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Der Roman von Terry Bisson nach dem Drehbuch von Luc Besson & Robert Mark Kamen, basierend auf einer Geschichte von Luc Besson
DAS FÜNFTE ELEMENT Ein Film von Luc Besson
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/11515 Titel der Originalausgabe THE FIFTH ELEMENT Weitere Informationen zum Film: http://www.gaumont.com Redaktion: Werner Heilmann 3. Auflage
THE FIFTH ELEMENT © GAUMONT 1997 The Fifth Element ™ Gaumont 1997 Pocket 1997 for the Novelization Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlag- und Innenillustrationen: © Gaumont 1997 Mit freundlicher Genehmigung der Tobis Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-12891-5
Alle fünftausend Jahre öffnet sich ein Tor zwischen den Dimensionen. In einer existiert unser Universum und die Vielfalt des Lebens. In der anderen lauert ein Element, das nicht aus Wasser, Erde, Feuer oder Luft besteht, sondern aus AntiEnergie, dem Gegensatz des Lebens. Diese dunkle Macht wartet geduldig auf eine Chance, alles Licht und Leben auszulöschen. Alle fünftausend Jahre braucht das Universum darum einen Helden – aber der ist im New York des 23. Jahrhunderts schwer zu finden! »Das fünfte Element«, eine zeitlose Geschichte um Liebe und den Kampf ums Überleben, um Helden und Feinde, Gut und Böse, spielt in einem uns seltsam vertrauten und doch erschreckend anderen 23. Jahrhundert. In den Hauptrollen sind Bruce Willis, Gary Oldman, Ian Holm und Milla Jovovich zu sehen. Buch und Regie von »Das fünfte Element« stammen von Luc Besson.
1
Man schrieb das Jahr 1913, und »der Krieg, der alle Kriege beenden sollte«, der Erste Weltkrieg, hatte noch nicht begonnen. Allerdings waren einige andere Kriege im Gange. Im Krieg der Wüste gegen den Nil wurden wie seit Urzeiten am Rande des Sandmeeres, wo die Dörfer auf die Dünen stießen, erbitterte Schlachten ausgefochten. In einem Jahr blieb auf dem Schlachtfeld ein wenig mehr Sand zurück, im folgenden ein wenig mehr fruchtbarer Boden. Der Krieg der Tiere gegen die Menschen wurde von einem Maultier geführt, das einen Knaben auf dem Rücken trug und langsam auf seinem Weg in die Wüste dahintrottete. Es entfernte sich von den Feldern, die zum Dorf gehörten, und schließlich wurde das Maultier langsamer und langsamer, bis der Junge es mit dem Stock zwischen die Ohren schlug und so im Krieg eine vorübergehende Überlegenheit gewann. »Lauf«, sagte Omar in der Mundart der Eingeborenen, die so alt war wie die Grabstätten, die sich im Umland erhoben. »Aber nicht zu schnell«, fügte er hinzu. Der Junge kämpfte in einem ganz eigenen Krieg – im ewigen Krieg der Jugend gegen das Alter. Er war geschickt geworden, um Wasser zu holen, und er hatte es keineswegs eilig, zurückzukehren und sich von den Erwachsenen wieder herumstoßen zu lassen. Unterdessen kündigten sich andere, schlimmere Kriege an, von denen Junge und Maultier nichts wissen konnten.
Der Pfad schlängelte sich zwischen den Dünen entlang hinaus in die Wüste. Die Sonne brannte heiß auf verstreute, namenlose Ruinen herab. Im Laufe der Jahre tauchten die uralten Gräber und Tempel auf und verschwanden wieder wie Steine am Strand im Wechsel von Ebbe und Flut, bedeckt und wieder freigelegt von unablässig wanderndem Sand. Manchmal schien es Omar, als seien es in Wirklichkeit die Ruinen und nicht die Sandmassen, die sich bewegten. Die ewige Wüste kam ihm dauerhafter vor als die Gräber und Tempel, die dank der Launen der Elemente auftauchten und wieder verschwanden. Omar ritt am Fort T des Professors vorbei. Der Wagen steckte bis zur Oberkante der Reifen im Sand. Heute, später am Tag, würde sein Onkel mit einem Kamel kommen und das Auto freischleppen. Das würde natürlich einiges kosten. Das Maultier Omars stapfte auf dem Grund des Wadi entlang, dann mühte es sich einen Hang hinauf, der zur neuen Grabstätte führte. Selbst aus der Ferne war es ein beeindruckendes Bauwerk. Omar hatte ein Gebäude dieser Art noch nie gesehen. Sein Onkel hatte ihm erzählt, es sei früher schon mehrmals aus dem Sand aufgetaucht, aber die Grabräuber hätten es ignoriert, weil es dort keine Schätze zu holen gab. »Das taugt nicht für uns«, hatte der Onkel gesagt. Der Onkel Omars war ein Grabräuber. Zuerst raubten die Menschen aus der Gegend das Gold aus den Grabstätten und Tempeln. Dann kamen die Europäer und eigneten sich etwas an, das sie wissenschaftliche Erkenntnisse nannten. Omar wurde nicht schlau aus den Europäern. Sie kamen ihm eher wie Knaben denn wie Männer vor. Manchmal waren sie grausam die Knaben, konnten aber ebenso schnell wieder lachen. Wie Knaben schienen sie sich nicht für Gold und Silber zu interessieren. Dagegen war der italienische Professor
angesichts der Inschriften, die er entdeckt hatte, so aufgeregt gewesen, wie ein »richtiger« Räuber es beim Anblick von goldenen Ringen oder Körben voller Edelsteine gewesen wäre. Obwohl halb im Sand begraben, war der Tempel ein eindrucksvoller Bau. Vor den großen Säulen am Eingang wirkten die beiden Jungen, die draußen im Sand standen, wie Zwerge. Sie hatten Spiegel in den Händen und lenkten das Sonnenlicht ins Innere des Tempels um. Ein alter Trick der Grabräuber. Die Jungen winkten Omar zu, als er an ihnen vorbeiritt. »Wasser!« riefen sie, und Omar hielt an, um ihnen ein paar Tropfen aus dem Ziegenlederschlauch zu geben. »Ihr seid überhaupt nicht durstig«, sagte er. »Euch ist bloß langweilig. Dabei könnt ihr froh sein, daß ihr Arbeit habt.« »Nun hör bloß auf, den weisen Sahib zu spielen«, meinte Mahmoud, der den größeren Spiegel hielt. »Du bist doch nur ein kleiner Wasserträger.« Omar beschloß, die Beleidigung kommentarlos zu übergehen. Er ließ das Maultier im Schatten zurück und lief in den Tempel. Omar wußte, daß der Professor und sein amerikanischer Assistent Billy Durst hatten. Die Ausländer brauchten immer viel Wasser. Das Licht der Spiegel vor dem Eingang erhellte einen langgestreckten Gang. Omar hielt sich dicht an der Wand, um den Lichtstrahl nicht zu unterbrechen. Am Ende des Ganges hielt ein weiterer Junge wieder einen Spiegel. Dieser Junge mußte den Lichtstrahl ins Innere des Tempels umlenken und dafür sorgen, daß der Professor und der junge Amerikaner in der großen Grabkammer etwas sehen konnten. Aber der Junge taugte nicht viel. Er nickte gerade ein, der Kopf war ihm schon auf die Brust gesunken. Wahrscheinlich war er im Zwielicht und von der schlechten Luft schläfrig
geworden, vielleicht auch vom monotonen Vortrag des italienischen Archäologen, der seinem amerikanischen Assistenten die Hieroglyphen erklärte, die an der hinteren Wand der großen Grabkammer zu sehen waren. »He, Aziz!« Die Stimme des Professors hallte laut durch die Kammer. Der Junge fuhr auf, und der Strahl seines Spiegels fuhr durch die Grabkammer wie ein Blitz bei einem Gewitter. »Du solltest wirklich besser aufpassen!« rief Professor Pacoli. »Ja, wirklich, Aziz«, flüsterte Omar. Er blieb im Eingang der Kammer stehen und genoß den letzten Moment in Freiheit, bevor die Erwachsenen ihn entdeckten. Außerdem war er wie verzaubert vom Anblick der Kammer und der hinteren Wand, die mit Zeichnungen bedeckt war. Im Halbdunkel sahen sie aus wie Schriftzeichen, doch wenn sie von einem Lichtstrahl getroffen wurden, schienen sie wie durch einen Zauber aus sich selbst heraus zu erstrahlen, voller Verheißung, voller Macht. Der Professor stand auf einer wackligen Leiter und deutete auf die verschiedenen Symbole, während Billy, der junge Amerikaner, sie in seinem Skizzenblock aufzeichnete. Omar mochte Billy. Er sah ihm gern bei der Arbeit zu. Billy konnte zeichnen, ohne kaum einen Blick auf den Skizzenblock zu werfen. Trotzdem waren seine Zeichnungen fast so perfekt wie die Photographien, die Omar in einer Zeitschrift aus Kairo gesehen hatte. Omar überlegte sich, daß die Wissenschaftler, die alles liebten, was neu war, sicherlich gern solche Photographien gemacht hätten, daß aber das Licht im Tempel dafür zu düster war.
Schließlich hob er den Ziegenlederschlauch auf und wollte gerade eintreten, als er eine knochige Hand auf der Schulter spürte. Er fuhr vor Schreck zusammen. Dann drehte er sich um und sah eine gebrechliche, vertraute Gestalt. Omar kannte den alten Priester gut. Er lebte schon seit Jahren am Rande der Wüste. Er war kein richtiger Europäer, aber er war auch kein richtiger Ägypter. Der Priester nahm Omar sanft einen Wasserschlauch von der Schulter. »Ich bringe es ihnen, mein Sohn.« Omar nickte und ließ den Wasserschlauch los. Der alte Priester machte ihn nervös, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. »Gehe mit Gott«, sagte der Priester und schlug vor der Stirn des Jungen ein Kreuz. Dann ließ der Alte den Knaben stehen und ging mit dem Wasserschlauch zur Leiter, wo der italienische Professor gerade Zeichen um Zeichen die Schrift untersuchte: »… wenn die drei Planeten in Konjunktion sind«, sagte der Professor, während er die Finger leicht über die uralten Symbole gleiten ließ, als ertastete er einen Text in Blindenschrift, »dann wird das schwarze Loch wie eine Tür geöffnet werden. Das Böse wird kommen… und Schrecken und Entsetzen verbreiten!« Er hob den Arm und deutete auf das Abbild einer Schlange, die sich zwischen drei Planeten hindurchwand. Die Leiter schwankte und wäre fast umgekippt. »Sehen Sie, Billy?« sagte er zu dem jungen Mann mit dem Skizzenblock. »Die Schlange, Billy. Vergessen Sie ja nicht, die Schlange abzuzeichnen! Der Inbegriff des Bösen. Haben Sie auch ganz bestimmt die Schlange?«
Billy zeichnete, ohne aufs Papier zu schauen. Seine Hand bewegte sich rasch, die Striche kamen ohne Zögern. »Und wann soll dieser große Auftritt der Schlange nun stattfinden?« fragte Billy trocken. Der Professor ignorierte den sarkastischen Ton. Er drehte sich wieder zur Wand um und fuhr mit den Fingern über die Inschrift. »Wenn dies hier die Fünf ist und das dort die Tausenderstelle… alle fünftausend Jahre!« »Dann haben wir ja noch etwas Zeit«, bemerkte Billy. Der alte Priester hielt auf halbem Wege mitten in der Kammer inne. Er zuckte zusammen, als er die ironische Bemerkung des jungen Amerikaners vernahm. Wenn der wüßte! Einen Moment lang war der Priester unsicher, was er tun sollte. Der junge Mann hatte ja keine Ahnung. Und Unwissenheit war eine Art von Unschuld. Er wußte es einfach nicht besser. Dann aber hörte der alte Priester die Worte des Professors, der mit schleppender Stimme den Rest der Inschrift vorlas: »›Also sehen wir hier zwischen den verschiedenen Völkern‹ – oder besser, zwischen den Symbolen der Völker – ›die vier Elemente des Lebens versammelt: Wasser, Feuer, Erde, Luft…‹« Die Finger des Professors hielten über einem fünften Symbol inne, das einem Menschen ähnlich sah. »Angeordnet rings um ein fünftes – ein fünftes Element.« Und der Priester wußte, daß er jetzt endlich tun mußte, was er schon längst hätte tun sollen. Er zog das alte Fläschchen aus der Tasche seines groben schwarzen Umhangs, schraubte es auf und zuckte zusammen, als ihm der scharfe Geruch des trockenen Pulvers in die Nase stieg.
Vorsichtig öffnete er den Wasserschlauch, während der Professor seine Deutung fortsetzte: »Es sieht aus, als hätten all diese Völker einen Teil ihrer selbst abgegeben, damit dieses Wesen entstehen konnte…« »Herr, vergib mir«, flüsterte der Priester, während er das Pulver aus dem Fläschchen in den Wasserschlauch schüttete. »Sie wissen schon zuviel. Viel, viel zuviel.« Der Professor sprach erregt weiter, die Finger auf die Zeichnung gelegt. »… ein Wesen, in dem die Geschichte des ganzen Universums konzentriert ist. Die ganze Kraft und alle Hoffnungen… um uns vor dem Bösen zu schützen…« »Amen«, sagte der alte Priester und füllte eine Blechtasse aus dem Wasserschlauch. Der Professor blickte hinunter und bemerkte erst jetzt den Priester, der unter der Leiter stand. »Vater«, sagte er. »Wir haben einen ganz außergewöhnlichen Fund gemacht! Die größte Entdeckung der Geschichte. Sehen Sie sich das nur an…« Der Priester nickte bedächtig. Von den eigenen Worten mitgerissen, senkte der Professor die Stimme und sprach rhythmisch weiter, als rezitierte er ein Gebet: »Hier ist der Gott, dort ist das Böse. Und hier…« Er deutete auf die Symbole der vier Elemente, die um die zentrale Figur angeordnet waren. »Eine Waffe gegen das Böse! Erstaunlich! Ich werde berühmt!« »Dann lassen Sie uns auf Ihren Ruhm anstoßen«, sagte der Priester. »Hier, Billy…« Er reichte dem jungen Zeichner die Tasse und schenkte eine weitere für den Professor ein. Billy begann schon zu trinken, während der Professor noch die Leiter herunterstieg.
»Trinken Sie«, sagte der Priester, indem er dem Professor die zweite Tasse gab. Der Professor hob sie zum Toast. »Auf den Ruhm! Zum Wohlsein…« Dann hielt er inne. Er ließ die Tasse sinken, ohne einen Schluck getan zu haben. »Billy! In meinem Rucksack – der Grappa!« Der Priester sah voller Entsetzen, wie der Professor das Wasser auf den Fußboden des Tempels kippte. Billy trank seine Tasse aus und lief den Gang hinaus. Ein angemessener Beginn, dachte der Priester betrübt. Ich habe den Unschuldigen getötet! Nicht übel, dachte Billy. Normalerweise schmeckte das Wasser aus dem Ziegenschlauch ein wenig zu sehr nach… nun ja, nach Ziege, um ihm zu munden. Dieser Trunk war süß gewesen. Vielleicht hatte Omar, der Wasserträger, das Wasser aus einem anderen Brunnen geholt. Oder dieser Schlauch war nicht ganz so schmutzig gewesen wie die anderen zuvor. Egal, dachte Billy, während er durch den langen Gang eilte, der nach draußen in den grellen Sonnenschein der Wüste führte. Er schirmte die Augen ab, um sich vor dem gleißenden Licht des Spiegels zu schützen. Halb den Gang hinunter fand er den Rucksack des Professors. Er bückte sich und wollte ihn gerade öffnen, als er ein gedämpftes Geräusch hörte. Gleichzeitig veränderte sich das Licht. Draußen vor dem Tempel war etwas im Gange. Ob plötzlich ein Sturm aufgezogen war? Unmöglich, dachte Billy. Es gab in dieser Gegend keine plötzlich aufziehenden Stürme. Ägypten war nicht Indiana, wo sich innerhalb weniger Minuten ein Gewitter zusammenbrauen und entladen konnte.
Hier herrschte eine unerbittliche Hitze, und die wenigen Wolken, die zu sehen waren, zogen stets hoch am Himmel vorbei, als fürchteten sie, die Menschen könnten sie vom Himmel pflücken und die Feuchtigkeit aus ihnen herausquetschen. Billy war benommen. Waren das Blitze? War das Donner? Die anfänglich gedämpften Geräusche wurden lauter. Der Assistent öffnete den Reißverschluß des Rucksacks. Obenauf lag die Maschinenpistole, die der Professor auf Wunsch des Konsulats mitführte. Es war eines der ersten Modelle dieser vor kurzem erfundenen Waffe. Der Professor, der Waffen haßte, hatte sie zwar geladen, dann aber im Rucksack zurückgelassen. Unter der Waffe fand Billy den Grappa. Die Flasche hatte seit dem Morgen über anderthalb Zoll ihres Inhalts verloren. Billy hatte den Verdacht, daß der Professor die Übersetzung der Hieroglyphen mit Hilfe des Alkohols gelegentlich etwas flüssiger gestaltete. Ach, was soll’s, dachte Billy. In ein paar Monaten würde er in sein heimatliches Indiana zurückkehren, falls nicht… Aber warum war ihm so schwindlig? Der Eingang des Tempels war jetzt völlig dunkel, und der vermeintliche Donner wurde immer lauter. Dann hörten die Geräusche auf. Billy schlich näher zum Ausgang. Die Jungen, die die Spiegel gehalten hatten, starrten wie betäubt nach oben. Billy blickte hinauf. Ein gewaltiges Schiff aus glitzerndem Metall ruhte hochkant vor ihm auf dem Heck. In der Seite des Schiffs wurde eine Tür geöffnet. Was herauskam, war – nicht menschlich.
»Diese vollkommene Person«, las der Professor, »dieses perfekte Wesen…« Er wandte sich an den alten Priester, der die Augen geschlossen und die Fingerspitzen zusammengelegt hatte, als wollte er einen Kirchturm nachbilden. »Ich weiß, daß dies hier der Schlüssel ist«, sagte der Professor, »aber ich verstehe es noch nicht. Vollkommen?« »Vollkommen heißt vollkommen«, stimmte der Priester zu. Die Jungen rannten schreiend in die Dünen davon. Billy lief in die Schatten im Tempeleingang zurück. Er wußte nicht, warum er rannte – ob um sein Leben, seine geistige Gesundheit oder seinen Skizzenblock, den er neben dem Rucksack des Professors zurückgelassen hatte. Als er sich bückte, um ihn wieder an sich zu nehmen, hörte er hinter sich im Gang Schritte. Wer sie auch waren, sie kamen in den Tempel! Billy drückte sich gegen die Wand und versteckte sich in den Schatten, während eine Reihe von Gestalten rasch vorbeizog. Sie schienen langsam zu gehen, und doch waren sie so schnell vorbei, als befänden sie sich auf einer anderen Zeitebene. In glänzenden Metallrüstungen gekleidet, kamen sie ihm vor wie klobige, aufrecht laufende Schildkröten, obgleich sie sich fließend mit überraschender Geschwindigkeit bewegten. Sie schienen keine Köpfe zu haben – aber dann sah Billy die kleinen, vogelähnlichen Köpfe, die direkt auf den wuchtigen Oberkörpern saßen. Billy griff in den Rucksack des Professors. Seine Fingerspitzen kribbelten. Er fühlte sich benommen. Ob das alles nur ein Alptraum war? Der Traum verwandelte sich in harsche Realität, als er die Finger um den Kolben der Maschinenpistole legte.
»Und dieses göttliche Licht, das in den Hieroglyphen erwähnt wird«, sagte der Professor. »Was ist ein göttliches Licht?« In diesem Augenblick, fast wie auf ein Stichwort, wurde es in der Grabkammer dunkel. Ein dröhnendes Rumpeln war zu hören. Die Wände des Tempels bebten. »Aziz!« rief der Professor, ohne sich umzudrehen. »Licht!« Plötzlich war die Kammer von Licht erfüllt. »Viel besser«, sagte der Professor, der unbeeindruckt auf der Leiter stand. »Danke, Aziz.« Er fuhr fort, die Symbole auf der Wand zu lesen. Das Licht war stärker denn je und enthüllte neue Details der Inschriften. »Vater, das ist wirklich eine ganz unglaubliche Entdeckung«, sagte der Professor. »Meinen Sie nicht…« Der Professor drehte sich um und erkannte, warum der Priester ihm nicht antwortete. Der alte Mann kniete vor einem großen Ding, das beinahe aussah wie ein Mann. Aber nur beinahe. Es war zwei Meter vierzig groß und breit wie ein Bär. Und es trug eine Rüstung. »… auch?« beendete der Professor den Satz. Währenddessen packten ihn zwei starke Hände (die keine richtigen Hände waren) unter den Armen und hoben ihn von der Leiter. »Sind Sie Deutscher?« fragte der Professor, während er hilflos mit den Beinen zappelte. Er bekam keine Antwort. »Sprechen Sie deutsch?« keuchte er. Immer noch keine Antwort. Wo ist nur Billy abgeblieben? Der Professor sah sich schreckerfüllt um. Ein Dutzend weitere Dinger standen ringsum an den Wänden und hielten glühende Kugeln hoch, die die Grabkammer erhellten. Der alte Priester lag flach auf dem Boden. Der Professor hatte schon immer angenommen, daß er einer christlichen Religion
angehörte – der koptischen vielleicht oder einer dieser seltsamen Sekten, die es in Wüstengebieten gab. Doch schien er die Anführer dieser Dinger anzubeten, die neben ihm standen. Er redete mit ihnen…
»O Herr«, sprach der Priester, »er stand kurz davor, alles zu entdecken. Aber noch hätte ich mir zu helfen gewußt.« Er lag auf dem kalten Steinboden und blickte zum Kommandanten der Mondoshawan hoch. Der Mondoshawan streckte den Arm aus und half dem alten Priester auf die Beine. Seine Stimme war tief, aber überraschend sanft. »Diener«, sagte er, »du hast wie tausende Wächter vor dir deine Arbeit gut gemacht. Aber es wird Krieg geben.« »Krieg?« Der Priester schauderte. Ein leichtes, abwesendes Nicken. »Wir müssen sie in Sicherheit bringen…« »Wer muß sicher sein? Was muß sicher sein?« fragte der Professor, während er vergeblich versuchte, den schrillen Ton seiner Stimme zu bändigen. Es war überraschend, wie wenig würdevoll man sich fühlte, wenn man nicht mit den Füßen auf dem Boden stand. Der Anführer der Dinger antwortete ihm nicht. Statt dessen ging er zu der Wand, die mit Hieroglyphen bedeckt war, und fuhr mit der Hand über die glatte Fläche, als suchte er eine Öffnung. Dort konnte es keine Öffnung geben. Das war unmöglich. Doch es gab sie. »Unglaublich!« schnaufte der Professor, als das Ding einen Metallfinger in die Öffnung steckte. Die Wand schien zu stöhnen, knirschend rutschte Stein über Sand, und eine Tür tat sich auf.
Die beiden Dinger, die ihn festgehalten hatten, stellten den Professor auf die Beine. Noch während er sich bemühte, das Gleichgewicht wiederzufinden, trat der Anführer durch die Tür und winkte den anderen, ihm zu folgen. Der alte Priester zögerte einen Moment, dann ging er hinter dem Anführer durch die Öffnung. Der Professor wollte ebenfalls folgen, doch da strich ihm eines der großen Dinger, die draußen zurückgeblieben waren, mit der riesigen Metallhand leicht über den Kopf. Sanft war die Berührung, wie bei einem frommen Wunsch oder beim Wirken eines Zaubers. Der Professor sank bewußtlos zu Boden.
Der alte Priester hatte den inneren Raum noch nie betreten. Er war nicht mit dem schweren rötlichen Stein ausgekleidet, aus dem die äußeren Kammern des Tempels bestanden. Hier waren die Wände glatt und hell wie polierter Marmor. Sie liefen oben zusammen und bildeten eine spitze Pyramide mit vier Seitenflächen. In jeder Ecke lag auf einem Podest je ein rechteckiger, dreißig Zentimeter großer Stein, der jeweils in einer anderen Farbe glühte: rot, grün, blau und gelb. In Zentrum des Raumes stand ein durchsichtiger Sarkophag, der auf einem niedrigen Altar ruhte. Der Anführer der Mondoshawan blieb vor dem Altar stehen und betrachtete andächtig den Sarkophag, als wollte er bekräftigen, daß selbst die Götter eigene Götter haben. Der alte Priester trat neben ihn. »Das fünfte Element«, flüsterte der Priester. Er sagte es leise, als spräche er ein Gebet. Der Anführer der Mondoshawan nickte und verzog das Gesicht zu etwas, das ein Lächeln sein konnte.
Er nahm von einem seiner Untergebenen einen Kasten entgegen. Der Behälter sah aus wie ein einfacher Aktenkoffer aus Aluminium, schien aber warm zu sein. Behutsam öffnete er den Deckel und hielt den Kasten vor sich hoch. Vier Mondoshawan traten in die vier Ecken des Raumes und brachten ihrem Anführer die vier leuchtenden Steine, einen nach dem anderen. Die Steine paßten fugenlos in den Kasten. »Kommandant…« Der Anführer schloß den Kasten und sah den Priester an, ohne ein Wort zu sagen. »Nimmst du die Waffe mit, werden wir ohne Verteidigung sein, wenn das Böse zurückkehrt«, sagte der Priester. Der Mondoshawan nickte. »Wenn das Böse zurückkehrt, werden auch wir zur Stelle sein.« Der Priester senkte den Kopf und schlug die Augen nieder. »Hände hoch!« Die Stimme kam von der Tür. Der alte Priester drehte sich um. Es war Billy, der junge Assistent des Professors. Der Zeichner. Doch statt wie gewohnt mit Skizzenblock und Bleistift, war er jetzt mit einer gefährlich aussehenden Waffe ausgerüstet. »Niemand bewegt sich!« rief Billy. Er schwankte in den Raum, als wäre er betrunken. Nur der alte Priester wußte, daß er taumelte, weil das Gift zu wirken begann, das er mit dem Wasser zu sich genommen hatte. »Niemand bewegt sich!« rief Billy noch einmal. »Ich warne euch. Ich habe eine Maschinenpistole. Und ich weiß, wie man damit umgeht. Laßt den alten Priester gehen!« Er glaubt, er müßte mich retten, dachte der Priester erstaunt. Dabei trachte ich ihm nach dem Leben! Er stürzte durch den Raum zu dem jungen Mann hin.
»Nein, mein Sohn!« rief er. »Die Mondoshawan sind unsere Freunde. Sie kommen in Frieden. Lassen Sie das Gewehr fallen!« »Freunde?« sagte Billy. Er deutete hinter sich zum Professor, der reglos auf dem Boden der äußeren Kammer lag. »Sie haben den Professor umgebracht. Sie sind Ungeheuer!« »Nein, Billy.« Der Priester bewegte sich langsamer. Der junge Mann taumelte hin und her, der Lauf der Maschinenpistole schwankte gefährlich. Der Priester streckte die Hand aus. »Vertrauen Sie mir!« sagte er so überzeugend, wie er es vermochte. »Legen Sie die Waffe weg!« Aber die langsamen Bewegungen des alten Priesters schienen Billy eher zu erschrecken als zu beruhigen. Er wich zurück. »Nein. Sie sind einer von denen! Sie…« Er stolperte, strauchelte, stürzte – und als er fiel, spuckte die Maschinenpistole, die er fest umklammert hielt, einen heißen Geschoßregen an die Decke und die Wände der inneren Kammer. Steinsplitter, vom Kugelhagel aus den Wanden geschlagen, stachen den alten Priester in die Wangen. Der Anführer der Mondoshawan, der hinter ihm stand, wurde getroffen und brach zusammen. Die anderen drängten sich sofort um ihn. Billy kippte rückwärts durch die Tür in die vordere Kammer. Mit einem lauten Knacken schlug sein Kopf auf dem Boden auf. Es war beinahe so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Billy lag bewußtlos in der vorderen Kammer. Der Priester bekreuzigte sich, dann blickte er auf. Die Tür schloß sich wieder. »Beeilt euch!« sagte er. Er rannte durch die Kammer, um den Anführer der Mondoshawan zu stützen, der mehrere Kugeln
abbekommen hatte. Blut war nicht zu sehen, aber der Priester hörte das leise Zischen der lebenswichtigen Gase, die aus dem Anzug in die trockene Wüstenluft entwichen. Der Priester versuchte, dem Anführer der Mondoshawan auf die Beine zu helfen, aber es war, als hätte er versucht, ein schweres Möbelstück zu bewegen. Der Anführer gab den Metallkasten an einen seiner Untergebenen weiter. Ein zweiter war bereits damit beschäftigt, den Sarkophag vom Altar zu nehmen und durch die sich schließende Tür hinauszutragen. »Beeilung!« wiederholte der Priester. Aber der Anführer der Mondoshawan schüttelte nur den Kopf, langsam und doch entschlossen. »Diener«, sagte er, »hier ist dein Auftrag. Halte den Tempel bereit. Gib das Wissen weiter, wie es dir gegeben wurde.« »Ich werde tun, was du befiehlst«, antwortete der Priester. »Aber nun beeile dich, bitte! Du hast noch Zeit!« Der Mondoshawan erhob sich vom Steinboden und schob den Priester durch die sich rasch schließende Tür. »Zeit ist unwichtig«, sagte er. »Nur das Leben ist wichtig.« »Aber…« Die Tür schloß sich und quetschte die Hand des Anführers ein. Der Finger, der gleichzeitig ein Schlüssel war, brach ab. Er hallte wie eine Glocke, als er draußen vor der Kammer dem Priester vor die Füße fiel.
Das Maultier blökte erschreckt und panisch. Omar versuchte, das Tier zu beruhigen. Dann wich er etwas zurück, um das riesige Schiff besser betrachten zu können. Es war dreimal so lang wie die größten Schiffe der Europäer, und es stand aufrecht im Sand.
Dann gab es ein brüllendes Geräusch von sich, und dann war es verschwunden. Langsam zuerst… und plötzlich war es weg. Benommen ging Omar hinter Aziz her in den Tempel. Der Gang war dunkel. Die Tür, die sich geöffnet hatte, war wieder verschlossen, und die Kammer sah aus, wie sie immer ausgesehen hatte. Der Spiegel lag noch dort, wo Aziz ihn fallengelassen hatte, und reflektierte das Licht der untergehenden Sonne. Eine der Kugeln, mit denen die Mondoshawan den Raum ausgeleuchtet hatten, lag noch in einer Ecke. Sie verblaßte allmählich. Dann platzte sie wie eine Seifenblase und war verschwunden. Der Professor lag, herzhaft schnarchend, auf dem Boden. Billy schien schwer verletzt zu sein, aber er atmete noch. Der alte Priester kniete vor der Wand mit den Inschriften. Er hatte die Hände zum Gebet erhoben – vielleicht war es auch eine Geste des Triumphs. Oder der Verzweiflung. Er hielt einen gekrümmten Metallfinger hoch. Oder war es ein Schlüssel? »Ich werde bereit sein, o Herr«, sagte er, »wenn das Böse zurückkehrt.« Er deutete auf die drei Sonnen, die auf der Steinwand leuchteten.
2
Genau fünfhundert Jahre später glühten die gleichen drei Sonnen auf dem digitalen Kontrollbildschirm eines Sternenschiffs der Vereinigten Föderation. Die Kraftfelder der Sonnen, berechnet von den mit Fuzzylogik arbeitenden EPROMs der Rechner im Sternenschiff und dargestellt durch Linien, trafen sich an einem ganz bestimmten Punkt in jener Leere, die man Weltraum nennt. Der Kapitän des Schiffs, der die farbenfrohe Uniform des Föderierten Raumkommandos trug, stand auf der Brücke und musterte einigermaßen besorgt den Kreuzungspunkt der Linien. Der Kontrollbildschirm war die einzige Möglichkeit, die Umgebung des Schiffes optimal wahrzunehmen, denn die Fenster der Brücke wurden von einem undurchsichtigen Energieschirm geschützt. Hinter ihm wurde eine Tür geöffnet, die sofort wieder zuglitt. General Staedert vom Zentralen Oberkommando der Föderation betrat, in der künstlichen Schwerkraft heftig mit den Armen rudernd, die Brücke. In seiner Frage kamen die ganze Arroganz und Ungeduld der Lamettaträger aus dem Hauptquartier zum Ausdruck. »Schon was herausgefunden?« »Nein, Sir«, entgegnete der Kapitän. Seiner Stimme wiederum konnte man die Vorbehalte anmerken, die alle Frontoffiziere gegenüber den Einmischungen des Hauptquartiers hatten. »Nicht einmal die Temperatur?« Der General war am Morgen von seinen Analytikern eingewiesen worden. Er
hoffte, seine Frage werde zugleich das Ausmaß seines Wissens und seiner Besorgnis vermitteln. Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Unsere Thermoanalysatoren sind gestört. Einer zeigt mehr als eine Million Grad an, der zweite minus 5000 Grad.« Staedert wandte sich an den grauhaarigen Mann, dem ein Auge tränte. Der alte Offizier vertrat den General während dessen Abwesenheit auf der Brücke. »Major Gruber?« »So was habe ich noch nie gesehen«, sagte Gruber. Es klang fast wie ein Knurren. Ein Techniker, der in der Nähe an einem Terminal beschäftigt war, unterbrach sie. »Es nimmt Gestalt an!« »Lassen Sie mal sehen«, sagte Staedert. »Schirm runter«, befahl der Kapitän. Ein Techniker fuhr mit der Fingerspitze über eine Steuertafel. Nach und nach erschienen die Sterne, während der Schirm heruntergefahren wurde. Der Kapitän und die anderen Offiziere auf der Brücke blickten in einen noch nicht kartierten Sektor der Galaxis hinaus. Und mitten in diesem Gebiet… Ein amöbenähnliches, sich bewegendes Etwas, das rotierte wie ein Wirbelsturm. Ein Zwischending zwischen einem Planeten, dem Keim eines neuen Sterns und einem Schwarzen Loch. Die sich windende und sich ständig wandelnde Gestalt beschwor in den Köpfen der Betrachter alle Schrecken des Universums herauf. Das Objekt veränderte seine Form, während es sich drehte und brodelte, spuckte und waberte, flatterte und wallte – ein entsetzlicher Klecks aus fauligem, schmierigem Grün, eiskaltem Blau, trübem Rot und giftigem Purpur. Es waren die zum Leben erwachten Farben des Todes.
Der Kapitän hatte damit gerechnet. Er selbst war es ja gewesen, der die bisher unbekannte Störung in diesem Raumsektor gemeldet hatte. Doch auch er war entsetzt und wie gelähmt, als er das groteske Objekt mit eigenen Augen sah. »Was, zum Teufel, mag das sein?« fragte er. »Schicken Sie eine Sonde raus«, sagte Staedert mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Lichtjahre entfernt, hoch droben in einem Wald von Träumen, die zum Sitz des Präsidenten der Vereinigten Föderation gehörten, war ein Rascheln zu hören. Das unverwechselbare Geräusch der Macht. Der Präsident trat ein. Er strahlte die Autorität aus, die seinem Amt entsprach. Als großer, kräftig gebauter Schwarzer war er der Nachkomme afrikanischer Vorfahren, mit dem Stiernacken eines Rugby-Verteidigers und dem stählernen Blick eines Jägers. Der Kriegsheld war in einer Zeit des Friedens in sein Amt gewählt worden, weil die Menschen sich nach den verlorengeglaubten einfachen Regeln des interstellaren Krieges zurücksehnten. Jetzt war ein neuer Konflikt ausgebrochen, auch wenn niemand wußte, worum es eigentlich ging, aus welcher Richtung die Bedrohung kam und was – wenn überhaupt – sie zu bedeuten hatte. »Verbindung mit Staedert in dreißig Sekunden«, flüsterte ein Assistent. Der Präsident nickte und setzte sich an seinen wuchtigen Schreibtisch. In seinem Büro drängten sich Uniformierte, Wissenschaftler, Sekretäre, Techniker und Berater. Mitten zwischen ihnen, beinahe unbeachtet, standen ein alter Priester in einem groben schwarzen Umhang und ein junger Novize.
Der junge Mann flüsterte dem Priester ins Ohr: »Soll ich einen Sitzplatz für Sie suchen, Vater Cornelius?« »Danke, David, mein Sohn.« An einer Wand des Raumes flammte ein Bildschirm auf, als hätte sich ein Fenster in ferne Gegenden der Galaxis geöffnet. Und so war es auch, denn auf dem Bildschirm war die Brücke eines weit entfernten Sternenschiffs zu sehen, wo auf einem ähnlichen Bildschirm das Büro des Präsidenten auftauchte.
»Der Präsident ist dran, Sir!« General Staedert sah zum Schirm, wo die Abbilder des Präsidenten und seiner Gäste zu sehen waren – gesendet zum Schiff über unendliche Weiten. »Wir haben unsere Position eingenommen, Mr. President«, sagte er. Die tiefe, sonore Stimme des Präsidenten dröhnte durch beide Räume. »Ich muß in zehn Minuten vor dem Supreme Council sprechen. Nur die Fakten, bitte, General.« »Aus den chemischen und molekularen Analysen liegen uns bisher noch keine Daten vor«, erwiderte Staedert. »Die Meßinstrumente sind wegen Überlastung ausgefallen. Wir wollen eine thermonukleare Abtastung…« Der Präsident unterbrach ihn. »Sie wollen mir damit also sagen, daß Sie nicht wissen, was es ist!« Staedert schien seltsamerweise erleichtert. »Noch nicht, Sir. Das einzige, was wir wissen, ist, daß es immer größer wird!« Einige der Gäste im Büro des Präsidenten murmelten nervös. Der alte Priester und der junge Novize sahen angespannt auf den Bildschirm. Der Präsident wandte sich an seine Mitarbeiter. »Optionen!« rief er. Es war kein Wunsch und keine Frage, es war ein Befehl.
»Warten oder Handeln«, sagte ein General und trat vor. Der Präsident wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Staedert, haben Sie Vorschläge?« Staedert überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete: »Meiner Ansicht nach, Mr. President, sollten wir erst schießen und danach die Fragen stellen. Ich habe etwas gegen ungebetene Gäste.« Der Präsident drehte seinen Stuhl herum. Die nächste Frage ging an die Wissenschaftler, die hinter den Uniformierten standen. »Gentlemen?« Die Wissenschaftler scharrten mit den Füßen und räusperten sich. Der kühnste stellte sich auf die Zehenspitzen, um Gehör zu finden. »Ich glaube, es wäre eine Dummheit, auf einen Organismus zu schießen, der lebendig zu sein scheint, ohne ihn zuvor gründlich untersucht zu haben. Außerdem gab es bis jetzt keine Anzeichen von Feindseligkeit.« Alle Offiziere, die in Hörweite waren, murmelten protestierend. Der Präsident brachte sie mit einer kaum merklichen Handbewegung zum Schweigen. »Nein…«, stimmte er zu. »Abgesehen davon, daß das Ding immer größer wird.« »Das werden Menschen auch«, erwiderte der Wissenschaftler. »Und das ist kein Grund, sie zu erschießen.« Der Präsident schien über die Antwort verärgert. »Die Sicherheit des Föderierten Territoriums hat nach wie vor die höchste Priorität«, dröhnte seine Stimme. Dann sprach er mit gedämpfter Stimme weiter und richtete das Wort wieder an die versammelten Generäle. »Ich darf doch annehmen, daß Sie mit General Staederts Einschätzung übereinstimmen?«
Sie nickten alle gleichzeitig. Abermals drehte der Präsident seinen Stuhl herum. »Also gut. Staedert?« Plötzlich ergriff jemand ganz hinten im Büro das Wort. »Mr. President?« Die Uniformierten teilten sich wie das Rote Meer, und eine kleine, aber dennoch eindrucksvolle Gestalt bewegte sich durch die Gasse nach vorn. Es war der alte Priester, ein kleiner, stämmiger Mann, der ein seltsames Silberamulett am Hals trug. Der Novize folgte respektvoll einen Schritt hinter ihm. »Ja?« fragte der Präsident. »Ich bin Cornelius«, sagte der Priester. Er trat weiter vor, um sich vorzustellen. »Vito Cornelius. Ich möchte Ihnen eine ganz andere Theorie vortragen, Mr. President.« Der Präsident schien zugleich amüsiert und gereizt ob dieser Unterbrechung. Ein Assistent beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Er gehört zur Delegation der Kirchenleute, Sir.« Der Präsident der Vereinigten Föderation, zum Hüter von 200 Milliarden menschlicher und nichtmenschlicher Geschöpfte gewählt, musterte den Mann, der seine Aufmerksamkeit beanspruchte. »Sie haben zwanzig Sekunden«, sagte er. Falls sein grimmiger Blick den Priester hatte einschüchtern sollen, dann mußte der Präsident einsehen, daß das nicht funktioniert hatte. »Stellen Sie sich einen Augenblick vor«, begann Vater Cornelius, »daß dieses Etwas nicht identifiziert werden kann, weil es nicht identifiziert werden will. Weil es das Böse ist. Das absolut Böse.« Der Präsident zuckte die Schultern. »Ein Grund mehr, es auf der Stelle abzuschießen, nicht wahr?«
Die Generäle nickten gleichzeitig, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt. Vater Cornelius schüttelte den Kopf. »Das Böse bringt nur Böses hervor, Mr. President. Wenn Sie schießen, wird es stärker.« Auf dem Bildschirm tat sich etwas. Der Präsident drehte sich wieder herum, um es sehen zu können. »Die Sonde wird in fünf Sekunden das Ziel erreichen«, verkündete ein aufgeregter Techniker auf der Brücke des Sternenschiffs. »Schild runter«, murmelte der Kapitän des Sternenschiffs, und die Finger des Technikers flogen über das Kontrollpult. Die Fenster des Sternenschiffs wurden durchsichtig, und nun war die wabernde, bunte Masse auch auf dem Bildschirm im Büro des Präsidenten sichtbar. Die Zuschauer keuchten. Dann sahen sie in atemlosen Schweigen zu, wie sich die als blinkender Lichtpunkt kenntliche Sonde ihrem Ziel weiter näherte. Und dann stöhnten sie. Die Sonde verschwand in der aufgewühlten Dunkelheit – und die seltsame, böse Masse begann heftiger zu brodeln und zu kochen denn je. »Mr. President«, rief General Staedert, »wir kommen in eine Krisensituation!« »Wachstumsrate beträgt 27 Prozent!« warf ein verängstigter Techniker ein. Aller Augen in beiden Räumen – im Büro wie auf der Brücke des Sternenschiffs – ruhten jetzt auf dem Präsidenten. Der Präsident schien verwirrt. Ohne sich wieder dem Priester zuzuwenden, sagte er höflich: »Ihre Theorie ist interessant, Vater, aber ich glaube, wir haben nicht die Zeit, näher darauf einzugehen.«
»Zeit ist unwichtig«, sagte Vater Cornelius. »Nur das Leben ist wichtig.« »Und genau deshalb wissen wir, was zu tun ist«, sagte der Präsident. »Wir müssen das Leben von ungefähr 200 Milliarden Mitbürgern beschützen.« Er drehte sich schnell herum, als wollte er das Gespräch mit dem Priester endgültig zum Abschluß bringen. »General, Sie können feuern, sobald Sie bereit sind.« Es wurde still im Raum. Der junge Novize und der alte Priester blieben stehen, wo sie waren: auf halbem Wege zwischen dem Stuhl des Präsidenten und dem Chor der Generäle. Aller Augen ruhten auf dem Bildschirm in der hinteren Wand des Büros, wo die Brücke des Sternenschiffs zu sehen war. Staedert gab seine Befehle. Jetzt war er in seinem Element. »Eine 120ZR-Rakete laden! Laser-Markierung auf das Ziel!« Während er sprach, veränderte sich etwas draußen vor den Fenstern des Sternenschiffs. Die amöbenähnliche, brodelnde, kochende Masse nahm feste Gestalt an. Sie verwandelte sich in einen Planeten, der mit einer schwarzen Kruste bedeckt war. Ein Techniker, der die Anzeigen auf einem Meßgerät beobachtete, bestätigte, was die anderen mit bloßem Auge verfolgt hatten: »Die Oberfläche des Objekts hat sich verfestigt.« Ein Wissenschaftler, der hinter den Offizieren in der zweiten Reihe stand, sprach über deren Köpfe hinweg. »Ich glaube, das Ding rechnet mit einem Angriff«, sagte er aufgeregt. »Ein solches Vorauswissen läßt auf Intelligenz schließen!« Eine andere, ruhigere Stimme antwortete ihm. Es war der Priester, der hinzufügte: »Die schrecklichste Intelligenz, die man sich nur vorstellen kann, Mr. President.«
Der Präsident zögerte einen Augenblick, wandte sich jedoch nicht vom Bildschirm ab. »Staedert?« »Ja, Sir!« Der General drehte sich zum Präsidenten um. Er war voll und ganz bei der Sache und konnte anscheinend kaum den Augenblick erwarten, in dem der Kampf beginnen würde. Der Präsident sah sich in seinem Büro um. Dort standen die Generäle, dahinter die Wissenschaftler, hier sein Assistent, dort der Priester und der Novize, die ihn geduldig beobachteten. »Ich habe Zweifel«, sagte der Präsident. »Ich nicht, Mr. President«, gab Staedert zurück. Und bevor seine Befehle widerrufen werden konnten, nickte er einem Techniker an der Kontrolltafel des Sternenschiffs zu. Der Techniker legte einen Schalter um… Grelles Licht erfüllte den Bildschirm, als die Rakete abgefeuert wurde. Das Licht schrumpfte zu einem Stecknadelkopf, während die 120ZR davonraste. Binnen weniger Augenblicke hatte sie dank des Warpantriebs Tausende von Kilometern zurückgelegt. Blinkend wechselte sie den Realraum über und verschwand wieder, während sie sich ihrem riesigen Ziel näherte. Kurz vor dem Einschlag schaltete sie vom Hyperantrieb zum Fusionsantrieb um und drang in die unheimliche schwarze Masse ein. Dem Vorbild Staederts und der Mannschaft auf dem Sternenschiff folgend, bedeckten der Präsident und sein Gefolge die Augen, um nicht von der Explosion geblendet zu werden. Es gab keine Explosion. Die Rakete drang in die schwarze Masse ein und wurde verschluckt. Es gab eine leichte Erschütterung an der Oberfläche, und dann… Nichts.
Oder beinahe nichts. Denn unmittelbar danach begann der dunkle Planet, weiter zu wachsen, und die Wachstumsrate war höher denn je zuvor. »Bereiten Sie drei Raketen für einen gemeinsamen Abschuß vor«, bellte General Staedert. »Laden Sie die 240ZR. Schutzschild auf Maximum.« »Ja, Sir«, sagte der Kapitän hinter ihm. »Staedert«, erkundigte sich der Präsident, »was geht da vor? Können Sie es zerstören?« »Ich bin gerade dabei, Mr. President.« Der General nickte, und der Techniker an der Kontrolltafel legte drei Schalter um. Wieder gab es einen Lichtblitz, jetzt aber dreimal so hell wie der erste. Dieses Mal zogen drei Lichtpunkte ihrem unheimlichen Ziel entgegen. Die Raketen flackerten zwischen den Existenzebenen hin und her, während sie, fast mit Lichtgeschwindigkeit fliegend, die Entfernung überwanden. Und auch sie wurden so mühelos und still geschluckt wie die erste Rakete. Nur, daß sich die Größe des dunklen Planeten dieses Mal auf einen Schlag verdoppelte. Einer der Wissenschaftler im Büro des Präsidenten rief erschrocken: »Der Durchmesser des Planeten hat um 200 Prozent zugenommen!« Sofort darauf meldete sich einer der Generäle zu Wort: »Und er bewegt sich auf das Schiff zu!« Das reichte dem Präsidenten. Er rollte mit seinem Stuhl zum Bildschirm und rief: »Staedert, sehen Sie zu, daß Sie sofort da rauskommen! Ich will kein Desaster. Haben Sie verstanden, Staedert?«
Staedert tat so, als hätte er ihn nicht gehört. Er wandte sich wieder an den Kapitän des Sternenschiffs. »Haben wir was Größeres als die 240?« »Nein, General.« Der Präsident, erbost darüber, daß man ihn ignorierte, rief: »Staedert, verschwinden Sie sofort! Das ist ein Befehl!« Die Lautstärke, mit welcher der Präsident jetzt sprach, aktivierte den automatischen Zoom, bis Staederts Gesicht den ganzen Bildschirm ausfüllte. Seine Stirn war feucht von Schweiß. Und da war noch etwas. Eine zähe schwarze Flüssigkeit sammelte sich in Tropfen auf seiner Stirn und begann wie Sirup langsam hinabzufließen… Staedert wollte gerade eine Hand heben, um sich die Stirn abzuwischen, als ein gewaltiger Blitz über den Bildschirm zuckte. Das lichtempfindliche System nahm den Zoom zurück. Und auf dem Bildschirm war wieder die Brücke des Sternenschiffs zu sehen. Die Offiziere beobachteten, vor Entsetzen gelähmt, wie eine Flammenzunge aus dem schwarzen Planeten hervorbrach. Sie griff nach dem Sternenschiff. Sie kam näher und näher. »Mein Gott!« rief der Präsident – und hinter ihm, mit leiserer Stimme, so daß es bei ihm nach einem Gebet und nicht nach einem entsetzten Ruf klang, flüsterte der alte Priester: »Mein Gott!«
3
»Mein Gott!« Korben Dallas fuhr im Bett hoch. Da war ein blendend helles Licht gewesen, eine gewaltige Explosion, und… Korben schauderte. Er schüttelte den Kopf. Schon wieder ein Alptraum vom Krieg. Er sah zum Wecker auf dem Nachttisch, der in diesem Augenblick zu schellen begann. »Scht!« machte Korben, schaltete den Wecker mit einem Finger ab und langte gleichzeitig nach einer Zigarette. »18. März 2413«, sagte der Wecker, »acht Uhr.« »Schon gut, schon gut«, knurrte Korben. »Miau!« machte die Katze im Flur. Dann kratzte sie an der Tür. »Ich komme ja schon«, sagte Korben. Das Telefon schellte. Daß auch immer alles gleichzeitig passieren mußte! Er hob den Telefonhörer ab, während er durch seine winzige Modulwohnung zur Tür tappte. Dabei klopfte er seine Schlafanzugjacke abwesend nach einem Feuerzeug ab. Hinter ihm machte sich das Bett inzwischen selbst. Korben war ein kräftig gebauter Mann von Mitte dreißig, mit etwas schütterem und sehr kurzem Haar. Trotz der Narben auf Gesicht und Armen, die ihn als eher abenteuerlustigen denn nachdenklichen Menschen kennzeichneten, sah er ziemlich gut aus. »Yeah?« sagte er ins Telefon, während er sich weiter nach einem Feuerzeug abklopfte.
»He, Kumpel!« sagte eine vertraute Stimme. »Finger ist hier.« Es war Korbens ältester Freund, der jetzt als Fahrdienstleiter bei der Taxifirma arbeitete. Korben drückte die verklemmte Katzentür auf, und eine kleine rote Katze kam hereingerannt. »Hallo, du süßes Biest«, sagte er. »Ich liebe dich ja auch, Major, aber so hast du mich seit der Grundausbildung nicht mehr genannt.« »Du warst nicht gemeint, Finger. Ich habe mit der Katze gesprochen.« Immer noch auf der Suche nach Feuer, öffnete Korben eine Schublade des Nachtschränkchens. Sie war voller Medaillen. Er rollte ein Dokument auf. Eine Ehrenurkunde, ausgestellt auf Major Korben Dallas. Für hervorragende Tapferkeit, die weit über… »Ach so, das hatte ich ganz vergessen«, sagte Finger. »Die kleinen Kätzchen sind dir ja lieber als die zweibeinigen.« Korben rollte ein weiteres Stück Papier auf. Ein verblichenes Foto, das ihn selbst und seine Exfrau zeigte. Wunderschön, aber beinahe wie ein Raubtier… »Wenigstens kommt die Katze immer wieder zu mir zurück«, sagte Korben. Er ließ das Foto in die Schublade fallen, wo es sich wieder zusammenrollte. Unter ein paar Kampfabzeichen fand er schließlich ein altmodisches Streichholzbriefchen. »Trauerst du immer noch diesem Flittchen hinterher?« fragte Finger. »Vergiß sie. Da draußen warten eine Million Frauen auf dich.« »Ich will keine Million«, sagte Korben. Er fummelte mit einem Streichholz herum. Es ging nicht an. »Ich will nur eine. Eine perfekte.« »Die gibt’s nicht, Kumpel.« Korben zog ein weiteres Foto aus der Schublade. Zwei Uniformierte, die vor einem Raumjäger mit Fledermausflügeln
standen. »Habe gerade ein Foto von dir in der Hand«, sagte er zu Finger. »Wie sehe ich aus?« Korben versuchte das nächste Streichholz. Es ging nicht an. »Wie ein Stück Scheiße.« »Muß ein altes Foto sein«, sagte Finger. »Paß auf…« Korben ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. Es war leer bis auf eine einsame, leere Schachtel Gemini-Kroketten. Er nahm sie in die Hand und las den Aufkleber auf dem Etikett: Gewinnen Sie eine Traumreise für zwei Personen nach Fhloston Paradise! »Ich höre«, murmelte Korben und drückte die Kühlschranktür wieder zu. »Du mußt mir deine Karre für die Halbjahresinspektion bringen«, sagte Finger. »Und zwar so bald wie möglich.« Korben ging zum winzigen Waschbecken und drehte den Kran auf. Ein Rinnsal braunen Wassers kam heraus. »Ich brauche keine Wartung«, sagte er. »Und ob.« Korben füllte eine Pfanne mit dem Brackwasser und setzte sie auf den Herd. Der Brenner entzündete sich automatisch. »Du vergißt, wer in mindestens tausend Kampfeinsätzen neben dir gesessen hat«, fuhr Finger fort. »Ich weiß doch, wie du fährst.« »Finger!« Korben erinnerte sich an seine Zigarette. Er bückte sich und zündete sie am Brenner an. »Ich fahre jetzt Taxi, keinen Raumjäger!« »Wie viele Minuspunkte brauchst du noch, ehe du die Zulassung verlierst?« »Hmm…« Korben rechnete ein paar Sekunden an seiner Lüge herum. »Mindestens dreißig.« »Du träumst wohl. Bis heute abend dann.«
Im Telefon klickte es, als Finger auflegte. Korben seufzte und legte den Hörer weg. Das Wasser kochte inzwischen. Korben ließ eine Tablette kolumbianischen Schnellkaffee hineinfallen, dann nahm er die Pfanne vom Herd und stellte sie auf den kleinen dreibeinigen Tisch. Der Brenner brannte munter weiter. Korben gab dem Herd eine Ohrfeige. Der Brenner schaltete sich ab. »Miau.« Die Katze sprang auf den Tisch. Korben stellte die Katzenschale auf den Tisch. Dann goß er die Hälfte des Schnellkaffees in seine alte, rissige Tasse. Die andere Hälfte kippte er in die Katzenschale. »Tut mir leid, Kleine, was anderes habe ich nicht.« »Miau.« Korben stieß mit der Katzenschale an. »Zum Wohl.«
4
Im Büro des Präsidenten der Vereinigten Föderation war es still. Der Bildschirm an der Wand war abgeschaltet worden und glänzte mattweiß. Draußen erhob sich die Skyline von Manhattan in den dunstigen Himmel. Nur wenige Offiziere waren noch da. Sie standen in ihren farbenfrohen Uniformen nebeneinander und nickten im Gleichtakt wie ein Schwarm Pelikane beim Fischen. Der Präsident gab sich Mühe, sie zu ignorieren. Er hatte sich über den breiten Schreibtisch gebeugt und betrachtete einen alten Skizzenblock. Der greise Priester, Vater Vito Cornelius, blätterte langsam die Seiten um. »Sie haben noch achtundvierzig Stunden«, sagte Cornelius. »So lange braucht das Ding, um sich an unsere Lebensbedingungen anzupassen.« »Und dann?« Der Präsident blickte auf. Man sah dem breiten, dunklen Gesicht an, welche Sorgen er sich machte. »Dann ist es zu spät«, sagte der Priester. »Das Ziel dieses Dings ist es nicht, um Geld oder Macht zu kämpfen. Es ist sein Ziel, das Leben auszulöschen. Alle Lebensformen.« »Aber warum?« Die kleinen Augen des alten Priesters blickten ins Leere – oder nach innen zu einem geheimnisvollen Ort in seiner Seele. »Ich wünschte, ich wüßte es.« Auf der anderen Seite des Raumes spielte ein Fensterbildschirm, der eine neue Nachricht empfangen hatte. Er wurde langsam undurchsichtig und verdeckte den Blick auf
die Taxen und die übrigen Transportmittel, die draußen zwischen den Türmen herumschwebten. »Vater, wollen Sie mir damit etwa sagen«, faßte der Präsident zusammen, »daß es nichts gibt, was dieses Ding aufhalten könnte?« »Doch, es gibt etwas.« Cornelius blickte zum Bildschirm. »Und es ist bereits unterwegs.«
Lichtjahre entfernt, in einem entlegenen Winkel der Galaxis, raste ein Sternenschiff von 1500 Meter Länge in Richtung Erde, zum Zentralplaneten der Vereinigten Föderation. Das Schiff wurde vom Frühwarnsystem erfaßt und beobachtet. Gesteuert wurde es von den Angehörigen einer Rasse, die auf der Erde kaum bekannt war. Der alte Priester aber, der versuchte, den Präsidenten so gut wie möglich aufzuklären, kannte sie sehr gut. »So sieht ein Mondoshawan aus«, sagte Vater Cornelius, als er dem Präsidenten die Zeichnung des Außerirdischen vorlegte, die Billy vor fünfhundert Jahren im Tempel angefertigt hatte. Der Präsident musterte den rundlichen, kräftigen Körper und den winzigen eckigen Kopf. »Die Mondoshawan besitzen die einzige Waffe, mit denen man das Böse, das uns angreift, besiegen kann.« »Was ist das für eine Waffe?« Cornelius blätterte weiter. »Es sind die vier Elemente – Erde, Luft, Feuer und Wasser –, die rings um das Fünfte Element angeordnet werden müssen. Das Fünfte Element ist das Höchste Wesen, ein vollkommener Krieger, der erschaffen wird, um das Leben zu schützen.«
Der Präsident betrachtete skeptisch das Blatt. Es zeigte eine menschliche Gestalt, die von einem Panzer geschützt wurde. Metallhandschuhe hielten einen Kasten, auf dem das Abzeichen der drei Sonnen eingraviert war. »Dieser Kasten enthält die Heiligen Steine. Zusammen mit dem Fünften Element bringen sie das hervor, was die Alten das Licht der Schöpfung nannten. Es ist fähig, das Leben bis zu den entferntesten Regionen des Universums zu tragen. Aber wenn das Böse hier steht…« Er deutete auf das Fünfte Element. »Was geschieht dann?« fragte der Präsident ungeduldig. Cornelius blickte auf und sah dem großen Mann in die Augen. »Dann wird Weiß zu Schwarz. Licht wird zu Dunkel. Leben zum Tod. Bis in alle Ewigkeit.« »Mr. President…« Der Präsident drehte sich um. Einer seiner Generäle hatte ein blinkendes Handy in der Hand. »Ein Raumschiff der Mondoshawan hat unsere Grenze erreicht. Es bittet um Erlaubnis, in das Gebiet der Föderation einfliegen zu dürfen.« Der Präsident sah den schmächtigen Priester an, der so ungeheuer wichtige Neuigkeiten überbracht hatte, und dann wieder die Generäle. »Ich glaube, ich sollte wohl eine Entscheidung treffen…«, begann er. »Sir!« sagte der General, während er die Hand vor die Sprechmuschel legte, »die Mondoshawan gehören nicht zur Vereinigten Föderation. Wir wissen nicht, mit welchen Absichten sie kommen. Ich empfehle ein sofortiges militärisches Abfangmanöver, bevor…« Der Präsident unterbrach ihn zornig. »Haben Sie dieses Ungeheuer gesehen, das unser Sternenschiff geschluckt hat wie ein Bonbon? Sie können mir
nicht einmal erklären, was für ein Ding das ist! Ich frage Sie nach Optionen, und Sie erzählen mir Unsinn.« Der Präsident schlug mit einer großen Faust auf den Schreibtisch. Vater Cornelius fuhr erschrocken zurück. »Geben Sie ihnen meine Erlaubnis, in unser Territorium einzufliegen. Und richten Sie ihnen freundliche Grüße aus.« Cornelius schnaufte sichtlich erleichtert. »Ich danke Ihnen, Mr. President«, flüsterte er. Dann klappte er den alten Skizzenblock zu, den er mitgebracht hatte.
5
Stellen Sie sich ein Raumschiff vor, das so groß ist wie eine kleine Stadt. Es dringt in ein Sonnensystem ein, nachdem ihm die Erlaubnis erteilt worden ist. An den Kontrollen sitzen die Ältesten der Mondoshawan, die es als ihre heilige Pflicht betrachten, das Universum vor dem Bösen zu schützen, das sich alle paar tausend Jahre manifestiert. Die Mondoshawan sind eine abgeklärte und philosophisch gereifte Rasse. Auch wenn diese Wesen auf manchen Betrachter unvorteilhaft oder gar häßlich wirken mochten, die Mondoshawan waren völlig frei von jeglicher Arglist und Falschheit, und so übte bereits ihre bloße Gegenwart auf alle Geschöpfe, denen sie begegneten, einen besänftigenden Einfluß aus. Denn hinter dem unbeholfenen Äußeren verbarg sich eine hochentwickelte Rasse, die mit sich selbst und dem Universum Frieden geschlossen hatte. Das Schiff der Mondoshawan war ein Symbol für die Größe seiner Erbauer. Es war riesig und wirkte ein wenig unbeholfen, aber dennoch stattlich, wenn es manövrierte. Vor allem strahlte es Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit aus. Aber das Schiff kam nicht allein ins Sonnensystem. In seinem Gefolge, ein wenig über und ein Stück hinter ihm, flogen zwei häßlich aussehende Kriegsschiffe, die an gefährliche Quallen erinnerten. Kriegsschiffe der Mangalore. Stellen Sie sich jetzt eine Rasse von Geschöpfen vor, die so häßlich sind, daß die Evolution ihnen die Gabe geschenkt hat,
vorübergehend ihre Gestalt zu verändern, damit sie in den Spiegel sehen können, ohne über ihren eigenen Anblick zu erschrecken. Die Mangalore hatten im Laufe der Zeit ihre Tarnfähigkeiten vervollkommnet. Jetzt benutzten sie diese Gabe, um sich vor dem Raumschiff der Mondoshawan zu verbergen. Sie verfolgten es, in der Zeit wie im Raum ein wenig hinter und über ihm bleibend, und näherten sich rasch. Der Mangalore an den Kontrollen freute sich auf den größten Triumpf, den seine Rasse je erlebt hatte. Die absolute Zerstörung. Für einen Mangalore gab es keine größere Freude als die Zerstörung von etwas, das schöner war als er selbst. Und das schloß alles andere im Universum ein. Und dieses mal wurde er sogar dafür bezahlt! Es war ein Glücksfall, ein Quell ungeheurer Freude. Er würde das Schiff der Mondoshawan von hinten und ohne Vorwarnung angreifen. Verstohlenheit zahlte sich eben aus. Beinahe sexuell erregt – Sexualität war bei den Mangalore eng mit dem Töten verbunden –, berührte er die Hebel und legte sie um. Ein Feuerstoß. Treffer. Verwirrung brach auf dem Schiff der Mondoshawan aus. Mit ihrem eigenen Tod konnten sich die Mondoshawan leicht abfinden, aber ihnen war bewußt, wie wichtig es war, die Waffe gegen das Böse der wehrlosen Erde zu übergeben. Der Mangalore feuerte wieder. Und wieder. Und noch einmal. Ein weiterer Treffer. Der letzte war der entscheidende. Das Schiff der Mondoshawan schwenkte in Richtung eines winzigen Planeten ganz in der Nähe ab.
Der Kommandant der Mondoshawan lokalisierte eine unbewohnte Gegend und blockierte die Steuerung. Die Explosion erschütterte den Himmel…
6
»Willkommen im Paradies!« Korben Dallas hielt auf dem Weg zur Tür inne. Hinter ihm entstand auf dem Bildschirm des Fernsehers eine Landschaft mit Palmen, blauem Wasser und weißem Sand. »Verdammt!« fluchte Korben halblaut. Er wünschte, er könnte sich einen Fernseher mit einem AUS-Knopf leisten. Das billige Modell (es hatte, genauer gesagt, überhaupt nichts gekostet), das in einer Ecke seiner Modulwohnung stand, schaltete sich von selbst ein, sobald irgendwo Werbung lief. Die Dinger wurden ohne Vorankündigung geliefert wie Versandhauskataloge. »Willkommen im Fhloston Paradise! Heute abend von siebzehn bis neunzehn Uhr wird Loc Rhod, der weltberühmte DJ, der Mann, dem mehr Menschen zuhören als irgendwem sonst im Universum…« Die Katze sah wie hypnotisiert zu. »… den Gewinner des Gemini Croquette Contest bekanntgeben. Zwei Tage in Fhloston Paradise winken dem glücklichen Gewinner!« »Sieh nicht den ganzen Tag fern«, sagte Korben, während er die Katze zwischen den Ohren kraulte. »Du kriegst sonst Gehirnerweichung.« Die Katze miaute abwesend, die Augen wie gebannt auf die Palmen und das blaue Wasser gerichtet. »Gemini Croquette!« prahlte der Ansager. »Die perfekte Mahlzeit für eine perfekte Welt!«
Korben öffnete die Wohnungstür und trat in eine alles andere als perfekte Welt hinaus. Auf dem Flur stand ein Mann. Eigentlich noch ein Junge. Höchstens achtzehn Jahre alt. Nicht sehr groß. Aber das Lasergewehr, das er Korben vor die Nase hielt, war ziemlich groß. Eine tödliche Waffe. Sie summte bedrohlich. »Die Kohle her, Mann!« sagte der Junge. Korben mußte sich Mühe geben, nicht zu lachen. Bargeld? Wer trug denn noch Bargeld mit sich herum? »Wartest du schon lange?« fragte er. »Lange genug!« sagte der Junge. »Geld her – oder ich blase dich in Stücke. Kohle her!« »Ja, die Kohle.« Korben betrachtete die Waffe des jungen Straßenräubers, des jungen Flurräubers, genauer gesagt. »Sag mal, ist das nicht eine Z140? Gehärtetes Titan, das Spezialmodell mit Schnellfeuerknopf?« Der Junge, der sich die Waffe vom Exfreund eines Mädchens im Nachbarhaus »ausgeborgt« hatte, musterte das Lasergewehr. »Äh…« »Weißt du«, sagte Korben freundlich, »du könntest mit diesem Ding möglicherweise jemand weh tun. Glücklicherweise ist das Gewehr aber nicht geladen.« Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht. »Wirklich nicht?« »Nein. Du mußt erst den kleinen gelben Knopf dort drücken.« Korben deutete auf einen Knopf an der Seite des Gewehrs. Der Junge drückte auf den Knopf. »Danke.« Die Z140 hörte auf zu summen. Korben griff an. Mit der rechten Hand schickte er den Jungen auf den Fußboden des Flurs, während er dem angehenden Räuber mit der linken Hand die Waffe entriß.
»Weißt du«, sagte Korben, »es ist streng verboten, so ein Ding zu besitzen.« Der Junge saß benommen am Boden. »Du könntest dir eine Menge Ärger einhandeln. Ich werde das Ding lieber für dich aufbewahren.« Korben öffnete in seiner Modulwohnung eine Schublade, in der zahlreiche ähnliche Waffen lagen. Er warf die Z140 dazu und schloß die Schublade. »Entschuldigung.« Mit einem großen Schritt stieg er über den Jungen. Hinter Korben verriegelte sich automatisch die Wohnungstür.
»Ihre Lizenzkarte, bitte.« Korben schob die Plastikkarte in den Schlitz im Armaturenbrett »seines« Taxis. Dann tippte er einige Codeziffern und Kennzahlen ein. Die Turbinen heulten auf, die Gyros summten. »Willkommen-an-Bord-Mr.-Dallas«, sagte die Roboterstimme. »Wie geht’s denn so heute morgen?« gab Korben zurück. »Gut geschlafen?« Er drückte einen Knopf im Armaturenbrett direkt unter einem Aufkleber, auf dem stand: NUR UNVERBLEITES BENZIN EINFÜLLEN. Die Garagentür glitt auf. Die Gyros summten. Die Turbinen heulten. Das Taxi bewegte sich, indem es auf einem Magnetfeld schwebte. Oder besser gesagt, das Magnetfeld verlagerte sich, und das Taxi blieb genau im Zentrum des Feldes stehen. Das lief aber im Endeffekt auf das gleiche hinaus. »Treibstoff-Stand-sechs-null-drei«, sagte das Taxi. »Antriebaktiviert.«
»Ich hatte einen gottverdammten Alptraum«, murmelte Korben. »Und damit meine ich nicht diesen bescheuerten Räuber.« Er spürte immer noch die Explosion im Kopf. Nachdem er tausend Einsätze mit Finger geflogen war, konnte er ohne weiteres beim Countdown, beim Check und beim Start reden; selbst wenn das bedeutete, daß er mit sich selbst oder mit einem dummen Chip im Taxi reden mußte. »Sie-haben-noch-fünf-Punkte-auf-Ihrer-Lizenz«, leierte der Taxichip. Früher, als die Punkte noch Strafpunkte waren, wäre das nicht schlecht gewesen. Heute wurde die Lizenz eingezogen, wenn keine Punkte mehr da waren. »Danke, daß du mich daran erinnerst«, sagte Korben. Er schaltete den Vorwärtsgang ein. Das Taxi glitt weiter, von der Rampe herunter und in den Luftraum hinaus. Der Stadtmolch, der New York im 26. Jahrhundert geworden war, tauchte vor ihm auf. Von hier oben gesehen, hoch über dem Müll, der gleich Herbstlaub zu Boden sank, war die Stadt atemberaubend schön. »Ich-wünsche-Ihnen-einen-schönen-Tag«, sagte der Taxichip. »Ja, warum eigentlich nicht?« meinte Korben, als er zwischen den funkelnden Türmen entlangschwebte, um seine erste Fuhre zu suchen.
7
Nicht sehr weit entfernt breitete sich im Büro des Präsidenten der Vereinigten Föderation drückendes Schweigen aus. Der Präsident saß sprachlos auf seinem Drehstuhl. Erst wenige Minuten zuvor hatte er die Nachricht bekommen, daß das Schiff der Mondoshawan, das auf seine Einladung hin ins System eingeflogen war, abgeschossen worden war. Vor einigen Sekunden hatte er den Priester zu sich gerufen und ihm die schlimme Neuigkeit mitgeteilt. Man sagt, Geben sei seliger als Nehmen, aber der Präsident hatte es immer für besser – oder wenigstens für einfacher – gehalten, schlechte Nachrichten zu bekommen, statt sie weitergeben zu müssen. Vater Cornelius war, als er gehört hatte, was geschehen war, lautlos auf einem Stuhl zusammengesackt. Der Novize, der David hieß, hockte wie betäubt neben ihm. Schließlich brach Cornelius das Schweigen. »Wir sind verloren«, sagte er nur. In diesem Augenblick betrat General Munro, der höchste kommandierende Offizier des Präsidenten, das Büro. Er hatte ein noch warmes Fax in der Hand. »Mr. President«, sagte er, »der Angriff ist von zwei nicht registrierten Kriegsschiffen ausgegangen.« »Alle Grenzen sperren«, befahl der Präsident. »Versetzen Sie die Streitkräfte in Alarmzustand.« »Ja, Sir.« General Munro salutierte und verließ den Raum. Der Präsident wandte ich an einen anderen Offizier, der hinter ihm stand. »Versuchen Sie, mit den Mondoshawan
Kontakt aufzunehmen«, sagte er. »Wir sind ihnen eine Erklärung schuldig.« »Ja, Sir.« »Verloren!« wiederholte Vater Cornelius. »Fünfhundert Jahre haben wir gewartet, und alles war vergebens.« Der Präsident legte eine große Hand auf die schmächtige Schulter des Priesters. »Vater, Sie sollten jetzt lieber nach Hause gehen. Sehen Sie zu, daß Sie etwas Ruhe finden.« Der Priester blickte auf. Er hatte Tränen in den Augen. »Aber die Mondoshawan… ich bin ihr Kontaktmann auf der Erde. Sie werden mich zur Rechenschaft ziehen.« »Vater«, erklärte der Präsident streng, »das ist jetzt die Aufgabe der Regierung. Ich halte Sie auf dem laufenden.« Er winkte zwei Wachtposten, die sofort kamen und dem alten Mann auf die Beine halfen. Sie begleiteten ihn hinaus, und David, der Novize, folgte ihnen. Die Tür war kaum geschlossen, als sie schon wieder geöffnet wurde. Ein Captain trat ein. »Sir, das Rettungsteam hat sich vom Absturzort des Mondoshawan-Schiffes gemeldet.« »Gibt es Überlebende?« »Technisch gesehen, ja, Sir«, sagte der Captain.
8
»Ein Arm?« General Munro folgte dem Karren der Chirurgischen Abteilung durch den Flur der Neurologischen Klinik. Er hatte Mühe, mit Dr. Mactilburgh mitzuhalten, einem Wissenschaftler in weißem Kittel, der den Karren schob. Auf dem Karren lag ein Arm, der noch im langen Metallhandschuh steckte. Die Hand hielt einen abgebrochenen Griff. »Das ist alles, was überlebt hat?« fragte Munro. »Ein paar Zellen sind noch aktiv«, sagte Dr. Mactilburgh. »Das ist mehr als genug.« General Munro betrachtete den Handschuh mit den langen, spitz zulaufenden Fingern. Er sah beinahe menschlich aus. Gewiß nicht so klobig, wie er es erwartet hätte. »Das sieht nicht gerade nach einem Mondoshawan aus«, meinte er. »Haben Sie ihn identifiziert?« »Wir haben es versucht«, sagte Mactilburgh, während er den Karren durch zwei Schwingtüren schob, dann durch ein weiteres Paar Schwingtüren, und dann durch noch eines. »Aber der Computer hat die Übersicht verloren.« »Die Übersicht verloren?« fragte Munro, der kaum Schritt halten konnte. »Nun…«, erklärte Mactilburgh, indem er die Stimme senkte, ohne auch nur einen Schritt langsamer zu gehen, »normale Menschen haben vierzig DNA-Gruppen, und das ist mehr als genug für uns, um unsere genetische Vielfalt zu erhalten. Aber das hier…«
Er schob den Karren durch eine weite Tür, und wieder mußte Munro ein paar rasche Schritte machen, um nicht den Anschluß zu verlieren. »Das hier hat 200000 solcher Bausteine!« »Das hört sich an wie… wie eine Laune der Natur«, keuchte Munro atemlos. »Ja«, bestätigte Mactilburgh. Er blieb vor der letzten Sperre stehen. Es war eine Schiebetür aus Milchglas, auf der die Worte standen. ZENTRALLABOR NEUROLOGISCHE KLINIK Er lächelte dem General kurz zu. »Ich kann es kaum erwarten, mit ihm zu sprechen.«
Das Zentrallabor erinnerte eher an einen Maschinenraum als an ein Labor. Es war ein Ort, an dem Probleme gelöst wurden und wo man mit Hilfe von Robotern experimentierte – eine eher den praktischen Erkenntnissen als der Grundlagenforschung dienende Einrichtung. Mitten im Raum stand eine große, leise summende gläserne Zentrifuge. Sie war mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt, die brodelte und blubberte. In der Flüssigkeit lag jetzt der Arm, der nach wie vor im Metallhandschuh steckte. Die Finger waren leicht gekrümmt. Es sah aus wie der letzte Gruß einer untergehenden Rasse – oder wie der erste Gruß einer Rasse, die gerade geboren wurde. Munro und Mactilburgh sollten bald herausfinden, daß beides gleichzeitig zutraf. Mactilburgh studierte die Anzeige eines Computerterminals. Für Munro, der neben ihm stand, war es nur eine lange Zahlenkolonne. Für Mactilburgh war es ein Fenster, durch das er einen genetischen Code betrachten konnte.
Einen genetischen Code, der anders war als alles, was er bisher zu sehen bekommen hatte. »Die Grundbausteine dieser DNA-Ketten sind die gleichen wie bei uns. Es sind allerdings viel mehr – vollgepackt mit unendlichen Mengen genetisch fixierten Wissens. Es kommt mir beinahe so vor, als sei dieses Wesen künstlich entworfen worden.« General Munro, der Soldat, konnte seinen Kämpferinstinkt nicht verleugnen. »Ist es gefährlich?« Mactilburgh, der Wissenschaftler, bezog die Frage auf gesundheitliche Gefährdungen. »Wir haben die Probe durch einen Zellhygieneanalysator geschickt. Die Zelle ist, mir fällt kein besseres Wort ein, perfekt.« »Okay«, sagte Munro. Der Präsident hatte ihn abgeordnet, um das Experiment zu überwachen, und er wußte, was er zu tun hatte. Er nahm den Schlüssel, den ihm die Akademie für Militärund Kulturwissenschaften gegeben hatte, und öffnete den Kasten mit dem Selbstzerstörungsmechanismus. »Machen Sie weiter«, sagte er und legte einen Finger auf den blinkenden roten Knopf. »Unser Mister Perfect sollte sich lieber ordentlich benehmen, denn sonst verwandle ich ihn in Gehacktes.« Mactilburgh nickte und legte den Schalter um, der die DNARekonstruktion in Gang setzte. Die beiden Männer sahen zu, wie die Flüssigkeit in der Zentrifuge in der Mitte des Raumes zu kreisen begann. Sie brodelte. Sie begann, Blasen zu werfen. Die Anzeige an der Seite der Zentrifuge stand auf 7 und stieg auf 8, als sich das Summen des Motors in ein hohes Pfeifen verwandelte. Dann überschritt der Ton die Grenzen des menschlichen Hörvermögens, aber dafür begannen der Boden und die Wände leicht zu zittern.
»Sehen Sie!« sagte Mactilburgh aufgeregt. Die Anzeige stand auf 9. Winzige Flocken bildeten sich in der rasch kreisenden Flüssigkeit. Sie schienen aus dem Nichts zu entstehen wie Schneeflocken vor Autoscheinwerfern. Sie tanzten und wirbelten wie die Funken eines unsichtbaren Feuers. Sie funkelten und blinkten wie Sterne und bildeten ein neues Universum, das sich in Form von Galaxien niederschlug. Der Funkenregen sank in einer Spirale nach unten wie eine Galaxis, und dann sahen die beiden Männer erstaunt, wie die Spirale die Konturen eines menschlichen Körpers annahm. Die Anzeige stand jetzt auf 10. Wo bisher nur Licht und Bewegung gewesen waren, bildeten sich jetzt Formen und feste Umrisse heraus. Zuerst weiße Knochen, dann rotes Blut und Fleisch, das sich um die Knochen legte. Adern bahnten sich einen Weg, Nerven wuchsen an den richtigen Stellen. Sehnen überzogen kreuz und quer die Muskeln und hielten sie unter Spannung, bis der Körper einem menschlichen Körper ähnlich sah. Es war, als beobachteten sie die Umkehrung eines Verwesungsprozesses – das Werden eines lebendigen Körpers. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß dieser Vorgang so – so schön ist!« sagte Mactilburgh, der gebannt vor dem Glas stand. General Munro hielt sich etwas zurück, eine Hand über dem Knopf schwebend, der den Selbstzerstörungsmechanismus auslösen konnte. Die Anzeige stieg auf 11. »Drei Sekunden bis zur UV-Blende«, sagte Mactilburghs weiß gekleideter Assistent, der auf der anderen Seite des Labors an einem Steuerpult saß. Aus der Decke fuhr ein halb durchsichtiger Schirm herunter, der den im Aufbau befindlichen Körper vor ihren Blicken abschirmte.
»Was geschieht jetzt?« wollte Munro wissen. »Das ist die entscheidende Phase«, sagte Mactilburgh. »Die Zellen werden jetzt mit leicht verunreinigten Photonen beschossen, damit der Körper reagiert.« »Was heißt das?« »Der Körper muß sich schützen«, sagte Mactilburgh. »Und das heißt, daß er sich eine Haut wachsen läßt. Raffiniert, was?« »Wundervoll«, entgegnete Munro. Doch die Hand blieb in der Nähe des Knopfes. Die Anzeige begann zu sinken. 10… 9… Der Prozeß lief aus. Dr. Mactilburgh nickte seinem Assistenten zu. Der junge Mann im weißen Kittel gab dem sprachgesteuerten Terminal leise einige Befehle. »Rekonstruktion abschließen. Reanimation starten.« Es gab ein zischendes Geräusch, als die Luft aus der Zentrifugenkammer entwich. Munros Hand wanderte wieder zu dem blinkenden Knopf des Selbstzerstörungsmechanismus. Ein Knopfdruck, und das Labor würde nicht mehr existieren. Durch den Schutzschirm war eine verschwommene Gestalt zu sehen. Die blubbernde Flüssigkeit verwandelte sich in ein Gas und stieg in Form von Dunstschwaden auf. »Aktivieren Sie das Lebenserhaltungssystem«, sagte Mactilburgh. Der Assistent drückte auf einen Knopf. Knisternde Lichtblitze zuckten durch die Kammer und darum herum. Auf Mactilburghs Kopf flogen ein paar Haarsträhnen hoch, als er von der statischen Elektrizität erfaßt wurde. »Lebenserhaltungssystem aktiviert«, meldete der Assistent.
Im Lautsprecher war ein dröhnendes Geräusch zu hören, das an die Schritte eines Riesen erinnerte. »Das ist der Herzschlag, durch die Lautsprecher verstärkt«, sagte Mactilburgh. Er drehte die Lautstärke herunter. Plötzlich begann die Gestalt in der Kammer zu zucken. Einmal, zweimal. Es war durch die milchige Schutzwand kaum zu sehen, aber die Gestalt bewegte sich, als tauchte sie aus der Dunkelheit des Nichts ins Licht der Schöpfung auf. Sie wand und drehte sich – oder war es ein Tanz? Die Bewegungen wirkten geschmeidig und anmutig. »Er lebt!« sagte Mactilburgh. »Nehmen Sie den Schutzschirm weg.« Der Helfer drückte einen weiteren Knopf, und der Schirm hob sich langsam und glitt in die Decke. Die Flüssigkeit und das Gas waren inzwischen völlig aus der Kammer verschwunden. Nur ein paar Dunstfahnen wehten noch herum. Im Labor hatte sich ein süßer, betörender Duft ausgebreitet, ähnlich dem Duft einer Wiese voller Blumen. Mactilburgh, der Assistenz und General Munro standen wie gebannt da und betrachteten staunend den gläsernen Behälter. In der Kammer war ein Mensch. Eine junge Frau. Fast noch ein Mädchen. Höchstens 18 oder 19 Jahre alt. Sie hatte hellrotes Haar und große grüne Augen. Den abgebrochenen Griff, der vorher mit dem abgetrennten Arm verbunden gewesen war, hielt sie in der Hand. Er schien zu einer Art Aktenkoffer zu gehören. Sie hatte eine perfekte Frisur, sie war wunderschön… und sie war nackt, abgesehen von ein paar strategisch verteilten Streifen Klebeband. »Ich habe es doch gesagt… einfach perfekt«, keuchte Mactilburgh und drehte sich zu Munro um.
Der General schien wie hypnotisiert. Mactilburgh schob Munros Hand sanft von dem blinkenden Knopf des Selbstzerstörungsmechanismus weg. Munro hatte nur Augen für die fast nackte Gestalt in der Kammer. »Ich würde gern ein paar Fotos machen«, sagte er. »Für das… äh, für das Archiv.« Mactilburgh drückte lächelnd auf einen Knopf, und eine Kamera rollte vor die Kammer. Das Mädchen sprang erschrocken zurück, als der Blitz ausgelöst wurde. Die grünen Augen zuckten, ihr Blick irrte im Labor umher. Sie betrachtete den abgebrochenen Griff, den sie in der Hand hielt. »Oucra cocah o dayodomo binay ouacra mo cocha ferji akba ligounai makta keratapla«, sagte sie. »Tokemata tokemata! Seno santonoiaypa! Monoi ay Cheba! Givamana seno!« »Was sagt sie da?« fragte Munro. Seine Hand schwebte schon wieder über dem Selbstzerstörungsknopf. Mactilburgh schob Munros Hand weg. »Aktivieren Sie den Sprachwandler«, sagte er zu seinem Assistenten. Das Mädchen trat gegen die Glaswand der Kammer. Mactilburghs Assistent rollte ein Gebilde mit zahlreichen Lautsprechern heran, an dem mehr Lampen blinkten als ein russischer General Orden auf der Uniform hatte. Das Mädchen trat weiter gegen das Glas. »Geben Sie ihr ein leichtes Beruhigungsmittel.« Der Assistent legte einen Schalter um. Ein zischendes Geräusch war zu hören, und Dunstschwaden wirbelten durch die Kammer. »Und geben Sie ihr was zum Anziehen…« Ein weiterer Schalter, und ein Stapel bunter Kleider fiel von oben in die Kammer. Das Mädchen schnappte sich die Kleider und sah sie stirnrunzelnd an.
»Teno akta chtaman aasi n ometka«, sagte es, während es sich ohne Eile und ohne jede Verlegenheit anzog. Munro trat etwas näher. Irgendwie fand er den Anblick des Mädchens, als es eine Hose und ein enganliegendes Oberteil anzog, sogar noch erregender als den Anblick ihrer nackten oder fast nackten Haut. »Ist das Ding stabil?« fragte er Mactilburgh. »Unzerstörbar«, meinte der Wissenschaftler. Munro lächelte das Mädchen an, das ihn böse anblickte, während es sich mit den Kleidungsstücken abmühte. »Wenn du herauswillst, mußt du eben vernünftig mit uns reden«, neckte Munro sie. Die Antwort war ein Faustschlag. Die Faust des Mädchens durchschlug das Glas glatt. Immer noch nicht vollständig angezogen, beugte sie sich aus der Kammer heraus und packte Munro an den Aufschlägen der Uniformjacke. Sie hob ihn hoch und schüttelte ihn, daß seine Medaillen rasselten. Die Alarmsirenen gingen los. Das Mädchen knallte Munro gegen die Seitenwand der Kammer und ließ ihn auf den Boden fallen. Dann griff es außen um die Kammer herum und entriegelte sie. Noch etwas wacklig auf den langen, wohlgeformten Beinen, trat es aus der Zentrifugenkammer. Die Sirenen heulten. Zwei kräftige Wachleute stürmten ins Labor. Das Mädchen schleuderte sie links und rechts an die Wände des Raumes. Mactilburgh und sein Assistent wichen in eine Ecke zurück. Mactilburghs Gesicht zeigte eine Mischung aus Schrecken und Bewunderung. Sein Assistent hatte ganz einfach nur Angst. Ein Trupp von zehn Wachleuten, ausgerüstet mit Plastikschilden und Betäubungsgewehren, stürmte ins Labor.
Sie umstellten das Mädchen. Das Mädchen musterte sie einen Augenblick, dann wich es zurück. Einen Schritt, dann noch einen. Die Wächter drangen auf das Mädchen ein. Es saß in der hinteren Ecke des Labors fest. Dann drehte es sich um und sprang durch die Wand, als bestünde sie aus Papier. »Perfekt!« schnaufte Mactilburgh, völlig unbeeindruckt von der Tatsache, daß soeben sein Labor demoliert worden war. Kein Problem, es waren ja nur Steuergelder.
9
»Ihr nach!« rief der Sicherheitschef. Sein Job stand auf dem Spiel. Er schickte seine Männer in Zweierteams durch das Loch in der Wand und wies sie an, jeden Winkel der Etage abzusuchen. Es war nur eine Frage der Zeit, daß wußte er. Das Mädchen – oder was auch immer es war – saß in der Falle. Er hatte die Aufzüge abschalten lassen, und das Zentrallabor lag im 450. Stock. »Haben wir die Genehmigung zum Angriff mit Todesfolge?« fragte einer der Wächter, während er einen Flur hinunterrannte. Sein Partner lachte. Sollte das ein Witz sein. AMT war das normale Vorgehen, wenn unautorisierte Personen in das Zentrallabor eingedrungen waren. Diese Regel galt ohnehin in allen Gebäuden Manhattans. Deshalb zögerte keiner der Männer auch nur eine Sekunde, als das Mädchen plötzlich am Ende eines Ganges auftauchte. Sie eröffneten sofort das Feuer. Das Mädchen duckte sich und blickte nach oben. In der Decke endete ein Lüftungsschacht hinter einem Gitter. Als die Wachleute die nächste Salve abfeuerten, sprang das Mädchen hoch, packte das Gitter und warf es in Richtung der Wächter. Die Männer duckten sich und feuerten blind weiter. Als sie nach dem Feuerstoß wieder die Köpfe hoben, war das Mädchen verschwunden. »Ich habe sie erwischt!« »Nein, hast du nicht. Ich habe sie erwischt.« »Keiner hat sie erwischt. Sie ist abgehauen.«
Die Wächter lugten nach oben in den Lüftungsschacht. »Nach Ihnen, mein Herr«, sagte der erste. »Nein, nach Ihnen«, sagte der zweite. In diesem Augenblick erschien der Sicherheitschef am Ort des Geschehens. Ein Blick nach oben, und er hatte erfaßt, was passiert war. »Ihr zwei da! Kommt mit!« sagte er und zog sich sofort in den Lüftungsschacht hoch. »Nach Ihnen, mein Herr.« »Nein, nach Ihnen.« »Nun kommt schon, verdammt. Wird’s bald?« Flink wie eine Katze schob sich das rothaarige Mädchen, wenn es denn eines war, durch den Lüftungsschacht und suchte nach einem Ausgang. Obwohl sich die junge Frau blitzschnell bewegte, zeigte ihr Gesicht keine Spur von Panik. Die grünen Augen waren klar, die auffällig roten Lippen zu einem kleinen Lächeln verzogen. Sie hörte hinter sich die ungeschickten Wachleute scharren und kratzen. Die Männer kamen näher. Der enge Schacht bog nach rechts ab, dann nach links. Dann ging es auf und ab. Bei jeder Kurve wurde der Schacht schmaler, bis die junge Frau erst auf allen vieren und dann sogar auf dem Bauch kriechen mußte. Sie war auf dem Bauch beinahe so schnell wie vorher auf den Beinen! Dann endete der Schacht. Ende. Aus. Finito. Ein schweres Stahlgitter. Sie konnte dahinter den blauen Himmel sehen. Sie lächelte und drückte das Gitter mit einem Tritt aus der Verankerung. Es fiel ins Bodenlose.
Sie schlüpfte durch die Öffnung und trat auf einen schmalen Sims hinaus. Der Sims war dreißig Zentimeter breit. Er zog sich rund um den 454. Stock des Central Technologies Building, das einen ganzen Block in der 55. Straße in Manhattan einnahm. Die junge Frau blickte hinab. Dort unten konnte sie Schwärme von Luftwagen und Taxen schweben und zwischen den Türmen herumschießen sehen. Und ganz unten sammelten sich der Schutt und der Müll, der Auswurf der postindustriellen Gesellschaft. Der Müll von fünfhundert Jahren, auf dem man einfach neue Häuser baute, statt ihn zu entfernen oder einzusammeln. Im Schacht kratzte und klapperte es. Schritte waren zu hören, dann atemlose Stimmen. Die junge Frau trat ein paar Schritte weiter auf den Sims hinaus. Sie ging mühelos, als hätte sie keine Angst vor der Höhe. Die grünen Augen blitzten, als sie den spektakulären Anblick Manhattans in der Mitte des dritten Jahrtausends aufnahm. Die Untergrundbahnen verliefen inzwischen sowohl vertikal als auch horizontal. Die Züge ergänzten und verbanden die altmodischen Aufzüge. Zwischen den Bürogebäuden standen die Skelette der »Regaltürme«, wo Standplätze für die Modulwohnungen vermietet wurden, die auf Wunsch des Besitzers jederzeit verlegt werden konnten. Je höher man wohnte, desto mehr mußte man zahlen. Weit, weit unten war die Straße als dünner grauer Strich zu erkennen. Dort hausten die Obdachlosen und Ausgestoßenen, die durch den Müll krochen und von den Abfällen und Resten lebten, die von oben herunterfielen. Das Gießkannenprinzip, modern umgesetzt.
Die junge Frau ließ sich nicht anmerken, ob ihr dieser Anblick neu war. Sie schien kaum hinzusehen. Sie langte in eine Tasche ihrer zu engen Kleidung und zog den abgebrochenen Griff heraus. Unschlüssig sah sie ihn an, schüttelte den Kopf und schob ihn in die Tasche zurück. Dann mußte sie den Kopf einziehen. Die Wachleute hatten sie fast eingeholt und nahmen sie wieder unter Feuer. Die Kugeln prallten von der Wand und vom Sims ab, und die junge Frau kroch um die Ecke des Gebäudes, um aus der Schußlinie zu kommen.
Ein Kopf hob sich aus dem Schacht ins Freie. Der Sicherheitschef. Er blickte hinaus, dann nach unten, wurde blaß und zog den Kopf zurück. Sofort drehte er sich zu den beiden Männern um, die hinter ihm warteten. »Folgt ihr!« Ein Wachmann steckte den Kopf hinaus. Dann eine Hand und einen Fuß. Er machte einen Schritt auf dem Sims – kehrte sofort um und kletterte in den Lüftungsschacht zurück. »Nicht mit mir«, sagte er. Dem zweiten Wachmann reichte ein einziger Blick. »Mit mir auch nicht.« Der Sicherheitschef hatte sich schon eine Reihe von Drohungen zurechtgelegt. Dann besann er sich und hob sie sich für eine bessere Gelegenheit auf. Er klappte sein Handy auf. »Wir brauchen hier ein paar flugfähige Einheiten!« schrie er.
Mit heulenden Sirenen und blinkenden Lichtern schoß zwischen den Gebäuden ein Polizeischweber herauf. Schwärme von Taxen wichen ihm aus. Der Sicherheitschef beugte sich weit genug hinaus, um den Polizisten die Richtung zu zeigen. Die Sirenen wurden abgeschaltet. Lautlos schwebte die Streife zur Ecke des Gebäudes. »Hier-spricht-die-Polizei«, sagte eine verstärkte Roboterstimme. »Wir-überprüfen-Ihre-Identität.« Was da sprach, war keineswegs ein Roboter, sondern einer der beiden Beamten im Wagen, der bei einem Fernkurs der Polizeiakademie gelernt hatte, wie ein Roboter zu sprechen. Er konnte die Verdächtige auf einem schmalen Sims stehen sehen. Eine hübsche junge Frau in heller, sehr gewagter Kleidung. »Sie ist nicht registriert«, sagte sein Partner, indem er auf dem Bildschirm des Terminals im Streifenschweber tippte. »Bitte-heben-Sie-die-Arme-und-befolgen-Sie-dieAnweisungen«, verkündete der Fahrer mit seiner besten Roboterstimme. Die junge Frau schien widerstandslos zu gehorchen. Sie lächelte und hob die Arme, stellte sich auf die Zehenspitzen, blickte 450 Stockwerke hinab und… »Allmächtiger!« schrien die Cops gleichzeitig. »Sie ist gesprungen!«
10
»Lassen Sie mich bitte da drüben raus! Am Eingang links an der Ecke.« Korben riß das Lenkrad des Taxis herum und wendete so scharf, daß die Gyros jaulten. Er unterquerte zwei Spuren fließenden Verkehrs, vermied dabei gekonnt einen Auffahrunfall, eine seitliche Karambolage und einen Frontalzusammenstoß und ignorierte gelassen die Flüche eines Kollegen. Im Straßenkorridor, hoch über der ehemaligen 44. Straße, die jetzt von einer zwanzig Fuß hohen Müllschicht bedeckt war, hielt er das Flugtaxi ruckend vor dem Eingangsportal an. »Mann«, sagte der Fahrgast, ein Geschäftsmann in türkisblauem Anzug. »Wo haben Sie bloß so fahren gelernt?« »Im letzten Krieg«, erwiderte Korben trocken. »Und in dem davor.« »Wirklich beeindruckend.« Der Fahrgast zog seine Karte durch den Schlitz, und mehrere nicht mehr sauber synchronisierte Lautsprecher schickten gleichzeitig einen kleinen Chor winziger Roboterstimmen ins Taxi: »Bitte-vergewissern-Sie-sich-daß-Sie-alleWertgegenstände…« »Besuchen-Sie-während-Ihres-Aufenthaltes-in-New-Yorkunbedingt-auch…« »Richten-Sie-etwaige-Beschwerden-bitte-an…« Der Fahrgast öffnete die Tür. »He«, sagte Korben. »Haben Sie nicht etwas vergessen?« Der Fahrgast blickte zum Sitz, von dem er gerade aufgestanden war. »Was meinen Sie?«
»Das Trinkgeld.« »Ich gebe kein Trinkgeld«, sagte der Fahrgast und trat auf die Plattform hinaus. »Das widerspricht meinen Prinzipien.« »Wundervoll«, murmelte Korben, als er mit seinem Taxi davonschoß. »Männer mit Prinzipien trifft man wirklich nicht oft.«
Korben verließ die 44. Straße und bog nach Norden ab, um den nächsten Fahrgast aufzugabeln. Taxen wurden gerufen, indem Türsteher Ballons fließen ließen, oder durch blinkende Lichter an den Pforten der großen Unternehmen. Er fuhr knapp über 400 Stockwerke hoch und suchte gerade aus den Augenwinkeln die Ausgangsplattformen ab, als ein lauter Schlag durch das ganze Taxi fuhr. Irgend etwas war aufs Dach des Taxis geknallt… Der Aufschlag ließ alle Sensoren überschnappen, und das Taxi erklärte ihm: »Sie-hatten-soeben-einen-Unfall.« »Was du nicht sagst!« murmelte Korben. Er bemühte sich, das wild bockende Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Als er sich über die Schulter umsah, zuckte er zusammen. Da war ihm jemand durch das Dach ins Taxi geknallt. Er stabilisierte die Gyros und lenkte das Taxi an die Seite, um aus dem fließenden Verkehr herauszukommen. Im Schatten einer Brustwehr hielt er an. Das Taxi rezitierte inzwischen weiter: »Vier-Punkte-wurden-prophylaktisch-von-IhremKonto-abgezogen-Sie-haben-nur-noch-einen-Punkt-auf-IhrerLizenz.« Na prima. Er seufzte und sah nach hinten, um den Schaden zu begutachten. Korben nahm an, ein »Springer« habe ihn getroffen, einer der mehr als hundert Selbstmörder, die sich jeden Tag in Manhattan von Gebäuden stürzten.
Aber wenn das ein Selbstmordversuch gewesen war, dann war er gescheitert. Die Frau, die durch das dünne Plexiflexdach des Taxis geknallt war, lag jetzt als wirres Knäuel von Armen und Beinen auf dem Rücksitz. Wundervolle Beine und Arme waren es übrigens, wie Korben sofort bemerkte. »Gibt’s Überlebende?« fragte Korben. Er hielt den Atem an. Aus den Trümmern auf dem Rücksitz rappelte sich eine junge Frau hoch. Sie war, ihm fiel kein besseres Wort ein, wunderschön. Mehr als wunderschön, um es genau zu sagen. Himmlisch. Sie hatte ein wenig Blut im Gesicht, weil sie sich die Lippe aufgeschnitten hatte, aber ansonsten schien sie erstaunlicherweise völlig unverletzt. Korben beugte sich vor und wischte ihr mit dem Ärmel das Blut ab. Die Augen waren so grün… Korben blieb das Herz stehen, und er glaubte, das Taxi drehe sich um sich selbst. Das Haar war leuchtend rot… Sie lächelte. Er hatte das Gefühl, er müßte etwas sagen. Aber was sagt man zu einem außergewöhnlich hübschen Mädchen, das gerade vom Himmel gefallen ist? »Hallo«, sagte er. »Hübsche Haare.« »Akina delutan«, erwiderte sie mit breitem Lächeln, als hätte Korben gerade etwas ausgesprochen Kluges gesagt. »Nou shan. Djela-boom!« »Bumm?« erkundigte Korben sich. »Bada Bumm«, sagte sie und klatschte die Hände zusammen. Korben sah durch das demolierte Dach seines Taxis nach oben. Ein blauer Polizeischweber näherte sich mit blinkenden Lichtern.
»Yeah«, meinte er. »Ein Riesen-Badabumm.« »SIE – HABEN – EINEN – NICHT – AUTORISIERTEN – FAHRGAST«, knurrte ihn der Streifenwagen in der abgehackten Sprache eines Roboters an, während er sich vor Korbens Taxi setzte. »WIR-WERDEN-DIE-FRAUFESTNEHMEN-BITTE-LASSEN-SIE-DIE-HÄNDE-AUFDEM-LENKRAD-DANKE-FÜR-IHREUNTERSTÜTZUNG.« Korben hatte genug Erfahrung mit den New Yorker Ordnungshütern, um zu wissen, daß sie ebenso schießwütig wie inkompetent waren. Er ließ die Hände auf dem Lenkrad, wo sie gut zu sehen waren. »Tut mir leid, Süße«, sagte er über die Schulter, »aber ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig. Wir machen lieber, was die Cops sagen.« Der Streifenwagen kam langsam näher und dockte mit Magnetverschlüssen am Taxi an. Großkalibrige Gewehre zielten aus allen Fenstern des Streifenwagens, und hinter jedem Lauf waren zwei schwarze Knopfaugen zu sehen. Cops. Die Türen des Polizeischwebers glitten auf, und ein hydraulischer Arrestrob, der mit automatischen Handschellen ausgerüstet war, tauchte auf. Er winkte. Korben fühlte sich mies. Er fühlte sich doppelt so mies, als er zum Rücksitz blickte und die Tränen in den Augen des Mädchens sah. Es waren große, wunderschöne grüne Augen. »Tut mir leid«, sagte er. Statt zu antworten, deutete sie auf einen der vielen Aufkleber, die an den Scheiben und Türen des Taxis klebten.
Dort stand die landesweit gültige Rufnummer eines Hilfswerks für Waisen. Ein Kind mit zwei flehend blickenden Augen war abgebildet, und darunter standen drei Worte: BITTE HELFEN SIE. Wollte sie ihm damit etwas sagen? »Nein!« protestierte Korben. »Bringen Sie mich nicht in diese Lage. Ich kann nicht!« Das Mädchen nickte und deutete wieder auf den Aufkleber. BITTE HELFEN SIE. »Ich habe nur noch einen Punkt auf der Lizenz, und den brauche ich, um zur Werkstatt zu kommen«, flehte Korben. »Ich muß zur Halbjahresinspektion, haben Sie das verstanden?« Das Mädchen schien zu begreifen, daß sie eine außergewöhnliche Macht über Korbens Gefühle hatte. Sie lächelte sehnsüchtig, wischte sich eine Träne aus dem Auge und deutete wieder auf den Aufkleber. BITTE HELFEN SIE. »Finger wird mich umbringen«, murmelte Korben. Er schaltete den Taxameter aus. »VIELEN-DANK-FÜR-IHRE-HILFE«, sagte die Polizei, als Korben auf den Nullschalter unter dem Armaturenbrett drückte und damit vorübergehend den Magnetverschluß deaktivierte. »Keine Ursache«, sagte Korben. Dann brachte er die Gyros auf Touren, bekam das Taxi mit einer Drehung frei und ließ den taumelnden Polizeischweber hinter sich zurück. Das Polizeifahrzeug prallte zwei Stockwerke tiefer gegen ein Gebäude. »WIR-WERDEN-ANGEGRIFFEN«, quakte der Polizeischweber, während die Steuerautomatik den Sturz abfing. »BITTEN-UM-UNTERSTÜTZUNG-NEHMENVERFOLGUNG-AUF.«
»Ein-Punkt-wurde-von-Ihrer-Lizenz-abgezogen«, sagte Korbens Taxi. »Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich damit rüberkommen würdest«, murmelte Korben. Er riß das Lenkrad herum, schoß um eine Ecke und ließ das Taxi sechs Stockwerke durchsacken, um dem Polizeischweber zu entkommen, der ihm mit blinkenden Lichtern folgte. Sein Manöver wurde mit zahlreichen Flüchen, mit Hupen und Rufen quittiert. »Sie-haben-keine-Punkte-mehr«, fuhr das Taxi fort. »Siedürfen-dieses-Fahrzeug-nicht-führen-würden-Sie-bitte…« Die Stimme brach ab, als Korben den Lautsprecher von der Decke riß und aus dem Fenster warf. Er landete auf der offenen Ladefläche eines Transporters. »Ich hasse es, wenn die Leute weinen«, sagte er. Im Rückspiegel sah er, wie das rothaarige Mädchen den Tumult draußen mit einem leicht amüsierten Lächeln beobachtete. Sie war so schön, daß er Mühe hatte, den Blick von ihr zu wenden und sich auf den hektischen Luftverkehr zu konzentrieren. »Ich werde dann immer schwach.«
11
Ein paar Blocks weiter stand Wagen 47 des 2345. Reviers in der Schlange vor dem Ausgabefenster eines McDonald’sRestaurants. Kurz bevor die Polizisten an der Reihe waren, erwachte das Funkgerät knackend zum Leben. »An alle Einheiten in Sektor 12, Alarm. Sammeln Sie sich in Vektor 21.« »Vektor, Sektor«, sagte der junge Cop, der die Bordwaffen bediente. »Das kriege ich nie auf die Reihe.« Sein älterer Partner, der das Fahrzeug lenkte, schrie ins Mikrophon: »Wagen 47, wir sind unterwegs…!« Er hängte das Mikrophon ein und beendete dann erst den Satz: »…sobald wir was gegessen haben. Hol die Burger, Junge.« Der jüngere Cop sprach in das Mikrophon des Restaurants, das draußen vor dem Polizeischweber in der Luft hing. »Einen Big Mac mit normalen Fritten und eine Diätcola, und einen Quarterpounder mit großen Fritten und eine koffeinfreie DiätCherry-Coke. Alles klar?« »Das wäre also ein Big Mac mit normalen Fritten und eine Diätcola, und ein Quarterpounder mit großen Fritten und eine koffeinfreie Diät-Cherry-Coke.« »Genau. Over und Ende.« Die Schlange der wartenden Luftfahrzeuge kam langsam in Bewegung. »Sollten wir nicht lieber sofort auf den Notruf reagieren?« Der ältere Cop schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde, zu alt und zu hungrig, um bei jedem Einsatz sofort wie ein Irrer loszurasen.«
Der Polizeischweber erreichte das Ausgabefenster. »Und ich bin viel zu durstig«, sagte der jüngere Cop, während er das Tablett mit den Getränken im Empfang nahm. Dann folgte das Tablett mit den Burgern. Er kam nicht mehr dazu, es in den Wagen zu ziehen. Das Tablett verschwand irgendwo, als ein gelbes Taxi zwischen dem Fenster und dem Streifenschweber durchraste. Die Cops schauten sich einen Augenblick groß an, dann sahen sie dem verbeulten gelben Taxi nach, das zwischen den Wolkenkratzern verschwand.
»Warum setzen Sie sich nicht zu mir?« fragte Korben und klopfte auf den Beifahrersitz. »Illegaler als jetzt kann es sowieso nicht mehr werden.« Das Mädchen kletterte auf den Vordersitz. Die bunte Kleidung enthüllte mehr, als sie verbarg. Sie kämmte sich das rote Haar mit den Fingern. Die Sirenen der Streifenwagen, die das fliehende Taxi verfolgten, wurden lauter. Korben fuhr schräg über sechs Spuren, dann raste er zwei Blocks in die Gegenrichtung, stieg sechs Stockwerke höher und fuhr langsamer, bis er gemächlich im Verkehr mitschwamm. »Wenn sie nach einer Meile nicht mehr dran sind, dann haben sie die Verfolgung aufgegeben«, erklärte er ihr. Er bog um eine Ecke – und plötzlich rasten sechs blaue Polizeischweber aus einer Seitenstraße auf sie zu. »Vielleicht sind es auch zwei Meilen«, murmelte er, fuhr die Turbinen hoch und brachte die Gyros auf Touren, um genug Energie für das Ausweichmanöver zu haben. »Klaatu barata nikto«, sagte das Mädchen. »Tut mir leid, Lady«, erwiderte Korben. »Ich kann nur zwei Sprachen: Englisch und fluchen.«
Die sechs Polizeischweber trennten sich in zwei Gruppen zu je drei Fahrzeugen, die sich links und rechts hinter ihn setzten. Korben warf das Lenkrad herum und ließ das Taxi geradewegs nach unten sausen, durch die Häuserschluchten hinab zu einem weit unten liegenden Dachgarten. Die Polizeischweber folgten ihm. Im letzten Augenblick zog Korben wieder hoch. Vier Polizeischweber zogen ebenfalls hoch. Zwei schafften es nicht und gruben sich in die weiche Kunsterde auf dem Dach. Korben raste weiter, die vier verbleibenden Polizeischweber dicht hinter ihm. »Maica Iota muni«, meinte das Mädchen. »Hören Sie, Lady«, entgegnete er, »ich habe ja nichts gegen eine gepflegte Unterhaltung, aber ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie jetzt mal den Mund halten könnten. Ich habe zu tun…« Die vier Polizeischweber kamen mit laut heulenden Turbinen näher. Der Bildschirm des Taxis piepste. Korben schaltete ihn ein. ANGRIFF! ANGRIFF! ANGRIFF! Korben wandte sich an das Mädchen. »Ich weiß ja nicht, was Sie gemacht haben, daß die so wütend sind…« ZIELERFASSUNG! ZIELERFASSUNG! ZIELERFASSUNG! »Aber die sind wirklich ziemlich sauer. Festhalten!« Korben gab den Gyros einen Tritt und aktivierte gleichzeitig die Bremsstrahler. Ein alter Trick im Luftkampf. Das Taxi stöhnte, machte aber die gewünschte Drehung. »Ich glaube, jetzt sind wir vorerst in Sicherheit«, erklärte Korben. Dann sah er in den Rückspiegel.
Zwei Polizeischweber rückten näher. »Ich war bis jetzt noch ziemlich milde gestimmt, Jungs«, flüsterte Korben. »Schade, daß ihr das nicht zu würdigen wißt.« Er nahm den Schub zurück und schob den Steuerknüppel nach vorn. »Im Smog sind wir sicher. Falls wir ihn erreichen.« Korbens Taxis fiel wie ein Stein. Senkrecht nach unten, zwischen unzähligen Taxen und Lastschwebern und Limousinen hindurch, die eilig auswichen. Die Fahrer sahen ihm erschrocken nach. Im letzten Augenblick, schon knapp über dem Müll, der die Straße bedeckte, schaltete er den Schub wieder ein. Er bog einmal rechts und einmal links ab und schoß durch den giftigen Methandunst. Dann waren sie in einer Sackgasse. »Daya deo bono dato!« sagte das Mädchen. Sie schien sich über die Aufregung zu freuen. »Dalutan!« »Wenn ich eins nicht leiden kann«, sagte Korben, »dann sind das Leute, die mir Ratschläge geben, wie ich fahren soll.« Korben legte das Taxi schräg, schob den Steuerknüppel auf die Seite, hielt ihn mit dem Knie fest und schaltete die Horizontalautomatik aus – ein weiterer alter Kampfpilotentrick –, so daß das Taxi seitwärts weiterglitt. Mit unglaublicher Präzision steuernd, lenkte Korben das Taxi durch eine Gasse, die so eng war, daß die alten Ziegel das Taxenschild vom Dach kratzten. Der erste Polizeischweber war einen halben Meter zu breit. Er drang in die Lücke ein und wurde unter kreischenden, knirschenden Geräuschen eingeklemmt. Der zweite konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. »Scheiße! Achtung, an alle Einsatzwagen!« Dann setzte er zurück und wendete.
Der dichte Dunst und der Smog, der in der Stadt über dem Boden hing, verbarg den Schutt und Müll, der seit Generationen hier abgekippt wurde. Hier unten sammelte sich jeder Auswurf; fünf bis zehn Meter hoch waren die Straßen damit bedeckt. Hier unten lebte niemand. Das dachte jedenfalls der junge Cop. Dann sah er die in Lumpen und Felle gekleidete Gestalt. Eine beinahe menschliche Gestalt war es, die auf den riesigen Bergen verwesenden Mülls herumkletterte; sie huschte hierhin und dorthin und kannte sich offenbar gut aus. Er schauderte. »Sieh dir das bloß an«, sagte er zu seinem Partner. »Streikt die Müllabfuhr, oder was ist hier los?« »Yeah«, sagte der ältere Cop sarkastisch. »Seit einer Woche.« Das war natürlich ein Witz. Eine Müllabfuhr gab es schon seit Generationen nicht mehr; nicht mehr, seit man entdeckt hatte, daß es billiger war, den Müll einfach liegenzulassen, statt ihn zu einer Mülldeponie zu karren. Da die Stadt schneller nach oben wuchs, als der Müll sich unten sammeln konnte, hatten die Menschen, die in den oberen Stockwerken lebten, keine Probleme. Außerdem war der Müll Unterkunft und Jagdrevier der Ausgestoßenen – derjenigen, die es sich nicht leisten konnten, mit der Stadt in den Himmel zu steigen. Das waren die zwangsläufigen Folgen des postindustriellen Neodarwinismus, und obwohl es in ökonomischem Sinne absolut plausibel war, fand der junge Cop den Anblick – nun ja… Widerlich.
Die Abfallhaufen schienen zu seufzen und dabei dampfende, stinkende Wolken auszusenden. Aber wo war das flüchtige Taxi? Es sollte eigentlich in dieser Sackgasse feststecken, doch dort war nichts zu sehen außer einer senkrecht angebrachten Tafel, auf der man den Namen einer längst vergessenen Firma lesen konnte: »IBM« stand dort. Der junge Cop betrachtete die Tafel, die fünfzehn Meter hoch, aber nur drei Meter breit war. Zu schmal, um dahinter ein Taxi zu verstecken. »Wo ist der bloß geblieben?« fragte er seinen Partner. Der ältere Cop deutete nach unten zu den Müllbergen. »Da unten, nehme ich an«, sagte er. »Wahrscheinlich sind seine Gyros ausgefallen. Aber es ist nicht unser Job, den Müll da nach Leichen abzusuchen. Laß uns verschwinden und noch einen Burger holen.«
Korben sah nach oben, während die Cops nach unten blickten. Sein Taxi schwebte hinter dem Firmenschild. Es stand auf dem Heck – auch das war ein alter Kampfpilotentrick. Eine starke Belastung für die Steuerung, aber sehr wirkungsvoll. Und ungemütlich. Das Mädchen und Korben waren auf dem Vordersitz eingekeilt. Nein, ungemütlich war es eigentlich nicht. Das Mädchen strömte einen angenehmen, warmen Duft aus, der den Gestank des Mülls überlagerte. »Wir werden hier warten, bis sich die Lage etwas beruhigt hat«, flüsterte Korben. »Geht das in Ordnung?« Das Mädchen packte ihn am Hemdkragen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Priester…«
Korben sah sie erstaunt an. Sie schien sehr geschwächt. Die grünen Augen waren fest geschlossen. »Priester…«, wiederholte sie. »So fertig sind Sie doch gar nicht«, sagte Korben. »Warten Sie, ich bringe Sie nachher zum Arzt.« »Vieh To«, sagte das Mädchen. »Cor Neh Li Us.« Das klang fast wie ein Name. »Vito Cornelius?« Die junge Frau nickte. Dann verlor sie das Bewußtsein.
12
»Ja, bitte?« Ein alter, schmächtiger Mann mit einem kleinen Gesicht, rund wie eine Münze und von zotteligem weißem Haar eingerahmt, öffnete die Tür. Draußen stand ein kräftiger, vernarbter Mann, der wenig Haare hatte und sehr ungeduldig wirkte. Er trug ein Mädchen auf den Armen, das zu schlafen schien. »Entschuldigen Sie«, sagte Korben. »Ich suche einen Priester.« »Heiraten können Sie einen Stock tiefer, mein Sohn«, antwortete der Priester. »Herzlichen Glückwunsch.« Er schloß die Tür. Sie war sofort wieder offen. Aufgetreten, um es genau zu sagen. »Sie ist nicht meine Braut«, sagte Korben. »Sie ist mein Fahrgast. Sie sucht einen gewissen Vito Cornelius. Laut Telefonauskunft lebt er hier.« »Das bin ich«, sagte der Priester, zog den Habit enger um sich und faßte die Eindringlinge genau ins Auge. »Aber ich kenne sie nicht.« Das Mädchen trug helle, freizügige Kleidung. Das schulterlange Haar war flammend rot. Der Priester betrachtete die beiden mißtrauisch. »Wo haben Sie die aufgegabelt?« »Sie… sie ist mir ins Taxi gefallen«, sagte Korben. Er hielt dem Priester das Mädchen hin. Dabei rutschte ein Arm auf die Seite. Auf dem Handgelenk war eine Tätowierung zu erkennen.
Die Vier Elemente, mit Linien verbunden. Als der Priester das Symbol sah, erbleichte er. Er betrachtete das verkratzte, angeschlagene Relief der Vier Elemente auf seinem altmodischen Messinggürtel. Es sah genauso aus wie ihre Tätowierung. »Das fünfte Element!« keuchte er. Dann sank er bewußtlos zu Boden. Korben stieg über ihn hinweg in die Wohnung. Die Tür hinter ihm schloß sich. »Finger wird mich umbringen«, murmelte er, während er sich nach einem Platz umsah, wo er das Mädchen hinlegen konnte.
Cornelius wachte auf und rieb sich die Wange. Irgend jemand hatte ihm eine Ohrfeige verpaßt. Er starrte in ein vernarbtes, hartes, aber intelligentes und nicht unfreundliches Gesicht. »Wer sind Sie?« »Ich habe das Mädchen hergebracht, schon vergessen?« Cornelius setzte sich auf. »Welches Mädchen?« Dann erinnerte er sich. Das fünfte Element. »Yeah!« sagte Korben. »Sie ist reingefallen. In mein Taxi gefallen, meine ich. Und sie hat in einer komischen Sprache geredet.« Cornelius schüttelte den Kopf, so langsam, als wäre er in frommer Meditation versunken. »Es ist keine komische Sprache. Es ist die göttliche Sprache. Die älteste Sprache. Sie wurde im Universum gesprochen, bevor es die Zeit gab. Das Fünfte Element, das Höchste…« Cornelius betrachtete das Mädchen, das ausgestreckt auf der Couch lag. Das rote Haar glänzte. Plötzlich dämmerte es ihm. »Es ist – es ist eine Frau!« »Schön, daß Ihnen das auch schon auffällt«, sagte Korben.
Sein Sarkasmus war verschwendet. Der Alte kniete schon vor dem schlafenden Mädchen. »Es ist ein Wunder! Wir dürfen keinen Augenblick verlieren! Wecken Sie sie auf, aber gehen Sie sanft mit ihr um! Diese Frau ist das Wertvollste, was die Menschheit im Augenblick besitzt.« »Wirklich?« »Sie ist – sie ist vollkommen!« Damit rannte Cornelius hinaus. Korben kniete sich neben die junge Frau. Wie vorher bei dem Priester hob er eine Hand, um auch sie mit einer Ohrfeige zu wecken, doch dann besann er sich. Er ließ die Hand langsam sinken und berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Ihre Haut war weich und zart wie die Blütenblätter einer Rose. Kaum zu glauben, daß sie durch das Dach seines Taxis gefallen war, ohne sich schwere Verletzungen zuzuziehen. »Perfekt«, flüsterte Korben.
»Es ist ein Wunder!« Vater Cornelius stürzte atemlos und mit gerötetem Gesicht ins Zimmer des Novizen. David blickte von dem Umhang auf, den er gerade auf die altmodische Weise, die er so liebte, mit Nadel und Faden flickte. »Ein Wunder?« fragte David. »Wo denn?« Vater Cornelius öffnete die Schranktür. »Ich muß die Sachen hier ausziehen. Dieses Ereignis gebietet eine würdige Bekleidung.« Im Wandschrank hingen mehrere Kutten. Sie sahen genauso aus wie jene, die David gerade flickte, und sie entsprachen auch der, die Vater Cornelius trug.
»Ich muß meine besten Sachen anziehen!« rief Cornelius. Er verschwand im Wandschrank. David sah ihm kopfschüttelnd nach. Die geheimnisvolle Frau wollte nicht aufwachen. Korben berührte erst eine Wange, dann die andere. Plötzlich, mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte, beugte er sich herunter und küßte sie sanft auf die Lippen. Das half. Sie riß die Augen auf. Korben spürte etwas Kaltes unter dem Kinn und richtete sich kerzengerade auf. Sie bedrohte ihn mit seiner eigenen Pistole, die sie ihm mit einer raschen Bewegung aus dem Schulterhalfter gezogen hatte. »Eto akta gamat!« »Tut mir leid«, sagte Korben. »Aber es war so…« Ja, und? Was war es denn nun? schienen ihre Augen zu fragen. Verlegen haspelte Korben weiter. Er konnte nicht besonders gut mit Frauen umgehen, auch wenn sie sich normalerweise nicht beschwerten. »Ich wollte Sie sanft wecken, also dachte ich mir…« Das Mädchen sah ihn verwirrt an und ließ die Waffe sinken. »Sie haben ja recht«, gab Korben zu. »Das war falsch von mir. Ich hätte Sie nicht küssen dürfen. Besonders nicht, weil wir uns nicht förmlich vorgestellt wurden, und…« Er wühlte in den Taschen seiner Weste herum und zog eine billige, blinkende Visitenkarte heraus. »Hier. Vielleicht kommt das etwas spät, aber mein Name ist Korben. Korben Dallas. Ich bin Taxifahrer. Sie können mich jederzeit rufen. Sie müssen nicht jedesmal von einem Haus
springen, wenn Sie in ein Taxi steigen wollen. Ich meine, rufen Sie doch einfach an…« Sie zögerte einen Augenblick, dann riß sie ihm die Karte aus der Hand. Und begann, völlig unerwartet, zu lächeln. »Vater!« »Hmpff.« David konnte an den Wellen, die durch die hängenden Kutten liefen, erkennen, wo Vater Cornelius gerade war. Es sah aus, als zöge unter Wasser ein Wal vorbei. Allerdings ein sehr kleiner, sehr entschlossener Wal. »Vater, wollen Sie mir bitte erklären, was hier los ist?« »Das Höchste Wesen«, sagte Vater Cornelius. Seine Stimme klang dumpf hinter den dicken, staubigen Kleidern, die im Wandschrank hingen. »Das was?« »Das Fünfte Element! Es ist hier bei uns!« Cornelius kam mit einer sauberen Kutte heraus und hielt sie an sich wie ein Schulmädchen, das sich für die Abschlußparty zurechtmacht. »Es ist ein Wunder!« rief er.
»Und wie ist Ihr Name?« fragte Korben das Mädchen. Sie betrachtete die Visitenkarte, die er ihr gegeben hatte. Korben deutete auf seinen aufgedruckten Namen. »Name!« Sie strahlte. Anscheinend hatte sie verstanden. »Leeloo Minai Lekarariba-Laminai-Tchaii Ekbat De Sebat«, ratterte sie los. »He«, sagte Korben, dem das etwas zu schnell gegangen war, »das ist ein schöner Name, aber… haben Sie nicht vielleicht einen Spitznamen? Wenn es geht, ein bißchen kürzer?« »Leeloo.«
Korben sah ihr in die tiefen grünen Augen. Sie glichen einem See, in dem er am liebsten auf der Stelle ertrunken wäre. Das hellrote Haar war wie ein Feuer, von dem er verzehrt werden wollte. Er war dabei, sich in sie zu verlieben. »Leeloo«, wiederholte er. »Das ist wirklich… das ist schön.« Vater Cornelius und David platzten ins Wohnzimmer – und starrten in die Mündung von Korbens Waffe, die Leeloo auf sie richtete. »Apipulai Leeloo Menai«, sagte Cornelius. Das Mädchen ließ die Waffe sinken. »Cor Neh Li Us?« Er verneigte sich. »Zu Diensten.« Sie begann zu lachen. Es war ein argloses, ansteckendes Lachen, das auch den alten Priester und Korben veranlaßte zu lächeln. Nur David, der junge Novize, runzelte die Stirn. Noch nie war er einem so begehrenswerten Geschöpf so nahe gewesen. Es beunruhigte ihn, daß sie so… so sexy war. Er wandte sich an den Priester. »Sind Sie sicher, daß dies das Höchste Wesen ist?« »Absolut«, sagte Cornelius. »Dort auf ihrem Handgelenk finden sich die Vier Elemente.« David bückte sich, und Leeloo streckte ihm ihr schmales Handgelenk entgegen, damit er das Abbild untersuchen konnte. Cornelius nahm unterdessen Korbens viel dickeres Handgelenk in zwei kleine Hände und zog den Veteran zur Tür. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr…?« »Dallas«, sagte Korben. »Korben Dallas. Aber…« Korben sah sich über die Schulter um. Leeloo lachte nicht mehr. Sie sah ihm mit traurigen Augen nach.
»Ja«, fuhr der alte Priester eifrig fort. »Schön. Also vielen Dank, tausend Dank.« »Soll ich noch einmal vorbeikommen und nach ihr sehen?« fragte Korben, als die Tür des Appartements aufglitt. »Um nachzusehen, ob es ihr besser geht?« »Oh, sie ist hier in guten Händen«, sagte Vater Cornelius, während er Korben hastig durch die Tür schob. »Keine Sorge. Sie braucht nur etwas Ruhe. Sie hat eine sehr lange Reise hinter sich.« »Ich weiß«, sagte Korben. »Ich war ja dabei, als sie angekommen ist.« Er wurde in den Flur hinausgeschoben. Kurz bevor die Tür einrastete, schob er die Hand in den Spalt und blockierte damit die Schließsperre. »Entschuldigung, eine Frage noch, Vater. Sie sagte vorhin etwas zu mir, das ich nicht verstanden habe. Akta gamat?« »Akta gamat«, wiederholte Cornelius, während er die Schließsperre wieder aktivierte, »das heißt: Nie ohne meine Erlaubnis.« »So was ähnliches habe ich mir schon gedacht«, meinte Korben zur Tür, die sich direkt vor seiner Nase geschlossen hatte.
»Guten Abend!« sagte Korben eine halbe Stunde später zum Roboter an der Etagentür. Er hatte das Taxi in der Garage abgestellt und kehrte in sein einsames Appartement zurück, das in halber Höhe irgendwo in einem Turm der Stadt lag. Nicht hoch genug, um wirklich saubere Luft vor den Fenstern zu haben, aber wenigstens aus dem allerschlimmsten Gestank heraus. »Guten Abend«, sagte er zu dem Nachbarn, den er auf dem Flur traf.
»Leck mich«, entgegnete der unhöfliche Nachbar. Aber das sagte er immer und zu allen. »Danke«, sagte Korben müde. »Du mich auch.« Er schlüpfte in sein winziges Wohnmodul. »Miau!« Die Katze rannte zu ihm und rieb sich an seinem Bein. »Oh, meine Güte, ich habe dein Futter vergessen. Das tut mir wirklich leid.« Korben drehte sich um und drückte auf einen Knopf in der Wand. Es war die Direktverbindung zu einem Schnellimbiß. »Wie wär’s mit einem guten thailändischen Essen als Entschuldigung?« »Miau.« Das Telefon klingelte »Hallo?« »He, Kumpel«, knurrte Finger. »Ich habe den ganzen Tag in der Werkstatt auf dich gewartet.« »Finger, hör mal«, murmelte Korben, »es tut mir leid. Paß auf, das Taxi ist in Ordnung. Es schnurrt wie eine Katze.« »Yeah? Nun, wenn das so ist, warum läßt du es mich dann nicht auch mal streicheln?« »Okay, hör zu«, sagte Korben. »Ich war ja schon unterwegs, aber dann ist mir eine Fuhre in den Schoß gefallen. Weißt du, eine dieser großen Fuhren, denen man einfach nicht widerstehen kann.« Finger blieb mißtrauisch. »Wie groß?« »Ungefähr einsfünfundsiebzig«, sagte Korben, während er eine Zigarette aus seiner Weste fischte. »Grüne Augen, lange Beine, zarte Haut. Verstehst du? Einfach perfekt.« Er versuchte, ein Streichholz anzuzünden. Es war feucht, spuckte und ging wieder aus. »Ach so«, meinte Finger. »Ich verstehe. Und diese perfekte Fuhre, hat die auch einen Namen?« »Yeeaaaaah«, seufzte Korben. »Leeloo.«
13
»Was macht sie?« fragte David begierig. Er konnte keinen Blick von ihr wenden. Vorhin war sie fast nackt aus der Dusche gekommen. Jetzt saß sie am Computer, nur mit einem schmalen Handtuch bekleidet, und stopfte Brathähnchen in sich hinein. Leeloo surfte so schnell durch das Internet, daß das Modemkabel rauchte, die Festplatte quietschte und die CPU knisterte wie Stanniolpapier. Auf dem Bildschirm rollten mit gleichmäßiger Geschwindigkeit Daten ab. »Sie lernt unsere Geschichte«, sagte Cornelius. »In den letzten fünftausend Jahren hat sie viel verpaßt. Sie war eine Weile außer Betrieb, verstehst du?« Die Männer sahen erschrocken zu dem Mädchen hinüber, als es plötzlich zu lachen begann. Es war ein helles, melodisches Lachen, ähnlich dem Gelächter von Kindern, völlig ohne Bosheit und Grausamkeit. »Worüber lachen Sie?« fragte Cornelius. Was mochte sie in der blutigen Geschichte der Menschheit in den letzten fünftausend Jahren gefunden haben, das sie veranlaßte, zu lachen? »Na Po Leon«, sagte Leeloo. »Und was soll an Napoleon so komisch sein?« fragte David. »Klein!« kicherte Leeloo. »So klein!« Immer noch kichernd, warf sie zwei frische Kwik-ChickPackungen in die Mikrowelle. Der Mikrowellenherd tastete die Packungen ab, stellte die Schaltuhr auf die richtige Zeit und schaltete sich ein.
»Äh, Vater«, sagte David. »Ich weiß ja, daß sie eine Menge durchgemacht hat. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Das Absolute Böse kommt immer näher.« »Ja, sicher«, sagte Cornelius. Der Mikrowellenherd meldete mit einem Klingelzeichen, daß das Essen fertig war. Leeloo öffnete die Klappe. Die Packungen hatte sich in Teller verwandelt, auf denen Hühnchen mit Gemüse dampfte. Sie stellte eine Portion neben dem Computer ab und setzte sich wieder vor den Bildschirm. Mit einer Hand aß sie, mit der anderen steuerte sie den Informationsfluß. Ihr Hunger schien wirklich unbändig zu sein. »Leeloo«, begann Cornelius, »ich störe Sie ja nicht gern, aber…« Er hob den abgebrochenen Griff hoch, den sie ihm gegeben hatte. »Der…« Leeloo zuckte die Schultern und nahm den zweiten Teiler Huhn mit Gemüse in Angriff. Die Seiten auf dem Bildschirm wechselten rasend schnell. »Der Koffer mit den Heiligen Steinen«, fuhr Vater Cornelius fort. »Sie sollten ihn doch eigentlich bei sich haben.« »San Agmat chay bet«, sagte Leeloo. »Envolet!« »Der Koffer wurde gestohlen?« Leeloo nickte, anscheinend völlig ungerührt. Sie stopfte unablässig Huhn in sich hinein. »Wer, in Gottes Namen, sollte imstande sein, so etwas zu tun?« fragte Cornelius erschrocken.
Zorg war dazu imstande, wer sonst. Genau in diesem Augenblick schob sich der grausamste Finanzier der Galaxis seitwärts wie eine Krabbe und hinkend
wie Quasimodo durch einen Gang seines Lagerhauses. Er grübelte, wie er sein Vermögen strategisch besonders wirkungsvoll einsetzen konnte, um alles zu zerstören, was gesund und gut war. Für Zorg war die Gleichung ganz simpel: Er mußte einfach nur das tun, was ihm einen möglichst großen Gewinn verschaffte und der Menschheit einen möglichst großen Schaden zufügte. Er hing diesen erbaulichen Gedanken nach, als sein fähigster Assistent herbeihuschte. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Zorgs rechte Hand, die auf den Namen Right Arm hörte. »Der Rat macht sich Sorgen, weil die Wirtschaft auf Hochtouren läuft. Man läßt fragen, ob es möglich sei, 500000 Arbeitskräfte zu entlassen. Ich dachte da an eine der kleineren Firmen, wo es niemand bemerkt. Beispielsweise eine Taxifirma.« Zorg überlegte einen Augenblick. »Schmeißen Sie eine Million Leute raus.« »Aber, Sir, mehr als 500000 sind nicht nötig.« Zorg drehte sich langsam um und faßte seinen Assistenten ins Auge. Die schmale Narbe, die quer über sein Gesicht lief, färbte sich rot. Das rechte Augenlid begann zu flattern. Kurz gesagt, er war kurz davor, eine Stinkwut zu bekommen. Right Arm verstand die Botschaft, die in Zorgs Gesicht geschrieben stand. »Eine Million! Jawohl, Sir! Verzeihen Sie mir, daß ich Sie gestört habe, Sir!«
Im 323. Stock eines Regalturms mittlerer Preislage, in einer Modulwohnung, die spartanisch wie eine Mönchsklause eingerichtet war, sprach Vater Cornelius unterdessen mit sich selbst.
»Wer sollte so etwas tun? Hmmm…« Der junge Novize David betrat den Raum. Er hatte einen Stapel Kleider auf den Armen. Frauenkleider. »Da war dieser Mann, der hinkte… und eine Narbe hatte er im Gesicht«, grübelte Cornelius halblaut. »Vor einem Monat ist er vorbeigekommen. Sagte, er sei eine Art Händler… hat lauter Fragen über die Heiligen Steine gestellt.« David gab Leeloo, die vor dem Computer saß, die Kleidung. Nach wie vor war sie mit ihrem Badetuch eher nackt als angezogen. »Ich wußte nicht, welche Größe Sie tragen«, entschuldigte er sich. »Ich habe sogar einen Schminkkoffer aufgetrieben.« »Damals habe ich mir nichts weiter dabei gedacht«, grübelte Cornelius weiter. »Wie war noch gleich sein Name? Ich habe so ein schlechtes Namensgedächtnis…« Leeloo stand lächelnd auf. Sie nahm das Handtuch ab und warf es in eine Ecke. Vater Cornelius und David starrten sie an wie gebannt. Sie war nackt. Eine wunderschöne, perfekte, nackte Frau. »Man hat sie wirklich, äh…«, stammelte David. »Perfekt«, beendete Cornelius den Satz. »Perfekt hinbekommen, ja.« Die beiden Männer wandten sich ab, während Leeloo die Sachen anzog, die David ihr mitgebracht hatte. Sie drehte sich und bewunderte sich vor einem eingebildeten Spiegel (den es in der Wohnung der Mönche nicht gab). Es war fast, als könnte sie sich sehen, ohne… »Domo dengo«, sagte sie zu David und drückte ihm die Hand. David grinste verlegen. Die Sachen paßten ihr wie angegossen.
»Leeloo?« Vater Cornelius war beunruhigt. »Die Steine! Die Zeit wird knapp. Wir müssen sie holen.« Sie nickte und setzte sich wieder an den Computer. »Ikset-kiba. Me imanetaba oum dalat!« Vater Cornelius wußte nicht ob er über ihre Worte erstaunt oder erfreut sein sollte oder beides. »Wirklich?« gab er zurück. »Sie wissen wirklich genau, wo die Heiligen Steine sind?«
14
Sie war nicht die einzige, die es wußte. Da war noch jemand. Oder etwas. Wenigstens glaubte sie, sie wüßten es. Ein Trupp schöner, göttergleicher Krieger betrat Zorgs Lagerhaus. Der Wachrob ließ sie ohne weitere Überprüfung ein, und sie versammelten sich im Aufzug. Aknot, der schönste der schönen Krieger, trug einen Metallkoffer. Der Griff fehlte. Die Aufzugtür öffnete sich. Von seinen Kriegern eng gedeckt, lief Aknot mit hallenden Schritten den langen Flur hinunter. Am Ende warteten Zorg und Right Arm. »Aknot, sind Sie es?« fragte Zorg, als er die Krieger sah. Aknot nickte. Auf dem schönen Gesicht breitete sich ein vollkommenes, gottähnliches Lächeln aus. »Was für ein häßliches Gesicht«, sagte Zorg. »Es paßt überhaupt nicht zu Ihnen. Nehmen Sie es ab!« Aknot zuckte die Schultern. Sein Gesicht schmolz, und darunter kam das verzerrte, froschähnliche, entsetzliche, garstige, widerliche, ekelhafte, abscheuliche, gemeine Gesicht eines Mangalore zum Vorschein. Das häßlichste Gesicht, das die Galaxis je gesehen hatte. »Schon besser«, sagte Zorg. »Man sollte sich niemals dessen schämen, was… was man ist.« Aknot nickte. Er gab seinen Kriegern ein Zeichen, und auch sie entspannten sich und ließen die Gesichter schmelzen, bis
die entsetzlichen Fratzen der Mangalore zum Vorschein kamen. Right Arm bemühte sich, seinen Ekel zu verbergen. »Was soll’s, wenn die Föderierte Armee Ihre ganze Rasse ausgelöscht hat«, erklärte Zorg. »Was soll’s, wenn die Regierung Ihr Volk in alle Winde zerstreut hat. Was euch nicht umbringt, macht euch härter, nicht wahr?« Er öffnete eine Kiste, die neben ihm stand. Sie war mit Lasergewehren gefüllt. »Es wird Zeit für eure Rache. Hier, das ist für euch…« Zorg nahm ein Gewehr aus der Kiste. »Ein ZF1!« Zorg wog die Waffe in seinen kleinen, schwächlichen Händen. »Es ist leicht – und läßt sich ohne weiteres für Rechts- oder Linkshänder umstellen.« Zorg legte an der Seite des Schafts einen Schalter um. Die Waffe begann zu glühen, und die Kraftfelder summten. Sie wirkte jetzt fast wie ein intelligentes Lebewesen, das sich voller Bosheit auf das Zerstörungswerk freute, das es jederzeit vollbringen konnte. »Ideal für rasche, heimliche Angriffe«, fuhr Zorg fort. Damit leitete er elegant die oft geprobten und meist erfolgreichen Verkaufsverhandlungen ein, die er als der führende Waffenschieber der Galaxis beherrschte wie kein zweiter. Er nickte zwei Lagerarbeitern zu, die an der Rückwand eine Schaufensterpuppe aufbauten. »Unvergleichliche Feuerkraft«, pries Zorg die Waffe an. »Titanlader, Magazin mit dreitausend Schuß. Dank des Dauerfeuerknopfes, einer Eigenentwicklung unserer Firma, ist die Waffe jetzt noch leichter zu bedienen. Ein Schuß…« Er zielte rasch und schoß auf die ziemlich weit entfernte Schaufensterpuppe. Die Kugel schlug mit einem satten Geräusch ein. Treffer.
»Und dann drückt man einfach auf Dauerfeuer und jagt die folgenden Schüsse in das gleiche Ziel!« Zorg drehte sich um sich selbst und schoß mit dem ZF1 aufs Geratewohl in der Gegend herum. Er beschrieb einen vollen Kreis. Die Mangalore warfen sich flach auf den Bauch, als er wild um sich feuerte. Right Arm war ebenfalls abgetaucht. Alle Schüsse, egal wohin er zielte, trafen die Puppe, die bei jedem Einschlag auf dem Ständer hin- und herpendelte. Die Mangalore standen wieder auf. Right Arm folgte ihrem Beispiel. »Und um die Sache perfekt zu machen«, fuhr Zorg fort, »auch all die altbewährten Dinge, die Sie von uns gewöhnt sind.« Eine kleine Rakete sauste durch den Raum und schlug tief in die Puppe ein. »Der Raketenwerfer.« Eine Flammenzunge leckte über den Boden. »Ein vielseitig verwendbarer Flammenwerfer. Meine Lieblingswaffe.« Eine Granate wurde abgefeuert, beschrieb einen Bogen und entfaltete sich zu einem Netz, das über der kokelnden Schaufensterpuppe niederging. »Unser beliebter Netzwerfer!« Ein Schwärm von Pfeilen flog los, von denen einige in der Puppe stecken blieben, während die anderen beim Aufschlag explodierten. »Der Pfeilwerfer. Mit Explosiv- oder Giftgasköpfen lieferbar. Sehr praktisch. Und jetzt der Höhepunkt…« Gas schoß als dünner Strahl aus dem Gewehr und kühlte die umgebende Luft. »Das nagelneue Eiswürfelsystem!« Die Schaufensterpuppe, die angeschossen, verbrannt, durchbohrt und mit Pfeilen punktiert worden war, gefror und zersprang zu unzähligen Bruchstücken schmutzigen Eises, die auf dem Boden des Lagerhauses in einem Haufen zusammenfielen.
Zorg drückte Aknot die Waffe in die Stummelfinger. Er deutete auf die vier Kisten, die an der Seite des Ganges standen. »Vier Kistenvoller ZF1, pünktlich geliefert. Und Sie, mein lieber Aknot? Haben Sie mir gebracht, was ich haben wollte?« Aknot stellte den Metallkoffer auf eine der Kisten. Zorg berührte ihn andächtig. »Wundervoll!« Aknot lächelte. Während Zorg vorsichtig den Koffer öffnete, zeigte sein Narbengesicht ein grausam verklärtes Lächeln… Das auf einen Schlag gefror, als der Kofferdeckel aufsprang. Der Koffer war leer.
»Wieso leer?« fragte Cornelius. Leeloo lachte – es war ein unbefangenes, melodiöses Lachen, das an den Frühling denken ließ und an den Wind, der durch Wiesen voller blühender Blumen streicht. Sie erklärte etwas in ihrer musikalisch klingenden Sprache, und Cornelius übersetzte für David, den jungen Novizen. »Sie sagt, die Wärter hätten befürchtet, sie könnten angegriffen werden. Deshalb wurden die Heiligen Steine aus dem Koffer genommen und jemandem übergeben, dem sie vertrauen konnten und der einen anderen Weg genommen hat.« »Caupo ruta welso brak!« erklärte Leeloo. Sie beugte sich über die Tastatur und ließ die Festplatte knirschen. »Leeloo soll sich mit dieser Person in einem Hotel treffen«, fuhr Cornelius fort. »Sie sucht gerade nach der Adresse.« Aber statt einer Liste von Luxushotels zeigte der Bildschirm kurz darauf eine Sternenkarte an. »Dot!« sagte Leeloo.
David beugte sich vor und sah genau hin. Er folgte ihrem Finger, dann nahm er die Maus und klickte zweimal auf die Stelle, auf die sie zeigte. »Der Planet Fhloston im Sternbild Angel«, las er. Vater Cornelius lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schnaufte erleichtert. »Wir sind gerettet!«
»Wollt ihr mich verarschen?« fragte Zorg. Er klappte den Koffer zu. »Leer ist das Gegenteil von voll. Dieser Koffer hier sollte voll sein. Würde mir das freundlicherweise jemand erklären?« Er warf Aknot einen Blick zu, der diesem das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen, wenn er nicht sowieso schon ein Kaltblüter gewesen wäre. »Sie haben einen Metallkoffer verlangt. Wir haben Ihnen einen Metallkoffer gebracht.« Zorgs Narbe färbte sich wieder rot. Das Augenlid zuckte. Er verlor die Fassung. »Einen Koffer mit vier Steinen drin, meinte ich! Nicht ein Stein! Nicht zwei oder drei, sondern vier Steine! Was, zum Teufel, soll ich mit einem leeren Koffer anfangen?« Aknots Krieger wichen vor Zorgs Wutausbruch zurück. Sie drängten sich um den Anführer, die Finger an die Auslöser ihrer Waffen gelegt, die zwar keine ZF1, aber dennoch beeindruckend genug waren. Zorg und seine Helfer trugen keine Waffen. Right Arm schien einigermaßen nervös. »Wir sind Krieger, keine Krämer«, sagte Aknot kalt. »Aber zählen, das könnt ihr doch wohl«, erwiderte Zorg. Er hatte die Stimme gesenkt und sprach in einem trügerisch friedlichen Tonfall, der alles andere als beruhigend wirkte. Er hob vier Finger.
»Sehen Sie her. Meine Finger. Vier Steine, vier Kisten mit Waffen. Null Steine…« Er hob die Stimme zu einem schrillen Kreischen. »Null Kisten!« Wütend wandte er sich an seine Lagerarbeiter. »Schafft alles wieder weg. Wir verschwinden.« Die Lagerarbeiter zögerten. Die Mangalore-Krieger hatten die Waffen auf Zorg gerichtet. Aknot schüttelte den Kopf. »Wir haben unser Leben riskiert. Ich glaube, eine kleine Entschädigung wäre durchaus angebracht.« Zorg lächelte. »Also seid ihr doch Händler.« Er wandte sich an seine Männer. »Laßt ihnen eine Kiste. Weil sie sich Mühe gegeben haben.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schnappte er den leeren Koffer und marschierte hinaus. Right Arm folgte ihm stehenden Fußes. Von den Waffen der Mangalore bedroht, nahmen die Lagerarbeiter drei Kisten mit Laserwaffen und eilten zum Aufzug.
»Ich mag diese Krieger nicht«, sagte Zorg, als er aus dem Lagerhaus auf die Straße trat. Er gab seiner rechten Hand, die Right Arm hieß, den Koffer, den dieser sich unter den rechten Arm klemmte. »Die sind mir zu kleinkariert.« Right Arm nickte. Er war klug genug, in dieser Situation zu schweigen. Es war kein Gespräch, es war ein Vortrag. »So ungebildet! Und was noch schlimmer ist, sie kämpfen verlorene Kämpfe. Um der Ehre willen! Die Ehre hat Millionen Menschen getötet und noch keinen einzigen gerettet.«
Right Arm nickte. Während Zorg seinen Vortrag hielt, öffneten ein paar hundert Meter hinter ihm die Mangalore die Kiste mit den Gewehren. »Aber wissen Sie, was ich mag?« fuhr Zorg fort, während er und Right Arm in eine wartende Limousine stiegen. Right Arm nickte. Er wußte, er brauchte nichts weiter zu tun als zuzuhören. »Ich mag Killer! Ich mag waschechte, professionelle Killer. Kaltblütige, fähige, methodische, gründliche Killer.« Right Arm nickte. Im Lager betrachteten die Krieger die glänzenden Waffen. Einer der Krieger nahm ein Lasergewehr in die Hand und gab es dem Anführer. »Ein richtiger Killer«, fuhr Zorg fort, »hätte sofort nach dem kleinen roten Knopf unter der Waffe gefragt, sobald er sie in die Hand genommen hätte.« Er klopfte an die Trennscheibe. »Fahren Sie los.« Am anderen Ende des Blocks, hoch droben im Lagerhaus, drehte der Anführer die Waffe herum. Er bemerkte den kleinen roten Knopf. Der Knopf blinkte hektisch. Der Anführer drückte mit einem klobigen Eidechsenfinger darauf. Die Waffe explodierte. Zorg lächelte, als zwei Blocks hinter ihnen das Lagerhaus in Flammen aufging. Qualmwolken wallten durch die Straßen, und es wurde gespenstisch still. Dann waren in einiger Entfernung Sirenen zu hören. »Schaffen Sie mir den alten Priester her«, sagte Zorg. Right Arm nickte.
Thai Fly By war wirklich schnell. Bereits zehn Minuten nach Korbens Anruf wurde das schwebende Minirestaurant vor dem Fenster seiner Modulwohnung angedockt. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einer chinesischen Dschunke, einem Kriegsschiff der Wikinger und einer riesigen, rotlackierten Kloschüssel. Aber die Gerüche, die aus der winzigen Küche drangen, waren köstlich. Korben saß am Tisch, die Katze saß auf dem Tisch. Sie teilten sich, was auf dem Einmalgeschirr serviert worden war: Glasnudeln, Frühlingsrollen und verschiedene thailändische Vorspeisen. »Vergibst du mir jetzt?« fragte Korben. »Miau«, machte die Katze und vernichtete die nächste Vorspeise: ein teures Stück gegrilltes Fischfilet mit Sesamöl. Der thailändische Koch klopfte auf die Fensterbank. »Eine Nachricht für Sie«, sagte er, indem er auf die Glasröhre deutete, die in diesem großen Regalturm die Modulwohnungen bediente. »Ich weiß«, sagte Korben. Er ignorierte das blinkende Licht. »Wollen Sie nicht nachsehen?« »Später«, sagte Korben. »Aber könnte wichtige Nachricht für Sie sein«, drängte der fliegende Koch. Korben zuckte die Schultern. »Sicher. Genau wie die letzten beiden Nachrichten, die ich bekommen habe. Die vorletzte war von meiner Frau, und da stand drin, daß sie mich verlassen würde. Die darauffolgende Nachricht kam von meinem Anwalt, und da stand drin, daß er die Stadt verlassen würde. Zusammen mit meiner Frau.« »Oh«, machte er thailändische Koch. »Das aber großes Pech. Aber mathematisch gesehen, das Pech muß vorbei sein.
Großvater sagen: ›Nicht regnet jeden Tag‹ Das da ist gute Nachricht, garantiert. Ich wette um Essen!« »Okay«, sagte Korben. »Die Wette gilt.« Er zog die Nachricht aus der Röhre und gab sie dem thailändischen Koch. Der Koch faltete das Papier auf und begann, lächelnd zu lesen. Dann runzelte er die Stirn. »Ich verliere Wette«, sagte er. »Sie sind gefeuert!« Korben lächelte. »Wenigstens habe ich Essen gewonnen.« »Gute Philosophie«, sagte der fliegende Koch, während er das Fleischmesser an der Kante seiner schwebenden Miniküche wetzte. »Gutes im Schlechten sehen! Ich bereite Nummer Eins Dessert, extra für Sie und Pussi.« »Miau«, machte die Katze.
In Vater Cornelius’ spartanischem Appartement, am anderen Ende der Stadt, war in diesem Augenblick ebenfalls gerade die Nachspeise an der Reihe. Leeloo verdrückte die letzten Krümel ihres Dessertkuchens und leckte sich nacheinander zierlich die Fingerspitzen ab. Inzwischen saß David, der Novize, am Computer. Die Suchmaschinen arbeiteten auf vollen Touren, und der Bildschirm war mit tanzenden Zahlenreihen gefüllt. »Ich hab’s!« rief David triumphierend. »Alles, was wir über das Fhloston Paradise wissen müssen, und dazu eine detaillierte Karte des schwebenden Hotels.« »Gute Arbeit, mein Sohn«, lobte Vater Cornelius. »Jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden, um hinzukommen.« David rief die nächste Bildschirmseite auf und ging die Reservierungen durch. »Das wird nicht einfach werden«, sagte er. »Morgen findet im Fhloston Paradise ein großer Wohltätigkeitsball statt. Die
Flüge sind seit Monaten ausgebucht. Und weil jede Menge Berühmtheiten dort auftauchen werden, dürfte das Hotel bewacht sein wie eine Festung.« »Es muß doch einen Weg geben…«, sagte Cornelius. Es schellte. Cornelius stand auf. »Ich gehe schon.« Es war Right Arm mit einem bewaffneten Begleiter. Ein häßlicher, einschüchternder bewaffneter Begleiter. Nicht, daß Vater Cornelius eingeschüchtert gewesen wäre. Ein Mann, der sich sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet hat, gegen das Absolut Böse zu kämpfen, läßt sich von dessen kleinen Brüdern nicht erschüttern. »Vater Cornelius?« fragte Right Arm. »Mein Sohn?« Es war das erstemal, daß Right Arm von irgend jemandem »mein Sohn« genannt wurde. Selbst seine Mutter hatte immer nur »He, du!« gerufen. Er brauchte einen Augenblick, um die Fassung wiederzugewinnen. »Mr. Zorg würde Sie gern sprechen.« »Wer, bitte?«
Ein paar Minuten später und ungefähr tausend Meter höher wurde Vater Cornelius hoch über Manhattan in ein Eckbüro geschoben. »Zorg«, sagte Zorg. Er stand auf, um seinen Gast freundlich mit Handschlag zu begrüßen. »Jean Baptiste Emmanuel Zorg. Freut mich, Sie wiederzusehen, Vater.« Er deutete auf einen Ledersessel. »Kennen wir uns?« Vater Cornelius musterte das vernarbte und auf subtile Weise furchteinflößende Gesicht. »Jetzt erinnere ich mich. Der sogenannte Kunsthändler.«
»Freut mich, daß Ihr Erinnerungsvermögen wieder funktioniert«, sagte Zorg. »Denn Sie werden es gleich brauchen. Wo sind die Heiligen Steine?« »Warum, bei allen guten Geistern, interessieren sie sich für die Steine?« fragte Cornelius. »Geister?« sagte Zorg kichernd. »Für mich persönlich sind die Steine uninteressant. Ich verkaufe lieber Waffen. Aber ich habe einen Kunden für die Steine. Also sagen Sie mir…« »Selbst wenn ich wüßte, wo die Heiligen Steine sind«, sagte Cornelius, »ich würde es jemandem wie Ihnen nie verraten.« Zorg schien betroffen. Oder vielleicht auch geschmeichelt. Oder ein bißchen von beidem. »Warum denn nicht? Was haben Sie an mir auszusetzen?« »Ich bin Priester«, erklärte Cornelius. »Es ist meine Aufgabe, dem Leben zu dienen. Sie dagegen wollen es nur zerstören.« Zorg schüttelte bedauernd den Kopf. »Oh, Vater«, sagte er in einem Tonfall, der selbst bei einem begriffsstutzigen Kind noch unangemessen arrogant gewesen wäre, »wie sehr Sie sich doch irren. Lassen Sie es mich erklären.« Er nahm einen Krug mit Eiswasser in die Hand, goß ein Glas halbvoll und stellte es ab. »Das Leben, dem Sie so edelmütig dienen, entsteht aus Zerstörung, Unordnung und Chaos. Sehen Sie dieses Glas.« Mit einem Finger schob er das Glas zum Rand. »Hier steht es nun. Friedlich, ungestört, langweilig. Aber wenn es zerstört wird…« Er schob das Glas über die Kante. Es knallte auf den Boden. Sofort wimmelte der Boden vor winzigen Nanorobots, die die Glassplitter wegräumten und das Wasser aufwischten. »Sehen Sie sich nur diese kleinen Dinger an. Wie geschäftig sie jetzt sind! Und sehen Sie, wie nützlich sie alle sind. Was
für ein wundervolles Ballett, so voller Formen und Farben. So voller… Leben!« »Leben?« gab Cornelius zornig zurück. »Das sind Roboter.« Zorg schenkte Wasser in ein weiteres Glas ein. Er fischte eine Kirsche aus einer Schale, zupfte den Stiel ab und ließ die Kirsche ins Glas fallen. Sie ging unter. »Ja, sie sind Roboter, aber wer entwirft sie?« fragte er Cornelius. »Wer baut sie? Ingenieure, Techniker, Mechaniker. Hunderte Menschen, die dadurch heute abend ihre Kinder sattbekommen, so daß diese Kinder aufwachsen und groß und stark werden und selbst wieder Kinder zeugen. Und so weiter und so weiter im großen Kreis des Lebens.« Cornelius hörte schweigend zu. »Sehen Sie, Vater, indem ich etwas zerstöre, motiviere ich in Wirklichkeit das Leben. Sie und ich, wir sind im gleichen Gewerbe tätig.« »Wohl kaum«, sagte Cornelius. »Ein Glas zu zerstören ist eine Sache. Menschen mit den Waffen umzubringen, die Sie produzieren, ist eine ganz andere Sache.« Zorgs Lachen klang hart und beinahe scheppernd. »Glauben Sie mir, Vater, ich könnte in meinem ganzen Leben nicht so viele Menschen töten, wie die Religionen in den letzten zweitausend Jahren getötet haben.« Er hob das Glas. Die Kirsche tanzte im Glas wie ein abgetrennter Kopf. »Zum Wohl.« Er setzte das Glas an und nahm einen tiefen Schluck. Das Wasser verschwand. Dann verschwand die Kirsche. Zorg riß die Augen auf. Er ließ das Glas fallen und deutete auf das Glas und dann auf seine Kehle.
»Ersticken Sie?« fragte Cornelius. Er sah Zorg zu, der röchelnd und unkontrolliert auf seinen wuchtigen Teakholzschreibtisch kippte. Zorg fuchtelte wild mit den Armen und versuchte, die Sprechanlage auf dem Schreibtisch zu erreichen. Die Hand tippte blind auf den Knöpfen herum. Die Telefonleitungen wurden aktiviert. Das Faxgerät schaltete sich ein. Die Lichter gingen an. Aus einem Fach im Schreibtisch stieg ein CD-Recorder empor. In einer Wand tauchte ein Fernsehempfänger auf. »Wo ist denn der Roboter, der Ihnen jetzt auf den Rücken klopft?« fragte Cornelius. Seine Stimme klang trocken und so sarkastisch, wie Zorgs Stimme noch vor wenigen Augenblicken geklungen hatte. »Wo bleiben der Ingenieur und der Mechaniker? Oder vielleicht auch ihre Kinder? All die Menschen, die Ihrer Meinung nach Ihnen ihr Leben verdanken?« Zorgs Hand patschte immer noch blind auf der Sprechanlage herum. Die Tür des Büros glitt zu und schnitt die beiden Menschen von jeder Hilfe ab, die von draußen vielleicht hätte kommen können. In der Decke schob sich eine Platte der Vertäfelung zur Seite, und ein Käfig wurde heruntergelassen. Drinnen saß ein dickes, buntes, außerirdisches Tier, ein schneckenähnliches Reptil mit einem Rüssel wie ein Elefant. Zorgs Haustier: ein soulimanischer Aktapan namens Picasso. Der Käfig setzte auf dem Schreibtisch auf, und Picasso steckte den schleimigen Rüssel durch die Gitterstäbe, um die zuckende Hand seines halbtoten Herrn zu lecken.
Cornelius erhob sich aus seinem Ledersessel und ging um den Schreibtisch herum. Er ließ sich Zeit. »Wir sind nicht auf der Erde, um uns gegenseitig zu vernichten, Mr. Zorg. Wir sind hier, um den Reichtum des Lebens auszukosten – die unendlichen Möglichkeiten des Lebens.« Er hielt inne und bewunderte den Ausblick, den man von hier oben hatte. Dabei kehrte er dem inzwischen fast bewußtlosen Zorg den Rücken zu. »Das ist unsere Aufgabe – und nicht etwa die Entscheidung, wer zu leben und wer zu sterben hätte. Und wenn Sie das vergessen…« Cornelius nahm den Stiel der Kirsche vom Schreibtisch. »… dann wird die Natur Sie daran erinnern. Sehen Sie jetzt ein, daß Ihnen Ihre ganz sogenannte Macht überhaupt nichts nützt? Sehen Sie, wie Ihr ganzes Imperium der Zerstörung einer einzigen winzigen Kirsche wegen in sich zusammenfällt?« Zorg lief blau an. Picasso, für den Blau die Farbe der Zuneigung war, färbte sich vor Begeisterung grün. »Die Wahrheit ist, mein Sohn, daß das Leben ein Segen ist«, fuhr Vater Cornelius fort. »Ein wertvolles Geschenk, das mit Liebe geben wurde – gerade so, wie ich es jetzt Ihnen gebe.« Cornelius zog Zorg fest auf den Rücken. Die Kirsche flog aus seinem Mund und traf Picasso zwischen den Knopfaugen. Zorg setzte sich benommen auf. Er sah sich um und drückte auf einen Knopf seiner Sprechanlage. Die Bürotür öffnete sich. »Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte Zorg zu Cornelius, »und deshalb werde ich Ihr Leben verschonen. Vorläufig jedenfalls. Wache!«
Zwei bewaffnete Wächter stürzten herein. Right Arm folgte ihnen auf dem Fuße. »Werft ihn hinaus«, sagte Zorg. »Sie sind ein Monster, Zorg«, sagte Cornelius, als ihn die beiden Wächter hinauszerrten. Zorg schien sich endlich wieder gefaßt zu haben. »Danke«, sagte er. »Ich weiß.« Draußen saß seine Sekretärin am Empfangstisch und polierte sich die Fingernägel. »Einen schönen Tag noch, Vater«, sagte sie, als die Bürotür zuglitt und die Aufzugtür sich öffnete. Zorg entriegelte den Käfig und nahm Picasso heraus. Er wiegte ihn im Arm. Right Arm stand sprachlos bei ihm und wartete auf die Befehle, die man ihm früher oder später erteilen würde. »Foltern Sie, wen Sie wollen«, sagte Zorg. »Meinetwegen sogar den Präsidenten, wenn es sein muß. Ich will die Steine haben.« Right Arm nickte. »Ich gebe Ihnen eine Stunde.« Right Arm nickte und verließ das Büro. Zorg blieb noch lange gedankenverloren sitzen, streichelte sein kleines Ungeheuer und beobachtete, hoch über der riesigen, unruhigen Stadt, den Sonnenuntergang.
15
Lichtjahre von Zorg und seinem Kuscheltier entfernt, bezogen drei Kriegsschiffe Stellung vor einem dunklen Etwas, das zu einem Planeten geronnen war. Die Kriegsschiffe waren die besten, die die Flotte der Vereinigten Föderation aufzubieten hatte. Die besten der Besten. Der Planet war der schlimmste der Schlimmsten – eine dunkle Masse intelligenter oder mindestens reaktionsfähiger Antimaterie. Er schien im wahrsten Sinne des Wortes das Licht aufzufressen und erzeugte eine absolute Dunkelheit, die jedes menschliche Auge irritierte. Kleine Lichtfunken wurden zu ihm gezogen und verschwanden in ihm. Einer blinkte in großer Entfernung, dann erlosch er. Dann noch einer und wieder einer in einem anderen Sektor der Galaxis. Sie wurden von der Dunkelheit angelockt wie Insekten vom Licht. Es war Antilicht. Ein Vakuum, das Informationen aufsaugte, ein Schwarzes Loch, das technische Einrichtungen fraß. »Das Ding verschluckt alle Kommunikationssatelliten der Galaxis!« rief eine Stimme in einem der wartenden Schiffe. Dank des FTL-Funks, der überlichtschnelle Verbindungen ermöglichte, erschien er dunkle Planet zeitgleich auf einem Bildschirm in einem Büro in Manhattan. Auch die Stimme, die auf einem der Schiffe gesprochen hatte, war dort zu hören.
Der Zuhörer war ein großer Schwarzer, der niedergeschlagen in einem Sessel saß. Der Sessel trug das Emblem der Vereinigten Föderation. Der Präsident. »Warum, zum Teufel, frißt das Biest die Satelliten?« fragte er. Direkt neben ihm stand ein Wissenschaftler, der ein finsteres Gesicht machte. »Wir arbeiten daran, Präsident Lindberg.« »Soll es doch dran ersticken!« stöhnte der Präsident. General Munro betrat das Büro, als der Wissenschaftler hinausging. Zusammen mit ihm kam eine kleine Küchenschabe herein. Oder vielmehr, etwas krabbelte herein, das auf den ersten Blick eine Küchenschabe zu sein schien. Die winzige Antenne auf dem Rücken offenbarte aber, daß es sich um ein genverändertes biologisches Abhörgerät, ein GBA, handelte. Das GBA gehörte einem Mann, der auf der anderen Seite der Stadt in einem kleinen Zimmer saß und mit Kopfhörern lauschte. Right Arm. General Munro salutierte vor dem Präsidenten. »Es ist mir gelungen, mit den Mondoshawan Kontakt aufzunehmen«, berichtete er. »Sie bedauern den Vorfall, akzeptieren aber unsere Entschuldigung.« Der Präsident seufzte erleichtert. »Und was ist mit den Steinen? Haben Sie sie in den Wrackteilen des MondoshawanSchiffs gefunden?« »Die Heiligen Steine waren nicht an Bord des Schiffes.« »Wie bitte?« Der Präsident riß verblüfft die Augen auf. Das tat auch Right Arm, der dank der Wunder der Nanotechnologie mithören konnte.
»Die Mondoshawan haben den Menschen nie wirklich geglaubt«, erklärte General Munro. »Deshalb haben sie die Steine jemandem gegeben, dem sie vertrauen. Ihr Name ist Plavalaguna.« »Plava… wie war das?« »Plavalaguna«, sagte Munro. »Sie ist eine berühmte Diva, und sie wird in ein paar Stunden beim Wohltätigkeitsball auf Fhloston Paradise auftreten. Sie hat die Heiligen Steine bei sich.« »Ausgezeichnet«, sagte der Präsident. Er zog sich einen Schuh aus. »Ausgezeichnet!« schnaufte Right Arm begeistert. »Die verdammten Biester!« sagte der Präsident. Er zerquetschte die Küchenschabe, die inzwischen auf den Schreibtisch geklettert war. Auf dem Schreibtisch des Präsidenten knirschte es nur. Ein Stück weiter weg passierte etwas mehr. Right Arm flog der Kopfhörer von den Ohren. Dank der Wunder der elektronischen Schallverstärkung. »Die Operation soll so diskret wie möglich durchgeführt werden«, entschied der Präsident. »Keine Truppen, kein großer Aufmarsch. Der Rat braucht vorerst noch nichts zu erfahren. Setzen Sie Ihren besten Mann darauf an.« »Hmmm«, machte Munro. »Ich wüßte da jemanden.«
Munros bester Mann kotzte gerade ins Klo. Die Katze sah ihm durch die offene Badezimmertür argwöhnisch zu. Seltsame Angewohnheiten hatten diese Menschen. Aber daß sie so schnell rückwärts aßen, war neu. Vom Fenster aus betrachtete der thailändische Koch mit beruflich bedingter Sorge die Szene. Er hielt die Überreste der Nachspeise in der Hand. Es war eine ganz besondere
Delikatesse aus lebendigen Tintenfischen, Honig, der noch in den Körpern der Bienen steckte, und gezuckerten Quallenexkrementen. »Sie Dessert nicht mögen?« Korben hob schwach einen Daumen. »Ich habe nur zu schnell gegessen«, sagte er. »Das muß es gewesen sein.« Das Telefon klingelte. Korben nahm ab. »Hallo?« »Du bist das schlimmste Stück Dreck, das mir je in dieser stinkenden Stadt begegnet ist!« »Hallo, Ma!« rief Korben. Er hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. »Seit zwanzig Jahren spiele ich jetzt zweimal die Woche! Seit zwanzig Jahren esse ich diese verdammten Kroketten!« Korben wanderte im Raum umher und fand schließlich eine Zigarette. »Du wolltest nicht einmal eine einzige essen, um deiner armen Mutter zu helfen, und jetzt gewinnst du den Hauptpreis. Weißt du was? Ich finde das zum Kotzen.« »Ich kann’s dir nachfühlen, Ma«, sagte Korben, obwohl er keine Ahnung hatte, was sie meinte. Er suchte in den Taschen seiner Weste nach einem Streichholz. Draußen vor dem Fenster begann der Thai Fly By unterdessen mit seinen Aufräumungsarbeiten. Korben hielt die Hand über den Hörer. »Machen Sie nur, es wird wohl eine Weile dauern.« »Der Nachtisch bleibt hier«, sagte der Koch. »Keine Sorge, lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er stellte das Dessert auf die Fensterbank und sauste davon. Das Dessert bewegte sich noch. Unter der Kruste hörte Korben erstickte Schreie. »Hörst du überhaupt zu, du undankbares Miststück?«
»Ja, Ma«, sagte Korben. Er setzte sich auf den Tisch. »Und wie geht’s dir sonst?« Er probierte ein Streichholz. Es brannte nicht. »Jetzt machst du dich auch noch lustig über mich. Paß’ bloß auf, ich warne dich!« Korben versuchte das nächste Streichholz. Es brannte. »Wenn du mich nach all den Jahren, die ich mich für dich aufgeopfert habe, nicht mitnimmst, dann werde ich dir das nie verzeihen.« »Ma, wovon redest du eigentlich?« »Ich verstehe schon. Ich soll betteln, ja? Ist es das, was du willst?« »Ich will eigentlich nur eine Erklärung«, sagte Korben. »Ich bin gerade nach Hause gekommen, ich habe meinen Job verloren und mein Taxi schrottreif gefahren. Und man hat mich überfallen, aber sonst ist alles in Butter, Ma. Danke der Nachfrage. Und jetzt beruhige dich und erkläre mir, worüber du eigentlich redest. Aua!« Das Streichholz, das er inzwischen vergessen hatte, verbrannte Korbens Finger. Er ließ es fallen, und es ging aus. »Du hast eine Reise gewonnen, du Idiot! Zehn Tage in Fhloston Paradise für zwei Personen.« »Ma, wenn ich gewonnen hätte, dann müßte ich das doch wissen. Irgend jemand hätte mich benachrichtigt.« »Miau.« Die Katze sah zur Poströhre. Das blinkende Licht zeigte an, daß eine Nachricht gekommen war. Korben holte das letzte Streichholz heraus. Der letzte Versuch.
»Die reden seit einer Stunde auf allen Kanälen nur noch von dir, du Trottel!« Korben beäugte die Nachricht, die in der Röhre lag. Er kam nicht mehr dazu, sie aus der Röhre zu nehmen. Es schellte an der Tür. Korben schob das letzte Streichholz in die Streichholzschachtel zurück. »Ma, da ist jemand an der Tür. Warte eine Sekunde…« Er stellte das Telefon auf HOLD und schaltete den Monitor ein, mit dem er den Flur überblicken konnte. Er sah ein vertrautes Gesicht. Viel zu vertraut. Sofort schaltete er das Telefon wieder ein. »Mutter, ich rufe dich später zurück.« Dann öffnete er die Tür.
»Hübsche Wohnung, Major«, sagte General Munro, der eingetreten war, ohne hereingebeten worden zu sein. Eine uniformierte Frau folgte ihm. Irgendwie war sie wohl tatsächlich eine Frau, aber sie hätte nur noch einen Schnurrbart gebraucht, um einen Mann abzugeben. »Sieht aus, als hätten Sie sich prima eingerichtet, seit Sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind«, sagte Munro. »Nur, daß Sie, wie ich hörte, Ihren Job verloren haben.« Korben hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich werde schon einen neuen Job finden.« »Keine Sorge«, sagte Munro. »Wir haben einen Job für Sie.« »Wie schön, daß Sie immer noch an mich denken«, meinte Korben. »Mehr denn je«, erwiderte Munro. Er schnippte mit den Fingern, und die Adjutantin öffnete einen Aktendeckel und gab dem General ein Dokument.
»Major Korben Dallas«, las Munro im allerbesten Kasernenhofton, »Sie wurden gerade für eine äußerst wichtige Mission ausgewählt.« »Was für eine Mission?« »Sie sollen die Welt retten«, sagte Munro. »Das hatte ich befürchtet«, gab Korben zurück. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.« Munro überging die Bemerkung. »Sie sollen sofort zum Fhloston Paradise aufbrechen. Vier Steine von der Diva Plavalaguna entgegennehmen. Und mit größtmöglicher Diskretion hierherbringen.« Munro gab der Adjutantin das Dokument zurück, die es wieder in der Akte verstaute. »Irgendwelche Fragen?« »Nur eine«, sagte Korben. »Warum ich? Ich bin seit sechs Monaten nicht mehr im Dienst. Schon vergessen?« »Drei Gründe«, erklärte General Munro. »Erstens – als Angehöriger einer Eliteeinheit der Streitkräfte der Vereinigten Föderation sind Sie an allen Waffen und Raumfahrzeugen ausgebildet, die bei dieser Mission benötigt werden. Zweitens: Von allen Angehörigen Ihrer Einheit haben Sie die höchsten Auszeichnungen bekommen.« Korben blieb skeptisch. »Und der dritte Grund?« »Sie sind der letzte, der noch lebt.« Bevor Korben antworten konnte, beugte Munro sich über die blinkende Röhre und nahm die eingegangene Nachricht heraus. Es waren zwei Flugtickets, die in einem Briefbogen steckten. »Wollen Sie Ihre Post nicht lesen?« »Ich habe für heute schon genug schlechte Nachrichten bekommen«, erwiderte Korben. »Sie haben den alljährlichen Gemini Croquette Contest gewonnen. Eine Reise nach Fhloston Paradise«, sagte Munro,
ohne die Botschaft zu lesen. »Für zwei Personen. Meinen Glückwunsch.« Er gab Korben die beiden Flugtickets. Korben sah sie an, dann blickte er wieder zum General. »Wurde der Wettbewerb etwa von Ihnen gezinkt?« General Munro nickte. »Ist Ihnen denn nichts – nichts Diskreteres eingefallen?« Munro schüttelte den Kopf. »Die alten Tricks sind immer noch die besten«, sagte er. Er trat einen Schritt zurück, die Adjutantin trat einen Schritt vor. »Major Iceborg hier wird Sie als Ihre Gattin begleiten.« Korben schüttelte langsam den Kopf. »Ich fahre nicht.« »Warum nicht?« fragte Munro. »Ein wichtiger Grund«, erklärte Korben. »Ich will der letzte bleiben, der von meiner Einheit noch lebt.«
16
Der Flur war dunkel. Aufgeschreckte Insekten huschten davon, als Leeloo und Vater Cornelius Korbens Wohnung suchten. Leeloo hielt die billige blinkende Visitenkarte in der Hand, die Korben ihr gegeben hatte. Mit dem Eifer eines Kindes, das gerade eine neue Sprache lernt, betrachtete sie nacheinander die Türen und verglich die Namensschilder mit der Visitenkarte. Da! Sie hielt die Karte neben Korbens Namensschild vor die Tür und wollte klopfen (ein universell gültiges Zeichen, das soviel bedeutet wie ›Ich bitte eintreten zu dürfen‹, aber Vater Cornelius packte ihre Hand. Sie sah ihn neugierig an. »Asin get let deloun omekta?« Cornelius pellte Korbens Namensschild von der Tür ab. »Ihr Freund hat die letzten beiden Flugtickets gewonnen«, sagte er. »Ich bin sicher, daß wir nicht die einzigen sind, die ihn dringend sprechen wollen.« Er gab Leeloo das Namensschild. »Kleben Sie es an eine andere Tür, weiter unten auf dem Flur.«
Korbens Türglocke schlug an. »Tschuldigung«, sagte er zu General Munro und Major Iceborg. Er lugte durch den Spion hinaus und glaubte zuerst, er hätte Halluzinationen. Dann dachte er an eine himmlische Vision. Sie war es!
Leeloo. Das prächtigste Mädchen der Welt – stand vor seiner Tür! Korben wollte die Tür öffnen. Dann fiel ihm ein, daß General Munro und Major Eisbein noch da waren. »Verdammt!« fluchte er halblaut. »Was ist los?« fragte Munro besorgt. »Stimmt etwas nicht?« »Es ist… äh.« Korben wollte keine passende Lüge einfallen. Wie konnte er die beiden nur möglichst schnell wieder loswerden? Er wollte um jeden Preis verhindern, daß Leeloo dem Militär in die Hände fiel. »Da draußen steht meine Frau«, platzte er schließlich heraus. »Haben Sie etwa wieder geheiratet?« fragte Munro. Iceborg sah ihn eisig an. »Nein«, sagte Korben. »Ich meine, ja. Oder vielmehr bald, sollte ich sagen. Es ist… wir kennen uns noch nicht sehr lange. Sie können jedenfalls nicht hierbleiben.« »Warum denn nicht?« fragte Munro. »Sie haßt Uniformen«, erklärte Korben. »Wenn sie Sie hier sieht, dann ist es aus mit uns. Bitte! Sie haben schon meine erste Ehe zur Hölle gemacht. Versauen Sie mir nicht auch noch diese, bevor sie überhaupt begonnen hat. Hier hinein…« Er drückte auf einen Knopf an der Wand. Ein Mechanismus summte, während die Dusche einer begehbaren Kühlkammer Platz machte. »Major«, sagte Munro, »wir haben keine Zeit für solche Scherze!« »Eine Minute nur«, flehte Korben, während er schon die Kühlkammertür öffnete. »Es dauert nur eine Minute. Ich mache eine neue Verabredung mit ihr aus.« Er schob die beiden in die tresorähnliche Kammer. »Komme gleich!« rief er in Richtung Tür und drückte Munro den halb gegessenen Quallenkuchen in die Hand.
»Nicht aufessen«, warnte er. Bevor der General protestieren konnte, knallte er die Tür zu. »Bin schon unterwegs!« Was für ein Chaos! Das hübscheste Mädchen der Galaxie stand vor der Tür, und seine Wohnung war ein einziges Chaos. Korbens Hormone, die lange geschlummert hatten, tobten durch seinen Körper, und er sah seine eigene Wohnung durch Leeloo wundervolle grüne Augen. Widerlich! Hastig fegte er das schmutzige Geschirr vom Tisch und stopfte es in den Müllschlucker, der, ein sattes Lebewesen imitierend, lustvoll stöhnte. Dann rollte Korben die schmutzige Kleidung zu einem Bündel zusammen, das er ins Klappbett stopfte, bevor er das Bett zuklappte. Er zog einen Kamm aus seiner Westentasche und kämmte sich das schüttere Haar. Voller Vorfreude öffnete er die Wohnungstür. Und blickte in den Lauf einer Pistole, die Vater Cornelius in der Hand hielt. Korben bemerkte es kaum. Er hatte nur Augen für Leeloo, die hinter dem Priester stand. »Apipoulai!« sagte sie. »Das heißt wohl ›Hallo‹?« erkundigte sich Korben. Cornelius schob Leeloo in die Wohnung, und Korben schloß hinter den beiden die Tür. »Es tut mir leid, daß wir zu solchen Methoden greifen müssen«, sagte Cornelius, während er drohend mit der Waffe fuchtelte, »aber wir haben im Radio von Ihrem Glück gehört, und wir brauchen die Flugtickets nach Fhloston Paradise.« »Ist das die übliche Art und Weise, auf die Priester sich einen Urlaub genehmigen?« fragte Korben. Er hoffte, der Priester fände seinen Sarkasmus überzeugend.
»Wir wollen keine Urlaubsreise machen«, widersprach Cornelius. »Wir sind auf einer wichtigen Mission.« »Was für eine Mission soll das sein?« »Wir müssen die Welt retten«, sagte Cornelius. Korben setzte sich auf den Tisch und lachte. »Gibt es hier ein Echo?« Cornelius sah ihn groß an. »Oh, nein«, sagte Korben sarkastisch. »Ich verstehe. Heute ist Dienstag, nicht wahr? Dienstag ist der Rette-die-Welt-Tag. Sagen Sie mir, Vater, wollen Sie denn die Welt ganz allein retten?« »Nun, natürlich«, erklärte Vater Cornelius absolut aufrichtig. »Aber wenn Sie mir helfen wollen, dann würden wir uns natürlich sehr freuen.« Leeloo lächelte zustimmend. Korben bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Kopf zu schütteln, nein, nein, nein zu denken und mit dem Daumen nach unten zu zeigen. »Vater«, sagte er, »ich war eine Zeitlang in der Armee, und jedesmal, wenn uns die Vorgesetzten gesagt haben, wir müßten auf einer Mission die Welt retten, ist am Ende als einziges herausgekommen, daß eine Menge meiner Freunde draufgingen. Vielen Dank für das Angebot, aber nein, danke.« Cornelius schien enttäuscht. Leeloo, die neben ihm stand, schien am Boden zerstört. Das strahlende Lächeln war verschwunden. Korben sah die Enttäuschung in den großen grünen Augen und wollte es sich gerade noch einmal überlegen, als das Schweigen von einer elektrisch verstärkten Roboterstimme gebrochen wurde. »DIES – IST – EINE – POLIZEIKONTROLLE«, dröhnte draußen ein Lautsprecher.
Vater Cornelius wich zur Wand zurück. Er hatte Angst, und die Waffe, die er in der Hand hielt, war längst vergessen. Korben nahm ihm die Waffe ab und ging zum Türspion. Der Flur draußen wimmelte von Cops. Eine Abteilung hatte auf dem Treppenabsatz Position bezogen. Sie waren mit Lampen, Lähmgewehren, Schilden, Helmen und Laserabtastern ausgerüstet, mit denen sie durch die Türen in die Wohnungen spähen konnten. »Mein Gott«, sagte Cornelius. »Sind die etwa hinter uns her?« »Ich lege keinen großen Wert darauf, das herauszufinden«, sagte Korben. Er drückte noch einmal auf den Knopf in der Wand, und die Kühlkammer fuhr in den nächsten Stock. Die Dusche nahm wieder den alten Platz ein. »Leeloo«, sagte er, »verstecken Sie sich hier drin und rühren Sie sich nicht.« Ohne zu zögern ging sie in die Duschkabine. Hinter ihr schloß sich die Tür. Korben öffnete das Klappbett. »Was machen Sie da?« wollte Cornelius wissen. »Ich versuche, Ihren Arsch zu retten«, sagte Korben, während er den Priester ins Bett schob, bis der alte Mann auf der schmutzigen Wäsche lag. »Damit Sie die Welt retten können.« Er drückte auf den Knopf, mit dem das Bett in der Wand versenkt wurde. Dann schnappte er sich die beiden Flugtickets vom Tisch und schob sie sich in den Gürtel. Als er hinter sich ein platschendes Geräusch hörte, fuhr er herum. Ein durchsichtiger Kreis tauchte auf der Tür auf. Die Cops hatten von außen einen Durchblicker angebracht. »BREITEN-SIE-DIE-BEINE-AUS-UND-LEGEN-SIE-DIEHÄNDE-IN-DIE-GELBEN-KREISE.« Zwei kleinere Kreise erschienen auf der Tür. Laserhandschellen.
»LEGEN-SIE-DIE-HÄNDE-IN-DIE-GELBEN-KREISEBITTE.« Ein Cop lugte durch den großen Kreis. Er hob einen Steckbrief hoch, auf dem Korbens Gesicht abgebildet war. Es war ein altes Bild aus Korbens Militärzeit. Damals hatte er noch langes Haar und einen Bart getragen. »HÄNDE-IN-DIE-GELBEN-KREISE-SOFORT.« Korben ging langsam zur Tür und hielt das Gesicht so gut wie möglich abgewandt. »Sind Sie ein Mensch?« fragte der Cop, der sich mit seinem Apparat abmühte, um ein besseres Bild zu bekommen. »Nein«, sagte Korben. »Ich bin ein Käseauflauf.« Der Cop wollte gerade Korbens Gesicht näher untersuchen, als weiter unten im Flur ein Kollege rief: »Ich habe ihn gefunden!« Jedenfalls lautete das Namensschild auf Korben Dallas. Na, also! Der Cop klemmte einen Durchblicker an die Tür. Korbens unfreundlicher Nachbar rasierte sich gerade. Sein Gesicht war voller Rasierschaum. Es sah beinahe aus wie ein Bart. Der Cop schaltete den Robotlautsprecher ab. Warum ein großes Theater machen und alle Leute aufschrecken? »Dies ist eine Polizeikontrolle«, sagte er höflich. »Legen Sie bitte die Hände in die gelben Kreise.« Korbens unhöflicher Nachbar lugte durch den durchsichtigen Kreis in seiner Tür nach draußen. Er sah zwei junge Cops, die nervös an ihren Betäubungsgewehren herumfingerten, und ein Foto von einem Kerl mit einem Bart. Die Cops sagen einen Mann, der sich seinen Bart abrasierte. »Öffnen Sie die Tür!« befahlen sie.
Nie um eine Antwort verlegen, sagte der unhöfliche Nachbar das, was er immer sagte, wenn ihn in dieser nervtötenden Welt etwas nervte. »Leckt mich doch.« Korben hörte es in seiner eigenen Wohnung mit an. Er hörte die Aufforderung der Polizei und die Antwort des unhöflichen Nachbarn. Dann hörte er, wie die Tür aufgebrochen wurde, dann die Schüsse aus dem Betäubungsgewehr, den Kampf. Er lächelte. »Falsche Antwort.« Hallende Schritte im Flur, als weitere Cops angerannt kamen. Korben sah durch den Durchblicker, der allmählich wieder verblaßte, hinaus. Er sah, wie die Cops einen sich windenden Festnahmesack durch den Flur schleppten und die Treppe hinunter bugsierten. »Okay, okay!« rief einer. »Wir haben den Kerl erwischt!«
Right Arm hatte mitgehört. Er hing in Zorgs Büro am Telefon. Die Verbindung zur Polizei stand noch. »Es war nicht einfach, aber wir haben ihn eingesackt«, erklärte ihm der Beamte, der seinen Anruf angenommen hatte. »Danke für den Tip.« »Der Polizei hilft man doch gern«, sagte Right Arm und legte lächelnd auf. »Sie haben diesen Dallas gerade wegen Uranschmuggels festgenommen«, sagte er stolz zu Zorg. »Es läuft wie geplant.« »Uranschmuggel?« Zorg war skeptisch. »Ich dachte, er würde wegen mehrerer Verkehrsverstöße und Widerstand gegen die Staatsgewalt gesucht.« »Ein kleiner Irrtum«, sagte Right Arm. »Ich habe den Code ein bißchen verändert, um auf Nummer Sicher zu gehen.«
Er zeigte Zorg ein gefälschtes Flugticket und einen Paß. Beide Dokumente lauteten auf den Namen Korben Dallas. »Jetzt muß ich nur noch zum Raumhafen fahren und seinen Platz einnehmen. In weniger als vier Stunden müßte ich auf Fhloston sein.« Zorg war nicht beeindruckt. »Kommen Sie mir ja nicht ohne die Steine zurück.«
17
Korben öffnete die Duschkabine. Leeloo stand unter dem Strahl. Sie zitterte heftig. »Tut mir leid«, sagte Korben. »Ich habe vergessen, daß das warme Wasser in diesem alten Regalturm meist nicht funktioniert.« Er fand in einer Ecke eine Decke und wickelte Leeloo darin ein. Sie kuschelte sich, immer noch zitternd, in seine Arme. Korben nibbelte sie ab, doch nach einer Weile wurden die Bewegungen langsamer und veränderten sich von einer freundschaftlichen Hilfeleistung zu intimer Zärtlichkeit. »Komisch«, sagte er. »Wir sind uns heute zweimal begegnet, und beide Male bist du in meinen Armen gelandet.« Leeloo lächelte und kuschelte sich enger an ihn. »Vallo massa. Chacha hamas.« »Äh, ja, das finde ich auch«, sagte Korben. Nervös löste er sich von ihr. »Kaffee. Das ist es, was du brauchst«, sagte er und drückte auf den Knöpfen des Mikrowellenherdes herum. Diese Augen! Sie machten ihn ganz zappelig. »Eine schöne Tasse Kaffee. Heiß und mit Honig.« Er hatte sich doch eigentlich vorgenommen, nie wieder was mit einer Frau anzufangen. Oder? Warum pochte sein Herz auf einmal so heftig? »Mit Honig!« sagte Korben aufgeregt. »Du wirst sehen, Honig ist gut für dich.«
Aber wo war der verdammte Honig? Korben öffnete Schublade um Schublade, wühlte sich durch sechs Monate unsortierten Junggesellenmüll. »Eine heiße Tasse Kaffee… mit Honig…« Leeloo sah aus, als wollte sie ihm helfen. Immer noch in die Armeedecke gewickelt, folgte sie ihm durch die winzige Wohnung und öffnete und schloß verschiedene Schubladen. »Hoh Nich!« sagte sie. »Irgendwo muß dieser tolle Honig doch sein«, plapperte Korben nervös. »Kennst du Honig? Es gab früher mal diese kleinen Tiere mit Fühlern auf den Köpfen, die ihn produziert haben…« Leeloo hatte in einer Schublade ein Foto gefunden. Sie nahm es heraus und hob es hoch. Es zeigte Major Korben Dallas, den Kriegshelden, als er gerade mit einer Ehrenmedaille für besondere Tapferkeit ausgezeichnet wurde. »… und dann gab es diese anderen Tiere, die ihn gefressen haben«, fuhr Korben fort. »Die einen hießen Bienen, die anderen waren die Bären.« Leeloo blickte zwischen dem Kriegshelden und dem Nervenbündel, das dummes Zeug über Bienen und Bären plapperte, hin und her. Sie lächelte. »Ich vergesse immer, wer ihn gegessen und wer ihn gemacht hat«, sagte Korben. »Aber… hier ist er!« Er hob ein altmodisches Glas mit einem Blechdeckel hoch und schraubte den Verschluß ab. »Probiere das mal.« Leeloo steckte einen Finger in den Honigtopf. Dann schob sie sich den Finger in den hübschen Mund. Korben sah ihr wie hypnotisiert zu. »Das… er schmilzt in deinem Mund, oder?«
Leeloo nickte. Sie lutschte genüßlich den Finger ab, dann tauchte sie alle vier Fingerspitzen in den Topf und leckte sie sauber… eine nach der anderen… Korben war verloren. Hin und weg. Überwältigt. Er war so gefesselt von Leeloos Anblick, daß er nicht einmal das gedämpfte Klopfen in der Ecke hörte, bis es zu einem gleichmäßigen Pochen wurde. »Hörst du das?« fragte Korben. Leeloo nickte und leckte weiter an ihren Fingerspitzen herum. »Cor Neh Li Us«, sagte sie schließlich. »Oh, mein Gott!« Korben drückte auf den Knopf an der Wand, und das Bett klappte auf. Vater Cornelius war unter einen Berg schmutziger Wäsche geraten. »Tut mir wirklich leid«, sagte Korben. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« »Ich brauche Ihre Hilfe nicht«, sagte Cornelius, während er versuchte, sich möglichst würdevoll zu befreien. Der Mikrowellenherd piepste. »Kaffee ist fertig«, sagte Korben. Er ging zur Anrichte und schenkte für Leeloo und sich je eine Tasse Kaffee ein. »Ich warne dich«, sagte er. »Kaffee ist nicht gerade meine Spezialität.« Er drehte sich um, wollte ihr eine Tasse anbieten – und sah, daß sie die nasse Kleidung ausgezogen hatte. Sie wrang sie im Spülbecken aus. Sie hatte auch die Armeedecke weggelegt. Sie war nackt.
Schockierend, faszinierend, bewundernswert, großartig, wundervoll und völlig nackt. Absolut nackt. Korben wandte sich verlegen ab und widmete sich wieder seiner Kaffeetasse. »Vielleicht sollte ich deinen Kaffee, äh, für dich warmhalten«, murmelte er. »Ich mag es nämlich, wenn er… wenn er heiß ist.« Hinter ihm betrachtete Cornelius eine schwere, verstaubte Trophäe, die Korben beim Militär bekommen hatte. Ein Souvenir aus einem vergessenen Krieg, das jetzt als Briefbeschwerer diente. Cornelius wog den Pokal in der Hand, dann hob er ihn und ließ ihn auf Korbens Hinterkopf knallen. Es gab einen kurzen, dumpfen Laut. Leeloo sah Cornelius wütend an. »Vano da, mechtaba? Soun domo kala chon hammas!« »Ich weiß«, erwiderte Cornelius, »ich bin auch nicht gerade stolz auf mich. Aber wir haben wirklich keine andere Wahl.«
Unterdessen zerrte das Einsatzteam der Polizei den eingesackten Nachbarn aus dem Hauseingang zum wartenden Polizeischweber. Ähnlich wie Korben, spürten auch die Polizisten wie aus heiterem Himmel einen kurzen, scharfen Schmerz. Drei Schüsse aus schallgedämpften Betäubungspistolen, und die Cops fielen um wie vom Blitz gefällt. Drei Mangalore-Krieger, erfahrene Gestaltwandler, hoben den Sack mit dem Verhafteten auf, noch während sie wieder ihre natürlichen, gräßlichen Gestalten annahmen. Es war anstrengend gewesen, wie Menschen auszusehen, und die drei Krieger waren müde.
Sie schleppten den Verhafteten auf die Ladefläche eines schwebenden Lieferwagens, wo Aknot, der bei der Explosion im Lagerhaus schwer verletzt worden war, ungeduldig wartete. »Korben Dallas«, sagte der Anführer des Greiftrupps der Mangalore, indem er auf den sich windenden Mann im Sack deutete. »Wir haben ihn!« »Perfekt«, stöhnte Aknot. »Übernimm das Kommando, Akanit. Fahre nach Fhloston und beschaffe die Steine. Wenn Zorg sie unbedingt haben will, dann wird er verhandeln müssen.« Er schloß die schmalen Augen. »Die Rache ist unser!«
Korben rappelte sich auf. Er sah sich in der Wohnung um, in der sich vor kurzem noch die Traumfrau Leeloo aufgehalten hatte. Und dieser hinterhältige Priester. Beide waren fort. »Jesus«, sagte Korben. Er betastete mit einer Hand seinen Hinterkopf. Die Haare waren klebrig von Blut. So langsam reichte es ihm. Wie immer im unpassendsten Moment schellte das Telefon. Er hielt sich weiter mit einer Hand den Hinterkopf und nahm mit der anderen den Hörer ab. »Yeah?« »Na, bist du jetzt endlich wieder zu sprechen?« »Noch nicht ganz, Ma.« Er legte wieder auf. Korben hatte wahnsinnige Kopfschmerzen. Er brauchte Eis, drückte auf den Knopf an der Wand, und der Transportmechanismus ersetzte ächzend die Dusche durch die begehbare Kühlkammer.
Korben öffnete die Tür und sah sich den gefrorenen Statuen von General Munro und Major Iceborg gegenüber. Aua. Die hatte er ganz vergessen. »Ich übernehme den Einsatz«, sagte Korben, während er sich ein paar Eiswürfel griff und die Tür wieder schloß.
18
Der Manhattan Intergalactic Airport war ziemlich voll. Voller Müll, nicht voller Reisender. Die Müllabfuhr streikte, und inzwischen türmte sich der Müll fast bis zur Decke der Eingangshalle. Schmale Schneisen, die durch die Müllgebirge geschlagen worden waren, führten zu den Abfertigungsschaltern und den Flugsteigen. Die streikenden Arbeiter marschierten umher und sangen. Einige waren Menschen, einige waren Roboter oder Androiden, wieder andere waren Außerirdische oder genveränderte Wesen. Alle trugen Plakate, auf die sie ihre Forderungen geschrieben hatten. Die Polizei sammelte sich inzwischen draußen, um gegen die Streikenden vorzugehen. Eine fast körperlich spürbare Spannung lag in der Luft, ähnlich der statischen Elektrizität vor einem Gewitter im Sommer. David, der Novize, sah ihnen schon eine Weile zu. Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter. »Uaah!« machte er und zuckte zusammen. Dann drehte er sich um und sah Vater Cornelius und die hübsche Leeloo, inzwischen vollständig bekleidet, aber immer noch oder schon wieder tropfnaß. »Hast du sie?« fragte Cornelius, der wie immer ohne Umschweife zur Sache kam. David nickte. Er gab dem Priester zwei Pässe. »Ausgezeichnet«, sagte Cornelius. Er klappte die Ausweise auf und begutachtete die Qualität der Fälschungen. Einen gab er Leeloo. »Leeloo Dallas.«
Sie nahm ihn erfreut lächelnd entgegen. »Und Korben David Dallas. Perfekt!« Vater Cornelius gab David den zweiten Paß. Leeloos Lächeln verblaßte. »Akta dedero ansila deno perfekt?« Vater Cornelius schüttelte den Kopf. »Leeloo, ich kann nicht so tun, als wäre ich Ihr Ehemann. Ich bin zu alt. David ist großartig in Form. Er ist jung, und er ist stark. Er wird Sie beschützen.« David schien bei jedem Wort ein Stück größer zu werden. Er reichte Leeloo eine Hand, und Leeloo schlug widerstrebend ein. Hinter ihnen fielen die ersten Schüsse. Vater Cornelius sah sich nervös zu den Streikenden um. Die Cops griffen die Arbeiter an. Cornelius deutete zur Schlange vor dem Abfertigungsschalter. »Nun macht schon! Sucht die Diva auf und holt die Heiligen Steine. Ich werde im Tempel auf euch warten. Gott sei mit euch!«
Korben duckte sich, als ein Querschläger hinter ihm eine Scheibe zertrümmerte. Er ging in die Knie und rannte im Zickzack durch die Müllberge in der Eingangshalle des Raumhafens. Hastig suchte er die Menge nach Leeloo ab. Bisher konnte er nur Streikende sehen, die kopfüber im Müll verschwanden, um den angreifenden Polizisten zu entkommen. Die Anzeige über dem Flugsteig blinkte bereits: »Nonstop nach Fhloston, erster Aufruf.« Rasch befreite er sich von zwei Polizisten, die ihn mit einem Streikenden verwechselt hatten, und arbeitete sich durch den Müll zum Abfertigungsschalter vor.
»Meinen Glückwunsch«, sagte die Stewardeß, die sie abfertigte. David sah sie verwirrt an. »Dafür, daß Sie den Gemini Croquette Contest gewonnen haben – die Reise nach Fhloston Paradise«, erklärte die Stewardeß, während sie die Bordkarte an Davids Ticket heftete und ihm den Paß zurückgab. »Oh, yeah«, sagte er. »Siehst du, ich hab’s doch noch geschafft«, sagte Korben. Er drückte David die Knöchel in den Rücken, als hätte er eine Waffe in der Hand, und riß ihm den Paß aus der Hand. »Dabei hatte ich schon befürchtet, ich würde den Flug verpassen«, fügte er, an die verwirrte Stewardeß gewandt, hinzu. Leeloo begann zu strahlen. »Danke, mein Junge«, sagte Korben, während er David zur Seite schob. »Bist du so nett und legst unser Gepäck auf das Förderband?« Korben versetzte David einen Stoß mit der »Pistole«, um etwas Überzeugungsarbeit zu leisten. »Oh, yeah«, meinte David wenig begeistert. »Schön!« meinte Korben und schob David scheinbar freundschaftlich, aber dennoch sehr nachdrücklich in Richtung der Müllhaufen. »Und jetzt verschwinde!« Korben wandte sich mit seinem charmantesten Lächeln an die immer noch verwirrte Stewardeß. »Ich hatte Angst, ich könnte den Flug verpassen, und deshalb habe ich den Jungen gebeten, meine Bordkarte zu holen.« Leeloo lächelte und streckte die Hand aus, um ihr Ticket in Empfang zu nehmen. Die Stewardeß hielt Leeloos Bordkarte und den Paß fest. Sie sah Korben und Leeloo mißtrauisch an. »Ihre Frau?« fragte sie Korben.
Korben schnappte den Paß und las. »Äh, ja, sicher«, sagte er. »Frisch verheiratet. Liebe auf den ersten Blick. Man trifft sich, etwas macht ›klick‹, man heiratet, obwohl man sich kaum kennt. Stimmt’s nicht, Darling?« Leeloo langte über die Theke und nahm der Stewardeß die Bordkarte aus der Hand. »Dinoine chagatakat!« »Du sagst es, Liebe. Geh nur, ich komme gleich nach.« Korben wandte sich wieder an die Stewardeß. »Dies ist unsere Hochzeitsreise«, erklärte er mit einem neckischen Zwinkern. »Sie ist ein bißchen nervös.«
Ein vertrautes, häßliches Gesicht tauchte vor der Eingangstür des Raumhafens auf. Der Mann kletterte über und durch den dampfenden Müll. Es war Korbens unfreundlicher Nachbar, der von einer jungen Frau mit einem seltsam leeren Gesichtsausdruck begleitet wurde. Als die beiden sich einen Weg durch den Müll bahnten, wurden sie beinahe von einem großen roten Vieh umgerannt. Ein Polizeischwein, das an einer stählernen Kette geführt wurde. »Nun mach schon, Snyffer, such!« sagte der Schweineführer, der hinter dem Polizeischwein herrannte. Der unfreundliche Nachbar trat einen Schritt zur Seite, dann stürzte er weiter zum Abfertigungsschalter. Das Mädchen mit dem leeren Gesicht folgte ihm.
Ein paar Meter weiter saß Vater Cornelius auf einem Barhocker und machte sich über seinen zweiten Martini her.
»Ich habe solche Schuldgefühle«, sagte er zum robotischen Barkeeper. »Leeloo vorzuschicken, damit sie die Schmutzarbeit macht, genau wie diese armen Polizeischweine. Ich weiß, daß sie stark ist, aber sie wirkt so zerbrechlich. So menschlich. Weißt du, was ich meine?« Der Barkeeper hatte an Stelle des Gesichts einen Monitor. Der Bildschirm glühte mitfühlend, während die Maschine schwerfällig nickte. Roboter sind gute Zuhörer.
Der unfreundliche Nachbar gab der Stewardeß seinen Paß. Sie sah ihn überrascht an. »Dallas? Korben Dallas?« »Ja«, sagte der unfreundliche Nachbar. »Der bin ich.« Die Stewardeß lächelte höflich. Unterdessen drückte sie mit dem Fuß auf einen Schalter, der einen über ihrem Kopf angebrachten Miniaturscanner in Betrieb setzte. Der Ultralichtscanner offenbarte, daß der unfreundliche Nachbar und seine Begleiterin mit dem leeren Gesicht Mangalore waren. Die Stewardeß ließ sich nichts anmerken. »Einen Augenblick, bitte«, sagte sie mit ihrer kundenfreundlichsten Stimme. Mit dem zweiten Fuß löste sie einen stillen Alarm aus. Die Mangalore, die spürten, daß sich etwas zusammenbraute, wollten sich verdrücken. »Wir sind gleich wieder da«, sagte der unfreundliche Nachbar mißtrauisch. Er packte seine Freundin an der Hand und schleppte sie fort, um in der Menge unterzutauchen.
»Noch einmal das gleiche?« fragte der Robotbarkeeper. Vater Cornelius’ Augen waren inzwischen etwas glasig. »Yeah.« »Lieber gleich zwei«, sagte jemand neben ihm. Verblüfft sah Cornelius sich um. David, der Novize, nahm auf dem Hocker neben ihm Platz. Cornelius wurde schlagartig nüchtern. »Wo ist Leeloo?« fragte er entsetzt. David kippte seinen Martini und knallte das Glas auf die Bar wie ein Cowboy. Der Stiel brach. »In der Maschine. Zusammen mit Mr. Dallas. Mit dem richtigen Mr. Dallas.« »Wie bitte?« »Er hat mir eine Kanone ins Kreuz gedrückt«, sagte David. »Genau hier.« Er drehte sich um und zeigte Cornelius die Stelle. »Allmächtiger Gott!« rief Vater Cornelius. »Das ist alles meine Schuld. Ich bin der Diener, und ich hätte es selbst in die Hand nehmen müssen. Ich hätte dich nicht damit beauftragen dürfen.« David bestellte sich gerade den zweiten Martini. Vater Cornelius griff unter seine Kutte und riß sich die Kette vom Hals. Er gab David den gekrümmten Stahlfinger. »Hier.« »Was ist das?« »Das ist – der Schlüssel – für den Tempel«, sagte Cornelius, während er erst Davids Martini und dann seinen eigenen kippte. »Fahre hin und bereite alles für unsere Ankunft vor. Ich muß meinem Schicksal ins Auge sehen.« Damit verschwand er in der Menschenmenge. Leider befand er sich unmittelbar hinter dem Mangalore, dem immer wieder das Gesicht des unfreundlichen Nachbarn aus
den Fugen geriet, während er mit dem Mädchen zum Ausgang des Raumhafens rannte. »Sage Aknot, daß Plan A gescheitert ist«, trug der Mangalore-Nachbar dem Mangalore-Mädchen auf. »Wir müssen auf Plan B ausweichen.« Sie nickte, eilte davon, sprang über einen Müllhaufen und rannte zum Ausgang. Zwei Cops traten dem Mangalore-Nachbarn in den Weg. Er holte sein ZF1 hervor und feuerte zweimal, dann tauchte er in den Müllhaufen. Die Cops erwiderten das Feuer, trafen ihn aber nicht. »Schicken Sie Verstärkung!« schrie einer der Cops in ein kleines Funkgerät. »Zone Sieben!« Cornelius stand jetzt buchstäblich mit dem Rücken an der Wand und versuchte, den herumzischenden Kugeln auszuweichen. Hinter ihm in der Wand wurde eine verborgene Tür nach oben aufgezogen. Drei riesige Schweine stürmten heraus, gefolgt von ihren bewaffneten Schweineführern. Die Tür federte auf und nieder, dann begann sie sich zu senken. Cornelius sah sich nach links und rechts um, ließ sich auf alle viere nieder und kroch durch die Tür, kurz bevor sie sich endgültig schließen konnte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Korben. Eine Stewardeß führte ihn durch die Erste Klasse. Sie hatte darauf bestanden, daß Korben sie begleitete. Ihre hochhackigen Schuhe klickten bei jedem Schritt. Sie ging so schnell, daß er kaum mitkam. »Ich sollte meine Frau eigentlich nicht allein lassen«, protestierte Korben. »Sie… wenn sie nervös wird, dann ist sie…«
Er suchte nach dem richtigen Wort, um Leeloo zu beschreiben. »… unberechenbar.« »Es dauert nur einen Augenblick«, sagte die Stewardeß. »Loc Rhod ist der schnellste DJ im Universum. Sie haben ja wirklich ein unheimliches Glück!« Korben hatte seine Zweifel. »Hören Sie«, sagte er, »ich bin sicher, daß er ein prima Kerl ist, aber ich will kein Interview geben. Ich würde lieber anonym bleiben.« Die Stewardeß blieb stehen und sah Korben voll an. »Vergessen Sie die Anonymität!« sagte sie. »Sie sind jeden Nachmittag von fünf bis sieben für Loc Rhods Livesendung gebucht.« Korben dämmerte allmählich, was ihm für ein Presserummel bevorstand, nachdem er sich auf dieses Spiel eingelassen hatte. »Sie machen wohl Witze«, stammelte er. Dabei wußte er genau, daß sie es absolut ernst meinte. Die Stewardeß schüttelte lächelnd den Kopf. Es war kein Witz. Und Korben sah in die falsche Richtung. Eine Tür ging auf, traf Korbens Kopf und bereicherte seinen Himmel um ein paar neue Sterne. Durch die Tür trat ein äußerst lebhaftes Geschöpf, das sich durch seine makellose Eleganz ebenso auszeichnete wie durch die stark schwankende Verständlichkeit seiner verbalen Äußerungen. Ein junger Schwarzer mit künstlerisch wertvoller Frisur, mit Samthosen mit gewaltigem Schlag und spitzen Schuhen in der Größe von Kindersärgen. Der beliebteste DJ des 24. Jahrhunderts. Loc Rhod.
»Korben Dallas!« sagte der DJ. Er sprach in ein Mikrophon, das oben in einen silbernen Gehstock eingearbeitet war. Die Worte kamen rhythmisch, so daß sein Vortrag nicht nach Radioreportage, sondern eher wie ein Rap-Stück klang. »Hier ist er! Der glückliche, strahlende Gewinner des Gemini Croquette Contest!« Loc Rhod drehte sich um und musterte die Menschen, die sich allmählich um ihn sammelten. »Dieser Junge ist ein Vulkan! Meine Damen, Sie dürfen dahinschmelzen, weil er heiß ist – heiß, heiß, heiß!« Loc Rhod legte eine Hand auf Korbens Arm. »Die richtige Größe!« sagte er. »Gut gebaut, schönes Haar, der Mann ist in Ordnung! Und er ist bereit, etwas für die fünfzig Milliarden Ohren zu sagen, die jetzt auf seine Worte lauschen. Laß knacken, D-Man!« Er hielt Korben das Mikrophon vor die Nase. »Oh, äh… hallo«, sagte Korben. Loc Rhod verdrehte schmerzvoll die Augen und zog den silbernen, mit Edelsteinen besetzten Mikrophongehstock zurück. »Das ist ein-fach gi-gan-tisch!« rief er. Er packte Korben am Arm und führte ihn durch den Gang. Die Menge blieb hinter ihnen zurück. »Gänsehaut, meine Damen, ihr bekommt eine Gänsehaut!« pries Loc Rhod seine Beute an. »Er wird die Welt in Brand setzen, und zwar jeden Tag von fünf bis sieben! Sie werden alles erfahren, was es über den D-Man zu wissen gibt! Seine Träume, seine Wünsche, seine intimsten Geheimnisse! Und nach allem, was ich hier sehe, scheint ›Intim‹ der Mittelname dieses Prachtkerls zu sein!« Er beugte sich vor und hielt Korben abermals das Mikrophon vor die Nase. »Sie sind dran, Mann, Sie sind doch nicht nervös, Mann?« skandierte er.
»Äh… nein, eigentlich nicht«, stotterte Korben. Loc Rhod legte einen Arm um die Stewardeß. »Ihr flippt gleich aus, meine Süßen, denn jetzt ist Korben im Haus, den müßt ihr genießen!« Der Geleitzug hielt an einer Stelle an, wo sich zwei Gänge kreuzten. Dort hatte die für die Bordverpflegung zuständige Firma einen Roboter bereitgestellt, der ein Tablett mit Champagnergläsern hielt. Loc Rhod schnappte sich ein Glas, leerte es mit einem Zug und warf es weg. Er schwatzte unablässig und gab gleichzeitig Autogramme. »Gestern noch ein armer Wicht, morgen der Prinz von Fhloston Paradise!« Ein Assistent reichte ihm eine Karte mit neuen Stichwörtern. »Das schwebende Hotel mit den tausend zauberhaften Ablenkungen, Zerstreuungen und Vergnügungen! Ein Zauberkeller, aus dem der Wein in Fässern rollt, wo es Frauen gibt und alles, was ihr sonst noch wollt. Alles steht dort für euch bereit, solange ihr auf den Beinen seid!« Korben sah sich um. Er staunte über den eleganten, wieselflinken DJ, der sich zwei Stewardessen gleichzeitig schnappte und dabei so mühelos weitersprach, wie andere Menschen liefen oder atmeten. Das Sprechen schien bei ihm ein nahezu unbewußt ablaufender Prozeß zu sein; die Worte und Reime strömten pausenlos aus seinem Mund, während er die Menge einschätzte, die ihm auf Schritt und Tritt folgte. »Leckt schon mal an euren Briefmarken, ihr kleinen Mädchen, denn wenn ihr diesen Kerl gesehen habt, dann werdet ihr nach Hause an eure Mamis schreiben! Morgen von fünf bis sieben will ich eure Stimme sein und eure Zunge, und ich werde den begehrenswertesten Mann des Jahres neben mir haben! Den D-Man! Euren Supermann! Meinen Gast…« Irgendwo piepste ein kleines Gerät.
»Ende der Sendung«, sagte ein Techniker über einen Lautsprecher. Loc Rhod hörte schlagartig auf. Es wurde still im Gang. Zwei Assistenten kamen herbeigerannt, einer mit einer Zigarette, der andere mit einem Streichholz. Loc Rhod zündete sich die Zigarette an und stieß eine Qualmwolke aus. »Wie war ich?« »Oh, alles grün«, sagte ein Assistent. »Wie grün?« »Oh, grün, grün, grün«, tönte der zweite. »Supergrün. Smaragdgrün.« Loc Rhod wandte sich an Korben. Er legte ihm die Hand auf den Arm und sagte mit schleimiger, salbungsvoller Stimme: »Korben, mein Bester, könnten Sie mir einen Gefallen tun?« Mein Bester? Korben sah den DJ skeptisch an. Einen Gefallen tun? »Ich weiß, daß dies womöglich die größte Sache ist, die Sie in Ihrem unbedeutenden Leben je erlebt haben«, fuhr Loc Rhod fort, »aber ich muß hier meine Show machen, und das muß fetzen, verstehen Sie? Peng peng, peng! Also helfen Sie mir ein bißchen, wenn wir morgen wieder auf Sendung sind.« Helfen? Korben starrte den arroganten kleinen DJ ungläubig an. »Versuchen Sie, den Leuten klarzumachen, daß Ihr Vokabular aus mehr als sechs Worten besteht. Alles grün, Kumpel?« Statt zu antworten, packte Korben Loc Rhod am Kragen. Ein Leibwächter wollte eingreifen, aber Korben stieß ihn zur Seite. Sein Kollege zögerte.
Korben drückte Loc Rhod gegen die Wand, klemmte seinen Kopf in eine Ecke und hob ihn hoch, bis die Füße einen halben Meter über dem Boden schwebten. »Alles grün?« sagte Korben. »Ich bin nicht hergekommen, um im Radio den Affen zu machen. Morgen zwischen fünf und sieben können Sie sich im Radio selbst helfen. Alles grün, Kumpel?« Loc Rhod fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Alles grün«, keuchte er.
Die Stewardeß in der Bodenabfertigung, die mit ihrem durchsichtigen Kleid und dem Plastikhut einfach umwerfend aussah, betrachtete die beiden Tickets, die sie gerade entgegengenommen hatte. Sie las neugierig die Namen. »Mr. Dallas? Mr. Korben Dallas?« »Genau«, sagte Right Arm und strahlte sie so überzeugend wie möglich an. Es gelang ihm nicht besonders gut. Die Stewardeß drückte mit dem Fuß auf den Passagierscanner, und der Ultralichtstrahl spielte über Rights Arms Gesicht. Es blieb das Gesicht, das es war. »Das Problem ist«, erklärte die Stewardeß, »daß ich nur einen Korben Dallas auf der Liste habe. Und der hat schon eingecheckt.« »Unmöglich!« rief Right Arm. Sein Lächeln zerkrümelte. »Er ist im Gefängnis… ich meine, das muß ein Fehler sein. Ich habe mein Ticket hier. Ich bin der richtige Korben Dallas!« Irgendwo hinten bei den Flugsteigen schlug eine Glocke an. »Es tut mir leid, Sir«, sagte die Stewardeß, »es sind alle Passagiere an Bord.«
Zorgs Rights Arm griff nach der Stewardeß, doch im letzten Augenblick fuhr ein Plexiglasschild aus der Theke hoch. »Ich bin Korben Dallas!« brüllte Right Arm. Er dachte an die Folterungen, die Zorg sich für ihn ausdenken würde, wenn er scheiterte. »Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen! Machen Sie dieses verdammte Fenster hier wieder auf! Jemand hat einen Fehler gemacht, verdammt!« Er trommelte mit beiden Fäusten auf die Theke. Die einzige Folge davon war, daß ein Metallgitter herunterglitt, das die Plexiglasabschirmung verstärkte. »DIES-IST-KEINE-ÜBUNG«, sagte eine Roboterstimme irgendwo über ihm, wo sich vorübergehend ein Atmosphärenlautsprecher gebildet hatte. Rote Laserstrahlen zuckten und verharrten auf Right Arms Körper. Zielerfassung. »DIES-IST-EINE-POLIZEI-KONTROLLE-LEGEN-SIEDIE-HÄNDE-AUF-DIE-GELBEN-KREISE.« Gewehrläufe schoben sich aus der Wand, aus der Theke, aus dem Fußboden. »Entschuldigung«, sagte Right Arm wie ein unschuldiger Bürger, der geistesgestörte Ordnungshüter besänftigen will. »Ich bin nur etwas aufgeregt. Das ist alles. Jetzt bin ich ganz ruhig.«
19
Korben haßte Weltraumreisen. Die Militärschiffe waren schon schlimm genug. Dort war das Kanonenfutter auf Aluminiumsitzen aufgereiht, jeder Mann nervös seinen Gedanken nachhängend, während er überlichtschnell durch die Galaxis zum nächsten Selbstmordkommando befördert wurde. Die Touristenklasse in Privatmaschinen war noch schlimmer. Dort gab es nur Stehplätze, und bei Reisen unter hundert Lichtjahren bestand die Verpflegung höchstens aus einem winzigen Beutel mit gerösteten Erdnüssen. Bei längeren Reisen gab es ein halbes kaltes Sandwich und einen Keks mit Erdnußbutter. Aber diese Reise hier war ganz anders. Kein Viehwaggon, keine Erdnüsse. Man reiste Erster Klasse. »Leeloo«, flüsterte Korben, während er zum Heck des Raumschiffs wanderte. Links und rechts reihten sich kleine Kabinen. »Leeloo…« Und als wollte sie auf seine innigsten Wünsche und seine zärtlichsten Träume antworten, wurde leise eine Kabinentür geöffnet, und da lag sie – ausgestreckt auf Samtkissen. Sie las etwas auf einem Computerbildschirm. Erstklassig! Sie schenkte Korben ein galaktisches Lächeln, als er sich neben sie setzte. »Apipoulai!« sagte Leeloo.
Die Kabinentür glitt zu, und sie konzentrierte sich wieder auf die Informationen, die auf dem Bildschirm vorbeiflogen. Die Festplatte knirschte. »Yeah, ich weiß«, sagte Korben nervös. »Leeloo, hör zu. Die Tickets, die du mir geklaut hast – die gehören mir nicht. Ich meine, sie gehören mir, aber sie sind nicht für einen Urlaub gedacht, wie die Leute alle meinen.« Leeloo zuckte die Schultern. Hatte sie ihn überhaupt verstanden? fragte Korben sich. Manchmal schien sie alles zu verstehen – und dann wieder überhaupt nichts. Alles, was er wußte, war, daß er sich auf einer sehr gefährlichen Mission befand und daß er sie aus der Schußlinie halten wollte. »Ich arbeite für ein paar Leute, die es verdammt ernst meinen«, sagte er. »Und wenn ich nicht mitgekommen wäre, dann hättest du jetzt jede Menge Ärger am Hals. Ich würde ja wirklich gern mit dir Urlaub machen, aber…« Es tat so gut, ihr die Wahrheit zu sagen! »Aber nicht gerade jetzt. Jetzt muß ich arbeiten. Und, Leeloo – ich liebe es, bei der Arbeit in Frieden gelassen zu werden. Hast du das verstanden?« Als wollte sie ihm antworten, tippte Leeloo ein Wort ein: L-IE-B-E. »Ja«, sagte Korben. »Aber ›Liebe‹ ist hier nicht das entscheidende Wort. ›Frieden‹ ist das Wort, auf das es ankommt.« Leeloo tippte F-R-I-E-D-E-N. »Frieden«, wiederholte sie. »Und Liebe…« Der Computer begann zu suchen und fand ein Bild eines Hippies mit Stirnband, der ein »Peace«-Abzeichen hochhielt. Korben seufzte. Er hatte mal etwas über die Hippies gelesen. Kriegsgegner. Er war auch ein Kriegsgegner, aber er war es aus innerer Überzeugung und nicht nur, weil er das für eine gute Idee hielt.
»Schlechtes Beispiel«, sagte er und schaltete den Computer ab. »Weißt du, du kannst nicht alles mit Hilfe eines Bildschirms lernen. Manchmal ist es besser, jemanden zu fragen, der Erfahrung hat.« »Okay«, sagte Leeloo. Sie nickte glücklich. »Was heißt Liebe machen?« »Äh…« Korben starrte Leeloo an. Sie war eine unglaubliche Mischung aus Unschuld und Lebenserfahrung. Er war in Gegenwart einer Frau noch nie verlegen gewesen, aber diese Frau war… anders. Diese Frau war das, was er wirklich wollte, und deshalb hatte er vor dem ersten Mal auch echte Angst. »Weißt du was?« sagte Korben. Er lief puterrot an. »Vielleicht solltest du das doch lieber über den Bildschirm abfragen.« Er schaltete den Computer wieder ein. Inzwischen sagte draußen auf dem Gang eine sanfte, körperlose Roboterstimme: »Um-Ihren-Flug-so-kurz-undangenehm-wie-möglich-zu-gestalten-aktivieren-unsereFlugbegleiter-jetzt-die-Schlafregulatoren-die-es-Ihnenermöglichen-während-des-Fluges-zu-schlafen.« Eine Stewardeß ging durch den Gang und drückte über allen Erste Klasse-Abteilen einen roten Knopf. Im Cockpit bereiteten sich Kapitän und Copilot gerade auf den Start vor. »826 Passagiere an Bord und überprüft…« »Okay, dann nehmen wir uns die Checklisten vor…«
»Okay, fertig«, sagte Leeloo. Wieso sprach sie auf einmal Englisch? Korben sah sie erstaunt an.
»Womit bist du fertig?« »Ich habe Sprachen gelernt.« Sie schaltete den Computer ab. »Englisch, meinst du?« Sie nickte. »Alle neunhundert.« Korben konnte nur noch staunen. »Willst du mir sagen, daß du alle neunhundert irdischen Sprachen in nur fünf Minuten gelernt hast?« »Ja! Jetzt bist du an der Reihe. Ich habe deine Sprachen gelernt, jetzt lernst du meine.« »Ich weiß, wie man ›Hallo‹ sagt«, erklärte Korben. »Apipoulai.« Leeloo nickte erfreut. »Und nun verrate mir, wie man ›Auf Wiedersehen‹ sagt«, meinte Korben. »Mehr brauche ich nicht.« »Apipoussan.« »Apipoussan?« probierte Korben. Leeloo nickte. »Gut! Weißt du, wie ›Liebe machen‹ bei uns heißt?« »Äh…« Korben wurde es ungemütlich. »Hoppi-hoppa«, sagte Leeloo. Korbens Herz schmolz ebenso dahin wie seine guten Vorsätze, als er der schönsten Frau, die er je gesehen hatte, in die Augen blickte. »Hilfe«, sagte er leise zu sich selbst. In diesem Augenblick drückte die Stewardeß auf den Knopf des Schlafregulators vor der Kabine und strich den Namen von ihrer Liste. »Träumen Sie schön, Mr. Dallas«, sagte sie. Korben, der gerade Leeloo in die Arme nehmen wollte, kippte auf die Seite. Er schlief, noch bevor er richtig lag. Am anderen Ende des Ganges hatte eine andere Stewardeß ein Problem.
Das Problem war der berühmte Gast. Die Stewardeß war an berühmte Gäste gewöhnt. Schließlich arbeitete sie in der Ersten Klasse. Aber dieser hier war der berühmteste berühmte Gast, den sie je betreut hatte. Und der aufdringlichste. »Mr. Loc Rhod«, sagte sie, »Sie müssen jetzt Ihre vorgeschriebene Position einnehmen.« Er zog sie in seine Kabine und auf seinen Schoß. »Ich will keine vorgeschriebene Position einnehmen«, sagte er. »Ich will alle Positionen ausprobieren.« Die Stewardeß zog sich zurück. Aber nicht zu unwirsch. »Wir werden gleich starten, Mr. Rhod!« Loc Rhod steckte die Nase in ihre Frisur. »Ich hebe jetzt schon ab!«
Der Flugkapitän legte im Cockpit lange Reihen völlig gleich aussehender Schalter um. Sie kippten unter seinen Fingern weg wie Bowlingkegel bei einem Wettkampf. »… Achse korrekt ausgerichtet…«, leierte der Copilot. Die Chefstewardeß kam ins Cockpit. »Zone Eins, Schlafregulatoren aktiv«, sagte sie. Der Kapitän überprüfte ihre niedliche kleine durchsichtige Uniform. »Hier ist auch alles in Ordnung«, sagte er. Sie ging mit einem Lächeln auf den Lippen hinaus. Plötzlich blinkte auf der Instrumententafel eine grüne Lampe. »Benachrichtigen Sie die Bodenkontrolle«, sagte der Copilot.
»Gibt’s Probleme?« fragte der Flugkapitän ungeduldig. Er war noch vollauf damit beschäftigt, der Stewardeß nachzusehen. »Wir haben Ungeziefer im Fahrwerk.«
Kurz danach setzte sich ein Lastwagen unter den wuchtigen Bauch des Shuttles. Zwei Männer in hermetisch abgeschirmten und versiegelten hochmodernen Schutzanzügen stiegen aus. Sie entrollten einen Schlauch und richteten einen Flammenwerfer in den Fahrgestellkasten des Shuttles. Schreie waren zu hören. Schrille Schreie, tiefes Stöhnen, Flüche, Kreischen, Rufe und Verwünschungen. Ein Regen gräßlicher Kreaturen prasselte aus dem Fahrwerkskasten auf den fleckigen Teer. Während das Desinfektionsteam die noch zuckenden Parasiten in den Tank des Lastwagens saugte, schob sich ein zweiter Lastwagen unter das Shuttle. Zwei Männer stiegen aus und öffneten eine Falltür im Bauch des Shuttles. Eine durchsichtige Röhre, dick wie ein Baumstamm, glitt heraus.
»Ja, ich bin’s«, sagte Right Arm. »Stellen Sie mich zu Zorg durch.« Right Arm stand in der Empfangshalle des Flughafens und benutzte eine der beweglichen Telefonzellen, die ständig herumwanderten und nach Kundschaft suchten. »Ich höre«, sagte Zorg kalt. »Der richtige Korben Dallas sitzt in der Maschine«, erklärte Right Arm. »Er hat meinen Platz eingenommen.«
Zorgs Stimme war kalt wie eine Winternacht. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«
Loc Rhod hatte Arme und Beine um die Stewardeß geschlungen und erkundete ihre erogenen Zonen. »Nein!« flüsterte er ihr ins Ohr, »ich schwöre bei Gott, ich habe es noch nie so ernst gemeint…« Der Stewardeß wurde schwindlig. Immerhin war er mehr als berühmt. Er war superberühmt. »… mit einer Frau«, beendete Loc Rhod den Satz. »Wirklich?« »Ich brenne vor Aufrichtigkeit«, sagte Loc Rhod, während seine Hüften energisch nach oben stießen.
Zwei Mitarbeiter des Bodenpersonals nahmen die leicht phosphoreszierende Röhre ab. Zwei weitere, einer menschlich, der zweite ein Angehöriger einer außerirdischen Spezies, setzten eine neue, sehr stark phosphoreszierende Röhre ein. Die Bewegungen, mit denen die Röhre in das Shuttle glitt, schienen eine sexuelle Symbolik zu haben. Stöhnte das Raumschiff vor Freude? »Aufgetankt und startbereit«, sagte der Vorarbeiter des Bodenpersonals in ein Handgelenkmikrophon. Oben im Cockpit antwortete der Flugkapitän: »Danke.« Er wandte sich an den Copiloten. »Bereit zum Start?«
»Nein!« sagte die Stewardeß. Doch ihr Widerstand erlahmte. »Nein?« Loc Rhod war fuchsteufelswild. Das war ein Wort, das er nicht sehr oft hörte.
»Ich meine… noch nicht. Ich bin noch nicht bereit.« »Nicht bereit?« »Ich möchte erst etwas reden.« Loc Rhods Stimmung hob sich. Erst reden, später reden, dabei reden – reden konnte er immer. Er begann, der Stewardeß süße Nichtigkeiten ins Ohr zu hauchen, während er ihr die Uniform auszog.
»Ich kann krcks nichts verstehen«, sagte Zorg. »Wir haben eine krcks Verbindung.« Der bewegliche Münzfernsprecher wartete geduldig. Right Arm sah sich in der mit Müll gefüllten Empfangshalle nach einem anderen um, aber alle waren in Gebrauch. »Wie ist die krcks Nummer?« fragte Zorg. »Ich rufe zurück.« Right Arm wischte den Dreck vom Schild des Fernsprechers. »278-645-321«, sagte er. »Ich krcks zurück«, entgegnete Zorg fröhlich. Viel zu fröhlich, dachte Right Arm, dem es im gleichen Augenblick kalt über den Rücken lief.
Der Desinfektionswagen rollte in eine Richtung davon. Der Tankwagen rollte in die andere. Ein Mann in einer Kutte trat aus dem Schatten, wo er gewartet hatte. Es war Vater Cornelius. Er blickte zum desinfizierten Fahrgestellkasten hoch. Einen Augenblick hielt er inne, um ein rasches, stilles Gebet zu sprechen. Dann kletterte er schnell und leise wie ein Kapuzineraffe am Fahrgestell hoch.
»Treibstoffdruck«, sagte der Copilot. Wieder legte der Kapitän eine Reihe Schalter um. »Reicht.«
Die Bluse der Stewardeß hatte sechs Knöpfe. Loc Rhod sprach für jeden ein Gedicht. Ihr Büstenhalter hatte zwei Haken. Ein Sonett für jeden.
»Abschirmung?« sagte der Kapitän. Ein Schutzschild legte sich um die Maschinen des Shuttles. »Aktiviert«, sagte der Copilot. Die Beine der Stewardeß hoben sich langsam in die Luft. Sie breiteten sich aus, immer weiter…
Zorg wählte die Nummer, die Right Arm ihm gegeben hatte. »278…« In diesem Augenblick brachte der Flugkapitän die Maschinen auf Touren. »Zehn Sekunden.« »Schub erhöhen…« Right Arm wehrte einen wütenden Reisenden ab, der das Telefon benutzen wollte. »Nun komm schon, komm schon«, murmelte er. Die Stewardeß streifte ihre Schuhe ab und gurrte: »Schon unterwegs…« Zorg wählte die nächsten drei Ziffern: »645…« Die Maschinen liefen jetzt mit Vollast. Loc Rhod näherte sich einem nicht nur dichterischen Höhepunkt. Das Shuttle hob ab.
Die Stewardeß hob ab: »Jaaaah…« Zorg wählte hämisch grinsend die letzten drei Ziffern: »321…« Right Arm hob nicht ab. Das bewegliche Münztelefon explodierte. Right Arm existierte nicht mehr. Genau wie alles andere im Umkreis von zwanzig Metern um das ehemalige Münztelefon.
Zorg legte auf und zündete sich eine Zigarre an. Die Schreie der Stewardeß wurden leiser. Sie flüsterte wohlig. Der Copilot sagte im Cockpit: »Fahrgestell oben.« Der Flugkapitän schaltete den Autopiloten ein und stellte den Rauchdetektor im Cockpit ab. »Dann wollen wir uns mal eine anzünden.«
20
Die Erste Klasse! Da mußte man sich einfach wohlfühlen. Besonders dank des neuen Überlicht-Warpsprungantriebs, der die Elastizität gestreckter Superstrings nutzte, um Zeit und Raum zu leicht befahrbaren, kommerziell interessanten Handels- und Reiserouten zusammenzuziehen. Leeloo und Korben genossen die Reise mit Sicherheit. Sie schliefen tief und fest in Korbens Erster Klasse-Abteil. Leeloos kleine Hand war behaglich in Korbens große Hand geschmiegt, und beide zusammen lagen sie aneinandergekuschelt in einem warmen, sicheren Abteil im Passagierbereich eines vierhundert Meter langen intragalaktischen Shuttles.
Doch auf der anderen Seite der Galaxis wartete eine heimtückische Macht: Der Dunkle Planet. Das Absolute Böse. Lichter zuckten wie ziellose elektrische Stürme über die Oberfläche. In der Nähe oder relativ nahe wandte eine Technikerin den Kopf von einem Bildschirm ab. Ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung, Sorge und Angst. »Sir, wir bekommen jetzt etwas herein.«
Wieder in einer anderen Ecke der Galaxis saß der Präsident zusammengesunken am Schreibtisch. Obwohl ein Riese von einem Mann, hatte Präsident Lindberg genau wie Lincoln (ein früherer Anführer eines jener politischen Gebilde, aus denen die Vereinigte Föderation entstanden war) eine schlechte Körperhaltung. »Es sendet Funksignale aus«, sagte einer der Wissenschaftler, der zusammen mit seinen Kollegen im zweiten Glied hinter der Reihe der Generäle im Büro des Präsidenten stand. Der Präsident stöhnte. »Was zum Teufel will es mit diesen Funksignalen erreichen?« »Vielleicht«, sagte der Wissenschaftler, »vielleicht will es irgend jemanden anrufen.« Der Präsident und alle Generäle drehten sich um und sahen den Mann groß an.
Zorg saß in seinem Büro am Schreibtisch. Er liebte seinen Schreibtisch. Der letzte Teakholzbaum des Planeten war gefällt und zersägt worden, um seinen Schreibtisch herzustellen. Deshalb war sein Schreibtisch etwas Besonderes. Picasso saß oder hockte oder lungerte oder lümmelte (oder wie das sonst bei ihm hieß) auf dem Schreibtisch herum und schnurrte zufrieden. Jedenfalls hörte es sich so an. Das Telefon klingelte, was Picasso mit einem empörten Knurren (war es ein Knurren?) zur Kenntnis nahm. Zorg schaltete die Sprechanlage ein. »Ich sagte doch, daß ich nicht gestört werden will!« »Mister Shadow ist dran«, sagte die Empfangsdame mit sorgfältiger Betonung. Zorg sprang auf. Picasso taumelte oder purzelte (etwas in der Art) auf den Boden.
Zorg ging um den Schreibtisch herum und nahm von der anderen Seite mit zitternden Händen den Hörer ab. »Zorg hier.« Die Stimme, die er hörte, war undeutlich, schwach und zögernd, als käme sie aus weit entfernten Regionen von Raum und Zeit. Aber sie war dennoch sehr beeindruckend. »STÖRE ICH SIE?« »Nein! Nein! Überhaupt nicht. Wo sind Sie?« »NICHT MEHR WEIT ENTFERNT.« »Oh, wie schön«, stammelte Zorg. »WAS MACHT UNSER GESCHÄFT?« »A-alles in Butter«, jammerte Zorg. »Prima. Ich werde die vier Steine, die Sie haben wollen, bald bekommen. Aber es ist nicht einfach.« Auf der anderen Seite war Schweigen. Eine schwarze, schleimige Flüssigkeit quoll aus Zorgs Haaren und rann seinen Kopf herunter. »GELD IST VÖLLIG NEBENSÄCHLICH«, sagte die Stimme am anderen Ende. »ICH WILL DIE STEINE HABEN.« »Die Steine werden bald hier sein«, erwiderte Zorg zitternd vor Angst. Die schwarze Flüssigkeit tropfte von seinem Schädel, rann über die Stirn und die schmalen, eingesunkenen Wangen. »Ich werde mich persönlich darum kümmern!« »ICH KANN ES KAUM ERWARTEN, UNTER EUCH ZU SEIN.« Es klickte. Aufgelegt. Statt ebenfalls aufzulegen, blieb Zorg reglos mitten in seinem prächtigen Büro stehen.
Die schwarze Flüssigkeit verschwand allmählich von seinem Gesicht. Nur die zitternden Beine verrieten seine schreckliche Angst.
Auf der anderen Seite der Galaxis schien der Dunkle Planet plötzlich leblos zu werden. Tot. »Verbindung abgebrochen«, sagte die Technikerin auf der Brücke des Sternenschiffs zum Admiral. »Wir haben das Signal verloren«, sagte der General, der neben dem Admiral stand. Er war per FTL-Funk mit dem Hauptquartier der Vereinigten Föderation in Manhattan, New York, auf der Erde verbunden. »Scheiße«, sagte der Präsident.
»Arrgh!« kreischte (wenn man das Kreischen nennen konnte) Picasso, der inzwischen wieder auf den Stuhl gekrabbelt war, als Zorg sich abwesend auf ihn setzte. »Entschuldige.« Zorg legte den Hörer auf. Seine Hand zitterte immer noch.
»Wir haben etwas gefunden«, sagte General Munro, als er aufgeregt ins Büro des Präsidenten stürmte. Er hatte sich vom Aufenthalt in Korbens Kühlschrank weitgehend erholt. Nur die schwarzen, vom Frost zerfressenen Fingerspitzen mußten noch amputiert werden. »Was haben Sie gefunden?« »Die Koordinaten«, sagte Munro. »Das Signal war auf die Erde gerichtet. Der Empfänger muß auf der Erde sein. Irgendwo in der nördlichen Hemisphäre.«
Präsident Lindberg hob eine buschige Augenbraue. Die Geste war so beeindruckend, als wäre ein Hangartor hochgefahren worden. »Dieses Ding kennt jemanden auf der Erde? General, warnen Sie den Agenten, den Sie eingesetzt haben. Er könnte Ärger bekommen. Sagen Sie ihm, er soll die Augen offen halten.« General Munro salutierte und eilte hinaus.
Friedlich war es im Erster Klasse-Abteil Nr. 318 des intragalaktischen Shuttles Pride of Brooklyn. Korben schnarchte leise. Leeloo lag wach in seinen Armen und betrachtete ihn. In ihren grünen Augen flackerte etwas, das vielleicht Liebe war. Vierhundert Meter weiter vorn legte der Flugkapitän die letzte Reihe Schalter um. »Beenden Hyperflug.« Das Sternenschiff bebte leicht. Es war, als kuschelte es sich wieder in die vertrauten, beruhigenden Arme des Newtonschen Raums.
Licht erfüllte die kleine Kabine. Korben regte sich, aber er erwachte nicht. Leeloo war wach, aber sie rührte sich nicht. Was war schöner? Das Gesicht, das sie Korben zuwandte, oder der türkisfarbene, mit Wolken besprenkelte Planet, den man durchs Fenster sehen konnte und zu dem das Shuttle rasch hinabsank? »Meine Damen und Herren«, verkündete die Chefstewardeß über die Lautsprecher, »wir befinden uns jetzt im Landeanflug auf Fhloston Paradise. Die Ortszeit ist 28 Uhr 15. Die Außentemperatur beträgt konstant 27 Grad Celsius.
Wir hoffen, Sie haben den Flug genossen, und wir würden uns freuen, wenn wir Sie bald wieder an Bord begrüßen dürften.« Draußen auf dem Gang drückten Stewardessen auf die Weckknöpfe der Kabinen. In einer Kabine wachten Loc Rhod und die Stewardeß erschrocken auf und begannen gleichzeitig, ihre Kleidung zu ordnen. Die Stewardeß schien verlegen. Aber nicht sehr. Der Mann, der sie vernascht hatte, war immerhin eine der berühmtesten Superberühmtheiten der Galaxis. »Ich wollte dir nur sagen…«, begann sie. Loc Rhod brachte sie zum Schweigen, indem er ihr einen Finger auf die Lippen legte. Er setzte die Sonnenbrille auf und verließ die Kabine. Die Stewardeß blieb seufzend zurück. Wolken fegten an den Flügeln des Shuttles vorbei, als es zum türkisfarbenen Meer hinuntersank. Ein paar Dutzend Meter über dem Wasser schwebte das Fhloston Paradise, ein großes schwebendes Hotel, das den Kreuzfahrtschiffen der Vergangenheit nachempfunden war. Als das Shuttle sich dem fliegenden Hotel näherte, wirkte es plötzlich winzig – wie eine Sardine, die neben einem Wal schwimmt.
Die Stewardeß drückte auf den Weckknopf außen an Korbens Kabine, und er erwachte. Er sah sich um. Wo war Leeloo? Er geriet in Panik.
Der Flugkapitän lenkte das Shuttle in die Andockbucht des Fhloston Paradise. Luftschleusen stellten den Druckausgleich her, und die zwei Stockwerke hohe Tür wurde geöffnet. Die begierigsten Passagiere des Shuttles hatten sich schon an der Tür versammelt und warteten. Als die Tür aufging, strömten sie hinaus auf die breiten Decks des luxuriösesten Kreuzfahrtschiffs des Universums. Es war dergestalt dekoriert und hergerichtet, daß es an die berühmte Normandie des irdischen zwanzigsten Jahrhunderts erinnerte. Ganz vorn in der Schlange stand Leeloo.
»Entschuldigen Sie.« Ganz hinten in der Schlange tauchte Korben Dallas auf. »Entschuldigen Sie.« Korben drängte, boxte, wühlte, keilte und quetschte sich durch die Menge der Urlauber und versuchte, ganz nach vorn zu kommen. »He, Freundchen, du kannst hier nicht einfach…« »Ich suche meine Frau«, murmelte Korben. Er drückte den Beschwerdeführer gegen eine Wand. »Entschuldigung.« Am Ende der Gangway, knapp innerhalb der Empfangsetage des Fhloston Paradise, wartete ein Trupp Cops in Kampfanzügen. Auf wen? Leeloo sah die Cops und blieb stehen. Sie drückte sich an eine Wand und ließ die Leute vorbeigehen. Korben hatte sie fast eingeholt. Eine prachtvolle Hosteß, die nur einen Bastrock ohne Oberteil trug, legte Korben einen Blumenkranz um den Hals. »Willkommen im Paradies«, sagte sie und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen.
Korben verdrehte entsetzt die Augen und versuchte, sich zu befreien. Wo war Leeloo? Dann sah er sie. Ein dicker Mann in einem ebenfalls oberteillosen Sarong legte ihr gerade einen Blumenkranz um den Hals. Er lächelte und drückte ihr einen feuchten Kuß auf die Lippen… »Das war wohl nichts«, flüsterte Korben, als er sah, wie der dicke Mann sich plötzlich aufrichtete. Aus seiner Nase spitzte Blut. Immer noch lächelnd ging der Mann langsam zu Boden. »Nie ohne Erlaubnis«, murmelte Korben. Er drängte sich durch die Menge zu Leeloo und wischte sich unterwegs den Lippenstift vom Gesicht. Aber Leeloo war inzwischen verschwunden.
Nachdem sie den aufdringlichen Kerl zurechtgewiesen hatte, verschwand Leeloo um eine Ecke. Sie bemerkte eine Tür mit der Aufschrift: ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL. Zweifelnd blieb sie davor stehen und tippte aufs Geratewohl Ziffern in das Zahlenschloß. Nichts passierte. Sie sah sich über die Schulter um, dann drehte sie am Griff. Mit lautem Krachen öffnete sie die Tür, die eigentlich versperrt gewesen war. Oh… Drei Cops saßen auf drei Toiletten und lasen Versandhauskataloge. Die Cops wurden auf sie aufmerksam. Leeloo trat lächelnd ein und schloß die Tür hinter sich.
Wo war Leeloo? Korben arbeitete sich weiter nach vorn und folgte der Menge durch einen hohen Bogengang auf die Empfangsebene des Fhloston Paradise. Plötzlich hörte er hinter sich ein schrilles Kreischen und direkt danach einen Chor hingerissener Bewunderer. Es war Loc Rhod, der geradewegs auf Korben zuhielt. Die Menge teilte sich vor ihm wie die Wellen vor einem Schnellboot. Vor einem redenden Schnellboot. »Mein wichtigster Gast«, sagte Loc Rhod und faßte Korben am Arm. »Bitte, lassen Sie mich hier nicht im Stich! Meine Migräne bringt mich fast um, und meine treuen Fans werden mich gleich in Stücke reißen. Schaffen Sie mich hier raus!« Korben wich zurück. Doch dann tat ihm der DJ leid. »Ich bringe Sie bis zur Bar«, sagte er. »Danach sind Sie auf sich selbst gestellt. Okay?« »Alles grün«, entgegnete Loc Rhod und hielt sich an Korbens Arm fest wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring. »Machen Sie das. Sie behandeln mich richtig, Mann! Ich brauche mehr Freunde wie Sie! Erzählen Sie mir alles über sich selbst – woher Sie kommen, Ihr Privatleben, Ihre Kindheit, Ihre Träume!« »Ich glaube, das ist jetzt nicht ganz der richtige Augenblick«, sagte Korben abwesend. Er suchte immer noch die Menge nach Leeloo ab. »Haben Sie Brüder oder Schwestern?« fragte Loc Rhod. »Was ist mit Ihrem Daddy? Erzählen Sie mir von Ihrem Daddy! Wie war er? Körperlich, meine ich. Groß, nehme ich an, was?« »Ja, sehr groß«, sagte Korben. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um jeden Winkel des überfüllten Decks nach Leeloo abzusuchen.
Nichts zu machen. Leeloo war nicht da. Korben schleppte Loc Rhod zur Bar und schuf Platz für sie. Loc Rhod plapperte unablässig. »Ich hatte keinen richtigen Dad! Ich habe ihn nie gesehen! Ich habe nie mit ihm gesprochen! Fünfzig Milliarden Menschen hören mir jeden Tag zu, und er hört mich nicht…« »Ich verstehe«, sagte Korben. Er legte Loc Rhod eine Hand auf die Schulter. »Wir sind jetzt an der Bar. Machen Sie’s gut.« Loc Rhod wollte sich zu Korben umdrehen und sich bedanken, aber der war bereits verschwunden. »Wie kann er mich nur so zurücklassen!« Eine Stimme, die neben ihm ertönte, unterbrach den Anfall von Selbstmitleid. »Mr. Rhod! Ich bin der Manager des Hotels. Willkommen im Paradise! Die Prinzessin Aachen von Minas Japhet würde gern einen Drink mit Ihnen nehmen.« Loc Rhod sah den Manager verständnislos an. Dann blickte er in die Richtung, in die der Finger des Managers zeigte. Loc Rhod hob die Sonnenbrille und sah eine junge Frau in einem atemberaubend kurzen Kleid. Sie lächelte ihn unglaublich einladend an. Loc Rhod begann ebenfalls zu lächeln. »Alles grün…«
Im Cockpit gingen der Flugkapitän und der Copilot den Landecheck durch. Der Kapitän blickte nach oben, wo ein grünes Licht blinkte. »Mist«, sagte er. »Schon wieder Ungeziefer.«
Der Copilot warf einen Blick auf die Lampe, drückte einen Knopf, um die Koordinaten zu bekommen, und schüttelte fassungslos den Kopf. Es war nicht der Fahrgestellkasten. Der Copilot stieg aus seinem Schalensitz und ging in den hinteren Teil des Cockpits. Dort langte er nach oben und schraubte eine Platte ab, die die Elektronik schützte. Als die Klappe aufschwang, fiel Vater Cornelius heraus, gefolgt von einem Gestrüpp von Kabeln. »Sind wir da?« fragte der Priester.
21
Korben war angekommen. Er wußte es, sobald die Hosteß die Tür der Luxussuite öffnete. Mit leuchtenden Augen trat er ein. Er hatte noch nie solch einen Luxus gesehen. Es war schamlos oder beschämend oder was auch immer – aber er schämte sich nicht. Was soll’s, dachte er. Aber wo war Leeloo? Der Page folgte ihm. Er trug Leeloos Reisetaschen. Auf dem Nachttisch lag eine Einladungskarte: Ein Logenplatz für Diva Plavalagunas Konzert um 17 Uhr 30. Schwarze Fliege obligatorisch. Korben sah die Hosteß ratlos an. »Für das Konzert ist Abendgarderobe vorgeschrieben, aber ich habe nichts dabei.« Die Hosteß fuhr mit der Fingerspitze über ein berührungsempfindliches Schloß, und eine Schranktür glitt auf. Korben sah zwanzig Smokings, alle in seiner Größe. Sämtliche Regenbogenfarben waren vertreten, und dazu ein paar Farbtöne, die die Natur noch nicht erfunden hatte. »Willkommen im Paradies«, sagte die Hosteß, indem sie die Schranktür schloß. Korben starrte benommen ins Leere. Das Telefon läutete. Die Hosteß drückte Korben den Hörer in die Hand, bevor er sich danach umsehen konnte. »Hallo?« »Du mieses Stück Dreck!«
»Ma?« Mit einem höflichen Lächeln zog sich die Hosteß zurück und nahm den Pagen mit. Korben bedankte sich mit einem Nicken. »Von mir hast du in diesem Leben nichts mehr zu erwarten. Du hast soeben deine arme Mama mit deinen eigenen Händen umgebracht.« Korben suchte sich einen Stuhl und setzte sich. Er hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Nach einer Weile verdrehte er die Augen und nahm den Hörer wieder ans Ohr. »Ma…«
»Also gut, Vater«, sagte der Sicherheitschef des Fhloston Paradise. Er winkte höflich, und Cornelius setzte sich vor den Schreibtisch des Cops. »Dann lassen Sie mal hören.« Cornelius wollte gerade zu sprechen beginnen, als die Tür des Büros aufgerissen wurde. Ein Cop in mittleren Jahren, dessen Uniform mit allen möglichen Funkgeräten, Peilsendern, Pfeifen, Ketten, Handschellen und Polizeihandwerkszeug jeder erdenklichen Art behängt war, stürmte aufgeregt ins Büro des Chiefs. Fog war seit fast zwanzig Jahren Polizist, aber er hatte nie die anfängliche Begeisterung für seinen Job verloren. Und genau das war Fogs Problem, dachte der Chief. »Sir, das Schiff der Diva kommt gerade rein!« »Höchste Sicherheitsstufe«, sagte der Chief. »Ja, Sir.« Fog salutierte und wollte wieder gehen, doch der Chief hielt ihn zurück. »Fog?« »Ja, Sir?«
»Wissen Sie, warum ich das angeordnet habe?« »Nein, Sir.« Der Chief seufzte. Fog war einer von der Sorte, der man alles haarklein erklären mußte. »Dann hören Sie gut zu. Die Diva singt alle zehn Jahre nur einmal. Drei Minuten lang. Hier sind achttausend Menschen, die ein Vermögen bezahlt haben, um sie zu hören. Haben Sie das verstanden?« »Ja, Sir«, sagte Fog. Er salutierte, machte schwungvoll kehrt (das war das einzige, was er schwungvoll zu tun imstande war), und ging hinaus. »Okay, Vater«, sagte der Chief zu Vater Cornelius. »Und jetzt erzählen Sie.« »Ich war daheim«, sagte Cornelius. »Es läutete, und ich öffne die Tür, und da…« Wieder wurde die Bürotür aufgerissen. Drei blutige, bandagierte Cops kamen hereingehumpelt. »Eine Bombe?« fragte der Chief besorgt. »Yeah«, stöhnte der einzige der drei Cops, der noch sprechen konnte. »Die Bombe ist einsfünfundsiebzig groß und hat rotes Haar und grüne Augen.« Cornelius fuhr auf. »Ja«, sagte er zu sich selbst. Ein bißchen zu laut. Drei Cops und der Chief starrten ihn neugierig an. Cornelius beugte sich vor und wandte sich vertraulich an den Sicherheitschef. »Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen?«
Die Diva war eingetroffen. Tauben flogen in die Luft, und selbstleuchtende Quallen wurden ins Wasser entlassen (wie es in ihrem Vertrag vorgesehen war).
Rauchbomben und Feuerwerk wurden gezündet, und eine laute Blaskapelle kündigte ihre Ankunft den vielen Zaungästen an (wie im Vertrag vorgesehen). Sie trat aus ihrem winzigen privaten Sternenschiff auf einen roten Teppich (wie im Vertrag vorgesehen), und ein Trupp muskulöser Leibwächter (wie im Vertrag vorgesehen) räumte ihr den Weg zur Empfangstheke des Fhloston Paradise und den langen Flur frei, der zu ihrem Zimmer führte. Wer gekommen war, um die sagenhafte Schönheit der Diva Plavalaguna zu bewundern, sah sich enttäuscht, denn ihr Gesicht wurde von einem weißen Chiffonschleier verhüllt. Nur die langen Tentakel, die ihr Haar darstellten, waren zu sehen. Sie wanden sich höchst anmutig. Leeloo drängte sich durch die Menge der Bewunderer und schlug die Richtung zum Flur ein, wo sie die Diva sehen und wo sie von der Diva gesehen werden konnte. Sie folgte den Trägern, die das umfangreiche Gepäck der Diva transportierten, zur Hälfte den Gang hinunter, bis sie außer Sichtweite der Massen war. Dort blieb sie stehen und tat so, als bewunderte sie ein Bild an der Wand. Es war ein wundervolles Gemälde eines großen Segelschiffs, das alle Segel gesetzt hatte. Einer der Träger hatte das Bild angestoßen, und jetzt hing es sehr schief. Hinter den Trägern kamen das Wachpersonal und hinter diesem die Leibwächter. Dann erschien die Diva Plavalaguna selbst, gefolgt von ihren Managern und ihren persönlichen Assistenten eins bis zehn. Leeloo drehte sich um und sah der Diva entgegen, als diese vorbeiging… Und die Diva blieb stehen. Sie streckte den Arm aus und berührte Leeloos Wange. Knisternde Elektrizität schien zwischen den beiden Frauen zu fließen.
Die Manager und Assistenten eins bis zehn wichen etwas zurück. Dann ging die Diva weiter, gefolgt von ihrem Troß. Der dritte stellvertretende persönliche Assistent ließ sich etwas zurückfallen, bis die anderen verschwunden waren. Dann flüsterte er Leeloo ins Ohr: »Miss Plavalaguna bittet mich, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen geben wird, was Sie abholen wollen. Aber zuerst will sie singen… zum allerletzten Mal.« Leeloo nickte. »Da wäre noch eine Kleinigkeit…« Der Assistent hängte das Bild gerade. Leeloo lächelte. So sah es viel besser aus.
»Miss Diva…« Die Diva wollte das Ankleidezimmer ihrer Suite inspizieren, doch vor der Tür war eine Abteilung der Sicherheitsleute in mehreren Reihen angetreten. Die Befehlsgewalt hatte ein kleiner, eifriger Cop, der mit Medaillen, Apparaten, Abzeichen, Gürteln, Ketten, Handschellen, Peitschen und einer oder zwei Taschenlampen ausstaffiert war. »Ich bin Fog, Leiter der für Ihre Sicherheit verantwortlichen Abteilung.« Diva Plavalaguna rauschte an ihm vorbei, als wäre er eine Zimmerpflanze. »Es ist alles in Ordnung. Sie können…« Das Gefolge folgte der Diva, und da sie fort war, wandte Fog sich an das Personal. »… sich hier völlig sicher fühlen. Wenn Sie etwas brauchen…«
Die Tür des Ankleidezimmers wurde ihm vor der Nase zugeknallt. »… dann klopfen Sie einfach.«
Korben mühte sich damit ab, den Smoking anzuziehen. Den Militärdienst hatte er unter anderem deshalb quittiert, weil er es haßte, sich herauszuputzen. Besonders schwierig war es mit nur einer Hand, während er mit der zweiten den Hörer ein Stück vom Ohr entfernt hielt und versuchte, seine Mutter zu besänftigen. »Hör doch zu, Ma! Ich habe nur ein paar Tage Urlaub, und die will ich nicht mit Telefonieren verbringen.« Es klopfte. »Warte mal, Ma, da ist jemand an der Tür… Nein! Ich habe es dir doch gesagt! Ich habe niemanden mitgenommen!« Korben öffnete die Tür seiner Suite. Und er sah das schönste Mädchen der Galaxis. »Apipulai!« sagte Leeloo lächelnd. Sie schwebte an ihm vorbei in die Suite. Korben schloß hinter ihr die Tür. »Paß auf, Ma, ich rufe dich zurück.« Er legte auf. »Du siehst aber fesch aus in deinem Kostüm«, sagte Leeloo. Ihr Koffer lag auf dem Bett, wo der Page ihn hinterlassen hatte. Sie öffnete ihn, zog ein buntes Kleid heraus, legte das Kleid auf das Bett und begann, sich auszuziehen. Korben wurde rot und drehte ihr den Rücken zu. »Leeloo, warte mal! Ich bin ein ziemlich altmodischer Bursche. Ich sage ja nicht nein – ich würde sogar liebend gern ja sagen, aber wir haben uns doch erst heute morgen kennengelernt, und…«
»Wußtest du schon«, sagte Leeloo, seine Verlegenheit ignorierend, »daß Frauen sich normalerweise fünfmal öfter als Männer umziehen?« »Tatsächlich?« fragte Korben. »Hast du das aus dem Computer?« »Ja,«, sagte Leeloo. »Du kannst dich jetzt wieder umdrehen.« Korben drehte sich um. Was er sah, entsprach ungefähr dem, was er zu sehen zugleich gehofft und gefürchtet hatte. Leeloo war in ihrem kurzen, engen Kleid schöner denn je. »Willst du ausgehen?« fragte er. »Ja, mit dir«, sagte Leeloo. »Ich will den Auftritt der Diva sehen.« Es warf Korben beinahe um. Nie wieder hatte er das für eine Frau empfinden wollen. Besonders nicht in einer Situation wie dieser, wo er seine fünf Sinne brauchte. Er mußte Leeloo irgendwie aus der Gefahrenzone heraushalten. Schwer setzte er sich auf die Bettkante. Leeloo sah an ihrem Kleid herab – was nicht sehr lange dauerte, weil es sehr kurz war –, und schaute dann Korben an. »Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?« »Nein, überhaupt nicht«, sagte Korben. »Ganz im Gegenteil. Du bist… du bist einfach wunderschön.« Leeloo begann zu strahlen. »Danke.« Korben schüttelte energisch den Kopf. Dann griff er nach hinten in seine Gesäßtasche. »Ich habe etwas für dich«, sagte er. Leeloo stellte sich aufgeregt auf die Zehenspitzen. »Ein Geschenk? Für mich?« Korben zog ein Armband aus Edelstahl aus der Tasche. »Es paßt sicher gut zu deinem Kleid.«
Leeloo streckte eine Hand aus. »Wie heißt das?« fragte sie, während Korben ihr das Armband über das schlanke, anmutige Handgelenk schob. Er ließ es einrasten. »Laserhandschellen«, sagte er und drückte einen Knopf an der Seite. Ein Laserstrahl schoß zur Decke und zum Boden. Leeloo war an Ort und Stelle gefangen. »Armeeware, neuestes Modell. Tut mir leid, Leeloo, aber ich habe dir ja gesagt, daß ich in Ruhe arbeiten muß.« »Du!« zischte sie. »Du bist nichts als ein…« »Ich weiß genau, welches Wort dir jetzt fehlt«, sagte Korben. »Das steht aber nicht in den Wörterbüchern, aus denen du gelernt hast. Es wird nicht lange dauern.« Er zog die Smokingjacke an. In diesem Augenblick sprang die Tür auf, und Loc Rhod stürzte ins Zimmer. »He, Freund, wir müssen sehen, daß wir in die Gänge kommen!« Dann entdeckte er Leeloo, die sich in ihrem tief ausgeschnittenen Kleid wand, eine Hand vom Laserstrahl über dem Kopf fixiert. Loc Rhod lächelte. »Korben, Mann, was ist hier los? Wer ist die Kleine? Und was für Beine! Machen wir ‘nen Dreier? Oder sie und ich allein ‘nein Zweier? Oder gehe ich euch auf die Eier?« Loc Rhod schob sich an die wütende Leeloo heran. Er wollte gerade nach ihrem wohlgeformten… Korben packte ihn am Kragen und hob ihn vom Boden. »Später«, sagte Korben und warf Loc Rhod hinaus. Dann trat er selbst auf den Flur, nicht ohne die Tür hinter sich sorgfältig abzuschließen.
22
Dank der Wunder der FTL-Technologie konnten ein paar hundert Lichtjahre entfernt Präsident Lindberg und seine wissenschaftlichen und militärischen Mitarbeiter die »tollste Radioshow der Galaxis« hören. Der Präsident saß am Schreibtisch. Die Generäle standen hinter ihm. Hinter diesen standen die Wissenschaftler. Zwei Lautsprecher fuhren aus dem Schreibtisch des Präsidenten hoch. »Es ist jetzt siebzehn Uhr Zentralgalaktischer Zeit. Wir schalten um zu Loc Rhod und Korben Dallas, dem glücklichen Gewinner des Gemini Croquette Contest – live vom Fhloston Paradise!«
Stellen Sie sich ein Gebäude vor, in dem sich der Madison Square Garden, der Grand Canyon, der Eiffelturm und die Albert Hall vereinigt haben. Hängen Sie überall Gold und Glitzerzeug auf und stellen Sie Frauen mit tief ausgeschnittenen Kleidern und hochhackigen Schuhen hinein. Jetzt verdreifachen Sie Ihre Vorstellung, und Sie bekommen eine annähernde Vorstellung von der Fhloston Paradise Concert Hall. Korben und Loc Rhod traten Seite an Seite ein. Korben musterte die Menge, auf Gefahr gefaßt. Loc Rhod redete wie üblich. Dieses Mal sprach er in ein fliegendes »Mückrophon«, das ihm folgte wie ein Moskito und ständig vor seinem unablässig plappernden Mund schwebte.
»Dies ist wahrscheinlich der schönste Konzertsaal des Universums!« rief der DJ. »Die perfekte Nachahmung eines alten Opernhauses… aber das ist jetzt unwichtig!« Er und Korben gingen zwischen Reihen vergoldeter Sitze entlang, auf denen elegant gekleidete Urlauber und Größen des Kulturbetriebs saßen. Sie trugen, je nach Geschlecht, Smokings, Kleider aus Kunstpelz, schwere Juwelen und wallende Gewänder. »Links von mir eine Reihe von ehemaligen Ministern mit ihren Geschwistern, und rechts ein paar Generäle, die zu schlafen versuchen. Und hier ist Baby Ray, durch Bühne und Bildschirm berühmt!« Im Vorbeigehen nickte Loc Rhod dem alternden Schauspieler zu, dessen Gesicht nach allzuvielen Schönheitsreparaturen zu einem steifen Grinsen gefroren war. »Ray ertrinkt geradezu in einem Meer voller Nymphen«, fuhr Loc Rhod fort, »er wird wohl nicht viel vom Konzert mitbekommen…« Ray neigte den Kopf zu einem Mädchen, das ihn um ein Autogramm gebeten hatte und fragte: »Für wen?« »… weil er stocktaub ist! Und hier drüben sitzt Roy von Bacon, der König des Laserballs und der bestbezahlte Spieler der Liga!« Loc Rhod begrüßte mit Handschlag einen riesigen, dicken Mann, dann tänzelte er weiter den Gang hinunter. Korben folgte ihm. »Und hier hätten wir Kaiser Kodar Japhet, dessen Tochter Aachen…« Loc Rhod begrüßte den weißhaarigen Mann ehrerbietig. Der Mann trug ein mit Edelsteinen besetztes T-Shirt, auf dem zu lesen war: ICH BIN DER KAISER. WER SIND SIE? »… noch in meinem Bett liegt. ›Ich singe so gern‹, gestand sie mir erst neulich. Und jetzt un peu de Champagne!«
Loc Rhod schnappte sich zwei langstielige Gläser von einem Tablett, das ein hübscher, göttlich schöner Kellner hielt. Eines gab er Korben, dann ging er weiter durch den Gang, unablässig in sein Mikrophon sprechend. Der Kellner gab die letzten zwei Gläser Champagner auf seinem Tablett zwei anderen Gästen. Dann schob er sich durch die Menge, öffnete eine Personaltür und betrat einen Raum, in dem weitere »Kellner« warteten. Da er nun ein Stück von der Menschenmenge entfernt war, konnte er sich entspannen. Das Gesicht des Gestaltwandlers nahm das übliche froschähnliche Aussehen der Mangalore an. Ein weiterer Mangalore gab ZFl-Lasergewehre aus. Akanit, der Anführer der »Kellner«, öffnete die Tür einen Spaltbreit. Draußen im Konzertsaal wurde gerade das Licht heruntergedreht. Die ersten Takte der Musik waren zu hören. Akanit lächelte sein garstiges Mangalore-Lächeln. »Die Show beginnt!«
Mehrere Etagen über dem Konzertsaal bemühte Leeloo sich, aus den Laserhandschellen herauszukommen, die sie zwischen Decke und Fußboden fixierten. Plötzlich fingen ihre empfindlichen Ohren ein paar Fetzen einer überirdisch schönen Musik auf. Sie neigte anmutig den hübschen Kopf zur Seite und mußte lächeln, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Die Musik war… vollkommen. Das Konzert begann.
Korben saß neben Loc Rhod auf einem VIP-Platz in der zweiten Reihe. Die Diva Plavalaguna trat in gedämpften Licht auf die Bühne. Das licht wurde weiter gedimmt, und ein Punktscheinwerfer erfaßte die Diva selbst: unverschleiert und strahlend schön in einem schimmernden blaugrünen Kleid. Die Diva war durch Kreuzung zwischen Außerirdischen und Menschen entstanden und vereinte in ihrer eleganten Erscheinung die besonderen Vorzüge aller Rassen der Galaxis (natürlich abgesehen von den widerwärtigen Mangalore). Auf ihrem wohlgeformten Kopf saß ein einziges langes, nach hinten gekrümmtes Horn. Tentakel entsprangen ihrer Stirn wie lebendige Haare, die sich im Applaus der Bewunderer glücklich wanden und bogen. Das Gesicht, das alle zehn Jahre nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit enthüllt wurde, war wunderschön und ausdrucksvoll; es strahlte Gefühle aus, die von allen Rassen der Galaxis verstanden werden konnten. Die Musik des Orchesters, das mit mehreren elektronischen Instrumenten besetzt war, schwoll zu einem Crescendo an, um die Darbietung der Diva einzuleiten. Die Diva holte tief Luft und begann zu singen. Ihr Vortrag erhob sich über den Klang des Orchesters zu ungeahnten Höhen des Gefühls und Ausdrucks. Es war eine göttliche, eine unvergleichliche Darbietung. Korben hörte verzaubert zu. Dann spürte er etwas Eigenartiges im Gesicht. Er betastete seine Wange, und seine Fingerspitzen wurden feucht. Tränen, die er als Mann zu weinen immer gefürchtet hatte. Salzige Tränen der Freude und zugleich der Trauer.
Leeloo versuchte nicht mehr, sich freizukämpfen. Sie wollte nur noch zuhören. Das Lied wehte durch die Gänge. Die überirdisch schöne Stimme der Diva erfüllte Fhloston Paradise, flog durch die Flure und Treppenhäuser des schwebenden Hotels, bis die ganze Anlage in unvergeßlichen Emotionen der Liebe und des Verlusts zu erbeben schien. Leeloo schloß die tiefen grünen Augen und ließ sich vom Lied einhüllen. Ihre Tränen waren süß, nicht salzig.
Auf der Brücke des Fhloston Paradise lauschte der Kapitän dem Lied der Diva. Doch plötzlich wurde er von einem Ruf des Ersten Offiziers gestört. »Kapitän, ich habe hier ein Schiff mit technischen Problemen. Es bittet um Landeerlaubnis, weil es dringend Reparaturen durchführen muß.« Normalerweise hätte der Kapitän diese Bitte abgelehnt und das Schiff zum nächsten Reparaturdock geschickt. Aber diese Musik! Die tiefen Emotionen, das Mitgefühl, die überirdische Schönheit des Liedes der Diva rührten in der normalerweise eher nüchternen Seele des Kapitäns etwas an. »Lassen Sie es andocken«, sagte er. Dann fügte er abwesend hinzu: »Und unterrichten Sie das Wachpersonal.«
Im winzigen, spartanisch eingerichteten Cockpit des ZFX200Raumjägers, der Fhloston umkreiste, drang die Stimme des Ersten Offiziers aus dem Lautsprecher. »Erlaubnis erteilt. Dock 12. Sie haben eine Stunde.« Zorg schaltete den
Lautsprecher ab und lehnte sich im Schalensitz zurück. Er lächelte so böse, daß einer Marmorstatue das Herz gebrochen wäre. »Das ist mehr als genug.«
Die göttliche Stimme der Diva drang in der riesigen schwimmenden Ferienanlage durch alle Etagen. Sie erfüllte alle Herzen. Beinahe jedenfalls. Einer, dessen Herz alles andere als erfüllt war und der nicht einmal zuhörte, war der Manager der Diva. Er saß in ihrer Suite und hatte die Tür geschlossen, um den »Lärm« auszusperren. Gerade versuchte er, eine Flasche Scotch zu öffnen, die einer der unzähligen Bewunderer der Diva geschickt hatte. Der Korken saß fest. Noch während er sich damit abmühte, wurde er von der Türklingel gestört. »Yeah?« machte er. »Blumen für die Diva«, sagte eine tiefe, mürrische Stimme. »Sie ist allergisch gegen Blumen«, knurrte der Manager, der seinerseits allergisch gegen die Diva war. »Es ist auch Champagner dabei.« »Das ist etwas anderes…« Der Manager stellte die widerspenstige Scotchflasche ab, öffnete die Tür – und sah sich der Mündung eines ZFlGewehrs gegenüber. Ein Dutzend Mangalorekrieger, die in Kellnersmokings gekleidet waren, schoben sich an ihm vorbei in die Suite. »He«, protestierte der Manager der Diva empört. Weiter kam er nicht. Ein kurzer Feuerstoß, und drei Kugeln schlugen in seine Brust.
Im Konzertsaal schwang sich das Lied der Diva zu immer neuen Höhen. Plötzlich öffnete sie die Augen und zuckte schmerzlich zusammen, als hätte man sie angeschossen…
In Korbens Zimmer stieß Leeloo einen Schmerzensschrei aus, als wären die Kugeln, die den Manager der Diva getroffen hatten, in ihre Brust gedrungen. Was war denn da los? Vater Cornelius wollte gerade das Büro des Sicherheitschefs verlassen, als er draußen auf dem Flur Schritte hörte. Er öffnete die Bürotür einen Spaltbreit und lugte hinaus. Auf dem Flur trieb sich ein Schwärm Mangalore herum! Cornelius sah zu, wie ein Dutzend dieser entsetzlichen Kreaturen, die billige Smokings trugen und mit Lasergewehren bewaffnet waren, ein Stück weiter unten auf dem Flur in die Suite der Diva stürmten. »Mein Gott!« Er schloß die Bürotür wieder.
Leeloo taumelte. Sie geriet in Panik, als hätte sie auf einen Schlag all die schrecklichen Dinge gesehen und gespürt, die um sie herum vorgingen. Verzweifelt blickte sie zur Decke der Suite hinauf, denn zum Boden hinunter. Sie betrachtete den Laserstrahl, der sie festhielt. Das hübsche Gesicht verkrampfte sich, als sie sich konzentrierte. Dann packte sie den Laserstrahl mit beiden Händen… Und er wurde massiv!
Sie zerbrach ihn und befreite ihr Handgelenk, benutzte den Strahl als Meißel und schlug ein Loch in die Decke. Hochspringend packte sie die Kante des Lochs und zog sich in den engen Zwischenraum zwischen den Etagen hoch. Sie verschwand.
Cornelius rannte durch das Büro des Sicherheitschefs und riß die Tür des Wandschranks auf. Drinnen saß der Chief, gefesselt und geknebelt. Genau, wie der Priester ihn zurückgelassen hatte. »Mangalore!« sagte Cornelius atemlos. »Sie sind in der Suite der Diva. Sie wollen die Heiligen Steine stehlen! Wir müssen sie aufhalten!« »Mmpf«, machte der Chief durch das Klebeband, das auf seinem Mund pappte. Er hob die Hände, die mit seinem eigenen Schlips gefesselt waren. Cornelius bückte sich und zerrte am Knoten. »Ich werde Sie freilassen, aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mir helfen.« Der Chief nickte. Er hielt die Hände dicht beisammen, damit Cornelius nicht sehen konnte, wie er dabei die Finger kreuzte.
»Ich hab’s!« Der Mangalore blickte von dem Koffer auf, den er gerade zerfetzt hatte. Neben ihm lag der Manager der Diva in einer Blutlache. Die Mangalorekrieger hatten auf der Suche nach den Heiligen Steinen die Suite der Diva in Trümmer gelegt. Endlich hatten sie gefunden, was sie suchten.
Der glückliche Mangalorekrieger hob ein mit Gold und Elfenbein belegtes Kästchen in die Höhe. Sinnbilder der vier Elemente waren darauf eingraviert: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Er wollte es gerade öffnen, als er hinter sich eine Bewegung spürte. Ein weiteres Element – eines, das dem Leben und dem Frieden diente – stieg aus dem Loch, das es mit einem einzigen Schlag der zierlichen Hand in die Decke geschlagen hatte. »Apipoulai«, sagte Leeloo, während sie sich wie ein Racheengel in die Suite fallen ließ.
Genau in diesem Augenblick veränderte die Diva die Tonart und das Tempo ihres Liedes. Ihre betörend schöne Sonate verwandelte sich in eine fetzige Tanznummer, und die Leute begannen, mit den Füßen im Takt zu wippen.
Einer der Mangalorekrieger zog ein Messer. Ein großes Messer. Ein riesiges Messer. Ein Monster von einem Messer. Er griff Leeloo an. Sie entwaffnete und lähmte ihn mit einem einzigen eleganten, anmutigen doch ungeheuer schmerzhaften Tritt. Nun griffen auch die anderen Mangalore an, die ebenfalls mit Messern bewaffnet waren. Leeloo trat. Ein Krieger ausgeschaltet. Leeloo drehte sich um sich selbst. Der nächste Krieger war außer Gefecht. Ihre Tritte und Drehungen glichen einem Tanz, der zum Rocksong der Diva paßte, und die Mangalore fielen
nacheinander um wie die Fliegen, blutig und mit gebrochenen Knochen. Weitere Mangalore rückten nach. Aber die Musik wurde noch einmal schneller… Leeloo verwandelte sich in einen tanzenden Derwisch und schleuderte links und rechts Mangalorekrieger gegen die Wände.
Im Konzertsaal beendete die Diva das Lied und verneigte sich, um sich für den donnernden Applaus des Publikums zu bedanken. Die Anwesenden waren hingerissen. Genau in diesem Augenblick war auch Leeloo mit ihren Gegnern fertig. Sie verneigte sich ironisch vor den jämmerlich stöhnenden Mangalorekriegern, die als wirrer Haufen Elend in der demolierten Suite der Diva lagen. Die Anwesenden waren am Boden zerstört. Aber ein Mangalorekrieger war entkommen. Er huschte zur Tür hinaus und eilte den Flur hinunter in Richtung Konzertsaal. Dort fand er Akanit und seine Krieger, die bewegungslos in der Lobby des Konzertsaales standen. Auch sie hatten wie gebannt dem Lied der Diva gelauscht. »Es war ein Hinterhalt!« flüsterte der entflohene Mangalore in Akanits hängendes, hundeähnliches Ohr. Als Akanit hörte, was geschehen war, verzerrte sich sein ohnehin schon häßliches Gesicht zu einer noch häßlicheren wütenden Fratze. »Wenn Sie Krieg wollen, dann sollen sie Krieg bekommen!« Er nickte seinen gräßlichen Kriegern zu. »Laden und entsichern.« Die ZF1-Gewehre waren bereit.
23
Cornelius und der Sicherheitschef betraten zusammen die Überwachungszentrale der Fhloston Paradise. »Sie haben es aber versprochen!« beklagte sich Vater Cornelius, der als erster eintrat. Er trug Handschellen. Der Chief, mit einer Pistole bewaffnet, folgte ihm auf dem Fuße. »Das gilt aber nicht«, sagte der Chief. »Ich hatte die Finger gekreuzt.«
Leeloo hob das mit Gold und Elfenbein belegte Kästchen vom Boden auf, wo der Mangalore es fallengelassen hatte. Sie strahlte, als sie die eingravierten Abbilder der vier Elemente erkannte. Bevor sie den Deckel öffnen konnte, wurde die Tür der Suite aufgerissen. Zorg stand in der Tür. Er war mit einem ZFl-Gewehr bewaffnet. »Meine Hochachtung, kleine Lady«, sagte er, während er rasch die verwüstete Suite überblickte. »Und danke, daß Sie mir die Schmutzarbeit abgenommen haben. Ich hätte das selbst nicht besser hinbekommen.« Das ZF1 summte böse. »Und jetzt her mit den Steinen.« Leeloo lächelte und warf Zorg das Kästchen zu. Zorg hatte Mühe, es aufzufangen. Als er den Blick wieder hob, sah er, daß Leeloo hochsprang. Mit einem Satz, der einer Hochspringerin bei den olympischen Spielen alle Ehre
gemacht hätte, verschwand sie nach oben durch das Loch, durch das sie heruntergekommen war. Wütend beharkte Zorg die Decke mit einer Salve aus seinem Gewehr. In der Zwischendecke war es dunkel. Unten schoß Zorg wütend weiter. Die Kugeln, die durch das Loch hereinflogen, sausten wie Glühwürmchen durch den niedrigen, dunklen Raum. Leeloo tanzte hin und her und wich den Projektilen aus, während sie rannte. Dann wurde es still. Zorg hatte das Magazin leergeschossen.
Nicht nur in der Suite der Diva wurde geschossen. Auch die Überwachungsleitstelle lag unter Beschuß. Zersiebt von Geschossen, kippte die Tür der Leitstelle nach innen. Ein Dutzend Mangalorekrieger stürmte herein und feuerte aus allen Rohren. »Niemand bewegt sich!« knurrte Akanit. »Wir übernehmen das Schiff.« Der Sicherheitschef tauchte ab, und direkt neben ihm ging Cornelius in Deckung. »Ich tue es nicht gerne, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen: Ich hab’s ja gleich gesagt«, meinte Cornelius.
Fog hatte sich hinten im Konzertsaal postiert, wo er alles beobachten und dennoch dem wundervollen Vortrag der Diva Plavalaguna zuhören konnte. Wirklich, es war ein wunderschönes Lied gewesen. Sie bekam gerade den zehnten Vorhang, und er applaudierte besessen wie die anderen Zuschauer.
Sein Kunstgenuß wurde abrupt unterbrochen. Die Tür, die zur Lobby führte, flog auf und holte ihn so von den Beinen, daß alle seine an der Uniform baumelnden Geräte schepperten. Drei Mangalorekrieger stürmten in den Konzertsaal. »Alles auf den Boden!« riefen sie. Dann begannen sie zu schießen. Irgendwo schaltete ein Relais, und die Alarmsirenen heulten los.
Zorg warf das leere Magazin weg. Während er sein ZF1 nachlud, schlug in einiger Entfernung eine Alarmsirene an. Großalarm. »Das ist Musik in meinen Ohren«, kicherte er leise. Er liebte Chaos und Verwirrung und wußte genau, wie er beides vergrößern konnte. Aus der Hosentasche zog er einen kleinen Zylinder heraus. Eine Miniaturatombombe. »Und jetzt kommt der Knalleffekt, meine Herrschaften«, sagte er. Er klebte die Bombe an die Wand und legte einen Schalter um. Der Timer begann zu laufen. 30:00… 29:59… Mit einem irren, triumphierenden Lachen klemmte Zorg sich das mit Gold und Elfenbein belegte Kästchen unter den Arm und rannte aus der Suite.
»Meine Damen und Herren!« rief Loc Rhod in sein schwebendes Mikrophon. »Hier ist der Teufel los! Ich glaube, wir werden angegriffen!« »Was du nicht sagst«, murmelte Korben leise. Dann duckte er sich wieder, um der nächsten Salve auszuweichen. »Im Konzertsaal wimmelt es von bewaffneten Aliens!« rief der DJ aufgeregt. Inzwischen hatten Fogs Cops sich einigermaßen formiert und erwiderten das Feuer. Fog selbst kam taumelnd auf die Beine. Handschellen und Ketten klimperten heftig, als er nach seiner Pistole langte. Sie war nicht im Halfter! Er fand sie in der Nähe auf dem Flur und bückte sich. Er zog ab. Die Waffe klickte… Ladehemmung! Fog richtete sich wieder auf und versuchte, die Ladehemmung zu beseitigen. Die Mangalore sahen seine Dienstabzeichen oder hörten die Abzeichen klimpern und schossen sich auf ihn ein. Er wich der Salve aus, indem er durch eine Personaltür in einen kleinen Lagerraum sprang.
Während ihm die Kugeln um die Ohren flogen, suchte Korben den Konzertsaal mit den Augen ab und versuchte herauszufinden, wer da überhaupt auf wen schoß. Dann wurde diese Frage nebensächlich. Die Diva wurde getroffen. Dann noch zweimal. Sie drehte sich um sich selbst, sie krümmte sich, sie stürzte von der Bühne. Direkt in Korbens Arme.
Korben legte sie auf den Boden, wo sie nicht mehr in der Schußlinie war. Ohne auf die panisch fliehenden Menschen um ihn her zu achten, wickelte er seine Smokingjacke um die Diva und versuchte verzweifelt, den Strom ihres hellblauen Blutes zu stoppen oder wenigstens zu verringern.
Das Tor des Hangars wurde geöffnet. Ein ZFX200 schoß heraus, entfernte sich von Fhloston Paradise und verschwand nach wenigen Augenblicken zwischen den hohen Schäfchenwolken. Zorg steuerte das Raumschiff selbst. Sein vernarbtes Gesicht war in dämonischer Freude verzerrt. Er tätschelte das mit Gold und Elfenbein belegte Kästchen, das neben ihm auf dem Sitz des Copiloten lag. »Daß man doch immer alles selbst erledigen muß«, sagte er selbstgefällig.
Korben ließ den Kopf der Diva so sachte wie möglich auf den Boden sinken. Ihre Augenlider flatterten. Loc Rhod kauerte ganz in der Nähe hinter einem Sitz und plapperte ohne Punkt und Komma in das flugfähige Mikrophon: »Sie sind entsetzlich! Sie haben Kämme auf den Köpfen, Augen wie Kröten und unheimlich viele Finger. Einfach entsetzlich.«
Eine halbe Galaxis entfernt lauschten die im Präsidentenbüro versammelten Wissenschaftler und Generäle der Radioübertragung. »Einfach entsetzlich«, wiederholte Loc Rhod.
»Mangalore«, sagte General Munro. Auf diese Idee war Präsident Lindberg inzwischen auch schon gekommen. »Schicken Sie sofort ein Bataillon los!«
»Die Regierung hat mich beauftragt, Ihnen zu helfen«, sagte Korben zur Diva Plavalaguna. »Ich hab’s wohl vermasselt.« »Keine Sorge«, flüsterte die außerirdische Schönheit. »Das ist mein Schicksal.« Wieder flatterten ihre Augenlider. »Wie war das Konzert?« Korben war schockiert. Sie lag im Sterben – und interessierte sich nur dafür, wie gut ihr Auftritt gewesen war? Aber warum eigentlich nicht? Schließlich war sie eine Künstlerin. »Ich habe noch nie etwas so Wundervolles gehört«, sagte er, und das entsprach voll und ganz der Wahrheit. Die Diva lächelte schwach. Ihre Stimme klang so, als käme sie aus weiter Ferne. »Sie sind ein guter Mann«, flüsterte sie. »Sie hatte recht damit, Sie auszusuchen.« Korben glaubte, er hätte sich verhört. »Wer?« »Das Fünfte Element. Das Höchste Wesen. Es wurde zur Erde geschickt, um das Universum zu retten.« Korben war wie vor den Kopf geschlagen. »Wollen Sie damit sagen…?« Die Diva nickte. »Leeloo. Sie müssen ihr die Heiligen Steine geben. Sie ist die einzige, die weiß, wie man sie benutzt.« Korben hob den Kopf, als in unmittelbarer Nähe weitere Schüsse fielen. Immer noch tobte die Schlacht. Er zog seine Waffe. »Aber sie braucht Ihre Hilfe«, fuhr die Diva fort. »Und Ihre Liebe. Sie ist viel verletzlicher, als es den Anschein hat.«
Korben holte, noch gebückt, zwei angreifende Mangalore von den Beinen. Sie brachen schreiend auf billigen Plätzen zusammen. »Das bin ich übrigens auch«, meinte Korben. Die Diva nahm seine Hand und zog ihn zu sich hinunter. »Sie wurde geschaffen, um das Leben zu schützen und nicht, um es selbst auszukosten. Wenn sie leben soll, dann muß sie lieben lernen.« Damit schloß sie die Augen.
Die Tür der Suite der Diva wurde geräuschlos geöffnet. Der Putzrobot sah hinein, piepste zweimal und rollte ins Zimmer. An der Wand klebte ein kleiner Zylinder. Die Flüssigkristallanzeige auf der Vorderseite veränderte sich. 20:00… 19:59…
»Sie dürfen nicht sterben!« rief Korben. Er tätschelte sanft die Wangen der Diva. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Kleid war von blauem Blut durchtränkt. »Wir müssen die Welt retten, haben Sie das schon vergessen? Hören Sie? Wo sind die Heiligen Steine?« Die Augenlider flatterten. Ganz leicht. Vielleicht von Korbens Atem.
Umlaufbahn erreicht erschien auf der Anzeige in der Instrumententafel der ZFX200.
Zorg schwebte von seinem Sitz hoch. Das kleine Schiff war so primitiv! Nicht einmal künstliche Schwerkraft. Aber was kümmerte es ihn? Er hatte bekommen, was er bekommen wollte. Zufrieden packte er das mit Gold und Elfenbein belegte Kästchen, das neben ihm schwebte. Zorg hielt einen Moment inne, um die eingravierten Abbilder der vier Elemente auf dem Deckel zu betrachten. Dann öffnete er es. Irgendwie kam ihm bekannt vor, was er da sah. Das Kästchen war leer. »Wo sind die Steine?«
Die Diva öffnete ein letztes Mal die Augen. Und sah Korben Dallas an, den ehemaligen Taxifahrer und ehemaligen Kriegshelden, der darauf brannte, das Universum zu retten. Sie lächelte schwach. Ein letztes Lächeln. »Die Steine… ich habe die Steine bei mir…« Blaues Blut strömte aus ihrem Mund. Sie schloß endgültig die Augen und starb in Korbens Armen.
In der Zwischendecke über der Suite der Diva krümmte Leeloo sich, als sie plötzlich einen unbeschreiblichen Schmerz spürte. »Neeiiin!«
24
»Hände auf den Kopf!« Korben sah sich um. Die Mangalore kontrollierten inzwischen die Gänge, die Bühne, die Eingänge und die Ausgänge des Konzertsaals. Sie hatten die Situation im Griff. »Alle!« schrie ein Mangalore. »He, mein Stargast!« zischte Loc Rhod. Er hatte sich wenige Schritte von Korben entfernt unter einer Sitzreihe versteckt. »Ich glaube, wir sollten… also, wir sollten wohl auf sie hören.« »Einen Augenblick noch«, sagte Korben. Er betrachtete den leblosen Körper der Diva und wiederholte ihre letzten Worte: »Ich habe die Steine bei mir…« »He, du da!« Korben wurde grob von der klobigen Hand eines Mangalore gestört, der ihn am Kragen packen und hochziehen wollte. Ein blitzschneller Judogriff holte den Krieger von den Beinen. Der Mangalore flog über Korbens Schulter und klatschte flach auf den Rücken. Als der Krieger die Augen öffnete, sah er in die von Korben, der über ihm kniete. Korben hatte ihm seine Waffe in den Mund gesteckt. »Ich sagte, einen Augenblick noch.« Korben winkte Loc Rhod, der sofort aus seinem Versteck gekrochen kam. »Halten Sie das hier«, sagte Korben. Er drückte Loc Rhod seine Pistole in die Hand. Der Lauf des ZF1 blieb im offenen Mund des vor Angst erstarrten Mangalore-Kriegers stecken.
»Oh, Mann, Korben…«, klagte Loc Rhod. Aber Korben hörte nicht zu. Er kniete über der toten Diva Plavalaguna und wiederholte ihre letzten Worte, als wären sie ein Mantra: »Ich habe die Steine bei mir. Ich habe die Steine bei mir.« Korben drückte auf den Bauch der Diva. Er war weich. Dann spürte er etwas Hartes. »Ich habe die Steine – in mir…?« Er zögerte einen winzigen Moment, dann schob er die Hand in die klaffende Wunde in der Seite der Diva. Und zog einen Heiligen Stein heraus. »Ja!« Loc Rhod zuckte zusammen, als er Korbens Ruf hörte. Er zuckte am ganzen Körper zusammen, und deshalb zuckte auch sein Finger, der am Abzug der Pistole lag. Das Schädeldach des Mangalore-Kriegers flog weg, Blut spritzte bis auf die Bühne. »Oh, Mann!« sagte Loc Rhod. »Das tut mir aber wirklich leid.« Korben zog einen weiteren, dann noch einen und schließlich den letzten Stein heraus. Alle vier waren mit hellblauem Blut bedeckt. Er riß sich das Hemd vom Leib und wickelte die Steine darin ein, um das Bündel anschließend Loc Rhod zu übergeben. »Wenn Sie die Steine verlieren, dann sehen Sie aus wie er, verlassen Sie sich drauf.« Korben deutete auf den toten Mangalore. »Kapiert?« »Grün«, sagte Loc Rhod. »Alles Supergrün.« »Schön. Dann folgen Sie mir.«
»Grün. Supergrün.« Loc Rhods Worte waren über die beiden Lautsprecher auf dem Schreibtisch des Präsidenten der Vereinigten Föderationen deutlich zu hören. Der Präsident wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. »Wie viele Leute hören da jetzt wohl zu?« fragte er einen Wissenschaftler. »Ungefähr 52 Milliarden, Sir.« Der Präsident wandte sich an General Munro. »Stellen Sie sich so eine Geheimoperation vor?« »Keine Sorge, Sir«, sagte Munro nervös. Allerdings war er inzwischen auch selbst etwas besorgt. »Ich kenne meinen Dallas. Er wird dafür sorgen, daß die Dinge sich wieder beruhigen.« »Das will ich aber sehr hoffen.«
Die Glastüren des Konzertsaales zersprangen in tausend Stücke, als zwei Mangalorekrieger hindurchflogen und im Flur landeten. Hinter ihnen kam Korben, in jeder Hand ein ZF1. »Alles auf den Boden!« brüllte er, während er die Lobby mit den Laserwaffen bestrich und die Mangalore, die sich gerade zurückzogen, mit ein paar Feuerstößen eindeckte. Als rechts von ihm Schüsse fielen, ging Korben sofort in Deckung und rollte sich hinter eine wuchtige, gewundene Säule. Loc Rhod huschte neben ihn. Er sprach immer noch in das schwebende Mückrophon. »Das ist ganz erstaunlich! Korben Dallas, der Gewinner des Gemini Croquette Contest, hat gerade drei Mangalorekrieger getötet, als hätte er lästige Fliegen erschlagen.«
Zwei weitere Mangalore feuerten jetzt auf die Säule, daß die Bruchstücke wie Granatsplitter herumflogen. »Kommen Sie!« schrie Korben. Gebückt und sich mehrmals abrollend durchquerte er die Lobby und verschwand hinter der Bar, an der während der Vorstellungspausen Getränke ausgeschenkt wurden. »Auf keinen Fall!« widersprach Loc Rhod. Während die Mangalore sich auf Korben konzentrierten, kletterte der flinke DJ an einem Vorhang zum Balkon hinauf, um von dort aus das Geschehen unter ihm zu kommentieren. Ein weiterer Mangalore tauchte auf. Er setzte sein ZF1 als Raketenwerfer ein und zerlegte die Bar Stück um Stück. Die Einschläge lagen immer näher an Korbens Versteck. Zu allem Überfluß war in diesem Augenblick auch noch Korbens ZF1 leergeschossen. Korben sah sich verzweifelt in der Lobby um. Auf einem Billardtisch in der Nähe entdeckte er ein verwaistes Lasergewehr. Unter dem Billardtisch war der galaktische Filmstar Baby Ray in Deckung gegangen. »Werfen Sie mir die Waffe rüber!« rief Korben. »Was?« Baby Ray schob den Kopf ein Stück vor. Gleichzeitig legte ein weiteres Geschoß ein weiteres Stück der Bar in Trümmer. »Das Gewehr, mein Gott!« rief Korben. Er deutete auf das ZF1, das mitten zwischen den Billardkugeln lag. »Oh«, meinte Baby Ray. Er rollte die Billardbälle über den Boden zu Korben hinüber. »Danke«, sagte Korben sarkastisch. »Das ist mir eine große Hilfe.« »Hände hoch!« Korben blickte auf. Ein Mangalore schob den Kopf über die Bar und sah zu Korben hinunter. Er hatte ein ZF1 in der Hand.
»Aufstehen. Langsam.« Korben stand auf. Langsam. Mit sehr, sehr langsamen Bewegungen kletterte er auf die Bar. Der Mangalore stand vor der Bar auf einem Brett, das aus der Deckenvertäfelung gefallen war. Das Brett balancierte seinerseits auf einem von Kugeln durchsiebten toten Mangalorekrieger. »Runter da!« sagte der Mangalore. »Okay«, entgegnete Korben gehorsam. Er sprang von der Bar auf das Brett. Das Brett wippte, und der Mangalore am anderen Ende flog in die Luft. Der gräßliche Kopf des Mangalore brach von unten durch den Balkon und kam ein paar Zentimeter vor Loc Rhods ängstlich verzerrtem Gesicht zum Stillstand. »Iieeaah!« »Bäh«, machte der Mangalore, Auge in Auge mit dem DJ. Der kampferprobte Außerirdische drückte reflexartig auf den Auslöser seines Gewehrs, und die Lasergeschosse flogen unkontrolliert durch die Lobby. Drei Kugeln schalteten drei weitere Mangalore aus, die gerade auf Korben losgehen wollten. Loc Rhod setzte den Mangalorekrieger außer Gefecht, indem er ihm das Stück Stoff mit den Heiligen Steinen auf den Kopf knallte. »Tut mir leid, Mann!« Drei weitere Mangalore stürmten mit spuckenden Gewehren auf den Balkon. »Korben, Mann!« rief Loc Rhod. »Hilfe!« »Nicht bewegen!« schrie Korben. Er rollte sich hinüber, bis er unter dem Balkon lag. Dort feuerte er das ganze Magazin geradewegs nach oben. Er sägte
einen Kreis aus dem Balkon, und Loc Rhod fiel direkt vor Korben herunter. »Uff!« machte der DJ, der endlich einmal um Worte verlegen war. Loc Rhod sah neugierig zu, wie Korben das leergeschossene Gewehr aufklappte und ein Metallkästchen freilegte, das er unter den Balkon warf. Es blieb dort kleben, und ein Licht begann zu blinken. »Was machen Sie da?« fragte der DJ. »Das werden Sie in zehn Sekunden sehen. Neun, acht… los, kommen Sie!« Korben packte Loc Rhod und zerrte ihn zum Pooltisch. Als er sah, daß der Tisch auf Rollen gelagert war, wußte der DJ, was er zu tun hatte. Die beiden Männer schoben den Tisch in den langen, abschüssigen Gang vor dem Konzertsaal und krochen darunter, sobald er von selbst rollte. Die Mangalore auf dem Balkon feuerten auf den rollenden Tisch. Das grüne Tuch spritzte in kleinen Fetzen herum, aber die Kugeln durchschlugen nicht die Metallplatte des Tischs, unter der Korben und Loc Rhod sich versteckt hatten. Der Sprengsatz zündete. Hinter Korben und Loc Rhod ging der Balkon in einem Flammenmeer auf. Im Konzertsaal war es auf einmal sehr still. Sehr, sehr still.
Korben und Loc Rhod krochen unter dem Tisch hervor. Korben schnappte sich ein ZF1, das dort herumlag. Plötzlich öffnete sich an der Seite des Konzertsaales eine Personaltür. Korben fuhr herum, das Gewehr im Anschlag.
Ein Cop in mittleren Jahren trat heraus. Er war mit Abzeichen und Geräten behängt, und er hatte die Dienstwaffe gezogen. »Niemand bewegt sich!« »Was?« Korben sah zwischen dem komischen kleinen Cop und Loc Rhod hin und her. »Ich bin Captain Fog, der Leiter des Sicherheitsdienstes für das Konzert.« »Ausgezeichnet«, sagte Korben. »Sie sind genau der, den ich gesucht habe.« Er warf dem kleinen Mann das große ZF1 zu. »Sie sind der Boß.« Dann packte er Loc Rhod am Arm und schleppte ihn hinaus.
25
»Leeloo?« Korbens Ruf klang halb hoffend und halb verzweifelt, als er in die Suite der ermordeten Diva platzte. Der Raum lag in Trümmern, zuerst durchwühlt von den Mangalore, dann von Zorg zerschossen. Aber Korben streifte das Blut, die Leichen und die Gegenstände, die auf dem Boden verstreut lagen, nur mit einem flüchtigen Blick. Dann sah er ein paar leuchtende Bruchstücke der Laserhandschellen auf dem Boden liegen. Die Bruchstücke flackerten wie sterbende Glühwürmchen. Und schließlich bemerkte er auch das Loch in der Decke, durch das Leeloo geflohen war. »Leeloo?« Er war verzweifelt und rannte sofort wieder hinaus, als er sah, daß sie nicht im Raum war. Den Laut, der als Antwort auf seinen Ruf aus dem Zwischenraum über der Decke kam, hörte er schon nicht mehr. Leeloo war geschwächt. Sie blutete und war angeschlagen, aber sie hatte ihn gehört. »Kor… ben…« Er sah weder die Miniaturatombombe, die an der Wand klebte, noch die Flüssigkristallanzeige, die die verbleibende Zeit anzeigte: 10:00… 09:59…
Inzwischen hatte im Orbit um den Planeten gerade eine ZFX200 gewendet und kehrte zum Fhloston Paradise zurück. Zorg steuerte das kleine Raumschiff selbst. Er war blind für die Schönheit des Weltraums. Auf dem Boden des Cockpits lagen die Trümmer eines Kästchens, dessen Inhalt Zorgs Erwartungen nicht entsprochen hatte. Jetzt murmelte er wütend: »Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich.«
Unterdessen hatten sie die letzten Überlebenden des Mangalore-Überfallkommandos im hinteren Teil der Sicherheitszentrale des Fhloston Paradise verbarrikadiert. Sie wurden von den Cops belagert, aber sie hatten noch reichlich Munition, und sie schossen auf alles, was sich draußen bewegte. Es war nicht daran zu denken, die Räume zu stürmen. Korben war immer noch auf der Suche nach Leeloo. Im Flur traf er Fog. »Haben Sie immer noch das Kommando?« »Ja, Sir«, antwortete Fog. »Wie viele sind da drin?« »Ich weiß es nicht.« »Dann lassen Sie uns doch mal nachzählen«, schlug Korben vor. Er ging zur Tür und schob den Kopf um die Ecke. Vorsichtig natürlich, um die Krieger nicht auf sich aufmerksam zu machen. »Links sind sieben«, sagte er, »und rechts sind fünf.« Fog nickte gehorsam, aber er verstand nicht, worauf Korben hinauswollte. Was nun?
Korben schob wieder den Kopf um die Ecke, dieses Mal aber zusammen mit seinem ZF1. Ein paar Sekunden später zog Korben den Kopf wieder zurück. »Links sind sechs, rechts ist einer«, murmelte Korben, während er nachlud. »Wir müssen den Anführer finden.« »Den Anführer?« fragte Fog ratlos. »Ja. Mangalore kämpfen nicht ohne Anführer«, erklärte Korben. Wie auf Stichwort regte sich daraufhin etwas im Innern der Sicherheitszentrale. Akanit stand auf. Er schleppte Vater Cornelius ins Freie, wo er gesehen werden konnte. Und hielt dem alten Priester ein Gewehr an den Hinterkopf. »Noch ein Schuß, und wir töten die Geiseln«, sagte Akanit. »Kapiert?« »Wir haben den Anführer gefunden«, murmelte Korben. »Schickt jemand, mit dem wir verhandeln können!« rief Akanit. »Darf ich gehen?« erkundigte Korben sich bei Fog. »Ich kann sehr gut verhandeln.« Fog nickte. Seine Medaillen klimperten. Korben stand auf und rief zurück: »Wir schicken jemanden, der autorisiert ist, mit Ihnen zu verhandeln!« Rasch trat er durch die Tür, ging direkt auf Akanit zu und jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Als der Anführer der Mangalore zu Boden stürzte, drehte Korben sich zu den verwirrten Kriegern um. »Sonst noch jemand, der verhandeln will?« Fog war beeindruckt. »Wo hat der bloß gelernt, so zu verhandeln?« sagte er halblaut.
Der Präsident, der den ganzen Ablauf in seinem Büro verfolgt hatte, warf General Munro einen harten Blick zu. »Das frage ich mich auch«, murmelte er. Munro zog den Kopf ein und wandte den Blick ab.
26
Während Polizisten die verbleibenden Mangalore einsammelten, die wie betäubt herumstanden, ging Korben zum Kontrollpult der Sicherheitszentrale und suchte auf den Bildschirmen jeden Winkel des Fhloston Paradise ab. Er suchte… suchte… suchte… »Sie sind wahrscheinlich ziemlich böse auf mich«, sagte plötzlich jemand neben ihm. Korben drehte sich um. Vater Cornelius hatte sich unbemerkt genähert. »Ich kann das verstehen«, fuhr der Priester fort. »Aber Sie müssen wissen, daß ich für eine gerechte Sache kämpfe.« »Yeah, ich weiß. Sie wollen die Welt retten«, sagte Korben, während er die Suche fortsetzte. »Ich will eigentlich nur Leeloo finden.« Cornelius erschrak. »Ist Leeloo in Schwierigkeiten?« »Wann ist die mal nicht in Schwierigkeiten?« murmelte Korben. »He, Jungs!« rief Loc Rhod, der wohlgemut wieder an Deck war. Komplett ausgerüstet mit Mikrophon, seinem Bündel mit den Steinen und allem Drum und Dran.
Im Hangar schellte eine Glocke. Ein Raumschiff war gelandet. Der Offizier, der für die Andockbuchten zuständig war, öffnete die Tür. Das Schiff kam ihm bekannt vor. »Immer noch Probleme?« fragte der Offizier den Piloten.
»Nichts, was ich nicht in den Griff bekommen könnte«, sagte Zorg und hob ein ZF1. Korben wußte, wie man Vermißte findet. Es war eine Wissenschaft für sich. Erste Regel: Kehre immer zu dem Ort zurück, an dem du die Zielperson zum letzten Mal gesehen hast. Er kehrte zur zerstörten Suite der Diva zurück. Loc Rhod und Cornelius zockelten hinter ihm her. Die Putzrobots hatten die Leichen weggeschafft, aber das Zimmer war immer noch ein Trümmerhaufen. In der Decke klaffte ein großes Loch. »Leeloo!« rief Korben. Während Korben die Schränke, das Bad und die kleine Küche absuchte, musterte Loc Rhod das böse aussehende kleine Ding, das an der Wand klebte. »Korben, Mann…«, fragte er. »Was ist das hier?« Korben sah es an. »Eine Molekularbombe. Eine Miniaturatombombe.« »Und diese Zahlen hier, die ständig wechseln?« fragte Loc Rhod. 3:01… 3:00… 2:59… »Das dürfte die restliche Zeit sein, bis sie explodiert«, erklärte Vater Cornelius, der Korben beim Suchen geholfen hatte. Loc Rhod lächelte. Oder besser, er versuchte zu lächeln. »Das sagt ihr nur, um mir einen Schreck einzujagen, nicht wahr? In Hotels wie diesem hier gibt es Bombendetektoren. Wenn das eine Bombe wäre, dann hätte man schon längst Alarm geschlagen.« Loc Rhod hatte recht. Eine Sirene schlug an, und eine laute Roboterstimme sagte:
»DIES-IST-EIN-A-ALARM-AUSSICHERHEITSGRÜNDEN-MUSS-DAS-HOTELGERÄUMT-WERDEN.« Vater Cornelius und Korben suchten weiter. Loc Rhod machte ein dummes Gesicht. Draußen auf den Fluren des großen Hotelschiffs fielen die Reaktionen etwas lebhafter aus. »A-ALARM-BITTE-GEHEN-SIE-RUHIG-ZU-DENRETTUNGSBOOTEN-DIE-SIE-IN-DEN-HAUPTGÄNGENFINDEN.« Die Menschen stürmten zu den Ausgängen, und wer stürzte, wurde überrannt. Schreie waren zu hören, Schüsse fielen zwischen den entsetzt fliehenden Menschen, die in hellen Scharen durch die Flure rannten und die Rettungsboote suchten. Die Panik griff um sich, und gerade als es schien, die Situation könnte nicht schlimmer werden, tauchte Zorg aus dem Hangar auf, legte sein ZF1 an und schoß auf alles, was in Reichweite war. Fog drückte sich flach gegen die Wand und griff zur Pfeife. Er pfiff und rief so überzeugend wie möglich: »Bitte bleiben Sie ruhig! Wir haben die Situation absolut unter Kontrolle!« Seine Worte verloren sich im Tumult.
1:59… 1:58… Loc Rhod stand wie gelähmt vor der Miniaturatombombe, die unerbittlich zählte. Er starrte die Bombe in hilfloser Faszination an, wie eine Maus eine Kobra anstarren mochte, bevor die Schlange zuschlägt. »He, Mann!« rief er. »Ich will Sie ja nicht stören, aber würden Sie mal…«
Korben kam aus dem Schlafzimmer, das er gerade durchsucht hatte. »… wir haben hier… also, da sind kaum noch zwei Minuten drauf.« Korben trat neben den DJ und betrachtete die Bombe. 1:43… 1:42…. »Das ist das neueste Modell«, sagte Korben, während er die Bombe musterte. »Damit hatte ich noch nicht das Vergnügen. Mal sehen, ob ich sie entschärfen kann. Ich brauche eine Nadel…« Ohne den Blick von der Bombe zu wenden, zog er eine Haarnadel aus Loc Rhods futuristischer Frisur.
Nur anderthalb Meter über ihm blickte Leeloo aus dem Zwischenraum durch eins der Löcher, die Zorg in die Decke geschossen hatte, zu ihm hinunter. Sie war zu schwach, um etwas zu sagen. Sie blutete stark aus einer Wunde in der Seite, die genauso aussah wie die Wunde der Diva. Mühsam steckte sie einen Finger in ihr Blut und schob den blutigen Finger durch ein Loch in der Decke. Sie lag direkt über Korben, der gerade versuchte, die Bombe mit einer Haarnadel zu entschärfen. Der Tropfen Blut spritzte auf seine Hand. Korben sah hoch. »He, was machen Sie da?« fragte Loc Rhod ängstlich. »Die Bombe!« Korben hörte nicht auf ihn. Er schob einen Tisch unter das Loch, sprang darauf und steckte den Kopf in die Zwischendecke.
Leeloo begrüßte ihn mit einem schwachen, aber zärtlichen Lächeln. »Keine Sorge«, sagte Korben. »Ich bin ja schon da.« Er zog sie herunter und legte sie sanft auf den Tisch. »Entspanne dich. Wir haben die Heiligen Steine. Alles wird gut…« Loc Rhod war nicht überzeugt. Der Timer zählte: 00:32… 00:31… »Korben«, sagte er, »da sind nur noch… also, da sind nur noch dreißig Sekunden drauf!« Korben streichelte Leeloos Wange. »Ich bin gleich zurück!« Er wandte sich wieder der Bombe zu und stocherte mit der Haarnadel herum. Loc Rhod stand mucksmäuschenstill daneben und starrte auf die Flüssigkristallanzeige. 00:22… 00:21… Nicht einmal das Mückrophon vor Loc Rhods Mund bewegte sich. Korben spürte, wie ihn etwas im Nacken kitzelte. Er drehte sich um und starrte in die Mündung eines ZF1. Zorg. Der verrückte steinreiche Schmuggler zog eine Plastikkarte mit einem Magnetstreifen aus der Hemdtasche. »Wenn Sie erlauben«, sagte er lächelnd. Loc Rhod und Korben machten große Augen. 00:14… 00:13… Zorg schob die Karte durch einen Schlitz in der Seite der Bombe. Es piepste, und der Timer wurde neu gestartet.
05:00… 04:59… »Verlängerung«, sagte Zorg. Loc Rhod verlor das Bewußtsein. Das getreue Mückrophon ging mit ihm zu Boden. Zorg ignorierte den bewußtlosen DJ und hielt das Gewehr auf Korben gerichtet. »Schau an, wen haben wir denn da? Ist das nicht Korben Dallas, der berühmte Gewinner des Gemini Croquette Contest? Oder ist das jener Korben Dallas aus der Spezialabteilung, der von General Munro und Präsident Lindberg höchstpersönlich geschickt wurde?« Korben sah ihn beunruhigt an. »Wissen Sie, Mr. Zorg«, sagte er, »diese Waffen sind ziemlich gefährlich. Sie könnten am Ende noch jemand mit Ihrem Spielzeug verletzen.« »Ach ja?« meinte Zorg, der diesen uralten Trick schon ein paarmal gesehen hatte. »Wirklich«, sagte Korben. »Sehen Sie das gelbe Blinklicht da an der Seite? Das sagt Ihnen, daß die Waffe gesichert ist.« »Hübscher Versuch«, kicherte Zorg, obwohl er alles andere als sicher war. »Aber Sie müssen wissen, daß ich diese Waffen selbst konstruiert habe und genau weiß, wie sie funktionieren. Das gelbe Licht heißt nicht, daß die Waffe gesichert ist. Es heißt, daß das Magazin…« Wie unangenehm. »… leer ist.« »Gut zu wissen«, erwiderte Korben. Er holte mit seiner großen Faust aus. Langsam. Er freute sich auf die Gelegenheit. Zorg drückte ab. Die Waffe klickte leer.
»Das war ein Magazin mit dreitausend Schuß«, sagte Zorg. »Ich habe doch nie im Leben dreitausend Schüsse abgefeuert!« »Sie sollten eben zählen lernen«, sagte Korben. »Es ist gar nicht so schwer. Passen Sie auf, ich zeig’s Ihnen.« Er schlug Zorg ins Gesicht. »Eins. Das ist für die Schüsse auf mich.« Er schlug noch einmal zu. »Zwei. Das ist für den Versuch, mich umzubringen.« Und noch drei Schläge. »Und die hier sind für das, was Sie meiner Frau angetan haben.« Frau? dachte Zorg noch, ehe es dunkel um ihn wurde. Ein paar hundert Lichtjahre entfernt reagierten der Präsident und sein General sehr unterschiedlich auf die brutalen Geräusche, die über Loc Rhod immer noch aktives Mikrophon übertragen wurden. Präsident Lindberg schloß die Augen; ob vor Schmerz oder vor Freude, war nicht zu erkennen. General Munro nahm die Schultern vor wie ein Boxer, als wäre er und nicht Korben damit beschäftigt, Zorg zu vermöbeln.
03:00… 02:59… »Das wird knapp«, meinte Vater Cornelius. »Wir verschwinden«, gab Korben zurück. Er nahm Leeloo auf die muskulösen Arme und ging zur Tür. Loc Rhod lag bewußtlos auf dem Boden. Vater Cornelius kniete sich neben ihn und weckte ihn mit einer Ohrfeige. Loc Rhod setzte sich auf. »Sind Sie verrückt, Vater? Das hat weh getan! Ich kann ja alle meine Zähne spüren!«
»Macht nichts«, sagte Cornelius, indem er den DJ auf die Füße zog. Er drückte ihm das blutige Hemd mit den Heiligen Steinen in die Hand. »Sie brauchen im Augenblick nur Ihre Beine.«
27
»Nicht drängeln«, sagte Fog. »Wir haben genug Platz!« Das glaubte ihm natürlich niemand. Die riesige Menschenmenge schob sich durch die Flure und stürmte zu den winzigen Rettungsboten. Loc Rhod drei Assistenten waren ziemlich weit vorn. »Beeilen Sie sich, meine Damen… äh, meine Herren«, sagte Fog, den die geschlechtsneutrale Aufmachung genarrt hatte. Die drei blieben stehen und sahen sich nach ihrem Boß um, nach ihrem Mentor, ihrem Helden, ihrem Halbgott, ihrem legendären Anführer Loc Rhod. »Wir können nicht ohne unseren Meister gehen!« rief der erste. »Wir WERDEN nicht ohne unseren Meister gehen!« rief der zweite. »Auf GAR keinen Fall!« rief der dritte. »Das hier ist das letzte Boot«, sagte Fog. Drei Gesichter, die einander ähnelten wie drei Hühnereier, wurden blaß. »Vielleicht ist er ja schon weg«, sagte der erste. »Ich glaube, ich habe ihn gehen gesehen«, sagte der zweite. »Ich WEISS, daß er schon weg ist«, sagte der dritte. Und damit drängten sich die drei in das Boot, kurz bevor es vom schwebenden Luxushotel losmachte.
»NOCH-ZWEI-MINUTEN-BIS-ZUR-VOLLSTÄNDIGENRÄUMUNG«, tönte der Lautsprecher, während Korben, Leeloo, Loc Rhod und Vater Cornelius zum Hangar rannten.
Korben öffnete die Gleittür des ersten Schiffs, das ihm raumtüchtig vorkam. Es war Zorgs ZFX200.
In der verwüsteten Suite der toten Diva kam Zorg gerade wieder zu sich. Er hob den zerkratzten und zerschlagenen Kopf und suchte nach seinem Gewehr. Die Flüssigkristallanzeige sprang um: 01:12… 01:11…
Korben fegte unterdessen in der ZFX200 die Trümmer des Kästchens vom Copilotensitz und bettete Leeloo auf den Sitz. Vorsichtig schnallte er sie an. Loc Rhod und Cornelius drängten sich hinter ihm in das winzige Cockpit.
Zorg hob sein ZF1 und sah es an. »Ich habe mit Sicherheit nicht dreitausend Schuß abgegeben. Oder etwa doch?«
»NOCH-EINE-MINUTE-BIS-ZUR-VOLLSTÄNDIGENRÄUMUNG«, tönte der Lautsprecher. »Wissen Sie, wie man so ein Ding fliegt?« fragte Loc Rhod. Korben schnallte sich im Schalensitz des Piloten an. »Das ist so ähnlich wie Taxifahren, oder?« fragte er trocken. Loc Rhod zuckte zusammen. »DREISSIG-SEKUNDEN-BIS…«
»Weiß jemand, wie man die Garagentür aufbekommt?« fragte Korben. Loc Rhod schüttelte den Kopf. Cornelius schüttelte den Kopf. Zorg betrachtete immer noch sein leeres Gewehr, als die Anzeige auf der Bombe zu blinken begann. Dann piepste die Bombe. Noch zehn Sekunden. 00:09… 00:08… Zorg drückte einen versteckten Knopf an der Seite des ZF1 und hob es direkt über seinen Kopf. Ein malvenfarbenes magnetisches Kraftfeld entfaltete sich aus dem Gewehr und hüllte ihn in einen unzerstörbaren Schutzschild ein.
»ACHT-SIEBEN…« Der Lautsprecher hatte sich mit dem Zeitzünder der Miniaturatombombe synchronisiert. Loc Rhod und Korben suchten hektisch die Schalter und Anzeigen im Armaturenbrett der ZFX200 ab. »Immer noch nichts?« Loc Rhod schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, was ich suche.« Vater Cornelius deutete auf eine Reihe von Schaltern. »Drücken Sie doch einfach auf alle.« »Gute Idee«, meinte Korben und machte sich mit fliegenden Fingern ans Werk. Servomotoren heulten. Magnetspulen summten. Ventile öffneten sich, Relaisschalter klickten.
Eine Batterie Raketenwerfer erschien vorne in dem winzigen Raumjäger, und alle waren auf die Hangartür gerichtet. Automatisch hob sich die Zielvorrichtung aus dem Armaturenbrett. »Na, bitte«, sagte Korben. Er begann zu feuern. Die Salve aus den Werfern am Bug der ZFX200 fetzte die Hangartür aus den Angeln. »Festhalten!« Das kleine Schiff schoß aus dem großen Luxushotelschiff hinaus und flog eine Sekunde später in azurblauem Himmel über türkisfarbenem Meer.
00:02… 00:01… 00:00… Die Miniaturatombombe zündete. Die Suite der Diva verschwand. Der Flur verschwand. Der Konzertsaal samt Bar verschwand. Alles verschwand in einem grellen, unglaublich heißen Blitz. Die Passagiere, die wohlbehalten in winzigen Rettungsbooten hockten, sahen entsetzt zu, wie das ganze prächtige Luxusschiff in einem gewaltigen Feuerball unterging. Nur ein einziges, winziges, raumtüchtiges Schiff, die ZFX200 tauchte aus diesem Inferno auf und rast zu den Wolken hinauf, ganz knapp vor den gigantischen Druckwellen.
Cornelius atmete schnaufend aus. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er schon eine ganze Weile den Atem angehalten hatte.
»Genau wie ein Taxi«, sagte Korben ein wenig selbstgefällig, während er sich im Schalensitz zurücklehnte. Loc Rhod sah auf die Uhr, dann vergewisserte er sich, daß das Mückrophon noch funktionierte. Hoffentlich hatte es die Explosion und ihre Flucht übertragen. Dann legte er los: »Liebe Hörer, ihr Lieblings-DJ ist immer noch allzeit bereit! Es ist jetzt neunzehn Uhr, Galaktische Standardzeit, und damit Zeit für die Nachrichten! Schalten Sie auch morgen wieder ein und hören Sie ein neues aufregendes Abenteuer mit ihren sehr ergebenen… Loc Rhod!« Er drückte auf einen winzigen Schalter. Das Mikrophon piepste, und die Sendung war beendet. Loc Rhod lehnte sich zurück und seufzte sehr laut und sehr zufrieden. »Die beste Sendung, die ich je gemacht habe.«
General Munro betrat das Büro des Präsidenten. Er lächelte. Ein ungewöhnlicher Gesichtsausdruck für einen Mann, der normalerweise nur mit ernsten militärischen Fragen zu tun hatte. »Major Dallas hat die Fünf Elemente an Bord«, sagte Munro. »Der Priester führt sie direkt zum Tempel.« Präsident Lindberg schloß erleichtert die Augen. »Gott sei Dank. Wir sind gerettet.«
Die Druckwelle der Explosion des Fhloston Paradise breitete sich genauso aus wie die Wellen, die in Kreisen ausstrahlen, wenn man einen Stein in einen Teich wirft. Allerdings müßte man sich in diesem Fall einen sehr großen Stein vorstellen; der in einen sehr großen Teich gefallen ist und entsprechend große Wellen erzeugt.
Vor der Wolke aus Staub, Schutt und Trümmern flog ein malvenfarbener magnetisch-digitaler Sarkophag. Er drehte sich rasend schnell um sich selbst und stürzte auf einem entlegenen Gletscher ab, hoch droben in einer unzugänglichen und unerforschten Gebirgskette. Mit einem satten, dumpfen Geräusch bohrte sich der Sarkophag in den Schnee.
In einem Büroturm in Manhattan klingelte in Zorgs Büro das Telefon. Die Sekretärin, die sich die Fingernägel lackiert hatte, unterbrach ihre wichtige Tätigkeit und nahm ab. »Ja?« »Krcks diese verdammten krcks.« »Oh, Mr. Zorg. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« »Ich war krcks im krcks.« »Es tut mir leid, aber ich kann Sie kaum verstehen.«
In einer namenlosen Gebirgskette dicht am Polarkreis des Planeten Fhloston kletterte eine Gestalt aus einem Loch im Schnee, das annähernd wie ein Sarg geformt war. Zorg. Angeschlagen, verkratzt und blutig, aber ungebeugt. Er sprach in sein Handy. »Können Sie mich jetzt besser verstehen?« »Ja, Mr. Zorg, ich kann sie klar und deutlich hören. Wie war das Konzert?« »Hören Sie zu, statt mir dauernd dazwischenzuquatschen! Die Batterien sind fast leer.« »Entschuldigen Sie, Sir.« »Schicken Sie mir sofort ein neues ZFX200.«
»Jawohl, Sir. Ich schicke es zum Hotel.« »Ich bin nicht im Hotel. Es gibt kein Hotel mehr.« Das Handy piepste. »Hallo? Hallo?« Die Batterien waren leer. Schweigen. Tiefe Stille, die nur vom heulenden, kalten Polarwind durchbrochen wurde. Zorg setzte sich auf einen Eisbrocken. »Jetzt muß ich nachdenken«, murmelte er.
Präsident Lindberg und seine militärischen Berater wollten schon auf ihren Erfolg anstoßen, doch sie wurden von einem Wissenschaftler gestört, der mit besorgter Miene ins Büro platzte. Alle Wissenschaftler machen fast immer besorgte Gesichter. Aber dieser hier sah besonders besorgt aus. »Mr. President…« »Ja?« sagte Lindberg ungehalten. »Was ist denn schon wieder?« »Wir haben da ein Problem.« Der Wissenschaftler nickte einem Techniker zu, der eine Schaltfläche im Bürofenster berührte, worauf es sich in einen Großbildschirm verwandelte und einen Ausschnitt der Galaxis zeigte. Genauer gesagt, handelte es sich um das Bild einer Kamera in einem Schlachtschiff, das einen planetengroßen Feuerball verfolgte. Der Feuerball raste mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den Weltraum. »Es bewegt sich?« fragte der Präsident.
»Es bewegt sich nicht nur«, unterbrach der Kommandant des verfolgenden Kriegsschiffs, »es bewegt sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Wir kommen kaum hinterher.« Der Präsident wandte sich an den Wissenschaftler, der ihm die schlechte Nachricht überbracht hatte. »Haben Sie eine Ahnung, wohin das Ding fliegt?« Der Wissenschaftler schluckte schwer. Dann nickte er. »Es kommt hierher.«
28
Es gibt nichts Friedlicheres als den Weltraum. Die kleine ZFX200 schaukelte leicht, während sie durch die einander überlagernden Schichten des Raumzeitgefüges raste, von den stark verdrehten Superstringstrahlen des Plasmaantriebes auf ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Korben achtete nicht darauf. Er hatte das Schiff auf Autopilot geschaltet. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem wundervollen Geschöpf, das in seinen Armen lag. Er wischte Leeloos perfekte Stirn ab. Sie öffnete die grünen Augen. »Apipoulai«, flüsterte Korben. Leeloo schenkte ihm ein Lächeln, das die unzähligen Sterne, die draußen vorbeiflogen, verblassen ließ. »Die Diva hat mich gebeten, auf dich aufzupassen«, sagte Korben. »Die Menschen sind so… so seltsam«, flüsterte sie schwach. »Was meinst du damit?« »Alles, was ihr erschafft… dient der Zerstörung…« »Wir bezeichnen das als die menschliche Natur«, sagte Korben. »Hast du das nicht am Bildschirm gelernt, als du die Datenbanken durchgesehen hast?« »Ich bin noch nicht fertig«, sagte Leeloo. »Ich bin erst bei V.« »Dann kommen noch einige sehr schöne Worte auf dich zu.« »Welche denn?«
»Zum Beispiel Vertrauen. Oder Vollkommenheit. Oder… oder…« Der zärtliche Moment wurde gestört, als ein Telefon klingelte. Vater Cornelius nahm hinten im Cockpit den Hörer ab. »Da ist ein General Mumbo dran.« »Munro«, korrigierte Korben ihn. Er schaltete den Computer vor Leeloos Sitz ein und küßte die schönste Stirn des Universums. »Beende deine Lektionen. Ich bin gleich wieder da.« Leeloo strahlte Korben an, während dieser sich aus dem Schalensitz befreite, um das Gespräch anzunehmen, und drehte sich wieder zum Computer um. Sie ließ den Buchstaben V ablaufen, dann W. WELTKRIEG. Der Text wurde von historischen Bildern ergänzt. Querverweise zu anderen Kriegen: Der amerikanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg, der Trojanische Krieg, der Vietnamkrieg. Tränen rannen über die hübschesten Wangen des Universums.
Das erste, was Korben vernahm, als er den Telefonhörer ans Ohr hielt, war ein Räuspern. Nicht das Räuspern eines Offiziers, sondern das eines Präsidenten. »Major Dallas, zunächst möchte ich Sie als tapferen Soldat begrüßen, als aufrechten Kämpfer, als leuchtendes Vorbild für die Größe unserer Armee. Im Namen der Föderation und aller ihrer Mitglieder, im Namen all jener, die für Freiheit und Demokratie…« Korben schüttelte ungeduldig den Hörer.
»Mr. President, könnten Sie nicht zur Sache kommen? Wo ist das Problem?« Der Präsident seufzte schwer. »Eine Feuerkugel mit einem Durchmesser von zweitausend Kilometern rast auf die Erde zu. Wir haben keine Ahnung, wie wir sie aufhalten sollen. Das ist das Problem.« »Wieviel Zeit bis zum Einschlag?« Es gab eine kurze Verzögerung, als der Präsident sich mit seinen Wissenschaftlern beriet. »Wenn die Geschwindigkeit konstant bleibt, eine Stunde und 57 Minuten.« »Ich rufe in zwei Stunden zurück«, sagte Korben. Er legte auf. Der Präsident sackte in seinem Sessel zusammen. Er war verzweifelt. Korben stieg wieder in den Schalensitz des Piloten. Er schaltete die Ultra-Turbos ein.
Weniger als eine Stunde später setzte das kleine Raumschiff unter sengender Sonne im Wüstensand auf. Korben stieg aus. Er trug die bewußtlose Leeloo auf den Armen. Loc Rhod folgte ihm. Die Heiligen Steine, die in das blutverschmierte Hemd eingewickelt waren, trug er bei sich. Vater Cornelius buddelte schon im Hang einer Düne herum. Korben unterbrach ihn. »Vater«, fragte er, »wo ist dieser Tempel? Wo ist der Eingang?« »Irgendwo hier in der Nähe«, erwiderte der alte Priester. »Aber in einem Jahr schiebt sich die Düne links vom Eingang vor und im nächsten Jahr rechts davon…« Er buddelte weiter. Loc Rhod war fix und fertig. »Ich halte das nicht aus«, sagte er. »Ich bin ein berühmter Mann! Ich bin nicht dazu geschaffen, im richtigen Leben den
Helden zu spielen, das mache ich nur fürs Publikum! Begrabt mich einfach da, wo ich hinfalle.« Er ließ sich erschöpft in den Sand sinken. Der Sand gab unter ihm nach. »Hilfe!« Loc Rhod sprang auf, als sich die Falltür unter ihm vollends öffnete. Der junge Novize David tauchte auf. »Gott sei Dank, daß ihr da seid!« Korben machte Cornelius, der noch im lockeren Sand wühlte, darauf aufmerksam: »Wir haben ihn gefunden.«
Präsident Lindberg war in seinem Sessel eingenickt. Ein Assistent betrat das Büro und weckte ihn sanft. »Sie sind gerade in der Wüste gelandet.« Der Präsident wischte sich die Stirn und die buschigen Augenbrauen trocken. »Wieviel Zeit haben wir noch?« Der Assistent deutete zum Bildschirm an der Wand. Man sah darauf einen kleinen blauen Planeten, der wie ein kostbares Juwel im weiten Weltraum funkelte. Ein dunkler, böse glühender Feuerball raste geradewegs auf ihn zu. »Etwas mehr als eine Stunde, Sir.«
Vater Cornelius und David betraten den Tempel als erste. Es ging durch einen langen Gang in die unterirdische Kammer hinab. Korben, der Leeloo auf den Armen trug, folgte als nächster. Loc Rhod kam als letzter mit den Steinen.
Als Korben die zentrale Kammer erreichte, hatten David und Cornelius bereits den Zeremonienrauch mit strategisch verteilten spuckenden Lichtkugeln ausgeleuchtet. Primitiv und qualmend, aber sie funktionierten. In der Mitte stand ein Altar. Korben legte Leeloo sanft und sogar mit einer gewissen Ehrerbietung darauf. Rings um den Altar standen vier Steinpodeste. Vater Cornelius ging ringsherum und betrachtete sie nacheinander. »Das hier muß Wasser sein«, sagte er unsicher. Korben war mißtrauisch. »Nun erzählen Sie mir nur nicht, daß Sie nicht einmal wissen, wie das funktioniert.« »Natürlich weiß ich das«, erwiderte Vater Cornelius. »Theoretisch jedenfalls. Die vier Steine werden rings um den Altar ausgelegt, und das Fünfte Element kommt dort in die Mitte.« Er nickte in Richtung zum Altar, wo Leeloo friedlich schlief. »Wenn wir alles richtig aufgebaut haben, sollte die Waffe gegen das Böse funktionieren.« »Aber Sie haben noch nie gesehen, daß sie funktioniert hat?« fragte Korben. Cornelius zuckte die Schultern. »Äh, Gott sei Dank, nein.« Korben, der Mann der Tat, nahm einen Stein aus dem Hemd, das Loc Rhod in den Armen trug wie eine Lumpenpuppe. »O.k. dann wollen wir mal sehen. Jede Waffe hat eine Bedienungsanleitung. Die muß doch hier irgendwo sein.« Er hob den Stein ins trübe Licht der qualmenden Lampen und betrachtete das eingravierte Symbol. Luft. Sofort trug er den Stein zu seinem der vier Podeste, auf denen ebenfalls Symbole eingraviert waren. Luft. Es paßte.
»Also los«, sagte Korben. »Die Symbole müssen übereinstimmen.« Vater Cornelius, David und Loc Rhod brachten die verbleibenden Steine hierhin und dorthin, und nach einigem Austauschen waren alle da, wo sie hingehörten. Dann traten sie zurück und warteten, was geschehen würde. Sie warteten darauf, daß etwas passierte. Irgend etwas mußte jetzt doch passieren. »Es tut sich nichts«, sagte Korben. »Es funktioniert nicht.« »Natürlich nicht, noch nicht«, sagte Vater Cornelius. »Die Steine müssen offen sein.« »Offen? Und wissen Sie auch, wie man das macht?« »Theoretisch…«, sagte Vater Cornelius. »Theoretisch… nein, eigentlich nicht.«
Auf der anderen Seite eines kleinen, bedrohten Planeten, den man Erde nannte, saß der Präsident der Vereinigten Föderation in seinem Büro und beobachtete, was über den wandgroßen Bildschirm eingespielt wurde. Der Bildschirm zeigte eine Feuerkugel, die mit rasender Geschwindigkeit auf die Erde zuhielt.
»Leeloo!« Korben beugte sich über sie und versuchte, sie zu wecken. »Die Steine! Weißt du, wie man sie öffnet?« Korben mußte sich weit vorbeugen, um sie zu verstehen. Er hob eine Hand, um die anderen zum Schweigen zu bringen. Leeloos Stimme war so leise wie eine einsame Harfensaite. »Der Wind weht… das Feuer brennt…« »Ja, das weiß ich doch, Leeloo«, sagte Korben. »Aber was ist mit den Steinen?«
»Der Regen fällt…« »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte Vater Cornelius. »Sie braucht Ruhe, wenn sie wieder gesund werden soll.« Korben zog sich frustriert zurück. Er nahm einen Stein vom Podest. »Der Regen fällt… der Wind weht… was, zum Teufel, soll das bedeuten?« »Vielleicht ist das ein Spiel?« schlug Loc Rhod vor. »So eine Art Worträtsel.« »Nein!« sagte Korben, indem er dem Stein auf das Podest zurückstellte. »Das ist viel einfacher. Wenn wir in fünf Minuten nicht wissen, wie diese Dinger funktionieren, dann sind wir alle tot. Kapiert?« »Kapiert«, sagte Loc Rhod.
Der Planet des Bösen kam immer näher. Statt Licht strahlte er Dunkelheit aus. Sein Schatten flog ihm voraus und schob sich über den blauen Planeten, als wäre dort eine Sonnenfinsternis eingetreten. Auch in der Wüste fiel Schatten auf den Sand, der sofort auskühlte. Im Tempel spuckten die blauen Kugeln und erloschen. Im Büro des Präsidenten wandte sich ein Techniker mit ängstlichem Gesicht von der Kommunikationsanlage ab. »Sir, wir haben den Kontakt mit Cornelius und Dallas verloren.« »Wie lange noch?« fragte der Präsident. »Drei Minuten.«
»Das schaffen wir nicht«, sagte Loc Rhod. Er hielt eine Taschenlampe, während Cornelius, David und Korben nacheinander alle Steine umdrehten, schüttelten und zusammenschlugen. Nichts half. Loc Rhod beugte sich über einen der Steine und seufzte hilflos. Korben, David und Cornelius fuhren herum, als sie das leise Knacken hörten. Loc Rhod hob den Stein auf. »Er hat sich bewegt! Korben! Korben!« Korben, Cornelius und David rannten zu ihm. Der Stein schien ein wenig anzuschwellen. »Was haben Sie gemacht?« fragte Korben. »Was haben Sie gesagt?« »Nichts. Ich schwöre bei Gott, ich habe überhaupt nichts gemacht.« Korben packte den DJ an den dick ausgepolsterten Schultern. »Passen Sie auf, Sie müssen etwas gemacht haben, weil Sie das Ding zum Reagieren gebracht haben. Versuchen Sie, sich daran zu erinnern. Konzentrieren Sie sich. Sagen Sie mir ganz genau, was Sie gemacht haben.« Loc Rhod beugte sich über das Podest. »Ich habe so gestanden wie jetzt, die Hände hatte ich hier, und ich habe gesagt, das schaffen wir nicht. Das ist alles!« »Und dann?« fragte Vater Cornelius. »Was noch?« fragte David. »Was dann?« fragte Korben. »Und dann habe ich, glaube ich, geseufzt. So wie jetzt.« Loc Rhod seufzte. Es knackte, und der Stein öffnete sich. »Ich hab’s!« sagte Korben. »Der Wind! Der Wind weht…« Er beugte sich vor und blies sachte über den Heiligen Stein.
Ein kleines Quadrat öffnete sich und zeigte ein hellblaues Stück Himmel samt einigen Miniaturwolken. Ein gelber Lichtstrahl brach aus dem Stein und beleuchtete Korbens faltiges Gesicht. »Jeder an einen Stein!« rief er. »Wasser zum Wasser, Feuer zum Feuer, Erde zu Erde!« David scharrte eine Handvoll Staub zusammen und warf ihn über seinen Stein. Es knackte, und ein grüner Fleck erschien, aus dem ein grüner Lichtstrahl brach, der das eifrige junge Gesicht überstrahlte. Vater Cornelius sah sich vergeblich nach Wasser um, dann wischte er sich mit einem Taschentuch die Stirn ab und wrang ein paar Tropfen Schweiß aus dem Tuch, die er auf seinen Stein fallen ließ. Wieder knackte es, und auch in diesem Stein erschien ein kleines Fenster, das eine tosende See zeigte, über die schäumende weiße Wellen liefen. Ein blauer Lichtstrahl beleuchtete das Gesicht des alten Priesters. Loc Rhod hatte Probleme mit dem vierten Stein. Er wühlte in seinen Taschen herum. Er hatte eine Menge Taschen in seinem Anzug. »Ich habe kein Feuer«, sagte er. »Ich wollte das Rauchen aufgeben.« Korben klopfte sich ab. Er fand eine Streichholzschachtel. Ein Streichholz war noch drin. »Nicht atmen«, sagte er. Er riß das Streichholz an. Eine winzige Flamme erschien. Die Flamme spuckte, flackerte… Totenstille herrschte im Raum, als Korben sich mit dem winzigen flackernden Streichholz dem Stein näherte.
Loc Rhod, David und Vater Cornelius standen stocksteif wie Statuen. Leeloo lag bewußtlos oder schlafend auf dem Altar. Korben schützte die winzige Flamme mit der Hand und schlich auf Zehenspitzen zum Stein. Auch dieser Stein knackte, und ein winziges Feuer erschien in seiner Öffnung. Ein hellroter Strahl flammte auf und vereinigte sich mit dem gelben, dem grünen und dem blauen Strahl, die sich unter der Decke des Tempels trafen.
»Wie lange noch?« fragte der Präsident. Er blickte wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem die Feuerkugel zu sehen war, die sich der Erde näherte. »Eine Minute.«
»Leeloo!« drängte Korben. Er schob sie auf dem Altar herum, bis sie direkt unter dem Kreuzungspunkt der vier Strahlen lag. »Los jetzt!« rief er. »Vater Cornelius meint, daß du jetzt dran bist.« Im Schatten sprachen der alte Priester und der junge Novize ein stilles Gebet. Loc Rhod stand neben ihnen und murmelte ein anderes Gebet. Leeloo erhob sich auf die Knie. »Schütze das Leben…« sagte sie. »Bis zum Tod…« Sie schloß die Augen. »Du kannst morgen noch schlafen«, bat Korben und schüttelte sie sanft. »Nun mach schon…« »Ich will… ewig… schlafen…«
»Nein!« sagte Korben. Er schüttelte sie heftiger. »Das geht nicht! Die Welt braucht dich – und ich brauche dich auch. Ich buche danach einen Urlaub für uns. Einen richtigen Urlaub, so lange, wie du willst. Nun mach schon! Wach auf, Baby! Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« Korben trat einen Schritt zurück, als Leeloo im Kreuzungspunkt der vier Strahlen aufstand. Endlich kam sie auf die Beine. Sie schwankte unsicher. Ein weißes Licht erschien um sie herum. Der Strahl war nach oben zur Decke des Tempels gerichtet. »Los doch, Leeloo!« sagte Cornelius. »Los!« sagte David. »Grün!« sagte Loc Rhod. Der weiße Strahl wurde heller, dann verblaßte er wieder. Leeloo kniete auf dem Altar nieder. Dann rutschte sie herunter und fiel auf den Boden.
Der dunkle Planet füllte den Bildschirm aus. Der Präsident hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber er konnte nicht. Früher hatte er mal in Annapolis geboxt, und dieses Gefühl, das ihn jetzt überkam, kannte er. Er kannte es sehr gut. Es war die Erkenntnis, daß man verloren hatte. Es war der Augenblick, in dem man auf den vernichtenden Schlag wartete – auf den K.o.-Schlag, zu dem der Gegner schon angesetzt hatte. Solche Momente liefen meistens ab wie in Zeitlupe. Man sah es kommen und konnte nichts tun. »Fünfzig Sekunden«, sagte der Techniker.
»Leeloo!« Korben hob sie auf. Aus den Wänden hinter ihm sickerte eine seltsame schwarze Flüssigkeit. Es schien, als würde sie aus den Steinen gequetscht. Sie tropfte entsetzlich langsam herunter, eine zähe Masse, wie man sie in einem Grab erwarten würde. Sie tropfte auf den Boden und spritzte hoch, und immer wenn sie etwas traf, zischte es. Ein Tropfen, der vor Loc Rhod Füße fiel, fraß ein Loch in den Steinboden. Wieder zischte es. Loc Rhod wich zurück und konnte mit knapper Not einem weiteren Tropfen ausweichen. Wieder ein Tropfen. Was es auch war, es fiel wie Regen. Ein alles vernichtender, tödlicher, ätzender Regen.
»Leeloo!« Korben half ihr auf den Altar. Er brachte sie wieder zwischen die gekreuzten Lichtstrahlen der Steine. Dann kletterte er zu ihr auf den Altar, zog sie neben sich hoch und half ihr auf die Beine. »Wenn du nicht weitermachst, müssen wir alle sterben«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und das steht heute nicht auf meinem Programm!« Leeloo legte ihm die Arme um den Hals und hängte sich erschöpft an ihn. »Was nützt das?« flüsterte sie. »Was nützt es, Leben zu retten, wenn man sieht, was ihr Menschen daraus macht?« »Du hast recht«, sagte Korben. »Aber es gibt auch viele gute Dinge. Schöne Dinge, die es wert sind, daß man sie rettet.«
»Was denn?« »Die Liebe zum Beispiel.« »Aber ich… ich weiß nicht, was Liebe ist. Deshalb brauche ich sie auch nicht, ich brauche nicht…« »Falsch«, sagte Korben. »Die Welt braucht dich. Aber ich brauche dich sogar noch mehr. Mehr, als du es dir vorstellen kannst. Stell dich gerade hin!« »Warum?« Leeloo sah Korben jetzt in die Augen. »Warum… warum brauchst du mich?« »Weil…«, sagte Korben. »Nun sage es ihr doch schon«, murmelte Cornelius vor sich hin. »Nun sage es ihr doch schon, um Himmels willen!« Er hatte sich neben David eng an die Wand gedrückt. Ein Tropfen Feuer fiel auf Loc Rhods Hemd. Es zischte. Er riß sich das Hemd herunter und warf es fort. »Sage es ihr«, murmelte Vater Cornelius. »Weil…«, sagte Korben noch einmal. Leeloo blickte zu Korben hoch. Ihre Augen glichen zwei grünen Erdkugeln, erfüllt von Tränen wie blitzende Meere. »Sage es mir«, sagte sie. »Weil ich dich liebe«, sagte Korben. Leeloo lächelte schüchtern. »Jetzt hast du die Erlaubnis.« »Welche Erlaubnis?« »Mich zu küssen.« Korben küßte sie. Und der weiße Strahl um sie glänzte heller. Das Göttliche Licht wurde intensiver, bis es den Tempel erfüllte und durchs Dach brach. Droben flogen Sand und ein oder zwei Kamele zur Seite. Wie nach einer Explosion drang das Licht nach oben und griff zu den oberen Atmosphäreschichten hinaus, wo es in die Feuerkugel
einschlug, gerade als diese in die Lufthülle der Erde eindringen wollte.
Im Tempel küßten Korben und Leeloo sich, als gäbe es kein Morgen mehr. Aber es sollte ein Morgen geben. Es sollte noch viele Morgen geben. Die schwarze Flüssigkeit, die aus den Wänden gedrungen war, verfestigte sich zu Stalaktiten, die abbrachen und auf dem Boden des Tempels zerschellten. Der dunkle Planet kreischte, oder er gab ein Geräusch von sich, das einem Kreischen ähnelte. Auch er wurde hart und bekam eine Kruste. Im Büro des Präsidenten hoben sich zwei buschige Augenbrauen über zwei großen Augen. Der Präsident nahm zur Kenntnis, daß er noch lebte. Daß die Erde überlebt hatte. »Der eindringende Körper hat angehalten, Sir«, sagte der Techniker. »Hundert Kilometer vor dem Aufschlag! Er ist in einen stabilen Orbit eingeschwenkt.« Der Präsident seufzte. Er hatte schon eine ganze Weile die Luft angehalten. Es fühlte sich wundervoll an zu atmen, einfach wundervoll. Lindberg gestattete sich ein Lächeln.
Der weiße Strahl leuchtete nicht mehr so hell wie am Anfang, aber Korben und Leeloo standen immer noch auf dem Altar, gebadet in flackerndes Licht, das sie umspielte wie zurückweichende Wellen bei Ebbe. Es war ein langer Kuß. Vater Cornelius und David beendeten kniend ihre Gebete.
Loc Rhod öffnete die Augen. »Der Kerl kann wirklich mit Puppen umgehen«, vertraute er Vater Cornelius an. »Ich wußte das sofort, als ich ihn zum erstenmal gesehen habe.« Cornelius und David lachten. Leeloo und Korben küßten sich.
29
»Mr. President!« Die Tür des Nuklearlabors wurde abrupt geöffnet, und herein kam Präsident Lindberg samt seinem Gefolge von Assistenten, Technikern, Wissenschaftlern und militärischen Beratern, alle in ihre prächtigsten Galauniformen gekleidet. Professor Mactilburgh kam ihnen entgegen und verneigte sich höflich vor den Gästen. »Mr. President«, sagte ein Assistent, »erlauben Sie mir, Ihnen Professor Mactilburgh vorzustellen, der dieses Forschungszentrum leitet.« »Es ist mir eine Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen, Mr. President«, säuselte der Professor. Der Präsident sah sich bereits neugierig im Labor um. »Wo ist das Heldenpaar?« »Sie waren nach all den Aufregungen so müde«, erklärte Mactilburgh, »daß wir sie heute morgen in den Reaktor gesteckt haben, damit sie…« Lindberg unterbrach ihn mit einer herrischen Geste. »Ich habe gleich anschließend noch neunzehn Konferenzen, Professor.« Mactilburgh erkannte, daß er allmählich zur Sache kommen mußte. »Lassen Sie mich nachsehen, ob sie schon wieder bei Bewußtsein sind.« »Wir sind in einer Minute auf Sendung«, flüsterte ein anderer Assistent. Mactilburgh drückte auf einen Knopf an der Seite der Reaktorkammer, und der blaue Schutzschirm wurde durchsichtig.
Drinnen waren Korben und Leeloo zu sehen, eng umschlungen und sich küssend. Sie waren nackt. »Ich, äh, ich glaube, die beiden brauchen vielleicht noch etwas Zeit, Mr. President«, sagte Mactilburgh. Der Präsident nickte. Er drehte sich zu einem weiteren Helfer um, der mit sichtlich nervöser Miene in ein Handy sprach. »Nein, Ma’am«, sagte der Assistent, »ich habe es wirklich versucht. Ja, ich weiß. Nein, Ma’am.« »Was ist da los?« wollte der Präsident wissen. Der Helfer hielt die Hand über die Sprechmuschel. »Da ist eine Frau dran, die behauptet, Major Dallas’ Mutter zu sein.« »Geben Sie her.« Der Präsident nahm den Hörer. »Mrs. Dallas, hier ist der Präsident. Im Namen der ganzen Föderation möchte ich…« Der Präsident runzelte die Stirn und hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Alle im Labor Anwesenden drehten sich zu ihm um, als sie das schrille, blecherne Stimmchen im Handy hörten: »Hör bloß auf mit diesem Scheiß, Finger. Und wenn du dich noch so gut verstellst, ich würde dich auch in einer dunklen Gasse bei Gewitter erkennen. Du sagst meinem nichtsnutzigen Sohn auf der Stelle, daß er sich was schämen soll, wenn er jetzt so tut, als wäre er für seine Mutter nicht zu sprechen. Wenn ich nur daran denke, wie ich mich für ihn aufgeopfert habe!« Der Präsident ließ den Hörer an den Fingern baumeln wie einen toten Fisch. »Mr. President…« Er drehte sich um und sah aus dem Fenster. Im Osten tat sich etwas.
Hinter ihm waren Korben und Leeloo, in blaues Licht gebadet, immer noch in einem anscheinend ewigen Kuß versunken. Draußen im Osten tauchte hinter der Skyline ein bleiches, silbriges Licht auf. Der Präsident lächelte. Er liebte diesen Anblick. Mondaufgang über Manhattan. Zuerst der alte Mond, dann der neue.