Jose Carlos
SOMOZA
Das
Einstein-
Projekt
THRILLER Aus dem Spanischen von Elisabeth M ü l l e r
Ullstein
PROLOG
Sierra de Ollero 12. Juli 1992 10.50 Uhr Nebel u n d Dunkelheit hatten sich verflüchtigt, u n d die Sonne strahlte v o m H i m m e l , erhaben wie ein griechischer Gott. Die Welt war üppig grün und erfüllt vom Duft nach Fichtennadeln und Blumen, vom Zirpen der Zikaden u n d Summen der Bienen und v o m g e m ä c h l i c h e n P l ä t s c h e r n eines Bachlaufs. Nichts, so dachte der M a n n , konnte diese pralle Natur, dies Licht u n d Le ben t r ü b e n , doch unwillkürlich beschlich ihn bei diesem Gedan ken ein ungutes Gefühl. Vielleicht wegen des Gegensatzes z w i schen dem, was er vor Augen hatte, und dem, was seines Wissens nach jederzeit passieren konnte: Der Zufall (oder etwas Schlim meres) konnte auch das größte Glück auf tausenderlei Arten zer stören. Nicht, dass er ein Pessimist gewesen wäre; doch die m i t den Jahren gewachsene Erfahrung meldete sich, wann immer i h m eine Situation allzu paradiesisch erschien. Der M a n n wanderte am Bachlauf entlang. Ab u n d zu blieb er stehen u n d betrachtete nachdenklich seine Umgebung, bevor er den F u ß m a r s c h fortsetzte. Schließlich erreichte er eine Stelle, die i h m geeignet erschien: B ä u m e spendeten den n ö t i g e n Schatten, und ein frischer Luftzug w ü r d e die Schwüle fern halten. Etwas weiter vorn führte der Weg v o m steinigen Bachufer fort u n d zu einem kleinen felsigen H ü g e l , wo er endete. Deshalb ging der M a n n davon aus, dass er die gesuchte Abgeschiedenheit gefun den hatte und so ungestört sein w ü r d e wie in einem Naturschutz
gebiet, zu dem niemand Z u t r i t t hatte. Ein flacher Felsbrocken sollte i h m als Sitzplatz dienen. Von dort wollte er den Angelha ken auswerfen und das Warten g e n i e ß e n , die stille Landschaft und das funkelnde Wasser. Nichts war für ihn entspannender. Er bückte sich und stellte den Korb m i t den Ködern und der Angel rute ab. Als er sich wieder aufrichtete, h ö r t e er die Stimmen. Sie tauchten so überraschend aus dem stillen Morgen auf, dass er vor Schreck zusammenzuckte. Die Laute wehten vom Felshü gel zu i h m herüber, den er nicht ganz überblicken konnte, aber dem hellen Klang nach zu urteilen, musste es sich um spielende Kinder handeln. Der M a n n nahm an, dass sie in der Umgebung zu Hause waren. O b w o h l i h n die Anwesenheit anderer etwas störte, tröstete er sich m i t dem Gedanken, dass spielende Kinder an einem sonst perfekten Tag wie diesem noch die angenehmste S t ö r u n g waren. Er nahm die Kappe vom Kopf, wischte sich den Schweiß ab und lächelte. M i t einem Mal erstarrte er. Das war kein Spiel. Da stimmte etwas nicht. Eines der Kinder schrie auf eine sonderbare A r t . Die Worte ü b e r s c h l u g e n sich förmlich, so dass der M a n n nichts verstand, aber das Kind, das da schrie, war alles andere als glücklich, es war in großer Not. Plötzlich waren sämtliche Stimmen verstummt, sogar die V ö gel h ö r t e n für einen Augenblick auf zu singen, als hielte die Welt in Erwartung eines besonderen Ereignisses den Atem an. Kurz darauf zerriss ein ganz anderer Schrei die Stille u n d zuckte ü b e r den H i m m e l , dass die blank geputzte blaue Luft wie Porzellan zu zersplittern schien. Der M a n n am Ufer des Baches dachte, dass dieser s o n n t ä g liche Sommermorgen des Jahres 1992 sich anders entwickelte, als er es erwartet hatte. Etwas hatte sich verändert, vielleicht nur geringfügig, aber endgültig.
Mailand 10. März 2015 9.05 Uhr I n m i t t e n der h ä u s l i c h e n Stille hallte der Schrei noch wie ein Echo in den Ohren von Frau Portinari fort. U n d erst als er nach einer winzigen Pause erneut ertönte, war Frau Portinari zu einer Reaktion imstande. Sie nahm die Lesebrille ab, die sie an einer Perlenkette um den Hals trug, und ließ sie vor der Brust bau meln. »Was war das denn?«, fragte sie dann laut, obwohl ihre junge Haushaltshilfe aus Ecuador um diese Uhrzeit - die Digitaluhr im Regal, die sie als Werbegeschenk von ihrer Bank erhalten hatte, zeigte 9.05 U h r - noch nicht eingetroffen und sie aüein zu Hause war. Doch seit ihr M a n n vier Jahre zuvor gestorben war, führte Frau Portinari oftmals Selbstgespräche. »Guter Gott im H i m mel! Was ...?« Der Schrei wiederholte sich ein drittes M a l , gellte noch lauter. Frau Portinari fühlte sich an den Hausbrand in ihrer ehemali gen Wohnung im Zentrum von Mailand erinnert, der ihren Mann u n d sie vor fünfzehn Jahren fast das Leben gekostet h ä t t e . Erst nach dem Tod ihres Mannes hatte sie beschlossen, in die Via Giardelli umzuziehen. Die Wohnung unweit der Universität war kleiner, aber auch ruhiger und angemessener für eine allein ste hende ältere Dame. Sie wohnte gern hier, weil in diesem Stadt viertel niemals irgendetwas passierte. Bis zu diesem Moment.
Frau Portinari lief zur Tür, so schnell ihre Gelenke es erlaub ten. »Heilige Mutter Gottes!«, murmelte sie und umklammerte den Gegenstand in ihrer Hand, um a n s c h l i e ß e n d festzustellen, dass es sich um den Kugelschreiber handelte, m i t dem sie gerade ihre Einkaufsliste für die Woche gemacht hatte. Sie hielt sich da ran fest, als wäre es ein Kruzifix. A u f dem Treppenabsatz hatte sich bereits ihr Nachbar einge funden und starrte nach oben. »Es k o m m t aus der Wohnung von Professor M a r i n ü « , rief Herr Genovese. Der Grafiker wohnte ihr gegenüber, u n d Frau Portinari hätte ihn wesentlich sympathischer gefunden, hätte er nicht diese auffällige Neigung zur H o m o s e x u a l i t ä t gezeigt. »Der Herr Professor!«, t ö n t e es aus einer anderen Wohnung. Der Herr Professor, dachte sie. Was dem armen Kerl w o h l zu g e s t o ß e n war? U n d von wem stammte dieses entsetzliche Ge heul? Zweifellos die Stimme einer Frau. Wer es auch sein mochte, Frau Portinari wusste nur eins: Schreie wie diese hatte sie noch nie vernommen, nicht einmal w ä h r e n d des schrecklichen Haus brands. Dann waren Schritte zu h ö r e n , das Getrappel von jemandem, der hastig die Treppe herunterkam. Weder Herr Genovese noch sie reagierten sofort, sie standen weiter auf dem Treppenabsatz vor ihren Wohnungen und starrten nach oben, so bleich vor Schreck, dass sie auf einmal beide ganz alt aussahen. M i t klop fendem Herzen machte sich Frau Portinari auf das Schlimmste gefasst: den Verbrecher oder das Opfer. Doch sie wusste instink tiv, dass es nichts Entsetzlicheres geben konnte als diese gräss lichen Schreie einer gepeinigten Seele, die sich wie ein Echo fort setzten, ohne dass man sah, woher sie kamen. Als sie dem Urheber ins Gesicht blickte, wurde ihr allerdings bewusst, wie sehr sie sich geirrt hatte. Es gab noch wesentlich Schlimmeres als diese Schreie.
I.
DER ANRUF
Auch ist es besser, Gefahren auf halbem Wege entgegenzugehen, wenn sie nicht n ä h e r kommen, als auf ihr Herankommen zu warten. Francis Bacon
1
Madrid 11. März 2015 11.12 Uhr Genau sechs M i n u t e n u n d d r e i ß i g Sekunden, bevor ihr Leben eine entscheidende, ja schreckliche Wendung nehmen sollte, tat Elisa Robledo etwas völlig Banales: Sie gab fünfzehn Drittsemes tern an der Fachhochschule für Ingenieurwesen eine freiwillige Unterrichtsstunde ü b e r die neuesten Theorien der Physik. In i h rem Innern mochte sie eine Vorahnung haben, was ihr in Kürze widerfahren sollte, denn im Gegensatz zu zahlreichen Studen ten u n d nicht wenigen Dozenten, die in diesen Räumlichkeiten manchmal Beklemmungen bekamen, fühlte sich Elisa in einem Hörsaal stets sicherer als in ihrer eigenen Wohnung. Das war ihr bereits in der Schule, wo sie A b i t u r gemacht hatte, so gegangen und später in den kargen S e m i n a r r ä u m e n ihrer Fakultät. Inzwi schen arbeitete sie in den modernen, hellen Sälen der Fachhoch schule für Ingenieurwesen, die der Alighieri-Universität in M a drid angegliedert war. Diese luxuriöse private Lehranstalt verfügte ü b e r H ö r s ä l e m i t g r o ß e n Fenstern, v o n denen aus man einen herrlichen Blick ü b e r den Campus hatte, sowie eine hervorra gende Akustik, u n d ü b e r a l l roch es nach edlen H ö l z e r n . Elisa w ä r e dort ohne Z ö g e r n eingezogen. Denn unbewusst war sie überzeugt, dass ihr an einem O r t wie diesem niemals etwas Bö ses zustoßen k ö n n t e . Doch da irrte sie sich, u n d es blieben ihr bis zu dieser Feststel lung nicht mehr als sechs M i n u t e n .
Elisa war eine brillante Hochschullehrerin und hatte einen entsprechenden Ruf. An jeder Universität gibt es Dozenten und Studenten, über die Gerüchte in Umlauf sind, und die rätselhafte, u n e r g r ü n d l i c h e Elisa Robledo bot sich hervorragend dafür an. Dass es das »Elisa-Mysterium« gab, war nicht weiter verwun derlich, denn sie war eine allein stehende junge Frau mit langem, gewelltem schwarzen Haar, und ihr Gesicht und ihre Figur wä ren eine Zierde gewesen für das Titelblatt jedes S c h ö n h e i t s m a gazins. Gleichzeitig hatte sie sich m i t ihrem analytischen Geist, ihrer außergewöhnlichen mathematischen Begabung und ihrem A b s t r a k t i o n s v e r m ö g e n einen festen Platz in der kühlen Welt der von wissenschaftlichen Prinzipien beherrschten theoretischen Physik erobert. Theoretische Physiker waren hoch geachtet, ja wurden beinah verehrt. U n d von Einstein bis Stephen Hawking galten die theoretischen Physiker als der unumstrittene und viel gepriesene Inbegriff der Physik. Obwohl die Themen, m i t denen sie sich befassten, abstrus und für die breite Masse mehr als un begreiflich waren, wurde eine Menge Aufhebens um sie gemacht, und in der Regel hielt man sie für den Prototyp des kühlen, men schenscheuen Genies. Bei Elisa Robledo war indes von dieser Kühle nichts zu s p ü ren: Sie war eine leidenschaftliche Lehrerin, und das ü b e r t r u g sich auf ihre Studenten. Doch damit nicht genug, sie hatte auch hervorragende fachliche Qualitäten, war d a r ü b e r hinaus eine lie benswerte, stets hilfsbereite Kollegin. Äußerlich war nichts Son derbares an ihr. U n d das war das Sonderbarste. Allgemein herrschte die Meinung, dass Elisa zu perfekt sei, zu intelligent. Und dass sie sich eigentlich zu schade sein müsste, an der Alighieri im unbedeutenden Fachbereich Physik zu arbeiten, der für die Studenten der Wirtschaftswissenschaften nur Wahl fach war. Ihre Kollegen waren davon überzeugt, dass sie eine sehr viel bessere Stelle bekommen k ö n n t e : einen Posten im Wissen schaftsrat des Erziehungsministeriums, einen Lehrstuhl an einer staatlichen Universität oder eine wichtige Stellung in irgendei
nem angesehenen a u s l ä n d i s c h e n Institut. Elisas Fähigkeiten schienen an der Alighieri verschwendet. H i n z u kam, dass sich m i t keiner Theorie - und Physiker halten viel von Theorien - zu frieden stellend erklären ließ, weshalb Elisa m i t ihren zweiund dreißig, fast d r e i u n d d r e i ß i g Jahren (sie hatte im nächsten M o nat Geburtstag, also im A p r i l ) i m m e r noch solo war und fast keine Freunde hatte, aber dennoch glücklich war, als erwarte sie nicht mehr v o m Leben. Noch nie war von einer Beziehung zu einem M a n n - oder zu einer Frau - die Rede gewesen, und ihre Bekannten rekrutierte sie im Kollegenkreis, ohne indes m i t i h nen die Freizeit zu verbringen. Dabei war sie keineswegs arro gant, ja nicht einmal eitel, obwohl sie ihr attraktives Ä u ß e r e s durch eine Sammlung ausgefallener, eng anliegender Designer kleider und -hosen noch in fast provokantem M a ß e zu betonen pflegte. Dennoch schien sie m i t dieser Aufmachung weder Auf sehen erregen noch die Legionen von M ä n n e r n anlocken zu wollen, die sich nach ihr den Kopf verdrehten. Unterhaltungen m i t ihr kreisten stets um strikt Berufliches, sie war höflich, lä chelte viel. Das »Elisa-Mysterium« war u n e r g r ü n d l i c h . N u r gelegentlich irritierte etwas an ihr, nichts Konkretes, eher eine gewisse Weise zu schauen, ein Flackern in der Tiefe ihrer braunen Pupillen oder eine A r t innerer Unruhe, die nach einer kurzen Unterhaltung in ihren G e s p r ä c h s p a r t n e r n aufkam. Es war, als hütete sie ein Geheimnis. Ihr Kollege Victor Lopera und der Fachbereichsleiter Noriega, die sie am besten kannten, hat ten das unbestimmte Gefühl, dass es vielleicht besser wäre, dass Elisa ihr Geheimnis für sich behielt. Es gibt Menschen, die in u n serem Leben nie eine Rolle spielen und an die w i r nur ein paar unbestimmte Erinnerungen bewahren, dennoch sind sie uns u n vergesslich: So jemand war Elisa Robledo, und alle wollten, dass sie es blieb. Allerdings v e r s p ü r t e Victor Lopera zuweilen das dringende Bedürfnis, ihr Geheimnis zu lüften. Einige Versuche in dieser Richtung hatte der Hochschullehrer für theoretische Physik und einer von Elisas wenigen echten Freunden schon gestartet. Den
letzten i m vergangenen Jahr, genauer i m April 2014, als der Fach bereich beschloss, an Elisas Geburtstag eine Ü b e r r a s c h u n g s p a r t y zu veranstalten. Die Idee stammte u r s p r ü n g l i c h von Teresa, Noriegas Sekretä r i n , aber der ganze Fachbereich hatte sich dafür begeistern lassen, sogar ein paar Studenten. Voller Eifer hatten sie einen Monat lang die Party vorbereitet, bot sich doch die ideale Möglichkeit, in Elisas magischen Zirkel einzudringen u n d der Unfassbaren n ä h e r zu kommen. M a n kaufte Kerzen m i t den Zahlen drei u n d zwei, einen Kuchen, Luftballons u n d einen g r o ß e n Teddybären u n d großzügigerweise steuerte der Fachbereichsleiter ein paar Flaschen Cava bei. Die Kollegen schlossen sich im Lehrerzimmer ein, s c h m ü c k t e n es rasch, zogen die V o r h ä n g e zu und löschten das Licht. Als Elisa morgens zur Fakultät kam, machte sie der eingeweihte Hausmeister darauf aufmerksam, dass eine »Son d e r k o n f e r e n z « stattfinde. W ä h r e n d die anderen im Dunkeln warteten, ging die T ü r auf, und Elisas Silhouette zeichnete sich in der Ö f f n u n g ab. Da brachen der Applaus u n d das Geläch ter los, es wurde Licht gemacht, u n d Rafa, einer ihrer fortge schrittensten Studenten, filmte die Verwirrung der jungen Lehr kraft m i t einer der neuesten Videokameras, die auf dem Markt waren. Doch die Feier fiel kurz aus und diente nicht dazu, tiefer in das »Elisa-Mysterium« einzudringen. Noriega sprach ein paar be wegende Worte, es wurden die ü b l i c h e n Lieder gesungen, u n d Teresa schwenkte ein spaßiges Plakat vor der Kamera, auf das ihr Bruder, der Zeichner war, eine Karikatur von Isaac Newton, Albert Einstein, Stephen Hawking u n d Elisa Robledo gemalt hatte, wie sie gemeinsam denselben Kuchen verzehren. Alle hat ten Gelegenheit, Elisa ihre Zuneigung zu zeigen und ihr das Ge fühl zu vermitteln, dass man sie mochte, wie sie war, u n d dass man nichts anderes von ihr erwartete, als dass sie das verführe rische Mysterium bliebe, an das sie sich inzwischen gewöhnt hat ten. Elisa selbst war, wie immer, perfekt: Ihre Miene spiegelte das rechte M a ß an Staunen und Freude, ja, ihre Augen ließen sogar
ein wenig R ü h r u n g erkennen. A u f dem Video sah sie m i t ihrer traumhaften, von Kurzjacke u n d Hose betonten Figur wie eine Studentin aus oder wie der Ehrengast bei einem besonderen Er eignis ... oder wie ein Pornostar m i t dem ersten Oscar in der Hand, wie Rafa seinen Freunden auf dem Campus zuflüsterte: »Einstein und Marilyn Monroe m i t gefärbtem Haar, endlich in ein- u n d derselben Person vereint«, sagte er. Trotzdem konnte ein aufmerksamer Beobachter in der Auf zeichnung etwas bemerken, das dieses Bild störte: Elisas Gesichts ausdruck, als das Licht angeschaltet wurde. Keiner achtete auf dieses Detail, denn letzten Endes hatte nie mand wirklich Interesse daran, sich eingehender m i t den Bildern eines fremden Geburtstags zu beschäftigen. Allein Victor Lopera nahm die entscheidende, wenn auch flüchtige V e r ä n d e r u n g wahr: Als die Lichter angingen, spiegelten Elisas Züge nicht nur die Verblüffung ü b e r die Ü b e r r a s c h u n g , sondern eine viel tiefer gehende Empfindung, ja E r s c h ü t t e r u n g . Keine Zehntelsekunde später lächelte Elisa wieder, hatte ihre Fassung zurückgewonnen. W ä h r e n d dieses winzigen Lapsus freilich hatte sich ihre S c h ö n heit in Auflösung befunden. U n d wer sich das Band ansah, a m ü sierte sich ü b e r den »Mordsschrecken«, den sie ihr eingejagt hat ten. Nicht so Lopera. Denn i h m war noch etwas aufgefallen. Was? Da war er sich nicht sicher. Vielleicht den W i d e r w i l l e n seiner Freundin gegen diesen als geschmacklos empfundenen Scherz, extreme S c h ü c h t e r n h e i t oder noch etwas anderes. Konnte es Angst gewesen sein? Victor, der aufmerksame u n d intelligente Beobachter, fragte sich unwillkürlich, wovor sich Elisa in dem dunklen Zimmer wohl gefürchtet hatte. A u f welche A r t von »Mordsschrecken« war sie gefasst gewesen, bevor an jenem düsteren Ort für die mys teriöse, wunderschöne, perfekte Hochschullehrerin Elisa Robledo die Lichter angingen und Gelächter und Beifall losbrachen. Er h ä t t e alles darum gegeben, es zu wissen. Was Elisa an diesem Unterrichtsvormittag erfahren sollte, was sich in kaum sechs M i n u t e n an jenem friedlichen, abgeschiede
nen O r t zutragen w ü r d e , h ä t t e Victor Lopera auf eine F ä h r t e bringen k ö n n e n , aber leider war er nicht dabei. Elisa gab sich stets M ü h e , Beispiele zu finden, mit denen sie die überfütterten Gehirne der Kinder aus besseren Familien wach rütteln konnte. Keiner ihrer Studenten w ü r d e sich auf theoreti sche Physik spezialisieren, so viel war sicher. Sie wollten nur im Eiltempo die abstrakten Lerninhalte eingetrichtert bekommen u n d die P r ü f u n g e n bestehen, um m i t dem Zeugnis unter dem A r m die begehrtesten Posten in Wirtschaft und Industrie zu er gattern. Die Fragen nach dem Wie und Warum, welche die Wis senschaft bestimmten, seit der menschliche Geist diese auf Er den eingeführt hatte, waren ihnen einerlei: Sie wollten Antworten, Effekte, schwierige Aufgabenstellungen, um gute Noten einzu heimsen. Dennoch war Elisa b e m ü h t , ihnen den Stoff so zu prä sentieren, dass sie nach den Ursachen fragten, nach dem Unbe kannten. Sie versuchte gerade, ihren Studenten das a u ß e r g e w ö h n l i c h e P h ä n o m e n nahe zu bringen, dass die Realität mehr als drei D i mensionen hat, vielleicht sogar sehr viel mehr als die auf den ers ten Blick sichtbaren » H ö h e Breite Tiefe«. Einstein hatte mit sei ner allgemeinen Relativitätstheorie bewiesen, dass die Zeit eine vierte Dimension ist, und die komplexe String-Theorie, deren Schlussfolgerungen die moderne Physik vor große Herausforde rungen stellten, besagte, dass der Raum mindestens neun wei tere Dimensionen kennt - kaum nachvollziehbar für den mensch lichen Geist. Elisa fragte sich bisweilen, ob die Leute ü b e r h a u p t eine A h nung hatten, was die Physik bisher entdeckt hatte. M i t t e n im 2 1 . Jahrhundert, im so genannten Wassermannzeitalter, faszi nierten immer noch ü b e r n a t ü r l i c h e oder paranormale P h ä n o mene die breiten Massen, als wären die natürlichen und norma len Ereignisse weithin bekannt und nichts läge davon mehr im Dunkel. Dabei musste man nicht erst fliegende Untertassen oder Gespenster sehen, um zu begreifen, wie ü b e r a u s verstörend un
sere Welt selbst für die verwegensten Geister ist, fand Elisa. Z u mindest dies wollte sie den fünfzehn Studenten in dieser beschei denen Unterrichtsstunde einmal demonstrieren. Sie begann m i t einem einfachen, witzigen Beispiel, indem sie eine Folie mit der Strichzeichnung einer menschlichen Figur und eines Quadrats auf den Overheadprojektor legte.
»Dieser M a n n « , erklärte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Figur, »lebt in einer Welt mit nur zwei Dimensionen, H ö h e und Breite. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet und ein Ver m ö g e n angespart: einen Euro.« Sie h ö r t e Gelächter und wusste, dass es ihr gelungen war, die Aufmerksamkeit von einigen der fünfzehn gelangweilten Augenpaare auf sich zu ziehen. » D a m i t niemand den Euro stiehlt, beschließt er, i h n auf die sicherste Bank seiner Welt zu legen: ein Quadrat. Dieses Quadrat hat nur eine einzige seitliche Öffnung; unser Freund steckt den Euro dort hinein, damit ihn kein anderer herausholen kann.« M i t einer raschen Bewegung holte Elisa aus ihrer Jeanstasche eine E i n - E u r o - M ü n z e , die sie zu diesem Zweck dort hineingetan hatte, und legte sie in das Quadrat auf der Folie. »Unser Freund meint nun, dass seine Ersparnisse auf dieser Bank sicher w ä r e n . Niemand, absolut niemand kann von der Seite in das Quadrat eindringen . . . Das heißt niemand aus sei ner Welt. Ich aber kann i h m das Geld problemlos entwenden, i n dem ich m i r die dritte Dimension zunutze mache, die für die Be
wohner jenes flachen Universums nicht wahrnehmbar ist: die Tiefe.« Elisa nahm die M ü n z e und ersetzte die Folie durch eine andere. »Ihr k ö n n t euch vorstellen, wie es dem armen M a n n geht, wenn er sein Quadrat öffnet und feststellt, dass seine Er sparnisse verschwunden sind. Wie nur konnten sie aus einem Quadrat entwendet werden, wo dieses doch die ganze Zeit ge schlossen war?«
»Echt fies«, murmelte ein junger M a n n m i t B ü r s t e n s c h n i t t und bunter Brille in der ersten Bankreihe und provozierte damit neues Gelächter. Elisa s t ö r t e n die Lacher nicht und auch nicht die mangelnde Konzentration ihrer Studenten: Sie wusste, dass das simple Beispiel eigentlich zu banal war für dieses Semester, aber genau das war ihre Absicht. Sie wollte die E i n g a n g s t ü r so
weit wie möglich öffnen, weil sie wusste, dass am Ende nur we nige den Ausgang erreichen w ü r d e n . Die allgemeine Heiterkeit legte sich, als sie einen leiseren Ton anschlug. »Dieser Mann kann sich genauso wenig vorstellen, wohin sein Geld verschwunden ist, wie wir uns vorstellen k ö n n e n , dass an dere Dimensionen um uns herum existieren. Also«, sie betonte jedes Wort, »zeigt dieses Beispiel, auf welche Weise andere Dimen sionen Einfluss auf uns haben und sogar Ereignisse auslösen k ö n nen, die wir automatisch als übernatürlich einordnen würden ...« Ihre Worte gingen in der Welle von Kommentaren unter. Elisa wusste, warum. Sie glauben, dass ich den Unterricht mit Anleihen bei der Science-Fiction aufpeppe. Doch sie sind Physik studenten und wissen, dass ich bei den realen Fakten bleibe, nur können sie es nicht glauben. Aus dem Dickicht der hochgereck ten Arme wählte sie einen. »Ja, Yolanda?« Das M ä d c h e n m i t dem langen blonden Haar und den g r o ß e n Augen g e h ö r t e zu den wenigen Studentinnen in der m ä n n l i c h dominierten Gruppe. Es gefiel Elisa, dass ausgerechnet sie als Erste einen ernsthaften Einwand vorbringen w ü r d e . »Aber das Beispiel hinkt«, sagte Yolanda. »Denn die M ü n z e ist dreidimensional, sie hat also eine gewisse H ö h e , wie gering auch immer. Wenn sie gezeichnet wäre wie der M a n n und das Qua drat in dem Beispiel, dann wäre es Ihnen nicht so leicht gefallen, sie wegzunehmen.« Allgemeines G e m u r m e l war die Folge. Elisa, die auf den E i n w a n d vorbereitet war, tat ü b e r r a s c h t , um die scharfsinnige Studentin nicht zu e n t t ä u s c h e n . »Gut beobachtet, Yolanda. Und vollkommen korrekt. Die Wis senschaft lebt von Beobachtungen wie dieser: scheinbar simpel und doch subtil. Wenn die M ü n z e auf das Papier gezeichnet ge wesen wäre, so wie der M a n n und das Q u a d r a t . . . hätte ich sie allerdings ausradieren k ö n n e n . « Gelächter unterbrach für Se kunden - exakt fünf - ihre Ausführungen. Elisa ahnte nicht, dass nur noch zwölf Sekunden fehlten, ehe ihr Leben in Stücke brechen sollte.
Die g r o ß e U h r an der Wand g e g e n ü b e r der Tafel markierte unaufhaltsam diese letzte Galgenfrist. Elisa warf einen gleichgül tigen Blick darauf, ohne zu wissen, dass der auf dem Zifferblatt v o r r ü c k e n d e Zeiger bereits den Countdown begonnen hatte, der ihre Gegenwart und Zukunft m i t einem Schlag für immer ver nichten w ü r d e . Für immer. Unwiederbringlich. »Ich m ö c h t e , dass ihr versteht«, fuhr sie fort, unerreichbar für alles, was sich nicht auf der zu ihren Studenten aufgebauten Wel lenlänge abspielte, und beschwichtigte das Gelächter m i t einer Handbewegung, »dass sich die verschiedenen Dimensionen ge genseitig in die Quere kommen k ö n n e n . Dazu noch ein Bei spiel.« Bei den Vorbereitungen für diese Unterrichtsstunde hatte sie sich vorgenommen, den n ä c h s t e n Vergleich als Tafelbild an schaulich zu machen. Aber ihr Blick fiel auf die gefaltete Zeitung, die auf dem Lehrerpult lag. Vor dem morgendlichen Unterricht kaufte sie stets die Zeitung am Kiosk vor der Fakultät und las sie mittags in der Cafeteria. Ihr kam der Gedanke, dass die Studen ten das nächste, weitaus schwierigere Beispiel anhand eines Ge genstandes vielleicht besser verstehen w ü r d e n . Sie schlug die Zei tung auf einer beliebigen Seite auf und strich sie glatt. »Stellt euch vor, dass dieses Blatt eine Fläche im Raum i s t . . . « Sie senkte den Blick, um die Seite aus der Zeitung herauszu nehmen, ohne sie zu beschädigen. Da sah sie es. Das Grauen ist blitzschnell. Es überwältigt uns, bevor es u n ser Bewusstsein erreicht. W i r wissen noch nicht, weshalb, u n d doch zittern uns bereits H ä n d e und Knie, w i r werden blass, und unser Magen krampft sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Elisas Blick ruhte auf einer Schlagzeile in der rechten oberen Ecke, und noch ehe sie ü b e r h a u p t deren Bedeu tung begriff, d u r c h s t r ö m t e sie ein heftiger Adrenalinschub. Binnen Sekunden erfasste sie die Kernaussage der Notiz. Se kunden, in denen sie ihre Studenten nicht wahrnahm, die sich
wunderten und auf die Fortsetzung der Vorlesung warteten, ob wohl sie merkten, dass etwas nicht stimmte: Sie stießen sich m i t den Ellbogen an, r ä u s p e r t e n sich, einige blickten sich fragend nach den Kommilitonen u m . Eine andere Elisa hob die Augen und stellte sich dem erwar tungsvollen Schweigen, das sie selbst herausgefordert hatte. » A h m ... stellt euch vor, die Fläche w ü r d e hier von diesem Punkt aus gefaltet.« Sie sprach ohne jedes Zittern m i t der Auto matenstimme eines Navigationssystems weiter. Ohne zu wissen, wie, nahm sie den Faden ihrer Erläuterungen auf, schrieb Gleichungen an die Wandtafel, löste diese fehlerfrei, stellte Fragen und veranschaulichte das Ganze mit weiteren Bei spielen. Die Anstrengung war ü b e r m e n s c h l i c h und blieb doch unbemerkt. Oder hatte jemand etwas davon mitbekommen? Sie fragte sich, ob die aufgeweckte Yolanda, die sie aus der ersten Reihe scharf ins Auge fasste, ahnte, welche Panik sie in Atem hielt. »Schluss jetzt«, sagte sie fünf M i n u t e n vor Unterrichtsende und zuckte angesichts der Ironie in ihren Worten unwillkürlich zusammen: »Ich mache euch darauf aufmerksam, dass von nun an alles komplizierter wird.«
I h r B ü r o lag am Ende des Ganges. Glücklicherweise waren die Kollegen alle beschäftigt, so dass ihr auf dem Weg niemand be gegnete. Elisa schloss die T ü r von innen ab, setzte sich an den Schreibtisch, schlug die Zeitung auf und zerriss vor Hektik fast die Seite, las sie m i t bangem Gefühl, wie jemand, der eine Liste von Toten durchsieht und hofft, darauf keinen A n g e h ö r i g e n zu entdecken - wohl wissend, dass unweigerlich der Name wie be fürchtet vollständig und gut erkennbar, gleichsam farbig mar kiert auftauchen w i r d . Die Meldung enthielt kaum konkrete Angaben, nur das wahr scheinliche Datum des Ereignisses: Obwohl die Entdeckung erst einen Tag später gemacht worden war, schien sich das Ganze in der Nacht zum 9. M ä r z 2015 zugetragen zu haben. Vorgestern.
Sie rang nach Luft. Da verdunkelte sich das Milchglas ihrer Tür. Elisa wusste, dass dies wahrscheinlich eine ganz banale Erklä rung hatte (ein Student, ein Kollege), trotzdem stand sie v o m Stuhl auf, unfähig, ein Wort herauszubringen. Heute kommt er zu dir. Der Schatten verharrte reglos vor der Scheibe. Dann vernahm sie ein Geräusch im Türschloss. Elisa war alles andere als feige, aber in diesem Moment hätte ihr sogar das Lächeln eines Kindes tödliche Angst eingejagt. Sie nahm etwas Kühles, Flaches an Rücken und Gesäß wahr und be merkte erst jetzt, dass sie unwillkürlich bis zur Wand zurückge wichen war. Das lange, schwarze Haar hing ihr ins verschwitzte Gesicht. Endlich tat sich die T ü r auf. Es gibt Schreckensmomente, die uns so eiskalt erwischen wie ein u n a n g e k ü n d i g t e r Tod, der uns m i t einem Schlag der Stimme u n d des Augenlichts beraubt, den Atem stocken lässt, das Den ken ausschaltet und das Herz zum Stillstand bringt. Einen solch entsetzlichen M o m e n t durchlebte Elisa. U n d auch der M a n n machte einen Satz rückwärts, als er sie entdeckte. Es war Pedro, einer der Hausmeister. Er hatte seinen Schlüsselbund und einen Stapel Post in der Hand. »Verzeihung . . . Ich dachte, es wäre keiner da. Nach den Vor lesungen sind Sie doch sonst nie hier. Kann ich reinkommen? Ich bringe nur die Post.« Elisa murmelte etwas, der Hausmeister trat ein u n d legte lächelnd die Briefe auf den Schreibtisch. Dann wandte er sich wieder zum Gehen, nicht ohne zuvor einen Blick auf die aufgeschlagene Zeitung u n d Elisas Gesicht zu werfen. Das war ihr egal. Im Grunde hatte diese plötzliche Unterbre chung ihr sogar geholfen, die Angst unter Kontrolle zu bekom men. M i t einem Mal wusste sie, was sie zu t u n hatte. Sie faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in ihre Tasche, sah rasch die Post durch. Interne Mitteilungen und Briefe von
anderen Universitäten, m i t denen sie in Kontakt stand, nichts, was in dieser Situation für sie von Belang war. Dann verließ sie das Büro. Jetzt gab es nur noch eines: Sie musste am Leben bleiben.
2
Das B ü r o von Victor Lopera lag Elisas direkt gegenüber. Victor war gerade eingetroffen u n d machte sich am Fotokopierer zu schaffen, um das Bilderrätsel aus der Morgenzeitung abzulich ten. Er sammelte diese Knobeleien, hatte ganze Alben m i t Rät seln aus dem Internet, aus Tageszeitungen und Zeitschriften ge füllt. Als das Blatt aus dem Schlitz kam, h ö r t e er ein leises Pochen an seiner Tür. »Ja?« M i t ruhiger Miene blickte er Elisa an, nur die dichten, dunk len Brauen hoben sich unmerklich, und die Mundwinkel gaben dem glatt rasierten Gesicht m i t den Brillengläsern einen Aus druck, der auf der Verhaltensskala seines Besitzers eventuell als Lächeln einzuordnen war. Elisa kannte den Charakter ihres Kollegen und mochte Victor trotz seiner extremen Z u r ü c k h a l t u n g sehr. Er g e h ö r t e zu den Menschen, denen sie am meisten vertraute. Dennoch w ü r d e er ihr in dieser Situation nur auf eine A r t helfen k ö n n e n . »Na, wie ist das Rätsel von heute?« Elisa lächelte u n d schob sich die Haare aus der Stirn. Diese Frage war beinah ein Ritual zwischen ihnen. Victor freute sich, wenn sie für sein Hobby I n teresse bekundete, und erzählte ihr manchmal von seinen w u n derlichsten Entdeckungen. Es gab nicht viele, m i t denen er dar ü b e r reden konnte.
»Fast zu einfach.« Er legte ihr das soeben kopierte Bilderrätsel vor. Ein Mann, der in einen Stock biss. »Bist du taub?«, stand da runter. »Die A n t w o r t lautet: >StocktaubAch was< d r ü c k t e bei Victor g r ö ß t e Anteilnahme aus, u n d Elisa wusste das. Ihre Blicke trafen sich noch einmal, u n d Victor sagte: »Keine Sorge. Ich sage es ihr.« Sie dankte i h m u n d h ö r t e noch im Hinausgehen ein »Gute Besserung«. Reglos blieb Victor m i t der Fotokopie in der Hand stehen u n d starrte auf die Tür. Hinter den g r o ß e n Gläsern seiner altmodi schen Drahtbrille zeigte sich nur gelindes Erstaunen, aber in sei nem Innern machte sich ein Unbehagen breit. Elisa fröstelte unter dem fast w e i ß e n H i m m e l dieses k ü h l e n M ä r z m o r g e n s , als sie zu ihrem Wagen eilte, den sie auf dem U n i v e r s i t ä t s p a r k p l a t z abgestellt hatte. Sie wusste, dass sie keine Grippe hatte, fand diese N o t l ü g e in ihrer Lage jedoch verzeih lich. Ab und zu wandte sie p r ü f e n d den Kopf. Niemand. Du bist allein. Und noch immer kein Anruf. Oder doch?
Sie holte das Mobiltelefon aus der Tasche und sah die einge gangenen Mails durch. Nichts. Auch auf ihrer Digitaluhr am Handgelenk blinkte kein Hinweis auf eine neue SMS. Allein. M i l l i o n e n von Fragen wirbelten ihr u n a u f h ö r l i c h im Kopf herum, ein Strom von Ängsten und Möglichkeiten. Wie nervös sie war, bemerkte sie erst, als ihr beinahe der Autoschlüssel aus der Hand gefallen wäre. Sie m a n ö v r i e r t e den Wagen vorsichtig aus der Parklücke und gab Gas. Das Lenkrad mit beiden H ä n den fest umklammernd, betätigte sie Gas, Bremse und Kupplung so vorsichtig wie eine Schülerin bei der F a h r p r ü f u n g . Sie be schloss, das GPS nicht einzuschalten und sich ohne Navigator ganz auf das Fahren zu konzentrieren: Das w ü r d e ihr helfen, die Ruhe zu bewahren. Sie verließ das Universitätsgelände und bog auf die ColmenarAutobahn Richtung M a d r i d . Im Rückspiegel war nichts Außer gewöhnliches zu sehen: Andere Autos ü b e r h o l t e n sie, niemand schien sie zu verfolgen. Als sie das nördliche Ende der Stadt er reicht hatte, nahm sie die Abfahrt zu ihrem Stadtviertel. W ä h r e n d sie Hortaleza durchquerte, hörte sie plötzlich den ge wohnten Klingelton ihres Mobiltelefons. Sie warf einen kurzen Blick auf den Beifahrersitz: Das Handy war in ihrer Handtasche, weil sie vergessen hatte, es an die Lautsprecher a n z u s c h l i e ß e n . Sie drosselte die Geschwindigkeit, steckte die rechte Hand in die Tasche und fischte hektisch darin herum. Der Anruf. Das K l i n geln schien aus dem Z e n t r u m der Erde nach ihr zu verlangen. Wie eine Blinde tastete sie sich vor: eine Halskette, ein Porte monnaie, da, die Kanten des Handys . . . Der Anruf, der Anruf... Endlich hielt sie das Mobiltelefon in der Hand, aber als sie es herausholte, glitt es ihr aus den schwitzigen Fingern. Sie sah es vom Beifahrersitz zu Boden plumpsen und wollte es aufheben. Da stürzte wie aus dem Nichts ein Schatten auf die Windschutz scheibe zu. Sie hatte nicht einmal die Zeit zu schreien, sondern trat instinktiv auf die Bremse und s p ü r t e , wie sie nach vorne fiel und ihr der Sicherheitsgurt in die Magengrube schnitt. Der F u ß
gänger, ein junger Mann, sprang z u r ü c k und schlug dann erbost m i t der Faust auf die K ü h l e r h a u b e . Erst da merkte Elisa, dass sie mitten auf einem Zebrastreifen stand. Den hatte sie völlig ü b e r sehen. Sie hob entschuldigend die Hand. Durch die hochgekur belten Fensterscheiben drang die Schimpftirade des jungen Man nes. Passanten warfen ihr tadelnde Blicke zu. Ruhig. So erreichst du gar nichts. Fahr ganz ruhig weiter nach Hause. Das Mobiltelefon war verstummt. Noch auf dem Zebrastrei fen den Protest der Autofahrer hinter sich ignorierend, beugte Elisa sich vor und hob das Telefon auf, dann prüfte sie das Dis play: Die Nummer des Anrufers war nicht gespeichert. Mach dir keine Sorgen. Wenn es der Anruf war, werden sie es noch einmal versuchen. Sie ließ das Telefon auf dem Beifahrersitz liegen und rollte wie der an. Zehn Minuten später stellte sie ihr Auto in der Tiefgarage ihres Wohnhauses in der Calle Silvano ab. Sie entschied sich ge gen den Aufzug und stieg stattdessen die drei Stockwerke zu Fuß hoch. Obwohl sie wusste, dass ihr das nichts n ü t z e n w ü r d e , verrie gelte sie alle drei Sicherheitsschlösser an ihrer W o h n u n g s t ü r , die sie drei Jahre zuvor für ein V e r m ö g e n hatte einbauen lassen. Dann legte sie noch die Sicherheitskette vor, a u ß e r d e m ließ sie vorsichtshalber die Alarmanlage eingeschaltet. A n s c h l i e ß e n d ging sie durch alle R ä u m e und ließ die elektrischen Metalljalou sien herunter, auch die zum H o f hinter der Küche, gleichzeitig machte sie überall das Deckenlicht an. Bevor sie das Rollo im Wohnzimmer schloss, schob sie die Lamellen der Jalousie ausei nander und warf einen Blick auf die Straße. Autos fuhren vorbei, und die Menschen glitten v o r ü b e r wie in einem schallgedämpften A q u a r i u m , g e g e n ü b e r sah sie die be kannten M a n d e l b ä u m e und Graffiti an den H a u s w ä n d e n . Das Leben nahm seinen Lauf. Weit und breit war niemand zu sehen, der ihr auffällig vorgekommen wäre. Sie schloss auch dieses letzte Rollo. Dann schaltete sie noch die Stehlampen in Küche und Bade
zimmer an sowie in ihrem Trainingsraum, der keine Fenster hatte. Sie vergaß auch nicht die Nachttischlampen links und rechts von ihrem Bett, wo sich Fachzeitschriften neben Unterla gen ü b e r Mathematik und Physik stapelten. Knäuel schwarzer Seidenwäsche lagen vor dem Bett verteilt. Letzte Nacht hatte sie sich wieder dem Spiel m i t dem M a n n mit den w e i ß e n Augen hingegeben und ihre Dessous einfach auf dem F u ß b o d e n liegen lassen. Sie sammelte sie auf und stopfte sie in die Kommodenschublade. Bevor sie das Zimmer verließ, blieb sie vor dem g r o ß e n Leuchtrahmen m i t dem Bild des Mondes stehen, das sie jeden Morgen als Erstes erblickte, wenn sie die A u gen aufschlug, und betätigte den Schalter: Der Satellit erstrahlte in phosphoreszierendem Weiß. Zurück im Wohnzimmer, knipste sie mit einem Sammelschalter die restlichen Lichter an, also die Stehlampe und die Dekoleuchten im Regal, und dann von Hand zwei weitere m i t A k k u betriebene L ä m p c h e n . A u f dem Display des Anrufbeantworters blinkten zwei Nach richten. Sie hielt die Luft an u n d h ö r t e sie ab: Eine war von einem Wissenschaftsverlag, bei dem sie eine Zeitschrift abon niert hatte, die andere von ihrer Haushaltshilfe, die stundenweise kam. Elisa bestellte sie nur ein, wenn sie selbst auch zu Hause war, weil sie i n ihrer Abwesenheit nicht wollte, dass jemand in ihre I n t i m s p h ä r e eindrang. Die Haushaltshilfe wollte den ver einbarten Termin verschieben, sie habe einen Arzttermin. Elisa löschte die Nachricht, ohne z u r ü c k z u r u f e n . Dann schaltete sie den 40-Zoll-Bildschirm ihres Digitalfern sehers ein. A u f den vielen Nachrichtensendern kamen Wetter berichte, Sport und Wirtschaftsmagazine. Sie öffnete ein Dialog feld, tippte das Passwort u n d ihre Suchbegriffe ein, damit das Gerät die automatische Suche nach der Meldung startete, die sie interessierte - ohne Erfolg. Sie ließ eine amerikanische Nach richtensendung von C N N laufen und stellte den Ton leiser. Sie zögerte kurz, dann lief sie in die Küche, öffnete eine elektri sche Schublade unter dem automatischen Thermostat und fand ganz hinten den gesuchten Gegenstand. Sie hatte ihn vor einem
Jahr für genau diesen Anlass gekauft, wohl wissend, wie sinnlos es eigentlich war. Und für ein paar Augenblicke betrachtete sie die eigenen angst erfüllten Augen in der spiegelblanken Stahlklinge des Fleischer messers.
Sie wartete. Sie war wieder im Wohnzimmer und hatte sich m i t dem Mes ser auf den Knien in einen Sessel vor den Fernseher gesetzt, nach dem sie sich vergewissert hatte, dass das Telefon funktionierte u n d der A k k u ihres Mobiltelefons aufgeladen war. Sie wartete. Der große Plüschbär, den ihr die Kollegen vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatten, hockte vis-ä-vis in einer Sofaecke. Er trug ein Lätzchen m i t den in Rot gestickten Worten h e r z lichen GlückwunschDas Wasser, das mich trägt, ward nie befahrenRuhm< als Beste war ihr gleichgültig, er s t ö r t e sie sogar, obwohl er das Einzige zu sein schien, was ihre Mutter an ihr schätzte. »Ist Blanes schon da?«, fragte sie ihrerseits. »Offenbar ist er verhindert.« Elisa verzog fragend das Gesicht. Er sei zu irgendeiner b l ö d s i n n i g e n Veranstaltung gegangen, und zwar ausschließlich, um dem theoretischen Physiker, den er neben Stephen Hawking am meisten bewunderte, einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Der Kursbeginn bei besagtem Blanes werde also auf den nächsten Tag verschoben. Elisa überlegte gerade, ob sie gleich gehen oder noch bleiben sollte, als Lennon-Lopera wieder das Wort ergriff: »Ich freue mich, dass w i r zusammen in dem Kurs sind.« Dann hüllte er sich erneut in Schweigen. Er schien jedes Mal lange nachzudenken, ehe er etwas von sich gab. Elisa nahm an, dass er schüchtern war oder Schlimmeres. Sie wusste nur zu gut, dass die meisten herausragenden Physikstudenten ein wenig wunderlich waren, sie selbst eingeschlossen. Elisa erwiderte höflich, die Freude sei ganz auf ihrer Seite, und wartete. Nach einer weiteren Pause sagte Lopera: »Siehst du den da, mit dem violetten Hemd? Er heißt Ricardo Valente, aber alle nennen ihn Ric. Er ist als Zweiter zum Kurs zugelassen worden. Er war ... W i r sind befreundet.«
Aha. Elisa konnte sich an den Namen gut erinnern, weil sie ihn auf der Liste m i t den P r ü f u n g s e r g e b n i s s e n direkt unter ihrem gelesen hatte und weil er ungewöhnlich war: >Valente Sharpe, Ricardo: 9,85Vier-Hundertstel-Weniger-Valente-Sharpe< - wieso auch? -, sondern ein anderer junger Mann, g r o ß und gut aussehend, m i t dunkelblondem Haar und hellen Augen. Er trug ein T-Shirt ü b e r khakifarbenen Bermudas. »Ich meine den M o n d . Du hast ihn eben seltsam intensiv angeschaut.« Er hatte einen Rucksack dabei, den er neben ihr abstellte. Dann streckte er ihr die Hand h i n : »Javier Maldonado. Wenn dies der M o n d ist, musst du Elisa Robledo sein. Dein Foto ist m i r in der F a k u l t ä t s z e i t u n g aufgefallen, und jetzt treffe ich dich hier. Na, das nenne ich einen glücklichen Zufall. Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?« Ja, es machte ihr etwas aus, denn der Typ hatte sich bereits neben ihr niedergelassen und war ihr so dicht auf die Pelle gerückt, dass sie ein Stück zur Seite weichen musste, damit seine Trekkingsandalen sie nicht b e r ü h r t e n . Trotzdem erwiderte sie im gleichen Moment: »Nein«, und ärgerte sich ü b e r sich selbst. Der junge M a n n holte ein paar Unterlagen aus dem Rucksack. Die Methode, m i t ihr a n z u b ä n d e l n , war neu. »Ich habe mich durch die H i n t e r t ü r hier reingeschlichen«, gestand Maldonado m i t einem verschmitzten Lächeln. »Eigentlich g e h ö r e ich gar nicht zu den Naturwissenschaften. Ich studiere Publizistik an der A l i g h i e r i , und w i r m ü s s e n als Semesterabschlussarbeit eine Reportage schreiben. Genauer gesagt, soll ich Studenten im letzten Physiksemester interviewen: Du weißt schon, Fragen stellen ü b e r ihr Leben, ihr Studium, ihre Freizeitaktivitäten, ihr Sexualleben ...« I h m schien Elisas ironischer Blick nicht entgangen zu sein, denn er stockte. »Entschuldige, ich b i n ein Idiot. Es ist eine ernsthafte Befragung, ehrlich.« Er hielt ihr die Unterlagen hin. »Ich habe m i r euch nur ausgesucht, weil ihr ber ü h m t seid.« »Uns?« »Die Studenten vom Blanes-Kurs. H ö r mal, es heißt von euch, ihr wärt die Creme de la Creme in der Physik. W ü r d e es dir was
ausmachen, m i r angehendem Journalisten ein paar Fragen zu beantworten?« »Eigentlich wollte ich gerade los.« Unverzüglich warf sich Maldonado m i t s p a ß i g e m Pathos auf die Knie. »Ich flehe dich an . . . Bisher konnte ich noch niemanden dazu ü b e r r e d e n mitzumachen. Aber ich brauche die U m frage für meine Reportage, sonst w i r d mich nicht einmal ein Verlag für Groschenromane als Redakteur nehmen. U n d später werde ich dann zum Abgeordnetenhaus geschickt u n d soll Politiker interviewen. Hab Mitleid m i t mir. Ich schwöre dir, dass es nicht viel Zeit in Anspruch nehmen wird.« Elisa sah m i t einem Lächeln auf die U h r u n d erhob sich. »Tut m i r Leid, aber der letzte Bus nach M a d r i d fährt in zehn M i n u ten, und den darf ich nicht verpassen.« Maldonado stand ebenfalls auf u n d blickte sie betont hinterlistig an. Elisas fand i h n keineswegs unattraktiv, u n d sein Gesichtsausdruck amüsierte sie. Bestimmt hält er sich für unwiderstehlich. »Na, was meinst du? Lass uns doch eine Abmachung treffen: Du beantwortest m i r meine Fragen, u n d ich nehme dich dafür im Auto mit. Ich bringe dich bis vor die Haustür, Ehrenwort.« »Danke,aber...« »Du willst nicht, war ja klar. Verstehe schon. Schließlich haben w i r uns gerade erst kennen gelernt. Also gut, mal sehen, ob du den Vorschlag besser findest: Heute stelle ich dir nur ein paar Fragen, und du entscheidest, ob w i r ein andermal weitermachen, einverstanden? Ich brauche nicht länger als fünf Minuten. Dann schaffst du's noch rechtzeitig zum Bus.« Elisa lächelte h i n - u n d hergerissen. Sie wollte gerade zustimmen, da kam ihr Maldonado wieder zuvor. »Gut, du bist einverstanden, nicht wahr? Los.« Er deutete auf dieselbe Stelle, wo sie eben noch gesessen hatten. Ich kann mir ruhig fünf Minuten Zeit nehmen und mir seine Fragen anhören, sagte sie sich. Tatsächlich h ö r t e sie i h m sehr viel länger zu und redete selber
noch mehr. Was sie allerdings nicht Maldonado zum V o r w u r f machen konnte, da er sich als nett und aufmerksam erwies und sie keineswegs zum Narren hielt. Er machte sie sogar zu gegebener Zeit darauf aufmerksam, dass die fünf Minuten um seien. »Wollen wir aufhören?«, fragte er. Elisa zögerte. Die Vorstellung, dieses paradiesische Fleckchen hier d r a u ß e n auf dem Land zu verlassen und sich in dem grässlichen Autobus wieder z u r ü c k in die Stadt zu begeben, behagte ihr gar nicht. Hinzu kam, dass sie in den vergangenen Monaten nur mit sich beschäftigt gewesen war. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihr der Austausch mit anderen Menschen j u n g e n M ä n nern zumal, gefehlt hatte. Noch dazu schien er nicht nur die hervorragende Studentin oder das attraktive M ä d c h e n in ihr zu sehen, sondern sie als Person wahrzunehmen. »Ich habe noch ein wenig Zeit«, antwortete sie deshalb. Kurz darauf unterbrach Maldonado seine Befragung noch einmal und erinnerte sie an ihren Bus. Ihr gefiel diese Umsicht, doch sie bat ihn, ruhig weiter zu fragen. Dabei ließ er es bewenden. Elisa fühlte sich sehr wohl bei dem G e s p r ä c h . Sie stand i h m Rede und Antwort, ü b e r G r ü n d e für ihre Berufswahl als Physikerin, ü b e r die Stimmung an der Fakultät, über ihren unstillbaren Wissensdurst, wenn es um die Natur der Dinge ging . . . Maldonado ließ ihr g e n ü g e n d Raum zum Antworten, w ä h rend er sich Notizen machte. An einer Stelle bemerkte er: »Du passt so gar nicht in das Bild, das ich von Naturwissenschaftlern habe. Ü b e r h a u p t nicht.« »Und welches Bild hast du von Naturwissenschaftlern?« Maldonado dachte nach. »Alles unattraktive Typen.« » D a n n lass dir gesagt sein, dass auch ganz ansehnliche Exemplare darunter sind, und sogar F r a u e n « , lächelte sie. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern fuhr fort: »Noch etwas irritiert mich an dir. Du hast die beste Abschlussarbeit geschrieben, dir wurde ein Doktoratsstipendium an der besten U n i der Welt garantiert, du hast eine strahlende berufliche Zukunft
vor dir ... u n d nicht zu vergessen: Du hast dein Studium beendet. Du k ö n n t e s t also ... keine A h n u n g , zwanzig Stunden am Stück schlafen, die Alpen zu F u ß ü b e r q u e r e n oder sonst etwas . . . Aber trotzdem hattest du nichts Besseres zu tun, als dich für eine b l ö d e A u f n a h m e p r ü f u n g anzumelden, um als einer von zwanzig Teilnehmern bei David Blanes in diesen zweiwöchigen Kurs zu kommen. Ich will damit sagen, dass dieser Blanes was Besonderes zu sein scheint.« »Und wie.« Elisas Augen leuchteten auf. »Er ist ein Genie.« Maldonado machte sich eine Notiz. »Kennst du i h n p e r s ö n lich?« »Nein, aber ich bewundere seine Arbeit.« »Er hat sich's m i t den meisten staatlichen Unis in unserem Land verscherzt, wusstest du das? I m m e r h i n musste er seinen Kurs an einer Privatuni anbieten.« »Neider findest du überall«, gab Elisa zu. »In der wissenschaftlichen Welt ist das besonders schlimm. Andererseits muss Blanes als Mensch schon speziell sein.« »Würdest du gerne deine Doktorarbeit bei i h m schreiben?« »Glaube schon.« »Und weiter?«, fragte Maldonado. »Wie?« »Ich habe dich gefragt, ob du gerne deine Doktorarbeit bei i h m schreiben würdest, u n d du hast geantwortet: Glaube schon. Mehr hast du nicht dazu zu sagen?« »Was soll ich dazu sagen? Du hast m i r eine Frage gestellt, u n d ich habe sie beantwortet.« »Das ist genau das Problem m i t euch Physikern«, beschwerte sich der junge M a n n und notierte etwas. »Ihr nehmt jede Frage wörtlich. Was ich wissen will, ist, was Blanes denn zu bieten hat, dass alle so hinter i h m her sind. Also . . . Ich w e i ß , i h m eilt der Ruf voraus, verflucht schlau zu sein, ein Kandidat für den Nobelpreis, und wenn er den b e k ä m e , dann wäre er der erste spanische Nobelpreisträger in Physik, seit es diesen Scheißpreis gibt. Das alles w e i ß ich. Aber w o r u m geht es i h m , verstehst du? Sein Kurs
schimpft sich . . . « E r warf einen Blick in seine Unterlagen u n d las stockend: »>Topologie der Zeit-Strings in der sichtbaren elektromagnetischen Strahlung< . . . Offen gestanden, sagt m i r das nicht viel.« »Soll ich dir in ein paar Sätzen die ganze theoretische Physik erklären?«, lachte Elisa. Maldonado schien das Angebot ernst zu nehmen. »Ich b i n ganz O h r « , sagte er. »Also, g u t . . . Ich will versuchen, mich kurz zu fassen.« Elisa war immer mehr in ihrem Element. Sie konnte sich ebenso für die Vermittlung von Wissen begeistern wie für das eigene Verstehen. »Kennst du die Relativitätstheorie?« »Ja, von Einstein. >Alles ist relativSchattenSpanien setzt sich m i t der Theorie von David Blanes an die Spitze der Physik des 21. JahrhundertsProfessor Blanes erklärt Zeitreisen für machbarSpanien, das erste Land der Welt, das eine Zeitmaschine baut?
Die Regierung Ihres Landes gibt ihr Geld lieber für Waffen aus als für die wissenschaftliche Forschung. Die Vereinigten Staaten sind in dieser Beziehung keinen Deut besser als Spanien: Sie werden von äußerst fähigen Leuten bewohnt, aber von u n m ö g l i c h e n Politikern regiert. Sie sind nicht nur unfähige betonte er, >sondern unmögliche Da er m i t seiner K r i t i k die Regierungen beider Länder ü b e r einen K a m m scherte, war niemand glücklich ü b e r diese Ä u ß e r u n g e n , u n d sie blieben weitgehend unbeachtet. Nachdem sein USA-Trip ein solches Ende genommen hatte, kehrte Blanes nach Z ü r i c h zurück, wo es still wurde um ihn. Als Freunde standen i h m dort nur Grossmann und M a r i n i zur Seite, dazu seine Mutter u n d seine Schwester - ein m ö n c h i s c h e s Leben, das Elisa bewunderte. Unterdessen traf seine Theorie langfristig auf unterschiedlichste Reaktionen. Kurioserweise war es die spanische Wissenschaftsgemeinde,
die sie am entschiedensten ablehnte. Gelehrte Stimmen wurden an den Universitäten laut: Die >Mammutbaum-Theorie< - wie sie schon damals genannt wurde, weil die Zeit-Strings um die Elementarteilchen des Lichts angeordnet sind wie die Jahresringe eines Baumes um die Mitte des Stammes - sei hübsch, aber unproduktiv. Vielleicht hielten sich die Kritiker aus M a d r i d zunächst zurück, weil es Blanes' Geburtsstadt war, aber als sie dann m i t ihren E i n w ä n d e n an die Öffentlichkeit gingen, ü b t e n sie m ö g l i c h e r w e i s e aus demselben G r u n d schärfer K r i t i k als ihre Kollegen anderswo. Ein b e r ü h m t e r Professor von der Universität Complutense wertete die Theorie als fantastischen H ö h e n flug ohne jede Grundlagen Im Ausland war der Beifall für seine Theorie auch nicht größer, obwohl Leute vom Fach, wie Edward Witten aus Princeton und C u m r u n Vafa aus Harvard, wiederholt feststellten, es k ö n n e sich dabei um eine revolutionäre Idee gleich der Entdeckung der String-Theorie selbst handeln. Stephen Hawking ä u ß e r t e sich von seinem Rollstuhl aus als Einziger zu Blanes' Gunsten und u n t e r s t ü t z t e die Verbreitung der Ideen. Z u m Thema befragt, pflegte der b e r ü h m t e Physiker wie gewohnt im monotonen, blechernen Ton seines Sprachcomputers zu antworten: » O b w o h l viele i h n fällen wollen, spendet uns der Mammutbaum von Professor Blanes immer noch Schatten.« N u r von Blanes selbst war nichts mehr zu h ö r e n , und sein rätselhaftes Schweigen w ä h r t e fast zehn Jahre, in denen er auf dem Posten seines pensionierten Freundes und Mentors Albert Grossmann das Z ü r i c h e r Labor leitete. Aufgrund ihrer ü b e r r a g e n d e n mathematischen Schönheit und ihrer fantastischen Möglichkeiten beschäftigte die >Mammutbaum-Theorie< die Naturwissenschaftler jedoch weiter, ohne je bewiesen zu werden. Sie trat also in die Phase des Abwartens ein, in der die Wissenschaft bestimmte Ideen auf Eis legt. Blanes lehnte jede öffentliche Stellungnahme zu seiner Theorie ab, was viele zu der M u t m a ß u n g verleitete, er w ü r d e sich seines Irrtums s c h ä m e n . Dann wurde im Jahr 2004 endlich der Kurs zum Thema angek ü n d i g t , der erste, den Blanes weltweit ü b e r seinen >Mammut-
baum< halten wollte. Er hatte m i t Bedacht Spanien dafür ausgewählt und ebenso bewusst Madrid. Die private Alighieri-Universität finanzierte den Kurs und akzeptierte auch die seltsamen Bedingungen des Naturwissenschaftlers: Die Veranstaltung musste im Juli 2005 stattfinden, auf Spanisch gehalten werden, u n d es sollten nur die besten zwanzig Studenten und Studentinnen teilnehmen dürfen, die zuvor in einer internationalen Aufnahmep r ü f u n g ü b e r die String-Theorie, die nichtkommutative Geometrie u n d die Topologie geprüft worden waren. Im Prinzip wurden nur Postdoktoranden zugelassen, aber Studienabsolventen des laufenden Jahres konnten sich m i t einer schriftlichen Empfehlung ihres Professors für theoretische Physik ebenfalls bewerben. A u f diese Weise waren Teilnehmer wie Elisa in den Kurs gekommen. W a r u m hatte Blanes so lange m i t dem ersten Seminar ü b e r seine Theorie gewartet? Und w a r u m wollte er es genau zu diesem Zeitpunkt halten? Elisa hatte keine A n t w o r t darauf, fand es im Grunde auch nicht so wichtig. Tatsache war, dass sie sich an jenem ersten Tag in dem einmaligen, lang ersehnten Kurs fühlte, als hätte sie das große Los gezogen. Doch schon am Ende der ersten Vorlesung hatte sie diese M e i nung gründlich revidiert.
Sie brach als eine der Ersten auf. Geräuschvoll klappte sie die Bücher und den Hefter zusammen und verließ fluchtartig den H ö r saal, noch bevor sie die Aufzeichnungen in ihrem Rucksack verstaut hatte. Als sie die abschüssige Straße zur Bushaltestelle hinunterging, h ö r t e sie jemanden sagen: »Verzeihung ... kann ich dich mitnehmen?« Sie war so m i t sich beschäftigt, dass sie nicht bemerkt hatte, dass ein Auto neben ihr hielt. Wie eine seltsame Wasserschildkröte hockte Victor >Lennon< Lopera darin. »Danke, nein. Ich muss weiter«, antwortete Elisa lustlos.
»Wohin?« »Claudio Coello.« »Okay . . . Ich nehme dich m i t , wenn du willst. Ich fahre in die Innenstadt.« I h r war zwar nicht danach, m i t dem Typen zu reden, aber dann dachte sie, es k ö n n t e sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Sie stieg in sein schmutziges, nach alten Polstern miefendes u n d von Papieren u n d B ü c h e r n übersätes Auto. Am Steuer verhielt sich Lopera genauso langsam u n d umsichtig wie beim Reden. Allerdings schien er hocherfreut, dass er Elisa hatte ü b e r zeugen k ö n n e n , i h n zu begleiten, u n d ging nach u n d nach mehr aus sich heraus. U n d wie viele schüchterne Menschen ließ er sich kaum bremsen, als er einmal richtig in Fahrt war. »Wie fandest du das, was er am Anfang über die Wirklichkeit gesagt hat? Dass die Gleichungen die Wirklichkeit sind ... Na ja, wenn er das m e i n t . . . Ich w e i ß ja nicht, ich halte das für einen ü b e r t r i e b e n positivistischen Reduktionismus. Die Möglichkeit einer erwiesenen oder intuitiven Wahrheit zieht er w o h l gar nicht in Betracht. Aber auf denen beruhen zum Beispiel religiöse Ü b e r z e u g u n g e n oder der gesunde Menschenverstand . . . Ich finde, er macht da einen Fehler. Also, ich glaube, dass er das zu sehr v o n seiner Warte als Atheist aus sieht. Denn, jetzt mal im Ernst, ich kann m i r nicht vorstellen, dass der religiöse Glaube nicht m i t den wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar sein sollte. Sie sind eben auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, wie Einstein schon sagte. M a n kann n i c h t . . . « Er hielt an einer Kreuzung u n d wartete, bis die Straße frei war, um die Fahrt u n d seinen Monolog fortzusetzen. »Man kann doch die eigenen metaphysischen Erfahrungen nicht auf chemische Reaktionen reduzieren. Das wäre absurd. Heisenberg hat g e s a g t . . . « Elisa h ö r t e i h m nicht mehr zu, sondern blickte auf die Straße u n d gab von Zeit zu Zeit ein zustimmendes Knurren von sich. Dann senkte Lopera die Stimme und sagte zu ihr: »Ich habe es auch gemerkt. Wie er dich behandelt, meine ich.«
Ihr glühten die Wangen und bei der Erinnerung stiegen ihr die Tränen hoch. Blanes hatte der Gruppe n ä m l i c h eine Frage gestellt u n d jemanden drangenommen, der zwei Plätze rechts von ihr saß u n d die Hand genau im gleichen Augenblick hob wie sie. Valente Sharpe. Dann hatte Blanes wieder etwas gefragt, worauf sie als Einzige die Hand hob. Doch ohne ihr die geringste Beachtung zu schenken, hatte der Wissenschaftler die Studenten weiter aufgefordert, sich zu melden: »Na los, was ist denn m i t Ihnen, meine Damen u n d Herren? Haben Sie Angst, dass Sie Ihr D i p l o m zurückgeben m ü s s e n , wenn Sie eine falsche A n t w o r t geben?« Es vergingen mehrere angespannte Sekunden, bis Blanes erneut denselben Studenten drannahm. Elisa h ö r t e dessen klare, ruhige, beinahe vergnügte Stimme m i t dem kaum h ö r b a r e n ausländischen A k zent: »Auf dieser Ebene gibt es keine gültige Geometrie wegen der Heisenbergschen Unschärferelation.« »Sehr gut, Herr Valente.« Valente Sharpe. Weil sie fünf Jahre hintereinander die Beste ihres Jahrgangs gewesen war, hatte Elisas Ehrgeiz inzwischen fast aggressive Züge angenommen. In der wissenschaftlichen Welt brauchte man eine gehörige Portion Ellenbogeneinsatz, den w ü t e n d e n Drang, Rivalen systematisch aus dem Feld schlagen zu wollen, um die N u m m e r eins zu bleiben. Deshalb war ihr diese völlig unverständliche Z u r ü c k s e t z u n g durch Blanes schier u n e r t r ä g l i c h . Gern hätte sie ihren verletzten Stolz vor dem Kommilitonen verborgen, aber dazu war die K r ä n k u n g noch zu frisch. »Ich habe das Gefühl, er sieht mich gar nicht«, brachte sie, um Fassung ringend, vor. »Wenn du mich fragst... ist eher das Gegenteil der Fall«, widersprach Lopera. Sie drehte sich zu i h m u m . »Also . . . « , versuchte er zu e r l ä u t e r n . »Ich glaube, er hat bei deinem Anblick gedacht: >So ein M ä d c h e n , nein, die kann nicht
gleichzeitig .. .< Ich will damit sagen, dass es wahrscheinlich seine Vorurteile als Macho sind. Vielleicht weiß er gar nicht, dass du ganz oben auf der Teilnehmerliste stehst. Oder wie du heißt. Er denkt, dass Elisa Robledo . . . na ja, dass sie eben nicht so jemand sein kann, wie du es bist.« »Und wie soll das sein?« Sie ärgerte sich selbst, dass ihr diese Frage herausgerutscht war. Wie p l u m p von ihr. »Ich glaube, dass Schönheit und Intelligenz . . . « , sagte Lopera halblaut, als w ü r d e er zu sich selbst sprechen, »... durchaus vereinbar sind. Auch wenn das genetisch eher selten der Fall ist. Ich meine . . . beides zusammen k o m m t fast nie vor. Okay, es gibt Ausnahmen. Richard Feynman war doch recht attraktiv, nicht wahr? Jedenfalls w i r d das von i h m behauptet. U n d Ric ist, finde i c h , . . . auch nicht gerade hässlich, oder?« »Ric?« »Ric Valente, mein Freund. Ich nenne i h n immer Ric. W e i ß t du nicht mehr? Ich habe ihn dir gestern auf dem Fest gezeigt? Ric Valente ...« Allein die E r w ä h n u n g des Namens genügte, und Elisa musste die Z ä h n e z u s a m m e n b e i ß e n . Valente Sharpe, Valente Sharpe ... Die beiden Nachnamen hallten in ihren Ohren nach, wie das mechanische Drehen einer Kreissäge, die ihren Stolz z e r s t ü ckelte. Valente Sharpe. Valente Sharpe ... »Er ist auch in etwa so wie du, also beides: gut aussehend und nicht auf den Kopf gefallen«, Lopera redete weiter, ohne Elisas Schweigen zu bemerken. »Aber er hat es auch raus, wie man Leute umgarnt. Hast du's gemerkt? Er verhext Professoren wie ein Schlangenbeschwörer . . . oder besser gesagt: jeden.« Ein gurgelndes Lachen folgte. In den kommenden Jahren w ü r d e Elisa dieses Lachen noch oft aus Victors Kehle vernehmen u n d i h m schließlich von Herzen dankbar dafür sein, aber in diesem Moment fand sie es u n e r t r ä g lich. »Auch die Frauen. Ja, ja, die auch. O h , u n d wie!« »Du redest ü b e r i h n , als wäre er nicht dein Freund.«
»Als wäre er nicht ...?« Sie konnte Loperas Festplatte buchstäblich rattern h ö r e n , als er ihren E i n w u r f zu verarbeiten suchte. »Natürlich bin ich . . . oder besser gesagt, waren w i r . . . W i r kennen uns seit der Schulzeit. Danach haben w i r das Gleiche studiert. N u r hat Ric eines dieser Hochbegabtenstipendien bekommen und ist nach Oxford gegangen, in den Fachbereich von Roger Penrose. Damals haben sich unsere Wege getrennt. Wenn er bei Blanes fertig ist, will er nach England zurück . . . vorausgesetzt n a t ü r l i c h , dass Blanes i h n nicht nach Z ü r i c h m i t nimmt.« Elisa missfiel, wie Loperas fleischige Lippen sich bei diesen Worten zu einem Grinsen verzogen. Da waren sie wieder, ihre finstersten B e f ü r c h t u n g e n , und sie fühlte sich besiegt, wie tot. Natürlich wird Blanes sich für diesen Valente Sharpe entscheiden. »Wir haben uns vier Jahre nicht mehr gesehen«, fuhr Lopera fort. »Ich weiß nicht, er hat sich irgendwie v e r ä n d e r t ... Er w i r k t . . . selbstsicherer. Kein Zweifel, dass er ein Genie ist, ein Genie hoch drei, Sohn und Enkel von zwei Genies: Sein Vater ist K r y p . . . Kryptograph und arbeitet in Washington, in was weiß ich für einem Center zum Schutz der nationalen Sicherheit. Seine Mutter ist Nordamerikanerin und unterrichtet Mathematik in Baltimore. Sie ist letztes Jahr für die Fields-Medaille vorgeschlagen worden.« Ohne es zu wollen, war Elisa beeindruckt. Die Fields-Medaille war eine A r t Nobelpreis für Mathematik. Damit wurden jedes Jahr in den USA die Weltbesten dieser Disziplin ausgezeichnet. Sie fragte sich, wie man sich w o h l fühlte, wenn die eigene M u t ter für die Fields-Medaille vorgeschlagen wurde. Aber im M o ment verspürte sie nichts als blanke Wut. »Sie sind geschieden. Und sein O n k e l . . . « »Ist Nobelpreisträger in Chemie?«, unterbrach ihn Elisa und kam sich schäbig vor. »Oder hieß er vielleicht Niels Bohr?« Lopera gab wieder jene seltsamen Laute von sich, die sie als Lache deutete. »Nein, er ist Programmierer bei Microsoft in Ka-
lifornien. Was ich sagen wollte, ist, dass Ric natürlich von ihnen allen etwas gelernt hat. Er ist wie ein Schwamm, weißt du? Man denkt, er w ü r d e einem gar nicht z u h ö r e n , dabei analysiert er alles, was man sagt oder tut. Er ist wie eine Maschine. Wo soll ich dich in Claudio Coello rauslassen?« Elisa sagte, er brauche sie nicht bis vor die H a u s t ü r zu b r i n gen, aber Lopera bestand darauf. Als sie dann in der Madrider Innenstadt im m i t t ä g l i c h e n Stau standen, beendeten sie ihren kleinen Schlagabtausch und nutzten die verbliebene Zeit für ein ausgiebiges Schweigen. A u f der Ablage vor der Windschutzscheibe entdeckte Elisa unter einem Stapel Schnellhefter ein paar Bücher. Sie las einen Titel: Mathematische Spiele und Rätsel. Ein dickerer Band hieß: Die Physik des Glaubens. Die Wahrheit der Wissenschaft und die der Religion. Als sie in die Claudio Coello abbogen, unterbrach Lopera die Stille und sagte: »Ric muss ganz schön sauer gewesen sein, als er gesehen hat, dass du ihn bei der A u f n a h m e p r ü f u n g für unseren Kurs ü b e r r u n d e t hast«, und wieder stieß er anstelle eines Lachens dieses seltsame Gurgeln aus. »Ehrlich?« »Ich glaube schon, er ist kein guter Verlierer. Ganz und gar nicht.« U n d m i t einem M a l ä n d e r t e sich Loperas Gesichtsausdruck, als sei i h m plötzlich etwas eingefallen, etwas, auf das er bisher nicht gekommen war. » N i m m dich in Acht«, setzte er hinzu. »Wovor?« »Vor Ric, meine ich. N i m m dich b l o ß vor i h m in Acht.« »Wieso? Kann er die Jury davon abhalten, mir die Fields-Medaille zu verleihen?« Lopera ignorierte den Scherz. »Nein, aber er steht nicht gerne als Verlierer da.« Das Auto hielt. »Bin ich hier richtig? Wohnst du hier?« »Ja, danke. H ö r mal, wieso meinst du, ich soll mich vor i h m in Acht nehmen? Was k ö n n t e er m i r schon anhaben?« Er hatte das Gesicht abgewendet und sah nach vorn, als w ü r d e
er immer noch fahren. »Nichts. Ich wollte es nur gesagt haben . . . Er hat nicht damit gerechnet, dass du die Beste wirst.« »Weil ich eine Frau bin?«, fragte sie eisig. »Deshalb?« Victor schwieg betreten. Dann sagte er: »Schon möglich. Er ist es nicht gewohnt... Zweiter zu sein, meine ich.« Elisa biss sich auf die Zunge, um nicht zu entgegnen: >Ich auch nicht.< Und als wollte er sie trösten oder das Thema wechseln, schob Victor nach: »Mach dir keine Sorgen. Ich b i n sicher, dass Blanes dich richtig einschätzen kann. Er ist einfach selbst zu gut, um die Guten nicht zu erkennen.« Dieser Satz stimmte sie ein wenig versöhnlicher. Als sie das Haus betrat, fragte sie sich, ob sie nicht zu schroff zu Lopera gewesen war, und drehte sich zum Abschied noch einmal nach i h m u m . Aber Lopera war schon weg. Sie verharrte einen M o m e n t reglos auf der Schwelle, in sich gekehrt. Die Szene erinnerte sie an den Vorfall am Vorabend, als Javier Maldonado sie zu Hause abgesetzt hatte. U n d unwillkürlich wanderte ihr Blick zur anderen Straßenseite, aber da war niemand, der ihr nachspionierte. Auch konnte sie weit und breit keinen Mann mit grauem Haar und Schnurrbart entdecken. Albert Einstein, na klar. Albert Einstein ist bestimmt Valentes Großvater und hat mir gestern Abend nachgestellt. Lächelnd ging sie zum Aufzug. Sie kam zu dem Schluss, dass es ein Zufall gewesen sein musste. Der Zufall war eine erwiesene Tatsache, und in der Mathematik wurden i h m sogar Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Zwei M ä n n e r , die sich äußerlich ähnlich sahen, hatten sie an ein und demselben Abend beobachtet. War u m nicht? Paranoid, länger d a r ü b e r n a c h z u g r ü b e l n . W ä h r e n d sie in den Aufzug stieg, kam ihr die m e r k w ü r d i g e Warnung von Victor Lopera wieder in den Sinn. Nimm dich in Acht vor Ric. Absurd. Valente beachtete sie doch gar nicht. An jenem ersten Vorlesungstag hatte er sie nicht eines einzigen Blickes gewürdigt.
6
Sie hatten sich für Samstagnachmittag verabredet, in einem Cafe in der N ä h e der Calle Atocha, das Elisa nicht kannte. »Es w i r d dir gefallen«, hatte Maldonado ihr versichert. U n d er hatte Recht. Es war ein ruhiges Plätzchen m i t dunklen W ä n d e n u n d der A t m o s p h ä r e eines Theaters, unter anderem hervorgerufen durch den roten Samtvorhang, der neben der Theke hing. Elisa war hingerissen. Maldonado erwartete sie an einem der wenigen besetzten T i sche. Elisa konnte nicht leugnen, dass sie sich freute, i h n nach der unangenehmen letzten Woche wiederzusehen. »Ich habe dich gestern mehrmals zu Hause angerufen. Jedes Mal wurde abgehoben, und dann war die Verbindung unterbrochen«, sagte Maldonado. »Mit der Leitung war etwas nicht in Ordnung. Die S t ö r u n g ist inzwischen behoben.« Die Telefongesellschaft hatte ihnen mitgeteilt, es sei eine Störung im System, aber Elisa fand, wenn einer eine Störung im System hatte, dann ihre Mutter, wie sie sich ereifert u n d ihrem Gegenüber in einer h ö h e r e n Stimmlage als üblich gedroht hatte, die Gesellschaft auf Schadensersatz zu verklagen. >Ich habe sehr bedeutende Kunden, die mich zu Hause erreichen m ü s s e n . Sie haben ja keine Vorstellung .. .< Schließlich versprach man ihr, dass noch am selben Samstagmorgen mehrere Techniker geschickt
w ü r d e n , die Leitungen zu ü b e r p r ü f e n und die S t ö r u n g zu beheben, und genau das hatten sie getan. Erst dann hatte sich Marta Morande wieder beruhigt. Elisa bestellte eine Cola light und sah amüsiert zu, wie Maldonado seine Unterlagen aus dem Rucksack holte. »Noch mehr Fragen?«, schmunzelte sie. »Ja. Magst du nicht?« »Doch, doch«, beeilte sie sich zu beteuern, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich weiß, es ist nervig«, entschuldigte er sich, »aber es ist mein Job, was soll ich tun? Ich b i n dir unendlich dankbar, dass du m i r aus der Klemme h i l f s t . . . Guter Journalismus besteht nun mal aus sorgfältig zusammengetragenen Einzelinformationen«, fügte er in einem gekränkten Ton hinzu, der sie überraschte. »Na klar, entschuldige«, sagte sie fast r e u m ü t i g . Aber Maldonado hatte m i t einem verlegenen Lächeln ihr schlechtes Gewissen rasch wieder beruhigt. »Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich b i n einfach etwas n e r v ö s , weil das Semester bald zu Ende ist und ich die Reportage abgeben muss.« »Na, dann schieß los«, ermunterte sie ihn. »Lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren. Du kannst mich fragen, was du willst. Meinetwegen k ö n n e n w i r heute fertig werden.« Trotzdem war die Stimmung zwischen ihnen angespannt. Mechanisch stellte er seine Fragen nach ihrer Freizeit, und sie antwortete steif, als handele es sich um ein m ü n d l i c h e s Examen. Elisa begriff, dass sie beide bedauerten, ihr Gespräch diesmal so anders begonnen zu haben als auf dem Fest. Erst als Maldonado sich erkundigte, welche Sportarten sie praktizierte, ließ Elisas Anspannung nach. Sie erzählte ihm, dass sie so viel Sport treibe, wie sie k ö n n e , und regelmäßig schwimme, Krafttraining und Aerobic mache . . . Maldonado musterte sie beeindruckt. » D a h e r deine Figur«, sagte er. »Was ist denn m i t meiner Figur?«, lächelte sie. »Die perfekte Physis für eine Physikerin.«
»Ein Schlauer ü b t den Kalauer.« »Na, du hast ihn m i r doch auf dem Silbertablett serviert.« Dann sprachen sie ü b e r Elisas Kindheit. Sie erzählte i h m , dass sie ein einsames K i n d gewesen sei, das nur seinen Verstand hatte, um sich abzulenken und zu spielen. Ihr sei nichts anderes übrig geblieben, denn ihre Eltern wollten nicht mehr Kinder haben und verfolgten eher ihre eigenen Interessen, als sich um sie zu k ü m m e r n . Ihr Vater - >er heißt wie du, Javier< - sei unter noch schlechteren Bedingungen als heute Physiker gewesen. Elisa erinnerte sich nur noch an einen liebenswerten M a n n mit dichtem schwarzem Bart. Er habe sein Leben teils in England, teils in den USA verbracht, wo er die schwache Wechselwirkung< erforschte, das Modethema der theoretischen Physik in den siebziger Jahren: die Kraft, die den Zerfall gewisser Atome hervorruft. »Er hat lange Zeit bekannte Dinge untersucht, wie die Verletzung der CP-Symmetrie beim Kaon ... Mach nicht so ein Gesicht!« Elisa musste lachen. »Nein, nein«, sagte Maldonado, »ich h ö r e dir nur zu und notiere m i r was.« »Kaon, mit K«, Elisa wies auf den Zettel m i t Maldonados Aufzeichnungen. Sie amüsierte sich immer mehr. Doch leider wollte er auch etwas ü b e r ihre Mutter wissen. Marta Morande war in den besten Jahren, attraktiv, hatte Ausstrahlung und war beides, die Inhaberin und die Chefin des Salon Piccarda. Entdecke deine Schönheit im Salon Piccarda. Es fiel ihr schwer, in gelöster Stimmung ü b e r ihre Mutter zu sprechen. »Sie stammt aus einer Familie, in der Geld und Reisen eine g r o ß e Rolle gespielt haben. Ich schwöre dir, dass ich mich noch immer frage, was mein Vater ü b e r h a u p t von einer solchen Person gewollt hat. Ich bin n ä m l i c h davon überzeugt, dass er . . . Dass mein Vater mich nicht im Stich gelassen hätte, wenn meine Mutter anders gewesen wäre. Sie hat immer gesagt, sie wolle das Leben g e n i e ß e n und nicht zu Hause eingesperrt dasitzen, nur weil sie ein Genie geheiratet habe. So nannte sie ihn. Manchmal
auch vor mir. >Heute k o m m t das Genie wieder.Leben genießen< lassen.« Elisa senkte den Blick und lächelte. »Ich gebe zu, dass ich mich für das Physikstud i u m entschieden habe, um meine Mutter zu ärgern. Sie wollte, dass ich BWL studiere und in ihr b e r ü h m t e s Schönheitsinstitut einsteige. Du glaubst ja nicht, wie sie sich geärgert hat! Sie war so sauer, dass sie nicht mehr m i t m i r geredet hat. Als mein Vater dann mal wieder verreist war, hat sie die Gelegenheit genutzt und ist in ihr Sommerhaus nach Valencia gezogen. Sie hat mich allein in Madrid zurückgelassen, bei meinen Großeltern väterlicherseits. Als mein Vater davon erfuhr, ist er gekommen und hat mir versprochen, mich nie mehr im Stich zu lassen. Ich habe i h m nicht geglaubt. Eine Woche später ist er zu meiner Mutter nach Valencia gefahren, um sie zur Räson zu bringen. A u f der Rückfahrt ist i h m ein betrunkener Tourist frontal ins Auto gefahren. Da war alles vorbei.« Sie fröstelte und rieb sich die nackten Arme. Bestimmt war es die Kälte, nicht die A n k ü n d i g u n g einer Krankheit. Sie fand, es tat ihr gut, ü b e r damals zu reden. Wem hatte sie je die Geschichte erzählt? »Jetzt wohne ich wieder mit meiner Mutter z u s a m m e n « , setzte sie hinzu. »Aber jede hat ihren eigenen Bereich in der Wohnung, u n d w i r versuchen, die Grenzen des anderen zu respektieren.« Maldonado malte versonnen Kreise aufs Papier. Elisa merkte, dass die anfängliche Anspannung wieder zurückzukehren drohte. Sie beschloss, einen anderen Ton anzuschlagen. »Aber weißt du, die Zeit, die ich allein in Madrid verbracht habe, ist m i r gut bekommen. Ich hatte Gelegenheit, meinen Großvater besser kennen zu lernen. Er ist der liebste Mensch auf der Welt. Er war früher Lehrer und hat viele illustrierte Bücher mit mir a n g e s c h a u t . . . «
A u f dieses Thema schien Maldonado anzusprechen, denn er nahm seine Notizen wieder auf. »Interessierst du dich für Geschichte?«, fragte er. » D a n k meines G r o ß v a t e r s , sehr. O b w o h l ich nicht gut Bescheid weiß.« »Welches ist deine Lieblingsepoche in der Geschichte?« »Ich weiß n i c h t . . . « Elisa dachte nach. »Die Völker der Antike faszinieren mich: Ägypter, Griechen, R ö m e r ... Meinem G r o ß vater gefiel am besten das Römische Reich. Wenn man bedenkt, was uns seine Einwohner alles hinterlassen haben, und trotzdem ist es für immer untergegangen ...« »Na und?« »Ich weiß nicht, es fesselt mich.« »Fesselt dich die Vergangenheit?« »Dich etwa nicht? Sie i s t . . . eine für immer versunkene Welt, nicht wahr?« »Richtig«, bestätigte Maldonado förmlich, als handele es sich um eine Angabe, die er vergessen hatte zu erfragen. »Wir haben gar nicht ü b e r deine religiösen Ü b e r z e u g u n g e n gesprochen. Glaubst du an Gott, Elisa?« »Nein. Ich habe dir ja schon erzählt, dass die Familie meines Vaters extrem katholisch ist. Aber mein Großvater war intelligent genug, mich nicht zu drängen. Er hat mir einfach Werte mitgegeben. Ich habe nie an Gott geglaubt, nicht einmal als K i n d . U n d j e t z t . . . Vielleicht findest du es komisch, aber ich denke an mich mehr als Christin denn als Gläubige. Ich glaube daran, dass man den anderen helfen soll, Opfer bringen muss, an die Freiheit, an fast alles, was Christus uns gelehrt hat, aber nicht an Gott.« »Wieso sollte ich das komisch finden?« »Es klingt doch komisch, oder?« »Du glaubst also nicht, dass Jesus Christus Gottes Sohn war?« »Genau. Weil ich nicht an Gott glaube. Was ich glaube, ist, dass Jesus ein sehr gütiger, sehr tapferer Mensch war, der uns Werte vermitteln konnte ...« »Wie dein Großvater.«
»Ja. Nur hatte er nicht so viel Glück wie mein G r o ß v a t e r und musste für seine Vorstellungen sterben. Daran glaube ich schon, dass man für seine Vorstellungen manchmal sterben muss.« Maldonado schrieb. U n d auf einmal kam ihr der Gedanke, dass er diese Fragen aus p e r s ö n l i c h e m Interesse gestellt haben musste. Sie konnten doch nichts m i t dem Interview zu t u n haben. Elisa wollte i h n gerade darauf ansprechen, als sie ihn den Kugelschreiber wegstecken sah. »Fertig«, sagte Maldonado. »Was hältst du von einem Spaziergang?« Sie schlenderten bis zur Puerta del Sol. Es war der erste Samstag im Juli, ein warmer Abend, und eine Menschenmenge bevölkerte den g r o ß e n Platz vor den Kaufhäusern, die bald schließen w ü r d e n . Sie hatten eine Weile geschwiegen, weil Elisa sich weniger auf Maldonado konzentrierte und mehr darauf, den Leuten und dem Denkmal Karls I I I . auszuweichen, da h ö r t e sie ihn sagen: »Und, wie kommst du m i t Blanes aus?« Vor dieser Frage hatte sie sich gefürchtet. Um aufrichtig zu sein, h ä t t e sie i h m antworten m ü s s e n , dass ihr Stolz nicht nur verletzt war, sondern in den Untiefen ihrer Persönlichkeit auf der Intensivstation im Koma vor sich hin vegetierte. Sie hatte es i n zwischen aufgegeben, Blanes auf sich aufmerksam zu machen, und hob nicht einmal mehr die Hand, ganz gleich bei welcher Frage. Sie b e s c h r ä n k t e sich darauf, z u z u h ö r e n und so viel wie möglich von i h m zu lernen. Valente Sharpe hingegen, m i t dem sie bisher keinen einzigen Blick gewechselt hatte, produzierte sich immer mehr. Die anderen Kursteilnehmer hatten angefangen, sich mit ihren Fragen an ihn zu wenden, als wäre er Blanes persönlich oder dessen rechte Hand. Das war er zwar noch nicht, aber auf dem besten Weg, es zu werden, denn Blanes forderte ihn bisweilen ausdrücklich zu einem Beitrag auf: >Haben Sie nichts dazu zu sagen, Valente?< Und Valente Sharpe traf mit seiner A n t wort jedes Mal den Nagel auf den Kopf. Manchmal dachte sie, dass sie nur neidisch war. Stimmt nicht:
Was ich empfinde, ist Leere. Als hätte man aus mir die Luft rausgelassen. Als hätte ich für einen superharten Marathon trainiert und dürfte nicht antreten. Da Blanes offenbar schon beschlossen hatte, wer ihn nach Z ü r i c h begleiten sollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als von dem Kurs zu profitieren, so gut sie konnte, und sich für ihre berufliche Zukunft neu zu orientieren. Sie fragte sich, ob sie Maldonado in ihre Gefühle einweihen sollte, und beschloss dann, dass sie an diesem Abend schon genug ü b e r sich ausgeplaudert hatte. »Nun«, erwiderte sie, »er ist ein hervorragender Professor.« »Willst du immer noch bei i h m deinen Doktor machen?« Sie zögerte m i t der A n t w o r t . Ein begeistertes »Ja« w ä r e eine Lüge gewesen, wogegen ein kategorisches »Nein« auch nicht zutraf. Emotionen, dachte Elisa, haben doch einiges gemein m i t der Unscharfe in der Quantentheorie. Sie antwortete mit einem neutralen »Schon« und ließ ihn über ihre wahren W ü n s c h e im Unklaren. Sie hatten den Platz ü b e r q u e r t und befanden sich in der N ä h e der Statue des Bären, als Maldonado sie bat, einen Abstecher zum Eissalon zu machen, wo er sich eine seiner wenigen Schwachem - wie er es nannte - genehmigen wolle: Praline-Krokant. Sie musste im Stillen lachen, als er wie ein kleines Kind nach seinem Eis verlangte, aber noch mehr, als sie sah, mit welchem Genuss er sich d a r ü b e r hermachte. Maldonado war mitten auf dem Platz stehen geblieben, um es bis zuletzt auszukosten. Er schlug ihr vor, vielleicht zum Abendessen zu einem Chinesen zu gehen. Elisa war sofort einverstanden und freute sich, dass er den gemeinsamen Abend noch nicht beenden wollte. In diesem Moment entdeckte sie rein zufällig den Mann. Er stand am Eingang der Eisdiele. Er hatte graues Haar und einen ebensolchen Schnurrbart. Er hatte eine Eiswaffel in der Hand und biss h i n u n d wieder hinein. Er hatte weniger Ähnlichkeit mit dem Zweiten als mit dem Ersten. Eigentlich sah er aus wie ein Bruder des Mannes auf dem Fest. Oder er war es selbst, nur anders angezogen - ausschließen konnte sie das nicht.
Aber nein, sie t ä u s c h t e sich. Denn bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass er eher krauses Haar hatte u n d insgesamt schlanker war. Es war eindeutig ein anderer. Einen Augenblick lang sagte sie sich: Schon gut, reg dich ab. Das ist einfach jemand, der den anderen ähnlich sieht und dich ebenfalls anstarrt. Aber dann schien ihr plötzlich der Verstand stehen zu bleiben und lauter irrationale Gedanken s t ü r m t e n auf sie ein, l ä r m t e n und schlugen alles kurz und klein wie eine Horde zugekokster Irrer. Drei verschiedene Männer, die einander ähneln. Drei Männer, die mich beobachten. »Was hast du?«, fragte Maldonado. Sie konnte es nicht für sich behalten, musste etwas sagen. »Der Mann da.« »Welcher Mann?« Als Maldonado sich nach i h m umdrehte, wischte sich der Kerl gerade die H ä n d e an einer Serviette ab und hatte aufgehört, Elisa anzustarren. »Der da, neben der Eisdiele, in dem marineblauen Polohemd. Er hat mich die ganze Zeit so komisch a n g e g u c k t . . . « Es war ihr unangenehm, dass Maldonado denken musste, sie sähe Gespenster, aber jetzt gab es kein Z u r ü c k mehr. »Der sieht genauso aus wie einer, der m i r auf dem Uni-Fest aufgefallen ist. Der hat mich auch beobachtet. Vielleicht ist es derselbe.« »Ernsthaft?«, fragte Maldonado. In diesem Moment drehte sich der Mann auf dem Absatz um und ging in Richtung Calle de Alcalá davon. »Ich w e i ß nicht, es kam m i r vor, als w ü r d e er mich beschatten ...« Sie versuchte, ü b e r ihre eigenen Worte zu lachen, merkte aber, dass ihr das nicht gelang. Maldonado schien auch nicht zum Lachen zumute. »Vielleicht habe ich sie verwechselt.« Er fand, sie sollten in eine ruhige Bar gehen und d a r ü b e r reden. Aber weit und breit war keine ruhige Bar zu entdecken, und Elisa war zu aufgeregt, um noch länger herumzuirren. Deshalb beschlossen sie, in das chinesische Lokal zu gehen, wo sie ohneh i n zu Abend essen wollten. D o r t war es noch leer.
»Jetzt erzähl m i r mal haarklein, was auf dem Fest passiert ist«, forderte Maldonado sie auf, als sie an einem ruhig gelegenen Tisch im Restaurant s a ß e n . Er h ö r t e ihr aufmerksam zu, dann bat er sie um eine möglichst genaue Schilderung des Mannes an der U n i . Doch bevor sie fertig war, unterbrach er sie: »Warte mal, der k o m m t m i r bekannt vor. Angegrautes Haar, Schnurrbart... Er heißt Espalza und ist Professor für Statistik an der Alighieri. Ich habe bei i h m ein paar Statistikseminare für Soziologen belegt, aber ich kenne i h n vor allem als Sprecher des Unikollegiums, als ich noch Studentenvertreter war.« Er machte eine Pause und verzog spitzbübisch das Gesicht, was ihr an i h m gefiel. »Er ist geschieden, und man sagt i h m nach, dass er hinter allen h ü b schen Studentinnen her ist. Als er dich gesehen hat, ist i h m bestimmt die Spucke weggeblieben ...« Plötzlich hatte sie Lust, laut loszuprusten. »Weißt du, was an dem Abend noch war? Als du mich zu Hause abgesetzt hast, da habe ich noch einen M a n n m i t Schnauzbart entdeckt, der mich so angestarrt hat.« Maldonado riss die Augen auf wie ein Komiker. » U n d der von heute hatte auch einen Schnauzbart!« »Eine ... Verschwörung von Schnauzbärtigen!«, murmelte er alarmiert. »Verstehe!« Elisa brach in schallendes Gelächter aus. Wie hatte sie auf diese aberwitzige Idee kommen k ö n n e n ? Dafür gab es nur eine triftige E r k l ä r u n g : Sie war nach den P r ü f u n g e n und durch die ungewohnte Behandlung im Blanes-Kurs m i t den Nerven am Ende. Sie lachte weiter, bis ihr die Tränen die Wangen herabliefen. Da bemerkte sie, dass Maldonados Gesicht erstarrte und auf eine Stelle hinter ihrem Rücken blickte. »Mein Gott!«, sagte er in verängstigtem Ton. »Der Kellner!« Elisa drehte sich u m , trocknete sich die T r ä n e n . Der Kellner war Asiat und hatte - untypischerweise, wie Elisa fand - im Gesicht einen dichten schwarzen Schnurrbart. Maldonado d r ü c k t e ihren A r m : »Noch ein Schnauzbärtiger! Schlimmer: ein schnauzbärtiger Chinese!«
»Bitte!«, prustete sie wieder los. »Genug!« »Los, w i r gehen, schnell!«, flüsterte Maldonado. »Wir sind umzingelt!« Elisa musste sich hinter der Serviette verstecken, als der Kellner an ihren Tisch kam. Noch zu Hause im Bett kicherte sie vor sich h i n . Javier Maldonado war genial. Genial g r o ß geschrieben. Den ganzen Abend hatte sie sich ausgeschüttet vor Lachen bei seinen Anekdoten über Mitstudenten und Professoren, bei denen Espalza nicht zu kurz kam und dessen Neigung, m i t allem a n z u b ä n d e l n , was j u n g war und einen Rock trug. Seinen Witzen zu lauschen vermittelte Elisa das Gefühl, sich die Lungen m i t Frischluft zu füllen, nachdem sie viel zu lange in einem T ü m p e l aus Büchern und Gleichungen untergetaucht war. U n d zum k r ö n e n d e n Abschluss hatte er, als sie allmählich nach Hause wollte, ihr den Wunsch von den Augen abgelesen und umgehend erfüllt. Er war zwar ohne Auto da gewesen, hatte sie aber in der Metro bis zum Retiro begleitet. Seine s p i t z b ü b i s c h e Miene hatte sie noch vor Augen, als sie aus der Bahn stieg und auf dem Weg zu F u ß nach Hause. Genau genommen war sie Maldonado nicht viel n ä h e r gekommen, aber ein erster Schritt war getan. Schließlich hatte sie so ihre Erfahrungen und war nicht vollkommen unbedarft. Ein Vorteil ihres Alleinlebens war, dass sie immer für sich selbst hatte sorgen m ü s s e n . So war sie auch des Öfteren m i t Jungen ausgegangen, vor allem zu Beginn ihres Studiums, und glaubte zu wissen, wer ihr gefiel und wer nicht. M i t Maldonado verbanden sie freundschaftliche Gefühle, aber die machten Fortschritte. Ihre Wohnung lag dunkel und still da. Als sie das Licht in der Diele anschaltete, sah sie einen Zettel am T ü r r a h m e n kleben: >Ich komme heute Nacht nicht nach Hause. Das M ä d c h e n hat dir das Abendessen in den Kühlschrank gestellte Das M ä d c h e n war eine stämmige Russin von immerhin fünfundvierzig Jahren, aber ihre Mutter hatte von jeher alle Hausangestellten so genannt. W ä h r e n d Elisa im Wohnzimmer Licht machte und es in
der Diele ausschaltete, fragte sie sich, weshalb ihre Mutter sie ständig über das Offensichtliche in Kenntnis setzen musste. Marta Morande verbrachte ihre Wochenenden nämlich nie zu Hause, das pfiffen schon die Spatzen von den D ä c h e r n , und manchmal kam sie sogar erst am Montag wieder. Sie hatte eine Reihe von Verehrern, die sie einluden, die Samstage in l u x u r i ö s e n Villen m i t ihnen zu verbringen. So quittierte Elisa die Nachricht mit einem Schulterzucken: Es war ihr einerlei, was ihre Mutter tat. Elisa löschte das Licht im Wohnzimmer und machte das im langen Flur an. Sie wusste, dass niemand da war. >Das Mädchen< hatte sonntags frei und nutzte wie üblich die Gelegenheit, um Samstagabends etwas m i t ihrer Schwester zu unternehmen, die etwas a u ß e r h a l b der Stadt in einer Mietwohnung lebte. Das waren Elisas liebste Abende: Ohne die nervige Gesellschaft ihrer Mutter oder die f o r t w ä h r e n d um sie herumwirtschaftende Hausangestellte hatte sie die ganze Wohnung für sich allein. Sie folgte der Biegung des Flurs und steuerte auf ihr Zimmer zu. Die >Verschwörung der S c h n a u z b ä r t i g e m kam ihr in den Sinn, und sie kicherte vor sich h i n . Sicher steht jetzt einer in meinem Zimmer und wartet auf mich, und ein anderer lauert mir unter dem Bett auf. Sie öffnete die Tür, kein Schnauzbart in Sicht. Elisa zog die T ü r hinter sich ins Schloss, und nach kurzer Ü b e r l e g u n g drehte sie den Schlüssel im Schloss u m . Ihr Zimmer war ihr Bollwerk, ihre Festung, der Ort, an dem sie studierte und lebte. Sie hatte etliche Auseinandersetzungen m i t ihrer Mutter geführt, um ihr begreiflich zu machen, dass sie ihre Nase nicht dort hineinzustecken hatte. Seit langem putzte sie ihr Zimmer selber, machte das Bett und bezog es mit frischen Laken. Sie wollte nicht, dass jemand anders in ihrem Reich herumstöberte. Elisa zog die Jeans aus und warf sie auf den Boden, die Socken hinterher, dann schaltete sie den Computer an. Eine gute Gelegenheit, ihre E-Mails zu lesen, die sie wegen der S t ö r u n g in der Telefonleitung seit dem Vortag nicht mehr hatte lesen k ö n n e n .
W ä h r e n d sie ihr Mailprogramm aufrief, überlegte sie, was sie an diesem Abend noch t u n wollte. Lernen auf keinen Fall, dafür war sie viel zu m ü d e , aber ins Bett gehen wollte sie auch noch nicht. Vielleicht sah sie sich eine Erotikdatei an, loggte sich in einen entsprechenden Chatroom oder ging auf eine Erotikseite. Cyber-Sex war w ä h r e n d der langen Studienphase im Winter die schnellste u n d sauberste L ö s u n g für sie gewesen. An jenem Abend hatte sie aber keine rechte Lust dazu. In ihrer Post waren zwei ungelesene Mails. Die erste stammte von der Redaktion eines Internetmagazins für Mathematiker. Bei der zweiten war die Betreffzeile leer, aber offenbar eine Datei angehängt. Den Absender konnte sie nicht identifizieren. mercurioOO
[email protected] Das roch zehn Meilen gegen den W i n d nach einem Virus. Elisa beschloss, die Datei nicht zu öffnen, markierte sie und d r ü c k t e die Delete-Taste. Plötzlich war der Bildschirm schwarz. Sie dachte schon, der Strom sei ausgefallen, doch ihre Schreibtischlampe brannte. Sie wollte sich gerade b ü c k e n , um die Kabelverbindungen zu ü b e r p r ü f e n , da flackerte der M o n i t o r wieder auf, und ein großformatiges Foto erschien. Sekunden später wechselte es. Weitere Bilder folgten. Elisa saß m i t offenem M u n d davor. Es waren Schwarzweißzeichnungen in einer alten Technik wie von einem K ü n s t l e r Anfang des Jahrhunderts. Das M o t i v war immer das gleiche: eine Serie von Akten, M ä n n e r und Frauen, die den jeweils anderen auf den Schultern huckepack trugen. Unter jedem Bild erschien dieselbe Frage in roten Kapitälchen: »GEFÄLLT ES DIR?« Notgedrungen sah sie sich die Bilderschau an, denn die Tasten ihres Rechners reagierten nicht auf ihre Befehle: Ihr Computer hatte sich selbstständig gemacht. Diese Hurensöhne! Sie war sicher, dass ihr jemand einen Virus ins System geschleust hatte, obwohl sie alles unternommen hatte, um sich dagegen zu schützen. M i t einem M a l erblasste sie.
Die Bilderschau war zu Ende, und der M o n i t o r wurde wieder schwarz, zeigte nur eine Zeile in g r o ß e n roten Buchstaben, die aussahen wie blutige Schrammen. Elisa konnte den Satz deutlich lesen, bevor der Bildschirm sie m i t dem nächsten Lidschlag aus dieser elektronischen Vorhölle erlöste und wieder das gewohnte Mailprogramm anzeigte. Die ungelesene Nachricht befand sich nicht mehr in der Posteingangsliste. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Sie erinnerte sich an die letzten Worte und schüttelte den Kopf. Das kann sich nicht auf mich beziehen. Das ist bloß Werbung. Da hatte gestanden: DU WIRST BESCHATTET.
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In der folgenden Woche erhielt sie am Dienstag wieder eine Nachricht von »mercuryfriend«. Da half auch nichts, das M a i l programm neu zu konfigurieren, um den Absender herauszufiltern. Es funktionierte nicht. Sie schaltete den Rechner aus, aber beim Neustart öffnete sich die M a i l wie beim ersten M a l von selbst und zeigte ihr ähnliche Bilder mit gleich lautenden Untertiteln. Diesmal waren es allerdings keine Zeichnungen vom Beginn des Jahrhunderts, sondern moderne Grafiken: m i t A i r brush gemalte Körper und dreidimensionale Reproduktionen in digitaler Form. Stets waren es M ä n n e r und Frauen, die in voller Montur und Stiefeln schnell oder langsam zu F u ß unterwegs waren und auf dem Rücken eine weitere Person mitschleppten. Elisa wandte den Blick ab. Dann kam ihr eine Idee. Sie suchte im Netz nach der Seite » m e r c u r y f r i e n d . n e t « , um leicht verwundert festzustellen, dass sie ohne Passwort zugänglich war und sofort geladen wurde. Vor einem gespenstischen H i n t e r g r u n d in grellem Lila leuchteten elektronische Anzeigen von Bars und Clubs mit den abenteuerlichsten Namen - »Abbadon«, »Galimatias«, »Euklid«, »Mister X«, »Scorpio« - und boten nächtliche Unterhaltung der extravaganten Art, Animation von Frauen und M ä n n e r n oder Partnertausch inbegriffen. Aha, das also steckte hinter den unbekannten Mails. Werbung,
wie vermutet. Sie musste diesen Schweinen wohl aus Versehen ihre Mailadresse zu erkennen gegeben haben u n d wurde jetzt m i t diesem Mist bombardiert. Sie musste herausfinden, wie sie das wieder abstellen konnte. Vielleicht, indem sie sich eine neue Adresse zulegte. Und m i t Erleichterung registrierte sie, dass die Mails keine persönliche Botschaft an sie darstellten. Auch mit dem Clan der Schnauzbärtigen hatte sie Frieden geschlossen. Seit dem G e s p r ä c h m i t Maldonado war sie beruhigt und verschwendete keinen Gedanken mehr an sie. Oder fast keinen. N u r ab und zu, wenn sie auf der S t r a ß e einen Grauhaarigen m i t Schnurrbart sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Manchmal entdeckte sie diese M ä n n e r aus g r o ß e r Entfernung, woraus sie schloss, dass ihr Gehirn unbewusst nach diesem Typus Ausschau hielt. Aber nie wieder ertappte sie einen dabei, wie er sie beobachtete oder ihr nachstellte, u n d am Ende der Woche hatte sie die Geschichte so gut wie vergessen oder m a ß ihr jedenfalls keine große Bedeutung mehr bei. Sie hatte andere Sorgen.
Am Freitag beschloss sie n ä m l i c h , ihre Strategie im Blanes-Kurs zu ä n d e r n . »Was glauben Sie, wie die Lösung hierfür lautet?« Blanes deutete auf eine Gleichung, die in seiner engen, m i t Kürzeln durchsetzten Schrift an der Tafel stand. Elisa und die anderen Teilnehmer hatten jedoch keine Schwierigkeiten, das Gekritzel zu entziffern, und lasen es so flüssig wie einen spanischen Prosatext. Sie erkannten darin die Kernfrage der Blanes-Theorie: Wie lassen sich endliche Zeit-Strings von einem einzigen Ende aus identifizieren und isolieren? Das Thema war hochspannend. Mathematisch ließ sich n ä m lich nachweisen, dass bei den Zeit-Strings das eine Ende fehlte. Um das P h ä n o m e n m i t einem Beispiel zu veranschaulichen, zog Blanes an der Tafel eine Gerade und bat die Studenten, sich diese als einen losen Faden auf einem Tisch vorzustellen: Das eine
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Ende wäre die >Zukunft< und das andere die >VergangenheitZukunft< bewegen, was er mittels eines Pfeils verdeutlichte. Anders ließ sich das nicht darstellen, denn den Ergebnissen der Gleichungen zufolge war das entgegengesetzte Ende, das andere Ende des Fadens, die >Vergangenheit< also, gar nicht vorhanden. Damit hatte Blanes seine berühmte Erklärung geliefert, warum sich die Zeit nur in eine Richtung bewegt. Blanes setzte für dieses Phänomen an das andere Ende der Geraden ein Fragezeichen: Es gab kein loses Ende, das sich als >Vergangenheit< identifizieren ließ.
Das Unglaublichste war jedoch, dass, obwohl eines der beiden Enden fehlte, der Zeit-String nicht unendlich war. Jeder Versuch, das logisch zu begründen, war zum Scheitern verurteilt. Die >Vergangenheit< war demnach endlich, aber dieses Ende war nicht ihr äußerster Punkt. Dieses Paradox verursachte Elisa einen angenehmen Schauer, ein Gefühl, das sich immer einstellte, wenn in ihr eine Ahnung von der Unfassbarkeit der Welt aufstieg. Konnte es denn möglich sein, dass die Wirklichkeit in ihrem tiefsten Kern aus etwas so Verrücktem bestand wie aus String-Teilchen m i t Enden, die keine Enden waren? Wie dem auch sei, sie glaubte jedenfalls die A n t w o r t auf Blanes' Frage zu kennen. Sie brauchte die Formel noch nicht einmal in ihrem Heft zu notieren, weil sie die Gleichung bereits zu Hause entwickelt u n d das Ergebnis noch frisch im Gedächtnis hatte. Sie schluckte u n d fasste sich dann selbstbewusst ein Herz. Zwanzig Augenpaare fixierten die Tafel, aber nur eine Hand schnellte in die Höhe. Die von Valente Sharpe.
»Bitte, Valente«, lächelte Blanes. »Angenommen, in den Mittelsegmenten jedes Strings wären Schleifen, dann könnten w i r sie m i t einem geringeren Energieaufwand identifizieren. Wenn die Energiezufuhr groß genug wäre, könnten wir sie sogar isolieren und die Schleifen lösen. Das bedeutet ...« Es folgte ein mathematischer Redeschwall ohne Punkt u n d Komma. Nach dieser ausführlichen Erläuterung wurde es ganz still im Raum. Die ganze Gruppe einschließlich Blanes staunte nicht schlecht. Denn wer geantwortet hatte, war gar nicht Valente gewesen. Wie die Puppe eines Bauchredners hatte der junge M a n n den M u n d geöffnet, um sogleich von einer anderen Stimme unterbrochen zu werden, zwei Plätze links von i h m , die das Wort an sich riss. Alle starrten Elisa an. Und sie schaute unverwandt auf Blanes. Sie hörte ihr Herz pochen und spürte ihr erhitztes Gesicht, als hätte sie i h m anstelle von Gleichungen ihre Liebe erklärt. Sie wartete m i t einer Ruhe auf seine Reaktion, die sie selbst verwunderte, ohne seinen bohrenden Blicken hinter den halb geschlossenen Lidern auszuweichen - Blanes' typische A r t zu schauen erinnerte sie wie so oft an den alten Hollywood-Schauspieler Robert M i t c h u m . Und ihr leidenschaftliches Wesen, das sich in anderen Situationen als Fehler erwies, kam ihr diesmal zugute: Sie fühlte sich im Recht und war zum Kampfbereit, ganz gleich, gegen wen sie antreten musste. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihre Wortmeldung gesehen zu haben, Frau ...« Blanes' Stimme war so tonlos wie seine Miene starr, doch schwang eine gewisse Schärfe m i t . Die Stille wurde noch undurchdringlicher. »Robledo«, erwiderte Elisa. »Sie haben meine Wortmeldung nicht gesehen, weil ich mich gar nicht gemeldet habe. Ich habe mich eine geschlagene Woche zu Wort gemeldet, und Sie scheinen durch mich hindurchzusehen, deshalb habe ich heute einfach losgeredet.«
Gespannte Hälse reckten sich abwechselnd nach Blanes u n d Elisa, als ginge es um die letzten Sekunden eines großen Tennisfinales. Dann wandte Blanes sich ab, sah Valente an. Er lächelte. »Bitte, Valente, Ihre Antwort«, bat er ihn noch einmal. M i t seiner auffälligen Magerkeit u n d dem weißen, kantigen Gesicht saß dieser wie eine Eisstatue an seinem Pult. Unverzüglich legte er m i t lauter, klarer Stimme den erbetenen Sachverhalt dar. Doch während ihr Blick auf seinem markanten Profil ruhte, machte Elisa eine kleine, aufschlussreiche Entdeckung: Valentes Darstellung war inhaltlich identisch mit der ihren, auch wenn er es auf seine Weise und mit anderen Worten tat, vielmehr vermittelte er den Eindruck - ohne im Geringsten auf ihre Ausführungen einzugehen, als hätte er von vornherein genau das sagen wollen. Allerdings unterlief i h m an einer Stelle ein winziger Fehler. Blanes sprang jedoch ein u n d korrigierte die Variable rasch. Er kämpft genauso um sein Terrain wie ich um meins, dachte Elisa zufrieden. Gleichstand, Valente Sharpe. Als Valente geendet hatte, beschied i h m Blanes ein »Sehr gut, danke«. Dann senkte er den Blick u n d betrachtete den Boden zwischen seinen Füßen. »Dies ist ein Kurs für Studienabsolventen in theoretischer Physik«, setzte er mit seiner heiseren Stimme betont sanft hinzu. »Also für Erwachsene. Sollte das noch einmal vorkommen, dass einer von Ihnen eine infantile Reaktion nicht unterdrücken kann, möchte ich sie oder ihn bitten, dies außerhalb unseres Kurses zu t u n . Merken Sie sich das.« Er hob den Kopf, fixierte weder Valente noch Elisa, sondern wandte sich der ganzen Gruppe zu, und schob im selben Ton nach: »Abgesehen davon ist die von Frau Robledo gelieferte Lösung richtig u n d brillant.« Elisa bekam eine Gänsehaut. Er hat nur mich genannt, weil ich die Lösung als Erste gewusst habe. I h r kam der Ratschlag eines Optikprofessors in den Sinn: >In der Wissenschaft kann man sich erlauben, ein Arschloch zu sein, nur muss man den anderen zu-
vorkommend Dennoch empfand sie weder Genugtuung noch echte Freude über ihren T r i u m p h . Im Gegenteil, Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. Sie beobachtete aus dem Augenwinkel das unbewegte Profil von Valente Sharpe, der sie noch nie direkt angeblickt hatte, u n d fühlte sich elend. Gratuliere, Elisa, heute warst du das Arschloch und bist Valente zuvorgekommen. Sie senkte den Kopf u n d verbarg die Tränen, indem sie eine Hand vor die Stirn legte, als würde sie geblendet.
Der Vorfall beschäftigte sie so sehr, dass sie zu Hause kaum beachtete, als wieder eine M a i l von »mercuryfriend« angezeigt wurde. Da sie inzwischen wusste, dass sich die Datei ohnehin von allein öffnete, ob sie sie aufrief oder nicht, klickte sie die geschlossene M a i l diesmal gleich an. Wieder erschien auf dem Bildschirm eine Bilderserie. Sie wollte gerade wegschauen, da bemerkte sie den Unterschied. Zwischen den Akten waren auch andere Bilder: Ein Mann trug in gebückter Haltung einen Felsbrocken auf dem Rücken; auf einem gesattelten Soldaten in der Uniform des Ersten Weltkriegs hockte ein Mädchen; ein Tänzer balancierte auf den Schultern eines Akrobaten ... Am Ende erschien in roten Lettern auf schwarzem G r u n d dieser neue, rätselhafte Satz: »WENN DU BIST, WER D U GLAUBST Z U SEIN, K O M M S T D U S C H O N N O C H DRAUF.« Von wem die Anzeige wohl stammen mochte? Elisa zuckte verständnislos die Achseln und schaltete den Rechner aus, blieb dann jedoch reglos davor sitzen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass etwas dahintersteckte. Es musste etwas Unwichtiges, etwas längst Vergessenes sein, sie kam einfach nicht drauf. Später würde es ihr bestimmt wieder einfallen. Sie zog sich aus und blieb lange unter der warmen, entspan-
nenden Dusche. Als sie das Badezimmer verließ, hatte sie die M a i l vergessen und dachte nur noch an den Zwischenfall in der heutigen Vorlesung. Wenn sie ehrlich war, spornte Blanes' Missachtung sie erst richtig an. Sie hatte Blut geleckt. Ohne sich anzuziehen, breitete sie das Handtuch ü b e r ihr Bett und legte sich m i t Aufzeichnungen und B ü c h e r n darauf und rechnete einige Gleichungen durch, die ihr für ihre Hausarbeit in den Sinn gekommen waren. Es blieben nur noch fünf Kurstage. An den letzten Vorlesungstag sollte ein zweitägiges internationales Symposium im Kongresszentrum anschließen, zu dem einige der bekanntesten theoretischen Physiker erwartet wurden, zum Beispiel Stephen Hawking und Blanes selbst. Bis dahin sollte jeder Student eine Hausarbeit abliefern und darin mögliche Lösungen aufzeigen, die sich aus der Aufgabenstellung der » M a m m u t b a u m - T h e o r i e « ableiten ließen. Elisa versuchte einen neuen Ansatz. Die Ergebnisse stellten sie noch nicht zufrieden, aber die Tatsache, dass sie einen Rechenweg hatte, beruhigte sie. Diese Ruhe war leider von kurzer Dauer. Als sie zum Essen ihr Z i m m e r verließ, begegnete sie ihrer Mutter, und diese hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als sich ihrer heiligsten Pflicht zu widmen und der Tochter das Leben schwer zu machen. »Also so was. Ich dachte, du wärst noch gar nicht da. Wieso verdrückst du dich sofort in dein Zimmer, ohne ü b e r h a u p t Guten Tag zu sagen?« »Bitte schön: Ich bin da.« Sie waren sich im Flur begegnet. Ihre Mutter war perfekt gekleidet und geschminkt und roch nach einem dieser Parfüms, für die in den Modezeitschriften mit ganzseitigen Anzeigen nackter Frauen geworben wurde. Elisa dagegen trug einen alten Kittel und wusste, dass sie aussah wie immer: wie eine Vogelscheuche. Sie ahnte, dass der Kommentar ihrer Mutter nicht lange auf sich warten lassen w ü r d e , und hatte sich nicht getäuscht.
»Du k ö n n t e s t wenigstens deinen Jogginganzug anziehen und dir die Haare k ä m m e n . Hast du schon gegessen?« »Nein.« Elisa ging b a r f u ß bis in die K ü c h e u n d überlegte kurz, den Kittel zuzuknöpfen, bevor ihr >das Mädchen< über den Weg lief. Das Essen war wie immer appetitlich angerichtet und sorgfältig m i t Frischhaltefolie abgedeckt. So wollte es Marta Morande, Baronin von Piccarda. Elisa hatte es inzwischen aufgegeben, nach Schnellgerichten zu verlangen, die sie sich ohne viel Zeitaufwand zwischendurch m i t den Fingern in den M u n d stecken konnte. Der m ü t t e r l i c h e Wunsch war stärker, und dagegen anzugehen, hieß mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Es gab ein Risotto. Elisa a ß , bis das lästige Hungergefühl in ihrem Magen nachließ. Gedankenverloren saß sie am Küchentisch, die langen Beine von sich gestreckt, spielte m i t der Gabel, trank einen Schluck Wasser und plötzlich hatte sie einen Einfall. Ihr Gehirn nahm von verschiedenen Seiten die schier uneinnehmbaren Gleichungen wieder in Angriff. Dass ihre Mutter die Küche betreten hatte, bemerkte sie erst, als ihre Stimme sie aus den Gedanken riss. » . . . eine sehr sympathische Dame. Sie sagt, der Sohn ihrer Freundin sei m i t dir an der U n i gewesen. W i r haben eine ganze Weile über dich geredet.« M i t leerem Blick starrte sie ihre Mutter an. »Was?« »Der Name w i r d dir nichts sagen. Eine neue Kundin m i t sehr, sehr guten Beziehungen ...« Marta Morande unterbrach sich, um die Schlankheitspillen zu schlucken, die sie jeden Mittag mit einem Glas Mineralwasser herunterspülte. »Sie hat mich gefragt: >Ach, sind Sie die Mutter von dem M ä d c h e n ? Wussten Sie, dass Ihre Tochter geradezu als Genie gilt?< Ob es dir passt oder nicht, sei dir hiermit gesagt, dass ich mit dir angegeben habe und mächtig stolz auf dich war. Allerdings ist m i r das nicht weiter schwer gefallen, die Frau hat begeistert von dir gesprochen. Sie wollte wissen, wie es ist, m i t einem Mathegenie zusammenzuwohnen ...«
»Aha.« Jetzt war ihr klar, warum die Mutter so gut aufgelegt war. Offenbar hatte sie in ihrem Schönheitssalon m i t Elisas Erfolgen bei einer >neuen Kundin m i t sehr, sehr guten Beziehung e n m ä c h t i g gepunktet. »>Außerdem sieht sie hervorragend aus, wie ich g e h ö r t habeTja, eine perfekte junge Frau.Die inkarnierte Tugendetwas aus ihrem Stu-
d i u m machten Am liebsten sähe sie die Tochter auf einem Posten in der Industrie. Dass es auch die theoretische Forschung gab, kam Marta Morande gar nicht in den Sinn. »Wo gehst du hin?« Elisa war aufgestanden u n d trat den R ü c k z u g an. Ü b e r die Schulter warf sie z u r ü c k : »Ich habe zu t u n . « Sie versetze der Schwingtür einen Stoß und verließ die Küche. »Ich habe auch zu t u n , und trotzdem verschwende ich ab und zu meine Zeit m i t dir«, t ö n t e es ihr hinterher. »Dein P r o b l e m . « Elisa durchquerte fast im Laufschritt das Wohnzimmer und stieß beinah m i t dem >Mädchen< zusammen. Erst da bemerkte sie, dass ihr Kittel i m m e r noch offen stand. Egal. Hinter sich h ö r t e sie das Klackern hochhackiger Schuhe und beschloss, der Mutter im Flur noch einmal die Stirn zu bieten: »Lass m i r meine Ruhe! Kapiert?« »Natürlich«, gab ihre Mutter eisig z u r ü c k . »Nichts lieber als das, glaub mir. Aber du solltest besser mal d a r ü b e r nachdenken, m i r auch meine Ruhe zu lassen ...« »Ich schwöre dir, dass ich es versuche.« « . . . solange w i r uns nicht gegenseitig in Ruhe lassen k ö n n e n , mache ich dich darauf aufmerksam, dass du hier immer noch in meiner Wohnung wohnst und bitte s c h ö n meine Regeln zu befolgen hast.« »Klar, alles, was du sagst.« Es war sinnlos: Sie hatte weder die Kraft noch die Lust auf diese Auseinandersetzung. Elisa wandte sich wieder zum Gehen, doch die Stimme ihrer Mutter ließ sie innehalten. »Wenn sie wüssten, wie du tatsächlich bist, h ä t t e n die Leute weiß Gott eine andere Meinung von dir.« »Und, wie b i n ich?«, forderte sie ihre Mutter heraus. » D u bist ein Kindskopf«, sagte diese u n g e r ü h r t . Elisa wusste von sich, dass sie Talent für mathematische Berechnungen hatte, aber so berechnend wie Marta Morande w ü r d e sie nie werden. »Mit deinen dreiundzwanzig Jahren bist du immer noch ein Kindskopf, der weder einen Gedanken an
sein Aussehen verschwendet noch daran, eine feste Stelle zu finden oder eine Beziehung aufzubauen ...« Ein Kindskopf. Die Worte trafen sie wie ein Fausthieb. Von einem Kindskopf ist nichts anderes zu erwarten, als dass er im Unterricht infantile Reaktionen zeigt. »Soll ich dir Miete bezahlen?«, presste sie hervor. Ihre Mutter blieb einen M o m e n t still. Dann entgegnete sie vollkommen ruhig: » D u weißt, dass es nicht das ist, Elisa. Du weißt, dass ich nur m ö c h t e , dass du lernst, dich im Leben zu bew ä h r e n . F r ü h e r oder später wirst du begreifen, dass das Leben nicht darin bestehen kann, in dem Schweinestall da zu hausen und Mathe zu pauken, und auch nicht darin, beim Essen nackt in der Gegend herumzulaufen ...« Elisa beendete die altbekannte Litanei, indem sie in ihr Z i m mer schlüpfte und die T ü r zuschlug. Sie lehnte sich eine Weile von innen gegen das T ü r b l a t t , als k ö n n t e die Mutter jeden Moment an der Klinke rütteln oder die T ü r aufstoßen. Doch sie h ö r t e nur Schritte in Luxusstilettos, die sich allmählich entfernten, in der Unendlichkeit verloren. Elisas Augen wanderten zum Bett, den verstreuten Papieren und Büchern, und sie wurde ruhiger. Allein der Anblick ließ sie aufatmen. U n d es dauerte nicht lange, da war sie schon wieder ganz in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Sie glaubte zu verstehen, was die E-Mails zu bedeuten hatten.
Elisa setzte sich an den Schreibtisch, nahm Papier, Lineal und Bleistift zur Hand. Figuren, die andere auf dem Rücken tragen. Der Soldat und das Mädchen. Sie fertigte eine Skizze nach diesem Muster an: ein Strichm ä n n c h e n , das ein anderes auf dem Rücken trug. Dann zeichnete sie mit einem feineren Bleistift drei Quadrate um die M ä n n chen herum, so dass in deren Mitte ein gleichschenkliges Dreieck stehen blieb. Nachdenklich sah sie sich das Ergebnis an.
M i t einem neuen Radiergummi entfernte sie vorsichtig die M ä n n c h e n aus den rechteckigen Rahmen und zog zuletzt die L i nien nach, die sie aus Versehen m i t ausradiert hatte.
Jeder Mathematikstudent kannte dieses Diagramm. Es war das b e r ü h m t e 47. Postulat aus dem ersten Buch der Elemente von Euklid. Der geniale griechische Mathematiker lieferte damit einen eleganten Beweis für den Satz des Pythagoras, und der besagte: Die Flächen der oberen Quadrate stimmen in ihrer Summe m i t der Fläche des unteren Quadrats überein. Im Laufe der Jahrhunderte hatte Euklids Beweis unter Mathematikern in Form von symbolischen Zeichnungen kursiert, darunter der eines Soldaten, der seine Braut m i t einem Sattel auf dem Rücken trägt: jene Zeichnung, »Brautsattel« genannt, war
für sie der Schlüssel. letzt wusste sie, dass die anderen Bilder aus einem Kunstbuch zur Mathematik stammen mussten und nicht etwa aus einer erotischen Publikation. Sie konnte sich sogar entsinnen, bei irgendeiner Gelegenheit ein solches Buch einmal in der Hand gehabt zu haben. »Wenn du bist, wer du glaubst zu sein, kommst du schon noch drauf.« Sie erschauerte. Konnte das w i r k l i c h wahr sein? Nur jemand, der sich in Mathematik gut auskannte, w ü r d e die Bilder so deuten. Wollte ihr der anonyme Absender damit vielleicht zu verstehen geben, dass nur jemand wie sie die Botschaft entschlüsseln konnte? Diese Schlussfolgerung ergab i m m e r h i n einen Sinn. Die Nachricht war für mich. Aber was will man m i r damit sagen? Euklid. Ihr kam eine Idee, u n d als sie diese weiterverfolgte, wurde ihr schwindelig. Sie schaltete den Rechner an, öffnete den Navigator und ging ins Netz. Sie lud die Seite von »mercuryfriend.net« und betrachtete eingehend die Anzeigen der Bars u n d Nachtclubs. Ihr blieb die Spucke weg. Die Anzeige vom Club »Euklid« sah zunächst genauso aus wie alle anderen. In g r o ß e n roten Buchstaben war der Name des Lokals zu lesen und darunter der Zusatz: »Der passende Ort für ein Tete-ä-Tete.« Aber es stand noch etwas da: Freitag, 8. Juli, 23.15 Uhr, Sonderempfang: K o m m , w i r wollen reden. Es w i r d dich interessieren. Ihr stockte der Atem. Freitag, der 8. Juli, das war heute.
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»Ich wusste nicht, dass du heute Abend ausgehst«, sagte ihre Mutter, die vor dem Fernseher saß und in einer Zeitschrift blätterte. Dann unterzog sie die Tochter ü b e r den Rand ihrer Lesebrille hinweg einer eingehenden Untersuchung. »Ich bin mit einem Freund verabredet«, log Elisa, wenn es eine Lüge war. Sie wusste ja nicht, was sie erwartete. »Mit dem Publizistikstudenten?« »Ja.« »Schön. Es w i r d Zeit, dass du unter Leute kommst.« Elisa wunderte sich. Etwa eine Woche zuvor hatte sie nebenbei eine Bemerkung über Javier Maldonado gemacht, die kaum ins Gewicht fallen durfte bei den ausgedehnten Schweigephasen zwischen ihrer Mutter u n d ihr. Sie hatte angenommen, ihre Mutter hätte das gar nicht gehört, um jetzt festzustellen, dass sie sich getäuscht hatte. Die m ü t t e r l i c h e Anteilnahme machte sie stutzig: Bis jetzt hatten sie sich nicht viel um das Tun und Lassen der anderen geschert u n d genauso wenig um deren Umgang. Egal, ist sowieso wieder gelogen. U n d als sie schon in der W o h n u n g s t ü r stand, h ö r t e sie die Mutter noch höflich »Viel Spaß« rufen. Sie schmunzelte unwillkürlich, wusste sie doch nicht, ob sie an diesem Abend ü b e r h a u p t S p a ß haben w ü r d e . Sie wusste noch nicht einmal, wo genau sie hinmusste. Denn es gab gar keinen Club m i t Namen »Euklid«.
Die Anschrift gab es zwar, ein kleines N e b e n s t r ä ß c h e n in Chueca, aber eine Bar oder einen Club »Euklid« hatte sie weder dort noch woanders in M a d r i d gefunden, obwohl sie diverse Stadtführer konsultiert hatte. Doch diese Feststellung hatte sie paradoxerweise nur in der Ü b e r z e u g u n g b e s t ä r k t , dass es sich tatsächlich um die Einladung zu einer Verabredung handelte. Wenn es das Lokal n ä m l i c h gegeben hätte, wäre ihr die Sache allzu schlüssig vorgekommen - die Mails, die Webseite, die versteckte Botschaft des Euklid, die Existenz des Clubs. Erst die Entdeckung, dass Letzterer in den einschlägigen Verzeichnissen nicht zu finden war, hatte ihre Neugierde geweckt. Umso mehr, als sie feststellen musste, dass es die anderen Kneipen sehr wohl gab. Hatte sie sich das Ganze nur eingebildet oder war es ein Hinweis darauf, dass der anonyme Mailverfasser unter Verwendung von Euklids Namen einen geschickten Plan ersonnen hatte, um sie zu einer bestimmten Uhrzeit an einen bestimmten O r t zu locken? Aber wozu? Wer konnte das sein, und was wollte er von ihr? Als sie aus der Metrostation Chueca in die Hitze hinaufstieg und sich auf der S t r a ß e ins l ä r m e n d e Gewimmel junger Leute unterschiedlicher Herkunft mischte, war ihr doch unwillkürlich ein wenig m u l m i g zumute. Dabei verband sie m i t dem Treffen keine besonderen Erwartungen, aber auch keine Ängste. Trotzdem bildete sich unter T-Shirt u n d Kurzjacke eine G ä n s e h a u t auf ihrem Rücken. Sie war erleichtert, dass sie m i t diesem Aufzug, den eine kaputte Jeans vervollständigte, in diesem Stadtviertel nicht die Blicke auf sich zog. Sie fand die Hausnummer eingekeilt zwischen zwei g r o ß e n Portalen am Ende einer der Gassen, die von einem Platz ausgingen. Dahinter mochte sich eine Bar, ein Club oder beides verbergen, doch Euklid hieß er nicht. A u f dem Neonschild fehlten mehrere Buchstaben, aber Elisa achtete nicht weiter darauf, denn die Fassade m i t den zwei Schwingtüren aus schwarzem Glas zog sie magisch an. Nichts deutete daraufhin, dass es sich um einen geheimen Versammlungsort handelte oder eine verbotene Spiel-
halle, zu der junge S t u d i e n a b g ä n g e r i n n e n der Physik aus reiner Schikane unter einem mathematischen Vorwand gelockt wurden. Die Gäste kamen und gingen, im Hintergrund h ä m m e r t e ein Stück der Chemical Brothers, und Türsteher zur Gesichtskontrolle gab es auch keine. A u f ihrer Armbanduhr war es zehn nach elf. Sie beschloss hineinzugehen. Vor Elisas Augen machte die Treppe eine Kehre. U n d als sie um die Ecke bog, bot sich ihr ein beruhigender Anblick: ein weitläufiger Saal, überfüllt, so dass er sehr viel kleiner wirkte. Das einzige Licht stammte von einer Theke an der rückwärtigen Wand. Es war rot, weshalb man in den entlegensten Winkeln nur halbe Haarschöpfe erkennen konnte, mal einen A r m oder den rot übergossenen Streifen eines Oberschenkels oder Rückens. Die Musik war so laut, dass Elisa überzeugt war, ihr w ü r d e n noch stundenlang die Ohren d r ö h n e n . Wenigstens gab die Klimaanlage offenbar ihr Bestes. Was nun, Herr Euklid? Sie mischte sich unter die Schatten, um festzustellen, dass es nicht einfach war, sich einen Weg zu bahnen, ohne b e r ü h r t zu werden oder jemanden zu b e r ü h r e n . Vielleicht werde ich ja an der Theke erwartet. Sie drängelte sich durch die Menge, teilte sie m i t den H ä n d e n . Doch plötzlich waren da noch zwei H ä n d e . U n d ein eiserner Griff u m ihren A r m . »Komm!«, vernahm sie eine Stimme. »Schnell!« Perplex vor Verwunderung, gehorchte sie.
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un wechselte die Szenerie, w ä h r e n d sie ans Ende des Lokals ge-
führt wurde, wo sich die Toiletten befanden. M i t ihrem Begleiter stieg sie eine weitere, engere Treppe hoch, die in einen kurzen Gang m ü n d e t e m i t einer T ü r am Ende. An dieser befand sich ein Bügel zum Öffnen und ein pneumatischer Verschluss. Ein Leuchtschild darüber wies sie als >Exit< aus. Ihr Begleiter drückte den Bügel hinunter und öffnete die T ü r wenige Millimeter. Er spähte h i naus, dann schloss er die T ü r wieder und drehte sich zu ihr u m .
Elisa, die i h m wie ein H u n d an der Leine gefolgt war, fragte sich, was nun geschehen w ü r d e . Unter diesen U m s t ä n d e n musste sie m i t allem rechnen. Aber die Frage, die dann kam, überraschte sie doch. Sie glaubte, sich v e r h ö r t zu haben. »Mein Mobiltelefon?« »Ja. Hast du es dabei?« »Natürlich ...« »Gib her.« M i t offenem M u n d schob sie die Hand in die Hosentasche. Kaum hatte sie das kleine Gerät hervorgeholt, da griff er schon danach. »Bleib hier stehen u n d schau genau zu.« Sie hielt die geöffnete T ü r fest, als er hinausging. Gerade rechtzeitig hob sie den Blick, um i h n die enge Straße ü b e r q u e r e n zu sehen, wo er ihr Handy zu ihrem g r ö ß t e n Erstaunen in den A b falleimer warf, der dort an einem Pfosten hing. Dann kam er zurück und schlüpfte wieder zu ihr hinter die Tür. »Hast du gesehen, wo ich es hingetan habe?« »Ja,aber,was ...?« Er legte den Zeigefinger an die Lippen. »Schhhhh. Sie werden nicht lange auf sich warten lassen.« In der folgenden Pause starrte sie ihn an, und er starrte hinaus auf die Straße. »Da sind sie«, sagte er plötzlich. Er senkte die Stimme und flüsterte: » K o m m vorsichtig näher.« Wieder gehorchte sie automatisch, obwohl es ihr gar nicht passte, i h m so nahe zu kommen. »Pass auf.« Durch den T ü r s p a l t sah sie nichts anderes als einen Wagen, der m i t stotterndem Motor auf der Straße vorüberfuhr, und dann auf dem Gehweg gegenüber einen Mann, der in den Abfalleimer langte. Ein weiteres Auto fuhr vorbei, dann noch eines. Als das Blickfeld wieder frei war, konnte sie beobachten, dass der M a n n einen Gegenstand aus dem Müll geholt hatte u n d i h n offenbar verärgert abschüttelte, um ihn zu reinigen. Sie brauchte sich nicht
anzustrengen, um zu wissen, dass es sich um ihr Mobiltelefon handelte; der Mann hatte es angeschaltet, und das gewohnte blaue Licht des Displays leuchtete auf. Der M a n n war ein Unbekannter, kahlköpfig, in einem kurzärmeligen Hemd und - was sie beinahe ü b e r r a s c h t e - bartlos. Dann drehte sich der M a n n plötzlich zu ihnen u m , u n d auf einmal begriff sie gar nichts mehr. »Wir wollen nicht, dass sie uns sehen, nicht wahr?«, raunte ihr Begleiter ihr ins Ohr, nachdem er die T ü r zugezogen hatte. »Wir würden ihren hübschen Plan verderben ...« Als er das sagte, grinste er auf eine Weise, die Elisa ganz und gar nicht behagte. »Ich muss wissen, ob du noch weitere Mikrochips bei dir hast... irgendwo in der Kleidung oder in einer Hautfalte ... Aber w i r haben im Laufe des Abends noch reichlich Zeit, dich genau zu d u r c h s u c h e n . « Sie antwortete nicht darauf und fragte sich, was sie beunruhigender fand: den Kerl, der gerade ihr Handy aus dem M ü l l gefischt hatte, oder ihn hier m i t seinen kalten, u n g e w ö h n l i c h blaug r ü n e n Augen und der Stimme m i t dem spöttischen Unterton. Aber dann gehorchte sie wieder ohne den geringsten Widerstand, als der nächste Befehl kam. »Gehen wir«, sagte Valente Sharpe.
»Wie soll m i r denn jemand einen . . . Sender ins Handy eingebaut haben?« »Bist du sicher, dass du es nicht mal irgendwo liegen lassen hast? Oder jemandem geliehen, u n d sei es nur für einen Augenblick?« »Todsicher.« »War kürzlich was bei dir kaputt? Der Toaster? Der Fernseher? Irgendetwas, wofür ein Techniker ins Haus kommen musste?« »Nein, ich ...« Dann entsann sie sich: das Telefon. Letzte Woche war jemand da gewesen, um es zu reparieren. »Und du warst zu Hause, oder? Und das Handy lag in deinem Zimmer.«
»Aber sie haben nicht lange gebraucht. Sie ...« »Aha«, lächelte Ric Valente. »Für die war das Zeit genug. Die h ä t t e n dir sogar noch ein paar Wanzen in den Klodeckel eingebaut, das kann ich dir versichern. Sie m ö g e n sich manchmal ein wenig ungeschickt anstellen, aber da sie immer dasselbe machen, haben sie inzwischen eine gewisse Routine.« Sie hatten die Plaza de España erreicht, und Valente bog in die Calle de Ferraz ein. Er fuhr langsam und behielt auch die Geduld, wenn der Freitagnachtverkehr hin und wieder ins Stocken geriet. Er hatte Elisa mitgeteilt, dass der Wagen, in dem sie u n terwegs waren, >sicher< sei. Eine Freundin habe i h m das Auto für den Abend geliehen. Aber eine Polizei- u n d F ü h r e r s c h e i n k o n trolle k ö n n e er jetzt am wenigsten gebrauchen, fügte er hinzu. Elisa fand zwar, dass nach allem, was sie an diesem Abend erlebt hatte, ein Bußgeld das geringste Problem war. Die Fragen w i r belten nur so in ihrem Kopf herum. Sie konnte beim Anblick von Valentes Raubvogelprofil nicht u m h i n , sich zu fragen, ob er vielleicht verrückt war, was i h m nicht entging. »Ich verstehe, dass es dir schwer fällt, m i r zu glauben, meine Liebe. Mal sehen, vielleicht kann ich dir weitere Beweise liefern: Ist dir in letzter Zeit aufgefallen, dass du verfolgt wirst von Leuten, die einander ähnelten? Z u m Beispiel Rothaarige, Polizisten, Straßenkehrer ...« Es verschlug ihr die Sprache. Es kam ihr vor, als w ä r e sie gerade aus einem Albtraum erwacht, und jetzt erzählte ihr jemand, er sei doch wahr gewesen. Als sie i h m von den g r a u b ä r t i g e n M ä n n e r n berichtet hatte, lachte Valente schallend u n d brachte den Wagen vor einer Ampel zum Stehen. »Bei m i r waren es Bettler. Im Jargon werden sie >Lockvögel< genannt. Sie sollen verunsichern, dabei beschatten sie dich in Wirklichkeit gar nicht. Ihre Aufgabe ist das genaue Gegenteil: Du sollst sie bemerken. Du kennst doch aus Krimis diese Szenen, in denen dem Protagonisten auffällt, dass er von einem M a n n m i t Zeitung oder einem Fahrgast an der Bushaltestelle bespitzelt w i r d , aber im wahren Leben sieht man immer nur diese >Lock-
vögel. Ich weiß, wovon ich rede.« Er wandte ihr das bleiche Gesicht zu. »Mein Vater ist Fachmann in Sachen Sicherheit. Er behauptet, der Einsatz von Lockvögeln sei pure Psychologie. Denn wenn du glaubst, von M ä n n e r n mit grauem Schnäuzer beobachtet zu werden, sucht dein Gehirn unbewusst nach genau diesem Typ u n d sortiert jeden aus, der nicht diese Merkmale aufweist. Bis du dir irgendwann klar machst, dass das Ganze reine Einbildung sein muss. Du lässt in deiner Wachsamkeit nach und siehst prompt ü b e r andere Ungereimtheiten hinweg. Dann haben die echten Spitzel ein leichtes Spiel m i t dir. Aber heute haben w i r i h nen ein Schnippchen geschlagen.« Elisa war tief beeindruckt. Was Valente da erzählte, war genau das, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Sie wollte gerade weiterfragen, da s p ü r t e sie, dass sie angehalten hatten. Valente hatte das Auto neben einem Container geparkt. Von dort liefen sie die S t r a ß e in Richtung Paseo del Pintor Rosales hinunter. Ganz in Gedanken versunken, passte Elisa sich seinem Schritt an, ohne zu wissen, wo es hinging. Sie hatte ihn zwar danach gefragt, aber keine A n t w o r t erhalten. U n d jetzt war sie zu sehr damit beschäftigt, im Gehen die Teile dieses aberwitzigen Puzzles zu einem vollständigen Bild zusammenzusetzen. »Du sagst, sie w ü r d e n uns beschatten. Aber wer? Und warum?« »Ich weiß es nicht genau.« Valente hatte die H ä n d e in den Taschen vergraben und wirkte vollkommen ruhig, dennoch schien er es sehr eilig zu haben, als sei sein gemessener Schritt nur eine andere A r t , Tempo vorzulegen. »Hast du schon mal was von ECHELON gehört?« »Ja, ich habe vor einiger Zeit mal was d a r ü b e r gelesen. Es ist eine A r t . . . internationales Überwachungssystem, oder?« »Es ist das Überwachungssystem der Welt, meine Liebe. M e i n Vater hat für die gearbeitet, deshalb kenne ich m i c h da aus. Wusstest du, dass deine s ä m t l i c h e n Telefongespräche, Karteneinkäufe und Internetsurfereien von G r o ß r e c h n e r n registriert, durchgesehen und gefiltert werden? Jeder von uns, jeder Bürger in jedem Land, w i r d von ECHELON auf seine vermeintliche Ge-
fährlichkeit hin durchleuchtet - die einen mehr, die anderen weniger. Wenn die Rechner beschließen, dass du für sie ein interessantes Objekt bist, dann markieren sie dich rot und fangen an, dich ganz intensiv auszuhorchen: Lockvögel, Wanzen . . . das ganze Paket. Das ist ECHELON, Big Brother weltweit. Bewacht euren eigenen Arsch, damit ihr euch nicht in die Nesseln setzt, so das M o t t o . Seit dem 11.09. und dem 11.03. sind w i r wieder angekommen bei den Zeiten von Adam und Eva im Paradies: nackt und ü b e r w a c h t . ECHELON ist natürlich angelsächsisch, genauer gesagt US-amerikanisch. Aber vor gar nicht langer Zeit hat m i r mein Vater erzählt, dass etwas Ähnliches in Europa entstanden ist, ein Überwachungssystem, das mit den gleichen Taktiken arbeitet wie ECHELON. Vielleicht ist es ein und dasselbe.« »Wenn ich dich so reden h ö r e , dann ... entschuldige, aber ... dann frage ich mich, warum sie ausgerechnet uns ü b e r w a c h e n sollten, m i t ihrem ECHELON oder was auch immer, ich meine, warum dich und mich?« »Keine Ahnung. Genau das will ich ja m i t deiner Hilfe herausfinden. Ich habe schon einen Verdacht.« »Und der wäre?« »Dass sie uns bespitzeln, weil w i r die Besten im Blanes-Kurs sind.« Elisa konnte ein Lachen nicht u n t e r d r ü c k e n . Es stimmte wohl, dass begabte Physikstudenten ihre Spleens hatten, aber bei Valente schien das auszuarten. »Willst du mich auf den A r m nehmen?«, fragte sie. Valente blieb unversehens mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah sie direkt an. Wie meistens war er auffällig gekleidet. Er trug eine weiße Jeans und einen melierten Pullover m i t einem so g r o ß e n Ausschnitt, dass darin seine b l o ß e n Schultern hervorlugten. Das strohblonde Haar fiel i h m tief in die Stirn. Ihre Frage schien i h n zu verunsichern. » H ö r mal, M ä d c h e n . Ich habe dieses Treffen unter größter Geheimhaltung arrangiert. Eine Woche lang habe ich dir Bildchen geschickt und darauf gebaut, dass du helle genug bist, die Bot-
schaft zu kapieren, klar? Wenn du m i r nicht glauben willst, dann lass es. Ich muss meine Zeit nicht m i t dir verschwenden.« Er drehte sich abrupt u m , hob die Faust und schlug an die nächstbeste Tür. Elisa dachte, dass ein Leben m i t Valente Sharpe alles andere als langweilig sein musste. Die T ü r tat sich auf und offenbarte einen d ä m m r i g e n Flur sowie die dunkle Silhouette eines Mannes. Valente trat ü b e r die Schwelle und wandte sich zu ihr u m . »Wenn du rein willst, dann jetzt. Wenn nicht, verpiss dich.« »Rein?« Elisa spähte in die Dunkelheit. »Wohin?« Der M a n n m i t dem olivfarbenen Teint beobachtete sie m i t einem seltsamen Glanz in den Augen. »Zu m i r « , lächelte Valente. »Tut m i r Leid, dass ich dich durch den Dienstboteneingang führen muss. Du willst d r a u ß e n bleiben? Bitte schön.« U n d an den M a n n gewandt: »Mach ihr die T ü r vor der Nase zu, Faouzi.« Krachend fiel das schwere Holz vor ihr ins Schloss. Sogleich öffnete sich die T ü r wieder und ein sichtlich a m ü s i e r t e r Valente erschien im T ü r r a h m e n . »Apropos, hast du den Fragebogen ausgefüllt? Wie haben sie dich dazu gebracht? War es der junge Mann, der auf dem Unifest m i t dir geredet hat? Als wer hat er sich denn bei dir ausgegeben? Als Journalist? Als Student? Als Verehrer?« U n d diesmal, ja diesmal hatte er ihr eindeutig das fehlende Puzzlestück geliefert, das Stück, das sie unbewusst von Anfang an gesucht hatte. Ganz ohne Zweifel war jetzt das Bild vollständig. Ein unmissverständlich klares, ein erschreckendes Bild. Valente schüttete sich schier aus vor Lachen. Sogar sein Lächeln war geräuschvoller als dieses Lachen, für das er nur den M u n d aufriss und den Rachen bis zum Zäpfchen entblößte, während seine Augen ganz klein wurden. »Bei dem Gesicht, das du machst, k ö n n t e man meinen . . . ! Sag b l o ß , der Kleine hat dir gefallen!« Elisa stand reglos da, ohne zu zwinkern oder auch nur zu atmen, was Valente noch zu ermutigen schien, als ergötzte er sich an ihrer verdutzten Miene. »Un-
glaublich, du bist d ü m m e r , als ich dachte ... Du magst ja eine gute Mathematikerin sein, aber in sozialen Dingen stellst du dich blöder an als eine Kuh, stimmt es, meine Liebe? Was für eine Enttäuschung, nicht wahr? Für uns beide.« Er machte Anstalten, die T ü r wieder zu schließen. » K o m m s t du nun rein oder nicht?« Elisa blieb stehen und r ü h r t e sich nicht.
9
Das Haus war verwirrend und unsympathisch wie seine Bewohner. Elisas erster Eindruck erwies sich als richtig, denn offenbar war es kein Einfamilienhaus, sondern ein mehrstöckiges Wohnhaus. Diese Vermutung bestätigte Valente, w ä h r e n d sie gemeinsam eine Steintreppe hinaufstiegen, die noch aus der G r ü n dungszeit des Stadtviertels zu stammen schien. »Mein Onkel hat s ä m t l i c h e Wohnungen aufgekauft. Einige haben seinem Vater gehört und andere seiner Schwester und seinem Cousin. Er hat alles renovieren lassen. Jetzt hat er mehr Platz, als er je b e n ö t i g e n wird.« Dann fügte er hinzu: »Ich hingegen k ö n n t e durchaus mehr b r a u c h e n . « Elisa fragte sich, wie viel Raum Valente w o h l für sich beanspruchen mochte. Sie schätzte, dass drei komplette Wohnungen von der G r ö ß e der ihrigen in dieser feuchten, düsteren Wabe im Herzen Madrids bequem Platz hatten. W ä h r e n d sie der Treppe weiter nach oben folgten, war ihr eines jedoch klar: Ihr selbst konnte es dort zwischen all den Schatten nie und nimmer gefallen, bei diesem Geruch nach frischen Maurerarbeiten und M o der. V o m ersten Treppenabsatz her vernahm sie eine b r ü c h i g e , wimmernde Stimme. Sie brachte nur einzelne Worte hervor, jedes M a l ein anderes. Elisa verstand »Astarte«, »Venus«, »Aphrodite«. Weder Valente noch der Faouzi genannte Hausangestellte
schenkten ihr Beachtung. Als sie jedoch im ersten Stock angelangt waren, blieb Faouzi, der vorausgegangen war, stehen und öffnete eine Tür. Elisa konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick durch jene T ü r zu werfen. Sie konnte einen Teil eines weitläufigen Zimmers sehen, in dem ein M a n n im Schlafanzug neben einer Lampe saß. Der Bedienstete ging auf ihn zu und redete m i t ausgeprägt marokkanischem Akzent auf ihn ein: »Was ist heute m i t Ihnen los? Warum dieses Gejammer?« »Kali.« »Ja, ist ja gut, ist gut.« »Das ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters«, erklärte Ric Valente, zwei Stufen auf einmal nehmend. »Früher war er Philologe, jetzt ist er dement und sagt ständig die Namen von G ö t tinnen auf. Ich w ü r d e mich freuen, wenn er bald stirbt. Das Haus ist seins, ich besitze nur die eine Etage. Aber sobald mein Onkel unter der Erde ist, g e h ö r t es m i r allein, das ist beschlossene Sache. Er erkennt sowieso keinen und weiß nicht, wer ich bin. I h m ist alles egal. Sein Tod wäre das Beste für alle.« Das sagte er, ohne stehen zu bleiben, und in einem unbeteiligten Ton, der Elisa erschauern ließ. Sie war entsetzt ü b e r Valentes grausame Worte und seine Gefühlskälte. U n d Victor kam ihr wieder in den Sinn: Nimm dich in Acht vor Ric. Doch bereits als Valente sie an der H a u s t ü r beschimpfte, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie w ü r d e keinen Rückzieher machen. Sie wollte wissen, was Valente ihr zu sagen hatte. Allein die G r ö ß e des Hauses verschlug ihr die Sprache. Der Treppenabsatz, auf dem sie sich jetzt befanden, war offenbar der letzte. Vor ihr lag der Eingangsbereich mit zwei nebeneinander liegenden T ü r e n auf der einen Seite und geradeaus einem Flur mit weiteren T ü r e n . A u f dieser Etage roch es anders, nach Holz und Büchern. Das Licht stammte von gedimmten Wandleuchten, und das Apartment war offensichtlich erst vor kurzem renoviert worden. »Ist dies deine Etage?«, fragte sie. »Ja, die ganze.«
Gerne wäre sie von Ricardo Valente durch alle R ä u m e dieses extravaganten Museums geführt worden, aber Valente schien das Wort Höflichkeit fremd zu sein. Er ging ihr durch den labyrinthartigen Flur voraus und blieb am Ende m i t der Hand auf einer Klinke stehen. Dann schien er es sich anders zu überlegen und öffnete eine D o p p e l t ü r auf der gegenüberliegenden Seite, tastete m i t dem A r m hinein und machte Licht. »Mein Hauptquartier. Es verfügt ü b e r Tisch und Bett, aber es ist weder mein Schlafzimmer noch mein Wohnzimmer, eher der Ort, wo ich meine Freizeit verbringe.« Elisa stellte fest, dass allein dieser Raum das g r ö ß t e SingleApartment war, das sie je gesehen hatte. Durch ihre Mutter war sie zwar einen gewissen häuslichen Luxus g e w ö h n t , aber in der Gesellschaftsschicht, zu der Valente und seine Familie g e h ö r t e n , schienen ganz andere M a ß s t ä b e zu gelten. Vor ihr erstreckte sich eine g r o ß z ü g i g e Maisonette-Wohnung, w e i ß g e t ü n c h t , ohne Trennwände, nur untergliedert durch eine Säule und eine Treppe, die zur Empore mit dem Schlafbereich führte. Unten fiel ihr Blick auf Bücher, Zeitschriften, mehrere Lautsprecher, eine Kameraa u s r ü s t u n g und sonderbarerweise zwei B ü h n e n , die eine m i t roten Vorhängen und die andere m i t einer weißen Leinwand, davor jeweils eine Batterie Scheinwerfer wie in einem Fotostudio. »Fantastisch«, entfuhr es ihr, aber Valente war schon nicht mehr da. A u f Zehenspitzen verließ auch sie das Heiligtum, als fürchtete sie, zu viel L ä r m zu machen, und begab sich in den Raum, vor dem er anfangs gestanden hatte. »Setz dich«, befahl er und deutete auf eine blaue Sitzgruppe. Es war ein Zimmer von normalen A u s m a ß e n m i t einem f l i m mernden Laptop auf einem kleinen Schreibtisch. An den W ä n d e n hingen Bilderrahmen, meist mit Schwarzweißfotos. Sie erkannte einige b e r ü h m t e Köpfe: Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Stephen Hawking und einen sehr jungen Richard Feynman. Das größte und auffälligste Bild hing direkt vor ihr über dem Computer. Es unterschied sich insofern von den
anderen, als es eine Farbzeichnung war von einem M a n n in Schlips und Kragen, der eine vollkommen nackte Frau liebkoste. Nach dem Gesichtsausdruck der Frau zu schließen, fühlte sie sich keineswegs wohl dabei, doch sie konnte sich der Situation nicht entziehen, weil ihre H ä n d e auf dem Rücken gefesselt waren. Falls Valente ihre Reaktionen mitbekommen hatte, seit sie das Haus betreten hatten, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, dachte Elisa. Er saß vor dem Computer u n d schwang dann m i t dem Stuhl herum, um sie anzublicken. »Dieses Z i m m e r ist sicher«, sagte er. »Womit ich sagen w i l l , dass sie hier keine Wanzen installiert haben. Ich habe im ganzen Haus kein Abhörgerät gefunden. Sie haben m i r offenbar nur einen Sender ins Mobiltelefon eingebaut u n d meine G e s p r ä c h e belauscht. Trotzdem ziehe ich es vor, hier m i t dir zu reden. Bei m i r haben sie sich nämlich unter dem Vorwand eines Stromausfalls eingeschlichen. Vor ihrem Eintreffen habe ich das Zimmer verschlossen und Faouzi angewiesen, ihnen zu sagen, es sei eine Abstellkammer ohne Stromanschluss. Und ich habe eine Ü b e r raschung: Siehst du das Gerät in dem Eckschrank dort, das aussieht wie ein Radio? Es ist ein Wanzendetektor. Es zeigt Frequenzen ab fünfzig Mega- und bis zu drei Gigahertz an. Heutzutage w i r d so was im Internet verkauft. Wenn das g r ü n e Licht brennt, k ö n n e n w i r in Ruhe reden.« Er stützte das eckige K i n n auf die gefalteten H ä n d e und lächelte. »Und nun sollten w i r uns was einfallen lassen, meine Liebe.« »Ich habe erst noch ein paar Fragen.« Sie war gleichzeitig neugierig u n d verärgert, zum einen wegen allem, was er ihr erzählt hatte, u n d wegen des Verlusts ihres Handys, das sie allmählich vermisste, über das er aber kein Wort verloren hatte. »Wie hast du es angestellt, mit m i r Kontakt aufzunehmen, und warum hast du ausgerechnet mich ausgesucht?« »Mal sehen. Ich werde dir erst einmal was ü b e r meine eigenen Erfahrungen erzählen. M i c h haben sie den Fragebogen in Oxford ausfüllen lassen. Da bin ich zum ersten Mal stutzig gewor-
den. Sie haben m i r gesagt, die Befragung s t ü n d e im Zusammenhang mit der Teilnahme am Blanes-Kurs und sei u n u m g ä n g l i c h . U n d kaum war ich in M a d r i d , habe ich angefangen, Bettler zu sehen, die mich zu bespitzeln schienen, und dann dieser Stromausfall ... Aber da war noch etwas: Einige Wochen zuvor haben verschiedene US-amerikanische Universitäten bei meinen Eltern angerufen, um sie unter dem Vorwand auszuhorchen, sie interessierten sich für mich. War das bei dir auch so? Hat jemand einen F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n nach dir ausgefragt, deinem Lebenswandel, nach deinem Charakter?« »Eine K u n d i n meiner M u t t e r « , erinnerte sich Elisa u n d erblasste. »Mit sehr, sehr guten Beziehungen. Das hat sie m i r gerade erst erzählt.« Valente nickte befriedigt, als h ä t t e sie ihre Schulaufgaben gemacht. »Mein Vater hatte m i r schon von solchen Sachen berichtet. Das sind altbekannte Tricks, obwohl ich niemals geglaubt hätte, dass ich eines Tages das Opfer sein würde. Ich habe daraus jedenfalls den Schluss gezogen, dass alles angefangen hat, als ich mich für den Blanes-Kurs eingeschrieben habe. Deshalb muss diese Ü b e r w a c h u n g irgendwas m i t dem Kurs zu tun haben. Aber als ich Vicky . . . Entschuldige«, er verzog das Gesicht wie ein reum ü t i g e s K i n d und verbesserte sich: »... als ich meinen Freund Victor Lopera darauf angesprochen habe ... Ich glaube, du kennst ihn auch. W i r sind von klein auf befreundet, und ich habe Vertrauen zu ihm. Aber bitte hüte dich, jemals Vicky zu ihm zu sagen, dann w i r d er nämlich stinksauer. Jedenfalls, als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er m i r gesagt, er sei keiner Befragung unterzogen worden. Da wollte ich wissen, ob ich der Einzige bin, der auf diese Weise überwacht w i r d , und der nächste logische Schritt war, an dich zu denken, weil wir ... tja, bei der Aufnahmeprüfung fast gleich gut abgeschnitten haben.« Elisa dachte unwillkürlich, dass Valente Sharpe die vier H u n dertstel offenbar zu schaffen machten, sagte aber nichts. »Ich habe auf dem Fest an der Alighieri beobachtet, wie du mit
diesem Typen geredet hast. Da war m i r auf Anhieb alles klar. Trotzdem konnte ich nicht einfach zu dir gehen und sagen: H ö r mal, wirst du auch beschattet? Ich musste es dir erst beweisen k ö n n e n . Ich war n ä m l i c h sicher, dass du Unschuldslamm m i r nicht glauben würdest. Deshalb habe ich jeden normalen Kontakt mit dir gemieden.« Er hielt inne, stand auf und ging in eine Zimmerecke. Dort befand sich ein winziges Waschbecken m i t einem Wasserhahn und einem Glas. Er drehte den Hahn auf und stellte das Glas darunter. »Ich kann dir nur Wasser a n b i e t e n « , sagte er, » u n d auch das nur aus meinem Glas. Ich bin ein miserabler Gastgeber. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dir m i t m i r ein Glas zu teilen.« »Danke, ich m ö c h t e nichts«, erwiderte Elisa. Sie kam allmählich ins Schwitzen und zog die kurze Jacke aus, so dass sie nun im T r ä g e r h e m d d a s a ß . Sie bemerkte, dass er sie beim Trinken flüchtig musterte. Dann kehrte er zu seinem Platz z u r ü c k und fuhr fort. »Da ist m i r ein Trick eingefallen, den ich von meinem Vater gelernt habe: Wenn du eine verschlüsselte Botschaft verschicken willst, mach es m i t Pornographie, hat er zu m i r gesagt. Nur Laien versuchen, eine geheime Botschaft in einem unauffälligen Brief unterzubringen. In der Welt, in der er sich bewegt, ist das Unauffällige das Auffälligste überhaupt. Pornowerbung hingegen scheint niemand so genau unter die Lupe zu nehmen. Also habe ich seinen Rat befolgt. U n d ich bin davon ausgegangen, dass bestimmte Bilder, die auf dem Satz des Euklid beruhen, für Leute, die nichts von Mathematik verstehen, wie Pornographie aussehen. Was nun die Anzeige und die Webseite >mercuryfriend< angeht, das waren einfach nur Spielereien. Auch das Einloggen in deinen Rechner.« »Das Einloggen in meinen Rechner?« »Das Einfachste von der Welt.« Valente kratzte sich unterm A r m . »Deine Firewall stammt noch aus der Zeit, als Computer mit der Handkurbel angetrieben wurden, meine Liebe. Abgese-
hen davon halte ich m i c h für einen nicht unbegabten Hacker u n d habe bereits erste Schritte beim Generieren von Viren gemacht.« Trotz Elisas wachsender Bewunderung für sein raffiniertes Vorgehen fühlte sie sich nicht wohl bei der Sache: So, so, es bereitet ihm also keine Probleme, einfach in meinen Angelegenheiten herumzuschnüffeln, und genau das will er mir beweisen. »Und war u m diese Warnung? Was k ü m m e r t es dich, ob ich beschattet werde u n d ob ich es weiß oder nicht?« »Oh, ich wollte dich kennen lernen.« Valente machte ein ernstes Gesicht. »Ich finde dich sehr interessant, wie übrigens alle ...« Und nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Ich bin sicher, dass sich Blanes ebenfalls für dich interessiert, obwohl er immer nur mich drannimmt. In der h ö h e r e n Physik gibt es eben fast keine Frauen, in Oxford noch weniger als in M a d r i d , glaub mir, u n d schon gar nicht solche wie dich. Ich w i l l damit sagen, ich b i n noch nie einer Frau m i t deinem Grips begegnet, die einen M u n d hat wie eine Hure u n d dazu solche Titten u n d so einen Arsch.« Obwohl Elisas Ohren die letzten Worte durchaus vernommen hatten, brauchte ihr Gehirn einen Augenblick, um die Informat i o n zu verarbeiten: Valente hatte sie in gleich bleibendem, fast hypnotisierendem Ton vorgebracht, wie alles andere auch, u n d Elisas Trance wurde noch verstärkt durch diese w a s s e r g r ü n e n , vorstehenden Augen, die sie aus dem schrecklich mageren, markanten Gesicht fixierten. Als der Groschen fiel, wusste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Im ersten Augenblick fühlte sie sich wie gelähmt, wie die gefesselte Frau auf der Zeichnung. U n d sie wurde sich bewusst, dass manche Menschen wie Schlangen diese Macht ü b e r andere besitzen. Andererseits war ihr bewusst, dass er sie kränken wollte. Wenn sie auf diese Unflätigkeiten einging, w ü r d e er das als Sieg verstehen. Besser sie wartete auf die passende Gelegenheit für einen Gegenschlag. »Ich meine es ernst«, fuhr er fort. »Du bist verteufelt attraktiv. Aber auch sonderbar, stimmt's? Wie ich. Ich habe eine Theorie.
Ich glaube, dass es eine organische Ursache hat. Gib es zu: Geniale Physiker waren immer krank. Das Gehirn eines H o m o sapiens kann im Zeitalter der Quantentheorie nicht an die Grenzen der Welt oder der Relativität s t o ß e n , ohne ernsthafte V e r ä n d e r u n gen zu erleiden.« Er erhob sich noch einmal u n d wies nacheinander auf die einzelnen Porträts. »Schrödinger war von Sex besessen, u n d er hat die Wellengleichung entdeckt, w ä h r e n d er m i t einer Geliebten fickte. Einstein war ein Psychopath, er hat Frau und Kinder verlassen, um eine andere zu heiraten, und als die gestorben ist, hat er gesagt, es ginge i h m jetzt besser, weil er endlich in Ruhe arbeiten k ö n n e . Heisenberg war ein Nazi und hat aktiv an der Herstellung einer Wasserstoffbombe für seinen F ü h r e r gearbeitet. Bohr war krankhaft neurotisch und auf Einstein fixiert. Newton war reines M i t t e l m a ß u n d n i e d e r t r ä c h t i g genug, um zum Urkundenfälscher zu werden, nur weil er seinen Kritikern eins auswischen wollte. Blanes ist ein gestörter Frauenhasser. Hast du gemerkt, wie er dich behandelt? Ich schätze, i h m geht einer ab, wenn er an seine Mutter und seine Schwester d e n k t . . . Solche Beispiele k ö n n t e ich dir stundenlang weiter aufzählen. Ich habe sämtliche Biographien studiert, meine eigene eingeschlossen.« Er lächelte. »Ja, ich führe seit dem fünften Lebensjahr Tagebuch und schreibe alles haarklein auf. Ich denke gerne ü b e r mein Leben nach. Und ich schwöre dir, w i r sind alle gleich: W i r kommen aus gutem Elternhaus - einige, wie de Broglie, sind sogar Aristokraten -, haben die angeborene Fähigkeit, die Natur auf die reine Mathemat i k zu reduzieren, und w i r sind Sonderlinge, nicht nur mental, sondern auch äußerlich. N i m m mich, ich bin dolichozephal, genau wie du. Ich meine, dass w i r einen überlangen Kopf haben, wie S c h r ö d i n g e r und Einstein ü b r i g e n s auch. Obwohl ich von der Figur her eher Heisenberg gleiche. Ich mache keine Witze, ich glaube, es ist was Genetisches. U n d du . . . Na ja, ich weiß nicht, wem du mit deiner Figur ähneln könntest, ehrlich. Ich würde dich ja gerne mal unbekleidet sehen. Deine Brüste, die sind irgendwie sonderbar. Auch länglich, spitz zulaufend. Dolichomamas
k ö n n t e man sie nennen. Ich w ü r d e gerne mal deine Brustwarzen sehen. Warum ziehst du dich nicht aus?« Ü b e r r a s c h t stellte Elisa fest, dass sie ernsthaft d a r ü b e r nachdachte, darauf einzugehen. Valentes A r t zu reden war wie eine R ö n t g e n a u f n a h m e : Ohne etwas zu merken, litt man schon an den Folgen. »Nein danke«, sagte sie. »Und was kennzeichnet uns noch als Sonderlinge?« »Vielleicht unsere Familien.« Valente setzte sich wieder. »Meine Eltern sind geschieden. Meine M u t t e r wollte mich sogar u m bringen. Abtreiben, meine ich. Bis Papa sie davon überzeugt hat, mich zu bekommen. Aufgewachsen b i n ich bei meinem Onkel u n d meiner Tante. Lange bevor ich nach Oxford gegangen b i n , habe ich in M a d r i d in diesem Haus gewohnt. O b w o h l , ganz stimmt das auch nicht. Phasenweise habe ich auch bei einem Elternteil gelebt.« Sein breites Grinsen e n t b l ö ß t e die E c k z ä h n e . » K a u m hatten mich meine Eltern weggegeben u n d damit das Problem gelöst, haben sie n ä m l i c h festgestellt, dass sie mich lieb haben. Sagen w i r mal so, ich bin m i t den beiden gut befreundet. U n d du? Wie war dein Leben so?« »Wieso fragst du noch, du weißt es doch ohnehin schon?«, versetzte sie. Valente ließ ein heiseres Gelächter h ö r e n . »Ich weiß das eine oder andere«, r ä u m t e er ein. »Dass du die Tochter von Javier Robledo bist und dein Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Ich weiß, was über dich geschrieben wird.« Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Du hast vorhin davon gesprochen, dass w i r etwas unternehmen sollten. Warum gehen w i r nicht zur Polizei? W i r k ö n n e n versuchen zu beweisen, dass w i r beschattet werden.« »Du kapierst auch gar nichts, oder, meine Liebe? Es ist doch die Polizei, die uns ü b e r w a c h t . Nicht der Polizist an der Ecke, nicht mal die >GeheimpolizeiVergangenheit< ist unendlich. Ich habe das schon ausgerechnet. Hier. Und daher gibt es, trotz deines Geniestreichs heute Morgen, auf den ich allerdings auch gekommen war, keine Möglichkeit, die Schleifen der Strings als einzelne Teilchen zu isolieren . . . Es ist, als w ü r d e man sich die Frage stellen, ob das Meer ein einziger Tropfen ist oder Trillionen von Tropfen. Die A n t w o r t der Physik lautet immer: Es h ä n g t davon ab, was w i r als Tropfen definieren. Ohne konkrete Definition ist es, als w ü r d e n die Strings nicht existieren.« »Ich sehe das a n d e r s « , Elisa beugte sich vor und deutete auf eine der Gleichungen auf dem Bildschirm: »Wenn w i r anneh-
men, dass die Zeitvariable unendlich ist, dann sind die Ergebnisse falsch. Aber wenn w i r ein begrenztes >Delta t< einsetzen, ganz egal wie g r o ß , zum Beispiel die seit dem Urknall vergangene Zeit, dann kommen bei der L ö s u n g bestimmte G r ö ß e n heraus.« »Das ist eine von vornherein unzulässige A n n a h m e « , konterte Valente sofort. »Du schaffst damit selbst eine künstliche Grenze. Das ist so, als w ü r d e s t du bei einer Summe eine Ziffer austauschen, damit genau das herauskommt, was du willst. Absurd. Wieso wählst du den Zeitraum seit der Entstehung des Universums und nicht einen anderen? Das klingt lächerlich!« Seine Haltung hatte sich v e r ä n d e r t . Das war für Elisa offensichtlich. Die vorherige Kühle war verschwunden und auch das spöttische Grinsen, jetzt war er beim Reden sehr emotional. Habe ich dich endlich. »Du kapierst auch gar nichts, mein Lieber«, entgegnete sie vollkommen ruhig. »Wenn w i r uns die Zeitvariable aussuchen k ö n n e n , dann erhalten w i r konkrete Lösungen. Dieses Verfahren gehört zur Renormalisierung.« Sie registrierte, dass Valente das Gesicht verzog, und fuhr lebhaft fort: »Ich rede nicht davon, die universelle Zeitvariable einzusetzen, sondern wähle eine bestimmte Variable als Bezugsgröße, um die Gleichungen zu renormalisieren. Z u m Beispiel die Zeit seit der Entstehung der Erde vor ungefähr vier Milliarden Jahren. Man k ö n n t e das entfernte Ende auf den Zeitstrings definieren als den Moment der Erdentstehung. Das sind ü b e r s c h a u b a r e , berechenbare G r ö ß e n . Und in knapp zehn Minuten hast du die Lösung, wenn du die Transformationen von Blanes-Grossmann-Marini darauf anwendest. Ich habe es ausprobiert.« »Und was nützt dir das?« In Valentes Stimme schwangen jetzt unterschwellig Aggressionen mit. Seine sonst blutleeren Wangen waren gerötet. » U n d was n ü t z t dir deine idiotische, lokale Lösung? Das wäre doch, als w ü r d e man sagen: Ich kann zwar von meinem Gehalt nicht leben, aber sieh mal, ich habe heute M o r gen ein paar Cents gefunden. Was zum Teufel nützt dir eine Teill ö s u n g , die auf die Erde begrenzt ist? Das ist völlig hirnrissig!«
»Sag mir eins, Valente«, erwiderte Elisa ganz ruhig und lächelte. »Wieso fängst du eigentlich an, mich zu beschimpfen, sobald du etwas nicht beweisen kannst?« Es entstand eine Pause. Elisa weidete sich an Valentes Gesichtsausdruck. Im Umgang m i t Menschen mochte er gerissen sein wie eine Schlange, aber wenn es um Physik ging, war sie in ihrem Element wie ein Hai, und das wollte sie ihn s p ü r e n lassen. Sie wusste, dass ihre Kenntnisse mitnichten lückenlos waren, schließlich war sie noch Lehrling in der Materie. Aber sie wusste ebenso gut, dass sie sich durch Beschimpfungen nicht von ihrem Terrain vertreiben lassen würde. »Na klar, ich kann es beweisen«, b r u m m t e Valente. »Besser noch: W i r werden den Beweis bald haben. Noch eine Woche, dann ist der Kurs zu Ende. Am Samstag findet das internationale Symposium statt. Da werden Hawking, Witten und Silberg kommen . . . Blanes ist natürlich auch da. Wenn man den G e r ü c h t e n glauben will, werden w i r ein mea culpa hören, ein Eingeständnis, dass u n d wo die >Mammutbaum-Theorie< gescheitert ist. U n d vorher m ü s s e n w i r unsere Hausarbeit abliefern. Dann werden w i r ja sehen, wer von uns beiden Recht hat.« »Und ob«, stimmte sie zu. »Lass uns eine Wette abschließen.« Bei diesen Worten erschien auf seinem Gesicht wieder das gewohnte Grinsen. »Wenn deine Teillösung richtig ist, kannst du von m i r verlangen, was du willst. Z u m Beispiel, dass ich darauf verzichte, Blanes nach Z ü r i c h zu begleiten, wie ich es vorhabe, und dass ich die Stelle an dich abtreten muss - vorausgesetzt, Blanes entscheidet sich für mich. Du kannst m i r auch etwas anderes befehlen. Irgendwas, ganz egal, ich verspreche dir, ich werde es tun. Aber wenn ich Recht habe, das h e i ß t , wenn deine L ö s u n g m i t der Variablen nur ein verfluchter Scheiß ist, dann darf ich dir Befehle erteilen. U n d du musst sie ausführen. Alle.« »Auf so eine Wette lasse ich mich nicht ein«, sagte Elisa. »Warum nicht?« »Ich habe keine Lust, dir was zu befehlen.«
»Da täusch dich mal nicht.« Valente d r ü c k t e ein paar Tasten, und anstelle der Gleichungen erschienen Bilder auf dem M o n i tor. Nach der n ü c h t e r n e n Seite mit den Gleichungen schockierten diese Elisa mindestens ebenso wie der Kontrast zwischen den Porträts b e r ü h m t e r Physiker und der gefesselten Nackten an der Wand. Die Bilder wechselten einander ohne Valentes Zutun ab, w ä h r e n d sich dieser zu ihr umdrehte und lächelnd ihre Miene studierte. »Sehr interessant, was für Fotos du in deinen privaten Dateien sammelst und was für Chatrooms du b e s u c h s t . . . « Elisa s c h n ü r t e es die Kehle zu. Die Verletzung ihrer Privatsphäre war einfach ungeheuerlich, aber dass er ihr das auch noch vorführte, empfand sie als die größere D e m ü t i g u n g . Nimm dich bloß vor ihm in Acht. »Versteh mich nicht falsch«, sagte Valente, w ä h r e n d auf dem Bildschirm ein Jahr ihres Intimlebens ausgebreitet wurde wie ein Bündel schmutziger Dessous, »wie du dich entspannst, wenn du die Bücher mal aus der Hand legst, kann m i r egal sein. Im Klartext: Deine einsamen Orgasmen interessieren mich einen Scheißdreck. Ich sammle auch solche Fotos. Ich mache sie sogar manchmal selbst. Und Filme auch. Du hast doch das Studio d r ü ben in dem Zimmer gesehen? Ich habe Freundinnen, M ä d c h e n , die machen alles mit. Aber bisher ist m i r noch niemand begegnet, der beim Sex . . . O h , sieh mal, das hier ist wirklich sehr gelungen«, er zeigte auf ein Bild. Elisa wandte den Blick ab. Nimm dich in Acht. » . . . bis zum Ä u ß e r s t e n m i t m i r gehen w ü r d e , wollte ich sagen.« Valente ließ die Fotos mit einem weiteren Tastendruck verschwinden. Jetzt waren wieder die Gleichungen zu sehen. »Anscheinend habe ich in dir eine Seelenverwandte gefunden, und das freut mich ungemein. Ich begann n ä m l i c h allen Ernstes zu glauben, du hättest nichts anderes im Sinn, als dich bei Blanes wie ein dummes M ä d c h e n zu produzieren, erinnere dich nur an
heute Morgen. H i e r m i t sei dir gesagt, dass du dich täuschst. Du hast m i r ganz bestimmt etwas zu befehlen. Z u m Beispiel, dass ich aufhöre, in deinem Leben h e r u m z u s c h n ü f f e l n . U n d auch niemandem verrate, wie einfach das geht.« Was war das nur für ein Mensch, fragte sie sich. Sie betrachtete sein kantiges Gesicht, die leichenhafte Blässe, die feminine Nase u n d die weichen Lippen, dazu die zwei riesigen, w a l d g r ü nen Weltkugeln gleichenden Augen, eingerahmt v o m d ü n n e n , strohgelben Haar. Sie empfand nur Abscheu vor i h m . U n d sie entdeckte, dass es ihr zumindest gelungen war, eine seiner magischen Fähigkeiten auszuschalten, denn diesmal war sie immerh i n in der Lage zu reagieren. »Einverstanden?«, fragte er. »Dein Gehorsam gegen meinen?« »Einverstanden.« Ihr entging nicht, dass Valente m i t dieser A n t w o r t nicht gerechnet hatte. »Ich meine es ernst, ich warne dich.« »Das habe ich bemerkt. Ich auch.« Da schien er ins Wanken zu geraten. »Du glaubst wohl w i r k lich, dass deine Teillösung richtig ist?« »Sie ist richtig.« Elisa spannte die Lippen zu einem Lächeln. »Und ich wüsste auch schon ein paar Sachen, die ich dir befehlen könnte.« »Dürfte ich erfahren, welche?« Elisa schüttelte den Kopf. Plötzlich glaubte sie, etwas zu verstehen. Sie erhob sich langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Dass w i r ü b e r w a c h t werden, hast du m i r nicht gesagt, um m i r zu helfen«, sagte sie, » s o n d e r n , um m i r zu schaden. Auch wenn ich noch nicht verstehe, wie ...« Ric Valente tat es ihr nach u n d stand unverzüglich auf. Elisa stellte fest, dass sie etwa die gleiche Statur b e s a ß e n . Ihre Blicke kreuzten sich. »Da du es ansprichst«, erwiderte er: »Ich gebe zu, dass ich dich angelogen habe. Genau genommen handelt es sich nämlich nicht um Überwachung im eigentlichen Sinne. Das Interview, das Aus-
horchen unserer A n g e h ö r i g e n . . . Dabei geht es ihnen weniger darum, uns auszuspionieren, als darum, uns kennen zu lernen. Sie führen derzeit ein geheimes Auswahlverfahren durch u n d wollen einen von uns beiden als Teilnehmer für irgendetwas festlegen . . . Ich weiß nicht, wofür, aber wenn man bedenkt, was sie für einen Aufwand betreiben, muss es sich wohl um etwas sehr Wichtiges und reichlich Unkonventionelles handeln. In dem Fall braucht man ihnen nur zu verstehen zu geben, dass man die Überwachung bemerkt hat, dann fliegt man automatisch aus dem Auswahlverfahren hinaus.« »Ach, und deshalb hast du mein Handy in den Abfalleimer geworfen«, murmelte sie verstehend. »Ich glaube zwar nicht, dass das der entscheidende Punkt sein wird, aber es wäre i m m e r h i n möglich, dass sie jetzt weniger gut auf dich zu sprechen sind. Vielleicht denken sie, du hast was zu verbergen, und lassen dich deshalb ausscheiden ...« Elisa war beinahe beruhigt. Jetzt weiß ich wenigstens, was du tatsächlich im Schilde führst. Aber sie täuschte sich. Offenbar wollte er sie nicht nur aus dem Rennen um die Stelle bei Blanes werfen, wie sie feststellen musste, als er die Hand hob und ohne Vorwarnung seine schlanken Finger ihrer Brust n ä h e r t e . Jede Faser ihres K ö r p e r s schrie ihr zu, zurückzuweichen, aber sie blieb stehen. U n d Valente b e r ü h r t e sie nicht. Seine Hand glitt einige Millimeter vor ihrem Hemd durch die Luft und wanderte so bis zu ihrer Hüfte hinunter, als w ü r d e er die Konturen ihres Körpers nachzeichnen. Elisa hielt die Luft an. »Meine Befehle sind nicht einfach zu erfüllen«, sagte er, »aber dafür umso vergnüglicher.« »Ich kann es kaum erwarten.« Sie nahm ihre Jacke. »Kann ich jetzt endlich gehen?« »Ich begleite dich zur Tür.« »Danke, ich finde allein hinaus.« A u f dem ganzen Weg durch das dunkle Treppenhaus hielt ihre Anspannung an, im Hintergrund begleitet vom Krächzen des A l -
ten, der ununterbrochen etwas wie >Istar< jammerte. Und kaum hatte sie die Straße erreicht, blieb Elisa stehen und sog in vollen Zügen gierig die frische Luft ein. Sie betrachtete ihre Umgebung, als sei es das erste Mal, als hätte sie genau in diesem Moment, inmitten der Schatten der Stadt, das Licht der Welt erblickt.
10
»Mit der Zeit ist es etwas Merkwürdiges. In erster Linie, weil sie uns so vertraut ist. Es vergeht kein Tag, an dem w i r sie nicht beachten. W i r messen sie, aber w i r k ö n n e n sie nicht sehen. Sie ist so ungreifbar wie die Seele u n d ist gleichzeitig nachweislich ein universelles physikalisches P h ä n o m e n . Ein Widerspruch, den der heilige Augustinus bekanntlich in der Formel zusammenfasste: Si non rogas, intelligo - wenn m i c h niemand danach fragt, weiß ich's. Unzählige Wissenschaftler und Philosophen haben das Thema diskutiert, ohne sich je einigen zu k ö n n e n . Das liegt vor allem daran, dass die Zeit wandelbar ist, je nachdem wie w i r sie untersuchen oder auch wie w i r sie erfahren. F ü r den Physiker ist eine Sekunde genau definiert als die Zeitspanne zwischen 9 192 631,770 Schwingungen eines Z ä s i u m a t o m s . Für den Astronomen hingegen ist eine Sekunde definiert als 1 : 31 556925,97474, n ä m l i c h exakt die Zeit, welche die Erde im Jahr 1950 benötigte, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen, entsprechend einem tropischen Jahr. Aber jeder von uns, der schon mal auf die Ankunft des Arztes gewartet hat, um von i h m zu erfahren, ob die lebensrettende Operation an einem geliebten Menschen gelungen ist, w e i ß , dass eine Z ä s i u m s e k u n d e oder eine astronomische Sekunde nicht immer gleich lang ist. Für unser Gefühl k ö n n e n Sekunden geradezu schleichen.
Die Vorstellung einer subjektiven Zeit ist der Wissenschaft und Philosophie der Antike nicht fremd. Die Denker hatten keinen Einwand gegen die Annahme, dass die psychologische Zeit je nach Subjekt variieren kann, und waren trotzdem davon ü b e r zeugt, dass die physikalische Zeit für alle Beobachter u n v e r ä n derlich ist. Aber sie haben sich geirrt. 1905 hat Albert Einstein m i t seiner Relativitätstheorie diesem Glauben den Todesstoß versetzt. Es gibt keine absolute Zeit, sondern so viele, wie es Orte gibt, sie zu beobachten; a u ß e r d e m ist die Zeit untrennbar m i t dem Raum verbunden. Daher ist sie weder eine Illusion noch eine subjektive Wahrnehmung, sondern ein unabdingbarer Bestandteil der Materie. Doch diese Entdeckung e r k l ä r t unseren schwer greifbaren Freund bei weitem nicht zur Gänze. Denken w i r beispielsweise an die Bewegung der Zeiger auf einem Zifferblatt, dann wissen w i r intuitiv, dass die Zeit vorrückt. W i r beklagen vielleicht, wie schnell sie vergeht. Aber macht solch eine Aussage ü b e r h a u p t einen Sinn? Wenn etwas v o r r ü c k t , dann stets m i t einer bestimmten Geschwindigkeit. In welchem Tempo r ü c k t die Zeit also vor? In der A b i t u r p r ü f u n g gehen die Schüler bisweilen dieser einfachen Frage auf den Leim und antworten: >Sekunde für Sekunden Aber das ergibt keinen Sinn. Denn eine Geschwindigkeit setzt immer eine Entfernung m i t einer Zeit in Beziehung, so dass die Frage nicht zu beantworten ist. Obwohl sich der rätselhafte Herr Zeit bewegt, werden w i r nicht einig ü b e r seine Geschwindigkeit. Wenn die Zeit dagegen tatsächlich eine weitere Dimension ist, wie die Relativitätstheorie postuliert, dann unterscheidet sie sich jedenfalls erheblich von den anderen drei Dimensionen. Denn im Raum k ö n n e n wir uns nach oben und unten, nach links und rechts, vor und zurück bewegen, w ä h r e n d w i r uns in der Zeit i m mer nur vorwärts bewegen. Warum? Was hindert uns daran, bereits Erlebtes noch einmal zu erleben oder wenigstens zu sehen? 1988 versuchte David Blanes m i t seiner » M a m m u t b a u m - T h e o -
rie« einige dieser Fragen zu beantworten, aber er hat nur an der Oberfläche gekratzt. Was diesen unabdingbaren Teil unserer Wirklichkeit betrifft, der sich m i t unbekannter Geschwindigkeit in nur eine Richtung bewegt und den w i r nur verstehen, wenn man uns nicht danach fragt, sind w i r n ä m l i c h nach wie vor völlig unwissend. Merkwürdig.« M i t diesen Worten eröffnete Professor Reinhard Silberg von der Fakultät für Wissenschaffsphilosophie der Technischen U n i versität Berlin seinen E i n f ü h r u n g s v o r t r a g im Saal UNESCO des Kongresszentrums von M a d r i d , wo das internationale Symposium >Die Natur von Zeit und Raum in den modernen Theorien< stattfand. Der mittelgroße Saal war bis zum letzten Platz m i t Teilnehmern und Journalisten gefüllt, die voller Spannung Silbergs, Wittens, Craigs und Marinis A u s f ü h r u n g e n lauschten. Sie alle warteten auf die beiden Stars der Veranstaltung: Stephen Hawking und David Blanes. Elisa Robledo saß ebenfalls im Publikum, allerdings aus einem noch ganz anderen Grund. Sie wollte erfahren, ob ihre Theorie der lokalen Variablen bestehen konnte, und sie wollte ihren Sieg g e b ü h r e n d feiern, falls Ric Valente sich täuschte. I n t u i t i v ahnte sie allerdings zweierlei: Sie w ü r d e nicht gewinnen, und sie w ü r d e jeden Befehl von i h m verweigern.
Paradoxerweise war für sie die vergangene Woche ein Wettlauf m i t der Zeit gewesen, schließlich hatte Elisa sie vor allem der i n tensiven Erforschung der Zeit gewidmet. Bei Elisa gingen Leidenschaft und Intelligenz stets Hand in Hand. U n d in Anbetracht der heftigen Gefühle, welche die Begegnung m i t Valente bei ihr ausgelöst hatte, schaltete sie bewusst ihren Verstand ein u n d fasste k ü h l einen ganz einfachen Entschluss: Ob sie >erforscht< wurde oder nicht, ob m i t oder ohne Wette, sie w ü r d e einfach tun, was zu tun war. Sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, im K a m p f um Blanes' Gunst den Sieg zu
erringen, trotzdem w ü r d e sie weder in den letzten Kurstagen noch bei der Hausarbeit in ihren B e m ü h u n g e n nachlassen. Entschlossen widmete sie sich ihren Aufgaben und schlief in den Nächten nur wenige Stunden am Stück. Sie wusste, dass sie ihre Hypothese ü b e r die Variable der lokalen Zeit nicht wirklich beweisen konnte, u n d neigte inzwischen dazu, Valente Recht zu geben, der ihre Lösung als Zirkelschluss beanstandet hatte, doch das machte ihr nichts aus. Sie sagte sich, dass sie als Wissenschaftlerin fähig sein musste, für ihre Ideen zu k ä m p f e n , selbst wenn diese von niemandem akzeptiert wurden. Anfangs verlor sie auch keinen Gedanken an die Wette. Zwar war sie beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie am Montag Valente von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand - sie sahen sich weder an noch g r ü ß t e n sie sich, ganz so, als sei nichts geschehen. U n d auch an den folgenden Tagen war sie sich stets seiner Gegenwart bewusst, wie eines intensiven Geruchs. Doch es lag ihr fern, sich dadurch auch nur für einen Moment aus der Ruhe bringen zu lassen, was auch immer geschehen mochte oder was sie t u n w ü r d e , wenn sie die Wette verlor. Sie kannte keinen, der so eingebildet und so kindisch war wie Ricardo Valente Sharpe, und wollte sich daher von seinem p u b e r t ä r e n Versuch, sie m i t ihren Bettgeheimnissen zu erpressen, nicht beeindrucken lassen. Oder wenigstens redete sie sich das um jeden Preis ein. Sie war sich noch nicht einmal mehr sicher, dass sie wirklich ü b e r w a c h t wurde, wie Valente behauptete. Am Dienstagnachmittag hatte sie zwar einen A n r u f von der Polizei erhalten, der ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Doch letzten Endes hatte man sie nur d a r ü b e r informieren wollen, dass ihr M o biltelefon gefunden worden war. Ein ehrlicher Finder hatte es am Freitagabend entdeckt, als er eine Eistüte in einen Abfalleimer an der Calle de Chueca werfen wollte, und es bei der Polizeidienststelle in der Innenstadt abgegeben. Da ein herrenloses Handy verdächtig war, ja sogar gefährlich sein konnte, wie ihr der Polizist zu verstehen gab, habe man schließlich ermittelt, wem es gehörte.
Gleich nachdem sie das Mobiltelefon beim Kommissariat abgeholt hatte, öffnete sie es zu Hause m i t einem kleinen Schraubenzieher. Ohne genaue Kenntnisse, wie das Innenleben solch eines Geräts auszusehen hatte, vermeinte sie dennoch festzustellen, dass sich offenbar kein Fremdkörper darin befand. Der Mann, der es gefunden hatte, konnte daher gut derjenige sein, den sie v o m Notausgang des Lokals aus an dem M ü l l e i m e r beobachtet hatte. Vielleicht hatte Valente sie lediglich m i t diesem zufälligen Ereignis hinters Licht geführt. Zuzutrauen war es i h m . Am M i t t w o c h wandte sie sich wegen ihrer Teilnahmebescheinigung am Blanes-Kurs an das Sekretariat der Alighieri und nutzte die Gelegenheit, um ein paar Fragen zu stellen. U n d die junge Frau im B ü r o bestätigte ihr: Javier Maldonado war eigentlich Student im Fachbereich Informatik, und einen Soziologieprofessor namens Espalza gab es auch. K ö n n t e es sich um eine von diesen beiden angezettelte Verschwörung handeln? Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass der eigentliche Verantwortliche niemand anderer war als Valente selbst. Fest stand n ä m l i c h , dass er eine >besondere< Beziehung zu ihr aufbauen wollte, weil er sie - wie hatte er sich noch ausgedrückt? sehr interessant fand. Er war ein a u ß e r o r d e n t l i c h gewitzter Bursche. Wahrscheinlich hatte er, vom Zufall begünstigt, die ganze Geschichte m i t der Ü b e r w a c h u n g nur erfunden, um sie einzus c h ü c h t e r n . U n d komischerweise hatte Elisa ü b e r h a u p t keine Angst. Am Freitag lieferte sie ihre Hausarbeit ab. Blanes nahm sie wortlos entgegen. Dann verabschiedete er sich von seinen Studenten, indem er sie für den nächsten Tag zum Symposium einlud, wo, wie er ankündigte, »ein paar knifflige Aspekte der Theorie, zum Beispiel das Paradox des Endpunkts der Vergangenheit«, e r ö r t e r t werden w ü r d e n . M i t keinem Wort e r w ä h n t e er, ob sich dieses Paradox auflösen ließe. Elisa drehte sich um und sah i h ren Rivalen an. Der lächelte b l o ß , ohne ihren Blick zu erwidern. Zum Teufel mit Valente Sharpe. U n d aus diesem G r u n d saß sie hier im Symposium, um die
Positionen der Weisen kennen zu lernen und um zu wissen, wie ihre exotische Wette ausgehen w ü r d e . Aber die Dinge sollten eine ganz u n d gar unerwartete Wendung nehmen. Schon seit Stunden verfolgte sie das Hokuspokus der Physik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, und alles kam ihr bekannt vor: D-Branes, Paralleluniversen, verschmelzende schwarze Löcher, Calabi-Yau-Räume, die Auswüchse der W i r k l i c h k e i t . . . Bis auf wenige e r w ä h n t e n alle Referenten in ihren Redebeiträgen den >Mammutbaumpoetische< Verzierung gewesen oder hatte er seine Z u h ö r e r darauf hinweisen wollen, dass sich isolierte Strings möglicherweise identifizieren u n d öffnen ließen? Wie dem auch sein mochte, eines war jedenfalls klar: Die » M a m m u t b a u m - T h e o r i e « hatte offenbar unter den g r o ß e n Physikern an Boden verloren. Jetzt wartete alles auf den Beitrag von Blanes selbst, und Elisa hatte nicht den Eindruck, dass das in wohlwollender Stimmung geschah. Doch z u n ä c h s t einmal war es Zeit für die Mittagspause. Das Publikum erhob sich wie ein Mann, und alle s t r ö m t e n den Ausgängen zu. Elisa reihte sich ein in die Menge vor dem Hauptausgang. Da drang ihr eine Stimme ans Ohr. »Bist du bereit zu verlieren?« Da sie etwas in der A r t erwartet hatte, drehte sie sich rasch um und gab zurück: »Und du?« Aber Ric hatte sich in Luft aufgelöst, war schon im G e d r ä n g e untergetaucht. Elisa zuckte die Schultern und grübelte ü b e r die mögliche A n t w o r t . War sie bereit? Eher nicht. Noch hatte sie nicht verloren. Victor Lopera machte ihr den Vorschlag, in der Pause gemein-
sam etwas zu essen. Sie willigte gern ein, denn sie mochte seine Gesellschaft. Abgesehen von seiner Vorliebe für das schwammige Thema der Religion in der Physik, in das er sich regelrecht h i n einsteigern konnte, war Lopera ein angenehmer G e s p r ä c h s p a r t ner u n d ein herzensguter, u m g ä n g l i c h e r Mensch. M i t i h m im Auto nach Hause zu fahren war inzwischen eine beiden lieb gewordene Gewohnheit. An der Selbstbedienungstheke der Cafeteria holten sie sich vegetarische Sandwichs. Das von Victor triefte nur so vor Mayonnaise, und Elisa hoffte, diese k ö n n t e ihn von Teilhard de Chardin ablenken u n d der Geschichte, wie Abt Lemaitre entdeckt hatte, dass sich das Universum ausdehnt, und wie Einstein i h m das nicht glauben wollte. Tatsächlich widmete Victor Lopera seine volle Aufmerksamkeit dem belegten Brötchen und verzehrte es ohne Rücksicht auf verschmierte Lippen. Vielmehr streckte er a n s c h l i e ß e n d genüsslich die lange Zunge heraus u n d leckte sie wie eine Katze. Da sie keinen freien Tisch gefunden hatten, a ß e n sie im Stehen, tauschten sich dabei ü b e r die Vorträge aus - ihn hatte Reinhard Silberg am meisten beeindruckt - und g r ü ß t e n die vorübergehenden Professoren und Studenten. Sie standen so ungünstig, dass Elisa das Gefühl hatte, alle fünf Sekunden jemandem zuzulächeln. Plötzlich, und vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, entfuhr es dem tief e r r ö t e n d e n Lopera: »Du siehst heute sehr gut aus.« Elisa bedankte sich, allerdings eher halbherzig. Sie hatte sich nach einer Woche körperlicher Vernachlässigung endlich einmal wieder die Haare gewaschen u n d sogar dezent geschminkt. Sie trug eine himmelblaue Hemdbluse und dazu eine marineblaue Baumwollhose anstelle der b e w ä h r t e n abgewetzten Jeans, die, wie ihre Mutter sich a u s d r ü c k t e , vor Dreck allein stehen w ü r d e . Auch war es ihr unangenehm, dass Victor sie offensichtlich bewunderte. Ihr war nicht entgangen, dass er auf dem Symposium ein besonderes Interesse für sie hegte. Auch hatte er sie wiederholt m i t verstohlenen Blicken gemustert. Victor Lopera hatte in ihren A u -
gen als Verbrecher keine Chance: Er war der durchschaubarste Mensch, den sie kannte. Nachdem er den letzten Bissen seines belegten Brötchens verschlungen und die Mayonnaisereste abgeleckt hatte, sagte Victor betont beiläufig: »Ich habe mich neulich m i t Ric u n t e r h a l t e n . « Elisa sah den Adamsapfel auf und nieder hüpfen. » S c h e i n t . . . ihr seid Freunde geworden.« »Nein, das stimmt nicht«, versetzte Elisa. »Hat er das gesagt?« Victors Lächeln wirkte wie eine Entschuldigung, doch er sagte gelassen: »Nein, das ist meine eigene Schlussfolgerung. Er hat m i r erzählt, dass er dich mag u n d dass . . . er eine Wette m i t dir abgeschlossen hätte.« Elisa sah i h n fest an. »Ich habe meine eigene M e i n u n g ü b e r Blanes' Theorie«, sagte sie schließlich. »Und er seine. W i r haben gewettet, wer von uns beiden Recht hat.« Victor machte eine wegwerfende Bewegung, als interessiere ihn das Thema nicht weiter. »Glaub nicht, dass ich neugierig bin u n d wissen w i l l , was ihr beiden miteinander vereinbart habt«, sagte er und setzte so leise hinzu, dass Elisa sich in der l ä r m e n den Cafeteria unwillkürlich zu i h m herüberbeugte: »Ich wollte dich nur warnen, dass ... du es nicht t u n sollst.« »Was nicht tun?« »Was er von dir verlangt. F ü r i h n ist es kein Spiel. Ich kenne i h n ganz genau. W i r waren dick befreundet... Er war immer . . . Er ist ziemlich pervers.« »Was meinst du damit?« »Das lässt sich nicht m i t drei Worten erklären.« Er musterte sie aus dem Augenwinkel u n d schlug einen anderen Ton an. »Na ja, ich w i l l auch nicht übertreiben. Ich meine ja nicht, dass er . . . v e r r ü c k t w ä r e oder so . . . Ich wollte damit nur sagen, dass er Frauen nicht gerade . . . achtet. Auch wenn das einigen an i h m gerade zu gefallen scheint.« Sein Gesicht war rot angelaufen. »Na ja, es ist m i r unangenehm, d a r ü b e r zu reden. Also, ich schätze dich u n d wollte ... Du kannst n a t ü r l i c h tun u n d lassen, was du w i l l s t . . . Ich dachte, ich sollte dich warnen.«
Sie hatte nicht schlecht Lust, i h m eine pampige Antwort zu geben: Ich b i n dreiundzwanzig, Victor. Ich kann auf mich selber aufpassen, danke. Doch sie begriff, dass Victor sie, im Unterschied zu ihrer Mutter, nicht belehren wollte, es war w i r k l i c h aufrichtig gemeint. Er war davon überzeugt, ihr mit diesem Ges p r ä c h zu helfen. Sie wollte auch gar nicht wissen, was Valente noch alles ausgeplaudert hatte. Im Grunde war es ihr egal, was M r . Ein-Vierhundertstel-Weniger tat oder sagte. »Valente und ich sind gewiss keine Freunde, Victor«, sagte sie ernst u n d m i t Nachdruck. »Und was mich betrifft, so habe ich nicht vor, i r gendetwas zu tun, was ich nicht will.« Victor wirkte unglücklich, als sei i h m bewusst geworden, dass das Gespräch schlecht gelaufen war. Er öffnete den M u n d , dann schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf. »Klar«, nickte er. »Wie d u m m von mir ...« »Nein, ich danke dir für den Rat. Wirklich.« Sie wurden von der Durchsage unterbrochen, dass das Symposium nun fortgesetzt werde. Die nächsten Stunden verbrachte Elisa wie in Trance und grübelte über Victors p u b e r t ä r scheinende Warnung nach, w ä h r e n d sie den Vortragenden z u h ö r t e . Doch mit einem Mal war alles wie weggeblasen, Valente eingeschlossen, u n d sie richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. David Blanes stieg auf das Podium. U n d das Schweigen, m i t dem er empfangen wurde, h ä t t e in einem Gerichtssaal wohl bedeutet, dass es sich um den Angeklagten handelte. Blanes knüpfte an Hawkings Baummetapher an. »Der M a m mutbaum ist dicht belaubt«, begann er, »trägt aber keine Früchte.« U n d keine zehn Minuten später wusste Elisa, dass sie verloren hatte. Blanes sprach noch eine weitere halbe Stunde, ließ sich jedoch nur d a r ü b e r aus, dass neue Physikergenerationen hoffentlich »ungeahnte« Wege finden w ü r d e n , um das Problem des Endpunkts »Vergangenheit« der Strings zu lösen. Er nannte einige Möglichkeiten, darunter die der lokalen Variablen und eine wei-
tere m i t i m a g i n ä r e n Zahlen, die Elisa ebenfalls eingefallen war, tat sie aber als »elegant u n d nutzlos« ab, »wie ein Frack in der Wüste«. Er wirkte deprimiert, m ü d e , vielleicht war er es leid, sich gegen die Angriffe seiner Gegner zu verteidigen. U n d trotz des Beifalls war Elisa sicher, dass sein Vortrag wenig Zuspruch gefunden hatte. Auch sie empfand Verachtung für das einst so bewunderte Idol. Du bist nicht bereit, für deine Ideen zu kämpfen. Ich schon. Blanes war der letzte Referent auf der Rednerliste. Erst nach einer Pause w ü r d e noch eine Podiumsdiskussion stattfinden. Elisa stand auf und begab sich zum Ausgang, um den Saal zu verlassen. Da hörte sie wieder diese Stimme hinter sich, genauso wie in der Mittagspause. »Geh zur Herrentoilette und warte dort.« »Noch habe ich nicht verloren«, zischte sie und drehte sich blitzschnell u m . Er versuchte zu entwischen, doch Elisa streckte die Hand aus und hielt ihn am Hemd fest. Diesmal entkommst du mir nicht. »Ich habe nicht verloren«, betonte sie. Valente machte sich los, konnte aber nicht fort. So gingen sie gemeinsam hinaus, bis sie einander im Vorraum gegenüberstanden. Allein sein Aufzug erweckte bei Elisa immer wieder den Eindruck, er t r ü g e ein Neonschild m i t der Aufschrift »Hier ist Valente Sharpe«: feuerrotes, langärmeliges, hochgeschlossenes Jeanshemd und Gürtel zur weinroten Hose, dazu Stiefel aus rötlichem Leder und eine goldene Kette m i t passenden Ohrringen. Der Ausweis des Symposiums, den Elisa in ihrer Handtasche verstaut hatte, hing bei i h m gut sichtbar auf der H ö h e der linken Brustwarze und schrie zwischen Reflexen seinen Namen heraus. Den blonden, von Gel triefenden Pony hatte er sorgfältig ü b e r das rechte Auge g e k ä m m t . Als er jetzt das Wort ergriff, schwang Missfallen mit. »Ich habe dir den ersten Befehl erteilt: Geh zum Herrenklo.« »Ich denke nicht daran.« In seinen Augen funkelte es, als w ü r d e er sich insgeheim ü b e r
sie lustig machen, doch seine Z ü g e blieben starr. »Es ist feige, dass du einen Rückzieher machst, Frau Robledo.« »Ich mache keinen Rückzieher, Herr Valente. Ich bin ein guter Verlierer.« »Es ist doch offensichtlich, dass du verloren hast. Blanes hat gesagt, dass deine lokalen Zeitvariablen so viel wert sind wie Hundekacke an einer Schuhsohle.« »Das ist seine Ansicht«, wandte sie ein. »Damit ist jedoch noch nichts bewiesen, sondern er hat lediglich seine Meinung geäußert. In der Physik geht es aber nicht um Meinungen.« »Also, h ö r m a l . . . « »Der Einsatz ist hoch. Ich w i l l mich erst vergewissern, ob du Recht hast oder nicht. Vielleicht hast ja du Angst zu verlieren?« Valente sah sie an, ohne zu zwinkern. Sie gab den Blick zurück. Nach einer Weile holte er tief Luft. »Was schlägst du vor?« »Ich werde mich jedenfalls nicht w ä h r e n d der Publikumsdiskussion mit Blanes anlegen. Lass uns Folgendes vereinbaren. Alle wissen, dass Blanes aufgrund unserer Hausarbeiten entscheiden w i r d , wen er nach Zürich m i t n i m m t . Ich bin überzeugt, dass er mich berufen w i r d , wenn i h m meine Idee wert erscheint, weiterverfolgt zu werden. Hält er sie für falsch, w i r d er mich ohnehin ablehnen. Ich schlage vor, dass w i r das abwarten.« »Er n i m m t mich mit«, sagte Valente sanft. »Stell dich schon mal darauf ein, meine Liebe.« »Schön für dich. Aber das braucht er noch nicht einmal zu tun. Es genügt, dass er mich ablehnt, dann zahle ich.« »Was meinst du mit zahlen?« Elisa seufzte. »Dann gehe ich, wohin du willst, und tue, was du willst.« »Das glaube ich dir nicht. Du wirst wieder eine Ausrede finden.« »Ich schwöre es«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Wort. Ich tue, was du willst, wenn er mich ablehnt.« »Du lügst.« Sie blitzte ihn m i t den Augen an. »Ich nehme das hier sehr viel ernster, als du denkst.«
»Was heißt das hier? Meine Wette?« »Meine Ideen. Deine Wette ist in meinen Augen dummes Zeug, wie alles, was du m i r bei dir zu Hause erzählt hast. Niemand forscht uns aus, niemand ü b e r w a c h t uns. Das m i t dem Handy war Zufall: Ich habe es neulich z u r ü c k b e k o m m e n . Ich glaube, du willst dich nur aufspielen. Weißt du was? Ich w i l l dir mal was sagen.« Breit grinsend entblößte Elisa die weißen Zähne. » N i m m dich in Acht, Herr Valente, du hast n ä m l i c h mein Interesse geweckt.« Valente betrachtete sie m i t einem seltsamen Ausdruck. »Du bist wirklich ein besonderes M ä d c h e n « , sagte er leise, wie zu sich selbst. »Du dagegen kommst m i r m i t deinen Herrenklovorschlägen immer mehr vor wie ein Loser.« »Wer gewinnt, entscheidet, wie gezahlt wird.« »Einverstanden.« M i t einem M a l brach er in schallendes Gelächter aus, als hätte er es die ganze Zeit ü b e r u n t e r d r ü c k t . »Du bist der H a m m e r ! « Eine ganze Weile wiederholte er nur diesen einen Satz und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du bist der Hammer! Da w i l l ich dich auf die Probe stellen, um zu sehen, wie du reagierst. Und ich schwöre, ich hätte mich kaputtgelacht, wenn du wirklich aufs Herrenklo gegangen w ä r s t . . . « Dann sah er sie mit gespielter Gelassenheit an. »Gut, ich gehe auf deinen Vorschlag ein. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er sich schon für mich entschieden hat, meine Liebe. U n d wenn es so weit ist, rufe ich dich auf dem Handy an. N u r einmal. U n d dann sage ich dir, wo du h i n gehen sollst, wie du da hingehen sollst, was du anhaben und was du nicht anhaben sollst, und du wirst parieren wie ein abgerichtetes H ü n d c h e n . . . Aber das ist nur der Anfang. Ich werde S p a ß haben wie noch nie, das schwöre ich dir. Habe ich es nicht gesagt: Du bist echt interessant, und jetzt, wo du deinen wahren Charakter zeigst, sogar noch mehr. Ich b i n w i r k l i c h gespannt, wie weit du gehen wirst - falls sich nicht mein Verdacht bestätigt, dass du eine feige Lügnerin b i s t . . . «
Elisa ließ die folgende Schimpftirade ü b e r sich ergehen und sah ihn weiter ruhig an, doch ihr schlug das Herz bis zum Hals, und ihr M u n d fühlte sich ganz trocken an. »Machst du einen Rückzieher?« Ruhig starrte er sie aus dem linken Auge an, ü b e r dem rechten hin ja die Tolle. »Es ist deine letzte Chance.« »Meine Wette gilt schon lange.« Elisa zwang sich zu einem Lächeln. »Aber wenn du auf einmal kneifen w i l l s t . . . « Valente schien begeistert wie ein K i n d angesichts eines neuen Spielzeugs. »Genial«, sagte er. »Mit dir werde ich viel S p a ß haben.« »Abwarten. U n d jetzt entschuldige mich bitte.« » M o m e n t . « Valente sah sich nach allen Seiten u m . »Wie du weißt, bin ich sicher, dass ich gewinnen werde. Trotzdem will ich ehrlich zu dir sein und dir was verraten. Einiges bei diesem Kongress deutet darauf hin, dass uns hier was anderes verkauft w i r d , als man vorgibt. Blanes und M a r i n i scheinen offenbar versessen darauf, so zu tun, als sei aus ihrem Mammutbaum ein Bonsai geworden. Doch ich habe eine spannende Entdeckung gemacht.« Er gab ihr ein Zeichen, i h m zu folgen, und ging los. »Wenn ich es dir zeigen soll, dann k o m m mit.« Sie durchquerten die Vorhalle und hielten sich parallel zur Empfangstheke, wo die Teilnehmer registriert wurden, und mussten den unterschiedlichsten Menschen ausweichen: Ausl ä n d e r n und Einheimischen, Professoren und Studenten, Leuten in Anzug und Krawatte oder in H e m d s ä r m e l n und Jeans. Einige versuchten unverhohlen ihre Vorbilder nachzuahmen Physiker m i t Einsteinfrisur brachten Elisa stets zum Lachen -, andere versuchten alles, um zu ihrem Idol K ö r p e r k o n t a k t aufzunehmen, so war Hawkings Rollstuhl von einer Traube seiner A n h ä n g e r umlagert. M i t einem M a l blieb Valente unvermittelt stehen. »Da sind sie. Stecken die Köpfe zusammen wie eine Familie.« Elisa folgte seinem Blick. Tatsächlich stand da ein G r ü p p c h e n , das sich bewusst von den anderen fern zu halten schien. Sie er-
kannte David Blanes, Sergio M a r i n i , Reinhard Silberg sowie den jungen Experimentalphysiker Colin Craig aus Oxford, der nach Silberg das W o r t ergriffen hatte. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. »Craig war mein Mentor in der Teilchenphysik«, erklärte Valente. »Er hat mich dazu ermuntert, die A u f n a h m e p r ü f u n g für den Blanes-Kurs zu machen . . . Silberg ist Professor für Wissenschaftsphilosophie u n d D o k t o r der Geschichte. U n d siehst du die g r o ß e Frau mit dem braunen Kleid neben Craig?« Sie war ja wohl kaum zu übersehen, dachte Elisa, denn es handelte sich um eine atemberaubende Schönheit. Das lange braune Haar fiel ihr spitz zulaufend bis zum Steißbein, und die schlichte, elegante Kleidung umschmeichelte eine perfekte Silhouette. Die Frau wurde von einem jungen M ä d c h e n begleitet m i t der auffallend w e i ß e n H a a r m ä h n e eines Albinos. Elisa kannte keine der beiden. Valente lieferte ihr die Details: »Das ist Jacqueline Clissot aus Montpellier, eine weltbekannte Paläontologin und Anthropologin. Die m i t den w e i ß e n Haaren muss eine ihrer Studentinnen sein.« »Was wollen die denn hier? Sie stehen doch gar nicht auf der Rednerliste.« » G e n a u das habe ich mich auch gefragt. Ich glaube, sie sind wegen Blanes hier. Das Symposium scheint eine A r t Familientreffen zu sein. U n d nebenbei geben Papa Blanes und Mama Mar i n i der Wissenschaftsgemeinde zu verstehen, dass der M a m m u t baum dieses Jahr noch keine Blüten trägt. M a n k ö n n t e meinen, Blanes' eigentliches Ziel b e s t ü n d e darin, die Karten offen auf den Tisch zu legen u n d zu betonen, dass er nicht blufft. Komisch, nicht wahr? Aber damit nicht genug.« Valente schlenderte weiter, die H ä n d e in den Hosentaschen, u n d Elisa folgte i h m unwillkürlich m i t einiger Neugier. Sie gingen in der Vorhalle auf und ab. Durch die hohen Fenster drang das Licht eines Sommertages, der sich noch nicht geschlagen gegeben hatte.
»Das Merkwürdigste ist«, dozierte Valente, »dass ich vor ein paar Monaten Silberg und Clissot in Oxford gesehen habe. Ich hatte etwas m i t Craig zu besprechen und bin zu seinem Büro gegangen. Er hat mich hereingebeten, hatte aber zu tun. Silberg habe ich sofort erkannt und hätte liebend gern gewusst, wer seine h i n reißende Begleiterin war, aber Craig hat uns nicht vorgestellt. Ich schien ungelegen zu kommen . . . Na ja, es ist immer klug, sich mit den Sekretärinnen gut zu stellen. Die von Craig hat mir n ä m lich erzählt, was ich wissen wollte. Anscheinend haben sich Clissot u n d Silberg seit einem Jahr regelmäßig geschrieben, bis sie sich schließlich in Oxford getroffen haben.« »Wahrscheinlich planen sie ein gemeinsames Projekt«, sagte Elisa. Valente schüttelte den Kopf. »Ich habe zu Craig ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und weiß ü b e r alle seine Projekte Bescheid. A u ß e r d e m , kannst du m i r mal verraten, was für ein Projekt jemanden wie Craig, der an Teilchenbeschleunigern herumbastelt, m i t einem Historiker wie Silberg und Clissot, einer Spezialistin für tote Affen, planen sollte? Und wenn man noch Blanes und M a r i n i h i n z u n i m m t . . . was k o m m t dann heraus?« »Ein heilloses Durcheinander.« »Genau, oder eine Sekte von Teufelsanbetern.« Valente senkte die Stimme. »Oder . . . etwas noch Abgefahreneres.« Elisa sah ihn an. »Und das wäre?« Valente beließ es bei einem viel sagenden Lächeln. Aus den Lautsprechern drang eine Melodie, und wie magnetisch angezogen setzte sich das Publikum Richtung Saal in Bewegung. Valente deutete m i t dem Kopf h i n ü b e r : »Da gehen sie, wie die Küken hinter der Glucke her: Craig, Silberg, Clissot, M a r i n i . . . eingeladen von Blanes, aber bezahlen tut er trotzdem nicht.« Er drehte sich zu ihr u m . »Jetzt verstehst du vielleicht, w a r u m ich so sicher bin, dass sie uns >ausgeforscht< haben . . . Sieh mal hier.« Er hatte vor einem der Plakate Halt gemacht, das auf einer Staffelei aufgestellt war. A u f Spanisch und Englisch stand darauf zu lesen: >Erstes Internationales Symposium. Die Natur von Raum
u n d Zeit in den modernen Theorien. 16. - 17. Juli 2005. Kongresszentrum Madrids Aber Valente machte Elisa auf das Kleingedruckte aufmerksam. »Sponsor . . . « , las er. »Eagle G r o u p « , entzifferte Elisa das kunstvolle Logo. Das >G< des Wortes >Eagle< war zugleich der Anfangsbuchstabe von >GroupSpionKomm miu, hat er bestimmt nicht mehr an die Wette gedacht, sondern ist ihm wie hypnotisiert gefolgt. Und wenn nicht? U n d wenn er das Spiel ausreizen wollte, was dann? Eine gewisse Nervosität regte sich. Trotzdem w ü r d e sie Wort halten und tun, was er ihr befahl. Aber sie glaubte - besser gesagt, sie hoffte -, dass er nicht zu weit gehen w ü r d e . Sie nahm sich vor, einfach auf seine W ü n s c h e einzugehen, in der Hoffnung, dass er dann Ruhe gab. Im Grunde war sie sicher, dass Valente sie nur d e m ü t i g e n wollte. Ließe sie sich also ganz selbstverständlich auf seine Forderungen ein, w ü r d e das Spiel für ihn bald an Reiz verlieren. Ich rufe dich auf dem Handy an. Nur einmal. Und dann sage ich dir, wo du hingehen sollst, wie du da hingehen sollst, was du anhaben sollst und was du nicht anhaben ... M i t einem Mal störte sie das Telefon in ihrer Hosentasche. Es fühlte sich an, als legte Valente die Hand auf ihren Oberschenkel. Elisa zog es heraus u n d warf einen Blick auf das Display: keine Anrufe. Nichts. Dann legte sie es m i t der G e b ä r d e eines Spielers auf den Tisch, der alles auf eine Karte setzt. Als sie den Blick hob, bemerkte sie den Aufruhr in Victor, der jeden einzelnen ihrer Gedanken gelesen zu haben schien. »Ich glaube, ich bin gestern zu weit gegangen«, begann er. »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. Bestimmt hast du mich missverstanden. Ich ... wollte dir keine Angst einjagen.« »Du hast m i r keine Angst eingejagt«, erwiderte sie lächelnd. »Also, es freut mich, dass du das sagst.« Seine niedergeschlagene Miene schien das Gegenteil a u s z u d r ü c k e n . »Ich habe m i r den ganzen Tag Vorwürfe gemacht, weil ich vielleicht ü b e r t r i e ben habe. Schließlich ist Ric kein Teufel...«
»Mir wäre so ein Vergleich auch gar nicht in den Sinn gekommen. Aber gut, dass du's klarstellst, sonst k ö n n t e Satan sich noch beleidigt fühlen.« Victor amüsierte sich über ihre Antwort und musste u n w i l l kürlich mitlachen. Dann fiel ihr Blick auf das fast u n b e r ü h r t e Brötchen auf ihrem Teller und das Mobiltelefon daneben, das sie beinahe erwartungsvoll anschaute. U n d sie setzte hinzu: »Was ich nicht verstehe, ist, wie ihr beiden euch angefreundet habt. Ihr seid doch so verschieden ...« »Wir waren damals Kinder. Als K i n d macht man vieles, was man später anders beurteilt.« »Wahrscheinlich hast du Recht.« Und dann sprudelte es nur so aus Victor heraus, ein Monolog wie ein Gewitter: Die Sätze polterten wie der Donner, der sich auf seinen Lippen sammelte, w ä h r e n d die vorauseilenden Gedanken in seinem Inneren gewaltigen elektrischen Entladungen glichen. Elisa lauschte aufmerksam, zumal Victor, zum ersten M a l , seit sie ihn kannte, weder ü b e r Theologie noch ü b e r Physik sprach. Einen Punkt in der Luft fixierend, blätterte er vor ihr eine alte Geschichte auf. Wie immer verbreitete er sich ü b e r etwas Vergangenes. Über das, was geschehen ist und noch immer geschieht, wie Elisas G r o ß v a t e r ihr einmal erläutert hatte. Ü b e r Dinge, die gewesen sind und deshalb weiter existieren. Victor sprach über das Einzige, w o r ü b e r wir sprechen k ö n n e n , wenn w i r es wahrhaft tun. Wenn wir ausführlich werden, sprechen wir nämlich immer ü b e r Vergangenes. Und w ä h r e n d sie i h m z u h ö r t e , versanken für Elisa die Cafeteria, der Kongress und ihre beruflichen Sorgen, und es gab nichts als Victors Stimme und die Geschichte, die er ihr erzählte. Erst Jahre später wusste sie, dass ihr G r o ß v a t e r Recht gehabt hatte, als er behauptete: Die Vergangenheit der anderen kann unsere Gegenwart sein.
Die Zeit ist wirklich seltsam. Sie entführt die Dinge an einen entlegenen O r t , zu dem w i r keinen Zugang haben, doch von dort wirken deren magische Kräfte weiter auf uns ein. Victor war wieder ein K i n d , u n d Elisa konnte die beiden buchstäblich vor sich sehen, zwei einsame Jungen, ä h n l i c h intelligent u n d vielleicht m i t ä h n l i c h e n Vorlieben, besessen von Neugier u n d Wissbegier, aber ebenso von bestimmten Neigungen, die andere Knaben i h res Alters sich gar nicht einzugestehen wagten. Die beiden jedoch schon, und das unterschied sie von den Ü b r i g e n . Ric war der Chef, er hatte das Sagen, und Victor - V i c k y - fügte sich stillschweigend, aus Angst vor den Folgen einer Verweigerung oder weil er von dem Wunsch beseelt war, zu sein wie der andere. Das Anziehendste an Ric, so erklärte Victor ihr, war zugleich sein größtes Defizit: die unendliche Einsamkeit, in der er lebte. Von seinen Eltern verlassen u n d großgezogen von einem Onkel, der i h m immer fremder wurde, hatte es Ric an Grenzen gefehlt, an Regeln, und so fiel es i h m schwer, an etwas anderes zu denken als an sich selbst. Die ganze Welt kreiste um i h n , als sei sie eine T h e a t e r b ü h n e u n d einzig u n d allein dazu bestimmt, i h m zu Gefallen zu sein. Victor wurde zu einem regelmäßigen Zuschauer in diesem Theater, aber m i t den Jahren mochte er die fantastischen Vorstellungen des Freundes nicht mehr m i t ansehen. »Ric war anders als normale Menschen: Er hatte eine Menge Fantasie, stand aber gleichzeitig m i t beiden Beinen fest auf dem Boden. Er machte sich keine Illusionen. Wenn er etwas wollte, dann scheute er vor nichts zurück, um es zu bekommen. Jedes M i t t e l war i h m recht . . . Am Anfang mochte ich seine A r t . Ich glaube, dass es allen Kindern so gehen w ü r d e , wenn sie jemanden wie ihn kennen lernen. Damals war Ries Welt der Sex. U n d sein Blick auf diese Welt war immer zynisch. Die M ä d c h e n , alle M ä d c h e n waren für ihn minderwertig. Als K i n d vertrieb er sich die Zeit damit, in den Pornomagazinen, die er stapelweise sammelte, die Gesichter der Models m i t Fotos seiner Klassenkameradinnen zu überkleben. Eine Zeit lang mochte das spaßig sein, aber auf Dauer hatte ich es satt. Was ich am wenigsten mochte,
war Vics A r t , m i t M ä d c h e n umzugehen . . . Für ihn waren sie Objekte, nur für seinen Lustgewinn da. Ich habe nie erlebt, dass er eine echte Freundin gehabt h ä t t e , er hat die M ä d c h e n nur benutzt. Er hat sie nackt fotografiert oder im Badezimmer gefilmt. Manchen hat er Geld gegeben, andere hat er m i t versteckten Kameras aufgenommen, ohne dass sie etwas merkten.« Er hielt inne und sah Elisa fragend an, ob er seinen Bericht abbrechen sollte. Doch sie bedeutete i h m m i t einer Geste fortzufahren. »Als wenn das selbstverständlich wäre, hatte er immer Geld und auch Gelegenheit dazu. Die Sommerferien verbrachten w i r in einem Landhaus, das Ries Familie in einem andalusischen D o r f namens Ollero b e s a ß . . . Manchmal haben w i r auch ein paar M ä d e l s mitgenommen. W i r waren allein und fühlten uns wie die Könige des Universums. Ric hat dort gewöhnlich pikante Fotos von seinen Freundinnen gemacht. Aber dann ist eines Tages etwas passiert.« Victor lächelte verlegen und schob sich die Brille hoch. »Eines der M ä d c h e n gefiel mir, und ich bildete m i r ein, dass sie mich auch mochte. Sie hieß Kelly und war Engländerin. Sie ging auf unsere Schule . . . Kelly Graham ...« Er stockte einen Augenblick, als ließe er sich in der Erinnerung den Namen auf der Zunge zergehen. »Ric hat sie in sein Haus auf dem Land eingeladen, und mich k ü m m e r t e das nicht. Ich dachte, i h m sei klar, dass bei Kelly nichts d r i n war m i t seinen Spielchen. Doch dann habe ich sie eines Morgens erwischt... Ric und sie ...« Er sah Elisa unverwandt an und nickte eifrig. »Ich b i n vielleicht einer von denen, die nur alle zehn Jahre mal w ü t e n d werden, aber ... a b e r . . . « »Aber wenn, dann richtig«, half Elisa i h m auf die Sprünge. »Genau . . . Ich habe ihnen Bescheid gestoßen. Na ja, aus heutiger Sicht war das Kinderkram. Schließlich waren w i r erst zehn oder elf Jahre alt; doch zu sehen, wie sie sich küssten und b e r ü h r ten, das hat mich ... ziemlich schockiert. W i r hatten daraufhin einen Streit, haben uns angeschrieen, und Ric hat mich geschubst, d r a u ß e n auf den Felsen am Bach. Ich bin hingefallen und habe
m i r den Kopf gestoßen ... Z u m Glück war da ein M a n n beim Angeln. Der hat mich aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht. Es war nichts Schlimmes, eine Platzwunde, nur ein paar Stiche, ich glaube, die Narbe habe ich noch . . . Aber ich wollte dir etwas anderes erzählen. Ich war mehrere Stunden bewusstlos, und als ich nachts aufgewacht bin, da saß Ric an meinem Bett und hat mich um Verzeihung gebeten. Meine Eltern haben m i r erzählt, dass er sich die ganze Zeit ü b e r nicht von der Stelle g e r ü h r t hat. Die ganze Zeit«, wiederholte er mit feuchten Augen. »Als ich aufgewacht bin, hat er angefangen zu weinen und mich um Verzeihung gebeten. Ich glaube, ein Kind braucht Freunde, um zu wissen, was Freundschaft wirklich bedeutet. An jenem Tag habe ich mich i h m näher gefühlt als je zuvor. Kannst du das verstehen? Du hast mich gefragt, was uns verbindet. Ich glaube, es sind Erlebnisse wie dieses.« Sie schwiegen. Victor seufzte tief. »Natürlich habe ich i h m verziehen. Ich dachte, unsere Freundschaft w ü r d e ewig bestehen. Aber irgendwann war sie vorbei. W i r sind erwachsen geworden und unterschiedliche Wege gegangen. Obwohl w i r immer in Verbindung geblieben sind, waren da Schranken zwischen uns, und das war eigentlich noch schlimmer. Er hat stets versucht, mich in seine Welt hineinzuziehen, hat m i r erzählt, dass er immer noch M ä d chen nach Ollero einlud. Er hat sie heimlich gefilmt, manchmal w ä h r e n d er mit ihnen schlief. Danach hat er ihnen die Filme gezeigt und . . . sie damit erpresst. >Willst du, dass deine Eltern oder deine Freunde das hier zu sehen kriegen?Robledo Morande, Elisa< hinter sich und war auf dem Weg in eine neue Welt, die tatsächlich vollkommen anders zu sein schien als befürchtet. Eine Welt, die hoch oben in den Wolken auf sie wartete, wo die glitzernde Sonne ihr zuzuzwinkern schien. Jetzt hielt sie selbst die Zügel in der Hand und flog gleichsam im geflügelten Wagen auf diese Sonne zu. M i t einem Lächeln schloss sie die Augen u n d kostete diese Empfindung aus. Jahre später dachte sie oft, dass sie nie und nimmer das Flugzeug bestiegen und am Sonntag zuvor nicht das Telefonat angenommen hätte, wenn sie geahnt hätte, was sie erwartete. Sie wäre schnurstracks nach Hause zurückgekehrt, hätte Fens-
ter und T ü r e n zugenagelt, sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich für immer dort versteckt. Aber in jenem Moment war sie vollkommen ahnungslos.
III. DIE INSEL
Die Insel ist voller Lärm. W i l l i a m Shakespeare
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Die Augen beobachteten sie unverwandt, w ä h r e n d sie sich nackt in ihrem Zimmer bewegte. U n d sie hatte erstmals dieses Gefühl, die dumpfe Ahnung dessen, was sich später ereignen w ü r d e , ohne recht zu wissen, wor u m es eigentlich ging. Erst später erkannte sie, dass jene Augen nur das Vorspiel waren. Denn sie waren nicht die Finsternis, sondern das Tor zur Finsternis.
Erst als sie zu dem Haus gebracht wurde, begann sie misstrauisch zu werden. Vorher war alles normal verlaufen, sogar angenehm und entspannt. Dass sie von einem gut gekleideten M a n n m i t einem Schild, auf dem ihr Name stand, am Z ü r i c h e r Flughafen erwartet wurde, nahm sie als Beweis der Schweizer Gründlichkeit. Den festen Schritten des Mannes folgend, unterdrückte sie ein Lachen, weil sie i h n zuerst für einen Kollegen gehalten hatte und schon im Begriff war, die Grundprobleme der Physik m i t i h m zu erörtern. Dabei war er nur der Chauffeur. Sie genoss die Fahrt im dunklen Volkswagen durch eine Landschaft m i t ganz anderen Farben als dem bekannten Goldgelb des Madrider Umlands. Sie hatte den Eindruck, tausende nie gese-
hener G r ü n t ö n e zu entdecken, wie damals die Buntstifte, mit denen sie als Kind ihre Malhefte voll gekritzelt hatte. Waren es nicht sogar Schweizer Stifte gewesen? Da sie w ä h r e n d ihres Studiums mehrere Wochen im CERN verbracht hatte, dem Europäischen Kernforschungszentrum in der N ä h e von Genf, war ihr die Schweiz nicht fremd. Sie wusste, sie wollten zum Technologischen Labor für physikalische Forschung in Z ü r i c h , in dessen Gästehaus ein Zimmer für sie reserviert war. In diesem b e r ü h m t e n Labor, wo die Theorie des M a m mutbaums ihren Ursprung genommen hatte, war sie noch nie gewesen, aber sie kannte es von zahllosen Fotos. Deshalb runzelte sie die Stirn, als sie merkte, dass der Wagen einen anderen Weg nahm. Sie mussten sich mehrere Kilometer nördlich von Z ü r i c h befinden. D ü b e n d o r f , las sie auf einem Ortsschild, offenbar ein Landsitz. Jedenfalls standen h ü b s c h e B ä u m e davor, es gab einen gepflegten Rasen und eine Reihe luxuriöser Autos vor dem Eingang. Wie das Haus eines Produzenten. Als wollten sie einen Film drehen. Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag und holte dann ihr Gepäck heraus. Werde ich hier untergebracht? Aber sie hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ein Kerl, der offenbar beim gleichen Schneider gewesen war wie der Chauffeur, bat sie, die Lederjacke abzulegen, und kitzelte sie m i t einem Detektor unter den Achseln und an den Innen- u n d A u ß e n s e i t e n der Schenkel. Er fand ihren Hausschlüssel, ihr Mobiltelefon und ihr Geld. A n schließend h ä n d i g t e er ihr alles vollständig wieder aus und begleitete sie in das ruhig daliegende Haus, auf dessen Parkett sich das Licht spiegelte wie auf einem ruhigen See. D o r t ü b e r g a b er sie an einen anderen Mann, der sich als Cassimir vorstellte. Wenn i h n nicht sein Name und sein schlechtes Spanisch verraten hätten, dann w ä r e n g e n ü g e n d andere Eigenschaften da gewesen, um klarzustellen, dass er alles war, nur kein Spanier: Die Statur eines lebenden Einbauschranks, das strohgelbe Haar, die weiße Haut eines Angelsachsen, die m i t dem schwarzen Rollkragenpullover und der grauen Hose kontrastierte. Eines musste
man i h m lassen: Seine Rolle als F u ß a b t r e t e r m i t dem Aufdruck >Willkommen< beherrschte er perfekt. Ob sie eine gute Reise gehabt habe? Ob sie schon einmal in der Schweiz gewesen sei? W ä h rend er sie diese und andere Höflichkeitsfloskeln fragte, führte er sie in einen hellen Raum und bat sie, i h m gegenüber vor einem Schreibtisch aus Kirschholz Platz zu nehmen. Hinter Cassimir strahlte ein sonniger Schweizer Tag durchs Fenster, und links von Elisa, also rechts von Cassimir, wiederholte sich das Zimmer in einem langen Spiegel m i t einer zweiten, schwarz gelockten Elisa in rosa Trägerhemd und gebräunter Haut unter den weißen B H Trägern - ihre Mutter hasste es, sie so vulgär hervorlugen zu sehen -, in engen Jeans und Sportschuhen, sowie dem zweiten Riesen namens Cassimir im Profil, der seine enormen Arme auf dem Tisch verschränkt hatte. Elisa u n t e r d r ü c k t e ein Lachen, erinnerte sie sich doch an ein Erotikvideo, das sie einmal aus dem Internet heruntergeladen hatte. Darin wurde ein M ä d c h e n aufgefordert, sich im Büro eines Pornofilmproduzenten nackt auszuziehen, w ä h r e n d sie von der anderen Seite des Spiegels dabei beobachtet wurde. Hinter dem Spiegel ist jemand, der mich beobachtet, ganz bestimmt. Das hier ist eine Fleischbeschau: Sie schätzen die Ware, bevor sie den Zuschlag geben. »Professor Blanes ist nicht hier.« Cassimir hatte zwei Sorten Unterlagen hervorgeholt, ein Stapel war blau, der andere weiß. » D o c h sobald Sie das hier gelesen und unterschrieben haben, w i r d er zu uns stoßen. Hier sind die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Lesen Sie alles sorgfältig durch, denn es gibt einige Dinge, die w i r nicht im Vorhinein m i t Ihnen klären konnten. U n d fragen Sie bitte, falls etwas unklar ist. M ö c h t e n Sie einen Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk?« »Nein, danke.« »Wie sagt man das auf Spanisch, Erfrischungsgetränk oder Erfrischungstrank?«, wollte Cassimir dann gut gelaunt wissen. Und als Elisa den Unterschied erklärte, setzte er verschmitzt hinzu: » M a n c h m a l komme ich durcheinander.« Die Unterlagen waren in einem perfekten Spanisch verfasst.
Die weißen trugen die Überschrift >Arbeitsbedingungenklassifiziertes M a t e r i a l geht, ist unser Prozedere genauso üblich. Noch Fragen?« Elisa dachte einen Moment nach. In ihrer inneren Wahrnehm u n g blitzten das Gesicht Javier Maldonados u n d der Klang seiner Stimme auf. Guter Journalismus besteht nun mal aus lauter sorgfältig zusammengetragenen
Einzelinformationen.
Dieses
Schwein'. Aber dann beruhigte sie sich wieder. Er hat nur seine Arbeit getan. Und jetzt muss ich meine tun. »Können Sie m i r wenigstens sagen, ob ich in Zürich bleiben werde?« »Nein, Sie werden nicht hier bleiben. Sobald Sie unterschrieben haben, werden Sie an einen anderen Ort gebracht. Haben Sie nicht die Einleitung des Schriftsatzes Isolation u n d Geheimhaltung< gelesen?« »Die zweite blaue Seite«, half ihr Cassimir auf die Sprünge u n d beteiligte sich erstmals wieder an dem Gespräch. »Die Isolation w i r d vollständig sein«, sagte Harrison. »Sämtliche Telefonate und sämtliche Außenkontakte, ganz gleich, über welches Kommunikationsmedium, werden gefiltert. Für die A u ßenwelt, auch für Angehörige u n d Freunde, sind Sie weiterhin in Zürich. Und um alles, was sich an unvorhersehbaren Ereignissen aus dieser Situation ergibt, kümmern w i r uns. Das heißt, Sie brauchen sich keine Sorgen darüber zu machen, ob Ihnen beispielsweise Ihre Angehörigen oder Freunde einen Überraschungsbesuch abstatten und dann feststellen, dass Sie gar nicht hier sind. D a r u m kümmern w i r uns.« »Wen meinen Sie m i t >wir