes Bally-Modell. Myrna hatte nur dies eine Paar Schuhe dabeigehabt. Sie wollte sich in Rom neu einkleiden. – Nur mit dem linken Schuh ergriff keine Frau der Welt die Flucht. Man hatte sie also entführt und sie zum Schreiben des Briefes gezwungen. Aber warum entführt? Um ihn zu veranlassen, daß er nach ihr suchte, und ihn in eine Falle zu locken? Dann hatten sie außergewöhnlich schnell erfahren, daß ihr Anschlag auf der „Cosmos“ ins Leere gegangen war. – Aber schon vorher mußten sie ihn als Spitzel ausgemacht haben. Immer wieder „sie“. Wer waren „sie“? Urban trank rasch, um den Druck abzulassen. Er fürchtete, daß dieser bald größer wurde, als sich ertragen ließ. 9. Wie jeden Tag rollte der dunkelblaue Rolls-Royce von Auteuil herein in die Stadt. Er überquerte den Fluß auf dem Pont Mirabeau, hatte an der nächsten Ampel Rot und zog dann am Quai Citroen wieder scharf an. Yamamuto hob den Telefonhörer aus und betätigte den goldenen Knopf der Bordsprechanlage. Der Fahrer vor der Trennscheibe bestätigte den Anruf durch Kopfnicken. „Halten Sie an der Place de la Resistance kurz an, George.“ „Heute ist aber Dienstag, Monsieur.“ „Heute ist Freitag, George.“ 77
Ehe der Fahrer etwas erwidern konnte, war der Chef aus der Leitung und verbarg sein Gesicht hinter der New York Times. Der Rolls passierte das Seineknie, der Quai d’Orsay kam, die Abbiegung. George hielt an. Yamamuto entriegelte die Tür. Aber niemand kam, um sie zu öffnen. Sie warteten dreißig Sekunden. „Weiterfahren, Sir?“ Verblüfft nickte Yamamuto. Es war das erste Mal, daß sein V-Mann ein Rendezvous nicht einhielt. Der Rolls setzte sich in Bewegung. Da löste sich ein Mann aus der Menge, sprintete los, riß die Fondtür des Rolls auf und warf sich schwer atmend in die Polster. „Guten Morgen, Sir.“ Der Ausdruck im Gesicht des Japaners änderte sich nur unmerklich. „Was ist los?“ „Möglicherweise werde ich verfolgt, Sir.“ Yamamuto faltete die Zeitung zusammen und nahm einen Hustendrops. An Tagen wie diesen machte ihn das feuchte Wetter heiser. „Wir verfolgen sie, nicht sie uns.“ „Das könnte sich geändert haben, Sir.“ Der Japaner versuchte, durch das starke Brillenglas des jungen Mannes dessen Augen zu erkennen, aber es war ihm nicht möglich. Der Schliff verzerrte sie. „Sie meinen, durch diesen neuerlichen Vorfall mit dem britischen Agenten im Depot?“ „Davon weiß ich nichts, Sir.“ „Ist auch nicht gerade erschütternd. Es war der dritte Ve rsuch. Wir mußten sie alle eliminieren. Alle, die zu neugierig waren.“ „Auf der ,Cosmos’ mißlang das leider gründlich“, wandte der V-Mann des WOLF-Präsidenten ein. Yamamuto tat so etwas nicht mit einer Handbewegung ab. „Ja, ein echter Rückschlag. Zwei meiner Spezialisten, hervo r78
ragend ausgebildete, tapfere Männer, mußten sterben. Und diejenigen, die gemeint waren, vielmehr der wirklich gefährliche Mann, überlebten es. Wie konnte es dazu kommen?“ „Er war eben besser als Ihre Shao-Kämpfer, Sir.“ Ein bitterer Zug veränderte Yamamutos Mundstellung. „Aber noch lebt der dritte, unser bester Shaoka. Er wird diesem Agenten zeigen, wer der wahre Meister ist.“ „Vorausgesetzt, er kommt an ihn heran.“ „Das werden wir zu steuern wissen.“ Überraschend und unerwartet schlug sich Yamamuto mit der zusammengefalteten Times auf die Knie. „Dieser, wie heißt er doch…“ „Mister Dynamit.“ „… wird in einen Hinterhalt gelockt, dort wird ihn mein Mann erwarten und den Tigerschlag anbringen.“ „Urban hat eine Nase für Fallen, Sir.“ „Das mag zutreffen“, räumte Yamamuto ein, „aber er fühlt sich dieser – dieser Myrna Ziegler verpflichtet. Er wird sie suchen. Wir werden ihm die Suche nach ihr erleichtern, indem wir eine dünne, nur für ihn erkennbare Spur hinterlassen. Sie wird in den Abgrund führen. Klappe zu. Aus.“ „Monsieur“, gab der junge V-Mann zu bedenken, „er hat Augen wie ein Greifvogel. Er sah auch die Stahltrosse. Sie war fein wie ein Silberfaden, aber er zwang das Flugzeug in den Überschlag und rettete sich dadurch vor der Enthauptung.“ „Jeder“, erwiderte Yamamuto, „mag einmal Glück haben.“ „Bei einem Kerl wie ihm ist die Quote möglicherweise ein wenig höher.“ „Also muß man dafür sorgen, daß sie sich reduziert. Mein As wird ihn erwarten und zu Hacksteak verarbeiten.“ Der junge Informant mit der starken Brille verfiel in Nachdenken. „Sie wissen, Sir“, äußerte er, „wie sehr mir an Ihrem Sieg geigen ist.“ 79
„Nun, der Posten als Direktor von WOLF in Stockholm ist schon eine Belohnung, denke ich.“ „Deshalb muß ich Sie noch einmal warnen, Sir“, blieb er hartnäckig. „Ich fürchte, Mister Dynamit wird die Falle wi ttern.“ „Sie meinen, er könnte die Spur zu dieser Frau so werten, wie sie gedacht ist? Ein interessanter Aspekt.“ „Und mittlerweile dürfte er die volle Unterstützung des römischen Clubvorstandes genießen.“ Yamamuto schloß die Augen und verschränkte die Finger beider Hände ineinander. „Dann muß man noch eine zweite Schlinge auslegen.“ „Das wollte ich vorschlagen, Sir.“ „Man muß versuchen, ihm zuzutragen, daß…“ „Was, Monsieur?“ Yamamuto sprach beinah ins Ohr seines V-Mannes. Dieser stimmte sofort zu. „Und wer arrangiert das, Sir?“ Noch ehe eine personelle Entscheidung getroffen war, änderte Yamamuto das Thema. „Man muß vorbeugen, alle Spielzüge durchdenken. Eine dieser Möglichkeiten wäre, daß Mister Dynamit dennoch durchkommt. Seine Chance ist eins zu zehntausend vielleicht, aber wenn er am Leben bleibt und die Sache aufrollt, dann darf es keine Beweise mehr geben.“ Der junge Mann verstand. „Sie dachten an das Raumschiff und seine Passagiere.“ „Weg damit!“ entschied Yamamuto. „Fort damit! Ich habe schon immer gesagt, schafft es beiseite… zurück dorthin, wo sie herkamen, in den Weltraum.“ Er lachte zynisch auf. „Mir glaubt ja keiner. Aber nun ist es unumgänglich.“ Der Rolls hielt an der Place de la Concorde. Yamamutos Gesprächspartner stieg aus. Als der Rolls wieder anfuhr und in die Rue Rivoli einbog, konnte man durch eine Häuserlücke den Wolkenkratzer aufragen sehen, in dessen oberstem Stockwerk die WOLF-Zentrale residierte. 80
Nachdem Yamauto eigenhändig die vielsteilige Nummer in den Telefoncomputer gespeichert hatte, begann dieser zu wä hlen. Als es endlich summte, wußte der WOLF-Präsident, daß jetzt im Pentagon, dem Verteidigungszentrum der USA in Washington, im fünften Stock von Trakt VE, Zimmer 533, abgehoben wurde. Nur einer konnte am Draht sein, General Soames Hunding. Kaum hatte sich Yamamuto gemeldet, fuhr ihn der General an: „Verdammt, Yamamuto, haben wir nicht ausdrücklich ve reinbart, uns nie anzurufen, uns nie bei Tag gemeinsam in der Öffentlichkeit sehen zu lassen? Nur in höchster Not?“ „Die Notlage ist eingetreten, Sir“, versicherte der Japaner. „Wo treffen wir uns? Warten Sie, ich hole meinen Terminkalender.“ Yamamuto fiel ihm ins Wort. „Dafür ist keine Zeit“, erklärte er. „Es muß sofort gehandelt werden.“ Yamamuto wußte, daß der General jetzt ausweichen und behaupten würde, daß dies nicht möglich sei. Aber dann würde er sich erinnern, wie stark er im Minus bei der WOLFOrganisation stand, daß von dort seit langem seine Schulden bezahlt und sein aufwendiger Lebensstil finanziert wurde. WOLF hielt sich nicht so sündteure Dollargräber, ohne sie eines Tages zu beanspruchen. „Sie müssen noch einmal ran mit Ihrer Transportkapazität, General.“ „Zum Teufel, ich habe mich schon mehr als erkenntlich gezeigt.“ „Nur gingen wir den falschen Weg, General.“ Hunding schien dem Ton des Japaners zu entnehmen, daß es wirklich um Sein oder Nichtsein ging. „Und was wäre der richtige Weg?“ erkundigte er sich. „Die Beweisstücke aus der Welt zu schaffen.“ „Wie denn? Solche Superberühmtheiten und viele Tonnen 81
Material, die können Sie nicht einmal auf dem Meeresgrund parken, ohne daß man sie dort finden wird. Die müßte man glatt in den Weltraum schießen.“ „Seien Sie unbesorgt, General“, erwiderte Yamamuto, „die Vernichtung besorgt WOLF, aber den Abtransport zur Zerkleinerungsanlage müssen Sie mit Ihren Panzertiefladern übernehmen.“ Beide wußten sie, wo die Objekte eingelagert waren. Aber Hunding hätte gern erfahren, wohin die Reise gehen sollte. „Rund achthundert Kilometer nach Westen.“ „Auf den verkehrsreichen Straßen eines Landes mit hoher Infrastruktur, das ist unmöglich, ist das.“ „Es läßt sich nur als geheimer Militärtransport durchführen, General.“ „Wahnsinn unverdünnt nenne ich so was.“ „Es gibt viele Formen von Wahnsinn, General, meist normalisieren sie sich, wenn man versucht, sie in Dollar und Cent auszudrücken.“ Auf diesem Ohr hörte Soames Hunding ausgezeichnet. „Das läuft hoch in die Kosten, Yamamuto. Ich muß alle Beteiligten bis runter zu den Unteroffizieren mit dicken Sonderprämien ködern.“ „Was schätzen Sie?“ Hunding rechnete überschlägig. „Fünfhunderttausend Dollar.“ „Der teuerste Schrotttransport der Geschichte“, stöhnte Yamamuto. „Aber auch der spektakulärste. Ich meine, wenn das nicht unter strengster Geheimhaltung bei Dunkelheit und Nebel durchgezogen wird.“ Der WOLF-Präsident überschlug seinen Sonderetat. „Einverstanden“, sagte er schließlich. „Wann?“ „Frühestens morgen nach Eintritt der Dunkelheit.“ „Wir sind in Ihrer Schuld, General“, sagte Yamamuto, „wir werden Ihnen das nie vergessen.“ 82
Als er auflegte, waren seine Hände schweißnaß. Immerhin repräsentierten allein die europäischen Mitglieder von WOLF einen Jahresumsatz von 800 Milliarden Dollar in Höhe des amerikanischen Haushalts also. Dies durfte nicht gefährdet werden. Schon gar nicht durch das Projekt eines Professors Mallory. 10. Azurblauer Himmel – Luft wie Seide – ein Tag wie im Mai. – Die Mädchen auf der Via Veneto knöpften die Blusen tief auf: Altweibersommer am Tiber. Myrna rief an. Ihre Stimme klang dünn, wie vom Mond herunter so fern. „Hilf mir, Bob“, flüsterte sie, und doch glich es einem Schrei. „Wo bist du?“ Aus! Aufgelegt! Er wartete, aber sie meldete sich nicht noch einmal. Irgendwie war sie an ein Telefon gekommen und dabei ertappt wo rden. – Oder rechnete man mit seiner Fähigkeit, aus einem so kurzen Hilferuf das Versteck der Entführer ausfindig zu machen? Wenn ihm das gelang, dann Vorsicht. Er rief die Telefonzentrale. „Woher kam der Anruf soeben?“ „Apartment fünfnullsieben?“ „Sie haben ihn doch durchgestellt, oder?“ „Aus Rom war das nicht. Zu leise und zu weit entfernt.“ „Können Sie mir helfen, vielleicht über das Fernamt?“ „Kaum, Signore. Neunzig Prozent aller Telefone Italiens sind über Selbstwahl angeschlossen.“ Er kleidete sich an und fuhr hinunter. Der Nachtportier war noch im Dienst. Sie kannten sich. Urban stieg schon seit Jahren im „Hassler“ ab. 83
„Giorgio“, fragte er, „die Dame, mit der ich ankam, Sie erinnern sich?“ „Aber ja, Signore. Die Dunkle mit dem Bubikopf.“ „Hat sie irgendwann zwischen gestern abend einundzwanzig Uhr und heute morgen das Hotel verlassen?“ „Aber ja, Signore“, antwortete Giorgio, „etwa eine Stunde nach Ihnen erschien sie mit zwei Herren in der Halle und bestieg einen Wagen. Kurz nach Mitternacht kehrte sie zurück.“ „Kam sie eben nicht“, erwiderte Urban. „Haben Sie sie deutlich gesehen, als sie zurückkam?“ „Nicht sehr deutlich, Signore, ich hatte eine Gruppe von Amerikanern unterzubringen, die mit der Nachtmaschine aus Madrid… Aber mir war so, als sei es Signora Ziegler gewesen…“ Urban machte einen Zehntausenderschein locker. „Beschreiben Sie mir die zwei Herren.“ „Ein Chauffeur und ein Gentleman“, erklärte Giorgio, womit alles gesagt war. „Der eine in Jeans und Lederjacke, der andere elegant, Kamelhaarmantel, zweireihig.“ „Was für ein Auto hatten sie?“ Hier war Giorgio ergiebiger. Die meisten Italiener hatten etwas für außergewöhnliche Fahrzeuge übrig. „Ein älterer Mercedes zweihundertzwanzig Diesel, aber in der langen Version, sechs Türen, sehr seltener Typ.“ „Farbe?“ „Cremeweiß. Müßte ein Taxi gewesen sein. An die Nummer, Madonna, an die Nummer erinnere ich mich nicht, Signore.“ Urban überlegte. Was immer sie mit Myrna Ziegler gemacht hatten, es hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Die Parkmöglichkeiten vor dem Hotel waren beschränkt. Vielleicht hatte der Wagen irgendeinem Gast im Wege gestanden. Mit ungutem Gefühl machte er sich ans Recherchieren. Da lief ihm der Boy über den Weg. „Signore, Signor Urban, der weiße Mercedes kam aus Perugia, zumindest hatte er ein PU vor der Nummer.“ 84
Zu Perugia gehörten allerdings auch Assisi und Filigno, aber ein 220 D, lang, weiß, sollte mit Hilfe der Behörden zu finden sein. Urban kümmerte sich um einen Mietwagen. Nach wie vor hatte er das Gefühl, daß er in eine Falle gelockt werden sollte. Die Spur war zwar lückenhaft, aber für einen erfahrenen Agenten wie ihn durchaus rekonstruierbar. Und intelligent war das Ganze auch eingefädelt. Er würde vorsichtig sein müssen. Bevor der Mietwagen kam, rief er die BND-Residentur in Rom an. „Ich brauche die Nummern aller Fahrzeughalter, die im Distrikt Perugia einen Mercedes-Benz zweihundertzwanzig Diesel, weiß, lange Version, fahren.“ „Wird erledigt“, versprach der zuständige Mann. „Aber du sollst dringend mit München Kontakt aufnehmen.“ Urban drehte Vorwahl Deutschland, Vorwahl München und die BND-Nummer in die Scheibe. Erst hörte sich die Leitung wie tot an, dann war der Operationschef am Draht. „Kennen Sie einen gewissen Spencer?“ fragte Sebastian. „Der Assistent des Vizepräsidenten vom Club of Rome heißt so.“ „Er sucht Sie wie eine Stecknadel.“ „Und ich suche Myrna Ziegler wie eine Stecknadel. Nur ist dort, wo ich sie vermute, ein ganzes Nadelkissen.“ „Sie sind unser Mann, der die Formel hat“, erinnerte ihn Sebastian. „Seien Sie vorsichtig. Wie ich hörte, haben MI-six, die Italiener und die CIA ihre besten Leute an dem Fall verloren. Noch einmal bei Null beginnen könnte uns in einen hoffnungslosen Rückstand versetzen. Die Ziegler ist nur eine Randfigur, vergessen Sie das nie.“ „Oder der Wegweiser.“ „Wohin? Ins Abseits?“ Urban empfand die Unterhaltung mit dem Operationschef 85
alles andere als anregend. Er beendete sie und versuchte, Spencer zu erreichen. Im Club of Rome meldete sich jedoch niemand. Aber es gab nur drei Spencer im Telefonbuch von Rom. Er hatte Glück, der erste, den er anrief, war der Gesuchte. „Sie können sich kaum vorstellen, Sir, was hier los ist“, entschuldigte sich der Sekretär. „Ich kann“, versicherte Urban. „Warum versuchten Sie mich nicht im ,Hassler’ zu erwischen?“ „Nachdem ich zwei Dutzend Hotels abgeklappert hatte, gab ich auf und wandte mich an Ihre Zentrale. Dottore Spinola eröffnete mir Ihre wahre Identität.“ „Und was darf ich für Sie tun?“ „Wir können etwas für Sie tun, nachdem Sie sich bereit erklärten, gewisse Dinge für den Club of Rome zu erledigen.“ „Woher wissen Sie das?“ „Der Vizepräsident beauftragte mich.“ Nachdem Urban die Umstände soweit abgecheckt hatte, fragte er: „Und um was geht es?“ „Man kam hier zu gewissen Erkenntnissen, Signore, wer hinter der Raumschiffbeseitigung stecken könnte.“ „Man entdeckte die undichte Stelle?“ „Das weniger, aber den Empfänger, zu dem die Informationen sickerten.“ Daß das Direktorium zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen auf Fakten gestoßen sein sollte, um die man sich zuvor vergebens bemüht hatte, mißfiel Urban ebenso wie Myrnas Verschwinden, aber er wollte Spencer erst einmal anhören. „Es mag merkwürdig erscheinen“, fuhr Spencer fort, „daß die Signori nicht früher darauf kamen. Wohl durch die Schockwi rkung und aus einer gewissen nicht unbegründeten Angst heraus hatte der Commendatore die Idee, daß möglicherweise WOLF dahinterstecken könnte.“ 86
„WOLF, das ist doch der kämpferische Interessenverband der internationalen Großindustrie.“ „Mit Sitz in Paris“, bestätigte Spencer. „Und ausgerechnet ein Industrieller wie der Comme ndatore, der eigentlich Mitglied bei WOLF sein sollte, hatte diesen Einfall?“ „WOLF setzte ihn, wie man hört, unter Druck, seine Tätigkeit im Club of Rome aufzugeben. Seine Mitgliedschaft bei WOLF wurde solange ausgesetzt. Außerdem liegen gewisse Hinweise aus Sidney vor, wonach der verstorbene Vizepräsident McGovern Kontakte mit WOLF unterhielt.“ Zumindest eine Erklärung, wenn auch keine besonders gute, aber immerhin eine mögliche. „WOLF“, murmelte Urban, „warum kam keiner früher darauf?“ „Bei WOLF würde alles zusammenpassen. Internationales Kapital, unbegrenzte Mittel, Verflechtungen bis in höchste Regierungs-, Militär- und Geheimdienstspitzen.“ „Kein Wunder, der größte Te il aller WOLF-Mitglieder besteht aus Energie-, Rüstungs- und Atomindustriellen.“ Spencer erkundigte sich, ob Urban damit etwas anfangen könne. „Mal gucken“, wich Urban aus. „Ich lasse dem Direktorium jedenfalls danken. – Herzlichst.“ „WOLF sitzt in Paris.“ Spencer nannte ihm noch die ganze Adresse. „Ich weiß“, sagte Urban und legte auf. 12 Stunden später stand er in Paris vor der WOLF-Zentrale. Obwohl WOLF das Bürohochhaus gehörte, benutzte die Organisation nur das oberste Stockwerk. Ein Extralift führte ins Penthouse. Jetzt um 21 Uhr war der WOLF-Lift verschlossen und außer Betrieb. Urban fuhr mit einem der anderen bis in die siebzehnte Etage, 87
suchte die Tür zum Treppenhaus und stieg dann aufwärts, bis man nicht mehr weiterkam. Die eiserne Feuertür hatte ein Sicherheitsschloß mit Alarmkontakten. So etwas zu knacken hatte einst zu seiner Grundausbildung gehört. Er hatte einen thermoplastischen Kunststoffstreifen bei sich, der, mit dem Feuerzeug leicht erwärmt und in den Schlitz geschoben, sich den feinen Zuhaltungen anpaßte. Die Alarmkontakte wurden mit einem Blatt Papier in der Schließfuge ertastet und mit Sekundenkleber arretiert. Wenig später war die Tür offen. Die WOLF-Höhle duftete nach Edelholz, Tabak und Herrenparfum. Licht brauchte er keines, die Helligkeit der Stadt, die durch die Fensterfronten hereinschimmerte, genügte Urban. Warum er zu dieser Stunde hier eindrang, das war längst abgehakt. Hier oben saß der Boß von WOLF wie in einem gigantischen Stellwerk, dessen Leitungen im entferntesten Winkel der Welt noch Weichen betätigten. Es war besser, man kannte sich darin aus, ehe man gewi sse Eingriffe vorzunehmen ve rsuchte. Moderne Täter besuchen den Tatort nicht nach der Tat noch einmal, sondern vorher. Urban querte das velourbelegte Foyer. Die Topfpflanzen warfen wandernde Reflexe, wuchtig wie Palmenwälder, gegen die Marmorwand. Eine rahmenlose Glaswand schwang unter Fingerdruck zurück. Dahinter ein Gang mit Mahagonitüren, darauf in massiven Messingbuchstaben: „Sekretariat I-II.“ Zweifellos war dies der Weg ins Chefbüro. Hinten sah er eine Doppeltür, raumhoch, mit blauem Saffianleder und Goldknöpfen abgepolstert. Urban bewegte den Drehknopf. Klickend zog sich die Zunge aus dem Schloß. Der Flügel war frei beweglich. Vor ihm lag ein protzig weitläufiger Raum, links und um die Ecke herumgezogen eine Fensterfront mit Senkrechtjalousien. Die Position des Schreibtisches ließ sich nur ahnen, ebenso die der Sessel88
gruppe. Rechts der Bogen eines Durchganges zum Waschraum. Alles äußerst eindrucksvoll. Man konnte den Eiffelturm sehen und die Springlichter eines Flugzeuges. Unten lag die Stadt wie ein Perserteppich mit Glühbirnen in jedem Knoten. – Ein Relais knackte. Urban, gewärtig, daß es eine Alarmanlage auslöste, war sprungbereit für den Rückzug. – Aber es hatte sich wohl nur ein Kühlschrank oder das Air-Conditioning eingeschaltet. Was ihn einigermaßen wunderte, war der Umstand, daß es so ruhig blieb. Keine Sirene heulte auf, keine Klingel rasselte los. – Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? – Der Gedanke war nicht zu Ende gedacht, als er die Umrisse eines Menschen sah. Wie im Foyer die Palmen, malte das Lacht seine Konturen an die Wand. Aus der vielfachen Ve rgrößerung ließ sich seine Position schließen. Er stand in gefährlichem Winkel zu Urban, nämlich schräg hinter ihm. Die Tatsache, daß man ihn hier erwartet hatte und daß dies die eigentliche Falle war, wurde ihm schlagartig bewußt. Zu spät allerdings. Etwas sirrte durch die Dunkelheit. Hautnah fuhr es an Urban vorbei, um sich an der Wand festzuklammern. Zwei, drei Punkte, wie fette Spinnen. Urban kannte diese eisernen Wurfgeschosse. Sie hatten Krallen mit Widerhaken. Wer sich darauf verstand, der warf sie zielgenau und schnell, wie ein Maschinengewehr schoß. Urban drückte ab. Die Dinger trommelten dongdong. Eines riß ihm im Nacken eine Fleischspur und zwang ihn zu Boden. Dann Stille. Der Angreifer im Dunkeln hatte offenbar seine erste Munition verbraucht. Keine Bewegung. Kein Atmen. Nichts. – Da auch Urban keinen Laut von sich gab, wußte der andere nicht, wie es um seinen Gegner stand. Er machte Licht. Ein Richtstrahler, hoch an der Decke montiert, erfaßte Urban mit dem Zentrum seines Kegels. Und dann diese Stimme, wie ein Gebet, wie eine beschwörende Formel: 89
„Meister, ich bin bereit. – Kein Gegner soll mich je schrekken. – Ich werde dein bester Schüler sein. – Ehre dem Shaolin!“ Solche Schwüre gaben sie von sich, ehe sie angriffen. Das war alte chinesische Kämpfertradition. Urban sah ihn jetzt stehen, ein Koloß von einem Kerl mit Luchsgesicht, wachen, flinken Augen und ständig wandernden Pupillen. Immer auf der Lauer, stets auf Beute aus. Der Shao-Kämpfer vollführte eine 45-Grad-Drehung, packte den schweren Barschrank, als wolle er ihn umarmen, wuchtete ihn hoch und warf ihn mit ungeheurer Kraftanstrengung durch den Raum auf Urban. Vielmehr dorthin, wo Urban vor einer Sekunde noch gelegen hatte. Urban wälzte sich herum wie eine Spindel. So erwischte ihn nur noch die Kante des Schrankes am Fuß. Der Knöchel fühlte sich an wie dreimal gebrochen. Urban richtete sich auf, stand da, und unter Höllenschmerzen wartete er auf die nächste Aktion. Plötzlich hatte der Shaoka ein Bündel Ketten in der Hand. Propellerartig ließ er es über dem Kopf kreisen, ehe er es auf seinen Gegner schleuderte. Im selben Moment hechtete Urban über den Schreibtisch und brachte sich dahinter in Deckung. Die Ketten klatschten ins Leere. Der Fehlschlag mit dem Schrank und mit den Wurfketten versetzte den Shao-Kämpfer in Wut. Ansatzlos packte er einen der zentnerschweren Clubsessel und warf ihn zwischen Schreibtisch und Wand, wo er den Gegner vermutete. Doch Urban wuchs an einer Stelle aus dem Boden, wo ihn der Shaoka nicht vermutet hatte. Es war soweit. Mann gegen Mann ging es jetzt. Mit dem Tempo eines Steptänzers brachte der Shaoka Arme und Beine zum Einsatz. Seine Hände waren wie Säbel und seine Füße wie Sensen. Was ihm in den Weg kam, barst und splitterte. 90
Ein Schlag traf Urban unter dem Brustbein ins weiche Dreieck. Die Luft blieb ihm weg. Er wich zurück, humpelte um den Riesen herum. Wo lag seine Chance? – Der andere war kräftiger als er, besser trainiert und mindestens so reaktionssicher. Seine Shao-Lektionen hatte er ebenfalls gelernt. Aber jeder Zweikampf war auch ein wenig Kunst. Durch besondere Einfälle, blitzschnell in die Tat umgesetzt, konnte auch ein Zwerg einen Riesen legen. Sonst hätte David gegen Goliath nie gewonnen. Urban, waffenlos wie meist, wartete auf seine Sekunde. Aber sie kam nicht. Der Koloß drängte ihn in die Ecke und holte aus zu dem sagenhaften Tigerschlag. Er bog die Finger zu Krallen, um den Gegner erst die Unke Hälfte, dann die rechte seines Gesichtes wegzufetzen. Gott steh mir bei! dachte Mister Dynamit. In diesem Augenblick höchster Konzentration bei ihm wie auf seiten des Gegners knackte wieder das Relais. Dazu kam das typische Schütteln, wenn ein Kühlschrankaggregat abschaltete. In seiner Not griff Urban zu einem der plumpsten und ältesten Tricks. Er schaute an dem Shaoka vorbei, zwang sich ein Lächeln der Erleichterung auf die Züge, als sei endlich Hilfe gekommen. „Los, knall ihn ab!“ rief er dem nicht existenten Mann hinter dem Riesen zu. Und der Shaoka, durch sein isoliertes Training wohl etwas weltfremd geworden, fiel darauf herein. Zögernd, aber schließlich doch, hob er sich den vernichtenden Tigerschlag gegen Urban auf, um der Pranke erst eine andere Richtung zu geben. Er drehte sich um, wurde vom Spotlicht ein wenig geblendet und sah nichts. Mit einem Wutschrei stürzte er sich wieder auf sein Opfer. Doch das stand nicht mehr am Schafott. Urban hatte den Schreibtisch umgangen, hatte eines der 91
schweren Telefone gepackt und hämmerte es dem Shaoka gegen den Schädel. Das Telefon zerbarst mit Scheppern, aber die Riese wankte nicht. Er machte nur die Augen schmal, wie um der Schmerzen Herr zu werden, und stürzte sich jetzt wie rasend auf Urban. Urban ließ ihn anrennen, humpelte blitzschnell beiseite, und der Riese stürzte über seine Fußhaken. Lang lag er da, inmitten der Gläser und Flaschen aus dem aufgeplatzten Barschrank. Urban ergriff den stählernen Siphon und hämmerte ihn dem Shaoka in den Nacken. Doch er hatte nicht mit dessen Beinarbeit gerechnet. Ein Fußtritt schleuderte Urban bis zur Bürowand. Kaum auf den Beinen, stand auch der Shaoka, aber er taumelte jetzt und war offenbar angeschlagen. Wie ein wilder Stier wütete er in dem Raum, bekam die Tür zu fassen, riß einen der Flügel aus den Angeln und schleuderte ihn quer durch den Raum durch die Panoramascheiben hinaus auf die Terrasse. Keuchend stand der Riese im Ring, offenbar unfähig, zu fallen, aber auch unfähig, seine Kräfte noch gezielt einzusetzen. Seine zeitlupenhaften Bewegungen gaben Urban die Chance, das Richtige zu tun. Er riß ein Stromkabel aus Dose und Stehlampenfuß, warf es dem Shaoka von hinten um den Stiernakken und zog zu. Der Anblick eines gefesselten Shaoka glich dem eines Löwen in der Grube. Obwohl er äußerst selten war, genoß ihn Urban nicht lange. „Töte mich!“ forderte der Riese immer wieder. „Das wäre zu leicht“, antwortete Urban. „Ein Shaoka, der eine Falle stellt und einen Mann aus dem Dunkel heraus zu töten versucht, verstößt gegen alle Regeln der Fairneß. Du wirst mit der Schande leben, mein Freund.“ Urban durchsuchte den Schreibtisch. 92
„Ich rechne dir an“, fuhr er fort, „daß du ihr willenloses Werkzeug bist. – Wer machte dich dazu?“ Der gefesselte Riese – die Niederlage hatte ihn auch innerlich gebrochen – schwitzte, und sein Schweiß mischte sich mit dem Blut seiner Wunden. „Yamamuto“, sagte er schließlich. „Der Chef von WOLF?“ „Mein Mentor.“ „Und der deiner Kameraden. – Sie sind tot, wie Sprengstoff zwei Männer nur töten kann.“ „Ich möchte ihnen folgen. Nur ein Ende durch die Hand des Siegers kann die Schande auslöschen.“ „Unsinn“, entgegnete Urban, „das Leben geht weiter, Junge.“ Er hatte etwas gefunden. Im Telefonverzeichnis standen unter „Y privat“ mehrere Rufnummern. Urban wählte den Anschluß der Pariser BND-Residentur in St. Cloud und verlangte, daß sie die Adressen, die zu den Nummern gehörten, für ihn ausfindig machten. „Kein Problem“, behaupteten sie, „bis in zehn Minuten.“ „Ich gehe jetzt einen Happen essen“, sagte Urban, „melde mich wieder.“ Er steckte sich eine MC an, stieg über den gefesselten Killer weg und warf einen letzten Blick zurück. Der Raum war ein Schlachtfeld. Um diese Stunde bot die französische Küche nicht mehr allzuviel. Auch war Urban nicht in einem äußeren Zustand, der ihm das Betreten von Luxusrestaurants geraten scheinen ließ. Aber was er in dem Stehbistro an der Ecke zu sich nahm, war Spitze. Suppe aus Kalbfleisch, Artischocken und Nüsse. Und dann Rilettes, Würstchen aus Gänse- und Schweinefleisch mit Kräutern. Dazu nahm er ein Glas Chablis. Er fing wieder zu existieren an. Um 23 Uhr hatte er Yamamutos Adresse. Er rief ein Taxi und fuhr hin. 93
11. Mondlicht über den Rheinauen – im wabernden Nebel steinerne Monumente aus einer vergangenen Zeit – Bunker, Geschütztürme – Forts, grün bemoost: die alte Maginot-Linie. Die schweren Panzertieflader bewegten sich durch die französischen Ortschaften an der Route Nr. 424 so unauffällig wie eine Catchup-Flasche über einen amerikanischen Eßtisch. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Die Kolonne, bestehend aus einem Jeep mit USMilitärpolizei, einer Chevrelot-Limousine, zwei 40tonnern und einem schweren Mannschaftstransportwagen, hatte untereinander Funkverbindung. 12 Kilometer südöstlich von Selestat, auf Marckolsheim zu, stand ein Mann im grünen Offiziersregenmantel der amerikanischen Streitkräfte und beschrieb mit der Taschenlampe rote Kreise. Hier bog die Kolonne von der Straße ab und verschwand im Niederwald. Der Mann im Regenmantel war bei Colonel Shuster zugestiegen. „Kommen wir mit Allradantrieb durch?“ fragte der Pionieroffizier. „Die Regenfälle in den letzten Tagen waren erheblich, Sir.“ „Also geht es nicht.“ „Besser, Sie bringen den M-38 zum Einsatz. Für alle Fälle.“ Der Colonel erinnerte sich mit Schrecken daran, wie sie schon einmal in diesem morastigen Gebiet steckengeblieben waren. Um den Tieflader gurgelte schon schwarzes Sumpfwasser, bis der Bergepanzer zur Stelle war. Und selbst der Panzer hatte im Vorspann nichts auszurichten vermocht. Allein mit schenkeldicken Ketten, gestützt auf seine mächtige Baggerschaufel, hatte der M-38 den Tieflader endlich aus dem Mud bekommen. 94
„Nein, nicht noch einmal so was“, stöhnte Colonel Shuster. Wenn er an seinen Transportplan dachte, wurde ihm ohnehin schlecht. Er ließ anhalten. Der auf dem zweiten Tieflader mitgeführte M-38 wurde abgeplant und angelassen. Rasselnd rollte der Panzer über die Rampe zu Boden, nahm den vorderen Tieflader auf den Haken und zog ihn, geführt vom Jeep, weiter in die urwaldartige Auenlandschaft hinein. Der Colonel hatte jetzt im Jeep Platz genommen. Dem Tieflader folgte noch der Mannschaftstransporter. Er verfügte über drei Achsen und Allradantrieb. Sie hofften, daß er durchkäme. Oft fiel das Tempo unter Fußgängergeschwindigkeit. Immer wieder schaute der Colonel auf die Uhr. Zeitüberschreitung auf den Transportplan jetzt schon vierzig Minuten. Noch war er nicht verzweifelt, aber viel durfte nicht mehr passieren. Immerhin war diese Operation einer US-Einheit auf französischem Boden illegal. Nur durch Einsatz aller möglichen Tricks waren sie überhaupt bis hierher gekommen. Endlich, nach zwölf Kilometern querfeldein, tauchte Wald und dann der große Bunker auf. Sie wurden bereits erwartet. Die Übernahme der Raumschilfsattrappe ging verhältnismäßig rasch vonstatten. Mit hydraulischen Greifern wurde sie von der Bunkerrampe auf den Tieflader gehoben, dort verzurrt und zugeplant. „Wissen Sie, wohin mit dem Schrott?“ fragte einer der Uniformierten ohne Rangabzeichen. „Man nannte mir das Ziel“, bestätigte der Colonel, „die Route ist auf meiner Straßenkarte eingetragen. Aber warum versenkt man den Mist nicht gleich in den Sümpfen?“ „Sümpfe könnte man trockenlegen, Sir“, lautete die Antwort. Im Licht der Arbeitsscheinwerfer tauchten jetzt wankende Gestalten auf. Sie bewegten sich wie in Trance und schienen beinahe unfähig, die wenigen Meter vom Bunker bis zum Mannschaftswagen ohne Hilfe zu überwinden. „Diese Lemuren gibt’s auch noch?“ staunte der Colonel. 95
„Das eine ist vom anderen nicht zu trennen, Sir.“ „Das würde ja bedeuten, daß sie mit in den Schmelzofen wandern.“ „Nicht in den Schmelzofen“, erklärte der Leiter der Bunkermannschaft. „Haben Sie die armen Schweine unter Drogen gesetzt?“ „Sie wurden nur chemisch ruhiggestellt. Widerstand können wir nicht gebrauchen.“ „Und wie lange wirkt das Giftzeug?“ „Lange genug“, versicherte der andere. Colonel Shuster vermied den direkten Blick in ihre Gesichter. Aber was er sah, genügte ihm. Sie waren verkommen, unrasiert, abgemagert, mit großen Augen, tief in dunklen Höhlen. Der Colonel, ein in Vietnam hartgesottener Krieger, wandte sich ab. In solchen Momenten erinnerte er sich gern des obersten Grundsatzes eines Soldaten, wonach Befehle auszuführen waren, aber nicht über sie nachzudenken sei. Es ging auf 00.45 Uhr. Verspätung schon eine Stunde. „Los, aufsitzen!“ befahl Shuster. „Anlassen, wenden und Abfahrt!“
Auf den nächtlichen Straßen Ostfrankreichs kam die Kolonne zunächst gut voran. Doch plötzlich gab es einen Halt. Rotes Blinklicht. Polizeikontrolle. Kurz vor der Autobahneinfahrt Nancy hatten sie eine Sperre errichtet. Ein junger Gendarmerieoffizier trat an die Armeelimousine heran. „Bitte Ihre Transportpapiere, Messieurs.“ Der Colonel entnahm seiner Mappe mehrere Blätter. Doppelt ausgeführte Marsch- und Transportbefehle, gestempelt, unterschrieben von höchsten NATO-Dienststellen, aber alles in USEnglisch. 96
Der Gendarm studierte die Unterlagen und reichte sie zurück. „Das genügt nicht, Monsieur Colonel.“ „Ausgestellt vom Hauptquartier in Brüssel. Was mißfällt Ihnen daran?“ „Frankreich ist nicht NATO-Vollmitglied, Monsieur.“ „Aber wir dürfen es im Notfall verteidigen“, höhnte der Colonel. Der Gendarm ließ sich nicht provozieren. Lächelnd erwiderte er: „Wir sind kein Besatzungsland wie die Bundesrepublik, Monsieur. Das Permit des Innenministeriums fehlt bei Ihren Unterlagen. – Was haben Sie geladen?“ Der Amerikaner war jetzt ausgestiegen, steckte sich eine Chesterfield in Brand und schlug den Kragen seines Mantels hoch. „Geheim.“ „Geheimtransporte sind ohnehin genehmigungspflichtig. Bewegen Sie etwa Atommaterial, Monsieur?“ Der Colonel geriet allmählich in die Klemme. – „Bringen Sie das Zeug von A nach B“, lautete sein Befehl, „wie, das ist Ihre Sache, aber das schaffen Sie schon, Shuster.“ – Verfluchte Scheiße! – „Nein, Raketen“, antwortete er lässig. Der Gendarmerieoffizier strich zweifelnd um den Tieflader. „Hat mehr die Konturen eines kaputten Flugzeuges, oder nicht?“ „Eine alte Pershing-I-Rakete“, erklärte der Colonel in ve rtraulichem Ton. „Sie versagte beim Probestart. Bei der Artillerie würde man das einen Rohrkrepierer nennen. Wir müssen die Teile schnellstens nach Le Havre bringen. Dort wartet ein Transporter, der die Trümmer ins Werk nach Boston schwimmt.“ Daß man ihn in eine Top-secret-Sache einweihte, schien den jungen Gendarmen nicht im geringsten zu beeindrucken. 97
„Ich muß das zunächst mal weitermelden“, beharrte er, „an meine vorgesetzte Dienststelle nach Chalôn.“ Der Colonel rang um einen Einfall, denn ohne ihn flog alles auf. Der junge Gendarm sah aus, als sei er äußerst tüchtig und versessen darauf, Karriere zu machen. Darauf stellte sich der Colonel ein. „Ja, tun Sie das“, riet er dem Offizier, „melden Sie den Transport der Distriktpräfektur. Aber eines möchte ich noch erwähnen, Monsieur, es handelt sich um den siebten Transport in sieben aufeinanderfolgenden Nächten, und dies hier ist der letzte.“ Der Gendarm hatte schon zum Funktelefon seines Peugeot gefaßt, legte aber wieder auf. „Wollen Sie damit sagen, daß…“ Der Colonel nickte. „Daß wir sechsmal unkontrolliert durchkamen.“ „Das ist unmöglich.“ „Es ist nur möglich, wenn die Polizei landauf, landab schläft, Monsieur.“ „Ich halte das für…. setzte der Gendarm an. „Ich auch“, pflichtete ihm Colonel Shuster bei. „Daß Sie von unseren Transporten bis heute nichts wissen, das fällt nicht nur auf Sie, sondern auch auf Ihren Distriktschef und ebenso auf den Minister in Paris zurück. Mit Vorgesetzten aber, mein Freund, sollten Sie nicht auf eine Weise umspringen, die diesen Ärger bereitet.“ Der Gendarm gab sich einen Ruck. „Aber schließlich gingen Sie uns ins Netz.“ „Es kostet mich einen Anruf, wir sind wieder frei und fahren weiter. Aber daß Ihr Erfolg bei der Kontrolle des Straßenve rkehrs die lächerliche Quote von eins zu sieben aufweist, das wird an Ihnen hängenbleiben, junger Mann. Das verspreche ich Ihnen.“ Der Gendarm hatte allmählich begriffen. 98
Noch einmal ließ er sich die Marschpapiere zeigen. Offenbar entdeckte er darin jetzt einige Zeilen, die sich bei gutem Willen so auslegen ließen, daß der Transport im Einvernehmen mit militärischen Stellen der französischen Armee stattfand. Zumindest übersetzte er sie in diesem Sinne. „Fahren Sie weiter, Monsieur“, sagte er zu Colonel Shuster, „aber halten Sie sich an die Verkehrsregeln.“ Die Kolonne fuhr, was die Motoren der Sattelschlepper hergaben. Sie bewegte sich weit über der für Lkw zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Um 03 Uhr erreichte sie den Autobahnring von Paris und brauste weiter Richtung Chartres – Le Mans. Jenseits der Sarthe-Brücke waren sie endlich in der Bretagne. Aber noch hatten sie hundertfünfzig Kilometer bis zum Zielort. Inzwischen ging es auf 05.35 Uhr. Von der Verspätung hatten sie zwanzig Minuten gutgemacht. Aber bald ging die Sonne auf. In einer und einer halben Stunde etwa. Bis dahin mußten sie vom Erdboden verschwunden sein. Dicht vor dem Ziel ließ sich Colonel Shuster ungern abfangen. Andererseits, so kalt wie in Nancy glaubte er einen Posten nicht noch einmal bluffen zu können. Der Colonel hängte das Sprechfunkmikrofon aus und rief den ortskundigen Scout-Offizier im Jeep. „Wir nehmen das Autobahnstück Reimes – St. Brieuc.“ „Das ist auf der Karte extra ausgeklammert, Sir.“ „Wir müssen es riskieren.“ „Eines der meistkontrollierten Straßenstücke Westfrankreichs, Sir.“ „Sie stehen nicht alle Tage so früh auf. – Außerdem meldet der Wetterbericht Nebel an der Küste.“ „Ist das ein Befehl, Sir?“ „Auf meine Verantwortung.“ 99
Der Colonel entspannte wie stets, wenn er eine schwerwi egende Entscheidung gefällt hatte. So war es schon im Krieg gewesen. Man mußte sich zu Entschlüssen durchringen, mußte etwas riskieren. Nur auf diese Weise hatte er sich und den größten Teil seines Bataillons heil aus Indochina herausgebracht. Wäre gelacht, wenn es nicht gelänge, diesen verdammten Job zu erledigen. Er wollte ihn hinter sich haben, denn er hatte das Gefühl, daß er mies sei. Er würde die Wagen hinstellen, seine Leute einsammeln und wegfahren. Ab durch die Mitte. Alles Weitere interessierte ihn nicht. Nach mir die Sintflut. 12. Der Londoner Nebel legt den Flugverkehr lahm. – In München fällt morgens der erste Schnee. – In Rom ziehen sich die Menschen warm an, denn nicht in allen Häusern gibt es He izung. Den weitesten Weg hatte der Engländer. Außerdem zwang ihn die Wetterlage, von London nach Genf die Eisenbahn zu benutzen. Telefonisch kündigte er seine Verspätung an. Dabei stieß er bei dem Teilnehmer aus München auf Verständnis. – Der Fahrer der Mercedes-S-Limousine hatte bis Zürich mit Schnee zu kämpfen. Zwar benutzte er die besten Winterreifen, die der deutsche Markt derzeit anbot, auch waren die meisten Straßenabschnitte gesalzt und einigermaßen frei, aber es gab Strecken, wo aus Umweltschutzgründen nur Sand oder Splitt gestreut wurde. Dort sank dann das Tempo oft unter fünfzig Stundenkilometer. Der Römer hatte es vergleichsweise leicht. Er bestieg in Fiumicino die Linienmaschine de r Alitalia nach Genf, verließ sie dort bei strahlendem Sonnenschein, fuhr in die Stadt und wartete in einem Café am Lac Leman auf seine Kollegen von den 100
anderen europäischen Geheimdiensten. Das Gespräch fand am frühen Abend in der fast leeren Bar eines Franzosen Schweizer Nationalität statt. Die Bar führte den spanischen Namen „Co nchitas Höhle“. Der Inhaber arbeitete für die amerikanische CIA. Der Italiener verfügte über die neuesten Informationen und begann deshalb: „Bekanntlich wurde auf prominente Mitglieder des Club of Rome ein Bombenanschlag verübt. Dank dem Eingreifen eines deutschen Agenten wurde größeres Unheil vermieden. – Der Bitte um Amtshilfe entsprechend ermittelten wir sofort nach dem Fahrzeug, das die Mitarbeiterin des deutschen Agenten, eine gewisse…“, er schielte auf seine Notizen, „… Myrna Ziegler, aus dem Hotel Hassler entführte. Die Fahrzeugbeschreibung, so hofften wir, würde ausreichen, den Halter zu ermitteln. Weit gefehlt. Im gesamten Zulassungsbereich Perugia ist kein Mercedes Zweihundertzwanzig Diesel, lang, Farbe Cremeweiß, registriert. Es gibt allerdings zwei Fahrzeuge dieser Konfiguration. Sie versehen ihre Arbeit bei einem Taxiunternehmen, sind aber tintenblau, und die Polizia Stradale konnte überprüfen, daß beide Wagen zum fraglichen Zeitpunkt den Bezirk nicht verlassen hatten. Aus diesem Grund müssen wir annehmen…“ Der Italiener, ein schmaler, mäusegesichtiger Advokatentyp, faßte zusammen: „… müssen wir also annehmen, daß das Nummernschild gestohlen wurde. Wem man es entwendete, läßt sich wiederum nicht feststellen, da wir die Ziffernkombination nicht kennen und überall ständig irgendwelche Kennzeichentafeln abhanden kommen. Soweit unsere Erkenntnisse, was die mögliche Entführung von Signorina Ziegler aus Rom betrifft. Mein Dienst ist bereit, alle Nachforschungen auf italienischem Staatsgebiet intensiv zu betreiben, da sich auch bei uns die Gerüchte um die Landung eines Raumschiffs in den 101
Abruzzen auf eine Weise verdichten, daß wir an einer Aufhellung der Sachlage interessiert sind.“ Der Italiener bestellte noch ein Glas Weißwein und bat darum, ihn mit einer Scheibe Zitrone serviert zu bekommen. Der Engländer trank nicht Tee, wie man erwartet hätte, sondern Bier. Was er an Fakten beisteuerte, klang eher wie ein Lamento. Mit seiner an sich schon weinerlichen Stimme fing er an: „Durch einen Verbindungsoffizier zur 6. US-Flotte im Mittelmeer hörten wir von einem Spezialeinsatz. – Da es unüblich ist, Operationen unter Ernstfallbedingungen – soweit es sich nicht um Alarmübungen handelt – den Verbündeten zu verschweigen, diese Sache aber in keinem der Berichte auftauchte, kümmerten wir uns ein wenig darum. Unsere Feststellungen ergaben, daß in einer Nacht vor nahezu fünf Wochen – man verzeichnete die ersten Schneefälle dieses Herbstes in Mitteleuropa – von einem Hubschrauberträger der 6. Flotte, der vor Pescara ankerte, mehrere Maschinen aufstiegen. Und zwar zunächst Hue-Cobra-Kampfhubschrauber, dann ein schwerer Mannschaftshubschrauber mit kriegsmäßig ausgerüsteten Marines, dem später noch ein Transporthubschrauber folgte. Sie alle flogen in westlicher Richtung, also über italienisches Staatsgebiet. Als sie am Morgen zurückkehrten, sollen Tote und Verwundete dabeigewesen sein. Der Transporthubschrauber führt in einem Netz einen Gegenstand mit sich, der, vom Standort unseres Beobachters gesehen, die Form eines silbernen Walfisches hatte. Hubschrauber und Ladung wurden sofort unter Deck verbracht. Im Laufe des Tages löste sich der Träger vom Verband und dampfte adriaaufwärts. Durch einen aufmerksamen V-Mann erhielten wir Kunde von einem Transport, der sich im Hafen von Ravenna Richtung Frankreich in Bewegung setzte. Als NATO-Nachschub kam er überall frei durch. Die Spur verlief sich irgendwo am Rhein zwischen Straßburg und der Schweizer Grenze. 102
Sofort schickten wir einen landeskundigen Agenten dorthin, hörten aber bald nichts mehr von ihm. Wir müssen annehmen, daß er tot ist oder in die Hände von Leuten fiel, die ihn als Gefangenen behandelten. Um Klarheit zu bekommen, sandten wir einen zweiten Späher los, einen unserer besten Agenten, der sich, als Schmetterlingssammler getarnt, abermals in die Rheinauen begab. Beinahe eine Woche lang funkte er zuverlässig Meldungen, bis wir dann aus einem unkorrekt geführten Funkspruch schließen mußten, daß man auch ihn eliminiert hatte. In großer Sorge setzten wir uns daraufhin mit Ihnen, Dottore Borghini, mit Ihnen, Oberst Sebastian, und mit unseren Freunden in Washington in Verbindung. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, daß auch die SIFA sowie die CIA einen Mann vermissen und daß von Geheimeinsätzen weder bei der U.S.Navy noch bei den Marineinfanterieeinheiten oder bei Transportverbänden irgend etwas bekannt sei.“ „Was ich nur ausdrücklich bestätigen kann“, erklärte der Barbesitzer, der CIA-Agent James Thoreau. Er verschwand und brachte für den deutschen Gesprächsteilnehmer noch einen dritten Cognac. Oberst im Generalstab der Reserve Sebastian drehte das Monokel heraus. Er hatte es so lange vor dem kurzsichtigen Auge gehabt, daß sich ein tiefer roter Hautring gebildet hatte. „Gentlemen“, begann er in seinem nicht gerade eleganten Englisch, „ohne zu übertreiben, befinden wir uns in großer Beunruhigung – oder soll ich sagen: Sorge? – In Europa geschehen Dinge, die man leider vor uns, den Geheimdiensten dieses Kontinents, verbergen wollte. Dies und der Umstand, daß es auch gelang, lassen den Schluß zu, daß es sich um Vo rgänge von bedrohlicher Bedeutung handeln muß. Ich spreche von dieser römischen Raumschiffslandung, für die uns keine Beweise vorliegen, die aber dennoch stattgefunden haben dürf103
te. Wie man hört, sollen amerikanische Verbände an der Beseitigung des Wracks und der Raumschiffsbesatzung mitgewirkt haben. Im Pentagon und in der CIA-Zentrale Langley weiß man angeblich nichts davon. – Und ich glaube sogar solchen Beteuerungen. – Wie mächtig, so frage ich mich, muß also diese Organisation sein, daß es ihr möglich ist, an den offiziellen Stellen vorbeizuoperieren, und welche Interessen verfolgt sie dabei? – Klartext: Bei dem Raumschiff handelt es sich um eine etwas sehr fantasievolle Inszenierung des Club of Rome. Man wollte sich einmal auf Hollywoodart in Szene setzen, um gewisse Thesen zu verbreiten. Das war gut geplant, aber laienhaft durchgeführt. Nun, Wissenschaftler sind bekanntlich schlechte Strategen. Auch dürfte Verrat im Spiel sein. – Aber eines ist mir mittlerweile bestätigt worden. Hinter allem steckt WOLF. – Wer von Ihnen kennt WOLF nicht?“ Keiner hob die Hand. „Dieser übermächtige Industrieverband ist der Drahtzieher. Warum, das bedarf keiner komplizierten Erklärung. Neue Einsichten führen zu neuen Gesetzen. Einschneidende Gesetze oder Maßnahmen gegen die Weltindustrie – ich meine Energiewirtschaft, Großchemie, Rüstung, Atomtechnik – würden sie schwer treffen, ihre Gewinne minimieren und zu Strukturveränderungen führen, die keiner dieser Topmanager hinnehmen würde. Deshalb ließ man die braven römischen Propheten verschwinden und wird nun dafür sorgen, daß keine Spur von ihnen übrigbleibt. Das ist gesicherte Erkenntnis, Gentlemen. Mein bester Agent ist aufgebrochen, um dies zu verhindern. Doch ob es ihm möglich sein wird, ich weiß es nicht. Ich hörte seit zweiundzwanzig Stunden nichts mehr von ihm. Ich kann nur hoffen, daß es ihm nicht ebenso erging wie Ihren… Mä nnern.“ Eine kurze, aber sehr ernste Rede. Betroffen blickten die vier in ihre Gläser. 104
„And now?“ fragte der Engländer. Der Italiener schaute auf die Uhr. „Ich muß um zwanzig Uhr im Palazzo Reggio sein. Konferenz mit dem Admiral. Sie entschuldigen, amici.“ „Wir halten Kontakt“, sagte der Engländer. „Welche Maßnahmen auch immer für wichtig gehalten werden zur Abwe ndung einer Gefahr, ich habe Vollmacht, bei Übereinstimmung kooperativ zu handeln.“ Übersetzt aus der Diplomatensprache ins Deutsche, hieß das, daß die Engländer nur dann weitere Schritte einleiteten, wenn es wirklich Erfolg brachte. Der Barbesitzer verließ die Nische. „Ich mache jetzt meinen Laden auf“, rief er, „das Geschäft beginnt. Stehe aber jederzeit zur Verfügung.“ Schließlich saß Oberst Sebastian allein am Tisch. Er goß den Rest aus dem Cognacglas in den Kaffee, wie er es so oft bei seinem Agenten Nummer 18 gesehen hatte, und fand die Mischung schmackhaft, anregend, wirklich gut. Als er hinausging, fragte er sich, warum man sich in Genf getroffen hatte. Aber Antworten konnte man immer erst am Schluß geben. Die milden Strahlen der tiefstehenden Sonne färbten die Gassen der Altstadt noch malerischer, als sie ohnehin waren. Aber über dem See zog sich etwas zusammen. Sebastian schlenderte hinüber zu seinem 280 S. Der Fahrer riß die Fondtür auf. „Ins Hotel?“ fragte er. „Ins Bett“, sagte der Oberst. „Welches Hotel, Herr Oberst?“ „Hotel Sebastian, München-Grünwald“, knurrte der Operationschef. Im Gegensatz zu seinem Fahrer war der Alte fein heraus. Er konnte eine Havanna rauchen oder ein Auge schließen. Fast sechshundert Kilometer lang. 105
13. Das Innere der Halbinsel ist Heideland. – Das Klima ist feucht und neblig. – Die Bewohner sind stolz auf ihr unve rmischtes gallisches Blut. – Sie nennen sich nicht Franzosen, sondern Bretonen. Ein grüner Citroen CX schob zentimeterweise sein flaches Fischmaul aus dem Gestrüpp. Der BND-Agent Urban war sowohl gewissen Erkenntnissen wie der Straßenkarte und seiner Spürnase bis hierher gefolgt. Hinter St. Clet war er zum Meer hin abgebogen. Die Straße mochte vor vierzig Jahren gut in Schuß gewesen sein, jetzt war sie verkommen. Wasser- und Frostschäden hatte man nie repariert. Kaninchen hatten sie unterwühlt, was stellenweise zum Absacken der Makadamfahrbahn geführt hatte. Wegweiser gab es überhaupt keine. Vielleicht verhinderten die Behörden die Instandsetzung, um neugierige Touristen am Weiterfahren zu hindern. Bei der Brücke über den Fluß handelte es sich um ein stählernes Pioniersegment aus den Invasionstagen. Die U.S.-Army hatte es hinterlassen. Nach einem Birkenwald ging es hinaus auf plateauartiges Weideland, eben wie gewalzt, glatt bis zum Horizont. In der Ferne weideten Schafe ohne Schäfer. Urban blieb am Gehölzrand in Deckung, als prüfe er das Schußfeld. Dann blickte er zu dem Mann zurück, der hinten im Citroen saß, und dann gab er Gas. Mit seiner Federhydraulik schluckte der CX alle im Laufe der Jahre entstandenen Unebenheiten. Aber daß es sich um einen ehemaligen Feldflugplatz der Alliierten handelte, sah jeder Laie. Im Norden standen noch die Reste eines Kontrollturmes, dahinter ein Funkmast. Bei den großen Maulwurfhügeln handelte es sich wohl um Splitterschutzgräben, und ein paar Baracken 106
gab es auch noch. Was Urban am Westrand des Rollfeldes für einen Findlingsbrocken gehalten hatte, entpuppte sich bald als ein Hangar. Aber was für einer. Nie hatte Urban einen Hangar dieser Art erblickt. Die herkömmlichen Flugzeughallen bestanden aus Wellblech oder Aluminium, das man über Stahlkonstruktionen schraubte. – Dieser Hangar war aus Beton. Ein scharfkantiger, bemooster Koloß, vorne offen, aber reichlich zwanzig Meter hoch und fünfzig Meter lang. Tausende von Tonnen Beton mußten hier verbaut worden sein. Urban entsann sich eines Berichtes, wonach amerikanische Atombombenträger über den Atlantik nach Frankreich geflogen worden waren, damals, 1945, um notfalls in Deutschland die Lichter nuklear auszublasen. Zum Glück hatte „das Reich“ den Widerstand früher eingestellt als Japan. So war die erste Bombe auf Hiroshima und nicht auf Berlin gefallen. Aber die Flugzeugbunker, die die B29 aufnehmen sollten, standen noch immer. Und dann beim Näherkommen, als er auf Sichtweite war und sich Einzelheiten aus dem dunklen Inneren des Bunkers schälten, durchfuhr Urban ein Schauer. Als bestätigten sich in dieser Stunde die At ompläne, sah er im Bunker ein Flugzeug stehen. Eine auch für heutige Verhältnisse noch riesige Maschine. Spannweite mindestens 45 Meter, mit vier Doppelsternmotoren und Vierblattpropellern, groß wie Windmühlenflügel. Im Heck aufragend das Leitwerk, hoch wi e ein Einfamilienhaus Das Flugzeug wirkte wie eine kostbare Antiquität in einem Raum, der auch schon eine Antiquität war. Der Bunkerbeton war grün, veralgt und bemoost und von Efeu überwuchert. Vom Duraluminium der Flugzeugaußenhaut war an vielen Stellen der Nitrolack abgeplatzt. Es sah aus, als habe sie die Motten, aber der Fachmann erkannte sofort den hervorragenden technischen Zustand. So gab es keine Ölflecke unter dem Rumpf, die Reifen der Fahrwerke waren prall aufgepumpt, die Scheiben der Cockpitverglasung blank geputzt. 107
Die große Antenne, die schräg nach hinten lief, hatte man frisch verdrahtet. Sie schimmerte hellsilbrig. Urban hielt im Schrittempo auf den Bunker zu. Bis an den Rand der Brutalität hatte er gehen müssen, um es bis hierher zu schaffen. Aber was für ein Geheimnis dieser Ort barg, das hatte er nicht erfahren. Da auch von dem Mann im Fond keine Auskunft zu erwarten war, beschloß Urban, es auf seine Weise zu machen. Er umrundete den Bunker, umrundete das weite Rollfeld und lenkte dann wieder, weil er keinerlei Hinweise entdeckte, zum Hangar zurück. Dort stand die „Superfortress“, der größte und beste Bomber des Zweiten Weltkrieges, wie ein Denkmal vergangener Technologien. Aber so sehr vergessen wie alles andere hier war sie nicht. Urban kurbelte die linke Scheibe ab und betrachtete das Fahrgestell. Auf den Schmiernippeln glaubte er Spuren von frischem rotem Stauffer-Fett zu sehen. Die Gelenke von Fahrwerkbeinen und Abdeckklappen waren durch Spray gängig gemacht worden. – Was hatte man mit diesem alten Atombombenträger vor? – Er mußte es herausfinden. Er fuhr mit dem flachen CX unter dem Rumpf hindurch, stoppte, stellte den Motor ab und deutete auf den offenen Einstieg. „Ich kann Sie fesseln, Monsieur, oder bitten, mit mir zu kommen. Fesseln ist unter Ihrem Rang, denke ich, also werden Sie sich bequemen auszusteigen.“ Einen Mann wie diesen zu fesseln mochte herabwürdigend sein, aber ihm die Augen zu verbinden, würde er hinnehmen. Wenn man es richtig machte, wirkte es ebenso wie eine Fesselung. Urban öffnete die Bordapotheke des Citroen, drückte seinem Begleiter auf jedes Auge den Mull eines Verbandpäckchens und befestigte diesen mit meterlangem Heftpflaster. Er half ihm heraus und über die Aluleiter ins Innere der B-29 Superfortress. 108
Meist konnte er mit geschlossenen Augen feststellen, wo er sich befand. Der Geruchssinn war gut entwi ckelt bei ihm. Eine Molkerei von einer Tankstelle zu unterscheiden war leicht, auch zwischen einer Apotheke und einer Bäckerei gab es kaum Probleme. Und dies war zweifelsfrei eine flugklare B-29 und kein Unterseeboot. Urban erinnerte sich, daß eine B-29 mit acht Mann Besatzung geflogen worden war. – Natürlich war keiner an Bord, aber es gab noch die Sessel und Sitze für die ferngesteuerten Waffenstände. In so ein Gestell nahe der Flügelwurzel drückte Urban seinen Begleiter und schnallte ihn sachgerecht fest, nicht ohne die Gurte extra zu verknoten. Der obere Rumpflängsgang bekam fahles Licht durch die Panzerglasscheibe am Cockpitschott. Urban wandte sich nach hinten dem Heck zu, denn es mußte noch etwas geben in diesem Oldtimer der Luft. Wo sonst kämen gewisse Geruchsbestandteile von menschlicher Ausdünstung, wie man ihnen in Straflagern begegnete, her? Er wand sich durch die Lochspanten, stieg über schenkeldikke Bündel von Kabelsträngen und Hydraulikleitungen, zwängte sich zwischen einem Hilfsgenerator und einer gummierten Segeltuchfläche vorbei – vermutlich handelte es sich um einen Zusatztank. Der Tank war zu zwei Dritteln gefüllt. Der untere Teil wölbte sich bauchig heraus. Die Amerikaner hatten in ihren schweren Langstreckenbombern schon damals diese beschußsicheren, selbstschließenden Tanks benutzt, mit zwei Daumen dicken Wänden aus Schichten von Kautschuk und Nylon. Der Kegel seiner Halogen-Kugelschreiberlampe erfaßte eine Bodenöffnung. Steigeisen führten hinab in den Bombenschacht, einen mächtigen Hohlraum zur Aufnahme von maximal zehn Tonnen Tod und Verderben. In so einem Schacht hatte am 6. August 1945 die Atombombe gelegen, die Colonel 109
Tibbet über Hiroshima gezündet hatte. Doch in diesem Bombenschacht hing kein Nuklearsprengkörper. Auf den Gitterblechen, direkt über den Klappen, lagen fünf Teppichrollen in Mumiengröße. Und so verpackt wie Mumien schienen sie auch zu sein. Erst auf den zweiten Blick erkannte man, daß es sich um zu Bündeln geschnürte Männer handelte. Alle hatten sie fahle, knochige Gesichter mit grauen und we ißen Bartstoppeln. Sie atmeten flach. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie reagierten nicht auf Licht, auch wenn der Kegel unmittelbar ihre Pupillen traf. Sie starrten irgendwohin. Zwe ifellos hatte man sie per Injektion in diesen Zustand versetzt. Daß dies die Männer aus dem Raumschiff waren, Wissenschaftler wie Mallory und Coburg, die vermißten Professoren, war Urban sofort klar. Er rief ihre Namen: „Velasquez, Santos, Porvocic, Korzew, Shinor…!“ Mein Gott, dachte er, sie sind dem Tode näher als dem Leben. – Aber ohne Gegenmittel war der Schirm der Narkose nicht aufzubrechen. Helfen konnte hier nur ein Arzt, ein Rettungswagen, eine fahrbare Intensivs tation. Er kletterte nach oben, wo er den Rumpfeinstieg für den Funker gesehen hatte. Doch die Klappe war jetzt zu. Überlegend, daß sie vor wenigen Minuten noch offenstand, hastete Urban nach vorn durch und schlug sich im Dunkeln irgendwo blutig. Haut fetzte von seinen Fingern, ein halber Nagel blieb an einem Aggregat zurück. Er stolperte in den Schacht zur Bodenluke, setzte den Fuß schon auf die Aluminiumsprosse, da vernahm er ein Zischen, wie es entstand, wenn Hydraulik unter Druck gesetzt wurde. Das Zischen nahm zu, etwas schien sich in einem Scharnier zu bewegen. Er ließ sich fallen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß er zum Gefangenen der B-29 wurde. 110
Mit gongartig hallendem Ton schlug im selben Moment die Klappe dicht. Und dann eine Stimme, die einer Frau, aber stahlhart: „Guten Tag, meine Herren!“ Diese verdammte Stimme, woher kannte er die? Sie kam ve rzerrt wie aus einem Computerchip, aber… „Im Namen von Captain Nobody und seiner Crew…“, ging die Ansage weiter. Captain Nobody, durchfuhr es Urban, Kapitän Niemand. Er hastete nach oben. „Im Namen von Captain Nobody und seiner Crew begrüße ich Sie an Bord der Boeing B-29 Superfortress und gratuliere Ihnen, daß Sie sich für unsere Fluglinie entschieden haben. Ganz besonders freuen wir uns über die Anwesenheit von Mister Dynamit.“ Urban hatte wieder den Längsgang erreicht und wandte sich nun der Cockpittür zu. Sie war verschlossen. Durch die Panzerglasscheibe konnte man nach vorne blicken in das ganz normale Cockpit eines viermotorigen Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg. Schmale Fenster, links und rechts hinter einer Vielzahl von Instrumenten auf mehreren Konsolen bis hinauf zur Decke. Die Sessel der Piloten, davor die Steuersäulen, die Querruderpedale, dann die Gashebel, die Trimmräder, Kompaß-, Funk-, Navigationshilfen und Dutzende von Kontrollanzeigen. Anschließend dann der Sessel des Bordmechanikers, drüben der des Funkers, die Ecke für den Navigator mit der kleinen Glaskuppel darüber zum Sterneschießen. Aber keine Menschenseele hatte das Cockpit besetzt. Trotzdem glühten bei den Instrumenten eine Vielzahl von Lichtern auf. Nebenaggregate summten, Treibstoffpumpen seufzten. Sirrendes Rasseln leitete die Tätigkeit eines Anlassers ein. Die riesenhafte Vierblattverstellschraube des inneren Doppelsternmotors begann sich zu drehen, rotierte schneller. Unre111
gelmäßiges Puffen, Zündung. Der erste Wright-Cyclon-Motor lief und nahm Drehzahlen auf. Die „Superfortress“ begann zu vibrieren. Und erneut die Stimme der nicht vorhandenen Kabinenstewardeß: „Der Flug wird Sie in einer Höhe von neuntausend Metern auf den Atlantischen Ozean hinausführen. Unser Ziel wird ein Planquadrat auf fünfzig Grad Nord und zwanzig Grad West sein, etwa auf der Verbindungslinie zwischen Island und Westafrika.“ Mittlerweile lief jetzt der dritte der vier 2200-PS-Sternmotoren. Urban hämmerte gegen das Cockpit. Mehr als das konnte er nicht tun. Drinnen bewegten sich ferngesteuert die Gashebel sowie die Gemischverstellhebel. Alles, was Piloten vor dem Start tun mußten, geschah hier wie von unsichtbaren Geisterhänden ausgeführt. Was zum Teufel war das für eine Kiste? Urban ahnte Schlimmes und fand es bald bestätigt. „Dieses Flugzeug wird, wenn es seine Position tausend Kilometer vom Kontinent entfernt erreicht hat, einen weiten Kreis beschreiben und seine letzte Funktion erfüllen, nämlich die eines Zielflugzeugs.“ Jetzt liefen alle vier Motoren. Das Zittern des Rumpfes ging über in ein hochfrequentes Vibrieren. Der Bomber setzte sich in Bewegung. Erst langsam, dann schneller rollend, verließ er den Bunkerhangar. Und noch einmal diese quälende Stimme: „Gentlemen, Sie befinden sich an Bord einer Zielmaschine des Testgeländes der VERV, der Vereinigten Europäischen Raketen-Versuchsanstalten. Wir testen heute, mit Ihnen als Sachverständigen, unsere neue Boden-Luft-Rakete vom Typ ,Radikal’ mit kombiniertem Infrarot-TV-Radarsuchkopf und einer Reichweite von achthundert Meilen. – Wir wünschen Ihnen einen guten Flug…“ 112
Ins Jenseits. – Die Augen dicht am Panzerglas, sah Urban jetzt die Frau, die zu ihnen gesprochen hatte. Mit einem Team weißgekleideter Techniker stand sie vor dem Hangar in der Sonne. Sie hatte noch das Mikrofon in der Hand. – Und es war Myrna Ziegler. Urban wußte schon eine ganze Menge von den tieferen Zusammenhängen. Vor allem wußte er, daß er zu spät dran war. Aber als er den Burschen neben Myrna erkannte, begriff er so gut wie alles. Spencer, der kurzsichtige Haftschalenträger aus dem Bürolift des Club of Rome, hatte seinen Arm um Myrnas Schultern gelegt. Spencer war also die undichte Stelle im Club of Rome und nicht der Vizepräsident McGovern, der sich angeblich in Sidney das Leben genommen hatte. Spencer hatte ihn, diskrete Hilfe vortäuschend, auf die Yacht „Cosmos“ gelockt und ihm dann, als es nicht we iterging, die WOLF-Adresse zugespielt. Aber Myrna? Wie hatte sie in Lohn und Brot von WOLF treten können? Angefangen hatte es wohl schon im Kaisergebirge. Ihre Verletzungen rührten nicht von dem Sturz über den Brunnentrog her, sondern von einem Besuch jener Männer, die im Lehm steckengeblieben waren, halb oben am Berg. Sie hatten Myrna bedroht und sie, womit schon – mit Geld natürlich – auf ihre Seite gebracht. Daß man zugelassen hatte, daß sie mit ihm nach Rom flog, obwohl dort ein Seil gespannt war um ihn zu skalpieren, war gewiß auf einen Kommunikationsfehler innerhalb von WOLF zurückzuführen. Jetzt paßte alles zusammen. Auch die vorgeschützte Übelkeit, um nicht mit auf die Yachtparty zu müssen und die Entführung, um ihn in eine Falle zu locken. Rechtzeitig hatte man die Plumpheit des Versuchs erkannt und ihn gleich in die Zentrale dirigiert, wo der Shaoka ihn erwartete. Urban fragte sich nicht, wie es dem Shaoka wohl ging, jetzt ging es nur noch darum, daß es für ihn und alle anderen an Bord verdammt schlecht aussah. 113
Er versuchte die Panzerglasscheibe in der Cockpittür zu zertrümmern. Ihr Klirren schien ihn nur auszulachen. Dann entdeckte Urban am Drehknopf etwas Ungewöhnliches. Ein gepanzertes Kabel, vom Standpunkt der Flugtechnik völlig sinnlos, führte durch das Schlüsselloch heraus zu einem ebenfalls gepanzerten Kasten links am Aluspant. Dort war der Kasten eingeklemmt. Oben hatte man einen roten Blitz aufgemalt und mit noch nicht trockener Ölfarbe geschrieben: Vorsicht explosiv! Diese Schweine hatten die Cockpittür auch noch mit Sprengstoff abgesichert. Urban mußte aber hinein. Wenn es je eine Chance gab, dann nur im Cockpit. Dort gab es Funk und vielleicht eine Zugriffsmöglichkeit zu den Steuersystemen. Indessen rollte die B-29 an der Startmannschaft vorbei. Ihre Gesichter waren die von Mechanikern und Ingenieuren, die sich um alle Dinge jenseits der Technik einen Dreck scherten. Für sie war es wichtig, daß die Maschine heil in die Luft kam, möglichst schnell das Zielgebiet erreichte und daß sie ihre verdammte „Radikal“ starten konnten. Einer der Ingenieure trug eine Art Bauchladen an Gurten befestigt. Aber er verkaufte nicht Schokolade oder Zigaretten. Das Ding hatte Ähnlichkeit mit einem Fernsteuergerät für Modellflugzeuge. Aus dem Pult liefen mehrere Kabel heraus, zu einem Generator und zu einem Antennenmast. Zweifellos wurde von diesem Mann über sein Commando-Tape die „Superfortress“ gesteuert. Ein letzter Blick auf Spencer und Myrna. Sie konnten ihn nicht sehen. Die Scheiben der B-29 waren stark getönt, und im Inneren herrschte Dämmerlicht. Das verzeihe ich dir nie, du Kanaille, dachte Urban. Im selben Moment mußte er über seine Reaktion lächeln. Was störte sie der Zorn eines Mannes, der nur noch zwei Stunden zu leben hatte. 114
Wie einem unsichtbaren Follow-me-Wagen folgend, überquerte die „Superfortress“ mit orkanartig dröhnenden Motoren das Vorfeld, schwenkte draußen auf die Piste ein und erreichte nach etwa vier Minuten deren südliches Ende. Schwankend wurde sie durch Betätigen von Bremsen und Vollgas auf die Backbordmotoren gedreht, bis sie Startposition eingenommen hatte. Der Wind stand ihr aus 355 Grad fast ins Gesicht. Daraufhin schien die B-29 noch einmal in Konzentration zu verharren, ehe sie ihre 9000-PS-Muskulatur losschnellen ließ. Der Propellerwind legte nicht nur das hohe Gras flach, er ließ auch den alten Nitrolack, den hellen von der Rumpfseite und den erdfarbig tarnenden vom Rumpfrücken, abblättern. Korrekt wie im Schulbuch wurden die Motoren hochgejubelt und abgebremst. Offenbar hatte alles seine Ordnung: Ladedruck, Öldrücke, Ölkühler, Hydraulik, Elektrik, Kompaß sowie das ganze Fernsteuerungssystem. Nach kurzem Atemholen brauste der Orkan los. Startleistung auf vier Doppelsternmotoren. Das war wie in einer Loge mitten im Taifun. Die „Superfortress“ rollte an, legte los, wurde schneller, beschleunigte wie ein Automobil auf schlechter Straße, hörte aber bei 150 noch längst nicht auf damit. Präzise wurde sie auf Richtung gehalten. Jetzt hob sich der Schwanz, die Maschine wurde weicher. Der Auftrieb, die Klappen und Vorflügel als Hilfen, wirkte. Die Trimmung arbeitete, ein kleiner Sprung, zurück zur Erde. Dann ein neuer Sprung und abheben. In sanfter Kurve seewärts zog sie hoch. Fahrwerk ein, Klappen zurück. Motoren in Steigleistung und dann das ruhige Gleiten im Luftraum. Urban konnte sich nicht damit abfinden, daß er so dasitzen sollte bis zu der Sekunde, an der die Rakete anflog und ihn und die sechs anderen in Fetzen riß. – Er konnte es sich nicht vo rstellen. Wolkenhaufen zogen vorbei. Die Sonne prallte ins Cockpit. 115
Voraus die Küste, das Meer. Höhe 3 000, schätzte Urban. Eine fast leere „Superfortress“ stieg ziemlich schnell. Er suchte nach einem geeigneten Instrument, nach irgendeiner Gerätschaft. Überall in solchen Bombern gab es Beile, Pickel, Sägen, um sich notfalls durch die Aluminiumhaut zu schlagen. – Er fand nur einen Schraubenschlüssel, allerdings einen schweren 38er. Wütend hämmerte er damit auf die Panzerglasscheibe zum Cockpit los. Es war so sinnlos, wie aus einem Felsen der Sahara Wasser pressen zu wollen. Und in die Schlüsselfuge kam er auch nicht hinein. Dort saß der Zünder der Sprengvorrichtung. Wahre Teufel hatten sich das ausgedacht. 14. Nimbuswolken am Horizont künden Wetteränderung an. – Kein Schiff – keine Insel. – Schmutziggrünes Wasser, so weit das Auge reicht. – Östlicher Mittelatlantik. Bordzeit 11 Uhr. – Warum sollte die Uhr im Cockpit anders ticken als seine Rolex. Urban hatte nicht aufgegeben. Mit einem Stück harten Draht aus der Feder einer SteuerseilUmlegrolle, spitz am Ende, versuchte er es. In die Fugen des gepanzerten Sprengkastens griff sie nicht. Aber es mußte eine Stelle geben. Es gab immer eine. Oben am Zündkontakt in der Tür wagte es Urban nicht. Also versuchte er es, wo das Kabel in die Zündbox mündete. Dort gab es eine schwarze Gummimuffe. Die konnte er eindrücken. Dadurch lockerte sich das Ganze. Er wühlte weiter, bog den Draht ab, versuchte es oben herum und unten herum. Das Ding glitt hindurch wie durch Knetgummi. Aber einmal fand er Widerstand. Urban gab Druck, nicht allzuviel. Wenn er einen Kabelstrang abriß, explodierte todsicher die Box mit all dem Sperpex-Dreck darin, gegen das herkömmliches TNT wie Eier116
schaum wirkte. Der Widerstand fühlte sich plötzlich hart an, wurde seitwärts beweglich. Er drehte den Draht nicht weiter, sondern holte ihn zurück. War ja egal letzten Endes, ob sie jetzt in Fetzen gingen oder in einer Stunde. Mit dem Drahtende kam noch etwas ans Licht, das in einer weißen Klemme steckte. Er hatte die Federsperre erwischt, und das Ding war offen. Jetzt fragte sich, welches Kabel dasjenige war, das die Gefahr bannte, und welches die Zündung auslöste. Urban fing an zu rechnen, sich Schaltpläne vorzustellen, schließlich war er studierter Dr. Ing. Er zählte durch wie ein Lehrling im Installationsgewerbe: Rot, grün, blau, gelb, Erde. – Zum Teufel, was war das für ein Relais? – Er riß ein Blatt aus dem Notizbuch und schob es vorsichtig zwischen die Platinkontakte. Jetzt konnten die feinen Zähnchen zubeißen, Stromübergänge würden sie nicht mehr herstellen. Und dann versuchte er es an dem erdbraunen Kabel. Kaum war es aus dem Deckel, schnarrten die Relais. Ohne das Notizblatt dazwischen wären sie jetzt in einem Feuerball zur Erde gefahren. Der Rest war Routine. Als die Höllenmaschine sterilisiert war, riß Urban das Panzerkabel aus dem Schloß und brauchte noch etwa so viel Zeit, bis die 575 Stundenkilometer schnelle B-29 sechzig Meilen zurücklegte, um das Schloß zu knacken. Als er im Cockpit stand, war er schweißnaß. Dann hörte er verdächtiges Zischen. Etwas gaste aus einer Düse. Verdammt, diese Künstler hatten, um sicherzugehen, auch noch Tränengasflaschen deponiert. Er preßte das Taschentuch vor die Nase und griff sich das Mikro des Funkgerätes. Drei Knebelschalter nach unten, und es war in Betrieb. Aber das Gas trieb ihn hinaus. Er zog das Mikro am Kabel mit und schloß die Tür bis auf Spaltbreite. Drinnen strömte das Gas. Was er abbekommen hatte, führte zu minutenlangem Hustenreiz. Endlich drückte er die Mikrotaste und begann zu rufen: 117
„Hier B-29! Passagier Urban. – Hören Sie mich?“ Er rief pausenlos. Ohne Reaktion. Aber er hatte so laut in das Mikro geschrien, daß der Mann im Sitz bei der Maschinenkanone es mitbekommen hatte. „Suchen Sie die Frequenzeinstellung eintausendnull-vierzig“, sagte er. Urban wunderte sich keineswegs über die Kenntnisse dieses Herrn, sonst hätte er ihn nicht mitgeschleppt bis hierher. Er zog sein Jackett aus, band es unter den Augen um Mund und Nase, tastete zurück ins Cockpit und stellte die Frequenz ein. Als er wieder draußen und einigermaßen klar war, versuchte er es erneut, abermals ohne Erfolg. Entmutigt ließ er das Mikrofon fallen. Nach seiner Berechnung würden sie binnen kurzem das Zielgebiet erreicht haben. – Verdammte Scheiße! fluchte er innerlich. Mit einemmal vernahm er ein Quäken, eine Stimme. Sie kam aus dem Mikro. Es war als Lautsprecher geschaltet, sobald man die Taste losließ. „Bodenstelle an Zielmaschine“, hörte er. „Sie mögen sich Zugang zur Funkstation verschafft haben, trotzdem sind Sie ohne Chance.“ Ehe er etwas erwidern konnte, wurde auf dem fernen Festland abgeschaltet. Der Mann mit den verbundenen Augen sagte: „Sie werden das Programm durchziehen gegen Gott und die Welt.“ Er schien die Gaben eines Hellsehers zu besitzen. Wenig später eine neue Stimme aus dem Mikro-Lautsprecher: „Rakete eins auf Abschußgestell! Volle Funktion!“ „Koordinaten einspeichern!“ 118
„Zielkoordinaten auf Drei-D-Radar!“ „Objekt in zwo -zwo-neun Grad!“ „Gesichert!“ „Distanz elfhunderttausend!“ „Grün!“ „Abschuß in sechzig…“ Einer zählte rückwärts. Bei neunundvierzig gab es noch einen Stopp. Nur wenige Sekunden, weil der Raketenmotor eine Störung anzeigte. Offenbar nur ein Fehlimpuls in der Telemetrie. „Lage null. – Kreisel auf zwanzigtausend U/min.“ Die völlig neuartige Waffe mit dem Plasmaaggregat wurde wieder startklar. „Alle Systeme go!“ „Zwanzig… fünfzehn… zehn…“ Urban hörte den Mann im Kanonensitz murmeln. „Sie hat dreifache Schallgeschwindigkeit. Wissen Sie, was das heißt?“ „Ja, sie kann in achtzehn Minuten hier sein.“ „Sie halten sie nicht auf.“ „Fünf… vier… drei… zwei… eins… zero…“ „Abgefeuert!“ bestätigte der Mann an der Lafette, „Jungs, ist das ein Start! Wau und weg!“ Urban ließ sich zu Boden gleiten, steckte sich eine MC an. Vielleicht die Letzte seines Lebens. Denn wenn ein tödliches Projektil so problemlos aufstieg, dann flog es meist auch ebenso problemlos, fand sein Ziel und zerstörte es. „Was sagen Sie jetzt, Mister Yamamuto?“ fragte Urban höhnisch. „Die Rakete ist fabelhaft.“ „Ich meine die Tatsache, daß Sie mit im Ziel sitzen.“ „Eines Tages mußte es dazu kommen“, entgegnete der Japaner, ohne zu lächeln, aber auch ohne weinerlichen Ton, „wenn man gefährlich lebt.“ 119
Doch Urban war nicht gewillt, es so hinzunehmen. No, Sir, so durfte es nicht enden. Er packte das Mikrofon. „Zielflugzeug an Bodenstelle!“ rief er. „Es dürfte Ihnen entgangen sein, wer sich hier an Bord befindet. Außer den fünf Professoren des Club of Rome und meiner Wenigkeit ist hier noch als Gast Mister Yamamuto.“ Nach kurzer Stille schallte ihm Gelächter entgegen. „Yamamuto, wer ist das?“ „Der Präsident von WOLF.“ „Und was ist WOLF? Ein Vogel?“ Genau das war es, was den Japaner wütend machte. Die Mißachtung seiner Persönlichkeit. „Geben Sie mir das Mikrofon!“ schrie er. Das Kabel reichte nicht bis zu ihm hin. Urban schnallte ihn los. Doch da hatte die Bodenstelle schon wieder abgeschaltet. Etwa acht Minuten später verließ die „Superfortress“ ihren Kurs, der bis jetzt ziemlich genau West gelegen hatte. Sie beschrieb eine weite Kurve nach Süden. Die Scheibe der Cockpittür war zwar noch beschlagen vom Dunst des Reizgases, aber die Druckflaschen hatten sich längst entleert. Urban band sich wieder Stoff um das Untergesicht und ging beherzt hinein. Diesmal zwängte er sich in den linken Sitz, den gewöhnlich der I-Pilot einnahm, und versuchte, die Steue rsäule zu beeinflussen. Doch gegen die Kraft des Hydraulikzylinders und sein Gestänge kam er nicht an. Aber auf irgendeine Weise mußte die Fernsteuerung abzustellen sein. Er versuchte es an allen Schaltern, die ohne Bezeichnung und aus der Norm waren. – Ohne Erfolg. Was tun sie, überlegte er, wenn ich jetzt die Motoren droßle? Was passiert dann? – Er packte die vier langen Hebel mit den roten Holzknöpfen. 120
Kaum hatte er sie auf weniger Gas geschoben, kamen sie wie von Geisterhand bewegt wieder zurück. Er trat Querruder, es fühlte sich an wie betoniert. Er fuhr Klappen und Fahrwerk. Lampen blinkten auf und zeigten Fehlfunktion an. – Dieses verdammte System war x-mal abgesichert. Aber ohne Druck auf die Hydraulik ging nichts, und die war von Pumpen abhängig. Pumpen wurden von Motoren angetrieben, die Strom brauchten. Stromerzeuger wiederum bekamen ihre Kraft von Hilfsmotoren. Und die liefen nicht ohne Benzin. Er verließ den Pilotensitz, tastete nach hinten, wo die Stromerzeuger summten. Zur Not ging es auch ohne sie. Die B-29Motoren hatten ihre eigene Zündstromanlage. Urban riß die Kabel aus den Relaiskästen, drehte Handräder an Treibstoffleitungen. Die Hilfsmotoren begannen zu stottern. Doch im Cockpit noch dasselbe Gefühl, einem unsichtbaren Überlegenen hilflos ausgesetzt zu sein. – Nun nahm sich Urban den Steuerbordgenerator vor. Noch ehe er wieder im Cockpit saß, meldete sich eine Stimme im Funk. „Die Telemetrie zeigt uns an, daß Sie die Fernsteuerung außer Betrieb setzten. Aber der Rakete werden Sie nicht entkommen. Das Ziel ist erfaßt, Entfernung noch zweihundert Kilometer.“ Da entriß Yamamuto ihm das schwarze Mikrofon. „Hier Yamamuto!“ „Das kann jeder behaupten.“ „Kennen Sie den Notcode, Mann?“ „Es gibt keinen Notcode, Sir.“ „Dann geben Sie mir den Leitenden Testingenieur, Dr. Forbringer!“ „Der ist nicht im Bunker, Sir.“ „Wenn er in einer Minute nicht da ist, wird meine letzte Anweisung lauten, Sie zu vernichten, Mann!“ 121
Stimme und Diktion beeindruckten wohl den Techniker. Er brachte den Testleiter ans Mikrofon. „Hier Yamamuto! Hören Sie, Forbringer! – Man hat mich hier als Geisel an Bord gebracht. Was immer geschehen mag, wenn ich sterbe, fliegt alles auf. Ich bin ein erfahrener Mann der Wirtschaft. Bei meinem Notar in Tokio liegt Aktenmaterial, das für WOLF verheerende Folgen haben dürften, wenn es bekannt wird. Also unternehmen Sie gefälligst was.“ Der Testleiter forderte erst einmal den Code. „Das Wort, Sir!“ Yamamuto blickte Urban an, als sei es jetzt noch gefährlich, einen Mithörer zu haben, doch dann hielt er eine längere Geheimhaltung wohl für lächerlich. „Orkus!“ Der Japaner wiederholte: „Orkus…! Orkus…! verdammt… Orkus!“ Er schrie es lauter, schneller, bis er nicht mehr konnte. „Orkus…!“ Am Ende keuchte er es nur noch. Wieder Forbringer: „Die Rakete liegt auf Kurs, Sir.“ „Wissen wir, sie ist ja schon zu sehen.“ „Wir versuchen sie zu sprengen.“ „Wehe, wenn es euch nicht gelingt“, drohte Yamamuto und wollte Urban das Mikrofon reichen. Der aber saß im Sitz des Piloten und hatte keine freie Hand. Es gab keine Hydraulik mehr, die ihm widerstand. Er brachte die B-29 im Sturzflug aus der gefährlichen Höhe und zog sie auf Nordkurs. Nur im Norden war Land. – Er wußte nur nicht, wie weit der Sprit reichte. Und dann kam die Rakete. Wie ein stromlinienförmiges Wesen aus der Zukunft, lebensfähig im Luftraum wie in der Tiefsee, näherte sie sich mit pfeilspitzem Profil. 122
Urban ahnte es früher, als er es sah. Er fühlte es körperlich, nahm die sich nähernde Gefahr mit allen Sinnen wahr. Und dann heulte sie vorbei, offenbar irritiert durch den veränderten Kurs des Zielobjektes. Die Rakete ging in einem Bogen um die „Superfortress“ herum und kam jetzt von hinten. Die B-29, zwar fünfzig Tonnen schwer, aber mit halber Schallgeschwindigkeit um einiges manövrierfähiger als eine Rakete, beschrieb ebenfalls eine Kurve um dem Suchkopf der Rakete nicht das Infrarot ihrer heißen Auspuffgase anzubieten. Beinah Vierkant, Auge in Auge mit Urban, raste die „Radikal“ nun daher und zog im letzten Augenblick hoch. Das ihr eingespeicherte Programm sah eine andere Zerstörungsform vor und veranlaßte sie zu der erneuten Kursänderung. Inzwischen hatte Urban den Bomber auf 1000 Meter hinuntergedrückt. Aber Rettung bedeutete das nicht. Er konnte die B-29 nicht wassern. Er wollte sich und die Männer an Bord retten. – Alles oder nichts. Noch 500 Meter bis zum Meeresspiegel, aber noch 600 Kilometer bis zu Irlands Küste. Urban hatte am Steuer aller möglichen Fluggeräte, vom Starfighter bis zum Helikopter, gut siebentausend Stunden zugebracht, aber eine Rakete war eine Rakete und folgte ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. – Und dann überlistete ihn die Rakete durch einen gerollten Loop und packte ihn von schräg hinten unten und schien sich an seinen Eingeweiden vergreifen zu wollen. Der Rumpf, das war die schwache Stelle der B-29. Hier trafen sich alle Systeme. Yamamuto murmelte im Ton eines Gebetes: „Wenn die TV-Anlage ausfällt, dann arbeitet der InfrarotSuchknopf. Und wenn der nicht reagiert, dann ist es der Magnetsensor, der sie zum tödlichen Biß veranlassen wird.“ „Zu Ihrem speziellen Tigerschlag“, höhnte Urban. Noch einmal gab er Vollgas und zog hoch. Im Augenwinkel 123
sah er die Rakete daherzischen… auf einem weißen Abgasstrahl pendelte sie sich auf die Siegerstraße ein. Letzte Computerkorrektur. Distanz 600. Ja zwei Sekunden bist du tot, dachte Urban. Als der Blitz ihn blendete, dachte er, es sei das Ende. Aber er atmete noch und hörte und reagierte und fühlte. Im Blitz ein roter Kern. Er weitete sich aus, weiß, grau, dunkle Trümmer speiend. Es war nichts Großartiges dabei, wenn sich eine fünfzehn Meter lange Rakete selbst zerstörte. Ein Feuerwerk am Rummelplatz war zweifellos eindrucksvoller. Urban blickte Yamamuto an. „War es das?“ fragte der Japaner. „Das war’s“, sagte Urban. „Aber für Sie fängt es erst an.“ Er stand auf, überließ die B-29 ihrer Selbststeuerung, packte den Japaner und schnallte ihn wieder fest. Dann nahm er Kurs auf Südirland, Sybil Point, Dingle Bay, irgendwo dort würde er schon einen Landeplatz finden oder ein flaches Stück Erde, breit und lang genug. Wenig später zeigte der linke Außenmotor überhöhte Kopftemperatur. Urban drosselte ihn und stellte ihn vollends ab. Pausenlos suchte er irgendeinen Tower zu kriegen, aber das alte Funkgerät brachte nicht die heute im Zivil- und Militärfunkverkehr üblichen Frequenzen. Nach fünfzig Meilen tauchten vor ihnen mehrere schwarze Punkte auf. Es waren Abfangjäger, Starfighter der IRAF. Die Rotten begannen mit dem üblichen Ritual: wackeln mit den Flächen, Fahrwerk ein, Fahrwerk aus. Urban antwortete im internationalen Code. Dieser bedeutete: Ich betrachte mich als abgefangen. Zwei Starfighter blieben neben ihm, einer hinter ihm. Einer setzte sich vor ihn als Scout. Urban weigerte sich nicht, ihm zu folgen. Drüben saßen jetzt die Piloten an den entsicherten Bordwaffen und hatten gewiß keine Ahnung, wie gern er ihrer Auffor124
derung nachkam. Sein Sprit ging zur Neige. Die Rückkehr der B-29 war nicht vorgesehen gewesen. Mit zwei noch halbwegs laufenden Motoren setzte Urban schließlich die B-29 auf eine Absprungbasis der irisch-republikanischen Luftwaffe nahe Killarney. Der Himmel war mit blauschwarzen Gewitterwolken tief verhangen. Die ersten Regentropfen prasselten auf die Haut der B-29, als sie mit vor Hitze knisternden Motoren endlich ausgerollt war und stand. Sie fuhren hinter den Sankas mit den CoR-Experten her. Steifer Nordost pfiff über das Flugfeld. Der Abend kam. Der Wing Commander neben Urban im airforceblauen Rover gab sich, als sei er ausgezeichnet informiert. „Wußte gar nicht“, sagte er, „daß Sie ein Grüner sind, Dynamit.“ „Ich bin kein Grüner“, antwortete Urban, „aber wie sagte doch ein berühmter französischer Maler? Ein Pfund Grün ist grüner als ein halbes.“ Der Commander lachte sich schier tot. Doch dann stellte er plötzlich nüchtern fest: „Aber ein Held sind Sie. Die Welt braucht Helden.“ „Und Verräter“, ergänzte Urban, „denn was wäre der Himmel ohne die Hölle?“ Der Flugplatzkommandeur schaltete die Scheinwerfer ein. Sie erfaßten das elegante Casino. „Meine Boys werden Sie heute mächtig hochleben lassen mit jeder Menge Irishcream.“ „Freut mich“, äußerte Urban, „und wo ist bitte der Waschraum?“ Man zeigte ihm den Weg. Er ging hinein, angeblich um zu duschen. Doch dann verließ er ihn durch das Fenster und zog Leine. ENDE 125