Melissa Crandall
Earth 2
Das Eden-Projekt
Roman
Dieses Buch widme ich Edward, meinem Mann, der meine Welt durch sei...
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Melissa Crandall
Earth 2
Das Eden-Projekt
Roman
Dieses Buch widme ich Edward, meinem Mann, der meine Welt durch seine Unterstützung zu der besten aller Welten macht; Ginjer Buchanan, der Redakteurin, die zum richtigen Zeitpunkt an mich gedacht hat; Tony und Luke Perkins und Anthony, Theresa und Sharri Everett, für die ich mir eine bessere Welt wünsche; Gil, der besten aller Katzen, in memoriam; und Amanda und Duncan, mit dem Ausdruck der Reue und des Bedauerns. Es ist kaum eine Wiedergutmachung, aber dennoch gehört dieses Buch euch.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde: denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Offenbarung 21,1 Ich erschuf die Neue Welt, um das Gleichgewicht der Alten wiederherzustellen. George Canning The King's Message 12. Dezember 1826 Wir müssen eine neue Welt errichten; eine bessere Welt, in der die ewige Würde des Menschen respektiert wird. Harry S. Truman 23. April 1945 Es gilt eine neue Welt zu erobern. John Fitzgerald Kennedy 15. Juli 1960
Prolog Das Jahr 2184 Geduld hatte noch nie zu den Tugenden von Devon Adair gehört. Immerhin hatte dieser Umstand dazu geführt, daß sie eine der eigenwilligsten und karrierebesessensten, aber ganz nebenbei auch eine der bekanntesten und reichsten Frauen der Welt geworden war. Wo immer sie in Erscheinung trat, wurde sie ohne Umschweife als die führende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Entwicklung und Konstruktion von Weltraumstationen anerkannt; und von denen waren mittlerweile ein ganze Menge im Raum zwischen Venus und Neptun verankert. Kurz, es gab wohl keine einzige Tür, die Devon verschlossen blieb, wenn sie ihren Namen nannte, weder auf der Erde noch an irgendeinem anderen Ort im Weltall. Aber all das war im Moment vollkommen ohne Bedeutung. Und sollten sich die Dinge so weiter entwickeln, wie sie es befürchtete, würde sich ihr Leben sowieso von Grund auf ändern. Nichts, absolut gar nichts würde mehr so sein wie vorher. Aufs äußerste angespannt durchmaß Devon immer und immer wieder die volle Länge des Warteraums. Ab und zu setzte sie sich in einen der Sessel, allerdings nur, um schon kurze Zeit später wieder nervös aufzuspringen und erneut auf dem dunkelgrünen Teppich hin und her zu wandern. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, sie schien es keine zwei Sekunden an derselben Stelle auszuhalten. Allerdings ließ sie dabei die Flügeltür am Ende des Warteraums nicht einen Moment aus den Augen. Hinter dieser Sicherheitssperre lag eine eigene Welt aus Untersuchungsräumen, Krankenzimmern und
Diagnosestationen, in die Devon Adair nicht eindringen konnte. Gleich welchen, Einfluß die bloße Nennung ihres Namens überall sonst hatte, zu diesem Heiligtum würde er ihr nicht Zutritt verschaffen. Diese Türen waren das einzige Hindernis, bei dessen Überwindung ihre Position und ihre Macht versagten. Wie inständig sie auch bat und flehte, stritt und forderte, Dr. Vasquez stellte sich auf eine Art und Weise taub, die Devon wahnsinnig machte. Fürs erste zumindest ließ er sie nicht durch diese Tür, so einfach war das. In seinen Augen spielte es keine Rolle, wer sie war und über wieviel Macht und Einfluß sie verfügte. Im Gegenteil, als sie versucht hatte, den Arzt damit unter Druck zu setzen, hatte er sie derart vernichtend angesehen, daß sie den Streit mit ihm verloren gegeben hatte wie ein verzogenes Kind, das sich nach seinen eigenen Spielregeln geschlagen sieht. In der sterilen Abgeschlossenheit dieser Krankenhausstation war es vollkommen unerheblich, welche Rolle sie draußen spielte. Die Selbstverständlichkeit, mit der andere Leute, vor allem das Krankenhauspersonal, durch die Flügeltür kamen und gingen, zerrte noch weiter an Devons Nerven. Einige liefen mit besorgten und frustrierten Gesichtern an ihr vorüber, während andere langsam und gelangweilt durch das Wartezimmer schlenderten und den Eindruck vermittelten, als versuchten sie nur, bis zum Ende ihrer Schicht die Zeit totzuschlagen. Aber im Gegensatz zu Devon besaßen sie alle das Recht, ungehindert durch diese Tür zu gehen. Wenn sie die Besucherin überhaupt beachteten, dann nur, um ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen, in dem manchmal auch eine Spur Mitleid lag. Devon war sich ziemlich sicher, daß man sie nicht deswegen so ansah, weil sie eine bekannte Persönlichkeit war. Nein, diese Blicke wurden ihr aus einem ganz anderen Grund zugeworfen, einem Grund, der wie ein stummer Schrei durch die stillen Korridore des Gebäudes hallte und in Devons Innerstem stumm, aber quälend widerklang. Es gab nur einen einzigen Grund,
warum Devon hier war - warum Eltern überhaupt in dieses Krankenhaus kamen -, und das Wissen darum machte ihr plötzlich in aller Brutalität klar, daß sie von jetzt an eine Paria, eine Ausgestoßene war. Daß heute keine anderen Eltern anwesend waren, mit denen sie über ihre Angst hätte sprechen können, war ihr nur recht. Sie gehörte nicht zu den Leuten, die sich Fremden gegenüber leicht öffneten und ihre Gefühle bloßlegten. Irgendwo hinter diesen großen Türen befand sich Ulysses, ihr Sohn; eingesperrt in einem Untersuchungszimmer, wo man ihn untersuchte und mit Spritzen quälte. Jeder hier konnte zu ihm, nur sie nicht. Diese erzwungene Tatenlosigkeit war grausam und erfüllte Devon mit einem Gefühl der Ohnmacht, das neu für sie war und ihren Lebensnerv mit einer Heftigkeit traf, daß sie vor Verzweiflung laut hätte schreien können. War das der Preis der Macht, daß man sich ihrer ausgerechnet dann nicht bedienen konnte, wenn man sich am hilflosesten fühlte? Allmählich dämmerte es Devon Adair, daß alle Macht der Welt nutzlos war, wenn es um das »wirkliche« Leben ging. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug sich damit auf die Oberschenkel, bis es schmerzte. »Warum ausgerechnet man Kind?« stieß sie atemlos hervor und wiederholte ihre Frage immer und immer wieder, als wären diese Worte ein schutzbringendes Mantra oder ein beschwörendes Gebet. Aber leider gab es keinen Schutz, in dessen Obhut sie sich begeben konnte und der diese furchtbare Bedrohung von ihr nahm. Es gab Leute, die behaupteten, Gott hätte schon vor langer Zeit die Koffer gepackt, sein Haus geräumt und es den Mietern überlassen, für sich selbst zu sorgen. Wenn sich Devons schlimmste Befürchtungen im Hinblick auf Ulysses' Gesundheitszustand bewahrheiteten, dann gab es keinen Grund mehr, warum nicht auch sie genau das glauben und den nicht mehr anwesenden Vermieter für seinen Vertragsbruch verfluchen sollte.
Dabei hatte alles völlig normal begonnen! Ulysses war gesund und widerstandsfähig zur Welt gekommen und erfüllte seine fünfundzwanzigjährige Mutter mit großem Stolz. Dieses Ereignis stellte die Krönung von Devon Adairs bisherigem Leben dar. Doch fatalerweise war das Glück nur von kurzer Dauer. Innerhalb von nur wenigen Tagen erkrankte Uly und wurde immer schwächer. Devon war nicht in der Lage, ihre intuitiv richtige Einschätzung der Situation zu akzeptieren, und versuchte sich einzureden, daß es sich einfach um eine der gewöhnlichen Kinderkrankheiten handelte, die die moderne Medizin immer noch nicht besiegt hatte. Und was machte es schon, wenn sie aus Sorge um ihr Kind ein paar schlaflose Nächte verbrachte? Das taten andere Eltern schließlich auch. Aber es trat keine Änderung in seinem Zustand ein, die Krankheit wurde immer schlimmer, bis Uly schließlich nur noch ein Schatten seiner selbst war, ausgezehrt und winzig. Sie zwang ihn weiterhin in seinen Immuno-Anzug, auch wenn es deswegen regelmäßig Tränen und Wutanfälle gab. Schließlich konnte Devon sich den Tatsachen nicht länger verschließen. »Nur um sicherzugehen« brachte sie Uly zu Dr. Vasquez ins Krankenhaus der Raumstation, in dem die Kinder - und es waren immer nur Kinder - behandelt wurden, die unter dieser merkwürdigen neuen Krankheit litten, die allgemein nur als >das Syndrom< bezeichnet wurde. Aber natürlich litt Uly nicht an dieser Krankheit, er war nur ein bißchen schwächlich, das war alles. »Mrs. Adair.« Obwohl die Anrede völlig ruhig und emotionslos war und man der Stimme anmerken konnte, daß sie darauf trainiert war, nüchtern und sachlich zu klingen, erschrak Devon. Sie hatte weder Fußschritte gehört noch das Geräusch der sich öffnenden Tür. Direkt vor ihr stand Dr. Vasquez. Bei dem Gedanken, daß es einem wildfremden Menschen gelungen war, sie in einem
Moment der Schwäche zu überraschen, errötete sie. Das passierte ihr nicht allzuoft, und wenn, dann haßte sie sich dafür. Einen Blick hinter die Fassade erlaubte sie nur ihren Freunden, und davon hatte sie genaugenommen nur einen einzigen. Falls der Arzt, der einige Jahre älter war als sie, ihre Verlegenheit bemerkt haben sollte, so ignorierte er sie. Er zeigte ihr nur das angestrengte Lächeln desjenigen, der gezwungen ist, selbst dann ein freundliches, zuversichtliches Gesicht aufzusetzen, wenn ihm nicht im mindesten danach zumute ist. Devon bemerkte, daß seine Augen, die sie genau beobachteten, dieses künstliche Lächeln nicht widerspiegelten. Sollte er doch andere mit seinem Grinsen einlullen. Sie war zwar noch jung, aber was Mimik anging, war sie eine Expertin. Sie wußte, wie man ein Lächeln einsetzen konnte, um seine Ziele zu erreichen. Die Augen waren der Schlüssel zu jedem Menschen, sie verrieten die wahren Gefühle. Wenn Dr. Vasquez glaubte, Devon würde auf diese billige Masche hereinfallen, dann hatte er sich getäuscht. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, nicht so verdammt clever zu sein. In ihrer jetzigen Situation hätte es vielleicht ein echter Trost sein können, wenn sie etwas gutgläubiger und naiver gewesen wäre. »Sie ändern nichts, wenn Sie sich selbst schlagen, Mrs. Adair«, sagte er leise und fuhr sich mit der Hand über die müden Augen. Diese Geste verriet mehr über seine Erschöpfung als alle Worte. Devon sprang auf und schlug die Hände vors Gesicht, während sich tief in ihrem Innersten Furcht und Schrecken ausbreiteten. »Oh nein, bitte nicht...« »Beherrschen Sie sich!« fuhr Dr. Vasquez sie in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldete. Devon hatte das Gefühl, als ob ihr die Worte im Hals steckenbleiben wollten und sie daran ersticken müßte. Ob sein Stirnrunzeln Wut oder Anstrengung signalisierte, wußte sie nicht zu entscheiden.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Adair, aber ich habe im Augenblick weder Zeit noch Kraft, Sie mit irgendwelchen Plattheiten zu trösten. Wenn Sie das Bedürfnis haben, sich mit jemandem auszusprechen, kann ich nach einem Therapeuten schicken. Wenn nicht, sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.« Er wartete und beobachtete sie aufmerksam. Devon wurde auf einmal bewußt, daß sie den Kopf schüttelte, ohne recht zu wissen, warum. Dann nickte er und hob einladend einen Arm. »Kommen Sie mit.« Kommen Sie mit. Mehr nicht. Drei Worte, so einfach wie Abrakadabra, und schon war die vorher unüberwindbare Schranke passierbar für sie. Devon mochte zwar kein herzlich willkommener Gast sein, aber Vasquez' Einladung machte sie wenigstens zum geduldeten Besucher. Indem der Arzt die Flügel der Schwingtür öffnete und sie in den angrenzenden Flur führte, kam er Devon vor wie eine Art Moses. Das leise, singende Geräusch der sich hinter ihnen schließenden Tür klang in ihren Ohren wie eine Explosion, verhängnisvoll und dunkel. Und schon bereute sie fast, daß sie überhaupt in diese verborgene Welt hatte eindringen wollen. »Das hier ist die Aufnahme.« Vasquez' Stimme ließ sie wiederum aufschrecken. Devon merkte allmählich, wie durcheinander sie eigentlich war. Mit Mühe konzentrierte sie sich und nahm wahr, daß der Arzt mit ausholender Geste auf einige Büros und den in beruhigenden Farben gestrichenen Arbeitsbereich zu ihrer Linken wies. Hinter einem brusthohen Tresen arbeitete eine Reihe von Angestellten derart konzentriert und geschäftig, daß sich Devon das Bild eines Bienenstocks oder Ameisenhaufens aufdrängte, auch wenn sie beides selbstverständlich noch nie in freier Natur gesehen hatte. Nicht einer von ihnen lächelte bei ihrem Eintreten, nur wenige sahen kurz auf, um Dr. Vasquez zuzunicken oder das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen, die wahrscheinlich so etwas wie ein Lächeln andeuten sollte.
»Rechts geht es zur Beratung.« Vasquez wies mit der Hand auf eine geschlossene Glastür, hinter der sie jemanden, der einen Krankenhauskittel trug - ein Psychotherapeut? -, neben einem Mann sah, der mit gebeugtem Rücken an einem Tisch saß und das Gesicht in den Händen vergrub. Er bewegte sich in stillem Schmerz rhythmisch hin und her, während die Frau, die zu seiner anderen Seite saß, in stummer, ohnmächtiger Wut auf die Wand starrte. »Den Gang runter befindet sich die Physikalische Therapie«, fuhr Vasquez mit dem gleichen unbeteiligten Tonfall fort und zeigte einen Korridor entlang, der den Gang kreuzte, auf dem sie sich gerade befanden. »Ab einem bestimmten Punkt des Krankheitsverlaufs können sich die Kinder nicht mehr richtig bewegen. Wir versuchen zu verhindern, daß ihre Muskeln sich vollständig zurückbilden, und treten dem mit einer apparateunterstützten Bewegungstherapie entgegen, um den Verfallsprozeß zu verlangsamen. Die Übungen bewirken, daß sie zumindest einen kleinen Rest an Kontrolle über ihre Muskeln und ein gewisses Maß an Elastizität behalten. Außerdem ist das gut für ihre psychische Verfassung.« »Die Labors und die Bibliothek liegen an diesem und den beiden parallel dazu verlaufenden Korridoren.« Die Stimme des Mediziners wich tatsächlich niemals auch nur einen Deut von dieser eingeübten, unbeteiligten Eintönigkeit ab. Devon fühlte sich plötzlich daran erinnert, wie ihre Eltern sie im Alter von sieben Jahren einmal mit auf eine Reise zur Erde genommen hatten. »Zu ihrer Linken, meine Damen und Herren, sehen Sie die Freiheitsstatue«, hatte der Fremdenführer enthusiastisch verkündet. »Leider sind aufgrund des sauren Regens nur noch die Füße und der Saum des Gewandes erhalten.« »Der überwiegende Teil der Forschungsarbeit wird in diesem Trakt geleistet«, fuhr Vasquez fort. »Und unsere Ergebnisse werden sofort in die medizinischen Datenbanken des interstationären Netzwerks eingespeist.«
Uly hatte er bisher überhaupt noch nicht erwähnt, nicht ein Wort über seinen Zustand verloren. So wußte Devon immer noch nicht genau, was eigentlich los war. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Beschämt spürte sie, daß sie nicht den Mut aufbrachte, Vasquez direkt darauf anzusprechen, wenigstens im Moment nicht. Noch war sie nicht bereit, die Hiobsbotschaft zu ertragen, daß ihr ganzes Leben, ihre ganze Welt kurz davor stand, auseinanderzubrechen. »Wenn Sie mir bitte hier entlang folgen wollen, Mrs. Adair. Wir werden ...« »Kann ich die Kinder besuchen?« unterbrach sie ihn, ohne genau überlegt zu haben, was sie damit eigentlich bezwecken wollte. Vasquez, der schon vorangegangen war, blieb plötzlich stehen und drehte sich um. Fragend hob er die Augenbrauen und musterte lange und aufmerksam ihr Gesicht, bevor er antwortete. »Warum?« fragte er schließlich ganz ruhig. Mit diesem einen Wort wurde auf einmal die ganze Liebe offenkundig, die er für diese sterbenden Kinder empfand. Und seine Stimme verriet gleichzeitig den Wunsch, sie zu beschützen, wie auch seine Verzweiflung darüber, daß er einen möglicherweise aussichtslosen Kampf gegen die Krankheit führte. Devon fiel keine plausible Begründung für ihren Wunsch ein. Vor allem aber wollte sie nicht, daß ihre Antwort sich irgendwie gleichgültig, dumm oder abgedroschen anhörte. In dem Fall würde Vasquez sie durch das gesamte Krankenhaus schleifen, ohne sie auch nur einen einzigen Blick auf die Kinder werfen zu lassen, dessen war sie sich ganz sicher. Ja, warum wollte sie die Kinder sehen? »Ich weiß nicht«, erwiderte sie ganz offen. »Ich bin neugierig. Ich möchte einfach ...« Ärgerlich über ihre Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, schüttelte sie den
Kopf. Es fehlten ihr die richtigen Worte, die in ihren eigenen, vor allem aber in Vasquez' Ohren aufrichtig geklungen hätten. Devon faltete die Hände und preßte sie zusammen. »Nein, es ist doch noch etwas anderes. Ich will wissen, was ...«, sagte sie leise und zuckte mit den Achseln. Sie fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, das von seinem Lehrer bei etwas Unerlaubtem erwischt wird. »Ich muß wissen, was ... weil Uly ...« In Vasquez' Augen spiegelte sich für den Bruchteil einer Sekunde eine Emotion, die Devon nicht zu deuten vermochte; dann nickte er. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie ehrlich sind, Mrs. Adair. Es gibt eine ganze Menge Leute, die diese Frage nur stellen, weil sie sich davon den gleichen Schauder wie in einer Peep-Show erwarten - einen Blick auf die Freaks werfen und dann wieder mit dem sicheren Bewußtsein verschwinden, wie glücklich sie und ihre Kinder sein können, daß sie das Syndrom nicht haben. So etwas wie Mitgefühl für die betroffenen Kinder zu entwickeln käme ihnen nicht im entferntesten in den Sinn.« Plötzlich lächelte er und sah dadurch geradezu liebenswert aus. »Mir gefällt Ihre Einstellung, Mrs. Adair. Ich würde mich freuen, Sie den Kindern vorstellen zu dürfen. Hier entlang, bitte.« Er drehte sich herum und führte sie durch das wie ein Spinnennetz angelegte Korridorsystem. Devon glaubte ihm, daß er sie gerne mit den Kindern bekannt machen wollte. Und sicher verhielt er sich nicht nur so, weil sie die »richtige« Antwort gegeben hatte. Der Schmerz, den er aufgrund seiner Ohnmacht der Krankheit gegenüber wie eine tonnenschwere Last empfand, schien sich in einen gewissen Stolz verwandelt zu haben. »Sie müssen diese Kinder wirklich sehr gern haben, Dr. Vasquez. Ich meine, abgesehen von der Tatsache, daß sie Ihre Patienten sind, mögen Sie sie als Menschen, nicht wahr?« »Mrs. Adair, ich habe alle meine Patienten gern, und ich bin stolz darauf, das so sagen zu können. Die Anmut und Würde, die diese unendlich geprüften Wesen im Angesicht ihres
Schicksals zeigen, haben mich zutiefst überrascht. Sie haben mich alles über das Leben und den Tod gelehrt. Ich empfinde Ehrfurcht vor ihrer Weisheit und Demut vor ihrer Tapferkeit.« Er blieb vor einer Tür stehen und legte eine Hand auf die Klinke, während er sich zu Devon umdrehte. »Die Kinder sind nicht in Einzelzimmern untergebracht. Da sie ein ungeheueres Bedürfnis nach Gesellschaft haben, haben wir sie in einer einzigen, großen Abteilung zusammengelegt.« »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe ...« »Sie werden es schon noch verstehen«, versicherte er. Nun stieß er die Tür auf. »Treten Sie ein, und lernen Sie meine Freunde kennen.« Der Raum war völlig anders, als Devon ihn sich vorgestellt hatte. Sie hatte eine sterile Atmosphäre erwartet, lange Reihen von Betten, in denen die Patienten still und apathisch vor sich hinschliefen. Statt dessen waren da Farben, überall Farben, das ganze Spektrum eines Regenbogens, so bunt und aufdringlich, daß es beinahe schmerzte. Diese Ausstattung war zuviel für Devons derzeitige Verfassung. Daß in diesem Raum, in dem der Tod allgegenwärtig war, alles so demonstrativ fröhlich und positiv aussah, hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. In dem Saal befanden sich zwölf, vielleicht dreizehn Betten. Sie waren in unregelmäßigen Abständen zu lockeren Reihen zusammengestellt worden. In jedem Bett lag ein krankes, geschwächtes Kind. Ein paar von ihnen waren Kleinkinder wie Uly, andere wenige Jahre älter, aber sie alle mußten ImmunoAnzüge tragen. Nur so, eingehüllt in diese Kokons, hatten sie eine Chance, den Tod wenigstens noch für kurze Zeit hinauszuzögern. Bei diesem Gedanken drehte sich Devon der Magen um. Einen Augenblick lang fürchtete sie, sich sofort, vor den Augen der Kinder übergeben zu müssen. Aber es gelang ihr, sich zu
beherrschen, die Welle der Übelkeit ging vorbei. Wie die meisten hatte auch sie Berichte über diese Krankheit gelesen, Videos gesehen und geglaubt, alles über das Syndrom zu wissen. Aber es war eine Sache, sich darüber in den Medien zu informieren, und eine ganz andere, persönlich mit der Krankheit konfrontiert zu sein. Devon hatte erwartet, daß es auf dieser Station leise zugehen müßte, daß kein Geräusch zu hören sein würde außer dem Flüstern der Atemgeräte, während sie Luft in die keuchenden Lungen der Kinder preßten, die um jeden für sie so kostbaren Tropfen Sauerstoff kämpften. Aber sie hatte sich getäuscht. Die künstlichen Lungen und das schwere Atmen waren zwar tatsächlich im Hintergrund zu hören, aber diese Geräusche wurden von den Stimmen der Kinder deutlich übertönt. Die Kleinen sprachen aufgrund ihrer Schwäche und Atemnot zwar leise, aber sie sprachen miteinander, lachten und sangen sogar, als triebe sie der Entschluß an, keinen Tag ihres kurzen Lebens zu verschenken. Sie hatten noch lange nicht kapituliert. Und plötzlich begriff Devon, was der Doktor gemeint hatte, als er von dem Bedürfnis seiner Patienten nach Gesellschaft gesprochen hatte. »Hi, Dr. Vasquez.« Das schwache, aber fröhlich klingende Stimmchen gehörte einem etwa siebenjährigen, dunkelhaarigen Mädchen, dessen große braune Augen aus seinem schmalen, beinahe knochigen Gesicht hervortraten. Die Kleine lächelte den Arzt glücklich an, während sie versuchte, das Kopfteil ihres Bettes in die Senkrechte zu bringen, um aufrecht sitzen zu können. Ein ehrliches, herzliches Lächeln lag auf den Lippen des Arztes, als er zu dem Bett des Kindes ging. »Hi, Leslie. Soll ich dir helfen?« »Machen Sie ... Witze?« Das Atemgerät verlieh ihrer Stimme einen blechernen Klang. Zwischen den einzelnen Worten mußte sie Pausen einlegen und nach Luft ringen, um überhaupt
weitersprechen zu können. Es kostete sie unsägliche Mühen, aber offensichtlich war sie genauso entschlossen, sich in ganzen Sätzen zu unterhalten, wie sie unbedingt ihr Bett allein aufrichten wollte. »Ich steh' auf ... und trete gegen das blöde Ding ... wenn es nicht gleich ... funktioniert.« In Anbetracht ihres Zustandes war das wohl kaum möglich. Dennoch gab Leslie nicht auf, sondern drückte weiter auf verschiedene Knöpfe in ihrer Reichweite, bis sich auf einmal das Kopfteil des Bettes mit einem geschäftigen Surren zu bewegen begann und das Mädchen in eine bequeme Sitzposition brachte. »Na also! Ich hab' doch gesagt ... daß ich's schaffen werde.« »Daran habe ich auch nicht eine Sekunde gezweifelt, Les«, antwortete der Arzt aufrichtig. »Du hast mehr Willenskraft in deinem kleinen Finger als die meisten Menschen in ihrem ganzen Körper. Wie geht es dir heute?« Während er mit ihr plauderte, betrachtete er sie mit einem prüfenden Blick. Manch anderer hätte sich bei so einer Untersuchung unwohl gefühlt, aber ihr schien das nicht das mindeste auszumachen. »So wie immer. Husten ... das übliche.« Leslie zuckte mit den Schultern. Offenbar hatte sie keine Lust, darüber in Gegenwart einer Fremden zu reden. Als sich Vasquez auf ihr Bett setzte, hielt sie ihm ihre Hand hin, aber so, daß er die Daten auf dem Display an ihrem Handgelenk nicht lesen konnte. »Könnten Sie noch mal ... meinen Puls ... fühlen? ... So wie die Leute es ... früher gemacht haben? ... Das war wirklich ... toll!« »Hat dir das gefallen? Dein Wunsch ist mir Befehl.« Seine Finger umschlossen vorsichtig ihr Handgelenk, während er auf seine Armbanduhr schaute. Devon hatte diese Methode der Pulsmessung noch nie erlebt. Neugierig trat sie einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Sofort heftete Leslie wieder ihren aufmerksamen Blick auf sie. Noch nie war Devon von jemandem derart erbarmungslos gemustert worden.
»Sind Sie die Freundin von Dr. Vasquez?« fragte das Mädchen plötzlich ganz unverblümt und ließ ihre Blicke zwischen den beiden auf eine Art und Weise hin und her schweifen, die Bände sprach. Der Arzt reagierte gespielt beleidigt. »Hey! Ich dachte, du bist meine Freundin!« Sie lachte, und ihre blassen Wangen überzog ein rötlicher Schimmer. »Sie sind doch viel zu alt, Dr. Vasquez!« »Autsch. Das hat gesessen«, wimmerte er. »Schönen Dank für den Wink mit dem Zaunpfahl. Ob ich dich mit zur nächsten Fete nehme, muß ich mir noch mal schwer überlegen.« Devon lächelte das Mädchen an und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Devon Adair.« Falls sie erwartet hatte, das Mädchen würde auf die Nennung ihres Namens mit dem gleichen Respekt reagieren wie die meisten Menschen, hatte sie sich getäuscht. Leslie warf lediglich einen Blick auf die ihr entgegengestreckte Hand, machte aber keine Anstalten, sie zu schütteln. »Hi«, antwortete sie leichthin, beinahe herablassend. Dann musterte sie noch einmal Devons Gesicht, um sich schließlich wieder Vasquez zuzuwenden. »Haben Sie ... irgendwas ... von meinen Eltern ... gehört?« Der Ernst in ihrer Stimme stand in eigenartigem Gegensatz zu der Fröhlichkeit, mit der sie noch eben mit dem Arzt herumgealbert hatte. Ihre Augen hatten sich verdüstert, um ihren Mund lag ein regelrecht verkniffener Zug. Aus Vasquez' Blick sprach Bitterkeit. »Noch nicht, Kleines. Vielleicht melden sie sich ja morgen.« »Ja, vielleicht morgen«, stimmte Leslie lustlos zu. Das Glänzen, das seit Vasquez' Eintreten in ihren Augen gelegen hatte, war vollkommen verschwunden. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und ließ durch einen Knopfdruck das Bett wieder in die Waagerechte sinken. »Ich glaube ... ich sollte mich ... ein bißchen ausruhen ... und dann ...«
Leslie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment war vom anderen Ende des Zimmers her ein hoher Pfeifton zu hören. Unter den Kindern herrschte plötzlich absolute Stille, während aus allen Richtungen Krankenschwestern und Ärzte herbeieilten, fast lautlos auf den weichen Sohlen ihrer Stoffschuhe. Leslie hob spöttisch die Augenbrauen. »Sieht so aus ... als ob Evan ... es endlich ... geschafft hat«, flüsterte sie. »Hat der Junge ... ein Glück.« Sie warf noch einen Blick auf das Bett am anderen Ende des Zimmers und die Gruppe von Menschen, die sich jetzt darum versammelt hatte; dann drehte sie sich auf die andere Seite und tat so, als ob sie schliefe. Devon schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich verstehe nicht... Was ist denn passiert?« Vasquez gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie schweigen solle. Dann nahm er ihren Ellbogen und schob sie quer durch das Zimmer auf den Flur hinaus. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ließ er ihren Arm los. Schockiert bemerkte sie, wie alt und grau er auf einmal aussah. Tränen standen in seinen Augen. »Dr. Vasquez!« rief sie erschreckt. »Geht es Ihnen nicht gut?« »Eines der Kinder ist gerade gestorben, Mrs. Adair«, gab er mit tonloser Stimme zurück und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Er hieß Evan Cortero. Letzte Woche ist er gerade acht Jahre alt geworden. Er hat immer gesagt, wenn es jemals wieder Tiere geben sollte, dann wollte er ein Schmetterling werden.« Es dauerte einen langen, qualvollen Moment, bis Devon vollends begriffen hatte, was der Arzt, gerade gesagt hatte. Welche tiefe Traurigkeit lag in dem Wunsch dieses toten Jungen! Und mit welch schrecklicher Leichtigkeit hatte Leslie den Tod Evans hingenommen, ihn sogar beneidet. Devon wußte nicht, was sie sagen sollte. »Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung ...« Plötzlich lag in Vasquez' Blick nicht nur Schmerz, sondern auch Zorn. Der Arzt strahlte eine Wut aus, die Devon
unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. Einen Moment lang war sie sich sicher, daß er sie gleich schlagen würde. »Nein, niemand hat eine Ahnung, Mrs. Adair«, fuhr er sie an. »Genau da liegt das Problem. Niemand außer mir und dem Krankenhauspersonal, den Kindern und ihren Eltern ... Wenn es nach mir ginge, hätte die ganze Welt diese Kinder vor Augen und zwar ständig ... morgens, mittags, abends. So wie ich.« »Ich habe die Filmberichte gesehen, aber ...« »Was sind diese lächerlichen Filmchen gegen die Wirklichkeit, Mrs. Adair? Die Realität findet dort drinnen statt!« Er deutete wütend mit dem Finger in Richtung der Tür. »Das ist wirklich. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich dafür sorgen, daß niemand in diesem Universum auch nur für eine einzige Sekunde die Syndrom-Kinder vergißt. Ich würde dafür sorgen, daß an jeder freien Wand mit Plakaten über diese Krankheit informiert würde und anstelle der idiotischen Fernsehwerbung Berichte über die Opfer gesendet würden. Ich würde die Leute so lange mit der Nase darauf stoßen, bis sie keinen Bissen mehr hinunterbekämen. Ich würde ihnen Bilder von Krankenstationen vorführen, bis sie auch mit geschlossenen Augen nichts anderes mehr sehen könnten und in ihren Träumen das Elend wie ein nie endender Film ablaufen würde. Ich würde es ihnen unmöglich machen, die Krankheit zu vergessen, ihre möglichen Ursachen und alles, was womöglich noch auf uns zukommt, zu ignorieren. Vielleicht würde man dann endlich begreifen, daß das Syndrom nicht einfach als eine Kinderkrankheit abzutun ist.« Das Feuer in seinen Augen erlosch plötzlich, er räusperte sich, als ob es ihm peinlich wäre, daß er sich zu solch einer flammenden Rede hatte hinreißen lassen. Doch Devon spürte, daß Vasquez kein Schwätzer war, der sich nur deshalb für eine Sache engagierte, weil gerade alle darüber redeten. Der Arzt glaubte an das, was er gesagt hatte, seine Wut und Enttäuschung
waren aufrichtig. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hatte nicht vor, eine Predigt zu halten.« Sie nickte. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, hatte sie das Gefühl, daß er ihr außerordentlich sympathisch war. »Ich bin froh, daß Sie's getan haben. Vielleicht brauchen wir mehr Menschen wie Sie, die imstande sind, die Leute wachzurütteln. Es bedeutet mir viel, daß es Ihnen mit dieser Sache so ernst ist.« »Die Sache an sich ist ernst, Mrs. Adair. Niemand scheint sich das klarzumachen, aber es geht um das Überleben der menschlichen Spezies.« Der Ton, in dem er das sagte, duldete keinen Widerspruch. Aber Devon war auch kaum danach zumute, ihm zu widersprechen. »Heißt das, daß sie eine Theorie über die Ursache der Krankheit entwickelt haben?« fragte sie. Trotz des Schauders, der ihr bei seinen Worten über den Rücken gelaufen war, siegte ihre Neugier. Vasquez machte eine abwehrende Handbewegung. »Das erkläre ich Ihnen vielleicht ein anderes Mal.« Er wandte sich um und ging in Richtung Ausgang den Korridor hinunter. »Ich möchte nicht indiskret erscheinen, Dr. Vasquez«, sagte Devon im Gehen. »Aber warum hat Leslie nach ihren Eltern gefragt?« Er sah sie nicht an, als er antwortete. »Sie sind indiskret, aber ich sehe keine Veranlassung, Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Leslies Eltern kamen mit ihrer Tochter vor sechs Jahren zu mir. Sie haben sie hier im Krankenhaus in meine Obhut gegeben und sind dann spurlos verschwunden.« Devon runzelte verwirrt die Stirn. »Ist ihnen etwas passiert? Was ist aus ihnen geworden?« Der Arzt schenkte ihr einen Blick, den er sich für komplette Vollidioten aufgespart zu haben schien. »Woher soll ich das wissen? Sie haben sich aus dem Staub gemacht und waren clever genug, jede Spur zu verwischen.« Als sie ihn immer noch
verständnislos ansah, seufzte er. »Man nennt das Kindesaussetzung, Mrs. Adair. Nie davon gehört?« Devon blieb stehen, sie spürte ihr Herz rasen. Das Gefühl der Mutterliebe, das Ulys Geburt in ihr erweckt hatte, kämpfte mit aller Kraft gegen die Vorstellung, daß Eltern, Vater oder Mutter, dazu fähig sein konnten, ihr Kind zu verlassen. Und erst recht nicht ein so fröhliches, liebenswertes und intelligentes Kind wie Leslie. Und was ist mit deiner eigenen Familie, Devon? fragte sie sich. Sie haben dich zwar nicht weggegeben, dafür aber einfach nicht zur Kenntnis genommen, nie beachtet. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Kinder zu verlassen. Vielleicht stimmte das, aber immerhin hatte sie Yale gehabt. In ihren Augen war der Lehrer mehr wert als Hunderte von Müttern und Vätern. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Angst verwandelte ihren Magen in einen Eisklumpen. Aber es war sinnlos, die Augen noch länger vor der Wahrheit verschließen zu wollen. »Dr. Vasquez, hat mein Sohn das Syndrom?« Endlich, sie hatte es gesagt. Sein Gesicht und seine Augen verrieten keinerlei innere Regung. »Ja, Mrs. Adair.« Gedanken und Bilder rasten durch ihren Kopf. Wie mechanisch suchte sie mit einer Hand Halt an der Wand. Ihr Atem ging so schnell, daß sie meinte, daran ersticken zu müssen, in den Augen fühlte sie brennende Tränen. Da hast du's, Devon. Jetzt ist es draußen, nichts mehr zu verheimlichen. Kein Weg zurück. Sie schloß die Augen vor diesen Gedanken. Von irgendwoher, tief aus ihrem Inneren, stieg ein Schrei auf, ein Wimmern tödlichen Schmerzes, das nicht über ihre Lippen kam. Ihr Herz schlug noch, ihr Körper funktionierte, aber etwas in ihr war in diesem Moment gestorben. So still und leise wie Evan Cortero. Sie fühlte Schwindel aufsteigen, der sie in einem Malstrom von Emotionen fortzureißen drohte. Mit geschlossenen Augen kämpfte sie dagegen an. Verflucht, sie
würde diesem Gefühl nicht nachgeben. Und sie würde auch nicht in Ohnmacht fallen wie eine der Heldinnen aus diesen uralten Groschenromanen. »Mrs. Adair? Devon?« Das erste Mal nannte Dr. Vasquez sie bei ihrem Vornamen. Es war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil. Von jetzt an verband sie beide etwas miteinander, das die Förmlichkeit, sich beim Nachnamen zu nennen, nicht duldete. Sie fragte sich, wie er wohl heißen mochte. Als ob das jetzt eine Rolle spielte. In Zukunft würden sie noch genug Gelegenheit haben, sich besser kennenzulernen. Sie öffnete die Augen und schüttelte den Kopf, als er ihr durch eine Geste zu verstehen gab, daß sie sich auf ihn stützen sollte. »Kann ich jetzt meinen Sohn sehen?« flüsterte sie. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht lieber ...« »Ich möchte meinen Sohn sehen. Bitte.« Nicht aufgeben, du darfst nicht aufgeben, nicht aufgeben, nichtaufgeben ... nichtaufgeben ... Er nickte, als schien er zu verstehen. »Selbstverständlich.« Bis zu dem Raum, in dem Uly wartete, waren es nur ein paar Schritte. Eingehüllt in seinen Immuno-Anzug, lag er in der ausgepolsterten Vertiefung des Untersuchungstisches und verfolgte das Farbenspiel auf dem Bildschirm an der Decke, den man eingeschaltet hatte, um ihn beschäftigt zu halten. Das Geräusch der sich öffnenden Tür lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Monitor ab. Als er seine Mutter erkannte, lächelte er ihr fröhlich und zahnlos entgegen - wie ein ganz normales Baby. Das hieß, wie ein ganz normales Baby, das das Syndrom hatte. Die Vorstellung, daß er einmal ausgelassen schreiend durch die Gegend laufen würde, war in diesen Sekunden zum bloßen Wunschtraum geworden. »Hi, Süßer«, sagte sie und haßte den tränenerstickten Klang ihrer Stimme. Sie kitzelte ihn am Bauch und beugte sich hinunter, um ihn zu küssen. »Wie geht es meinem großen
Jungen? Warst du auch brav, während Dr. Vasquez dich untersucht hat?« Uly lachte sie an, während ihm der Sabber übers Kinn lief. Er wedelte mit seinen kleinen Armen, als wollte er winken, versuchte aber nur, seine Zehen zu greifen. Das leise gurgelnde Geräusch, das jeden seiner Atemzüge begleitete, versuchte Devon mit aller Gewalt zu ignorieren. »Hi, Champ.« Vasquez hielt Uly einen Finger hin und lächelte, als der Junge ihn ergriff und festhielt. »Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest. Ich habe deiner Mutter das Krankenhaus gezeigt und dabei ganz die Zeit vergessen. Kannst du mir verzeihen?« Er bewegte seinen Finger hin und her und lachte, als Uly anfing, so etwas wie eine Antwort zu plappern. Während Devon die beiden beobachtete, wurde ihr auf einmal klar, warum Vasquez sie auf der Station herumgeführt hatte. Sie fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Unvermittelt schob sie den Arzt beiseite, beugte sich zu Uly hinunter und nahm ihn auf den Arm. Über seinen Kopf hinweg schoß sie Vasquez einen kämpferischen Blick zu. »Ich lasse ihn nicht hier bei Ihnen« erklärte sie mit fester Stimme. Vasquez sah sie fassungslos an. »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Oh, doch. Und ob das mein Ernst ist.« Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Er versuchte sie aufzuhalten. »Mrs. Adair, Sie können unmöglich zu Hause für Uly sorgen. Am Anfang, ja, da mag das noch gehen. Aber was wird, wenn die Krankheit weiter fortschreitet? Er wird rund um die Uhr betreut werden müssen. Der Tag hat nicht genug Stunden ...« »Ich werde mir die Zeit nehmen. Wenn es nötig ist, mache ich die Stunden! Aber niemand wird mir mein Kind wegnehmen. Haben Sie verstanden? Niemand! Mein Kind wird nicht st ...« Sie schwieg, aus Angst, sie würde das Schicksal
vorsätzlich herausfordern, wenn sie das Wort aussprach. »Auf Wiedersehen, Dr. Vasquez.« »Mrs. Adair, bitte.« Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß, so daß Devon nicht mehr hörte, was der Arzt noch sagte. Immerhin versuchte er nicht, ihr zu folgen. Devon wußte nicht, was sie dann getan hätte. In Ohnmacht fallen? Kämpfen? Einen hysterischen Anfall bekommen? Oder womöglich Uly aufgeben? Sie betrachtete das Kind in ihren Armen, während sie die Flure des Krankenhauses entlang auf den Ausgang zuhastete, und drückte den Kleinen noch fester an sich. Niemals. »Uly?« fragte sie und versuchte dabei, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, während sie gleichzeitig das Gefühl hatte, als ob alles in ihr einem Trümmerfeld glich. »Liebling, was meinst du, wollen wir in den Zoo gehen? Wir könnten uns den Tyrannosaurus Rex und den Beagle ansehen.« In dem Zoo gab es selbstverständlich keine echten Tiere, die meisten Arten waren schließlich schon längst ausgestorben. Aber dank den vor langer Zeit in den Vergnügungsparks der Erde perfektionierten Techniken vermittelten die dort gezeigten Hologramme einen extrem lebendigen Eindruck. Uly konnte ihr natürlich nicht wirklich antworten. Alles, was er von sich gab, war unverständliches Geplapper in seiner Babysprache. Und schon bald schmiegte er den Kopf an ihre Schulter und schlief ein. Die Leichtigkeit, mit der er in diesen anderen Zustand hinüberglitt, ließ Devon erschaudern: Wenn es für ihn so einfach war, die Augen zu schließen, einzuschlafen und sie allein zu lassen, was konnte ihn dann daran hindern, für immer von ihr zu gehen? Sie beschloß, trotzdem den Zoo zu besuchen. Das schlafende Kind in den Armen, sah sie sich eine Projektion nach der anderen an, aber sie war viel zu sehr in ihre Gedanken versunken, um wirklich wahrzunehmen, was sie sah. Sie betrachtete den Tyrannosaurus Rex und den Beagle, Pferde und
Wale, Lemminge und Ameisenbären, bis ihr mit einem Schlag deutlich wurde, daß sie sich in einem Theater des Todes befand. Nicht eine der hier gezeigten Spezies hatte überlebt, nicht eines dieser Tiere war noch auf der Erde oder sonstwo in ihrem Planetensystem zu finden. Sie waren für immer verschwunden so, wie echtes Gras oder Schnee; so, wie Evan Cortero und Leslies Eltern ... »>Sprach der Rabe: Nimmermehr wären sie und Uly nicht in Streit geraten; er wäre nicht von dem ATV gefallen und auch nicht in die Erde gezogen worden ... Zum wiederholten Mal in dieser Nacht rannen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Wütend und verzweifelt fuhr sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Wie geht's, kleines Mädchen?« fragte jemand hinter ihr. True fühlte sich ertappt. Wer besaß die Frechheit, sich an sie heranzuschleichen und sie »kleines Mädchen« zu nennen? Damit war ihr schon O'Neill auf die Nerven gegangen! Verlegen und zornig zugleich drehte sie sich um und erkannte Bess Morgan. Die Frau sah sie mit einer Freundlichkeit und Offenheit an, die True unerträglich fand. Sie sollte bloß nicht erwarten, daß True nett zu ihr war. »Ich repariere den TransRover«, gab sie
kurz angebunden, beinahe mürrisch zurück und beugte sich wieder über den Motor. Sie hoffte, daß Bess den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und wieder verschwinden würde. Aber diese Frau war entweder total bescheuert oder genauso dickköpfig wie sie selbst. Sie ging einfach nicht weg. »Kann ich dir vielleicht helfen?« fragte sie. Als True keine Antwort gab, kam sie einen Schritt näher und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Bess. Ich glaube, wir haben uns noch nicht vorgestellt. Wie heißt du?« Ihr Vater hatte ihr beigebracht, nicht unhöflich zu sein. Also schaute True, wenn auch widerwillig, für einen Moment von ihrer Arbeit auf. Die ihr angebotene Hand ergriff sie allerdings nicht. »True Danziger. Und ich brauche keine Hilfe, danke.« Verdammt! Wann begriff diese Frau endlich, daß sie allein sein wollte? Doch statt zu verschwinden, kam Bess noch näher und warf einen Blick in den Motorraum des Fahrzeugs. »Ich weiß nicht«, murmelte sie, »aber wir hatten früher zu Hause einen Minentraktor. An dem hab' ich manchmal ein bißchen herumgebastelt, auf dem Hof hinter dem Haus meiner Eltern.« Lächelnd sah sie das Mädchen an. »Mit solchen Geschichten können Sie mich nicht beeindrucken«, gab True schnodderig zurück und beugte sich wieder über den Motor, wild entschlossen, nicht mehr aufzuschauen, egal, was diese Frau auch sagte. Wenn sie nicht ganz begriffsstutzig war, hielt sie jetzt endlich den Mund und zog sich zurück. Aber so schlau war sie offenbar nicht. Im Gegenteil, Bess brachte es tatsächlich fertig und legte sanft ihre Hand auf Trues Handgelenk und hielt es fest! True erstarrte und wußte vor lauter Peinlichkeit nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. »Was passiert ist, ist nicht deine Schuld, True«, sagte Bess leise. »Ich bin sicher, daß sie Uly finden werden, mach dir keine Sorgen. Wir müssen jetzt alle zusammenhalten.«
Am liebsten hätte True der aufdringlichen Frau gesagt, sie möge ihre Banalitäten für sich behalten, doch aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Wenn sie in den vergangenen Jahren von jemandem zärtlich und tröstend berührt worden war, dann war das immer ihr Vater gewesen. Und nun kam diese Frau, eine Fremde, und zeigte ihr gegenüber eine Form der mütterlichen Fürsorge, die True schon fast vergessen zu haben glaubte. Das Mädchen hielt still und wartete, daß diese peinliche, sie in höchstem Maße verstörende Situation endlich vorüberging. Schließlich ließ Bess ihre Hand los und kehrte zu ihrer Schlafstelle zurück. True lauschte auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte und wagte erst dann, einen Blick über die Schulter zu werfen, als die Frau weit genug weg war. Verwirrt sah sie Bess nach ... Doch dann bemerkte sie etwas anderes, das sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. Auf der Kuppe des Hügels bewegte sich etwas ... und dann erkannte sie dort bleich und starr im Licht der Monde drei einsame, riesige Gestalten. »Oh nein«, stöhnte sie und wünschte verzweifelt, ihr Vater wäre hier. Der entsetzte Klang ihrer Stimme ließ jeden im Lager aufhorchen. »Sie sind zurückgekommen!«
18 Als sie sah, daß immer mehr Gestalten auf dem Hügel erschienen, schien es Julia, als würde eine eiskalte Hand ihr Herz umklammern. Erst waren es drei, dann fünf, schließlich acht Wesen, die starr und bewegungslos dort oben verharrten. Sie hoben sich bedrohlich von dem tiefschwarzen Nachthimmel ab, an dem die Sterne funkelten und glänzten wie Juwelen auf einem Samtkissen. Der schwache Schein des Lagerfeuers warf unheimlich zuckende Schatten, und ein sanfter Windhauch strich durch Julias Haar und ließ es vor ihren Augen flattern. Als sie sich die Strähnen aus dem Gesicht strich, erkannte sie, daß wie aus dem Nichts eine weitere Gestalt auf dem Hügel erschienen war ... und dann noch eine .. und noch eine ... Alonzo stöhnte auf, als stünde er vor dem Ersticken. Julia sah zu ihm hinüber. Das Gesicht des Piloten war leichenblaß und angstverzerrt, er versuchte krampfhaft, sich in der Hängematte aufzurichten. Sie hätte zu ihm gehen und ihm helfen sollen, doch statt dessen starrte sie wie gebannt auf den Hügel, auf dem gerade wieder zwei Gestalten erschienen waren. Sie traten scheinbar mühelos auf die Kuppe und verharrten dort bewegungslos wie riesige, alte Bäume, die auf das Lager herabstarrten. Genauso regungslos und starr standen hier unten die Kolonisten und blickten wie hypnotisiert zu dem Hügel hinauf. Morgan Martin hatte irgendwo einen Telescanner aufgetrieben, den er an die Augen führte und dabei wild an den Kontrollknöpfen herumfummelte, um sich diese Gestalten in Großaufnahme ansehen zu können. »Oh ...« Sein leises Stöhnen klang wie ein langer, qualvoller Seufzer. »Oh, mein Gott...«
Bess klammerte sich ängstlich an seinen Arm, unfähig, den Blick von dem Hügel abzuwenden, auf dem noch immer weitere dieser furchterregenden Gestalten erschienen. »Morgan, diese Wesen sehen anders aus als das Tier bei unserer Rettungskapsel.« »Das habe ich auch schon bemerkt«, fuhr der Regierungsbeamte seine Frau barsch an. Inzwischen waren bereits sechzehn dieser Wesen dort oben auszumachen, und es kamen noch immer welche dazu. Im Lager herrschte Totenstille, niemand wagte sich zu rühren, als wären sie alle von diesem Blick verhext, mit dem die Wesen sie beobachteten. Es war schlimmer, als angegriffen zu werden ... Plötzlich ließ Morgan den Scanner fallen und griff nach einem Gewehr, das auf einem Tisch lag. »Worauf warten wir noch?« fragte er und wedelte aufgeregt mit der Waffe herum. »Darauf, daß sie uns töten?« »Liebling, sei vorsichtig!« bat Bess und versuchte, ihm das Gewehr abzunehmen. »Morgan!« schrie Julia und lief zu ihm hinüber, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie tun sollte. »Nein!« Aber es war zu spät. Morgan hatte das Gewehr schon angelegt, zielte und drückte ab. Das Geschoß verfehlte die Gestalten auf dem Hügel nur um wenige Meter und schlug in den Boden ein, wo es einen Krater aufriß, aus dem Erdbrocken und Steine hoch in die Luft flogen. Durch die Reihen der Gestalten auf dem Hügel ging nur eine leichte Bewegung, wie von einem Windhauch; dann standen sie wieder genauso unbeweglich wie vorher und sahen auf das Lager hinab. Morgan fluchte und zielte von neuem, doch bevor er einen zweiten Schuß abgeben konnte, waren die Kolosse mit der gleichen unerklärlichen Leichtigkeit hinter dem Kamm des Hügels verschwunden, wie sie zuvor dort aufgetaucht waren. Für Bruchteile von Sekunden war ein leises, kaum wahrnehmbares Donnern zu hören, dann herrschte wieder
Totenstille, nur das Rauschen der Blätter im Wind war noch zu vernehmen. Morgan grinste triumphierend und schulterte das Gewehr wie nach einer erfolgreich beendeten Großwildjagd. »Seht ihr? Die Sprache der Waffen versteht jeder. Wir werden ihnen zeigen, wer hier der Boß ist.« Julia hörte ihm kaum zu, sondern starrte noch immer auf den Hügel. Ihr ging nicht aus dem Kopf, mit welch magischer Leichtigkeit diese Gestalten aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Und dann dieses leise Donnern, das so klang, als ob von irgendwoher Erde und Felsbrocken herabfielen. Wenn sie dann noch bedachte, was True erzählt hatte, als sie schluchzend ohne Uly ins Lager zurückgekommen war ... Sie stieß Morgan beiseite und rannte los. »Idiot!« schrie sie ihm noch zu. »Hey!« Der Regierungsbeamte stolperte und hielt sich an seiner Frau fest, um nicht zu fallen. »Wo wollen Sie denn hin?« Es war der Ärztin völlig egal, ob sie sich in Gefahr begab und daß sie gegen Danzigers Anweisungen verstieß; es war ihr ebenfalls egal, was Morgan oder sonst jemand von ihr dachte, sie lief so schnell sie konnte den steilen, steinigen Abhang hinauf. Kurz bevor sie den Kamm erreichte, blieb sie atemlos stehen. Dann machte sie auch den letzten Schritt und stand auf der Kuppe des Hügels ... aber auf der anderen Seite war absolut nichts zu sehen. Keuchend und mit schmerzenden Lungen suchte sie im silbrigen Licht der zwei Monde nach den Gestalten oder irgendwelchen Spuren, die sie doch hinterlassen haben mußten. Aber da war nichts, absolut nichts. Es war, als seien die Wesen nie dagewesen. Dann aber fiel ihr Blick auf den Boden, und ihr blieb fast das Herz stehen. Genau vor ihren Füßen lag der Schlüssel zu allem, man mußte nur richtig hinsehen: Dort, wo die Gestalten gestanden hatten, war die Erde kaum sichtbar aufgewühlt, locker
und feucht wie an jener Stelle im Wald, wo Uly verschwunden war. Vor Aufregung zitternd, kniete Julia sich hin und ließ die lose Erde durch ihre Finger rinnen. Erstaunt stellte sie fest, daß sie sich so weich anfühlte wie die Wange eines Kindes. »Uly? Hörst du mich, Uly?« Vorsichtig tastete sich Danziger durch das Labyrinth von schmalen, düsteren Tunneln und Gängen unter der Erdoberfläche. Ab und zu fiel ein schwacher Lichtschimmer in die Gänge, der von phosphoreszierenden Pilzen oder ähnlichem stammen mochte. Aber Danziger versuchte im Moment gar nicht, das genauer zu ergründen, da er befürchtete, herauszufinden, daß diese Lichtquellen nicht zufällig hier waren. Der Gedanke, daß irgend jemand diese Höhlen nicht nur gebaut, sondern auch noch mit Licht ausgestattet hatte, war alles andere als angenehm. Es war irgendwie tröstlich, daß er die Stablampe dabei hatte, auch wenn deren Strahl viel zu schwach war, um hier unten weiter als ein bis zwei Meter sehen zu können. Plötzlich glaubte er, aus einem der Seitengänge ein Geräusch gehört zu haben, und blieb stehen. Danziger lauschte angestrengt, doch da war nichts zu hören; vermutlich war es doch nur ein Windhauch gewesen. Also ging er weiter. Danziger hatte bereits mit Staunen festgestellt, daß die Gänge über ein Lüftungssystem verfügten, das selbst in dieser beträchtlichen Tiefe für ausreichenden Sauerstoff sorgte. Dies war ein weiterer Beweis dafür, daß irgend jemand diese Höhlen und Gänge künstlich angelegt hatte. Die Beschaffenheit des Bodens, den Tausende von Füßen festgestampft haben mußten, und die symmetrische Anlage der Gänge sprachen ebenfalls für diese These. Danziger sprach leise in das Mikro seines Headsets: »Es sieht aus wie ein unterirdisches Flußbett oder eine verlassene Mine.«
Als er an eine besonders niedrige Stelle kam und den Kopf einziehen mußte, vernahm er Devons Stimme, die sich über den Kopfhörer dünn und blechern anhörte. »Irgendein Zeichen von Uly?« fragte sie, obwohl sie doch sicher wissen mußte, daß sie es zuerst erfahren würde, wenn er irgend etwas fände. »Fußabdrücke vielleicht? Spuren eines Kampfes?« Sie klang besorgt und ängstlich. Die tapfere Anführerin der Expedition war offenbar von einer Furcht erfüllt wie nie zuvor in ihrem Leben und gab sich verdammt viel Mühe, dies zu verbergen. Danziger wünschte, er könnte ihr etwas mitteilen, das sie beruhigte. »Nein, nichts. Sieht so aus, als ob hier seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen ist.« Doch wie lange dauerte eine Ewigkeit hier unten? Irgend jemand oder irgend etwas hatte einmal hier gelebt, daran bestand kein Zweifel. Die Frage war nur, ob diese Wesen sich immer noch hier aufhielten, auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussah. Der Mechaniker gelangte an eine Stelle, an der sich zwei Gänge kreuzten, die wesentlich breiter und höher als die anderen waren. War er auf einen der Hauptgänge dieser unterirdischen Welt gestoßen? Danziger sah sich nach allen Richtungen um. »Uly? Uly!« In dem kahlen Gewölbe hallte seine Stimme gespenstisch von den Wänden wider, und dieses Echo war die einzige Antwort, die er erhielt. Er verließ sich auf seine Intuition und entschied sich für einen der Gänge. Wie vermutlich jeder andere auch, der mit Morgan Martin zu tun hatte, faßte Julia den Entschluß, diesen Idioten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umzubringen. Wie zum Teufel hielt Bess es nur mit ihm aus? Sie machte doch einen durchaus normalen und vernünftigen Eindruck. Der Streit mit dem Beamten er selbst sprach beschönigend von einer »Konferenz« - wurde immer unerträglicher. Schamlos machte sich der Mann die Angst der Leute zunutze, die in ihrer Panik vermutlich allem zugestimmt hätten, und wiegelte sie gegen Julia auf. Danziger
hatte ihr die Verantwortung für die Gruppe übertragen, und einige der Kolonisten standen auch hinter ihr. Aber es war klar, daß Morgan Martin um jeden Preis das Kommando übernehmen wollte. Und wie seine Entscheidungen aussahen, hatte man ja vorhin gesehen. In seiner maßlosen Dummheit war dieser Kerl imstande, ihrer aller Leben aufs Spiel zu setzen. Verdammt! Hatte er denn überhaupt nichts aus O'Neills Tod gelernt? »Julia! Julia!« schrie jemand atemlos und zerrte an ihrer Jacke. Wer wollte jetzt schon wieder etwas von ihr? Aufgebracht fuhr Julia herum und sah in Trues erschrecktes und blasses Gesicht. Julia nahm das Mädchen bei den Schultern. »Was willst du, Liebes? Was ist los?« »Es ist wegen ...« True war so außer Atem, daß sie husten mußte. »Es ist wegen Alonzo. Er ruft die ganze Zeit nach Ihnen.« True zerrte ungeduldig an Julias Ärmel, und die Ärztin ließ sich von ihr wegziehen. Ein paar Leute folgten ihnen neugierig. Katastrophen, vor allem, wenn sie anderen zustießen, fanden immer Zuschauer, dachte Julia. In diesem Punkt änderten sich die Menschen niemals. Der Pilot sah furchtbar aus, er war leichenblaß und starrte ins Nichts. Julia bedeutete den anderen, nicht näherzukommen, während sie sich neben die Hängematte kniete und ihm behutsam eine Hand auf die Schulter legte. »Alonzo? Geht es Ihnen nicht gut?« Der Verletzte schien zunächst nicht reagieren zu wollen, sondern starrte weiterhin mit glasigen, fiebrigen Augen ins Leere. Dann bewegten sich seine Lippen, er murmelte irgend etwas vor sich hin, das Julia nicht verstehen konnte. »Was haben Sie gesagt?« fragte sie und beugte sich weiter vor. Alonzo fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen und aufgerissenen Lippen. »Es sind ... Terrianer«, flüsterte er.
Die Ärztin sah ihn verwirrt an. Was zum Teufel meinte er bloß? »Was? Was wollen Sie damit sagen, Alonzo? Wer sind Terrianer?« Jetzt suchte er mit den Augen den Horizont ab, als ob er erwartete, dort etwas zu sehen. Plötzlich ahnte Julia, was er vielleicht meinte, und es lief ihr eiskalt über den Rücken. »Sie«, antwortete Alonzo, als ob jedem klar sein müßte, wen er meinte. »Die Gestalten, die aus der Erde kommen.« »Alonzo! Erkennen Sie mich, Alonzo?« Julia bewegte eine Hand vor seinen Augen, um seine Pupillenreflexe zu testen. Lächelnd drehte er ihr den Kopf zu, und Julia beobachtete aufmerksam sein Gesicht, vor allem die Augen. Unter medizinischen Gesichtspunkten schien ihm außer seinen Beinbrüchen nichts zu fehlen. Eigentlich machte er einen fast schon normalen Eindruck. Sicher, er war ein wenig verwirrt. Aber wer war das schließlich nicht? Sie standen alle unter Streß, was unter den gegebenen Umständen nicht weiter verwunderlich war. Und trotzdem ... hinter diesen Augen ging noch irgend etwas anderes vor sich, etwas, das ihr unheimlich war und das sie am liebsten nicht näher ergründen wollte. »Alonzo, woher wissen Sie, wie diese Gestalten heißen?« Der Pilot stierte sie an, wenngleich sich Julia nicht sicher war, daß er sie wirklich wahrnahm. Dann hörte sie jemanden etwas von einem Hitzschlag murmeln und wurde wütend. Hielten sie eigentlich alle für inkompetent? Als ob sie nicht alles daran gesetzt hatte, um eben das zu verhindern. Julia ignorierte die Bemerkung und blickte in Alonzos fiebrige Augen. Schließlich fuhr er sich noch einmal mit der Zunge über die Lippen, als ob er etwas sagen wollte, und sie beugte sich wieder zu ihm hinunter, um sein schwaches Flüstern verstehen zu können. »Ich ... ich habe mit ihnen geredet.« Seine Stimme klang jämmerlich und verängstigt, wie die eines kleinen Kindes, das jeden Moment anfangen will zu weinen.
»Was haben Sie getan?« fragte sie erstaunt. Langsam dämmerte ihr die volle Bedeutung seiner Worte und wuchs zu einem unglaublichen, phantastischen Gedanken. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Devon dermaßen müde und erschöpft gefühlt, weder in den Jahren, als sie alles darangesetzt hatte, um die oberste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen, noch zu dem Zeitpunkt, als sie erfahren hatte, daß Uly am Syndrom litt. Und selbst die Jahre, in denen sie darum gekämpft hatte, ihren Traum von einer neuen Heimat für ihr Kind in die Tat umzusetzen, hatten sie nicht derart ausgelaugt. Ulys Verschwinden aber hatte ihr den letzten Rest an Widerstandskraft geraubt. Niedergeschlagen sah sie zu, wie Zeros Sensoren Danzigers Weg durch die unterirdischen Höhlen verfolgten. Yale saß neben ihr auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete sie. Er war sicher nicht weniger müde und besorgt als seine Schülerin. »Devon, geh zurück ins Lager und ruh dich ein wenig aus. Es genügt, wenn ich hierbleibe.« Eigentlich hätte er wissen müssen, daß sie dieses Angebot niemals akzeptieren würde; deshalb schüttelte sie noch nicht einmal den Kopf. »Zweiundzwanzig Lichtjahre, und wofür?« Sie breitete resigniert die Hände aus. »Ich habe noch nicht kapituliert«, sagte der Lehrer ruhig, als würde es nicht auch ihn große Überwindung kosten, die Hoffnung nicht aufzugeben. »Und du hast es auch nicht, das weiß ich. Wir werden Uly finden.« Devon wünschte sich nichts sehnlicher auf der Welt, als ihm glauben zu können; aber das war schwer, sehr schwer. Sie haßte sich selbst für ihre Zweifel. »Wie vermessen bin ich nur gewesen«, sagte sie zu ihm aufblickend, »wie konnte ich nur all diese Menschen hierherbringen?« »Du hast sie nicht hergebracht, Devon«, gab Yale zurück. »Sie sind dir gefolgt. Und zweihundertachtundvierzig Familien,
die sich noch auf dem Weg zu diesem Planeten befinden, werden dir das bestätigen, wenn sie erst einmal hier sind.« Die Macht dieser Worte und die tiefe Überzeugung, die hinter ihnen stand, erschütterten Devon. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, was sie sagen oder tun sollte, denn der Gedanke an die Kolonisten ließ die Last der Verantwortung noch schwerer wiegen. »Ich weiß nicht ... Vielleicht hatten wir nicht das Recht dazu, Yale. Vielleicht ist es uns nicht bestimmt, bis ans Ende des Universums zu reisen, um unsere eigene Haut zu retten.« Yale legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Vielleicht sind wir noch gar nicht angekommen«, sagte er mit fester Stimme. Devon seufzte unsicher, sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. In diesem Moment meldete sich Julias Stimme über den Kopfhörer. »Devon? Devon, hören Sie mich?« Die Ärztin klang furchtbar aufgeregt. Gott, was war jetzt passiert? Devon warf Yale einen besorgten Blick zu und schob sich die Monitorarme des Headsets vor die Augen. Noch bevor Julias Gesicht zu erkennen war, meldete sie sich über das Mikro. »Ich höre. Was ...« Doch Julia unterbrach sie mit leuchtenden Augen. »Ich glaube, wir haben eine Möglichkeit gefunden ...« »Wovon reden Sie?« fragte Devon und versuchte, sich von Julias Optimismus nicht allzu schnell mitreißen zu lassen. Julia warf irgend jemandem neben ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich rede von Uly«, gab sie zurück, als ob damit alles erklärt sei. »Ich glaube, wir wissen jetzt, was beziehungsweise wer ihn in seiner Gewalt hat. Möglicherweise können wir Kontakt mit ihnen aufnehmen.« »Was?!« Devon starrte sie vollkommen entgeistert an. Während Julia ihr auseinandersetzte, was sie vermutete, versuchte Devon ihr zu folgen und nicht einfach abzutun, was jedem vernünftigen Menschen wie Phantasterei vorkommen
mußte. Und gleichzeitig spürte sie, wie tief in ihrem Inneren die Rose der Hoffnung zu neuer Schönheit und Kraft erblühte; kein Winter würde diese Blume jemals zerstören können.
19 Die Zwillingsmonde standen am Nachthimmel und tauchten den Wald in ein silbernes Licht. Die kleine Gruppe saß mittlerweile schon eine ganze Weile zusammen, aber Julia glaubte nicht, daß es ihr gelungen war, Devon und Yale von ihrem Plan zu überzeugen. Aber sie gab nicht auf und redete weiter, obwohl sie nicht einmal sicher war, daß Ulys Mutter ihr überhaupt richtig zuhörte. Devon saß mit abwesendem Blick in der Runde und schien nur darauf zu warten, daß Danziger sich endlich über den Kopfhörer meldete, um ihr mitzuteilen, ob er etwas Neues auf seiner Wanderung durch die labyrinthischen Gänge der Terrianer entdeckt hatte. »Ich kann natürlich nicht garantieren, daß es so funktioniert«, fuhr Julia beharrlich fort. »Aber es scheint mir doch zumindest eine plausible Erklärung zu sein. Auf dem Hügel war der Erdboden an der fraglichen Stelle jedenfalls genauso aufgewühlt wie hier.« Sie versuchte, einen Blickkontakt zu Devon herzustellen, scheiterte jedoch und wandte sich deshalb wieder an Yale, der sie nachdenklich und ruhig ansah. »Immerhin wäre es doch möglich, daß sie versucht haben, über Alonzos Träume mit uns in Kontakt zu treten.« Zu Julias Überraschung merkte Devon bei diesen Worten auf und blickte sie an. »Und Sie glauben, daß sie noch einmal versuchen werden, uns zu erreichen?« Zero meldete Danziger den aktuellen Status. »Sie befinden sich jetzt in einer Tiefe von zweihundertfünfzig Metern.« Julia warf Yale einen Blick zu. »Ich weiß es nicht, aber es käme auf einen Versuch an. Warum schicken wir Alonzo nicht einfach in den Schlaf und warten ab, was passiert?« Sie sah den Piloten an, der mit geschienten Beinen neben ihr auf dem Waldboden saß. Er wirkte mager und verhärmt und hatte dunkle
Ringe unter den Augen. Jetzt fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und zuckte die Achseln. »Hey, ich kann nichts versprechen. Wie gesagt, ich hab' sie im Traum gesehen, mehr nicht.« »Was mit Uly geschehen ist, war kein Traum«, wandte Yale ein. »Hallo!« Danzigers Stimme ließ sie alle aufhorchen. »Leute, könnt ihr mich hören?« Devon brachte die Monitorarme ihres Headsets in Position, um Danziger nicht nur hören, sondern auch sehen zu können. »Was?« fragte sie gespannt. »Was gibt's?« »Ich ... ich bin hier auf etwas gestoßen.« Julia beugte sich vor, um über Devons Schulter hinweg einen Blick auf den Monitor zu werfen. Als sie bemerkte, daß Alonzo vergeblich versuchte, sich so weit aufzurichten, daß auch er etwas sehen konnte, ergriff sie tröstend seine Hand und hielt sie fest. »Moment mal«, sagte Danziger und verstellte die Kamera seines Headsets so, daß sie wenigstens ansatzweise zu sehen bekamen, was er selbst sah. Das Licht seiner Stablampe reichte nicht aus, um den riesigen Raum, in dem er sich befand, auch nur annähernd auszuleuchten. Aber was man erkennen konnte, war wirklich phantastisch. In die nach innen gewölbten Wände waren kunstvolle Arkaden gehauen worden. »Seht ihr das?« fragte Danziger staunend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Tiere gewesen sind. Wer oder was auch immer hier unten lebt, es steht auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe.« Julia spürte, daß Devon sie anstarrte, und blickte deshalb von dem Monitor auf, um dem stahlharten, trotzigen Blick der Expeditionsleiterin zu begegnen. »Also, was werden wir jetzt tun?« fragte die Ärztin ruhig. Devon stand auf. »Ich werde versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen«, sagte sie entschlossen. »Geben Sie mir das Sedativ.«
»Devon, das ist zu gefährlich ...« wandte Yale ein. »Glauben Sie nicht, daß es besser ist, wenn Alonzo ...« setzte auch Julia an, aber jede Diskussion war zwecklos. Denn schon im nächsten Augenblick hatte Devon ihr das Sedativ-Plättchen geschickt wie ein Taschendieb aus der Hand gerissen und sich an den Hals gesetzt, ehe Julia überhaupt reagieren konnte. »Was auch immer geschieht, weckt mich nicht auf«, befahl Devon. Der Blick, mit dem sie Yale und Julia bei diesen Worten bedachte, machte deutlich, daß sie keinen Widerspruch duldete. Bereits nach wenigen Sekunden lösten sich Devons Gesichtszüge, ihr Kopf fiel nach hinten, und sie wäre zu Boden gefallen, wenn Yale sie nicht aufgefangen hätte. Behutsam legte er seinen Schützling auf die Erde, kniete sich hin und bettete Devons Kopf in seinen Schoß. Nach ein paar Minuten prüfte Julia die Herzfrequenz und Augentätigkeit der Schlafenden. »Kein REM«, sagte sie beunruhigt und deutete auf Devons ruhige Lider. »So funktioniert es nicht. Alonzo, Sie sind derjenige, mit dem sie Kontakt aufgenommen haben, Sie müssen Devon begleiten.« Das attraktive Gesicht des Piloten spiegelte einen Moment lang Furcht und Schrecken wider; dann starrte er vollkommen ausdruckslos vor sich hin. »Ich ...« Er sah Julia an, dann wanderte sein Blick zu Devon, die vollkommen entspannt und traumlos zu schlafen schien. Schließlich ergab er sich in sein Schicksal. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte er sich neben Ulys Mutter und ließ sich von Julia das Sedativ verabreichen. Innerhalb von nur wenigen Sekunden war auch er eingeschlummert. Routiniert schloß die Ärztin beide Schlafenden an ein Meßgerät an, das ihre Herzfrequenz und andere lebenswichtige Daten aufzeichnete. Devons Herzschlag raste bereits und wurde immer schneller, während sich ihre Augen in der REM-Phase schnell hin und her bewegten. Was sah und was fühlte sie wohl
in ihrem Traum? Alonzos Herzschlag hingegen war noch völlig ruhig und normal. Seufzend wandte Julia sich einen Moment ab und strich sich frustriert durchs Haar. »Julia ...« rief Yale. Sie fuhr herum und erkannte an den Augenlidern des Piloten, daß auch er sich nun in der REM-Phase befand. Seine Herzfrequenz war dramatisch gestiegen und schien in einem wahnsinnigen, besorgniserregenden Wettlauf mit derjenigen Devons konkurrieren zu wollen. Danziger blieb stehen und lauschte gespannt in das dunkle Spinnennetz der unterirdischen Gänge hinein. War das der Wind, oder hatte er tatsächlich eine Stimme vernommen? Jetzt hörte er das Geräusch noch einmal. Eindeutig ... das war die Stimme einer Frau, die verzweifelt etwas rief, das Danziger aus der Entfernung allerdings nicht verstehen konnte. War das der Schrei einer dieser Gestalten ... oder eines Menschen? Einer Frau, die sich einen Dreck darum scherte, ob sie sich in Gefahr begab; einer Frau, die hartnäckig und dickköpfig sein konnte, alles zu riskieren, wenn es um ihren Sohn ging ... Danziger kannte nur einen einzigen Menschen, auf den diese Beschreibung paßte. Fluchend lief er in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Obwohl er kaum die Hand vor seinen Augen erkennen konnte, raste er so schnell wie irgend möglich die Gänge hinunter, hin zu dieser Stimme, zu der jetzt, wenn er seinen Ohren trauen konnte, eine zweite gekommen war. Devon schlug die Augen auf und sah sich um. Sie lag auf der kühlen Erde, und der dunkle, weiche Boden unter ihrem Kopf roch angenehm nach Leben und Wachstum. Der Raum, in dem sie sich befand, schien riesig, aber vollkommen leer zu sein. Den einzigen Schmuck stellten eine Reihe arkadenartiger Nischen dar, die in die ansonsten leeren Wände eingegraben waren. »Uly?« fragte sie leise und stand auf. »Uly?« In alle Richtungen rief sie den Namen ihres Sohnes. Immer lauter wurden ihre Rufe. »Uly! Uly!«
Doch vergeblich, außer dem Echo ihrer Stimme, das von den Wänden widerhallte, als wollte es sie verhöhnen, erhielt sie keinerlei Antwort. Vorsichtig begann sie, den Raum zu erkunden und die Wände abzusuchen. Aber dort war nichts zu erkennen außer diesen Nischen, die nirgendwo hinführten. Es gab weder Fenster noch Türen, die Finsternis wurde lediglich von einem diffusen Leuchten unterbrochen, das an verschiedenen Stellen durch Decke und Wände drang. Wodurch dieses Licht verursacht wurde, blieb Devon ein Rätsel. Sie fuhr mit dem Finger die Konturen eines Nischenbogens nach und hatte auf einmal das Gefühl, daß sie beobachtet wurde. Blitzschnell drehte sie sich um, doch da war nichts, nichts außer dem leeren Raum und den erdigen Wänden. Trotzdem, sie hätte schwören können ... Und im nächsten Moment stand jemand hinter ihr, ergriff ihre Arme und hielt sie fest! Sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, trat um sich und schrie bis ihr schlagartig bewußt wurde, daß von der Person, die sie festhielt, keine Feindseligkeit ausging. Sie wehrte sich nicht länger, sondern vertraute sich den schützenden Armen an, die sie umfingen; vertrauensvoll ließ sie den Kopf nach hinten auf Alonzos Brust sinken. »Ich bin bei Ihnen, Devon«, sagte der Pilot und lockerte seinen Griff, als er spürte, daß sie sich beruhigt hatte. »Ich bin bei Ihnen. Sie sind nicht allein.« Sie drehte sich um und sah zu ihm auf, unendlich dankbar und erleichtert, ihn zu sehen. Alonzo stand vor ihr, ohne Krücken oder Beinschienen, und sah genauso stark, selbstbewußt und zuversichtlich aus wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Allein dies war Beweis genug, daß sie sich tatsächlich in der Traumwelt der Terrianer befand und nicht in einem ihrer eigenen Träume gefangen war. Devon wollte ihm gerade sagen, wie froh sie über seine Anwesenheit war, als ein leises Donnern den Raum erzittern
ließ. Dieses Grummeln nahm allmählich zu und wurde bald so laut, daß es nicht nur jedes Wort, sondern auch jeden Gedanken übertönte; und dann schoß vor ihnen ein Terrianer aus dem Boden - wie eine knospende Pflanze. Als hinter ihnen ein zweiter Terrianer aus der Wand trat, wichen Devon und Alonzo erschrocken zurück. Die beiden wirbelten herum, doch schon war wie aus dem Nichts ein drittes dieser Wesen erschienen. Sie waren eingeschlossen, jeder Fluchtweg war versperrt. Mit glühenden Augen betrachtete Devon die riesigen Gestalten, ihr Herz raste vor Wut und Angst. »Mein Sohn!« sagte sie fordernd, und obwohl sie keine Ahnung hatte, ob die Terrianer ihre Sprache überhaupt verstanden, zweifelte sie nicht daran, daß diese furchterregenden Gestalten genau wußten, was sie von ihnen wollte. »Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?« Die Terrianer antworteten nicht, sondern starrten schweigend auf den Boden. Als Devon ihren Blicken folgte, entdeckte sie, daß dort eine kleine Hand, eine nur allzu vertraute Kinderhand, alle Gesetze der Physik Lügen strafend, entschlossen aus dem Boden herauskam. »Uly!« rief Devon aufgewühlt und sprang mit einem Riesensatz zu der Stelle, an der sie die Hand ihres Sohnes erkannt hatte. Sie fiel auf die Knie ... und lag auf dem Boden der Kälteschlafsektion ihres Raumschiffs. Einen Augenblick glaubte sie, allein im Raum zu sein, bis sie plötzlich über ihrem Kopf ein Geräusch hörte und nach oben sah. »Ich nehme an, Sie wissen, daß ein gewisses Risiko bestehen bleibt, wenn ein Kind, das so krank wie Uly ist, in den Kälteschlaf geschickt wird ...« hörte sie Julia sagen. Dies war eine exakte Wiederholung der Szene, die zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt stattgefunden hatte, nur stand sie dieses Mal oben auf der Galerie, die Hände in den Hosentaschen, und blickte auf eine Frau herab, die mit ihrem besorgten,
mütterlichen Gesichtsausdruck genauso aussah wie Devon selbst. »Ja, ich bin mir des Risikos bewußt«, antwortete ihr Alter ego, dessen Stimme irgendwie verwässert klang. »Aber wir haben keine andere Wahl, oder?« Und bei diesen Worten wandte sie sich um und sah Devon in die Augen. Devon kam es so vor, als müßte sie für immer hier stehenbleiben, gefangen von ihrem eigenen Blick. Doch dann zog ein neues Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie blickte sich um und sah erneut ihr Spiegelbild. Diesmal stand sie neben einer der Kälteschlafkapseln und war gerade dabei, Uly gute Nacht zu sagen. Genau wie Devon es in der Realität getan hatte, hielt diese Frau seine Hand und strich ihm das Haar aus der Stirn, während der Junge sie halb irritiert und halb ergeben mit einem Blick ansah, den Devon nur zu gut kannte. Als sie bemerkte, wie Uly dieses Abbild ihrer selbst anlächelte und schlaftrunken »Ich liebe dich, Mom« sagte, brach es ihr fast das Herz. Die ganze Szene wirkte derart real, daß Devon hoffnungsvoll zu dem Kind hinüberging, um es in den Arm zu nehmen. Vielleicht war es ja doch nicht nur ein Traum? »Uly ...?« Doch plötzlich befand sie sich auf einem langen, leeren Flur irgendwo in einem anderen Teil des Raumschiffs. Wo genau sie war, konnte sie nicht erkennen. Um sie herum herrschte absolute Stille, so daß sie ihren eigenen Herzschlag hörte. Doch wie schon die Male zuvor wurde sie wieder durch ein Geräusch aufgeschreckt, und wie schon zuvor drehte sie sich abermals danach um. Sie sah Ulys leeren Rollstuhl, der den Korridor hinunterfuhr und mit solcher Geschwindigkeit um eine Ecke bog, daß er fast umkippte. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld, und Devon lief ihm so schnell sie nur konnte hinterher. Doch als sie die Ecke erreichte, war der Rollstuhl nicht mehr zu sehen. Statt dessen schaute sie nun in einen in grelles Licht getauchten Raum, in dessen Zentrum Uly stand.
Der Kleine sah vollkommen gesund aus, mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen. Dies war ein Traum, den Devon kannte. Sie träumte ihn seit Jahren. »Mom ...?« fragte der Junge verwirrt und bewegte staunend seine gesunden Arme und Beine. Devon kniff die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und lief auf ihren Sohn zu. Sie wollte ihn retten und in ihren Armen von hier wegbringen. Sie war schon fast bei ihm ... da fand sie sich unversehens auf einer Hochebene wieder. Bis zu den Knöcheln steckte sie in dem weißen Sand, den der Wind vor sich hertrieb und der sich wie ein feiner Überzug auf alles legte. Es war sehr heiß. Die Sonne brannte gnadenlos, das grelle Licht drohte Devons Augen in ihren Höhlen zum Kochen zu bringen. »Sie furchten sich vor uns.« Verwirrt und wütend, weil irgend jemand ein makaberes Spiel mit ihr trieb und ihr Uly jedes Mal wieder entriß, sah Devon sich um. Hinter ihr stand Alonzo, dessen Kleider im heißen Wind flatterten. Seine Haare und Wimpern waren von einer Schicht weißen Staubes bedeckt. »Wir verwirren sie«, fuhr der Pilot fort, während er sie mit eigenartig abwesendem Blick ansah. »Und warum führen sie uns in die Irre?« fragte Devon. »Warum tun sie das?« Anstelle einer Antwort wies Alonzo auf eine Sanddüne zu ihrer Rechten, auf der die Terrianer standen. In einer langen Reihe verharrten sie einer neben dem anderen, stumm und unbeweglich, wie schon zuvor auf dem Hügel bei dem Lager. Der Sand zu ihren Füßen bewegte sich, als würde eine unsichtbare Hand ihn formen, bis schließlich ein Relief entstand, in dem Ulys liegende Gestalt zu erkennen war. Devon lief darauf zu, und wider Erwarten wurde sie dieses Mal nicht an einen anderen Ort versetzt, als sie das Traumbild ihres Sohnes mit Händen zu greifen versuchte. Devon fiel auf
die Knie und griff nach Ulys Hand; doch kaum hatte sie diese berührt, zerfiel sie unter ihren Fingern zu weißem Staub. Unsäglich verzweifelt stand Devon auf und stieß einen hilflosen, klagenden Schrei aus. »Uly!« Jetzt erhob sich der Wind und peitschte ihr Sand ins Gesicht, und in dem immer greller werdenden Licht losten sich allmählich alle Konturen auf, bis sie weder Alonzo noch die Terrianer erkennen konnte. Jetzt befand sie sich wieder in dem unterirdischen Gewölbe und starrte auf den Sand, der ihr durch die Finger rieselte. Vor ihr standen wie zu Beginn ihrer Traumreise die drei Terrianer und Alonzo. Daß Uly nicht da war, überraschte Devon nicht mehr. Sie fühlte sich besiegt, geschlagen. In dieser Traumwelt gab es nichts, worauf sie Einfluß nehmen konnte. Die Terrianer kontrollierten alles. Es war ihre Welt - wie auch die reale, die oberirdische Welt, wie dieser ganze Planet diesen Wesen gehörte. Devon wußte jetzt, daß sie sich getäuscht hatte, als sie glaubte, sie könne diese Welt einfach zu ihrem Eigentum erklären. Auf einmal redeten die Terrianer wild durcheinander. Ihre eigenartige Sprache war in Devons Ohren nichts weiter als ein monotoner, an den Nerven zehrender Singsang; sie hätte vor Frustration und Verzweiflung am liebsten laut aufgeschrien. Mit den Händen hielt sie sich die Ohren zu und sah sich hilfesuchend um. Sie entdeckte Alonzo, der mit zur Seite geneigtem Kopf dastand und den Terrianern nicht nur aufmerksam zuhörte, sondern sogar zu verstehen schien, was sie sagten. »Sie ... sie sagen, wir seien früher schon einmal hier gewesen.« »Das ist nicht wahr!« rief Devon und schüttelte entschieden den Kopf, in der Hoffnung, die Terrianer würden diese Geste verstehen. »Nein! Wir waren noch nie hier. Noch nie!« Das Pfeifen und Flüstern, mit dem die Terrianer auf Alonzo einredeten, wurde deutlich lauter und klang aufgeregt, fast
aggressiv. Erstaunt riß Devon die Augen auf... der Pilot antwortete ihnen in ihrer Sprache. »Sie bestehen darauf, daß wir schon einmal hier gewesen sind«, übersetzte er, und Devon sah, daß er den Terrianern glaubte. »Sie haben Angst vor uns und fürchten, daß wir ihnen Unheil bringen. Sie sagen, wir hätten schon einmal Spuren des Bösen auf ihrem Planeten hinterlassen.« Erneut schüttelte Devon ungläubig den Kopf, nicht fähig, dieser Geschichte Glauben zu schenken. »Aber nein! Wir sind gekommen, weil wir eine Zuflucht suchen, einen Raum zum Leben! Wir ...« Sie verstummte, denn sie sah, daß sich zu ihren Füßen der festgestampfte Boden bewegte und zu einem Symbol, einem Zeichen zusammenschob. Im ersten Moment konnte sie nicht erkennen, was es darstellen sollte; dann aber erkannte sie es überdeutlich: »E2«. Devon lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, vollkommen verwirrt blickte sie zu den Terrianern auf. Es kostete sie große Mühe, nicht vor dem Anblick dieser Gesichter zurückzuschrecken, in denen so viel Fremdartiges und Unheimliches, für Devons Augen abstoßend Häßliches lag. Einer der Terrianer erhob seine Stimme, und Alonzo fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, während er ihm zuhörte. Mit gerunzelter Stirn teilte der Pilot Devon schließlich mit, was der Terrianer gesagt hatte. »Ulys Rückkehr ist kein Geschenk. Wenn sie ihn uns zurückgeben, hätte das einen ... einen Preis.« »Was wollen sie?« stieß Devon ohne Zögern hervor und wandte den Blick nicht von den Gesichtern der Terrianer ab. »Was ist ihr Preis?« »Devon«, warnte der Pilot. »Bedenken Sie ...« »Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen«, sagte sie entschlossen. »Devon.« Alonzos Stimme klang eindringlich. »Das ist nicht unser Kampf.«
»Das ist mir egal! Ich werde alles tun, was sie verlangen.« Mit erhobenem Kopf sah sie dem Terrianer direkt in die Augen. »Nehmt mein Leben für das meines Sohnes«, bot sie an. Alonzo versuchte den Blick zu deuten, mit dem die Terrianer die Fremde schweigend ansahen und sich ihr Gesicht einprägten, das Gesicht einer Frau, die sich so weit in ihr Reich vorgewagt hatte. Dann sagten sie wieder etwas zu dem Piloten, der es zögernd übersetzte. »Devon, sie ... sie trauen uns nicht. Sie zweifeln an unserer Reinheit, unseren Absichten, unserem Leben. Sie sind anders als wir.« Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er nicht glaubte, auch nur ansatzweise erklären zu können, wie anders die Terrianer wirklich waren, wie sie lebten, was sie fühlten und was sie dachten. Die Terrianer bewegten sich in einem Windhauch, den offensichtlich nur sie spüren konnten, und zogen sich langsam zurück. Sie wurden eins mit den Wänden und entzogen sich Devons Blick, ihre Körper verschmolzen geradezu mit der Erde, als wären sie selbst aus diesem Stoff. Einer vor ihnen zögerte für Sekundenbruchteile, bevor auch er vollends verschwand; doch die Umrisse seiner Gestalt zeichneten sich noch immer im dunklen Lehm der Wand ab, einladend streckte er Devon eine Hand entgegen, als wollte er sie zum Mitkommen auffordern. In Panik ergriff Devon den Arm des Piloten. »Warum gehen sie, Alonzo? Bitten Sie sie, zu bleiben! Mein Sohn ... bitte!« Verzweifelt mußte sie zusehen, wie auch die Hand, die der Terrianer ihr noch immer entgegenstreckte, allmählich mit dem Lehm verschmolz, bis nur noch die Finger aus der Wand ragten ... Devon hatte ihren Entschluß gefaßt. Lieber wollte sie kläglich scheitern, als es gar nicht erst versucht zu haben. Rasch lief sie quer durch den Raum auf die Wand zu und berührte die Hand genau in dem Moment, in dem auch die Fingerspitzen zu verschwinden drohten. »Uly?« fragte sie hoffnungsvoll.
Plötzlich griff eine starke, rauhe Hand nach ihr und zog sie langsam, aber unerbittlich in die Wand hinein. Voller Panik versuchte Devon, sich zu wehren. Doch der Griff um ihr Handgelenk wurde fester. »Alonzo!« schrie sie verängstigt und sah sich verzweifelt nach ihrem Begleiter um. Aber der Pilot war verschwunden, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Erschrocken und fasziniert zugleich registrierte Devon, wie zuerst ihre Hand und dann der ganze Unterarm mit der Wand verschmolz. Wie eine Krankheit ergriff der Lehm nun auch von ihrem Oberarm und von der Schulter Besitz und verschluckte sie lautlos. Jetzt trennten nur noch wenige Zentimeter ihr Gesicht von der Wand. Devon schloß die Augen, und schon im nächsten Augenblick spürte sie, wie kühle Erde sie umschloß. Danziger hörte Devons Schreie und blieb einen Moment stehen, um sich zu orientieren. Mit der Hand berührte er die Wand zu seiner Linken, die sich unter seinen Fingern kühl und rauh anfühlte und einen Geruch verströmte, den er nur aus seinen Träumen kannte. Es hörte sich so an, als wäre Devon unmittelbar hinter dieser Wand, die nur einige Zentimeter dick zu sein schien. Doch als er versuchte, mit den Fingern ein Loch in die Masse zu graben, mußte er einsehen, daß er sich getäuscht hatte; sie war doch wesentlich massiver. Vielleicht hatte er sich auch in bezug auf Devons Schreie getäuscht? War sie wirklich hier unten, ganz in seiner Nähe? Sollte das der Fall sein, dann mußte er sie für ihren Mut bewundern, auch wenn er sie zugleich dafür verfluchte. War es nicht schon genug, daß er ein paar hundert Meter unter der Erde nach einem kranken Kind suchte? Mußte er jetzt auch noch dessen Mutter retten? Die Kolonisten verfügten nur über eine einzige Taschenlampe, und die hatte Danziger bei sich. Sollte Devon es tatsächlich fertiggebracht haben, in völliger Finsternis hier unten herumzuirren?
Während Danziger weiterging, achtete er gespannt auf jedes Geräusch, und seine Augen wanderten mit der Präzision eines Metronoms über den breiten Gang, der sich scheinbar endlos lang vor ihm erstreckte. Obwohl der Mechaniker im schwachen Lichtschein der Taschenlampe nur wenig sehen konnte, steigerte er sein Tempo. Schließlich machte der Gang wieder eine Biegung, und Danziger befand sich erneut in einem dieser riesigen Gewölbe. Er blieb wie angewurzelt stehen. In der Mitte des Raumes lag Uly, scheinbar leblos, mit ausgestreckten Gliedern; der Junge sah aus wie eine achtlos weggeworfene Marionette. »Bitte, laß ihn noch leben!« flehte Danziger. Wie sollte er es jemals bewerkstelligen, Devon die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen? Er fiel neben dem Jungen auf die Knie und strich ihm behutsam das Haar aus der Stirn. »Uly ...« Aber der Junge reagierte nicht. Verwundert stellte Danziger fest, daß sein ganzer Körper von feinem, weißem Staub bedeckt war, der aussah wie Wüstensand. Aber wie war das möglich, hier, zweihundertfünzig Meter unter der Erde? Danziger tastete nach Ulys Halsschlagader und war unendlich erleichtert, als er spürte, daß der Puls ruhig und regelmäßig ging. Gott sei Dank, der Junge lebte! Als er ihn hochhob, hatte er den Eindruck, daß Uly schwerer, vielleicht sogar ein bißchen kräftiger war, als er ihn in Erinnerung hatte. Aber das konnte auch eine Illusion sein ... Mit dem Kind auf dem Arm verließ Danziger die Halle, trat wieder auf den Gang und verfolgte weiter die zuvor eingeschlagene Richtung. Einen kurzen Moment lang hatte er das Empfinden, er würde beobachtet, doch dieses Gefühl schien zu trügen; jedenfalls konnte Danziger unbehelligt weiterlaufen. Nach einer Weile erreichte er eine Stelle, an der der Weg steil nach oben führte, und kurz darauf sah er, daß durch eine Öffnung am Ende dieses Ganges das Licht der aufgehenden
Sonne fiel. Dort mußte der Ausgang sein. Erleichtert blieb er einen Augenblick stehen, um sich auszuruhen. Plötzlich nahm er ganz in seiner Nähe eine Bewegung wahr, die ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Vor ihm stand wie aus dem Nichts ein Terrianer. Wenn seine Sinne ihm keinen Streich spielten, dann war der Bursche tatsächlich einfach so aus der Wand herausgekommen. Einen Moment lang starrten die beiden sich gegenseitig an, so daß Danziger zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, einen Eingeborenen aus der Nähe zu betrachten. Diese Wesen gehörten zwar nicht gerade zum Schönsten, was er in seinem Leben gesehen hatte, doch fielen ihm andererseits auf Anhieb ein paar Raumfahrer ein, die auch nicht besser aussahen, selbst wenn sie ausnahmsweise einmal nüchtern waren. Plötzlich fühlte sich der Mechaniker so müde wie nie zuvor in seinem Leben. Er hatte die ganze Nacht damit zugebracht, dieses Kind zu suchen, und er hatte es tatsächlich gefunden. Seine Mission war beendet. Sollte Devon tatsächlich durch dieses Labyrinth unterirdischer Gänge irren, würde er später noch einmal zurückkommen, um sie zu suchen. Jetzt war es erst einmal Zeit. Uly nach draußen zu bringen. Kaum hatte er den ersten Schritt in Richtung Ausgang gemacht, da verschwand der Terrianer auf genauso mysteriöse Weise, wie er gekommen war. Anscheinend verschmolz er mit der Wand. Doch das war Danziger inzwischen gleichgültig. Er hatte genug von dieser unterirdischen Welt. Danziger schob Uly in eine bequemere Position, so daß der Kopf des Jungen sanft auf seiner Schulter zu liegen kam, und trat hinaus in den Morgen. Mühsam öffnete Devon ihre bleischweren Lider ... und erkannte verschwommen das Gesicht Julias. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie sich daran zu erinnern, was geschehen war. Dann kehrte schlagartig ihre Erinnerung zurück, und sie setzte sich mit einem Ruck auf. Doch diese Bewegung war zu abrupt
Devons Kreislauf rebellierte, ihr wurde schwindlig, und einen Moment lang glaubte sie, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie sackte zur Seite weg und stützte sich auf die Schulter der Ärztin, während ihr schwarz vor den Augen wurde. »Ist alles in Ordnung, Devon?« fragte Julia besorgt. »Was ist passiert?« »Ich ... ich weiß nicht genau.« Devon blickte sich um, darum bemüht, sich wieder in der realen Welt zurechtzufinden. Alonzo, der neben ihr lag, schlief noch tief und fest. Aber offensichtlich träumte er einen friedlichen Traum, denn er lächelte im Schlaf. Bei seinem Anblick überkam Devon ein Gefühl der Zuneigung und Dankbarkeit. Der Pilot hatte großen Mut bewiesen, als er ihr auf die Reise ins Traumreich gefolgt war. »Devon!« Yale war aufgestanden und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen Hügel. Seine erschöpften Gesichtszüge spiegelten eine ungeduldige Spannung wider, wie Devon sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Eine Vorahnung ergriff von Devon Besitz, die sich gleichermaßen auf Angst und Hoffnung gründete. Sie sprang auf, schob Julia, die sie stützen wollte, beiseite und erkannte schließlich in einiger Entfernung eine Gestalt, die sich ihnen rasch näherte. Dann wurde deutlich, daß es sich um zwei Personen handelte. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Devon ihren Sohn, der den Hügel herab auf sie zulief. Dicht dahinter folgte Danziger; er schien zu lachen. Uly rannte schnell und bewegte seine Arme und Beine koordiniert und rhythmisch. Der Junge hatte weder seinen Immuno-Anzug noch die Beinschienen an und atmete ohne den Respirator. Und er lachte, lachte lauthals wie ein unbekümmertes, glückliches Kind. »Dem Himmel sei Dank«, stießen Julia, Yale und Devon fast gleichzeitig hervor. Dann rannte die erleichterte Mutter zwischen den Bäumen hindurch auf die beiden zu, um Uly in die Arme zu schließen ... um ihren Sohn willkommen zu heißen in
einem Leben, das sie sich schon so lange für ihn gewünscht und für das sie so lange und so hart gekämpft hatte. Auf halbem Wege trafen sie aufeinander und liefen sich fast gegenseitig über den Haufen, weil keiner von ihnen in der Lage war, seiner überschäumenden Gefühle Herr zu werden. Devon drückte ihren Sohn an sich, um ihn kurz darauf auf Armeslänge von sich zu schieben und lange und bewundernd zu betrachten. Gesund! Schmutzig! Das Gesicht zerkratzt! Die Kleider über und über mit Staub bedeckt, strahlte er sie aus glücklichen, großen Augen an, und sie begriff: Es war wahr! Dies war kein Traum! Es hatte alles tatsächlich stattgefunden. Den Terrianern war gelungen, was niemandem zuvor gelungen war und was sie selbst kaum noch für möglich gehalten hätte. Devon wußte nicht, welchen Preis sie am Ende dafür zu zahlen hatte, doch das spielte keine Rolle. Dieser Augenblick allein rechtfertigte jeden Preis. Erneut zog sie ihren kleinen Sohn an sich, während er seine Arme um sie schlang und sie so heftig drückte, wie er nur konnte. »Ich bin da«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich bin da, Mom.« Devon konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und blinzelte Danziger, der inzwischen bei ihnen angekommen war, aus feuchten Augen an. Er hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten, um die beiden in diesem einzigartigen Moment nicht zu stören. Zunächst blieb er unschlüssig bei ihnen stehen, doch dann bezogen Mutter und Sohn ihn in ihre Umarmung ein. Als Yale, Zero und Julia bei ihnen anlangten/hielten sich die drei noch immer fest umarmt.
20 Nach der Rückkehr in das provisorische Lager hielt Devon eine kurze Rede. Sie war dankbar dafür, daß ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien, weil sie dadurch einen Grund hatte, sich ständig die Augen zu reiben. Neben ihr stand Uly, gesund und kräftig, ein Wirklichkeit gewordener Wunschtraum. Obwohl Devon wußte, daß alle ihr zuhörten, verwirrte es sie, daß die Blicke der Anwesenden immer wieder auf ihren Sohn fielen. Aber konnte sie es den Leuten übelnehmen, daß sie den Jungen derart fasziniert anstarrten? Schließlich konnte auch sie nicht umhin, alle paar Augenblicke ungläubig zu ihm hinüberzuschauen. »Wenn wir im Schnitt zwölf Meilen pro Tag schaffen, können wir in neun Monaten in New Pacifica sein. Dann haben wir immer noch ein Jahr Zeit, um alle notwendigen Vorbereitungen für die Ankunft der Kolonisten zu treffen.« Sie legte eine Pause ein, um sich erneut die Tränen aus den Augen zu wischen, und bemerkte, daß Danziger sie lächelnd ansah. Der Mechaniker saß oben auf dem TransRover und hatte seine Arme fest um True geschlungen, die es sich zwischen seinen Knien bequem gemacht hatte. »Mir ist klar, daß das kein Kinderspiel wird. Und auch ich weiß nicht mehr über diese Welt als ihr. Aber eins weiß ich ganz sicher: New Pacifica existiert. Und irgend etwas sagt mir, daß wir dort in Frieden und Sicherheit leben werden.« Als sie abermals einen Blick auf Uly warf, konnte sie sich nicht länger beherrschen: sie nahm ihren Sohn in die Arme und zog ihn an sich. Zum wiederholten Mal durchfuhr sie das Gefühl, daß sie Zeugin eines Wunders geworden war. Sie lächelte dem Kleinen zu, ehe sie den Blick wieder auf die Versammelten richtete. »Ich denke, die Genesung meines
Sohnes ist Beweis genug, daß wir fest an eine glückliche Zukunft glauben können.« »So einfach ist das also?« schaltete sich Morgan in der ihm eigenen, unverschämten Art ein. In den hinteren Reihen stöhnten einige Zuhörer genervt auf, und Devon konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Warum mußte dieser Wichtigtuer auch zu allem seine überflüssigen billigen Kommentare abgeben? Selbst seiner Frau, die neben ihm stand, schien sein Verhalten unendlich peinlich zu sein. »Sie beschließen das, und wir haben uns alle auf den Weg zu machen. So haben Sie sich das gedacht, nicht wahr?« »Nein«, gab Devon einfach und geradlinig zurück. Über die Köpfe der Menge hinweg warf sie Danziger einen vielsagenden Blick zu. »Wir werden darüber abstimmen.« Ein Grinsen glitt über das Gesicht des Mechanikers, und er winkte ihr beifällig zu. »Ich bin dafür, daß wir gehen.« Julia streckte ihre Hand hoch in die Luft, damit jeder sie sehen konnte. Alonzos Arm schnellte ebenfalls in die Höhe. Seit ihrer Rückkehr aus der Traumwelt, in der sie mit den Terrianern in Verbindung getreten waren, war der Pilot sehr ruhig und nachdenklich gewesen, und Devon hatte sich schon gefragt, worüber er die ganze Zeit nachdachte. Hinter sich sah sie nun Yale den Arm heben. Eine Hand nach der anderen reckte sich in die Höhe, und mit einem strahlenden Lächeln hob auch Bess Martin ihre Hand. Als Morgan sie deswegen schief ansah, hob sie seinen Arm ebenfalls hoch und drückte ihm einen zärtlichen Kuß auf die Wange. Devon unterdrückte ein Lächeln. Bess schien zu wissen, wie man mit Morgan Martin umzugehen hatte. Erneut sah sie zu Danziger hinüber. True hatte bereits ihre Hand in der Luft und winkte damit wie wild hin und her, damit auch ja alle ihre Zustimmung deutlich sehen konnten, Danzigers Entscheidung ließ jedoch noch immer auf sich warten.
Erwartungsvoll sah Devon ihn an, und er erwiderte ihren Blick selbstbewußt, ehe sich auch sein Arm hob. Als sie die vielen erhobenen Arme sah, atmete Devon erleichtert auf. Alle stimmten dem Plan zu. Sie hatten diesen Planeten betreten, ohne sich zu kennen, und auch die Erfahrungen der vergangenen Tage hatten sie nicht gerade zu Freunden gemacht. Aber wenn sie sich jetzt auf die Reise begaben, dann verfolgten sie alle ein gemeinsames Ziel. Die Kolonisten hatten sich abmarschbereit bei der zerstörten Frachtkapsel versammelt. Auf ein Zeichen von Devon hin setzte sich die kuriose Prozession in Bewegung, die aus ein paar Fahrzeugen, einem Roboter, einem Cyborg und einem kleinen Häuflein von Menschen bestand, die ausnahmslos Zuversicht ausstrahlten. Noch ein paar Tage zuvor, als sie alle unter dem Schock von Broderick O'Neills Tod gestanden hatten, hätte Devon es nie für möglich gehalten, daß sie sich schließlich doch noch auf den Weg machen würden. Die Leiterin der Expedition stand auf der Kuppe des Hügels und suchte mit dem Telescanner den Horizont ab. Der Boden vibrierte leicht unter ihren Füßen, doch dieses Mal waren es nicht die Terrianer, die sich näherten, sondern der TransRover, der sich schnaufend den Hügel hinaufschob. Das Fahrzeug ächzte und quietschte unter dem Gewicht der Passagiere und der Ausrüstungsgegenstände, die sie aus der Frachtkapsel hatten bergen können. Devon setzte den Scanner ab und beobachtete Danziger, der es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht hatte. Die beiden nickten einander freundlich zu, ehe der Mechaniker den TransRover vorsichtig und langsam die andere Seite des Hügels hinabsteuerte. Dahinter folgte True mit dem SandRail. Sie fuhr im Schrittempo, und neben dem Fahrzeug ging Uly und lauschte mit großen, ernsten Augen aufmerksam den ausführlichen Erklärungen des Mädchens zur Funktionsweise des Motors.
Obwohl Devon noch immer fürchtete, daß ihr Sohn sich überanstrengen könnte, ließ sie ihm die Freude, zum ersten Mal in seinem Leben das zu tun, was er wollte. Noch einmal suchte sie mit dem Telescanner die Ebene ab, und wieder schien alles ruhig zu sein. Nichts deutete auf eine Gefahr für den Treck hin. Doch auch wenn die imposanten Gestalten der Terrianer nicht am Horizont auftauchten, war sich Devon der Tatsache bewußt, daß die Eingeborenen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Eine Lebensform, die in so perfektem Einklang mit der Erde lebte, daß sie sie zu einem Bestandteil ihres Körpers machen konnte, wußte mit großer Sicherheit alles, was auf der Erdoberfläche ihres Planeten vor sich ging. »Vor vier Tagen ist hier ein Häufchen Außerirdischer gelandet...« Fragend schaute sie Yale an, der unbemerkt neben sie getreten war. An den Gedanken, daß auf C889 sie die Außerirdischen waren, mußte sich Devon erst einmal gewöhnen. »Und?« forderte sie den Lehrer zum Weiterreden auf. »Und? Wir begeben uns auf eine Wanderung, die uns quer über einen unbekannten Planeten führen wird - in der Hoffnung, daß wir irgendwie schon an unser Ziel gelangen werden. Doch bis dahin werden wir uns immer und immer wieder die gleichen Fragen stellen: Wann fordern die Terrianer die Begleichung unserer Schuld ein? Und was wird sich uns noch alles in den Weg stellen?« Devon nickte, Yales Worte hatten sie nachdenklich gestimmt. Allerdings mußte sie schon bald wieder lächeln, als aus dem Treck völlig unerwartet ein Marschlied ertönte, dessen Urheber zweifelsohne Zero war. »Wir müssen uns vor allem fragen, ob wir es aushalten, monatelang mit Zero zu reisen, ohne ihn umzubringen.« »Ein Sprachmodul zu deaktivieren ist nicht dasselbe wie ein Mord«, entgegnete Yale und zog eine Augenbraue hoch. Dann setzte er sich in Bewegung, um dem Zug zu folgen.
Ein weiteres Motorengeräusch kündigte Devon das Erscheinen Alonzos an. Der Verletzte saß auf dem ATV, den Uly ihm nur allzugern zur Verfügung gestellt hatte, allerdings nicht, ohne dem geduldigen Raumfahrer zuvor eine sorgfältige Unterweisung im Gebrauch dieser hochkomplizierten Maschine angedeihen zu lassen. Devon sah zu ihm hinüber und lächelte ihn an. »Was ist los, Alonzo? Alles in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf und schaute sie nachdenklich an. »Ich weiß nicht, Devon. Ich weiß nicht, was wir ihnen versprochen haben. Wie hoch wird der Preis sein, den wir zu zahlen haben?« Devon war sich sicher, daß Alonzo ihren Besuch bei den Terrianern nicht bereute. Vermutlich wollte er nur etwas wie eine Bestätigung erhalten, daß sie keinen Fehler gemacht hatten. Allerdings wußte sie selbst nicht genau, ob sie ihm damit dienen konnte. Dann jedoch fiel ihr Blick auf Uly - und dieser Anblick war Antwort und Bestätigung genug. Wie der Junge gesund und munter neben dem SandRail herlief, um bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zur Seite zu springen und irgend etwas genauer in Augenschein zu nehmen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, trieb ihr fast wieder die Tränen in die Augen. Sie holte tief Luft. »Ich weiß es auch nicht. Aber«, fuhr sie entschieden fort, nachdem sie dem Piloten einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen hatte, »aber ich würde es genauso wieder machen.« Das kleine Tier, Trues »Kätzchen«, das in der Sprache der Terrianer »Koba« hieß, lief in dem verlassenen Lager herum, schnüffelte an der kalten Feuerstelle und sah dem Wagenzug nach, der in der Ferne verschwand. Es hatte die Gesellschaft der fremden Lebensform genossen, von der es gefüttert und gestreichelt worden war. Man konnte nicht behaupten, daß das Tier True richtiggehend vermißte, aber es registrierte ihre
Abwesenheit und trauerte ihr in dem Maß nach, in dem Tiere dazu in der Lage sind. Plötzlich hörte der Koba ein kreischendes Geräusch, als ob Steine auf Metall kratzten. Er setzte sich auf seine Hinterpfoten, stellte die Ohren auf und lauschte aufmerksam. Aufgeregt sprang er den Abhang hinauf, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und versteckte sich zwischen den Steinen. Dann schaute er sich vorsichtig um. Vielleicht waren sie doch nicht alle fortgezogen! Als der Koba erkannte, wer das Geräusch verursacht hatte, duckte er sich erschrocken hinter einen Felsbrocken. Der Anblick des gedrungenen Hominiden, des Grendlers, der ein paar Meter entfernt kauerte, machte ihm angst. Breitbeinig hockte der Grendler neben einer Metallplatte, die er offensichtlich gerade zur Seite geschoben hatte, und war gerade dabei, mit einem Werkzeug Steine und Erde aus der Grube zu holen, in die die Menschen ihren toten Kameraden gelegt hatten. Der Koba kräuselte angewidert die Nase. Grendler fraßen fast alles. Das Geräusch sich nähernder Schritte veranlaßte den Koba, sich noch tiefer zwischen die Felsen zu ducken. Hinter einem riesigen Findling trat ein fremdartiges Wesen hervor, eines, das der Koba noch nie gesehen hatte und das auch nicht zu denen gehörte, die gerade die Gegend verlassen hatten. Der Fremde war groß, kräftig und machte einen bedrohlichen Eindruck. Seine zerrissenen Kleider flatterten im Wind. Einen Moment lang überlegte der Koba, ob er zu ihm hinüberlaufen und um Futter betteln sollte. Aber dann sah er die finsteren, unheimlichen Augen des Fremden und zog es vor, in seinem Versteck zu bleiben. »Gaal.« Die Stimme des Grendlers klang kehlig, als ob er es nicht gewohnt war, seine Zunge zum Sprechen zu benutzen. Der Fremde bückte sich und nahm einen langen, schmalen Gegenstand in Empfang, den der Grendler ihm aus der Grube
reichte. Mit seinen langen, kräftigen Fingern strich er zärtlich über O'Neills Gewehr, bevor er sich die Waffe über die Schulter hängte. Er trat einen Schritt nach vorn und beobachtete lächelnd, wie der Wagenzug hinter dem nächsten Hügel verschwand. Langsam erstarrte das Lächeln und verwandelte sich in ein bösartiges, gemeines Grinsen. Der Fremde betastete seinen Hals, und als er die Hand wegzog, wurde eine Tätowierung sichtbar, ein Symbol aus zwei stilisierten Schriftzeichen. Es war dasselbe Symbol, das Devon in der Höhle der Terrianer gesehen hatte: »E2«.