Lilo von Sterneck
Alt Wien
frivol
Lilo von Sterneck
Wahre Geschichten aus besserer Zeit
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Lilo von Sterneck
Alt Wien
frivol
Lilo von Sterneck
Wahre Geschichten aus besserer Zeit
AMALTHEA
Besuchen Sie uns im Internet unter www.amalthea.at © 2008 by Amalthea Signum Verlag, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, verlagsbüro wien Umschlagabbildung: Archiv Herstellung: studio e, Josef Embacher Gesetzt aus der 11,5/13,5 pt Caslon Gedruckt in der EU I S B N 978-3-85002-659-8
Inhalt Erotik anno dazumal 7 Liebesprobleme einer Kaiserin 9 Casanova schockiert die Wiener 18 Mozart und sein sinnliches »Bäsle« 29 Der adelige Syphilis-Mörder 38 Der Ballonflug des Monsieur Blanchard 48 Die schöne Frantova und der »Gflickte Schani« 57 Die mordende Gräfin 68 Intrigen um den Wunderdoktor 79 Die »Betten-Spionin« des Kaisers 91 Affären um Beethoven 102 Napoleons »goldene« Liebesstunde 113 Der nackte Busen der Fürstin 125 Franz Schubert und die Dirne 137 Der Tod des rosaroten Prinzen 148 Franz Grillparzer und die Liebe 158 Das Liebesquartett vom »Schnepfenstrich« 170
Ein Wäschermädel wird »Baronin« 182 Josef Lanner unter falschem Verdacht 193 Der Liebespaar-Mörder 205 Die ordinären Lieder der Fanny Hornischer 215 Therese Krones und ihr »Mord-Graf« 225 Literatur 237 -
Erotik anno dazumal »Hierzulande altern die Frauen nie. Damen, die weit über vierzig sind, ja selbst Fünfzigjährige, kleiden sich wie junge Mädchen, und es gelingt ihnen, Dummköpfe zu finden, die sich an ihren verwelkten Reizen begeistern. Schlimmstenfalls ersetzen sie durch ihren Reichtum ihre mangelhaften körperlichen Vorzüge, und niemals hat ein Land weniger geziemliche Ehen gesehen als diese wienerische Hauptstadt, wo die Mehrzahl der Frauen sich erst erinnert verheiratet zu sein, wenn sie aus der Hand desjenigen ihre Rente empfangen, der das Unglück hatte, ihr Gatte zu sein. Die leichtsinnige Weiblichkeit ist in Wien sehr hübsch und ebenso nichtsnutzig...« Eine Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaftsmoral Wiens? Keineswegs. Diese Worte schrieb im Jahr 1787 der Musiker Johann Friedrich Reichardt in seinen »Vertrauten Briefen, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den österreichischen Staaten«. Seine Aufzeichnungen von damals beweisen, wie viele andere Schriften auch, daß man uns zwar heute immer wieder Freizügigkeit in sexuellen Fragen vorwirft, daß aber anno dazumal um eine Portion Frivolität mehr an den Tag gelegt wurde. Jahrzehntelang geheimgehaltene Sittenakte aus Österreichs Vergangenheit beweisen uns heute, daß Frauen und Männer von damals Dinge im Geheimen und mitunter auch in der Öffentlichkeit trieben, die uns heute noch rot werden lassen. Es gab Bordelle und Dirnen in rauen Mengen. Ein Ehemann mit einer Geliebten war beinahe eine selbstverständliche Zeiterscheinung. Und was mitunter so bei Hof und in den Straßen der Stadt passierte, das läßt sich mit heutigen moralischen Skandalen und Entgleisungen nicht vergleichen. - 7 -
Gegen die »Sünder« von einst sind wir alle die reinsten Unschuldslämmer. Darum habe ich in Archiven gestöbert, alte Bücher und Aufzeichnungen studiert, in Tagebüchern gelesen und alte Zeichnungen gesammelt, um die Intimsphäre unserer Vorfahren in der Kaiserstadt zu durchleuchten. So sind die frivolsten G e schichten aus dem alten Wien entstanden. Als unterhaltsame Lektüre. Und als »Entlastungsmaterial« für unsere angeblich so sittenlose Zeit... Lilo von Sterneck
So freizügig ging es in den Gaststätten am Spittelberg zu
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Ein strahlender Frühlingstag liegt über Wien. Der azurblaue Himmel wölbt sich über die Kaiserstadt des Jahres 1751. Es ist früher Morgen. Kaiserin Maria Theresia hat ihre engsten Regierungsmitglieder und Vertrauten zu einer außerordentlichen Sitzung zu sich gerufen. Die Kaiserin wirkt erregt, als sie mit der rechten Hand auf die Platte des Konferenztisches schlägt und meint: »Meine Herren, ich kann das nicht mehr länger mitansehen. Diese Hurerei in Wien muß ein Ende haben. Ich hör ja schreckliche Sachen aus meiner Stadt. In einem Gasthaus am Spittelberg zum Beispiel, da kriegt jeder männliche Gast, der ohne Frauenperson zum Essen und Trinken kommt, in einem Extrazimmer so ein moralloses Ding zur Unterhaltung. Es sollen sich lästerliche Sachen dabei abspielen. Und darum muß hart durchgegriffen werden. Ich wünsche daher, daß ab sofort eine strenge kaiserliche Keuschheitskommission in Aktion tritt, die mit Umsicht dafür sorgt, daß das Laster in Wien und in den anderen großen Städten meines Reiches ein Ende hat...!« Staatskanzler Kaunitz räuspert sich: »Majestät, ich glaube, Ihre Idee mit einer Keuschheitskommission wird sich kaum durchführen lassen. Wie stellen Sie sich das vor?« Maria Theresia mustert Kaunitz streng: »Seien S'unbesorgt, lieber Kaunitz. Das wird sich arrangieren lassen. Das wissen Sie ganz genau. Aber Sie wollen keine Sittenkommission, mein Lieber. Weil Sie der erste sein werden, der gegen die Vorschriften dieser Kommission verstoßen wird. Ihre Weibergeschichten gehen mir schon lange auf die Nerven. Überhaupt die Sache mit der Kurtisane Giulietta Cavamacchia aus Venezia. Aber das gehört net hierher! Schwamm drüber!« - 9 -
Auch Graf Khevenhüller will einen Einwand vorbringen: »Vielleicht ist vieles, das Majestät so erfahren, übertrieben...!« Maria Theresia lacht laut heraus: »Nein, mein Graf. Ich habe gute Quellen. Glauben S' mir das. Der Bischof von Wien in allerhöchster Person hat mir berichtet, daß er demnächst mit Einbruch der Dunkelheit die Gotteshäuser schließen lassen wird, weil's die Frauenpersonen derart schamlos treiben, daß sie auch nicht davor zurückschrecken, es mit den Mannsbildern in irgendwelchen stillen Nischen und hinter leeren Kirchenbänken zu treiben. Aber ich brauch ja gar net weit schauen. Mein Hof ist doch schon ein einziges Bordell. Jeder Mann, und wenn er noch so hochgestellt ist, hat eine oder gar mehrere Mätressen. Diese Sauwirtschaft muß aufhören. Aber bald!« Im Saal herrscht betretenes Schweigen. Dann ergreift Kaunitz wieder das Wort: »Majestät, es wird einfach nicht durchführbar sein, in Adels- und Bürgerkreisen die Mätressenwirtschaft und in einfachen Kreisen die Hurerei abzuschaffen. Sie haben seit Ihrer Thronbesteigung das Laster vehement bekämpft. Was wollen Sie noch alles tun? Das Vergnügungsleben von großen Städten läßt sich nicht abwürgen.« Maria Theresia sieht den Staatskanzler sehr ernst an, als sie murmelt: »Kaunitz, ich will ja net das Vergnügungsleben einer Stadt totmachen. Aber: Unter Vergnügen stell ich mir halt etwas anderes vor, als manche andere. Ich mach es kurz. Das soll ja heute nur eine Vorbesprechung sein. Wir gründen eine Keuschheitskommission. In ihrem Auftrag werden nach strengen Vorschriften Keuschheitskommissäre des Nachts und bei Einbruch der Dunkelheit ausfahren, die Leute in den Lokalen und auf den Straßen, aber auch jene in ihren Wohnungen durch die Fenster beobachten und einschreiten oder Anzeige erstatten, wo der geringste Verdacht von unmoralischem Treiben aufkommt ...!« Die Kaiserin will weiterreden. Doch da geht sachte die breite Flügeltür des Saales auf. Ein Hofkanzleirat tritt leise ein und nähert sich unterwürfig Maria Theresia. Er reicht ihr ein gol- 10 -
denes Tablett entgegen, auf dem ein verschlossener Brief liegt. Maria Theresia nimmt ihn hastig, schickt den Beamten weg, reißt den Umschlag auf und wird blaß. Sie sieht in die Runde ihrer Staatsräte und flüstert dann: »Entschuldigen S' mich, meine Herren. Wir brechen die Sitzung ab. Ich muß weg...!« Rasch dreht sie sich um und eilt dem Ausgang zu. Im Nu ist Staatskanzler Kaunitz neben ihr. Er weiß, daß sie oft seine Hilfe braucht. »Majestät, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann?« fragt er und hält höflich Distanz zu ihr. Die Kaiserin schüttelt mit müdem Lächeln ihren Kopf: »Nein, lieber Kaunitz, in dieser Angelegenheit können S' mir leider net helfen. Das ist ganz persönlich und privat. Ich hab halt wieder Sorgen mit meinem Franzl. Ach Kaunitz, warum seid's ihr Mannsbilder so grauenhaft schlechte Menschen und braucht's immerzu andere Weiber? Warum genügt euch denn net ein einziges Bett...?« Gerade an jenem historischen Tag, an dem Maria Theresia die Keuschheitskommission ins Leben ruft, erhält sie von einem bestellten und bezahlten Privatdetektiv die Nachricht, daß ihr Gatte, Franz von Lothringen, wieder einmal ein neues illegitimes Liebesverhältnis eingegangen ist. Einer Zofe gegenüber äußert sich die Kaiserin unter Tränen: »Vielleicht wird er zur Vernunft kommen, wenn meine Keuschheitskommission zu arbeiten beginnt!« Sie behält nicht recht. Auch das weitverzweigte Schnüffelsystem wird Franz von Lothringen nicht davon abhalten »fremdzugehen«. Seit dem Tag, an dem Maria Theresia an ihrer Sittenkommission arbeitet und erfahren muß, daß ganz Wien von den Seitensprüngen ihres Gemahles weiß, wird sie besonders hart. Sie verbietet sogar Faschingsveranstaltungen, die ihr zu ausgelassen erscheinen. Der zynische Zeitgenosse Emanuel Kirschner aus der Leopoldstadt schreibt im Jahr 1752 in sein Tagebuch, nachdem er - 11 -
einige Tage mit Graf Khevenhüller auf Hirschjagd war: »Bis zum Jahr 1751 war die Kaiserin selbst den ausgelassenen Narrenveranstaltungen sehr zugetan. Dann verlor sie langsam die Lust daran. Graf Khevenhüller meinte, der Grund liege darin, weil die Majestät so oft gesegneten Leibes ist...!« Auf dieser gemeinsamen Jagd verrät Graf Khevenhüller seinem Freund noch etwas, das er eigentlich streng geheim und für sich behalten soll, weil es um keinen Preis an die Öffentlichkeit gelangen darf. Der Graf hat Kenntnis erhalten, daß die Seitensprünge von Franz von Lothringen und die harten Vorschriften der Kaiserin in Sittenfragen nicht von ungefähr kommen. Emanuel Kirschner ist außer sich. Das entnimmt man seinen Tagebucheintragungen, die da lauten: »Mir verschlug es beinahe den Atem. Ich wollte es gar nicht glauben. Eine Frau, die als Kaiserin ein Land regiert und von so vielen Männern im In- und Ausland verehrt wird und die obendrein noch so viele Kinder zur Welt gebracht hat, das muß ein Prachtweib sein, nach dem sich jeder sehnt. Aber es ist ganz anders: Die Kaiserin ist gar keine richtige Frau, auch wenn sie Kinder gebären kann...!« Die bereits bestehende Keuschheitskommission und ihre Beamten haben in den ersten Tagen ihrer Aktivität nicht nur alle Hände voll zu tun, Ehebrecherinnen und Ehebrecher, Huren und Mätressen, Kupplerinnen und anderes unmoralisches Gelichter aufzuspüren. Die Männer haben auch den Auftrag von höchster Stelle, dafür zu sorgen, daß ein böses Gerücht über die Kaiserin nicht noch mehr in Umlauf gerät und dementiert wird. Ein Gerücht, das der Wahrheit entspricht und mit Briefen belegt ist. Die Briefe verschwinden in geheimen Staatsarchiven und in privaten Büros. Doch sie werden nicht vernichtet. Und so kann die moderne Nachwelt es erfahren: Kaiserin Maria Theresia war eine frigide Frau... Ein schwüler Sommertag des Jahres 1751 ist vorbei. Die Nacht liegt drückend über der Donaumetropole des Kaiserreichs. - 12 -
Sündigen Frauen wurde nach öffentlichem Gericht die Haare abgeschnitten
Maria Theresia schläft nicht. Sie schlendert in ihrem prunkvollen Nachthemd den Korridor vom ehelichen Schlafgemach zu ihrem privaten Arbeitszimmer im Schloß Laxenburg. Sie wirkt verstört, so wie sie ihre Umwelt sonst nie zu sehen bekommt. Minutenlang starrt sie zum Fenster hinaus. Sie ist die Kaiserin eines mächtigen Reiches. Aber sie hat im Augenblick Probleme, wie sie vielleicht auch eine Wäscherin in der Vorstadt oder ein armes Mädel auf dem Land hat. Sie kann körperlich nicht lieben. Natürlich mag sie ihren Franz sehr gern. Sie umarmt ihn oft und küßt ihn herzlich. Sie freut sich auch, wenn er sie umarmt und sie »Reserl« nennt. Aber mehr empfindet sie nicht. Eben vorher war er wieder bei ihr. Die Umarmungen, die betörenden Worte, die er flüsterte - alles glitt an ihr ab. Sie versteht das alles nicht, obwohl sie es gern verstehen will. Ihr Kopf glüht, sie beginnt leise zu weinen. Sie setzt sich an den Schreibtisch und verfaßt einen Brief, der im frühen Morgengrauen - 13 -
durch einen privaten, geheimen Boten zu ihrem Leibarzt gebracht wird. In diesem Brief, der fragmentarisch erhalten ist, gesteht sie erstmals ihrem Arzt: »Ich wollte nie darüber reden, weil ich geglaubt hab, es wird anders werden. Aber ich muß es jetzt einmal sagen: Die eheliche Geschlechtsliebe ist für mich eine schreckliche Enttäuschung geworden. Ich hab immer auf etwas gewartet, was aber nie eingetroffen ist. Seine Umarmungen machen mich nicht glücklich, so wie das andere Frauen von ihren Erlebnissen berichten. Ich krieg immer nur Kinder. Aber ich empfinde nichts dabei...!« Maria Theresia gesteht weiter, daß sie noch niemals in ihrem Leben durch die körperliche Liebe befriedigt wurde. Sie gibt zu, daß sie immer hoffte, eines Tages würde auch sie geweckt werden und glücklich sein dürfen. Aber es ist ihr versagt geblieben. Sie bekam ein Kind nach dem anderen und lernte in ihrem Dasein niemals das wirkliche Glück einer Frau kennen. In ihrem Brief bittet sie den Arzt, ihr rasch und seriös Antwort und Rat zukommen zu lassen. Doch der Leibarzt findet es nicht schicklich, seiner Kaiserin in einer solchen Angelegenheit einen Brief zu schreiben. Außerdem erkennt er sehr richtig, daß es vielleicht klüger und leichter ist, mit dem Ehemann der sorgenvollen Frau zu sprechen. Er läßt Franz von Lothringen eine Botschaft zukommen. Doch der gute Franz, der gerade wieder einmal eine Liaison hat, wimmelt ab. Da schreibt ihm der Arzt einen Empfehlungsbrief, wie er die Zeilen selbst nennt. Und er gibt ihn Graf Khevenhüller mit der Bitte, das Schreiben dem Gemahl der Kaiserin bei Gelegenheit diskret zu überreichen. So erfährt Graf Khevenhüller an einem kühlen Sommermorgen bei einem Ausritt, daß die Kaiserin frigide ist und daß der Arzt dem Gatten rät, es doch nicht bei »alltäglichen Umarmungen« bewenden zu lassen. Er legt dem Schürzenjäger nahe, alle seine Kräfte auf seine Ehegattin zu konzentrieren und viel Phantasie und Ungewöhnlichkeit ins Spiel zu bringen. In unserer heutigen Zeit transferiert bedeutet das: Maria Theresia sollte von ihrem Mann endlich sexuell glücklich gemacht werden, - 14 -
indem es Franz von Lothringen mit verschiedenen Liebesvariationen versuchen sollte, wie sie heute in jedem einschlägigen medizinischen wissenschaftlichen Werk aufgezählt werden und wie sie auch in vielen Handbüchern der Liebe dargestellt werden. Franz von Lothringen hat schließlich mit dem Arzt eine mehrstündige Aussprache. Die Zeilen des Mediziners müssen ihm zu denken gegeben haben. Vielleicht weiß er jetzt erst, warum es ihm bei anderen besser gefällt als im ehelichen Bett. Tatsache ist, daß Maria Theresia zeit ihres Lebens nicht von ihrer Unbefriedigtheit geheilt werden kann. Sie bleibt bei den Umarmungen ihres Gatten weiterhin gefühllos ... Damals wußte man über frigide Frauen so gut wie gar nichts. Heute hat sich die Wissenschaft eingehend mit diesem Problem befaßt. Und wenn man darüber einiges weiß, versteht man mit einem Mal die Frau und Kaiserin Maria Theresia. Viele ihrer Regierungsentscheidungen in Sachen Keuschheitskommission werden ganz klar. Sie, die im Privatleben nicht glücklich werden konnte und der die Leidenschaft versagt blieb, beneidete sicher so manch liederliches Ding, das sie von ihren Sittenkommissären verfolgen und auspeitschen ließ, im Grunde ihres Herzens um das Glück seiner ausgefüllten Liebeserlebnisse. Natürlich sprach die Kaiserin niemals darüber. Doch heute erscheint das alles wahrscheinlich. Auch die permanente Untreue des Franz von Lothringen erscheint damit in einem ganz anderen Licht. Als der Ehemann der Kaiserin merkte, daß es einfach nicht möglich war, die eigene Frau glücklich zu machen, suchte er sich leidenschaftliche Mätressen. Ein schneeverwehter eiskalter Wintertag des Jahres 1755. Die kaiserliche Droschke bahnt sich mühsam einen Weg durch die Wiener Innenstadt. Die Straßen sind fast unbefahrbar. Der Kutscher flucht ordinär. Mitten am Graben bleibt das Gefährt stehen. Maria Theresia beugt sich hinaus und fragt den Kutscher: »Was ist los? Warum fahr'n wir net?« Der Kutscher deutet nur stumm auf die Szene, die sich ihnen - 15 -
bietet. Maria Theresia hält die Hand vor den Mund und sieht wie gebannt zu dem Steinsockel inmitten der Straße. Dann bedeutet sie ihrem Mitfahrer, auch hinauszusehen. Dieser Mitfahrer ist kein Geringerer als der Jesuitenpater Parlhammer, der Präsident der Keuschheitskommission. Er flüstert nur: »Recht so, diesem Gesindel gebührt es nicht anders...!« An dieser Steinsäule windet sich im eiskalten Wind der gertenschlanke Körper eines bildschönen Mädchens mit langen, roten Haaren. Trotz der Minusgrade sind ihre straffen festen Brüste schön anzusehen. Auf ihrem weißen Rücken mehren sich die blutigen Striemen der Peitsche, die unerbittlich auf sie niedersaust. Das Mädchen kann sich nicht wehren. Sie ist mit den Händen an einen Eisenring an die Säule gebunden. Sie hat Schmerzen. Man sieht es ihr an. Da erblickt sie die Kutsche. Und dann die Kaiserin. Und ein spöttisches Lächeln umspielt ihre Lippen. Erst gestern hat sie etwas erfahren, daß ihr so Freude macht, daß sie im Augenblick auf die Hiebe vergißt. »Wer ist das?« fragt Maria Theresia und deutet auf das Mädchen. Der Kommissionär der Sittenkommission verneigt sich und antwortet: »Sie ist eine stadtbekannte Hure, die es mit jedem treibt, der ihr Geld gibt. Aber auch ohne Geld läßt sie sich mit vielen Mannsbildern ein und bringt Ehen und Familien auseinander!« »Eine gerechte Strafe«, nickt Jesuitenpater Parlhammer. Die Kaiserin will anordnen, daß man mit den Peitschenhieben aufhört und dem Mädchen wieder etwas anzieht. Doch die Dirne kommt ihr zuvor. Sie richtet ihren lasterhaften, verlockenden Körper auf, nackt steht sie da und zeigt aufreizend ihre schlanken Beine. Dann schreit sie mit heiserer Stimme: »Lieber bin ich hier am Pranger als in der Kaiserkutsche. Weil ich Spaß hab an der Liebe und glücklich bin in den Armen der Männer. Du aber kannst gar nicht lieben wie eine normale Frau...!« Ein harter Peitschenhieb schneidet der Dirne die Rede ab. - 16 -
Der Kutscher schlägt auf die Pferde ein. Der Wagen jagt davon. Die Kaiserin sinkt in ihren Sitz zurück. Sie ist sehr blaß. Aber sie sagt den ganzen Tag lang kein Wort mehr. Und sie bleibt der Sitzung der Keuschheitskommission, zu der sie gerade fährt, fern. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in einigen Wiener Bezirken die Nachricht von der Unfähigkeit der Kaiserin, in den Armen ihres Gatten glücklich zu werden. Es dauert nicht lange, und das Gerücht ist abgewürgt. Mit Strafen, Anzeigen und Drohungen.
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Man schreibt das Jahr 1766. Ein großer Tag für die Wiener Bevölkerung. Kaiser Joseph II., der seit genau einem Jahr neben seiner Mutter Maria Theresia regiert, hat den bisher unzugänglichen und umzäunten Jagdpark Prater für das Volk freigegeben. Jung und alt ziehen schon in den frühen Morgenstunden in das dichtbewaldete Augebiet, um dort die gute Tat des Kaisers bei Picknick und Musik zu feiern. Bei Einbruch der Dunkelheit steigen die ersten Leuchtraketen und Knallkörper gegen den Himmel. Erstmals in der Geschichte des Praters wird hinter Sträuchern und Bäumen geliebt. Freudenmädchen haben ihre Chance erkannt und sich schon am Nachmittag unters Volk gemischt. Vor allem die vom berüchtigten Spittelberg. So manche hat sich einen Kavalier angelacht, der bereit ist, mit ihr hinter den dichten Praterbüschen zu verschwinden. Die Sittenpolizei hat alle Hände voll zu tun. Wie heute noch aus einem handgeschriebenen Protokoll eines Kommissärs hervorgeht, muß es wirklich sehr fidel zugegangen sein. Da heißt es unter anderem: »Insgesamt überraschte ich abseits des Volksgetümmels hundertundzwei Männer aller Altersgruppen, die sich mit mehr oder minder hübschen Huren vergnügten. Es machte ihnen im grünen Grase überaus Spaß, wie ich feststellen konnte. Meine Kollegen haben Ähnliches zu berichten. So dürften wohl in dieser freudigen Nacht im Prater, wo früher der Kaiser jagte, an die zweitausend Mägdelein für bares Geld ihren Körper geboten haben. Die wenigen Liebespärchen fallen gar nicht ins Gewicht...!« Der Wirt vom Gasthof »Zum Goldenen Ochsen« auf der Wieden wird gegen drei Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. - 18 -
Vor dem Tor der Schenke hält eine Kutsche. Die Pferde scharren mit den Hufen auf dem unebenen Pflaster. Der Kutscher flucht laut, weil ihm ein Koffer aus der Hand gefallen ist. Dann poltern die Fäuste gegen die Eingangstür des Gasthofes. Der Wirt kommt mit schlurfenden Schritten, in der rechten Hand eine Laterne. Erstaunt sieht er den jungen, eleganten Mann, der sichtlich ein Südländer ist. Er brummt: »Macht doch nicht solchen Lärm. Ihr weckt mir ja die anderen Gäste auf, die längst schlafen!« Der junge Mann hilft einer zierlichen kleinen Dame aus der Kutsche. Die beiden gehen am Wirt vorbei in die Gaststube. »Wir wollen ein Zimmer für längere Zeit!« räuspert sich der Fremde und umfängt seine Begleiterin. Der Wirt wird verlegen: »Wen darf ich in mein Gästebuch eintragen? Ich muß das tun. Die Sittenkommission verlangt es!« »Wer verlangt das?« schreit der Fremde und sieht böse vor sich hin. »So stimmt es also, was man von euch Wienern in der Welt erzählt? Eure Kaiserin und ihr Sohn verfolgen den natürlichen Trieb beider Geschlechter auf das kleinlichste?« Dann pflanzt sich der Fremde vor dem Wirt auf: »Wißt Ihr, mit wem Ihr es zu tun habt? Mit jenem Mann, dem die Liebe heilig ist. Ich bin Giacomo Girolamo Casanova, Reiseschriftsteller und Abenteurer aus Italien. Ihr werdet wohl schon von mir gehört haben...?« Der Wirt nickt und meint dann leise: »Und ob, gnädiger Herr! Dann ist also diese Dame nicht Eure Gattin. Soviel ich weiß, hat Casanova keine Ehefrau!« Casanova schmunzelt. Er blinzelt seiner jungen Begleiterin zu und raunt dem Wirt zu: »Natürlich ist sie nicht meine Gattin. Sie ist die Gräfin Catherine Blasin de Cheveromme!« Diensteifrig vermerkt der Wirt in seinem Buch die Namen und sagt dann: »Also, ich werde sofort zwei Zimmer bereitmachen!« »Eins, du Kalbskopf!« schreit Casanova. »Wir wollen mitsammen ein einziges Zimmer. Wir brauchen nicht mehr!« - 19 -
»Bedaure«, antwortet der Wirt und wird blaß, »das darf ich nicht. Die Sittenkommission erlaubt nur Ehepaaren ein gemeinsames Zimmer...!« Casanova seufzt. Er zieht das Mädchen an sich und murmelt: »Also dann geben Sie uns zwei Zimmer. Wir werden eben nur eines benützen!« Das adelige Fräulein drückt sich an ihren Begleiter: »Mach schon, Liebling. Ich hab so ein Verlangen. Lange halt ich es nicht mehr aus!« Casanova lacht. Er kneift sie in den Po und streift mit seinen Blicken ihre üppigen Brüste: »Ach, Mädchen. Es wird dir noch zuviel werden. Bin ich froh, daß du ein sinnliches Luder bist...!« Sie beiden verschwinden im Treppenhaus, wo sich die Fremdenzimmer befinden. Der Wirt schüttelt den Kopf. Er weiß genau: Eine Gräfin ist das nicht... Die Morgensonne lacht in den Hinterhof des Gasthofes »Zum Goldenen Ochsen«. Casanova sitzt mit seiner Begleiterin beim Frühstück im Freien. Zwei dunkel gekleidete Herren stehen plötzlich vor ihrem Tisch. Sie sehen die junge Frau durchdringlich an und mustern sie. Dann meint einer im forschen Ton: »Im Namen der Kaiserin und des Kaisers: Wer sind Sie, Madame?« Die angebliche Gräfin läuft rot an. Sie weiß, dass dies die Männer der berüchtigten Sittenkommission sind. Es hat keinen Sinn, sie anzulügen. »Ich heiße Catherina Blasin, komme aus Paris und bin Modistin!« »Aha!« triumphiert einer der Beamten und kritzelt etwas in einen Notizblock. »Wer ist dieser Herr?« »Fragen Sie ihn selber«, lispelt das Mädchen. »Was machen Sie hier in Wien?« Kokett antwortet sie: »Kaffeetrinken, das sehen Sie doch!« »Wenn der Herr nicht Ihr Gatte ist, werden Sie binnen vierundzwanzig Stunden abreisen.« - 20 -
Die Französin springt auf: »Der Herr ist nicht mein Gatte, sondern mein Freund. Wir haben getrennte Zimmer und werden abreisen, wann es uns gefällt.« Der andere Beamte eilt davon. Er durchsucht die Zimmer der beiden. Casanova folgt ihm auf den Fersen. Er fragt unwirsch: »Was tun Sie da?«
Casanova verführt eine blonde Wienerin
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Der Beamte antwortet zynisch: »Ich habe nur Euer Bett angesehen, ich weiß jetzt alles: Es ist unbenützt.« »Natürlich!« entwischt es Casanova. »Ich kann doch nicht in meinem Bett liegen und zugleich meine kleine Mademoiselle in ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors beglükken. Das werden Sie doch verstehen, mein Herr...!« Der Beamte macht ein versteinertes Gesicht. Er geht zum Tisch zurück und verkündet dann: »Sie haben mit der - mhm Dame binnen vierundzwanzig Stunden Wien zu verlassen, sonst werden Sie gewaltsam entfernt!« Casanova dreht sich auf seinen Schuhabsätzen abrupt um. Der Wirt blickt verstört drein. Da lacht der Italiener: »Keine Angst, mein Freund. Ich werde lange hierbleiben. Ich kenne da einen Mann, der wird mir helfen. Wissen Sie, wer es ist? Euer Staatskanzler Kaunitz. Er kennt mich. Er ist auch gerade kein Kostverächter...!« »Man wird Euch nach diesem Vorfall gar nicht zu ihm vorlassen, mein Herr!« meint der Wirt. »Er wird mich selber rufen«, verbessert ihn Casanova. »Ich habe eine Wunderwaffe, die zufällig in Wien weilt und die bei Hof ein und aus geht. Sie heißt Giulietta Cavamacchia.« »Eine Gräfin?« fragt der Wirt. Casanova schüttelt den Kopf: »Eine Kurtisane aus Venedig. Aber was ihr köstlicher Körper und ihr großer liebesdurstiger Mund so alles können, das übertrifft bei weitem jede Gräfin...!« Casanova kennt Staatskanzler Kaunitz' Schwäche für schöne Frauen. Er läßt noch an jenem Morgen seiner Ex-Geliebten Giulietta Cavamacchia Nachricht zukommen. Sie richtet es ein, daß sie mit Kaunitz am Nachmittag zusammentrifft. Er ist fasziniert von der Venezianerin. Schon am selben Abend fährt er mit ihr zu seinem Lusthaus bei Schönbrunn und verbringt die Nacht in den Armen dieser wilden, leidenschaftlichen Frau. Im Morgengrauen rast ein kaiserlicher Wagen zum »Goldenen Ochsen« und holt Casanova. Kaunitz wartet bereits in seinem Büro auf den Gast aus Italien. Freundschaftlich schüttelt er Casanova die Hand und - 22 -
meint: »Willkommen in Wien, lieber Freund. Ich habe von der allerliebsten Giulietta gehört, daß Sie in Schwierigkeiten sind. Es droht Ihnen die Landesverweisung? Ich habe vor einigen Minuten mit der Kaiserin und mit Kaiser Joseph, ihrem Sohn, gesprochen. Die Sache wird geregelt. Sie und auch die Mademoiselle dürfen bleiben. Die Sittenpolizisten sind bereits von ihrem Beobachtungsposten abgezogen.« Casanova dankt: »Ich bin glücklich!« Kaunitz hat aber noch etwas auf dem Herzen: »Lieber Freund. Ich bitte Sie jedoch um alles in der Welt, vermeiden Sie alles Aufsehen in Sachen Liebe. Die Kaiserin würde darüber verärgert sein. Sie hatten in den verschiedensten Städten Ihre Affären. Bitte, unterlassen Sie es, hier aufzufallen. Oder tun Sie es so, daß keiner etwas merkt!« Casanova sieht traurig drein: »Ach, lieber Staatskanzler, Sie tun mir weh. Ich schicke Ihnen ein so allerliebstes Weib ins Bettchen, und Sie verbieten mir, einige hübsche Wienerinnen zu versuchen. Das ist hart. Daran kann ich mich nicht halten. Ich bin nicht gewillt, in Euren neuen Prater zu gehen und mich im Finstern hinter die Büsche zu schlagen. Ich seh gern die Mädchen, die ich liebe!« Kaunitz bittet seinen Gast, sich zu setzen: »Casanova, ich habe schon nachgedacht, ob man Ihre Anwesenheit in Wien nicht irgendwie mit einer offiziellen Aufgabe verbinden könnte, damit Eurer Dasein weniger anrüchig erscheint. Mir ist noch nichts eingefallen.« Casanova stützt das Kinn in die Hände und denkt nach. Dann springt er auf: »Eine gute Idee! Ich hab's. Sagt Euren Majestäten und Adeligen, die Angst haben, daß ich Eure lockere Moral noch mehr untergrabe, daß ich internationale Erfahrung hätte, wie man anderswo gegen das Laster kämpft und das ich der Sittenkommission Ratschläge erteile.« Staatskanzler Kaunitz freut sich. Wenn es ihm gelingt, Casanova bei Hof als ehrbaren Mann vorzustellen, dann wird die Kurtisane aus Venezia noch eine wilde Nacht mit ihm verbringen. Er denkt an nichts anderes mehr. - 23 -
Er will etwas sagen, doch Casanova läßt ihn nicht ausreden. Eifrig sprudelt es aus ihm hervor: »Sagt Kanzler, was ist Euer vordringlichstes Sittlichkeitsproblem zur Zeit...?« Kaunitz braucht nicht nachzudenken: »Das Ansteigen der Geschlechtskrankheiten und das Überhandnehmen der Hurerei in den Vororten. Besonders die gefährliche Syphilis macht uns zu schaffen. Wir werden dieser Sache nicht Herr...!« »Was unternehmt ihr dagegen?« fragt Casanova. Kaunitz ist erstaunt: »Was sollten wir dagegen unternehmen, außer, daß wir die Kranken versorgen, soweit es geht...?« »Ihr müßt die Leute aufklären!« Kaunitz ist aufgestanden: »Wie stellen Sie sich das vor? Sollen wir die Leute aufrufen, mit keiner Hure mehr ins Bett zu steigen und auch die eigene Frau zu meiden, wenn sie einen anderen Mann hatte?« Casanova wehrt ab: »Das würde nichts fruchten. Niemand will aufhören, es zu treiben. Aber jeder Mann, der zu einer Frau geht, sollte angehalten werden, sich vor Ansteckung zu schützen. Das sollten die Männer der Sittenkommission verbreiten und unterrichten. Die Lustseuche würde dann schlagartig zurückgehen. Es gibt Kondome. Sie sind ein prächtiger Schutz gegen Ansteckung. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Kaunitz ist sprachlos über so offene Worte: »So etwas können wir doch den Leuten nicht so einfach sagen. Das würden die Kaiserin und der Kaiser nie zulassen...!« Da meint Casanova: »Dann werde ich es eben den Leuten unverblümt sagen. Ich werde sie alle aufklären und damit Wien vor der Syphilis retten. Und ihr werdet mit alle noch dankbar sein dafür, trotz eurer bürgerlichen Verlogenheit...!« Unter der Mitregentschaft Kaiser Josephs II., der die Sittengebote seiner Mutter nach und nach lockert, blüht die Prostitution in Wien. Im Zusammenhang damit nimmt die Lustseuche Syphilis überhand. In St. Marx wird ein eigenes Syphilisspital eingerichtet, das für die Wiener bald ein makabrer Belustigungsort ist. Kaiser Joseph II. ordnet an, daß die Säle mit den kranken Mädchen für die Öffentlichkeit als Abschrek- 24 -
kung frei zugänglich sind. Der Pöbel drängt an manchen Tagen johlend durch die Zimmer und verspottet die Patientinnen. Aus einer Statistik des Jahres 1786 ist zu entnehmen, daß bei einer Razzia unter den Winkeldirnen des Spittelberges von 67 Mädchen 65 syphiliskrank waren. Man kennt zu dieser Zeit gegen die Seuche kein Heilmittel. Was tut also zur josephinischen Zeit der Wiener, der mit einem Mädchen schläft, um sich vor der Syphilis zu schützen? Er kennt ein volkstümliches Mittel, das schon sein Großvater
Casanova und Catherina Blasin werden von Beamten der Sittenkommission beim Frühstück überrascht - 2 5 -
angewandt hat: Es ist damals allgemein üblich, daß jeder liebesbereite Kavalier stets eine kleine Speckschwarte bei sich trägt, mit der er sich vor jedem Geschlechtsakt einreibt. Durch das Fett werden jene kleinen Risse der Haut verschlossen, durch die die Syphiliserreger eindringen können. Ganz bestimmt wurde durch diesen Vorgang ein - wenn auch nur geringer Schutz gewonnen. Casanova schreibt darüber aus Wien an einen Freund in Venedig: »Wenn ich so höre, wie sich die Wiener mit einer Speckschwarte einreiben, dann muß ich immer daran denken, daß hier ein Schwein das andere einreibt. Ich verstehe nicht, warum die Sittenpolizei nicht Reklame für die Kondome machen will!« Jawohl, es gab sie damals schon, die Präservative, wenn man es auch nicht für möglich hält. Dr. Lo Duca, der für sein Lexikon der Erotik genaue wissenschaftliche Forschungen auf diesem Gebiet durchführte, kommt zu dem Schluß, daß diese Kondome - die Verhütungsmittel der Männer - bereits im frühesten Altertum bekannt waren. Damals hatten sie nur die Aufgabe, vor Krankheiten zu schützen. In den Straßen der Wiener Innenstadt herrscht im August 1766 große Aufregung. Der Name Casanova geht von Mund zu Mund. Gaffend steht das Volk am Graben, auf dem Stephansplatz und in der Kärntner Straße vor Hauswänden, an denen große Plakate kleben. Mit großer Handschrift steht darauf zu lesen: »Wiener! Hört auf einen erfahrenen Mann wie mich, der ich schon viele schöne Frauen besitzen durfte. Die Zeiten sind gefährlich. Wie leicht kann uns nach einer wunderbaren Liebesnacht die Syphilis dahinraffen. Werft eure Speckschwarte weg! Sie ist nichts wert. Hört auf mich. Eure Adeligen verwenden Tierhäute. Diese wehren jede Krankheit ab. Und mancher Frau tut es sogar wohl. Die Dinger sind nicht teuer. Ihr bekommt sie in Arzneihandlungen. Wagt euch hinein. Schämt euch nicht, auch ich verwende diese Dinger seit Jahren mit größtem Erfolg. Und eure Adeligen tun's auch schon lange. Sie - 26 -
haben nur nicht den Mut, es euch zu sagen. Wiener, seid vernünftig und setzt der Lustseuche endlich ein Ende, das sagt euch euer Freund Casanova!« Einer alten Chronik aus dem Bezirk Landstraße ist zu entnehmen, daß in den Wochen darauf die kuriosen Präservative ausverkauft und aus Paris nachgeschickt werden mußten. So sehr hörten die Wiener auf den berühmten Frauenhelden. Und im Syphilisspital von St. Marx waren die Zimmer nach einigen Monaten nicht mehr so überbelegt. Obwohl diese Nachricht bei Hof Zufriedenheit hervorruft,
Syphilis-Erkrankte werden von Ärzten behandelt
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will man dies nicht zugeben. Der Kaiser brüllt den Kanzler an: »So etwas ist doch unmöglich! Man darf doch nicht zulassen, daß derart sittenlose Plakate ohne Wissen der Obrigkeit angebracht werden. Was bildet sich denn dieser Casanova ein? Der tut ja bei uns, was er will! Schicken S' sofort einen kaiserlichen Kurier in sein Gasthaus. Er darf so eine Volksaufklärung nie wieder inszenieren. Ich wünsche, daß der Herr aus Italien einen ordentlichen Verweis erhält...!« Kaunitz verspricht, Casanova rügen zu lassen. Es bereitet ihm sogar Vergnügen. Der Italiener hat ihm inzwischen nämlich nicht nur die Kurtisane aus Venedig wieder weggenommen. Er hat sich auch an seine langjährige Geliebte, die Tänzerin Maria Theresia Fogliazzi, herangemacht. Der kaiserliche Bote mit der schriftlichen Rüge trifft am Nachmittag im Gasthaus »Zum Goldenen Ochsen« auf der Wieden ein. Er fordert vom Wirt, Casanova vorgeführt zu werden. Der Wirt sucht Ausflüchte. Der Bote wird böse und will nicht warten. Er hastet die Treppe zu Casanovas Zimmer empor und tritt die Türe ein. Casanova küßt gerade eine Wienerin. Eine schöne junge Frau. Mehr noch: Die beiden befinden sich gerade in einer höchst verfänglichen Situation. Casanova trägt eben das, was er den Wienern so angeraten hat. Der Bote wird rot im Gesicht und verläßt fluchtartig den Raum. Er weiß, daß er nichts unternehmen kann. Die Frau da drinnen ist die Ehefrau seines Vorgesetzten... Lange Zeit spricht man in Wien vom Aufenthalt des berühmten Casanova. Und viele denken, daß kaum jemand anders mit derartiger Lasterhaftigkeit ins Gespräch kommen kann. Da aber irren sich die Wiener gewaltig.
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Ein Maitag des Jahres 1781. Schwere Regenwolken brüten über Wien. Das Straßenpflaster ist naß und kalt. Mit einer großen zusammengeflickten Tasche bepackt schlurft ein junger Mann aus dem deutschen Haus in der Singerstraße und durchquert die Innenstadt. Er verschwindet schließlich in einem dunklen Mietshaus. Im zweiten Stock verschnauft er, ehe er an die Türe klopft. Die Witwe Weber aus Mannheim öffnet. Erstaunt schaut sie den unerwarteten Gast an. »Ja, das kann doch nicht wahr sein. Der Mozart! Ja, kommen S' doch herein, lieber Freund. Was verschafft uns die Ehre? Ich hoffe nur, Sie wissen, daß ... naja... ich mein... die Aloysia wohnt nicht mehr bei mir. Sie hat... sie ist...!« »Ich weiß«, lächelt Wolfgang Amadeus Mozart. »Ich bin nicht deppert, liebe Frau. Ihre älteste Tochter Aloysia hat mir nach meinem Mißerfolg in München zu verstehen gegeben, daß es zwischen uns aus ist. Ich bin daraufhin nach Salzburg. Doch in den Diensten des Erzbischofs Hieronymus hab ich's net mehr ausgehalten. Das war die Hölle. Und jetzt, wo ich mit dem Erzbischof in Wien geweilt hab, da hab ich nach einer Auseinandersetzung mit meinem Dienstherrn um meine Entlassung als Hof- und Domorganist angesucht. Jetzt steh ich ohne Logis da und hab mir gedacht, bei den Weberischen wird doch noch ein Platzerl für einen Künstler frei sein!« Die Witwe Weber erkennt blitzschnell die Situation: Der Mozart braucht sie. Und sie braucht den Mozart. Sie hat immerhin noch drei unverheiratete Töchter. Gewiß, die Aloysia, die Mozart von Herzen liebt, hat inzwischen den Schauspieler Lange geheiratet und wirkt als Sängerin in Wien. Aber da sind noch die Josepha, die Sophie und die Constanze. - 29 -
»Sie sind in meinem Haus willkommen, Meister Mozart«, meint die Weberische und bittet den Gast herein. Er tritt in die Küche. Dort steht die Constanze, die mittlere der drei übriggebliebenen Töchter. Mozart stellt die Koffer hin und nickt zum Gruße. Da treffen sich die Blicke der beiden. Mozart weiß im selben Augenblick, daß er sich wieder einmal in eine Weberische verliebt hat... Die Sommersonne blinzelt zaghaft in das kleine Zimmer. Mozart stapft zornig vor seinem Schreibtisch auf und ab. Eben hat er einen Brief von seinem Vater erhalten. Leopold Mozart warnt ihn vor der Familie Weber. Er ist entschieden gegen eine Ehe mit Constanze. Er beschwört seinen Sohn, vernünftig zu sein. Dann setzt sich Mozart hin und schreibt einen kurzen Brief: »Lieber Vater! Ob Ihr es wollt oder nicht. Ich werde heiraten. Ich liebe Constanze. Ich nehme mir aus rein wirtschaftlichen und hygienischen Gründen ein Weib. Glaubt mir, diese Hurerei in Wien ist teuer und gefährlich...!« Er will noch so viel sagen, doch er schließt den Brief ab. Er will sich nicht mehr ärgern und sehnt sich nach Entspannung. Er denkt an die Liebe seiner ersten Kinder- und Jugendtage in Augsburg, wo in der Frauentorstraße Nummer 30 die Verwandten seines Vaters leben. Dort gibt es Mozarts Base - das »Bäsle«, wie der Komponist das Mädchen zärtlich nennt. Sie heißt mit dem vollen Namen Maria Anna Thekla Mozart und ist die Tochter des Buchbindermeisters Alois Mozart, eines Onkels von Wolfgang Amadeus. Mozart lächelt, als er an das Bäsle denkt. Ein raffiniertes, entzückendes Luder. Ein bißchen älter als er. Und immer schon so schrecklich neugierig. Da hat sie ihn doch eines Tages, als er noch ein Bub war, in das dunkle Stiegenhaus gelockt, um sich den Unterschied zwischen ihm und ihr anzusehen, den die Natur da geschaffen hatte. Auch später war das Bäsle dem heranwachsenden Mozart sehr zugetan. Es war in der Frauentorstraße in Augsburg bekannt, daß Mozart durch einen Nachmittag im Weinkeller des Onkels an der Seite seines Bäsles zum Mann wurde... - 30 -
Obwohl Mozart seiner Constanze versprochen hat, keiner anderen Frauenperson mehr einen Brief zu schreiben, murmelt er: »Ach was«, und setzt sich hinter den Schreibtisch. »Das Bäsle ist schließlich meine Verwandte. Mit der kann ich korrespondieren. Wir haben uns schon als Kinder geschworen, einander niemals zu vergessen. Und jetzt hab ich schon lange nichts mehr hören lassen...!« Die Zeilen, die Mozart an seine Base schreibt, sind nicht für Fremde bestimmt. Zu niemandem anderen würde der Kompositeur zu Wien Derartiges schreiben wie etwa: »Wie geht es dir, liebes Bäsle. Ich hoffe, sowohl im Herzen und zwischen den Beinen ist bei dir alles in bester Ordnung. Wie viele Männer in Augsburg hast du inzwischen verführt? Schreib mir, wie du's getan hast. Ich möchte mich amüsieren. Haben sich alle gleich dämlich angestellt? Laß von dir hören. Laß mir deinen Herrn Hervorbringer und deine Frau Hervorbringerin grüßen, nämlich die beiden, die sich die Mühe gegeben haben, dich zur Welt zu bringen, liebes Bäsle. Die Mutter, die sich's hat tun lassen, und der Herr Vater, der sich die Mühe gemacht hat, es an ihr zu tun...!« Schon wenig später erhält Wolfgang Amadeus Mozart Antwort von seinem Bäsle. Mißtrauisch überreicht ihm die Witwe Weber das Schreiben, weil doch auf dem Absender eine Frauensperson vermerkt ist. Mozart lacht ihr ins Gesicht: »Ganz harmlos! Von meiner Base!« Doch der Brief ist alles andere als harmlos. Das Bäsle weiß, daß der gute Mozart - ebenso wie sie - briefliche Frivolitäten liebt. »Lieber Wolfgang Amadeus! Es war eine gute Idee von Ihnen, mir zu schreiben. Es freut mich, daß Ihr endlich auch eine feste Frau für Euer Bettchen gefunden habt. Ich hoffe, ich erfahre mehr darüber. Ihr wißt, was ich meine. Bei mir geht alles schief. Ich habe mein Herz an einen Domherrn verloren. Es waren wundervolle Monde. Man ist uns jetzt dahinter gekommen, weil ich von eben jenem Domherrn ein Kind erwarte. Ich, - 31 -
Maria Anna Mozart, ledige Bürgers- und Buchbindertochter allhier, und Louis de Berbier müssen wegen fleischlicher Vermischung bei Gericht Strafe in der Höhe von zweiundsiebzig Gulden erlegen. Dabei war's immer so schön...!« Mozart ist durch die Briefe seines Bäsles, die sich in den Wochen darauf häufen, aufgewühlt. Niemals wird man erfahren, ob es sexuelle Sehnsucht nach dem freizügigen Mädchen war. Man konnte nämlich später niemals eruieren, ob Mozart und das Bäsle ein Verhältnis hatten. Tatsache ist, daß Mozart in diesem Sommer 1781 - kurz vor seiner Hochzeit - nach Augsburg reist, seine Verwandten besucht und mit seiner Base schöne Stunden verbringt. Das geht aus einem Brief hervor, den er seinem Vater schreibt: »Nun muß ich von meiner lieben Jungfer Bäsle schreiben: Daß unser Bäsle schön, vernünftig, lieb, geschickt und lustig ist. Und das macht, weil sie brav unter viel Leute gekommen ist. Sie war auch einige Zeit in München. Das ist wahr: Wir zwei taugen recht zusammen, denn sie ist auch ein bißchen schlimm. Wir foppen die Leute und uns, daß es lustig ist...!« Man erzählt sich, daß Mozart in dieser Zeit mit seiner Base eine Reihe von frivolen Gedichten fabulierte, die später sogar als Privatdruck unters Volk gelangten. Es ist jetzt ein heißer Augusttag des Jahres 1782 an dem Wolfgang Amadeus Mozart, gegen alle Widerstände des Vaters, Constanze Weber zum Traualtar führt. Die Hochzeitsgäste werden von den Weberischen bewirtet. Die Stimmung an der Hochzeitstafel ist enorm. Da taucht plötzlich ein kleiner, dicker Kaufmann mit Namen August Liebermann auf. Er tut sehr geheimnisvoll und bittet, mit Herrn Mozart unter vier Augen sprechen zu können. Mozart trifft sich mit ihm im Treppenhaus. »Was wünschen Sie?« »Ich möchte verhindern, daß Sie, verehrter Meister, hier in Wien in böses Gerede kommen. Ich hätte Ihnen da einige Briefe zu verkaufen!« »Briefe?« Mozart ist neugierig geworden. - 32 -
»Ja, Briefe, die Sie an Ihre Base und die Base an Sie gerichtet haben...!« Mozart kneift die Augen zusammen: »Ich halte nichts von Erpressern. Scheren Sie sich weg. Die Briefe kann jeder lesen!« August Liebermann läuft rot an. Er hat geglaubt, Mozart hat viel Geld und wird ihn gut bezahlen. Der Kaufmann wendet sich heimlich an die Witwe Weber. Die Frau fällt aus allen Wolken, als sie eine »Kostprobe« eines solchen Briefes bekommt, in
Das berühmte Mozarthäuschen im Hof des starhembergschen Freihauses auf der Wieden: Hier schrieb er nicht nur Noten ...
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dem das Bäsle ihrem Vetter haargenau eine Liebesnacht mit einem Augsburger Bäckerburschen schildert. Die Witwe will um alles in der Welt, daß ihre frischvermählte Tochter Constanze nichts davon erfährt. Sie gibt dem Kaufmann Geld. Dann bittet sie Mozart zu sich. »Ich hab mit Ihnen zu reden, mein lieber Schwiegersohn!« »Ich steh zu Diensten!« »Sie treibens ganz schön. Ich möchte, daß das ein Ende hat, jetzt, wo Ihr der Mann meiner Tochter seid. Gestern berichtet mir ein Vertrauter unseres Hauses, daß Ihr mit Freunden den Polterabend gar allzu lustig verbracht habt. Man kann ja feiern und saufen, aber man muß doch nicht zu den Huren am Graben gehen. Und man muß auch nicht lebende Bilder anschauen gehen. Ich finde es abscheulich, nackerte Menschen anzustarren und dann anzugreifen... Und heute kommt da ein Mann zu mir und zeigt mir Briefe, die zwischen Eurer Base und Euch hin und her gingen. Ich kann nur sagen: >Pfui Teufel!«< Mozart legt der Witwe Weber die Hand auf die Schulter und raunt ihr zu: »Da steht nur das Natürlichste der Welt drinnen, liebe Schwiegermama. Aber es wird nimmer vorkommen. Die Constanze, darüber sind wir uns beide einig, braucht nie etwas davon zu erfahren. Ich hab sie viel zu lieb...!« Natürlich sprach es sich in der Innenstadt bald herum, daß der Mozart im Grunde genommen ein sehr munterer Geselle war, der in Sachen Liebe gar gern mitsprach. Er besuchte mit Begeisterung lustige Bälle in der Vorstadt und haßte die steifen Veranstaltungen in der Innenstadt. Freunde wissen zu berichten, daß Mozart oft allein durch die abendlichen Straßen spaziert, mit Vorliebe kokette und hübsche Mädchen beäugt und mitunter auch anspricht. Doch in einem hält er Wort: Er schreibt keinen unsauberen Brief mehr an sein Bäsle. Bis eines Tages eine große Enttäuschung über ihn hereinbricht. 1787 stirbt Christoph Willibald Gluck. Die Stelle des k. u. k. Kammerkompositeurs ist frei geworden. Mozart erhält zwar die langersehnte Stelle, doch Kaiser Joseph II. setzt das monatliche Salair von zweitausend Gulden auf achthundert - 34 -
Gulden herab. Mozart gerät dadurch in eine verzweifelte Notlage. Zu alledem ist seine Frau Constanze krank. Er muß Wucherangebote von Geldverleihern annehmen, um leben zu können. Er selbst ist zu dieser Zeit auch schon krank. Seine Konzertreisen bringen wenig Erfolg. Da setzt sich Mozart wieder hin und schreibt seinem Bäsle: »Laßt mich, liebes Bäsle, all meine Sorgen durch ein paar Pikanterien vergessen. Schreibt mir etwas Schlimmes und ich werde wieder in Stimmung kommen. Ich selbst hier hab so
»Lebende Bilder ansehen« hieß zu Mozarts Zeiten ein Männervergnügen in manchen Lokalen
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desperate Stimmung, daß ich schier auf die fleischliche Vermengung vergeß!« Das Bäsle - immer noch kreuzfidel - schreibt an Mozart Briefe, die sich gewaschen haben. Man sagt, die freizügigen Berichte haben dem Musiker wieder ein bißchen auf die Beine geholfen. Er hatte eine Schwäche für sinnliche und erotische Dinge. Viele Mozart-Freunde und Mozart-Forscher wollen die berüchtigten Briefe an das »schlimme Bäsle« übersehen. Der Grund: Die Zeilen, die oft echt pornographischen Inhalt haben, passen einfach nicht in das heroische Bild des Wolfgang Amadeus Mozart und zu dem in Marmor gehauenen Genius der Tonkunst, den die ganze Welt kennt. Tatsache aber ist, daß sowohl Mozart als auch seine Cousine Maria Anna Thekla Riesenspaß daran hatten, sich gegenseitig solche Briefe zu schreiben. Der Briefwechsel Mozarts mit seinem Bäsle verrät ein sehr wichtiges Detail aus dem Leben des Musikers: Sexualforscher sind der Ansicht, daß Mozart den Hang zum Voyeurismus hatte. Das heißt, er las gern, wenn das Bäsle ihm ihre intimen Liebesabenteuer berichtete. Es war ihm, als würde er dabei sein und zusehen. Andere Wissenschaftler sprechen sich gegen diese Theorie aus. Sie meinen, Mozart pflegte diesen Briefwechsel mehr aus erotischem Spaß, denn die Lektüre der Zeilen bereitete ihm nur Freude, vielleicht sogar Heiterkeit, niemals aber sexuelle Befriedigung, die jedoch zum Voyeurismus gehört. Ebenfalls ganz bezeichnend ist für den schüchternen und dennoch erotisch sehr aufgeschlossenen Mozart, daß er gern in obskure Kneipen ging und freizügigen Mädchen nicht abhold war. An einem stürmischen Tag 1790 kurz vor Weihnachten kehrt Mozart aus Frankfurt am Main zurück. Er hat sich von dieser Stadt so viel erwartet, doch die tiefe Enttäuschung hat ihn zu einem gebrochenen Mann gemacht. Nach dem Tod Josephs II. wurde Leopold II. zum Kaiser gekrönt. Mozart erhielt den Auftrag, für diesen Anlaß eine Festoper zu schreiben. Er schuf in vier Wochen die Oper »Titus«. Doch das Werk wurde ohne Begeisterung aufgenommen. - 36 -
Jetzt ist Mozart wieder in Wien. Er hat sein letztes Geld für die Fahrt nach Frankfurt ausgegeben und auch sein Silbergeschirr dafür verkauft. Schwer krank richtet er aus Angst vor dem Verhungern an die Wiener Stadtväter ein Gesuch, in dem er bittet, dem bereits sehr kränkelnden Domkapellmeister von St. Stephan assistieren zu dürfen. Er will es einstweilen gern unentgeltlich tun, um später als dessen Nachfolger in Betracht gezogen zu werden. Noch einmal nimmt er mit seinem Bäsle einen kurzen Briefkontakt auf. Noch einmal erinnert er sich an all den jugendlichen Unsinn, den die beiden miteinander erlebt hatten. Dabei kann man zwischen den Zeilen lesen, daß es zwischen Mozart und seinem Bäsle sehr wohl ein intimes Verhältnis gegeben haben muß: Schäferstündchen im Keller, in einer Mauernische auf der Straße, unter einem Kastanienbaum und einmal in der Buchbinderei des Onkels bei einer Druckerpresse. Mozart schreibt seine Briefe nicht mehr nach Augsburg. Das Bäsle lebt nicht mehr dort. Sie ist mit ihrem inzwischen zur Welt gekommenen unehelichen Kind des Domherrn nach Bayreuth gezogen. Am 6. Dezember des Jahres 1791 kommt noch ein Brief von Maria Anna Thekla Mozart in Wien an. Doch er ist bereits tot. An diesem Tag sinkt die sterbliche Hülle des großen Meisters in ein Massengrab. Seinen Sarg begleiten bis zum Stubentor nur wenige Personen. Sie tun es teils aus menschlicher Anteilnahme, teils aus beruflicher Pflicht, weil sie von höherer Stelle hingeschickt wurden. Dann kehren sie um. Der Totenwagen fährt allein weiter. Die Gattin Constanze liegt krank daheim in der Rauhensteingasse. Wenige Tage später erfährt das Bäsle vom Ableben Mozarts. Sie trägt in ihr Tagebuch ein paar Sätze ein, die bezeichnend für das sündige Weiblein sind, das übrigens 84 Jahre alt wurde. Einer davon lautet: »Schade, daß der gute Wolferl so früh von uns gehen mußte. Er hätte sicher gern noch oft seine prächtige Männlichkeit unter Beweis gestellt...!«
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Ludmilla Bayerhammer steht da, wie der liebe Gott sie geschaffen hat: splitternackt, mit offenem Haar. Ihre jungen Brüste wirken wie Frühlingsknospen. Ihre weiße Haut schimmert wie Schnee. Der Bildermaler Joseph Kornrader tüftelt noch ein wenig am Gemälde auf der Staffelei herum. Dabei sieht er das Mädchen von der Seite an. Sie hat eine verdammt hübsche Figur und wirkt aufregend. Das Gesicht könnte edler sein. Aber wer ihren Körper gesehen hat, dem ist das egal. Das flimmernde Licht der Frühlingssonne dringt in das Atelier unter dem Dach des Salzburger Bürgerhauses in der Vierthalerstraße. Joseph Kornrader wirft den Pinsel in einen Holzbottich zu den anderen und schiebt die Palette auf ein Tischchen. Langsam dreht er sich um. »So, Mademoiselle Bayerhammer, heute ist ein großer Tag. Das Bild ist fertig. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie sich mir als Modell zur Verfügung gestellt haben. Leichte Mädchen mit ordinären Gesichtszügen hätte ich ja wie Sand am Meer haben können. Doch ich wollte ja ein schönes Bild malen. Sie waren wunderbar!« Er sieht sie fragend an und greift zur Geldkassette auf seinem Sekretär: »Und... Sie wollen wirklich nichts dafür nehmen? Es ist aber üblich, daß ein Maler seinem Modell für die Sitzungen etwas bezahlt. Noch dazu, wenn es sich um Sitzungen im Evaskostüm handelt...!« Ludmilla Bayerhammer steht noch immer nackt da. »Nein, Meister Kornrader. Ich nehm nix. Ich bin die Tochter eines reichen Bankiers. Das wissen Sie ganz genau. Ich brauch nichts. Sie haben das Geld viel nötiger. Und ehrlich: Ich hab gern für Sie Modell gestanden. Ich hab nie gewußt, wie wunderbar es ist, sich nackt malen zu lassen.« - 38 -
Joseph Kornrader zieht das Mädchen an sich: »Mademoiselle, Sie sind ein wunderschönes Mädchen. Ich werd Tag und Nacht von Ihnen träumen.« Ludmilla Bayerhammer lacht hell auf: »Träumen ist aber sehr schlecht, Meister. Vom Träumen hat niemand etwas ...!« Sie sieht ihn so sonderbar an. Kornrader läuft rot an und stammelt: »Mademoiselle. Wie meinen S' denn das?« Sie preßt ihre Brüste an ihn, nimmt seine rechte Hand und legt sie an ihre Taille. Dann drückt sie diese Hand sachte nach unten. Rasch wendet sie ihren Kopf zur Seite und flüstert kichernd: »Ich find Sie sehr sympathisch, Meister. Immer, wenn Sie mich beim Malen so angesehen haben, da hab ich bemerkt, daß ich Ihnen g'fall. Da ist mir immer so ein Schauer über den Rücken gelaufen. Und jetzt... und jetzt... will ich, daß mein Vater die Wette verliert, die er mit der Mutter abgeschlossen hat!« »Was für eine Wette?« flüstert der Maler und küßt sein Modell. Schnell atmend antwortet sie: »Er hat gewettet, daß ich einmal als unberührtes jungfräuliches Mädchen in die Ehe gehen werde. Mutter war Zirkustänzerin. Sie weiß, daß nicht jedes Mädchen durchhält.« Mit großen Augen fixiert Ludmilla den Maler: »Sein S' bitte zart und lieb zu mir. Und haben S' Nachsicht mit mir. Ich bin noch so unerfahren...!« Sie küssen sich lange. Dann trägt der Maler das Mädchen ins Zimmer nebenan. Er ist sehr zärtlich zu ihr und macht sie zur Frau. Doch die beiden haben nicht lange Zeit. Wild poltern Fäuste gegen die Tür des Ateliers. Fluchend kleidet sich der Maler an und geht öffnen. »Himmel«, entfährt es ihm. »Der Fürst von Pirizky!« Er hat den Fürsten ganz vergessen. Dieser ist eigens aus Wien mit seinem Pferdewagen gekommen, um sich von Kornrader malen zu lassen. Der Fürst ist in Wien verheiratet und kommt gern allein nach Salzburg, weil er hier immer Damenbekanntschaften schließt. Unwillig betritt er das Atelier und geht mit großen Schritten hin und her. - 39 -
»Skandal«, schreit er. »Ich meld mich an, und jetzt werde ich nicht einmal erwartet. Ich kann ja wieder gehen!« »Vergebung, mein Fürst«, stammelt der Maler und verbeugt sich. Er ist noch ganz durcheinander von dem Abenteuer mit der Bankierstochter. Fürst von Pirizkys Blick fällt auf die Staffelei. Er tritt näher: »Hübsches Mädchen. Wer ist das ... ?« Im selben Augenblick merkt er, wie sich neben der Staffelei die angelehnte Türe bewegt. Mit einem raschen Schritt ist er dort und stößt die Tür auf. Sie schwingt zurück. Vor dem Fürsten steht splitternackt Ludmilla Bayerhammer. Sie schämt sich und flüstert: »Es ist nämlich so... mein Gewand... liegt da draußen...!« Der Maler wirft es ihr hin und zieht die Tür zu. Er will sich wieder beim Fürsten entschuldigen. Der aber starrt mit glänzenden Augen auf das Gemälde. Jäh dreht er sich zu Meister Kornrader um und meint: »Ich kauf dieses Bild. Ich muß es haben. Ich zahle jeden Preis. Und noch eins! Wenn Ihr mich malt, so bezahl ich Euch dafür ein Vermögen, damit Ihr Euch das schönste und größte Atelier in Salzburg kaufen könnt. Unter einer Bedingung...!« Fragend hängen Kornraders Augen an den Lippen des Fürsten. Der lächelt frivol und deutet zum Nebenzimmer: »Dieses Mädchen muß meine Geliebte werden. Es wirkt so sinnlich. So etwas brauche ich...!« Im Büro des Bankdirektors August Bayerhammer tickt leise die Standuhr auf dem Schreibtisch. Der Direktor verneigt sich und geht dem Fürsten entgegen: »Welche Ehre, Fürst von Pirizky. Was führt Sie zu mir?« Der Fürst läßt sich in dem bequemen seidenbespannten Lehnsessel nieder und spielt mit seiner Taschenuhr: »Lieber Direktor, ich habe einige größere Geldtransaktionen über Ihre Bank vor. Doch ich möchte Ihnen auch helfen, damit Ihr ehrbarer Name durch die Dummheit eines schönen Mädchens nicht in Verruf gerät.« - 40 -
Der Bankdirektor wird blaß. Was meint der Fürst damit? Pirizky lächelt milde: »Ihr reizendes Töchterchen hat sich von dem Maler Kornrader just überreden lassen, sich malen zu lassen. Er will das Bild öffentlich ausstellen. Ich werd's ihm abkaufen. Vielleicht. Das kommt auf gewisse Umstände an ...!« »So reden Sie schon!« stößt der Bankier hervor. »Ich bewundere und verehre Ihre Tochter. Ich würd gern ein bisserl Konversation mit ihr führen und mit ihr darüber plaudern, wie dumm es doch war, so etwas zu machen. Wenn Sie, lieber Direktor, ein völlig ehrbares und harmloses Rendezvous mit Ihrem Fräulein Tochter gestatten?«
Ludmilla Bayerhammer, die lebenslustige Bankierstochter
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Erleichtert atmet August Bayerhammer auf. Der Fürst bringt ihm viel Geld und er wird das Nacktbild der Tochter verschwinden lassen. Dafür soll er sein Rendezvous haben. »Abgemacht!« meint der Direktor. »Kommen Sie doch heute Nachmittag auf eine Trinkschokolade bei uns vorbei. Da mach ich Sie mit meiner Tochter bekannt!« Die Jause bei den Bayerhammers ist schrecklich langweilig. Der Fürst erhebt sich, dankt und meint: »Wenn Sie lieber Direktor, und Sie, liebe Frau Direktor, gestatten, möcht ich mit der lieben Mademoiselle allein sein, um ihr ein bißchen wegen der Geschichte mit dem Maler den Kopf zu waschen. Es soll ihr eine Lehre fürs Leben sein!« Die beiden sind allein. Ludmilla senkt die Augen. Der Fürst gefällt ihr. Pirizky zieht sie hastig an sich: »Schönes Kind. Ich liebe dich und ich brauche dich. Noch heute nacht. Bereite alles vor, damit ich ungeniert einsteigen kann. Niemand darf uns entdecken. Ich will dich dafür mit Goldstücken, Schmuck und Kleidern belohnen. Du bist das schönste Weib, das mir je begegnet ist. Wirst du mich heute nacht einlassen?« Ludmilla Bayerhammer nickt. Sie bebt erregt. Sie weiß nicht, was plötzlich mit ihr ist: Es war schön mit dem Maler zu schlafen. Aber sie fühlt, daß es mit dem Fürsten aufregender sein wird. Er küßt sie und flüstert ihr im Gehen zu: »Ich komme heute nach Mitternacht zum Haustor. Und noch eines: Nenne nie meinen Namen. Wenn dich jemand fragt, wer ich bin, so sage nur: >Er nennt sich Fürst von P.!< Du tust mir einen großen Gefallen damit...!« In jener Nacht wartet Ludmilla Bayerhammer am Haustor und bringt den Fürsten unbemerkt in ihr Zimmer. Er bleibt bis zum Morgengrauen und kommt in den nächsten beiden Nächten wieder. Er ist verrückt nach dem Mädchen. Und Ludmilla ist dem Körper des Adeligen aus Wien verfallen. Sie spürt, daß er ein erfahrener Lebemann ist und das reizt sie. Das entlockt ihr schon bei seinen heißen, wilden Küssen spitze Schreie, die sie nur unterdrücken kann, indem sie ihr Gesicht tief in die Seidenkissen ihres Bettes drückt. Seine Hände greifen nach dem - 42 -
Körper des Mädchens. Er zeigt ihr soviel, das sie erregt und in schwindelnde Höhen bringt. Sie hat sich das alles nicht träumen lassen. Noch ahnt sie nicht, daß dieser Teufel von einem Mann nicht sein wahres Gesicht gezeigt hat. Aus Aufzeichnungen seiner Wiener Dienerschaft weiß man heute: Fürst von Pirizky war pervers und sadistisch veranlagt. Rückblickend stellt die moderne Sexualwissenschaft fest, daß gerade damals in Adelskreisen Perversion und Sadismus ausgelebt wurden. Kein Wunder: Die Fürsten, Grafen und Barone hatten viel Zeit und hielten sich neben den Ehefrauen Mätressen. Sie trieben es mit den Geliebten so oft und häufig, daß sie zwangsläufig auf abwegige und ausgefallene Ideen kamen. Die normalen Liebespraktiken machten vielen keinen Spaß mehr. Es gibt heute noch Fragmente von Vernehmungsprotokollen der Wiener Geheimpolizei aus dieser Zeit, aus denen eindeutig hervorgeht, daß manche junge Damen nach einer Liebesnacht mit einem hohen Herrn als Leichen aus dem Haus geschafft wurden. Ein Diener des Fürsten von P. machte ein Jahr vor der Salzburger Affäre in Wien die Anzeige, sein Herr hätte im Keller des Hauses, während seine Frau im ersten Stock schlief, ein Dienstmädchen mit einer glühenden Zange gemartert, sie dann geliebt und schließlich so lange mit Küssen am Atmen gehindert, bis sie erstickte. Der Anzeige wurde niemals nachgegangen. Das Papier verschwand in den unerledigten Akten... Fürst von P. zog es vor, seine Mädchen heimlich zu treffen. Er genoß das Verbotene in vollen Zügen. Und er wußte, daß er mit seinen abwegigen Wünschen die Partnerinnen schockierte und manchmal in den Wahnsinn trieb. Ein Monat ist Fürst von Pirizky in Wien. Dann treibt es ihn wieder nach Salzburg. Mitten in der Nacht kommt er mit seiner Droschke an. Ludmilla Bayerhammer hört das Gefährt und läßt den Geliebten ein. Sie ahnt nicht, was für eine grauenvolle Nacht es für sie werden soll. Fürst von Pirizky kann es kaum erwarten. Er reißt sich die Kleider vom Leib und wirft sich über das entblößte Mädchen. - 43 -
Er liebt sie leidenschaftlich und wartet einen Augenblick ab, in dem sie erschöpft daliegt. Dann bindet er sie ans Bett und beginnt sie auszupeitschen. »Nein, nein, nein... Himmel! Vater, steh mir bei... ich tue so etwas nicht...!« Die Schreie der Bankierstochter gellen mitten in der Nacht durch das Haus in der Paracelsusstraße. Vater August Bayerhammer fährt im Bett hoch. Sein Gesicht ist aschfahl, als er im Morgenrock die Treppe hochhastet und durch das Schlüsselloch ins Zimmer der Tochter sieht. In einem Bericht, den er noch in derselben Nacht an seinen Freund, den Polizeimajor von Gschwand, schreibt, heißt es unter anderem: »... kann ich meine Erregung kaum bezähmen, wenn ich daran denke, was dieser Teufel mit meiner Tochter alles aufführte. Sie lag da, ans Bett gefesselt...!« Der Bankier überlegt: Wenn er jetzt Krach schlägt, zieht sich der Fürst an und verschwindet bei Nacht und Nebel. August Bayerhammer aber will Rache. Er ist ganz verstört und denkt nicht daran, daß er damit auch den Ruf seiner Tochter ruiniert. Nachdem er an die Tür geklopft hat, eilt er hinunter und holt seine Bediensteten aus den Zimmern. Schlaftrunken müssen sie sich mit brennenden Fackeln vor dem Haus aufstellen. Einige holen Nachbarn herbei. Der Plan gelingt. Als der Fürst eiligst und heimlich das Haus verlassen will, sieht er sich auf der Straße einer höhnisch grölenden Menge gegenüber, die im Chor ruft: »Der Fürst von Pirizky! Wo ist denn seine Ehefrau? Wo war er denn?« Und der Bankier drängt sich vor und keucht atemlos: »Seht ihn euch an. Er war bei meiner Tochter. Dieses Schwein aus Wien!« Fürst von Pirizky verläßt mit seiner Droschke, die in einer Nebenstraße wartet, fluchtartig Salzburg. Er weiß, er selbst wird nicht wiederkommen. Aber er weiß auch, daß er Rache nehmen wird. Teuflische Rache an Ludmilla, die ihn bespuckte und ein Vieh nannte und an dem Bankier, der ihn als Ehebrecher vor aller Welt entlarvte... - 44 -
Das alte, halbverfallene Haus im Kahlenbergerdörfel bei Wien liegt im Dunkeln. Ein Kastenwagen rattert heran und hält. Zwei Männer zerren ein schreiendes Mädchen heraus und tragen es in den Keller. Verwundert sieht sich die Dirne um. Sie ist soeben bei Nacht und Nebel aus dem Syphilisspital von St. Marx entführt worden. Sie ist geschlechtskrank. Sie weiß nicht, was mit ihr geschehen soll. Eine dicke Frau lächelt ihr zu, legt Geld hin und macht sie mit Schminke und Puder zurecht. »Du wirst jetzt einen hübschen jungen Mann glücklich machen!« flüstert sie der kleinen Hure zu. Er braucht ein wildes Mädchen, wie du eines bist. Und laß ihn nur alles richtig auskosten. Er kennt so etwas noch nicht.« »Aber... aber...ich bin doch krank!« stottert das Mädchen und sieht gierig auf die Geldstücke. »Eben darum sollst du ja mit dem Burschen schlafen. Er will unbedingt auch krank werden!« kichert die Alte boshaft und verläßt den Raum. Das Mädchen fühlt sich wohl. Sie ist froh, aus dem Spital zu sein. Es ist sehr warm auf der weichen Matratze im Halbdunkeln. Sie streckt sich und bekommt Lust auf einen Mann. Sekunden später steht er vor ihr. Ein blonder Bäckergeselle aus der Innenstadt, den Fürst von Pirizky zu sich genommen hat. Der Bursche wurde wegen eines Taschendiebstahles von der Polizei verfolgt. Der Fürst versteckte den jungen Mann in seinem Wagen. Er hatte einen besonderen Plan mit ihm. »Nun, ist das nicht ein hübsches Ding? Nimm sie dir. Sie tut's gern. Und du brauchst nichts zu bezahlen. Das hab ich schon erledigt. Ich will nur zusehen!« die Augen des Fürsten flackern. Der Bäckergeselle und die Dirne lassen sich das nicht zweimal sagen. Sie trinken von dem Wein, der bereitsteht, und fallen dann übereinander her. Der blonde junge Mann weiß nicht, warum der Fürst so gut zu ihm ist, ihm Geld gibt, ihn versteckt und ihm mit dem Mädchen so köstliche Stunden ermöglicht. Er weiß nicht, daß er nach Tagen bereits die ersten Anzeichen von schwerer Syphilis trägt: es zeigt sich ein Ausschlag auf der Haut. - 45 -
Krankenpflege in der Syphilis-Abteilung eines Krankenhauses im alten Wien
»Ich mag dich«, lügt der Fürst, steckt den Bäckergesellen in ein prächtiges Gewand, setzt ihn in seine Kutsche, gibt ihm Geld und fordert ihn auf: »Fahre nach Salzburg und mache dich an die Bankierstochter Ludmilla Bayerhammer heran. Du mußt sie besitzen und dann komm wieder und sag mir, wie es war!« Der Bäcker weiß nicht, was er davon halten soll. Er fährt los. Es ist ihm ein Leichtes, Ludmilla kennenzulernen. Sie gefällt ihm nicht sonderlich. Aber ihr sinnliches Gehabe reizt ihn, wie so viele Männer. Das lebenslustige Mädchen trifft sich heimlich mit dem Wiener Kavalier. Sie mieten eine sogenannte »Glasfuhre«, eine langsam fahrende Kutsche, ins Grüne. Dort lieben sie sich stundenlang. Am nächsten Tag reist der junge Mann nach Wien zurück. Er verunglückt auf der Fahrt, kommt unter die Räder des Wagens und stirbt. Man weiß nicht, ob es vielleicht vom Fürsten so arrangiert war. - 46 -
Tatsache ist, daß die Bankierstochter bald darauf mit deutlichen Anzeichen von Syphilis in die Behandlung eines Arztes kommt. Vergebens. Er kann ihr nicht helfen. Sie stirbt. Doch am Sterbebett erfaßt sie krampfhaft die rechte Hand des Vaters und flüstert: »Ich weiß es. Das ist ein perfekter Mord. Fürst von P. hat mir den jungen Kavalier geschickt. Er sollte mir die Krankheit bringen. Du wirst ihm nichts anhaben können ...!« Noch in derselben Nacht reist der Bankier nach Wien. Als er vor dem herrschaftlichen Haus des Fürsten eintrifft, fährt dessen bepackte Droschke gerade ab. Der Diener am Tor meint: »Der gnädige Herr verreist ins Ausland!« August Bayerhammer jagt mit seinem Pferdewagen hinterher. Am Stadtrand von Wien stellt er die Droschke. Er schreit hinein: »Fürst, kommen Sie heraus. Stehen Sie mir Rede und Antwort über das Verbrechen, das Sie an meiner Tochter begangen haben!« Keine Antwort. Sekunden später fällt ein dumpfer Schuß. Der Fürst von P. hat sich erschossen...
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Schrilles Kreischen von Mädchen und Frauen, dröhnendes Grölen von Männern dringt auf die Straße und läßt die Bewohner der umliegenden Häuser nicht einschlafen. Im Wiener Gasthaus »Zum Schwan« ist - wie immer am Wochenende der Teufel los. Seit das berühmte Hetztheater bei einem blutigen Revolutionsaufstand niedergebrannt wurde, müssen sich die Wiener mit den Hahnenkämpfen im »Schwan« begnügen. Kaiser Leopold II. hat verboten, daß das Hetztheater wieder aufgebaut wird. Dafür hat er einen Erlaß herausgegeben, in dem es heißt: » . . . erlaube ich allhier im Gasthaus >Zum Schwan< Männern und Frauen gleichwohl, daß in diesem einzigen Lokale Tabak gerauchet werde, solange es dadurch zu keinerlei Exzessen komme ...!« Das erste öffentliche Lokal, in dem man rauchen darf Das gefällt den Wienerinnen und Wienern. Da sitzen sie an den derben Tischen auf rohgehauenen Stühlen im Kreis herum, paffen ihre Zigaretten, Zigarren und Pfeifen, trinken, essen, greifen sich gegenseitig unter die Röcke und Hosen und feuern die oft schon blutig gehackten Hähne an, die mit wilden Augen aufeinander losgehen. Endlich bricht eines der Tiere mit lautem Gegacker zusammen. Die Menge brüllt vor Lust auf. Der Hahn liegt blutüberströmt auf der Erde und zuckt nur mehr. Der Wirt trägt ihn weg. Jetzt bringt die Kellnerin ein junges Huhn; Gebannt starren alle auf die gefiederte Jungfrau. Sie ist der Siegespreis für den mutigen Hahn. Er plustert stolz seine Federn auf, kräht und nähert sich seiner Partnerin, dann stürzt er sich auf sie. Unter lautem Gegacker läßt sie alles über sich ergehen. Und die Wirtshausgäste amüsieren sich köstlich bei dieser tierischen Begattungsszene. - 48 -
Der Faßbindergeselle Pepi Raderer wendet sich ab und murmelt zu seinem Freund, dem Bäckermeister Seibelbusch: »Mich kotzt das alles an. Wir wissen nicht, was wir vor lauter feiern tun sollen. Und in Paris, da werden die Leut in ganzen Kompanien zum Köpfen geführt. Ich muß immer an die Maschine denken, die dort einer erfunden hat, damit die Frauen und Männer schneller getötet werden können. Wie heißt der Apparat, den sie da überall in den Straßen aufstellen...?« Seibelbusch nickt: »Guillotine heißt das Teufelsding. Ich mag unseren Kaiser nicht. Aber Gott steh uns bei, daß so was nicht bei uns aufgebaut wird. So ein Ende hat unser Leopold net verdient. Immer, wenn so ein Haufen Männer durch die Gassen marschiert, bete ich sogar für unseren Kaiser.« »Du hast recht«, fällt ihm der Raderer ins Wort. »Zuviel Revolution is a net gut. Wir Wiener werden a ohne des Remasuri mit unseren hohen Herrschaften fertig!« Verwirrt blickt er auf. Eines der Mädchen vom Nebentisch ist aufgestanden. Es ist ein fesches, pralles Ding. Sie zieht die Schnüre ihres Kleides auf, knöpft das Mieder auseinander und zeigt ihre fleischigen, großen Brüste. Dann steigt sie aus dem Kleid und setzt sich kichernd in der Unterwäsche auf die Tischkante. Mit heller Stimme schreit sie: »Tut's da net politisieren, Männer. Schaut's euch lieber mich an ...!« Der Pepi Raderer blickt auf: »Was soll denn das? Häng deinen nackerten Hintern net in meinen Wein. Des vertrag i net. Ich hab daheim a gesunde, feste Frau. Mein Bedarf ist gedeckt. Wer bist denn du... ?« Sie lacht affektiert, verdreht die Augen und drückt ihre Brüste dem Faßbindergesellen ins Gesicht, sodaß alle Umsitzenden losbrüllen. Dann meckert sie: »Ich bin die Barbara. Die Kaiser-Hur...! Ich bin vom Kaiser beauftragt, mit meinen sichtbaren Vorzügen alle politisierenden Männer auf andere Gedanken zu bringen. Der Kaiser hat's lieber, wenn ihr sauft's, mit Weibern feiern tut's und schweinische Sachen redet's, statt an die Revolution zu denken...!« Einer am Nebentisch hat als erster bemerkt, daß das ein der- 49 -
ber Witz sein soll. Er lacht und fragt: »Was zahlt dir denn der Kaiser für deine Dienste am Vaterland?« Sie zieht die Spitzenunterhose, die bis zu den Knien reicht, herunter, zeigt ihm ihr Hinterteil und plärrt lauthals: »Ich bekomme sechzig Minuten in der Stunde dafür. Ausgezahlt wird alle Wochenenden - im Bett seiner Majestät!« Lautes Gegröle durchzieht das verqualmte Gastzimmer. Der Wirt wird unwillig: »Laßt's den Kaiser aus dem Spiel. Der ist in Ordnung. Denkt's nur daran, wie viele strenge Verbote er schon aufgehoben hat...!« »Ja«, krächzte ein dicker Gast im Hintergrund, »weil er Angst hat, er könnte uns mit Verboten reizen, empören und zur Revolution aufmuntern.« »Also, was is jetzt«, schreit die Barbara. »Wer geht mit mir? Ihr lahmen Schwänze habt's wohl gar ka Lust auf mich?« »Lust schon, aber ka Geld«, grunzt der Seibelbusch. Barbara kreischt auf, fährt dem Mann mit der rechten Hand zwischen die Knie und lallt betrunken: »Zur Feier des Tages mach ich's heut umsonst...!« Der Seibelbusch erhebt sich mühsam. Das Angebot will er nicht ablehnen. Barbara geht voraus. Sie hat die Tür zur Hinterstube schon geöffnet. Da poltern aufgeregte Schritte die Treppe ins Lokal herunter. Hochrot ist der Kopf des 24jährigen Amadeus Zellrainer, seines Zeichens Studiosus und Untermieter im »Schwan«. Er springt auf einen Tisch und gebietet mit ein paar Handbewegungen Ruhe. Alle starren ihn an. »Ich muß euch eine Sensation berichten, Leutln«, pustet er hervor. »Heute früh ist ein Franzose in Wien eingetroffen, der morgen beim Kaiser vorgeladen ist. Er hat eine tolle Erfindung mitgebracht...!« »Himmel, Jesus und Maria«, stößt Bäckermeister Seibelbusch hervor, »das ist die Guillotine, Gott beschütze uns. Jetzt geht das Blutbad von Paris bei uns weiter.« Der Student stampft unwillig mit dem Fuß auf der Tischplatte auf. »Unsinn. Wer redet denn von der Guillotine? Da hat - 50 -
einer eine Flugmaschine erfunden. Einen Apparat, mit dem man wie ein Vogel fliegen kann. Stellt euch das vor, und er will dem Kaiser und dem Volk sein Wunder schon in den nächsten Tagen vorfuhren!« »Der ist mit dem Teufel im Bund«, flüstert die dralle Barbara, eilt zum Tisch, holt sich ihr Gewand und zieht sich an. Seibelbusch will nach ihr greifen. Sie haut ihm eine auf die rechte Hand: »Verschwind, ich hab ka Lust mehr. Kein Wunder, wenn man so schreckliche Sachen hört...!« Kaiser Leopold II. blickt vom Schreibtisch auf. Der Hofmarschall steht vor ihm: »Majestät, der Mann mit der Flugmaschine ist draußen. Das heißt: Die Flugmaschine hat er natürlich nicht mit. Aber er bittet um die Gnade, bei Eurer Majestät vorsprechen zu dürfen. Ich möchte nur zu bedenken geben: Er ist nicht allein. Obgleich Majestät ihm nur gestattet haben, ohne Begleitung zu erscheinen, hat er seine Frau mitgenommen!« Leopold lächelt: »Wie schaut's denn aus, die Frauensperson?« »Eine hübsche Dame aus Paris, Majestät...!« »Dann soll's in Gottes Namen auch hereinkommen. Aber, Augenblick noch: Wie heißt der Mensch eigentlich? Ich hab's wieder vergessen!« Der Hofmarschall räuspert sich: »Blanchard. Jean-Pierre Blanchard.« »Herein mit ihm!« Minuten später steht Blanchard vor dem Kaiser. Er verneigt sich und flüstert untertänig: »Majestät erlauben, daß ich Ihnen meine Frau und Mitarbeiterin vorstelle. Sie benützt gemeinsam mit mir meine Flugmaschine und ist somit die erste Frau der Welt, die in einem Ballon geflogen ist!« Leopold II. gibt dem Mann die Hand und läßt seine Blicke wohlgefällig über Madame Blanchard gleiten. Die Frau wirkt durch ihre Schlankheit knabenhaft. Aber gerade das reizt den Monarchen und bringt ihn aus der Fassung. Das dunkle, enganliegende Kleid der Französin verwirrt ihn. Er muß sie immer wieder anstarren. Und sie erwidert seine Blicke in schamloser Weise. - 51 -
Blanchard tut, als sähe er es nicht. Er erzählt dem Kaiser von seiner Erfindung, die er den Wienern zeigen möchte: »Majestät werden ja davon gehört haben: Ich bin 1784 über die Seine und zurückgeflogen. Ich war 1700 Meter hoch. Und ich hatte einen Lenkapparat zur Verfügung. Eine Erfindung von mir...!« Kaiser Leopold lächelt spöttisch: »Ja, aber soviel ich weiß, hat Ihnen dieser Lenkapparat wenig genützt. Sagen S', Monsieur Blanchard, haben Sie den Ballon ganz allein erfunden?« Jean Pierre Blanchard winkt ab: »Nein, Majestät. Vor mir haben die Gebrüder Montgolfier, Professor Charles und sein Freund Monsieur Robert schon Versuche unternommen, mit einem Ballon zu fliegen. Aber mit ist etwas Neues eingefallen: Wenn ein Ballon gut steigen und fliegen soll, darf man ihn nur zu dreiviertel mit Gas füllen, weil sich das Gas in den höheren Luftschichten ausdehnt!« Der Kaiser paßt kaum auf. Unverwandt beobachtet er die Frau des Franzosen und den kleinen, festen Busen, der sich unter ihrem engen, hochgeschlossenen Kleid abzeichnet. Abgelenkt fragt der Monarch: »Und wie kommt man mit dem fliegenden Ungetüm wieder herunter?« Blanchard ist glücklich, dem Kaiser darüber erzählen zu können: »Es gibt zwei Möglichkeiten: Man kann das Ballongas aus einem Ventil entweichen lassen und schwebt dann langsam zur Erde. Man kann aber auch mit Hilfe eines Schirmes aus Stoff aus dem Ballon springen und zur Erde segeln. Diese Erfindung stammt von mir...!« Blanchard unterbricht seinen Satz. Er sieht mit Genugtuung, daß der Kaiser bei Madame Blanchard Feuer gefangen hat. Sein Plan geht also auf. Er wird für seine Erfindung die nötige kaiserliche Unterstützung bekommen. »Und was wollen Sie jetzt von mir, Monsieur Blanchard?« fragt der Kaiser. Jean-Pierre Blanchard lächelt bescheiden: »Wenn Majestät im Prater ein Fest arrangieren könnten, bei dem ich meinen Ballon vorführen darf. Ich wäre sehr glücklich darüber.« Der Kaiser wiegt den Kopf: »I weiß net recht, ob ich das jetzt - 52 -
in diesen unruhigen Zeiten riskieren kann. Ich muß mir das noch sehr gut überlegen...!« Blanchard verneigt sich: »Wenn mich Majestät jetzt gütigst entschuldigen wollen. Ich habe einige dringende Besprechungen. Aber meine Frau wird Ihnen gern noch ein wenig Gesellschaft leisten und Ihnen von meiner Erfindung erzählen...!« Leopold II. ist einverstanden. Kaum ist Blanchard weg, gebietet er seinem Personal: »Ich darf jetzt nicht gestört werden!« Als er das sagt, blitzen die Augen der Französin auf. Wollust durchrieselt ihren Körper. Sie hat noch nie in ihrem Leben mit einem Kaiser geschlafen. Als der Kaiser ihre Hand nimmt und sie durch etliche Zimmer führt, weiß sie ganz genau: In wenigen Minuten tut er, was sie will. Sie hat recht. Leopold II. ist dieser Madame Blanchard, scheint es, verfallen. Der Kaiser, der jetzt ein Jahr an der Regierung ist, wirkt verändert. Er, der die Sittenlosigkeit in Wien nur ungern beobachtet, vergißt die Welt um sich herum. Niemand sieht an diesem Tag Madame Blanchard fortgehen. Der Kaiser ist für niemanden zu sprechen. Ein Adjutant will - Berichten zufolge - gegen drei Uhr morgens eine Frauensperson aus dem Haus schleichen gesehen haben. Auf der Straße wartete ein Gespann und fuhr mit ihr davon. Am nächsten Morgen wirkt der Kaiser unausgeschlafen und mürrisch. Er ist müde und übernächtig, und er hat nur einen Gedanken. Das erste, das er seinem Sekretär diktiert, ist ein Brief an Blanchard: »Geehrter Monsieur. Nachdem, was mir Ihre geschätzte Frau Gemahlin in einer reizenden Konversation von Ihrer grandiosen Erfindung erzählt hat, will ich Ihnen unbedingt helfen. Ich schlage vor, daß wir am 9. März im Prater ein großes Fest geben, bei dem Sie Ihren Ballon vorführen...!« Der 9. März 1791 ist ein strahlender Frühlingstag. Im Prater wälzen sich unübersehbare Menschenmengen. Für den Hof und für ausländische adelige Gäste ist eine eigene Zeltstadt mit Erfrischungsgetränken aufgebaut worden. Die Zeitungsleute haben es eilig. Man lobt den Kaiser, der sich gegenüber einer derartigen Erfindung so aufgeschlossen zeigt. Doch es fallen - 53 -
bereits von informierten Höflingen die ersten Bemerkungen, die da lauten: »Es scheint, daß es dem Kaiser weniger um die Erfindung, als um Madame Blanchard geht. Wie er sie nur ansieht!« Vier Stunden warten die Wiener. Dann kommt der große Augenblick. Doch es läuft nicht alles, wie erwartet. Es gibt eine Katastrophe. Später behaupten viele in der Kaiserstadt, daß es nichts anderes als eine hochpolitische Sabotage gegen den Monarchen gewesen sei. Im offiziellen Hofprotokoll heißt es über den ersten Ballonaufstieg in Wien: »Man stand vor einem Gerüst, ungefähr neun Schuh hoch, auf welchem der aus 6200 Ellen Taffet bestehende Ballon in Millionen Falten aufgehäuft herumlag. Unter dem Gerüst war der geheime Ofen, aus welchem die brennbare Luft durch Röhren in den Ballon strömen sollte. Herr Blanchard ließ nun gewaltig anfeuern, und der ungeheure Ballon fing an, sich nach und nach aufzublasen. Auf einmal soll er so hoch wie das höchste Haus gewesen sein. Er machte einige Schwenkungen. Während des Aufblasens hat man bemerkt, daß einige kleine Löcher im Ballon entstanden, die nach und nach größer wurden, daß man mit Stiefel und Sporen hindurch konnte. Zwar erhob sich das Ungetüm einigermaßen. Da schlug Blanchards Frau die Hände über dem Kopf zusammen und begann zu schreien. Es war ein sonderbares Glück, daß bei der entstandenen Verwirrung unter der Menge der anwesenden Personen niemand wesentlich Schaden gelitten hat - außer dem Kopfputz der Gräfin Hatzfeld in der Umgebung des Kaisers. Den Hut der Gräfin riß der Ballon eine Strecke mit sich hinweg...!« Der Kaiser ist über diesen Mißerfolg sehr unwillig: »Er hat mir ein wenig zuviel versprochen!« Blanchard blickt zu Boden: »Majestät«, stammelt er, »daß ist nicht mit rechten Dingen zugegangen. Das war Sabotage. Wenn Sie erlauben, daß wir den Versuch in den nächsten Tagen wiederholen... ?« Leopold II. läuft rot an. Er will etwas sagen. Dann blickt er - 54 -
zu Blanchards Frau hinüber. Sie sieht ihn an, und er weiß: Das ist ein Versprechen. Der Kaiser seufzt und mustert den Franzosen: »Also, in Gottes Namen. Einmal probieren wir's noch...!« Der Monarch geht in sein Zelt. Für Sekunden blicken Blanchard und seine Frau einander an. Niemand beachtet es. Die beiden geben sich Zeichen: Alles in Ordnung. Der Kaiser wird auch das Geld für die Vorbereitungen einer zweiten solchen Veranstaltung herausrücken. Madame Blanchard kennt den Preis dafür und sie bezahlt ihn nicht ungern. Sie ist eine unersättliche Frau, und der große Erfinder Blanchard ist im Grunde genommen ein Kuppler. In einem Tagebuch, das man nach dem Tod Blanchards fand, heißt es wörtlich: »So manchesmal, wenn meine Ballonvorführung in Zweifel stand, bemühte sich mein Liebstes ganz besonders zärtlich zu den verantwortlichen Männern zu sein. Sie brachte sie mit ihren Künsten, die auch ich stets bewundere, zur Raserei. Wir sprechen oft über diese Dinge.« Bei ihrer Aufgabe kam Madame Blanchard noch zugute, daß sie von Natur aus, wie aus dem Tagebuch des Mannes hervorgeht, eine Nymphomanin war. Sie wurde in frühen Jahren verführt, war für alle Variationen der Liebe zu haben und half damit Blanchards Erfindung ungeheuer... Zwei Wochen nach Blanchards Mißerfolg in Wien gibt der Kaiser im Prater wieder ein Fest. Man wundert sich darüber. Leopold II. ist sonst nicht so duldsam und aufgeschlossen. Doch Madame Blanchard hat es ihm eingeredet. Überlieferungen von Hofangestellten sprechen von leidenschaftlichen Liebesnächten, die Madame Blanchard mit dem Kaiser verbrachte, um für die Ballon-Experimente in Wien eine Menge Geld flüssig zu machen. Doch über das Genie Blanchard bricht eine neuerliche Katastrophe herein. Auch der zweite Versuch mißlingt. Mehr noch. Es kommt zu einer gefährlichen Explosion. Leopold II. steht starr vor seinem Zelt. Er sieht ringsum die schreienden Leute. Zwei Frauen sind verletzt worden. Der Kaiser läßt den Fran- 55 -
zosen kommen. Er brüllt ihn an: »Ich bin empört. Wenn das so weitergeht, werd ich Wien vor Ihnen schützen müssen. Meine Geduld und mein guter Wille sind zu Ende!« Er dreht sich um und verschwindet im Zelt. Was dann geschehen ist, weiß niemand und steht auch in keiner Chronik zu lesen. Ein Hofangestellter schrieb zwei Tage später seiner Schwester nach Ungarn:»... und wie ich durch ein kleines Loch ins Zelt gucke, da sehe ich, daß Madame Blanchard auf dem Sofa liegt. Als es später hieß, der Kaiser habe sich nach der Aufregung ein wenig hingelegt, da wußte ich allein, wohin er sich da gelegt hat!« Tatsache ist, daß Leopold II. nach seiner »Ruhepause« aus dem Zelt kam und verkündete: »Ich habe nachgedacht. Einen letzten Versuch lasse ich noch gelten...!« Dieser dritte Versuch wird endlich ein Erfolg. Der Ballonaufstieg gelingt. Blanchard erhebt sich mit seinem Flugapparat und segelt bis Groß Enzersdorf durch die Luft. Die Wiener haben ihre Sensation. Sie vergessen darüber hinaus ganz, daß in Paris eine blutige Revolution wütet. Blanchard wird am Abend nach dem gelungenen Flug gefeiert. Doch seine Frau ist nicht an seiner Seite. »Sie ist unpäßlich«, meint er. Angeblich aber ist sie beim Kaiser: Ihren »Dank« für all die Güte abzustatten. Irgendwie bekommen die Wiener Wind von der Affäre. Eines Morgens erhält Blanchard einen anonymen Brief. Daraufhin bittet der Franzose einen Redakteur zu sich und erklärt ihm: »Schreiben Sie in Ihr Blatt: Was auch immer über Madame Blanchard verbreitet wird, es stimmt nicht. Und außerdem ist sie nicht meine Frau, sondern nur meine Mitarbeiterin!« Niemals konnte geklärt werden, ob diese liebestolle Dame nun mit dem Erfinder verheiratet war oder nicht. Blanchard verläßt jedenfalls Wien in aller Eile. Er stirbt nach vielen Ballonfahrten im Jahr 1807 eines natürlichen Todes. Seine Frau oder Lebensgefährtin setzt seine Flüge fort und stürzt im Jahr 1819 tödlich ab. - 56 -
Hofrat Kramreither zieht sein Gesicht in Falten. Hochaufgerichtet durchmißt er mit Riesenschritten sein Arbeitszimmer. Hofrat Kramreither ist der Leiter des k. u. k. Polizeikommissariats für die Wiener Innenstadt. Kein leichter Posten, der viel Sorgen mit sich bringt. Eine dieser Sorgen heißt Johann Trümmer, genannt der »Gflickte Schani«. Der Hofrat bleibt jäh vor dem ärmlich gekleideten Mann stehen, der unruhig auf seinem Vernehmungssessel umherrutscht und nervös mit den Händen spielt. »Also, Johann Trümmer! Gesteh'n S' doch endlich!« »Herr Hofrat, sagen S' doch Schani zu mir. I bin's gewöhnt...« Der Hofrat seufzt gequält und meint dann: »In Gottes Namen: Schani, gib doch zu, daß du aus einer anfangs netten Badestube in der Innenstadt ein Hurenhaus gemacht hast. Du bist wegen Zuhälterei angezeigt worden. Wir müssen den Fall strengstens untersuchen. Der Kaiser hat mitgeteilt, daß er derart unmoralische Etablissements in seiner Nähe net dulden kann.« Der »Gflickte Schani« richtet sich in seinem Sessel auf. Sein Gesicht erhellt sich: »Jetzt fallt's mir ein. Ich kann mir schon denken, wer mich verpfiffen hat. Der Baron von Zöglern war's. Natürlich. Das hätt ich mir ja gleich denken können!« Belustigt sieht ihn Hofrat Kramreither an: »Was war denn mit dem Baron Zöglern?« Der »Gflickte Schani« lehnt sich zurück: »Der Baron ist eines Tages bei mir in der Badestube erschienen und hat sich in eine - 57 -
Wanne gesetzt. Zwei Stunden ist er geblieben, hat herumgeplanscht und gemütlich gegrunzt. Er hat sich wohlgefühlt. Ja, und dann hat er mich persönlich rufen lassen. Er hat mir ins Ohr geflüstert, ob ihm denn nicht eine meiner Serviererinnen ihr Ärschlein zeigen könnte. Er tät gern was Nettes sehen. Da hab ich ihm gesagt, meine Mädchen wären nicht zum Ärschleinzeigen da. Dafür gäb's andere Dinger. No, und da hat er mir sehr viel Geld geboten, wenn ich ihm so ein hübsches Ding bring.« »Und du hast ihm ein Mädchen gebracht?« fragt Hofrat Kramreither. Der Schani nickt: »Was hätt ich tun soll'n! Bei einem so hohen Herrn? Aber es war gefehlt. Ich hab die Rosi um die Leopoldine geschickt. Ein dralles, geiles Persönchen. Sie hat dem Baron sehr gefallen. Doch nach einer halben Stunde sind die beiden aus dem Extrazimmer gekommen. Die Leopoldine hat sich gebogen vor Lachen. Der Baron Zöglern war rot vor Zorn. Und immer wieder hat er geschrien: >Nix is g'wesen. Es is net gangen.< Der Baron hat die Leopoldin eine unfähige Dirn genannt und hat mir gedroht, er würde sich rächen. Und da hat er mich halt angezeigt. Was kann ich dafür, daß der Baron impotent is...!« »Halt dein loses Maul, Schani«, fällt ihm der Hofrat ins Wort. »Tatsache ist, daß du wirklich in deiner Badestube Zuhälterei betrieben hast. Du hast es ja gerade zugegeben. Wir werden dich also einlochen müssen.« Der »Gflickte Schani« schaut plötzlich ganz verschlagen und belustigt drein: »Da haben S' schon recht, Herr Hofrat. Was sein muß, muß sein. Lochen S' mich nur ein. Streichen S' mir die Erlaubnis für die Badestuben. Ich werd dann sicher auch die Namen von den Mädchen und von den Kunden nennen müssen, die vom Weg der Moral abgekommen sind...!« »Natürlich«, nickt Hofrat Kramreither eifrig und läßt sich in seinen Schreibtischsessel fallen. »Ja, dann...«, meint der Schani gedehnt, »dann wird mir nichts übrigbleiben, als dem Herrn Hofrat große Schwierig- 58 -
keiten zu bereiten. Es tut mir natürlich schrecklich leid, aber...!« »Was meinst du denn damit?« fragt der Hofrat neugierig und böse. Der Schani tut verlegen: »Naja, wegen dem Herrn Hofrat seinem Neffen...« »Was ist mit dem Karl?« Mit einem Ruck ist der Hofrat in der Höhe und stürzt auf den Badestubenbesitzer zu. Der Schani sieht ihm fest in die Augen: »Der Herr Neffe ist doch regelmäßig Gast bei mir. Naja, und erst unlängst, da war er besonders lustig. Und da hat er... da... haben... er und seine Freunde...!« »Was hat der Karl bei dir in der Badestube?« ruft der Hofrat erregt und blaß. Jetzt rückt der Schani mit seinem Trumpf heraus: »Er hat ein paar Bretter auf eine große Badewanne legen lassen. Und während die anderen vor Freude gejohlt haben, da ist der Herr Neffe mit der Leopoldin auf die provisorische Bühne gekrochen. Sie haben beide nix angehabt. Und da haben's die beiden halt... getrieben. Es gibt viele Zeugen dafür. Ich werd das alles erzählen müssen...!« »Abführen!« schreit der Hofrat erregt auf den Korridor hinaus. Der »Gflickte Schani« wird an einem sonnigen Augusttag des Jahres 1792 wieder freigelassen. Wegen Mangel an Beweisen. Hofrat Kramreither hat sich sehr für ihn eingesetzt. Er versieht den Akt mit der handschriftlichen Bemerkung: »Trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen ist dem Einvernommenen nichts Unmoralisches nachzuweisen gewesen. Bei der Anzeige wegen Zuhälterei dürfte es sich um einen Racheakt gehandelt haben. Näheres ist nicht bekannt. Wir haben jedoch, um einen derartigen Vorfall in allernächster Nähe seiner Majestät zu vermeiden, dem Einvernommenen nahegelegt, die Badestube in der Innenstadt zu schließen und sich vor der Stadtmauer ein ähnliches Etablissement zu eröffnen.« - 59 -
Natürlich hat der »Gflickte Schani« eine überaus lustige Badestube geführt, in der nicht nur gebadet wurde. Er selbst will nicht mehr in der Innenstadt bleiben. Der Boden ist ihm unter den Füßen zu heiß geworden. Er ist noch einmal gut davongekommen. Das Lokal, in dem sich die Stube befand, ist schnell verkauft. Um das Geld mietet sich der Schani in Neulerchenfeld in der Rofranogasse ein altes Haus und richtet sich darin eine neue und viel größere Badestube mit vielen Extra- und Ruheräumen ein. Der »Gflickte Schani« ist in Wien eine populäre Persönlichkeit. Seinen Namen hat er bekommen, weil er trotz des vielen Geldes, das er auf allerlei undurchsichtige Art und Weise verdient, immer in alten Kleidern umhergeht, als wäre er ein Bettler. Wenn er in seine Hose ein Loch reißt, so läßt er sich das Loch flicken und denkt nicht daran, sich eine neue Garderobe zuzulegen. »Was macht der wohl mit seinem vielen Geld, das er in der Badestube verdient?« fragt sich so mancher, der das Treiben in Neulerchenfeld beobachtet. In Wien wird darüber viel getratscht. Man munkelt, daß der Schani ein derart potenter Mann sei, daß er es am Tag mit gleich zehn Mädchen treiben müsse, um erträglich zu sein. Und weil keine freiwillig mit so einem Kraftlackel ins Bett gehen wolle, müsse er viel Geld dafür ausgeben. In den Wirtshäusern um die Badestube grölen die Männer zu vorgerückter Stunde oft das selbstgereimte Lied: »Der Schani, der Schani, der is net gern allani! Der wird im Bett net matt, liebt alles, was er hat!« Aber man redet nicht nur Schlechtes über den »Gflickten Schani«. So schreibt ein Redakteur einer Wiener Tageszeitung nach einem Besuch in der Badeanstalt: »Der Betrieb in der neueröffneten Badestube in Neulerchenfeld blüht und das mit Recht. Es ist ein nettes Lokal. Der Bader versteht sein Handwerk. Es herrscht immer fürtreffliche Stimmung. Das Wasser in den Bottichen ist stets angenehm warm, die Bademädchen, die das köstliche Essen und den guten Wein servieren, wirken appetitlich!« - 60 -
Noch aber hat der Ruhm des »Gflickten Schani« und seiner Badeanstalt nicht den Höhepunkt erreicht. Es ist ein Uhr morgens. Der letzte Badegast ist davon getorkelt. Natürlich stockhagelbetrunken und entkräftet. Er hat sich in einem Ruhezimmer hinter der Badestube gleich von zwei Mädchen verwöhnen lassen. Der »Gflickte Schani« schließt ab und läßt sich dann müde in einen Sessel fallen. Die Mädchen, die bei ihm arbeiten und wohnen, sind zu Bett gegangen. Nur die Leopoldine, die der Schani aus der Innenstadt mitgenommen hat, ist noch auf. Sie weiß, daß ihr Chef noch ein zünftiges Liebesabenteuer braucht, um einschlafen zu können. »Was schaun S' denn so verzweifelt in der Gegend herum?« fragt sie den Bader. Der Schani seufzt: »Das Geschäft könnt noch besser gehen. Was ich brauchen könnt, wär eine Sensation. Eine besonders schöne Frau. Ein Weib, von dem ganz Wien redet...!« Die Leopoldine zieht ihr aufgeknöpftes Kleid auseinander, schlüpft aus der Unterwäsche und streckt dem Bader ihre großen, festen und zerbissenen Brüste hin: »Bin i dem Herrn Chef vielleicht net hübsch genug?« Der Schani greift mit beiden Händen nach ihren Brüsten und seufzt dabei: »Aber ja, du Trampel, bist eh schön. Aber ich brauch was Besonderes für meine Gäst!« In diesem Augenblick ertönt draußen auf der Straße heftiges, scharfes Hundegekläff. Jemand hämmert mit den Fäusten gegen das Tor der Badestube: »Hilfe, Hilfe, Frantova muß sterben. Hunde wollen beißen junges, schänes Mädchen!« Der »Gflickte Schani« ist sofort auf den Beinen. Er reißt das Tor auf. Ein schlankes, langbeiniges Mädchen fällt ihm in die Arme. Ein bildhübsches Gesicht, lange Haare und ein wunderschöner, sinnlicher Mund. Der Schani zieht sie ins Haus und schlägt die Tür zu, bevor die beiden riesigen Hunde nachdrängen können. »Was ist denn los?« fragt der Bader neugierig. Schwer atmend erzählt das blonde Mädchen: »Ich bin, bitteschän, die Frantova - 61 -
Die kleine Frantova aus Prag war das bekannteste Mädchen der Wiener Badestuben aus Prag. Leb seit einem Jahr in Wien als Dienstmädchen beim Grafen Staudtenberg. Er ist so ein lieber Mensch. Er mag mich. Ich mag ihn auch. Wir mögen uns beide. Und da hat er... da is er.. .da war er... bei mir im Zimmer und war so lieb zu mir. Er hat mich so zart ausgezogen und mich geküßt. Es war wie im Himmel. Und dann, wies am schönsten in seinen Armen war, da ist die Frau Gräfin gekommen und hat alles gesehen. Sie hat getobt, mich beschimpft und aus dem Haus gejagt. Sie hat mir die Hunde nachgehetzt. Jetzt bin ich da und weiß nicht, was ich machen soll!« Der Schani streicht ihr übers Haar. Er sieht verwirrt in den Ausschnitt des Nachthemdes, das die hübsche Frantova trägt. - 62 -
Mit einem Ruck reißt er ihr den Stoff vom Körper. Da steht sie, wie der liebe Gott sie geschaffen hat. Ein Traumbild von einer verführerischen Frau: schlank, feste Brüste, schmaler Hals, glatte Haut, ein großer, üppiger Mund und zarte Finger. »Bleib bei mir!« sagt der Schani trocken. »Ich kann so ein Mädchen wie dich hier in der Badestube brauchen. Es wird dir Spaß machen.« Die Leopoldine will etwas sagen. Der Schani sieht sie scharf an: »Halt dein Maul und verschwind!« Sie verdrückt sich auf ihr Zimmer. Sie hört noch, wie der Schani zu dem Mädchen aus Prag sagt: »Und jetzt komm auf mein Zimmer.« Sekunden zögert die kleine Frantova, obgleich sie nicht prüde ist. Dann geht sie mit, wenn auch der Bader nicht gerade ihr Typ ist. Sie hat keine andere Wahl... Frantova ist zweifelsohne die Jüngste und die Hübscheste in der Badestube des »Gflickten Schani«. Jeder Besucher möchte mit ihr in den Ruheraum. Frantova wird zum Star der Rofranogasse. Sie denkt sich immer wieder neue Überraschungen für die Männer aus. Manchmal tanzt sie nackt im heißen Wasserdampf. Manchmal läßt sie sich von den Badenden ausziehen. In einem Polizeibericht heißt es später einmal: »Zeugen behaupten, daß diese Frantova das ausgeschämteste Weibsstück von ganz Neulerchenfeld gewesen ist. Sie ließ sich von einem Badegast die Brüste küssen und hatte nichts dagegen, daß ein anderer nach ihrem wohlproportionierten Hinterteil griff. Demnach müssen sich entsetzliche Szenen beim >Gflickten Schani< abgespielt haben!« An einem lauen Sommerabend aber übertrifft sich die blonde Frantova buchstäblich selbst. Und damit wird sie über Nacht für alle Männer zum Begriff. Die Badestube des »Gflickten Schani« ist bis auf den letzten Bottich besetzt. Die Musik spielt auf. Heißer Dampf schwebt in den Räumen des Etablissements. Lachen und Kirren vermischen sich mit dem Grölen von gutgelaunten Männern. Der Wein fließt in Strömen. Die Servie- 63 -
rerinnen kommen kaum mit dem Einschenken nach. Jeder der Badegäste hat ein mehr oder minder entblößtes Mädchen neben sich oder auf seinem Schoß. In den Ruheräumen lieben sich etliche Paare hemmungslos. Da plötzlich steht der »Gflickte Schani« auf einem Tisch und schreit: »Polizei! Polizei!« Jeder weiß, was er zu tun hat. Der »Gflickte Schani« hat es mit seinen Leuten oft genug geübt. Wie von Zauberhand berührt, verschwinden die Mädchen aus der Badestube und aus den Nebenräumen durch Hintertüren in den Keller. Nur die Frantova ist noch da. Sie kann nicht weg. Mit eisernem Griff hält sie der feiste Polizeiarzt Dr. Weinzettl fest. Er ist betrunken und will das Mädchen in seinem Badebottich zerren: »Ach was, Polizei! Du bleibst hier. Die können mich am Arsch lecken...!« Die Tür wird aufgestoßen. Die Polizeibeamten stürmen in die Badestube. Frantova ist geistesgegenwärtig. Sie weiß, daß man sie hier nicht antreffen darf. Leichtgeschürzt, wie sie ist, springt sie zu Dr. Weinzettl in den Wasserbottich, holt Atem und taucht dann unter Wasser. Zugleich zieht sie den Holzdeckel des Bottichs so weit zu, daß man nicht hineinsehen kann und nur eine halbkreisförmige Ausnehmung am Rand lässt den Kopf des badenden Polizeiarztes sichtbar bleiben. Zwei Beamte stehen Sekunden später vor Dr. Weinzettl. Einer der Männer meint: »Herr Doktor verzeihen S' die Störung. Wir müssen kontrollieren, ob hier alles mit rechten Dingen zugeht. Wegen der Moral und so!« Dr. Weinzettl nickt mit verklärten, rotumrandeten Augen: »Seid unbesorgt. Da geschieht nichts Unrechtes!« Die beiden salutieren. Da lehnt der Doktor seinen Kopf zurück und stöhnt laut auf. Einer der Polizisten springt auf ihn zu: »Ist etwas, Doktor?« »Nein, nein!« wehrt dieser ab. »Ich fühl mich wunderbar. Es war gerade so entspannend und angenehm!« »Was?« fragt einer der Polizisten. »Das Wasser natürlich! Was sonst?« stottert Dr. Weinzettl - 64 -
und ist froh, daß die Polizei gleich wieder die Badestube verläßt. Kaum sind die Männer draußen, fliegt der Deckel des Bottichs in weitem Bogen zu Boden. Klitschnaß taucht Frantova aus dem Wasser. Sie ist erschöpft, ringt nach Atem, doch ihre Augen glänzen vor Erregung. Sie hat die Zeit unter Wasser genützt und der Badegast war äußerst zufrieden damit. Er grölt jetzt, wenn er daran denkt, was die kleine freche Frantova da mit ihm unter Wasser getrieben hat, während rund um den zugedeckten Bottich die Polizei stand.
So munter ging es in vielen Badestuben in alter Zeit zu
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Minuten später spricht die ganze Badestube davon. »Donnerwetter«, murmelt der »Gflickte Schani«, »das hat es in Wien noch nie gegeben...!« Ein eiskalter Wintertag. Der 28jährige Baron von Gstettern aus Graz, der in Wien eine Offizierschule besucht, betritt die Vorhalle der Badestube und klopft sich den Schnee von der Uniform. Schani will den Baron noch aufhalten. Doch der drängt den Bader zur Seite und stürmt in die Badestube. Er sieht gerade noch, wie die kleine Frantova einen graumelierten Mann ekelig abküßt und sich abgreifen läßt. Der Mann ist ein k. u. k. Oberst. »Du dreckige Hure«, schreit der junge Baron und zieht Frantova mit sich in eine Mauernische. Dort schlägt er ihr ins Gesicht, drückt sie an sich und zischt ihr zu: »Ja, ja, du bist eine dreckige Hure. Aber ich liebe dich. Ich liebe dich, wie ich es dir in all meinen Briefen geschrieben habe. Ich will dich hier rausholen und heiraten. Du sollst keinem anderen Mann mehr gehören, verstehst du? Ich kann das nicht mitansehen!« Er heult, als er sie wieder schlägt. Frantova wendet sich beleidigt ab. Sie mag den Baron. Aber sie denkt nicht daran, ihn zu heiraten. Da steht der Oberst hinter ihr und brüllt den Baron an: »Sie haben diese - hm - Dame beleidigt. Ich habe eine Schwäche für sie und kann nicht zulassen, daß Sie so mit ihr umgehen!« Baron Gstettern richtet sich auf: »Ich liebe sie und Sie haben es mit ihr getrieben. Ich verlange Genugtuung!« Der Schani und alle Umstehenden können die beiden Herren nicht zur Vernunft bringen. Sie suchen sich aus den Anwesenden ihre Sekundanten. Ein Arzt ist auch zur Stelle. Sie wählen ihre Dienstpistolen und eilen erregt in den Schnee hinaus. Mitten in der Rofranogasse stellen sie sich auf. Jemand zählt. Dann fallen fast gleichzeitig die Schüsse. Der junge Baron stürzt mit einem Aufschrei hin. Der Schnee färbt sich blutig rot. Arthur von Gstettern ist tot. Die Polizei kommt binnen kurzer Zeit zum Tatort. Die Beamten finden in der Brusttasche des jungen Barons ein Bün- 66 -
del Briefe. Briefe, die ihm Frantova schrieb. Ein diensthabender Beamter vermerkt in seinem Meldebuch: »Der zu Tode erschossene Baron und das Bademensch mochten sich sehr, wie aus den Zeilen hervorging. Doch außer Liebesbezeugungen enthielten die Briefe auch bündelweise obszöne Andeutungen, die darauf schließen lassen, wie abwegig und ungehörig sich die beiden in geschlechtlicher Hinsicht benahmen!« Vierundzwanzig Stunden nach dem Tod des Barons führt die Polizei in der Badestube des »Gflickten Schani« eine Großrazzia vom Dachboden bis zum Keller durch. Insgesamt werden einundzwanzig nackte und halbnackte Mädchen festgenommen. Dem Geschick des »Gflickten Schani« ist es zu verdanken, daß die prominenten Kavaliere unerkannt entkommen können. Doch für den Bader Schani gibt es diesmal kein Pardon. Die Stube wird geschlossen. Er wird verhaftet und eingesperrt. Als man ihn abführt, wirft sich seine treue Leopoldine, der die Polizei nichts nachweisen kann, zu seinen Füßen und weint: »Was soll ich denn jetzt machen?« Der Schani lächelt süßsauer: »Mach eine Badestuben auf, meine Liebe. Aber merk dir: Nimm dir nur Bademenscher, die net schreiben und lesen können. Damit dein Etablissement net wie meins durch so patscherte Liebesbriefe auffliegt...!« In Wien empört man sich überall entrüstet über die Sittenlosigkeit in der Badestube des »Gflickten Schanis«. Und so mancher, der bei ihm Gast war, lügt seiner nichtsahnenden Gattin vor: »Ich bin froh, daß der Schani im Häf'n sitzt!« Was aus der schönen Frantova wurde, weiß man nicht...
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Dicker, undurchdringlicher Nebel brütet über den Wiesen und Wäldern um den Rosenberg. Man schreibt das Jahr 1803. Es ist sechs Uhr morgens. Ein ungemütlicher, düsterer Herbstmorgen. Der k. u. k. Forstmeister Franz von Jaroney und der Graf Karl Jagendorf sind bereits seit zwei Stunden in der freien Natur unterwegs, um zu jagen. Ihr Gewand, die Gewehre, die Pferde, auf denen sie reiten - alles ist patschnaß. Vor die Flinte haben sie diesmal nichts bekommen. Sie sehen verdrossen drein. »Bei dem Sauwetter«, murmelt Graf Jagendorf, »kommen nicht einmal die Hasen und Fasane aus ihren Verstecken hervor. Verdammter Mist. Aber trotzdem ist mir eine erfolglose Jagd in Ihrem Revier, lieber Forstmeister, tausendmal lieber als unser kaiserliches Wien...!« Sie halten an und steigen von den Pferden. Der Forstmeister sieht den Grafen forschend von der Seite an: »Lieber Graf, ich merk es schon seit Tagen. Es freut Sie gar net, nach Wien zurückzufahren. Was ist denn der Grund?« »Ach was«, antwortet der Graf und runzelt die Stirn, »dieses Wien ist auch nimmer das, was es mal war. Stell'n Sie sich vor: Da hat doch der Kaiser Franz allen Ernstes erlaubt, daß man so eine komische Gasbeleuchtung auf der Straße anbringt. In ganz Wien will man solche Laternen aufstellen. Sie haben keinen Begriff davon, lieber Forstmeister, wie häßlich das ausschaut, dieses teuflische Zeug. Der ganze Zauber der Stadt ist hin. Und dann die Unruhen und diese lästigen Polizeiagenten vom Hof. Da bin ich schon lieber da...!« Forstmeister Franz von Jaroney, ein gebürtiger Ungar, lächelt: »Ich bin froh, daß ich net in Wien bin. Jetzt weiß ich erst, - 68 -
warum so mancher schon vor Jahren von dort weg ist und sich in die Einsamkeit der Steiermark geflüchtet hat!« »Wer denn?« fragt der Graf neugierig. »No zum Beispiel die Gräfin Báthory. Die war doch eine Zeitlang am Hof als Gesellschafterin engagiert, nachdem sie aus Ungarn gekommen ist. Aber sie hat sich bald verdrückt. Jetzt lebt sie am Rand von Leechwald in einem Schlössel und läßt sich's gut gehn.« Der Graf kneift die Augen zusammen: »A da schau her! Ich hab immer geglaubt, die Báthory ist wieder nach Ungarn zurückgegangen. Sie ist damals sehr plötzlich vom Hof verschwunden. Uns hat das alles leid getan. Sie war eine sehr schöne Frau. Aber niemand hatte Glück bei ihr. Sie hat's mit der Treue sehr genau genommen. Alle Männer sind bei ihr abgeblitzt...« Der Forstmeister lacht in sich hinein: »Aber Herr Graf, Sie werden doch net glauben, daß das etwas mit der Moral der Dame zu tun hat.« »Wie meinen S' denn das?« »Ganz einfach. Die Gräfin hat sich nie für Männer interessiert. Sie tut das - soweit ich die Leut reden hör - auch hier bei uns nicht. Die hat's mit den Frauen, besser gesagt mit den jungen Mädchen. Man sagt, die macht sich jedes Dienstmädchen, das bei ihr eintritt, zur Geliebten...!« Der Graf ist außer sich. Er stammelt: »Sie hält es mit den Frauen. Pfui Teufel, wenn man sich das vorstellt! Jetzt weiß ich, warum die Gräfin damals in Wien so plötzlich abgereist ist und so untröstlich war. Sie war in eine mysteriöse Affäre verwickelt: Eines Tages wurde nämlich ihre Zofe erstochen aufgefunden. Man hat den Täter nie gefunden. Die Leut haben gemunkelt, es wäre keine Mensch, sondern ein Vampir gewesen, weil doch das tote Mädchen in keiner Blutlache gelegen ist. Es war, als hätte ihr jemand das Blut aus dem Körper gezapft. Das war natürlich nur dummes Gerede!« Langsam schlendern die beiden Männer durch den nebelnassen Wald. Der Forstmeister zieht die herabhängenden Zweige - 69 -
auseinander, bahnt sich einen Weg durchs Dickicht und flüstert: »Jetzt fuhr ich Sie zur Rehtränke. Ein wunderschöner Anblick. Aber leise sein!« Schritt für Schritt bewegen sich die beiden auf dem schmalen Pfad nach vorn. Plötzlich hält der Forstmeister inne. Sein Blick fällt rechterhand auf einen dicken, niedrigen Baum. Franz von Jaroney taumelt zurück. Er ringt nach Luft. Graf Jagendorf fängt ihn auf und schaut dann ebenfalls nach rechts. Ein erstickter Schrei entringt sich seiner Kehle. Blaß stehen die beiden Männer da und starren auf einen der Äste. Da hängt ein nacktes, schlankes junges Mädchen mit dem Kopf nach unten. Die Füße sind am Ast angebunden. Ihre zarte, glatte Haut ist von Striemen zerrissen. Die kleinen, aber festen Brüste sind blutig gebissen. Das arme Ding sieht aus, als wäre ein Metzger über sie gekommen. Die geöffneten Augen starren schreckgeweitet ins Nichts. Der Körper baumelt leicht im Morgenwind. Er ist starr und kalt. Die Tote muß schon mehrere Tage hier hängen. Eines ist aber seltsam. Trotz der klaffenden Wunden an den Armen und am Hals gibt es keine Blutlache unter der Leiche. Als wäre die Tote ausgesaugt worden. Der Forstmeister tritt zaghaft näher. Er bückt sich und sieht dem toten Mädchen scheu ins Gesicht. Dann fährt er entsetzt hoch: »Heilige Maria Mutter Gottes. Das ist ja... die kenn ich doch...!« »Wer ist es denn?« fragt der Graf neugierig. Der Forstmeister ist aschfahl im Gesicht, als er tonlos antwortet: »Es ist die kleine Jolinka Förgödi aus Budapest. Sie lebt erst seit einigen Wochen bei uns. Ein schüchternes, braves Ding.« »Wie kommt das Mädchen von Budapest nach Graz?« will der Graf wissen. Der Forstmeister bringt es kaum über die Lippen: »Sie war Dienstmädchen bei der Gräfin Báthory...!« Die Polizei ist schon nach wenigen Stunden zur Stelle. Die Tote wird untersucht. Der Arzt schreibt in sein Protokoll: »Das - 70 -
Gräfin Báthory liebte es, sich von ihren Dienstmädchen verwöhnen zu lassen. Sie ließ sich dabei sogar malen Mädchen ist erwürgt worden. Vermutlich mit einem Schal oder einem Strumpf. Dann erst wurden ihr die schrecklichen Wunden zugefügt. Fast erhebt sich der Verdacht, daß die Tote verkehrt herum aufgehängt wurde, um alles Blut aus ihrem Körper ablaufen zu lassen. Vermutlich hat der Mörder das Blut in einem Gefäß mit sich genommen, was darauf hinzielt, daß es sich um einen Irren handelt. Die Wunden an der Toten wurden mit einem Messer zugefügt...!« Man findet keinerlei Spuren, die auf den Mädchenmörder hinweisen. Polizeikommissär Waiden sucht die Gräfin Báthory auf. Sie stößt einen spitzen Schrei aus, als sie von der Tat erfährt: »Und ich dachte schon, das Ding wäre mir davongelaufen. Dabei habe ich sie so gut behandelt. Ich habe sie noch gewarnt, sie solle sich nicht mit Männern abgeben. Sie hat nicht auf mich gehört. Da hat sie in jüngster Zeit immer so ein Kerl abgeholt. Ich weiß seinen Namen nicht, und ich kann auch schwer sagen, wie er ausgesehen hat!« Die Gräfin ist nicht imstande, eine brauchbare Personen- 71 -
beschreibung zu geben. Die Suche nach dem unbekannten Mörder geht weiter. Die Polizei in Graz kommt gar nicht auf die Idee, daß die Gräfin mit der Bluttat etwas zu tun haben könnte. Man zieht über sie keine Erkundigungen ein. Und man erfährt auch nicht, daß schon einmal in Wien eines ihrer Dienstmädchen ermordet wurde. Auf ähnliche Weise... Das kleine Schloß, in dem die Gräfin Báthory hinter dem Leechwald wohnt, wirkt verlassen und leer. Als wenige Tage nach dem Mord an der kleinen Jolinka ein schwarzer Wagen mit zwei Pferden im Hof vorfährt, kommt Leben in das Haus. Die breite Türe geht auf. Die Gräfin tritt ins Freie, gefolgt von einem buckligen alten Mann, der ihr abgöttisch ergeben ist. Vom Kutschbock schwingt sich ein dicker Mann mit einem Melonenhut. Er verbeugt sich und grinst, als er sagt: »Gräfin, die Ware ist da!« Sie nickt zufrieden und hebt die rechte Hand. »Was hast du mir denn diesmal mitgebracht, Alter?« fragt sie mit scharfer Stimme. »Sie heißt Maria, ist 18 Jahre alt und die Tochter eines armen Bauern. Er hat sich gefreut, als er das Geld dafür erhalten hat. Er hat mir auch geschworen, daß sie noch keinen Mann hatte!« »Aufmachen!« fordert die Gräfin barsch und tritt an den Wagenschlag heran. Die Tür wird von dem dicken Kutscher aufgerissen. Scheu steigt ein blasses, schlankes junges Mädchen ins Freie und verbeugt sich. »Ab heute bist du mein Zofe und mein Dienstmädchen, Maria. Wenn du mir gehorchst, wirst du es gut bei mir haben!« herrscht die Gräfin das zitternde Ding an. Dann mustert sie die kleine Ungarin mit zufriedenen Blicken. Sie gefällt ihr. Sie zieht sie in Gedanken aus. Ein Wonneschauer durchrieselt ihren Körper. Die Gräfin greift sich in den Kleidausschnitt, zieht einen Beutel mit Geld hervor und reicht ihn dem Kutscher. Er nimmt seinen Lohn, verneigt sich, springt auf den Kutschbock und schlägt mit der Peitsche auf die Pferde ein. Der Wagen holpert davon. Der Kutscher atmet auf. Die Nähe der Gräfin ist ihm - 72 -
unheimlich. Er mag sie nicht. Er fürchtet sie. Er hat einen schrecklichen Verdacht. So oft hat er der Gräfin schon junge, unschuldige Mädchen aus Ungarn bringen müssen. Und sie will immer wieder neue. Niemals aber erfuhr er nachher, was aus den anderen wurde. Sie verschwanden alle spurlos... Maria ist das siebte Dienstmädchen im Schlößlein der Gräfin. Ehrfürchtig steht sie im Schlafzimmer der Herrin und wartet auf neue Befehle. Sie hat soeben das Abendessen serviert. Gräfin Báthory fühlt sich wohl. Die Mahlzeit hat ihr gemundet. Sie liegt splitternackt auf ihrem Bett und streichelt sich selbst wohlgefällig über ihre alabasterweiße Haut. Dabei mustert sie ununterbrochen das Mädchen vor sich, das vor Verlegenheit nicht weiß, was es tun soll. Unerwartet kommt die Frage der Gräfin: »Gefalle ich dir?« Maria nickt: »Die gnädige Frau sind wunderschön! Und so jung!« Die Gräfin lacht verächtlich: »Ich sehe nur jung aus. Ich bin es nicht mehr. Und warum ich nicht alt werde, ist mein kleines Geheimnis. Eine Wahrsagerin hat es mir in Wien einmal verraten. Aber das geht dich nichts an, meine Kleine. Mich interessiert vielmehr: Bist du noch Jungfrau - ein unberührtes Mädchen?« »Natürlich, bittascheen!« antwortet die Ungarin und wird rot. »Du solltest es bleiben, was die Berührung durch so ein brutales Mannsbild betrifft!« doziert die Gräfin. »Es gibt schöneres als einen keuchenden, stöhnenden Mann, der über eine Frau herfällt und sich nur nimmt, was er braucht. Wenn du es wissen willst, so zeige ich es dir...!« Maria weicht erschrocken zurück. Sie sieht den seltsamen Glanz in den Augen der Gräfin. Sie merkt, wie gierig die Frau sie anstarrt. Die Gräfin setzt sich mit einem Ruck auf: »Hör einmal zu, Kleine. Willst du, daß ich dir wie einer Hure in den Hintern trete und dich aus meinem Schloß jage und allen erzähle, daß du eine Aussätzige, eine Diebin bist, die man hängen sollte ... ?« - 73 -
Das Mädchen preßt die Hände flehend zusammen: »Nein, o nein, ich habe doch nichts getan!« »Dann tu, was ich dir sage: Zieh dich aus ...!« Widerstrebend schlüpft das hübsche Mädchen aus ihren Kleidern. Langsam kommt sie näher. Die Gräfin vergißt die Welt um sich. Ordinär, wie sie es gewohnt ist, bäumt sie ihren Körper auf: »Komm, Kleine, sei lieb zu mir. Ich bin's dann auch zu dir. Mach schon!« Die Gräfin nimmt die Hand des Mädchens und zeigt ihr, was sie tun muß. Maria liebkost den Körper der Dienstherrin. Überall, wo die Gräfin es befiehlt. Maria glaubt, jeden Augenblick erbrechen zu müssen. Die Gräfin sinkt zurück und schließt die Augen. Sie sagt schrecklich böse und ordinäre Dinge. Sie gerät in Ekstase und wirft sich hin und her. Dann verkrampft sich ihr Körper. Angstvoll hält Maria inne und nimmt die Hand weg: »Ist Ihnen nicht wohl, Frau Gräfin?« Die Gräfin fährt hoch, wie aus einem Traum. Böse starrt sie das Mädchen an: »Du blödes Luder, warum hast du aufgehört? Gerade jetzt war's so gut. Aber du bist ja so dumm. Das wirst du mir büßen...!« Zwei Tage später ist die kleine Maria spurlos verschwunden. Die Gräfin läßt sich ein neues Mädchen kommen. Eine Woche danach macht ein Bauer an einem Hang des Rosenbergs eine makabre Entdeckung. In einer Höhle, deren Eingang verwachsen ist, liegen die Leichen von fünf nackten Mädchen. Der Arzt stellt fest: Sie sind allesamt erwürgt und dann mit einem Dolch verletzt worden. Wieder gibt es kein Blut. Doktor Stieglitzer schreibt in sein Tagebuch: »Wenn man abergläubisch wäre, müßte man an die Existenz eines Vampirs glauben...!« »No lieber Walden«, meint der Vorgesetzte des Grazer Polizeikommissärs, »was gibt es Neues?« Walden steht stramm vor seinem Chef. »Wir haben alles rund um die Höhle untersucht. In der Höhle selbst war nichts zu finden. Die Mädchen waren ja alle unbekleidet. Die Leute aus der Umgebung sagen, daß sie die - 74 -
Toten nicht kennen. Sie vermuten, es könnten die Dienstmädchen der Gräfin Báthory gewesen sein. Die hat so oft die Mädchen gewechselt.« »Und was sagt die Gräfin?« »Sie meint, das könnte schon sein. Alle Augenblicke sei ihr ein Mädchen davongelaufen und nicht wiedergekommen!« »Noch etwas, Walden?« »Jawohl, Herr Polizeidirektor: Wir haben auch diese Wiese rund um die Höhle abgesucht. Wir haben einen kleinen Ring gefunden. Ich kenn diesen Ring. Ich habe im vergangenen Fasching auf einem Ball in Graz einer Dame die Hand geküßt, die diesen Ring trug!« »Und wer war diese Dame?« »Die Gräfin Báthory, Herr Polizeidirektor...!« Jetzt erst läuft der Polizeiapparat auf vollen Touren. Zwei Beamte reisen nach Wien, um Licht in das mysteriöse Leben dieser einsamen Gräfin zu bringen, die aus Ungarn an den Wiener Hof kam, dort als schöne Frau bewundert wurde, sich aber bald ins Steierische absetzte, um hier in aller Stille ihrem Laster zu frönen. Aus einem Polizeibericht des Jahres 1804 erfährt man: »Die Neigung der Gräfin Báthory zu jungen Mädchen und die verbrecherische Lust, diese Mädchen zu töten und ihnen das Blut aus den Adern laufen zu lassen, sind zweifelsohne vererbt. Untersuchungen in Budapest und in mehreren bulgarischen Städten ergaben für die Beamten der k. u. k. Polizei, daß die Gräfin in direkter Linie von zwei Menschen abstammt, die schon in früherer Geschichte Angst und Schrecken verbreiteten.« Der Polizeibericht schildert im Folgenden, daß es in der Zeit von 1456 bis 1462 in Ungarn und Rumänien einen Grafen namens Vlad Tepes gab, dem das Gebiet von Siebenbürgen und der Walachei unterstand. Er herrschte nur sechs Jahre und war von seinen Untertanen als grausam und brutal gefürchtet. Manche glaubten, er wäre der Teufel in Person. Ungehorsamen Dienern ließ er die Hände abhacken. Seinem Leibkoch, der eine Pastete versalzte, ließ er an der Tafel den Kopf abhauen. Ein- 75 -
mal im Jahr ritt der Graf mit seinen Kriegern durchs Land. Da wurde viel Blut vergossen. Graf Tepes ließ seine Untertanen das beweisen viele Niederschriften - zu Tausenden auf spitze Pfähle stecken und jämmerlich zugrunde gehen. Man schätzt, daß etwa zehntausend Menschen durch seine perverse Grausamkeit ihr Leben lassen mußten. Wann immer ein Bauer weniger Steuern bezahlte, als der Graf forderte, wurde die ganze Familie aufgepfählt. Gab es eine Tochter, so mußte sie ihm zuerst zu Willen sein. Dann wurde auch sie aufgespießt und mußte sterben. Zur Demonstration seiner Macht ließ er sich dann jeweils einen Becher des Blutes dieser Mädchen geben und trank es aus. Erst vor einigen Jahren kam die junge italienische Forscherin Julia Gaspiaiso dahinter, daß durch diesen Brauch die Geschichte vom blutsaugenden Vampir entstand. Graf Tepes war jener Dracula, der später als Phantasiefigur in die Literatur einging. Er selbst nannte sich nämlich Dracula, was damals soviel wie »Sohn des wilden Drachens« bedeutete. Eines Morgens wurde der Graf tot in seinem Schlafzimmer gefunden. Ein Verwandter soll ihn ermordet haben. Tatsache ist, daß die Leute auch noch nach dem Tod des Grafen vor »Dracula« Angst hatten. Die Verwandten des Grafen wurden aus dem Land vertrieben. Seine Frau und Kinder ließen sich in Ungarn nieder. Die Töchter heirateten in Adelsfamilien ein. Eine Nichte des Grafen war eine Gräfin Báthory. Ihre hübsche Tochter kam im 17. Jahrhundert ins Gerede. Sie hieß Erzsebeth Gräfin von Nadasdy und galt in der Budapester Gesellschaft als wollüstig und sadistisch. Sie war sehr eitel und wollte unbedingt jung bleiben. Sie tat es ihrem Großonkel nach und überredete ihren Mann, daß er für sie im Laufe der Zeit an die hundert junge Mädchen und junge Männer tötete. Sie badete heimlich im Blut der Toten und trank es mitunter auch. Als sie deswegen 1614 vor Gericht gestellt wurde, verkündete sie höhnisch lächelnd: »Ich bin die Tochter Draculas. Ich bin viel älter, als ihr glaubt. Ich sehe nur so jung aus, weil ich vom Blut junger Menschen lebe...!« - 76 -
Niemand kümmert sich um die Nachkommenschaft dieser Verbrecherin. Niemand nahm Notiz davon, daß es da nach hundertfünfzig Jahren ein junges hübsches Ding gab, das in direkter Linie von dieser blutrünstigen Person abstammte. Es war dies die mysteriöse Gräfin Báthory, die eines Tages am Wiener Hof auftauchte und ob ihrer Schönheit zum Tagesgespräch wurde. Heute würde die Gräfin der Polizei und den Gerichtspsychologen keine Rätsel aufgeben. Es würde in ihrem Akt eindeutig heißen: »Erblich schwer belastet. Das Produkt einer kranken Adelsfamilie!« Die Gräfin Báthory wußte, daß der Graf Tepes und die mordende Gräfin Erzsebeth Nadasdy ihre Vorfahren waren. Sie wußte auch, daß grausames und krankhaftes Blut in ihren Adern pulsierte. Darum zog sie es vor, sich so bald als möglich aus der Großstadt aufs Land zurückzuziehen, wo man nicht jeden ihrer Schritte mit Argusaugen bewachen konnte. Die Gräfin Báthory hatte von Jugend an Abscheu vor Männern. Vielleicht, weil sie einmal von einem betrunkenen Offizier am hellichten Tag hinter einem Brunnen vergewaltigt worden war. Sie wurde - wie man heute eindeutig feststellen kann - eine lesbische Frau, die nur einen sexuellen Höhepunkt erreichen konnte, wenn sie ein junges Mädchen liebte. Wäre die Gräfin nicht ein Nachkomme von Graf Dracula und der blutrünstigen Gräfin Erzsebeth Nadasdy gewesen, hätte sie vermutlich die Mädchen davongejagt. So aber wuchs in ihr die Lust, die verführten Mädchen auch zu töten. Dazu kam noch der Aberglaube, den ihr eine Wahrsagerin suggeriert hatte. Die Gräfin glaubte, wie schon ihre Ahnin, daß sie durch das Blut unschuldiger Mädchen immer jung und schön bleiben könnte. Daher verband sie das Unangenehme mit dem Nützlichen, erdrosselte die Ungarinnen, sammelte ihr Blut, trank es und badete darin. Und weil niemand dahinterkommen sollte, ließ sie die Mädchen aus dem fernen Ungarn holen. Ein eisiger Tag über dem Leechwald. Das Schlößchen der Gräfin Báthory ist von Polizei und Militär umstellt. Kriminal- 77 -
kommissar Walden hämmert mit der Faust gegen das Tor. Der buckelige Diener öffnet. Vier Beamte betreten das Haus. In der Halle steht die Gräfin. Stolz, unnahbar und arrogant. »Was soll dieser Auftritt, meine Herren? Was wünschen Sie?« Der Kriminalkommissar wirft sich in Pose: »Ihr Spiel ist aus, Gräfin. Wir wissen, daß Sie eine grausame Mörderin sind. Wir müssen Sie bitten, sofort mitzukommen!« Die Gräfin macht einen letzten verzweifelten Versuch, ihre Situation zu retten. Sie öffnet ihren wallenden Morgenmantel. Sie steht nackt vor den Männern und lächelt sie verführerisch an. Dann haucht sie: »Ich habe meinen Körper seit meinen Jugendjahren keinem Mann mehr hingegeben. Ich sehe, ich gefalle Ihnen. Sie dürfen sich bedienen, meine Herren. Für Sie tue ich alles. Niemand wird es erfahren.« Sie lehnt sich gegen die Wand. Sie sieht verdammt ordinär aus, wie sie da lehnt. Doch die k. u. k. Beamten bleiben über den Dingen. »Ich muß schon bitten, Madame!« brüllt der Polizeikommissär entrüstet. Dann murmelt er: »Abführen. In Ketten!« Drei Uniformierte stürzen in die Halle. Mit einem Sprung ist die Gräfin bei einer Nische: Sie reißt ein Schwert von der Wand und ruft: »Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« Ehe die Polizisten bei der Frau sind, hat sie sich den kalten Stahl in den Unterleib gestoßen. Sie verblutet, ehe ein Arzt zur Stelle ist... In einem offiziellen Bericht heißt es später: »Gräfin Báthory ist in ihrem Landhaus bei Graz an einem unerwarteten Blutsturz gestorben!« Man will die Bevölkerung durch die wahren Vorfälle nicht beunruhigen. Erst in unserem Jahrhundert bringt die italienische Studentin Julia Gaspiaiso durch intensive Quellenforschung alles an den Tag.
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»Weg mit dem Sittenstrolch. Raus mit dem Sittenstrolch!« Immer wieder schwingen die grölenden Stimmen der jungen Männer durch die Straße. Sie tragen große schwarze Holztafeln in den Händen, auf denen ihr Protest mit weißer Farbe geschrieben steht. Und für alle diejenigen, die nicht lesen können, schreien sie es immerfort aus bereits heiseren Kehlen. Ein schwüler Maivormittag des Jahres 1804 liegt über Wien. Der 18. Mai. In Paris hat sich Napoleon Bonaparte soeben zum Kaiser mit Erbberechtigung ernennen lassen. Kaiser Franz I. läßt sich in Wien - in weiser Voraussicht der Dinge, die da kommen werden - zum erblichen Kaiser von Österreich ausrufen. In ihrem düsteren Zimmer schreitet die 45jährige Demoiselle Maria Theresia Paradis auf und ab. Die Fenster sind mit dichten Vorhängen versehen. Nur so fühlt sie sich wohl. Das Fräulein von Paradis ist eine international anerkannte Pianistin und Konzertdirigentin. Sie führt in Wien ein privates Musikkonservatorium für begabte junge Künstler. Wenn sie auf Konzertreisen geht, sind die Säle, in denen sie auftritt, ausverkauft. Man sagt, daß sie ein Genie ist. Ein unglückliches Genie. Denn sie ist blind. Maria Theresia Paradis erblindete im Alter von drei Jahren. Sie war nur ganz kurz in ihrer Jugend sehend. Doch über diese Zeit spricht sie nicht gern. Sie weicht Fragen aus, die damit in Zusammenhang stehen, sie muß weinen, wenn sie daran denkt. Und niemand wagt es, die Künstlerin darauf anzusprechen. An diesem Tag muß Maria Paradis an diese längst vergangene Zeit denken, auch wenn sie es gar nicht will. Unentwegt sieht sie ihn vor Augen: den Mann, den sie ihr ganzes Leben - 79 -
nicht mehr vergessen kann. Den Arzt und Hypnotiseur Franz Anton Mesmer. Sie hat ihn seit damals, als er sie sehend machte, nie mehr gesehen. Sie weiß, daß er weit weg von ihr ist. In Paris. Sie betet jeden Abend, daß ihm in den Revolutionswirren an der Seine nichts passieren möge. Sie hört eine Tür. Fanny, ihre junge Zofe, steht da und flüstert ehrfürchtig: »Gnädige Frau, draußen wartet eine junge Mutter mit ihrem Söhnchen. Sie will, daß der Bub bei der Demoiselle Klavierspielen lernt...!« Das Fräulein Paradis hört gar nicht hin. Sie richtet ihren Kopf zu Fanny und fragt: »Was schreien diese Männer in einem fort auf der Straße draußen? Das macht mich ganz krank. Ist das die Revolution?« »Nein«, antwortet das Mädchen. »Es sind Medizinstudenten. Sie fordern, daß ein berühmter Arzt, der gestern aus Paris bei uns eingetroffen ist, wieder abreist. Er soll ein Nichtskönner, ein Scharlatan und Quacksalber sein und obendrein ein Sittenstrolch.« Maria von Paradis beginnt am ganzen Körper zu zittern: »Wie heißt dieser Arzt?« Fanny denkt kurz nach: »Augenblick, gnädige Frau... ja, jetzt hab ich's: Mesmer oder so ähnlich!« Demoiselle Paradis stößt einen spitzen Schrei aus. Sie tastet sich zu ihrem zierlichen Schreibtisch vor und sinkt nieder. Außer Atem stößt sie hervor: »Franz Anton Mesmer. Er ist hier. Er ist wieder hier. Nach so vielen Jahren. Und trotzdem: Wir werden uns nicht sprechen und nicht sehen können. Ich weiß es genau. Kaum ist er da, hetzen sie schon wieder alle gegen ihn, diese Bestien...!« Erstaunt tritt Fanny näher: »Ich verstehe nicht, gnädige Frau. Sie kennen diesen Mann?« Das Gesicht Marias verklärt sich: »Jawohl, ich kenne ihn. Er ist der einzige Mann in meinem Leben, der mich geküßt und glücklich gemacht hat. Er ist schuld daran, daß ich niemals mehr einen anderen Mann ertragen würde. Doktor Mesmer, meine Liebe, ist kein Scharlatan. Er ist einer der genialsten - 80 -
Ärzte unserer Zeit. Er heilt nicht nur mit der sturen Schulmedizin. Er beherrscht die geheimnisvollen Kräfte der Hypnose und des Magnetismus. Ich habe es ihm zu verdanken, daß ich einige Monate in meinem jungen Leben sehen durfte.« Fanny weiß nicht, was sie sagen soll. Maria von Paradis fühlt es. Sie zieht das Mädchen zu sich heran und flüstert: »Setz dich. Ich werde dir jetzt alles erzählen...« Es war zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia. Maria Theresia Paradis, ein junges Mädchen, war ein musikbegabtes blindes Mädchen. Ihr Vater fungierte als Beamter am Hof. Die Kaiserin ernannte die Pianistin zu ihrem Schützling. Sie arrangierte Klavierkonzerte, die von einflußreichsten Leuten der Wiener Gesellschaft besucht wurden. Maria wurde durch ihre Konzerte berühmt. Eines Tages befand sich auch der junge Arzt Franz Anton Mesmer unter den Gästen. Er stammte aus Iznang am Bodensee, hatte in Wien Medizin studiert und mit neuen Heilmethoden, wie dem Magnetismus und der Hypnose, Aufsehen erregt. Praktiken, die später unter der Bezeichnung Mesmerismus in die Geschichte der Medizin eingehen. Der Arzt war von Maria von Paradis fasziniert und setzte sich in den Kopf: »Ich muß dieses Mädchen heilen!« Er nahm Kontakt mit ihr und ihren Eltern auf. Er erhielt die Erlaubnis, das blinde Kind in sein Wiener Sanatorium zu bringen und dort in finsteren Räumen mit magnetischen Händen und Hypnoseversuchen wieder sehend zu machen. Dabei verliebte sich Maria in den Arzt. Und auch er mußte bald zugeben, daß er sehr viel für seine Patientin empfand. Das erfuhr die Gräfin Dörring. Sie verehrte den Arzt sehr und wollte seine Geliebte werden. Als er ihr seine Abfuhr erteilte, schwor sie ihm Rache. Sie setzte sich mit den Vertretern der Wiener Schulmedizin in Verbindung, die schon lange argwöhnisch auf Mesmers Popularität blickten und dem unbequemen Kollegen gern eins ausgewischt hätten. Die Gräfin erzählte einem Arzt bei Hof, daß sie stark den Eindruck hätte, Dr. Mesmer halte das blinde Mädchen unter dem Vorwand der Heilung bei sich fest, um sich Nacht für Nacht an ihr zu vergehen. - 81 -
Die Sache kam der Kaiserin zu Ohren. Die Eltern der blinden Maria wurden verständigt. Empört fuhr der Vater des Mädchens zum Sanatorium des Doktors und erstarrte. Maria kam ihm entgegen und rief: »Vater, wie wunderschön du aussiehst. Ich kann sehen. Stell dir vor, ich kann sehen. Allerdings verwirren mich jetzt die Klaviertasten so sehr, daß ich nicht spielen kann. Aber ich bin glücklich.« Der Vater hatte den Beweis: Mesmer war nun auch in seinen Augen ein Wunderarzt. Doch die Aussagen dieses Mannes nützten nichts. Die Sittenpolizei war inzwischen instruiert. Gerade als Mesmer wieder einmal mit Maria beisammensaß, trommelten die Fäuste der Sittenpolizisten gegen die Tür. Höchste Beamte waren dabei. Sie forderten Mesmer auf, auf der Stelle das Land zu verlassen. Man überreichte ihm die Mitteilung der Kaiserin, in der es hieß: »Wegen nachgewiesenen und durch Zeugen bestätigten unsittlichen Benehmens einem jungen unschuldigen Mädchen gegenüber, sei Ihnen hiermit die Erlaubnis, die Medizin auszuüben, entzogen...!« Maria von Paradis wurde gewaltsam zu ihren Eltern zurückgebracht. Sie fiel ihrem Arzt zum Abschied weinend um den Hals. Und als sie sechs Schritte von ihm entfernt war, da blieb sie plötzlich starr stehen und konnte nichts mehr sehen. Sie war wieder erblindet. Doch sie wollte es Mesmer nicht sagen, um ihm nicht das Vertrauen in seine medizinische Arbeit zu nehmen. Franz Anton Mesmer mußte - wie ein Sittenstrolch - flüchten. Wiener Arzte, die sich darüber freuten, verbreiteten Schauermärchen über ihn. Mesmer ging nach Paris. Aber auch dort hatte er kein Glück. Die Akademie der Wissenschaften anerkannte seine Lehre vom heilenden Magnetismus nicht. 1784 verurteilte eine königliche Kommission den Mesmerismus als sittengefährdend. Franz Anton Mesmer begann rastlos in Europa umherzureisen. Überall suchten Patienten bei ihm Zuflucht. Es gibt faszinierende Berichte von zahllosen Heilungen. Vor allem die Frauen der vornehmen Gesellschaft waren dem Hypnosearzt verfallen. Er gefiel ihnen. Und wenn man der - 82 -
Maria Theresia von Paradis in späten Jahren
Gräfin Descutiereux aus Paris glauben darf, so war er ein Genie. Er heilte gelähmte Beine. Fanny hat fassungslos zugehört, was ihr die gnädige Frau über diesen Franz Anton Mesmer erzählt hat. »Waren Sie seine Geliebte, gnädige Frau?« will sie noch wissen. Dicke Tränen rollen der Demoiselle Paradis über die Wangen. Sie schüttelt den Kopf: »Wir haben uns nur umarmt und geküßt. Ich glaube, er wagte nicht mich anzurühren, weil ich so jung war. Und ich hätte es mir so gewünscht. Aber allein seine Küsse waren unvergeßlich.« Mit einem Ruck hat sich Maria von Paradis erhoben. Sie - 83 -
umfaßt die zarte Fanny: »Du mußt mir helfen. Ich ahne Schreckliches. Mesmer ist in Gefahr. Die Wiener Ärzte werden ihn jagen. Sie hassen und fürchten ihn. Wir müssen ihn warnen. Ich aber will ihn nicht sehen. Er glaubt, daß ich durch ihn sehend geworden bin, und er soll nie erfahren, daß ich wieder blind bin. Er ist jetzt siebzig Jahre alt. Er würde es nicht verwinden, daß sein Experiment an mir fehlgegangen ist. Aber Sie, liebe Fanny, Sie können ihm unter die Augen treten. Gehen Sie hin und sagen Sie ihm, Sie kommen von einer lieben Freundin. Er soll sich vor allem vor Doktor Trostheimer in acht nehmen. Der hält seit Jahren hetzerische Vorträge gegen ihn. Und noch eins, Fanny. Mesmer soll nichts unternehmen, was ihn unmoralisch erscheinen läßt. Allzugern würde man ihn in Wien wieder zum Sittenstrolch abstempeln, wie mir die Studenten da draußen beweisen!« Fanny nickt. Sie will Mesmer warnen. Mit glühenden Wangen verläßt sie das Haus. Sie hat in Erfahrung bringen können, wo der Doktor abgestiegen ist. Doch sie kommt niemals zu ihm. Ein tragisches Schicksal vereitelt das Zusammentreffen. Fanny wird von einem Pferdefuhrwerk erfaßt und zu Tode geschleift... Der Wirt vom Gasthof »Zur goldenen Spinne« in der Leopoldstadt windet sich vor Verlegenheit, als die Polizeibeamten sich vor ihm aufpflanzen. Kommissär Zerwitzer fragt scharf: »Stimmt das, daß bei euch ein gewisser Doktor Mesmer aus Paris abgestiegen ist?« »Das stimmt!« klingt die ruhevolle, aber feste Stimme von der Treppe her. Dort steht er: Der siebzigjährige, weißhaarige und vornehme Franz Anton Mesmer, den die Wiener viele Jahre zuvor aus ihren Mauern vertrieben haben, obwohl er so viele Anhänger hatte und etliche Heilungen nachweisen konnte. Doch der Haß der Ärzte ist stärker gewesen. Jetzt blitzen seine Augen kampflustig, als er fragt: »Was wollen Sie von mir, meine Herren?« Kommissär Zerwitzer steht stramm: »Ich soll Ihnen im - 84 -
Namen seiner Majestät mitteilen, daß Sie nicht vergessen mögen, was seinerzeit Ihre kaiserliche Hoheit Maria Theresia beschlossen hat. Nämlich, daß Sie in unserer Stadt nicht befugt sind, Ihren ärztlichen Beruf auszuüben...!« Mesmer winkt gelangweilt ab: »Schon gut, ich weiß! Beruhigen Sie sich und sagen Sie es auch dem Kaiser Franz: »Ich bin nur auf der Durchreise. Möchte gute alte Freunde besuchen und einen Vortrag halten. Mehr nicht.« Kommissär Zerwitzer ist blaß geworden: »Sie werden keine Patienten empfangen und nicht heilen wollen?« »Nein!« »Ja, aber... aber...!« Zerwitzer befiehlt seinen Polizisten, sich in der Wirtsstube hinzusetzen. Dann drängt er den Arzt die Treppe hoch und flüstert: »Doktor, das können Sie uns nicht antun. Meine Frau ist schwer krank. Ich wollte Sie gerade bitten, ob ich sie nicht vorbeibringen dürfte.« Mesmer schmunzelt: »Aber, aber, lieber Kommissär. Was denken Sie denn! Da müßte ich ja all meine Arzneibehelfe, meine Medizin-Wanne, meine Magnetflasche aus dem Reisewagen ins Zimmer bringen. Da würde man mich bald ertappen und bestrafen...!« Der Kommissär fleht den Doktor an: »Bitte, bitte, lassen Sie mich nicht im Stich. Meine Frau hat seit Monaten so schreckliche Unterleibsschmerzen. Sie sind die einzige Rettung. Ich werde ganz verläßliche Wachen aufstellen lassen, die nichts verraten: Mehr noch, die Sie warnen, wenn für Sie Gefahr besteht...!« »Ob die Männer auch wirklich verläßlich sind?« »Sie sind es, Doktor. Ihre Frauen wollen auch von Ihnen geheilt werden. Die eine hat einen Krampf im Unterleib und kann mir ihrem Mann nicht mehr ins Bett steigen. Und die andere leidet unter ständigen Kopfschmerzen und braucht Tag und Nacht Liebe...!« Mesmer verspricht, die Frauen zu heilen. Er empfängt sie schon am nächsten Tag. Sein Gasthauszimmer verwandelt sich in eine düstere Ordination, ganz im Stil Mesmers. Nach eini- 85 -
gen Tagen sind alle drei Frauen nach eigenen Aussagen gesund. Das spricht sich herum. Von überall her strömen die Patienten. Und die Polizisten tun, als ob sie nichts sehen würden. Da trägt eines Tages eine dürre alte Frau ihre Tochter ins Gasthaus »Zur goldenen Spinne«. Das Mädchen ist blaß, kann nicht gehen und nicht einmal auf ihren zarten Beinen stehen. Sie ist gelähmt. Ihr Name: Katherina Wertheimer. Ihr Vater war ein tapferer Offizier in der Armee des Kaisers. Doch er verspielte sein ganzes Hab und Gut und trieb sich mit Dirnen umher. Eines Tages brachte er eine Krankheit nach Hause. Als das Mädchen mit lahmen Beinen zur Welt kam, gab sich der Vater die Kugel. Und die Mutter hatte das Los allein zu tragen. Die alte Frau mit dem verwitterten Gesicht kniet vor Mesmer nieder: »Helfen Sie dem Kind. Sie muß wieder gehen können. Sehen Sie sich das Mädchen an. Ist es nicht hübsch? Wenn Sie geheilt wird, dann wird es Ihnen jeden Wunsch erfüllen...!« Zu diesem Zeitpunkt durchschaut Mesmer noch nicht die Worte der Alten. Er kann ja nicht ahnen, daß die Frau von einem Bediensteten den Auftrag erhalten hat, die Tochter zu Mesmer zu bringen. Der Bedienstete kam von Doktor Trostheimer, und er brachte auch Geld mit. Mesmer nimmt das Mädchen zu sich. Er weiß nicht, daß er in eine Falle tappt... Ein alter Stellwagen rumpelt durch die nächtlichen Praterauen. Jäh wird ein Wagenschlag aufgerissen. Ein kleiner, dicker Mann springt heraus, schnellt ins Gebüsch und leuchtet mit einer Laterne in das verdatterte Gesicht von zwei jungen Frauen. Es sind Praterhuren, die in einer eindeutigen Situation überrascht worden sind. Sie liebkosten einander. »Was treibt ihr denn da, ihr Ludern, ihr verdammten?«, schreit der dicke Mann und zieht ein Papier aus der Tasche: »Polizeikontrolle. Los in den Stellwagen. Da drinnen reden wir weiter!« Die üppige Blondine rafft ihr Mieder hoch. Sie kneift das schwarzhaarige Mädchen, das ihr gut getan hat, noch einmal in den Hintern. Dann steigen beide in den Wagen. - 86 -
»Warum treibt ihr's denn miteinander?« fragt der dicke Mann und betrachtet die beiden mit geilem Lachen. Die Blondine lacht ordinär: »Weil kein Mann gekommen ist. Und ich habe Lust bekommen. Ich tu's ja nicht nur fürs Geld, Opa...!«
Mit Magnetismus und Hypnose heilte Dr. Franz Anton Mesmer in Wien viele Krankheiten
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Der Dicke hat das Wort »Opa« überhört. Er schnarrt böse: »Zur Sache. Ich habe euch als Praterhuren ertappt. Da liegt eine Anzeige gegen Euch vor, daß ihr krank seid. Und gestohlen sollt ihr auch haben!« Die beiden Damen kreischen empört auf. »Es wird euch aber nichts passieren!« meint der Dicke geheimnisvoll. »Wenn ihr tut, was ich euch sage: Da im Wagen sind sehr vornehme Kleider und Schmuck und ein Schminkköfferchen. Ihr werdet euch schön machen und morgen als feine, reiche Damen im Gasthaus >Zur goldenen Spinne< logieren. Ihr geht zum Doktor Mesmer, sagt ihm, ihr hättet schreckliche Migräne, und er müsse euch heilen. Was auch immer er tut, seid einverstanden. Vielleicht gelingt es euch, ihn zu verführen. Und wenn er nicht mitspielt, dann lauft schreiend auf die Straße und sagt, er hätte vor euren Augen das lahme Mädchen, das er bei sich hat, vergewaltigt...!« Die beiden Dirnen sind einverstanden. Der Spaß gefällt ihnen. Und vor allem gefällt ihnen der Geldbeutel, den ihnen der Dicke in den Ausschnitt steckt. Sie wissen längst, daß er nicht von der Polizei ist. Es ist stockfinster im Zimmer von Doktor Mesmer. Die kleine zarte Katherina Wertheimer sitzt mit geschlossenen Augen da. Die Fünfzehnjährige spürt, wie die Hände des Arztes über ihre Knie, über die Waden und über die Zehen streichen. Diese Prozedur dauert nun schon zwanzig Tage. Diesmal aber durchströmt das Kind ein sonderbar glückliches Gefühl. Da wird die Tür aufgerissen. Kommissär Zerwitzer steht blaß vor Mesmer, der ihn unwillig ansieht. »Doktor, Sie müssen weg. Soeben fahren unten etliche Wagen mit Ärzten und hohen Polizeibeamten vor. Militär ist auch dabei. Es heißt, man will sie verhaften. Wegen unzüchtiger Handlungen. Ich versteh das alles nicht...!« Mesmer starrt auf das Mädchen: »Ich muß sie noch heilen. Es dauert nur mehr Minuten. Tür zu!« Der Kommissär gehorcht. Wieder läßt Mesmer seine magnetischen Hände kreisen. - 88 -
Da wird er wieder gestört: Auf dem Korridor hört er zwei kreischende Stimmen: Das sind die beiden Baroninnen, die seit zwei Tagen neben ihm einquartiert sind und sich gegen Migräne behandeln lassen. Was ist nur mit ihnen? Mesmer erhebt sich und öffnet die Tür. Die beiden Baroninnen stehen auf der Treppe. Splitternackt. Mit Striemen am Körper. Vor ihnen haben sich Ärzte und Polizisten gepflanzt. Und eine der Frauen kreischt hysterisch: »Rettet uns vor diesem Teufel. Wir wollten uns gegen Migräne behandeln lassen. Der Doktor aber hält mit uns Orgien ab und hat uns aus Lust gepeitscht. Und das arme, lahme Kind da drinnen, das er unter dem Vorwand festhält, es zu heilen, muß ihm mehrmals am Tag zu Willen sein...!« »Nein... nein ... lieber Gott... laß diese Ungerechtigkeit nicht zu!« Die Worte kommen aus dem Mund der fünfzehnjährigen Katherina Wertheimer. Sie steht neben Mesmer und flüstert plötzlich ergriffen: »Ich kann ja wirklich gehen. Er hat mich geheilt...!« Sie wendet sich zu den Ärzten: »Er hat mich nie berührt, außer um mich zu magnetisieren. Er ist kein Unhold, wie die beiden da behaupten. Sie waren niemals allein bei ihm. Das kann ich beschwören. Ich war immer dabei, wenn er sie hypnotisierte, um sie zu heilen...!« Mesmers Augen leuchten. Katherina kann wieder gehen. Das ist für ihn das Wichtigste. Er küßt das Mädchen auf die Stirn und schließt sich im Zimmer ein. Fieberhaft denkt Kommissär Zerwitzer nach, wie er dem Arzt helfen könnte. Da blickt er ins Gesicht der einen angeblichen Baronin und brüllt vor Lachen auf: »Das ist ein ganz gemeines Gaunerstück, das da gespielt wird. Diese beiden Baroninnen sind nicht echt. Ich kenn die eine. Sie geht auf den Strich, unten im Prater!« Kaum haben die beiden Huren diese Worte gehört, bahnen sie sich kratzend und beißend einen Weg durch die Menge und verschwinden nackt auf der Straße. Sie lassen alles zurück. Auch die Bestechungsgelder im Lederbeutel. In einem Polizeibericht heißt es später: »Hinter der Verleum- 89 -
dung Doktor Franz Anton Mesmers verbirgt sich angeblich ein namhafter Wiener Arzt, dessen Name trotz genauester Untersuchungen niemals ausgeforscht werden konnte. Es war geplant, daß man den Magnetdoktor mit den nackten Huren auf frischer Tat ertappt...!« Franz Anton Mesmer reist noch am selben Tag aus Wien ab und kommt nie mehr in die Donaumetropole zurück. Er kann nicht einmal mehr den Namen der Stadt hören. Auch Maria von Paradis hat er nie mehr gesehen. Er stirbt mit 81 Jahren 1815 in Meersburg. Demoiselle von Paradis erfährt es auf einer Konzertreise in Prag. Sie ist bereits sechsundfünfzig Jahre alt. Sie sagt das Konzert ab und tritt von diesem Tag an nicht mehr auf. Sie stirbt 1824, neun Jahre später. Einen Teil ihres Vermögens vermacht sie Katherina Wertheimer und schreibt dazu: »Vergessen Sie nicht, meine Liebe, daß Doktor Mesmer an Ihnen ein Wunder vollbrachte, auch wenn man noch so schlecht über ihn spricht...!«
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Vermischte, verwirrende Klänge verschiedenster Musikarten dringen in abgerissenen Takten durch die Johannesgasse in der Wiener Innenstadt. Das Durcheinander von Tönen, Gesängen und Tanzschritten quillt aus dem weiten Kellergeschoß des Stadtmagistrathauses, das den Namen »Mehlgrube« trägt. Hier ist Wiens beliebtestes Amüsierlokal untergebracht: die »Mehllucken«. In mehreren Sälen und Zimmern wird nach der Musik, die dort aufspielt, getanzt. Die schönsten Mädchen Wiens drehen sich mit ihren Kavalieren. Solide Bürgermädchen, Halbweltdamen, Aristokratinnen inkognito und so manches Vorstadtmensch. In einer abseits gelegenen Kammer - dem Extrazimmer geht es nicht so ausgelassen wie draußen zu. Der Raum ist nur von einem Kerzenleuchter erhellt, der von sieben Lichtern geziert wird. In den düsteren Ecken kauern auf Polstern Mädchen und Männer. Sie küssen sich und greifen einander flüsternd ab. Nur hin und wieder schreckt ein schriller Schrei oder ein empörter Ruf die anderen auf. In der Mitte steht ein großer Tisch. Darauf steht eine wackelige kleine Drehorgel. Ein spärlich bekleidetes Mädchen dreht an dem Apparat und singt zu einer ausgeleierten Melodie ein altes Bänkellied, das die anderen in erotische Stimmung bringen soll. »Die Räuberbraut vom Wienerwald, die küßt nicht jeden Mann so bald, will nicht zu jedem zärtlich sein, ob Sonnenschein, ob Mondenschein. Sie ist dem Räuberhauptmann treu, die andern sind ihr einerlei. Als man ihn hängt, tut sie's dann doch. Läßt jeden Räuber in ihr Loch...!« Grölendes Lachen rundum. - 91 -
Das Ball-Etablissement Elysium zählte im alten Wien zu den bekanntesten amourösen Treffpunkten
Der Kalender an der Wand zeigt den 16. Mai 1804. Aus einer dunklen Ecke des Raumes klingt die helle Stimme eines Mädchens: »Hört auf mit diesen verdammten Küchenliedern. Braucht ihr denn alle zum Lieben Musik? Es ist doch viel schöner, wenn es still ist und man Männlein und Weiblein grunzen und stöhnen hört!« Der dicke Kaufmann Webermeier, auf dessen Schoß das Mädchen bis jetzt gesessen ist, erhebt sich stöhnend und zerrt die Kleine wieder zu sich: »Komm her! Laß mich deine Brüste küssen. Das tut gut!« »Mehr kannst du nicht?« fragt sie ihn spöttisch. Er stottert vor Zorn: »Ich ... ich ... werd ... werd ... dir schon noch zeigen, was ich alles kann!« Das Mädchen lacht: »Aber ich will nicht warten, bis du so weit bist, Opa...!« - 92 -
Das halbnackte Mädchen, das die Drehorgel betätigt, kichert: »Oho, die Dorninger Steffi wird geil. Da gibt's was zu sehen!« Im Nu sind alle im Raum auf den Beinen. Alle Blicke heften sich auf die schlanke, rassige Maid, die noch neben dem dicken zornigen Kaufmann steht und ihn belustigt ansieht. Die Augen des Mädchens glänzen. Ihre Freunde kennen das. In solchen Situationen ist sie zu jedem Spaß aufgelegt. »Los, Steffi! Zeig, was du kannst. Mach's wieder, damit wir was Schönes sehen!« Die Dorninger Steffi, von der eigentlich niemand weiß, wer sie ist, woher sie kommt und wo sie wohnt, blickt unternehmungslustig in die Runde. »Soll ich wirklich?« Alle nicken und klatschen in die Hände. Rasch ist die Drehorgel vom Tisch weggeräumt. Stefanie Dorninger springt auf die Holzplatte, wiegt die Hüften, knöpft ihr Kleid auf und öffnet das Mieder. Sie zieht sich nicht aus. Sie macht sich nur ihren Unterleib frei, läßt ihre Höschen fallen. Dann legt sie sich flach auf den Tisch, dreht ihren Körper hin und her und verhilft sich selbst zum Höhepunkt. Die Steffi Dorninger macht das nicht zum ersten Mal. Sogar die Polizei hat davon gehört. Sonst wäre es nicht möglich, daß ein Polizeibeamter namens Karl Kraulehner im Jahre 1804 in sein Dienstprotokoll einträgt: »Sie heißt Stefanie Dorninger und ist dem Vernehmen nach eine ganz üble Person, die aus Laune und für Geld alles tut. Sie brüstet sich in Gesellschaften damit, daß sie zur geschlechtlichen Zufriedenheit nicht immer einen Mann oder eine Frau braucht, sondern daß sie sich selbst genug dafür ist. Daraufhin befragt, wollte sie ihre Künste sogleich unserem Kommissär zeigen. Dieser aber ließ die Person abführen. Einen Tag später mußten wir sie jedoch auf höheren Befehl wieder freilassen. Ich habe dem nichts hinzuzufügen ...!« Stefanie Dorninger ist ständiger Gast in der »Mehllucken«. Doch man trifft sie auch in anderen Lokalen an, wo etwas los - 93 -
ist. Sie ist ein leichtes Blut, gibt sich sehr vorlaut und hat keine Angst vor der Polizei und der Sittenbehörde. Wo immer sie dabei ist, kommt es zu Exzessen. Doch sie kann im letzten Augenblick immer flüchten und bleibt ungeschoren. Die einen munkeln, daß sie einflußreiche, vornehme Freunde hat, die anderen flüstern, daß sie's einfach mit jedem Polizisten und Beamten treibt, um sich loszukaufen. Die Dorninger Steffi versetzt die Leute jedenfalls immer in Staunen. Auch an jenem Maiabend im Jahr 1804. Gerade ist sie dabei, ihre Zuschauer im Extrastüberl der »Mehllucken« ein zweites Mal zu amüsieren, da wird die Tür aufgerissen: »Polizeikontrolle! Alles anziehen und raus in den Tanzsaal!« Die Mädchen raffen ihre Kleider hoch. Die Männer ziehen die Hosen zu. Keiner blickt mehr auf den Tisch. Die Steffi liegt noch da. Da zerrt sie ein Mädchen und schreit: »Willst du eingesperrt werden wegen deiner unzüchtigen Handlung?« Die Dorninger lacht laut auf und zieht sich rasch an: »Die tun mir doch nichts. Der Kaiser Franz hat doch nur das Politisieren verboten. Das Vögeln und Onanieren macht ihm nix. Das kann ihm nicht gefährlich werden. Das ist ihm scheißegal. Er hat nur Angst vor einer Revolution. Aber die wird schließlich nicht mit Liebeslust geführt...!« Den anderen bleibt das Grölen im Hals stecken. Wie aus dem Boden gewachsen stehen zwei Polizisten in der Tür: »Warum wird hier so dumm gelacht?« fragt der eine. »Weil wir gut aufgelegt sind und uns des Lebens freuen und weil wir wissen, daß unser lieber Kaiser Franz gesund ist!« meint Stefanie Dorninger und macht einen niedlichen Knicks. Die Polizisten sagen nichts und gehen weiter. Die Dorninger Steffi ist sehr aufgekratzt. Sie stürzt sich ins Tanzgetümmel, als es zur Damenwahl kommt. Sie hat sich einen schwabbeligen Bankier angelacht, der sie schon am Abend vorher mit glänzenden Augen betrachtet hat. Jetzt drehen sich die beiden auf dem Parkett. Er hat nur Augen für die Figur des Mädchens. Er will von - 94 -
ihrem Körper reden. Sie aber - wie sie es immer tut - beginnt zu politisieren. »Sind das elende Kerle, die uns da der Kaiser immerfort ins Haus schickt. Jetzt kann man nicht einmal mehr in Ruhe tanzen und küssen. Überall sind diese verdammten Naderer vom Hof. Der Kaiser ist doch ein rechter Feigling. Hat Angst vor seinem Volk. Ein unnötiger Kautz, der uns nur Geld kostet!«
Stefanie Dorninger, Findelkind und »Naderin« des Kaisers
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Der Bankier hält dem Mädchen den Mund zu und sieht ängstlich nach allen Seiten: »Nicht doch, Steffi. Es ist ja wahr, was du sagst. Aber man darf das nicht so hinausposaunen. Sonst ist man gleich verhaftet. Der Kaiser hat überall seine Spione.« Die Steffi hält im Tanzen inne. Ihre Augen funkeln: »Ihr seid alle zu feig, die Wahrheit zu sagen und zu ihr zu stehen. Ich sag's laut, daß ich den Kaiser nicht mag. Und wer meiner Meinung ist, der sollte auch so mutig sein!« Die anderen ringsum sehen weg. Sie wollen sich nicht äußern. Nur der Bankier ist durch einen Blick in den knusprigen Busenausschnitt seiner Tänzerin verwirrt worden. Er wirft sich in die Brust und ruft, vom Alkohol benebelt: »Es lebe die Revolution und Napoleon Bonaparte. Die beiden werden auch uns eines Tages befreien!« Dann dreht er sich zur Steffi und ist stolz, weil sie ihn anlacht. Er flüstert: »Und jetzt darf ich mit dir zur Belohnung eine Porzellanfuhre fahren!« Die Steffi nickt gnädig. Sie nimmt den Bankier an der Hand und zieht ihn aus dem Tanzsaal. Sie weiß, daß draußen vor der »Mehllucken« allnächtlich zahlreiche Kutschen warten, die für sogenannte »Porzellanfuhren« gedacht sind. Ein Pärchen mietet die Kutsche, ruft dem Kutscher »Porzellanfuhre« zu, und der gute Mann weiß: Er muß ganz langsam fahren, als hätte er Porzellan geladen, weil sich seine Fahrgäste lieben wollen. Steffi und der Bankier Liebenthal sind auf der Straße und streben einem der fahrenden Stundenhotels zu. Dicht hinter ihnen verläßt ein älterer Herr die »Mehllucken«. Er folgt den beiden und pfeift aus einem Pferdewagen vier junge Kriminalbeamte herbei. Die Steffi hat vor dem Tisch des Herrn, als sie mit ihrem Kavalier vorbeikam, ein Zetterl fallen lassen. Darauf steht nur: »Ein Kaiserfeind«. Das genügt. Die Porzellanfuhre ist schon außerhalb der Stadtmauer im Grünen. Jetzt hält der Wagen an. Die Steffi liegt lockend auf dem Boden der Kutsche. Der Bankier beugt sich keuchend über sie. Ihr ekelt vor ihm. Doch sie verfolgt ein bestimmtes Ziel. Sie flüstert ihm zu: »Haßt du den Kaiser wirk- 96 -
lich so? Wenn ja, dann sag mir's, wenn du mich liebst. Das macht mich ganz verrückt!« Da legt der Bankier los. Während er den jungen, verführerischen Körper des Mädchens immer wieder betastet, stößt er unflätige Flüche gegen Kaiser Franz I. aus. Plötzlich wird die Wagentür aufgerissen: »Im Namen des Kaisers. Du bist verhaftet. Du hast dich als Verräter und Feind Seiner Majestät entpuppt. Raus ...!« Mit angstgeweiteten Augen läßt sich der Bankier Liebenthal abführen. Er weiß, daß er eine harte Zeit durchstehen muß, daß es zu einem Prozeß kommen wird und daß er vielleicht für immer erledigt ist. Auch das Mädchen tut ihm leid. Er dreht sich um. Er sieht sie nirgends. Er fragt einen Polizisten: »Was ist mit dem Mädchen, das bei mir war?« Der Beamte macht eine abfällige Bemerkung: »Das Flittchen ist uns entkommen. Die finden wir noch!« Noch immer weiß der Bankier nicht, daß dieses Mädchen ihn an die Häscher des Kaisers ausgeliefert hat, daß sie ihn in die Falle lockte. Denn Steffi Dorninger ist nichts anderes als eine Spionin des Kaisers. Die einzige weibliche Naderer-Figur im alten Wien, die selbst nicht davor zurückschreckt, in den Betten der Wiener Bürger nach deren Kaisertreue zu forschen. Sie tut's gern, weil sie eine Dirne aus Passion ist. Und sie tut's gern, weil sie der Kaiser dafür fürstlich belohnt. Franz I. blickt auf die schöne junge Frau, die sich vor ihm zu Boden wirft und seine Schuhe küßt. Insgeheim gefällt es ihm. In einer Zeit, da er so viele Feinde um sich weiß. »Majestät geben mir die Ehre, einmal persönlich unter Eure gnädigen Augen treten zu dürfen. Was ist Euer Befehl?« fragt Steffi Dorninger leise und blickt zu Boden. Der Kaiser - von Natur aus schwerfällig und unkonzentriert muß lange nachdenken, ehe er die richtigen Worte findet: »Ich hab Euch rufen lassen, weil es diesmal einen besonders wichtigen Auftrag zu erfüllen gibt, den ich nicht durch Boten überbringen lassen möchte. Wenn auch meine Gemahlin sehr dagegen war, daß ich ein Mädchen empfange, das einen sehr - 97 -
schlechten Ruf in ganz Wien hat und so empörende Liebespraktiken an den Tag legt.« »Aber Majestät«, murmelt die Dorninger. »Diese meine Eigenschaften kommen in erster Linie Euch zugute. Was immer ich auch tue. Ich denke dabei an Eure Majestät und wie sehr ich Euch verehre und schätze!« Franz I. winkt ab und beginnt mit seinem Auftrag: »Sie bekommt morgen per Boten eine Karte für das k. u. k. Theater an der Wien. Sie wird sich hübsch anziehen und hingehen. Zu Ihrer Rechten wird ein hübscher junger Mann sitzen. Ein Bildermaler namens Anton Möllhammer. Er schart viele kaiserfeindliche Elemente um sich und malt angeblich Bilder wider mich. Das soll Sie herausbekommen. Wir wollen den Möllhammer inmitten seiner staatsgefährdenden Bilder verhaften. Mach Sie mit ihm, was Sie will, Dorningerin. Aber liefer Sie ihn uns aus. Das ist das Sonderhonorar dafür.« Der Kaiser fischt ein Säckchen mit Geld vom Schreibtisch und wirft es der Steffi hin. Sie fängt es auf, macht einen Knicks und entfernt sich im Rückwärtsgang aus dem Zimmer. Als sie draußen ist, hellen sich die sonst so teilnahmslosen Augen des Herrschers auf, als er vor sich hinflüstert: »Herrgott, das ist ein Teufelsweib. Einmal möcht ich mein eigener Feind sein und mich von ihr verführen lassen. Unter diesen Umständen muß ja das Verhaftetwerden durch meine Polizei direkt eine Freud sein ...!« Das k. u. k. Theater an der Wien ist bis auf den letzten Platz besetzt. Man gibt ein Singspiel. Es ist gerade große Pause. Die meisten Theaterbesucher lustwandeln auf den Korridoren oder erfrischen sich am Buffet. Nur Kaiser Franz I. und seine Gemahlin Karolina Augusta sind in der Hofloge geblieben. Der Kaiser hat sein Opernglas in die Publikumsreihen gerichtet und lächelt: »Sie hat ihn schon in der Falle, dieses verdammte Weib!« Tatsächlich: Steffi Dorninger und der junge Malter Anton Möllhammer sind bereits tief ins Gespräch verstrickt. Der Wiener Künstler ist von dem rassigen Mädchen fasziniert. Sie wirkt auf ihn ungeheuer anziehend. Sie reden von allem Möglichen. - 98 -
Das k. u. k. private Theater an der Wien im Jahr 1804. Hier arbeitete Stefanie Dorninger auf Befehl des Kaisers als Spionin
Er merkt mit Freuden, daß sie gegen den Kaiser ist. Auch er ist gegen den Monarchen und sein Regime, wie sein Freundeskreis. Umso lieber lädt er das Mädchen nach dem Theater in ein Gasthaus zum Essen ein. Es bleibt nicht dabei. Sie kommt mit ihm ins Atelier. Sie bewundert seine Bilder. Sie läßt sich widerstandslos ausziehen. Sie streift die Kleider ab und merkt zum erstenmal, daß sie ihre eigentliche Aufgabe vergißt. Die Dorninger Steffi hat sich in den Maler verliebt. Sie läßt sich von ihm lieben. Mehr noch. Sie zeigt ihm die Raffinessen der Liebesspiele, die sie in vielen Jahren erprobt hat. In einem Tagebuch des Malers Anton Möllhammer, das man erst, als er längst tot ist, findet, kann man nachlesen: »Ich habe ein Mädchen kennengelernt, das ein bewegtes Leben hinter sich hat. Sie ist kein Engel und keine Jungfrau. Sie scheint mir fast ein wenig zu erfahren zu sein. Sie lehrte mich in unserer ersten Nacht Dinge, von denen ich eigentlich nie geträumt hatte. Doch mir gefiel das alles. Und ich weiß genau: - 99 -
Es ist nicht die reine Lust. Ich liebe sie auch von ganzem Herzen...!« Drei Wochen lang kommt die Steffi täglich ins Atelier des Malers. Sie versucht, die Polizeispitzel, die sie drängen, hinzuhalten. Sie findet die unmöglichsten Ausflüchte. Dann aber ist der Tag der Entscheidung gekommen. Steffi Dorninger meldet ihrem kaiserlichen Vertrauensmann: »Anton Möllhammer ist kein Kaiserfeind. Er tat keine einzige gegnerische Äußerung. Alles glatte Verleumdung!« Da antwortet ihr der »Naderer«, der mit ihr Kontakt hält: »Das ist nicht wahr. Wir haben Beweise, daß er einer Revolutionsgruppe angehört. Sorge dafür, daß er seine staatsfeindlichen Bilder nicht versteckt. Wir werden ihn heute nacht verhaften!« Wie im Fieber rennt die Steffi zu ihrem Anton. Sie fliegt ihm um den Hals: »Ich bitte dich Anton, glaub mir! Du bist in Gefahr. Man will dich verhaften. Fliehe aus Wien. Verbrenne die Bilder.« Er aber lacht. Die beiden lieben sich. Anton schläft ein. Da rafft sich Steffi Dorninger auf, holt alle gefährlichen Gemälde zusammen und schleppt sie auf die Straße, hält eine Kutsche an und verlädt die Bilder. Als sie das letzte Bild die Treppe hinunterträgt, kommen die Polizisten. Einer der Naderer, der sie kennt, reißt ihr das Bild aus der Hand und ohrfeigt sie: »Ach so ist das! Die Spionin des Kaisers hat sich in einen Staatsfeind verliebt. Sie ist eine Verräterin geworden. Da können wir mit dem Verhaften gleich bei ihr anfangen!« Die Steffi wird gepackt und in den Polizeiwagen gedrängt. Sie schreit dabei. Anton Möllhammer wird dadurch wach. Sofort erkennt er die Situation. Er steigt durchs Fenster aus der Wohnung und flüchtet. Er verläßt noch in derselben Nacht Wien und alarmiert seine Freunde, um auch sie vor einer Verhaftung zu bewahren. Das Mädchen, denkt er, wird sicher heil herauskommen. Sie ja nichts getan. Er weiß ja nicht... Steffi Dorninger wird vernommen und wieder entlassen. Man bestraft sie nicht. Doch sie ist in Ungnade gefallen. Sie - 100 -
wird als polizeibekannte Hure gestempelt und darf sich in vornehmen Lokalen nicht mehr blicken lassen. Mit ihrem süßen Leben ist es aus. Eine echte Liebe hat sie ruiniert. Doch sie ist glücklich, daß sie den einzigen Menschen, den sie wirklich liebte, retten konnte. In den Wiener Polizeiprotokollen des Jahres 1804 findet man an mehreren Stellen Notizen über Stefanie Dorninger. Angeblich war sie ein Findelkind, wuchs in einer kinderreichen Familie auf und wurde von einer Koberin zur Dirne erzogen. Durch ein Verhältnis mit einem Grafen schaffte sie dann die Beziehung zum Hof. So wurde sie eine Naderin ganz besonderer Art. Jahre später. Napoleon ist mit seinen Soldaten über Wien hinweggefegt. Es geht wieder friedlich in der Stadt zu. Die rosenbergschen Säle in der heutigen Piaristengasse Nummer 26 sind der Treffpunkt von allerlei unternehmungslustigem und zwielichtigem Gesindel. Es wird getanzt, geküßt und geliebt. Jeden Abend. Jede Nacht. Zum Tanzen gibt es Parketts, zum Lieben Strohsäcke in allen dunklen Ecken. Hier findet man Dirnen aller Preiskategorien, von der Fünfkreuzerhure bis zur Vorstadtschönen, die einen Gulden und mehr verlangt. Im Morgengrauen sitzt auf einem der Strohsäcke betrunken ein verlebtes Mädchen, das einst schön gewesen sein muß. Plötzlich bleibt ein gutaussehender Mann vor ihr stehen, kniet sich zu ihr nieder und ruft aus: »Ja, ist denn das möglich, Steffi, Steffi, bist du's? Oder siehst du ihr nur ähnlich?« Steffi Dorninger zittert vor Erregung. Vor ihr steht Anton Möllhammer, der Maler, den sie immer noch liebt. Doch sie will nicht, daß er erfährt, daß sie hier als billige, kranke und trunksüchtige Dirne gelandet ist. Sie sieht ihn traurig an und meint: »Ich bin nicht die Steffi. Ich bin ihre Zwillingsschwester. Die Steffi ist ein braves Mädchen geworden. Sie ist ins Kloster gegangen. Deinetwegen...!« Der Maler umarmt die Hure und geht dann aus dem Lokal. Er geniert sich nicht, daß er weint. Aber er weiß nicht, daß das Mädchen da drinnen stundenlang weinen wird, weil ihr Herz nun völlig zerbrochen ist... - 101 -
Wiener Innenstadt. Mölkerbastei Nummer 8. Spätsommer 1804. Aus einem der Fenster des hübschen Bürgerhauses klingt zaghaftes Klavierspiel. Ungeschickte Hände klimpern über die Tasten. Am Flügel sitzt ein schlankes, blondes Mädchen, angetan mit einem dunkelblauen Matrosenkleid. Immer wieder starrt es auf die Noten und versucht, dem Klavier harmonische Töne zu entlocken. Vergebens, Marianne, die sechzehnjährige Tochter des Grafen Mangold, hat kein Talent für Musik. Auch der Klavierlehrer der Kleinen hat das längst gemerkt. Er ist niemand Geringerer als der im Jahr 1795 aus Bonn nach Wien übersiedelte Meister Ludwig van Beethoven. Er durchmißt zornig sein Zimmer und hält sich zeitweise die Ohren zu. Warum hat sich der Graf Mangold auch unbedingt in den Kopf gesetzt, seine Tochter müsse bei Beethoven Klavierspielen lernen? Beethoven kann nicht mehr. Es tut ihm weh, wie das Kind die Tasten massakriert. Er macht kehrt und verläßt den Raum. Stöhnend läßt er sich im Nebenzimmer an seinem kleinen Schreibtisch nieder. Plötzlich horcht er auf. Draußen ist es plötzlich still geworden. Marianne spielt nicht mehr, obwohl sie noch lange nicht zu Ende ist. Da hört Beethoven die Schritte seiner Schülerin. Er springt auf, eilt zur Tür und läßt sie aufschwingen. Er traut seinen Augen nicht. Was er vor sich sieht, läßt ihn starr wie eine Säule stehenbleiben. Das 16jährige, bildschöne Mädchen hat sich vollkommen entkleidet. Es steht splitternackt mitten im Raum. Die Kleider liegen überall wild verstreut auf dem Boden. - 102 -
Beethoven muß sich sehr zusammennehmen. Die Kleine sieht so aus, wie sich der große Musiker - der eben 34 Jahre geworden ist - das Idealbild einer Frau vorstellt: schlank, anmutig, ein wenig kindlich mit knabenhafter Figur, die jedoch feste, hübsche, wenn auch nicht sehr große Brüste aufweist. »Was soll das? Sind Sie verrückt... ?« Beethoven preßt die Worte erregt hervor und sieht das Mädchen wohlgefällig an. Sie streckt Beethoven sehnsüchtig die Arme entgegen und flüstert aufgeregt: »Meister, bitte, nehmen Sie mich als Ihre Geliebte. Ich vergehe vor Sehnsucht nach Ihnen. Ich liebe Sie. Mein Körper drängt nach Ihnen hin. Nur deshalb habe ich meinen Vater gebeten, daß ich bei Ihnen Klavierunterricht nehmen darf. Ich wollte in Ihrer Nähe sein...!« Marianne Mangold will auf Beethoven zustürzen. Der Musiker weiß, daß das gefährlich ist. Er kann so jungen, zarten Dingern einfach nicht widerstehen. Darum schlägt er zwischen dem Mädchen und sich die Zimmertür zu und brüllt, daß man es bis auf die Straße hören kann: »Raus, gräfliche Hoheit. Verlassen Sie das Musikzimmer und ersparen Sie mir eine weitere Unterrichtsstunde. Ich lasse mich bei Ihrem Vater empfehlen ...!« Einmal versucht es das Mädchen noch zaghaft: »Kommen Sie, Meister. Ich warte auf Sie. Niemals wird ein Mann all das zu sehen und zu spüren bekommen, wenn Sie mich jetzt wegjagen wie einen räudigen Hund.« Sekunden später steht Beethoven vor ihr. Er sieht sie an, streicht ihr mit seinen zarten, gefühlvollen Händen über ihren mädchenhaften Körper und murmelt: »Geh, schönes Mädchen, ehe ich vergesse, daß ich der Beethoven bin und daß du noch ein Kind bist!« Dann tritt er einen Schritt zurück und wird hochrot im Gesicht und schreit: »Raus, du schamloses Wesen. Genier dich ob deines Benehmens!« Die 16jährige Marianne zieht sich wieder an. Sie tut es aufreizend und langsam. Sie merkt, wie Beethoven dabei aus der Fassung gerät. Dann geht sie und sagt kein Wort. Nur ein kurzer Knicks an der Tür. Sie ist enttäuscht. Sie hat anderes erwar- 103 -
tet. Sie hat ihren Freundinnen schon angekündigt, daß sie im Begriff sei, die Geliebte des Musikers Beethoven zu werden... Man erfährt von dieser Episode, weil Beethoven in seiner Erregung sofort seine Wohnung auf der Mölkerbastei verläßt und zur nächsten Wachstube rennt. Und dort wird ein Protokoll aufgenommen, das später jedoch unter Verschluß gebracht wird. Erst nach Jahrzehnten stoßen Historiker darauf. Aber auch sie machen nur zaghaften Gebrauch, weil sie den Namen Beethoven nicht mit derartigen Sittenskandalen in Zusammenhang bringen wollen. Beethoven gibt an jenem Spätsommertag des Jahres 1804 zu Protokoll: »Die Kindsperson mit Namen Marianne, ihres Zeichens Tochter des Grafen Mangold, der meine Musik überaus schätzt, wollte mit mir in sehr enge Beziehung treten und mich allen Ernstes dazu verleiten, sie zu meiner Geliebten zu machen. Sie wollte die Musikunterrichtsstunde, derentwegen sie zu mir geschickt wurde, zu Liebesstunden verändern, was mich zutiefst schockierte, wenngleich ich zugeben muß, daß es sich um ein recht appetitlich Weibchen handelte ...!« Doch Beethovens Besuch bei der Polizei fällt nicht so aus, wie es sich der Meister vorstellt. Macht doch der diensthabende Beamte eine Aktennotiz, die da lautet: »... wird wohl noch genauer zu untersuchen sein, inwieweit die Erzählungen des Meisters Beethoven auf der Wahrheit beruhen. Es hat mit diesem Beethoven schon etliche Schwierigkeiten gegeben.« Beethoven merkt bald, daß die Beamten die Geschichte mit mildem Lächeln der Ungläubigkeit registrieren. »Sie glauben mir wohl nicht?« Der Beamte zuckt mit den Achseln und schmunzelt gekünstelt. »Das ist so, Herr van Beethoven. Wir haben da so viele Anzeigen gegen Sie vorliegen, die alle davon erzählen, was für ein unangenehmer Zeitgenosse und Hausbewohner Sie sind. Nichts ist Ihnen recht. Sie streiten mit den Hausparteien. Und einmal haben Sie, als Sie musizierten, den Sohn der Hausmeisterin, der ihre Komponiererei mit lautem Schreien störte, an den Ohren gezogen...!« - 104 -
Gräfin Therese von Brunswick war Beethovens Geliebte
»Ja, aber«, braust Beethoven auf, »was hat denn das mit meiner Meldung über das junge ungezogene Mädchen zu tun?« »Ganz einfach: Einem Mann, der - wie man hört - dem feindlichen und gefährlichen Napoleon huldigt und ihm sogar ein Musikstück widmet, dem muß man nicht alles glauben. Es könnte ja auch sein, daß Sie das Mädchen verführt haben und sich jetzt nur herausreden wollen, falls das Kind daheim etwas erzählt.« Beethoven verläßt niedergeschlagen und enttäuscht die Wachstube. Wieder einmal spürt er, wie fremd ihm die Kaiserstadt Wien eigentlich ist, obwohl er sie sich zur zweiten Heimat ausersehen hat. Als er auf die Straße tritt, flüstert eine der beiden Frauen, die als Zeuginnen für einen Diebstahl vorgeladen sind, der anderen zu: »Da schau, das ist doch der Beethoven, euer Mie- 105 -
ter! Was hat denn der ausgefressen, weil er auf der Polizeiwache war?« Die Hausmeisterin vom Haus Mölkerbastei runzelt die Stirn. Dann drückt sie ihren rundlichen Körper durch eine Tür, wo sie einen Bekannten sitzen hat. Er erkundet für sie, warum der Beethoven da war. Siegessicher kehrt sie zu ihrer Freundin zurück: »Schau, schau, der Meister Beethoven. Da war irgendeine unerfreuliche Geschichte mit einem jungen Mädchen, einem sechszehnjährigen jungen Ding. Wenn Sie mich fragen, so hab ich mir immer schon gedacht, daß er ein Sittenstrolch ist. Auch wenn er was von Musik versteht...!« Die böse Zunge der Hausmeisterin, die dem Meister nie verzeihen kann, daß er ihren Sohn an den Ohren gezogen hat, bringt es zuwege, daß man bald rund um die Mölkerbastei eine vollkommen entstellte Geschichte erzählt: Beethoven sei ein Kindesverführer. Er hätte es auf die jungen Schülerinnen abgesehen und wäre von der Polizei verwarnt worden. Natürlich ist nichts dergleichen wahr. Doch die Nichte der Hausmeisterin spielt bei der Intrige gegen den unliebsamen Mieter, der des Nachts immer so laut am Klavier komponiert, mit. Sie verbreitet überall: »Eines Tages hat er mich in sein Musikzimmer gelockt, unter dem Vorwand, mir ein Lied vorzuspielen. Dann aber hat er abgeschlossen, mir die Kleider vom Leib gerissen und mich mit brennender Begierde zur Frau gemacht...!« Die Tratschereien werden bald so arg, daß tatsächlich einige Beamte der Polizeisittenkommission eingesetzt werden, um den Gerüchten nachzugehen. Die Männer bekommen heraus, daß Beethoven tatsächlich viele junge Mädchen aus Adelskreisen im Klavierspiel unterrichtet und daß die meisten der jungen Damen in den Meister verliebt sind. Und, daß sie alle dem Idealbild des Musikers entsprechen, also schlank und knabenhaft sind. Mehr aber ist nicht herauszubekommen. Beethoven erweist sich selbstverständlich - wie man es erwartet hat - als moralisch einwandfrei. Die Hausmeisterin ist von diesem Tag an, an dem die Polizisten ein ernstes Wort mit ihr reden, besonders nett und zuvor- 106 -
kommend zu dem Musiker. Sie hat Angst, er könnte sie belangen. Ihm ist nämlich zu Ohren gekommen, daß ihn die Frau andern gegenüber einmal einen »Sittenstrolch« nannte. Einem Freund erklärt Ludwig van Beethoven aber lachend: »Warum soll ich die einfache Frau vor den Richter zitieren? Die hat eine viel größere Strafe, wenn sie allabendlich meine Musik durch die dünnen Wände des Hauses mithören muß. Sie mag nämlich nur Bänkellieder...!« Wenn ein berühmter Mann all die Jahre allein bleibt und nicht heiratet, gibt das meist Anlaß zu verschiedensten Vermutungen. So ist es auch bei Ludwig van Beethoven. Wollte man ihn zuerst zum Kinderschänder stempeln und zum Mädchenverführer machen, so tippt man eines Tages in eine ganz andere Richtung: Man flüstert sich in Wiener Gesellschaftskreisen Verschiedenes über Beethoven zu. Der Anlaß: Eine Gräfin bei Hof weiß zu erzählen, daß Beethoven mit aller Gewalt heiraten möchte. Sie meint: »Sicher aus gesellschaftlichen Gründen, weil es sich eben gehört, in einer Familie zumindest eine Frau zu haben!« Doch alle Heiratsbemühungen des Meisters gehen schief. Er hält um die Hand der deutschen Opernsängerin Magdalena Willmann an. Er bekommt einen Korb. Er will die Tochter seines Freundes und Leibarztes Malfatti zur Frau nehmen. Sie lehnt ab. Die Schriftstellerin Bettina Brentano erweckt die Begeisterung des Musikers. Aus dieser Zeit gibt es leidenschaftliche Briefe, die die beiden einander schreiben. Doch die Liebe geht auseinander. Die Berliner Opernsängerin Amalie Sebald übt auf den Musiker eine unendliche Faszination aus. Doch nach kurzer Freundschaft zieht sie sich zurück. Alle Frauen verehren den Künstler. Wenn es aber darauf ankommt, ihn zum Ehemann zu nehmen, dann will ihn keine. Ein Mann von einer derart geistigen Bedeutung - und dieser Bedeutung war er sich selbst jederzeit bewußt - stellt natürlich große Ansprüche an Schönheit, Jugend, Bildung und höhere gesellschaftliche Stellung. Die Damen, die da in Betracht kommen, oder deren Eltern stellen aber auch ihrer- 107 -
seits ihre Ansprüche für eine Eheschließung. Doch in jüngeren Jahren fehlten dem guten Beethoven Vermögen, Rang und Ansehen beim Adel. Und als er später reich und angesehen ist, wird er schwer krank. Seine fortschreitende Taubheit ist ein neues Handicap. Die ideale Frau, in der sich aufrichtige Liebe mit psychotherapeutischer Kunst vereinen hätte müssen, um Beethoven glücklich zu machen, findet sich nicht. Doch das war sicher ein Glück. Ein von zarter Frauenhand gezähmter Beethoven hätte nicht die Kraft für derart grandiose musikalische Schöpfungen gehabt. Im Jahr 1804 sieht man Beethovens Liebesprobleme anders. Die Leute munkeln gar Vieles über ihn. Und dann gerät Beethoven erneut ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Man bezichtigt ihn des öfteren der Ehestörung... Es ist Freitagmorgen. Die Musikwelt Wiens trifft sich in den Salons des Fürsten Lichnowsky. Im Mittelpunkt des Interesses: Ludwig van Beethoven. Er hat angekündigt, heute ein paar neue Sachen zum Vortrag zu bringen. Beethoven ist Stammgast in jenem Musikkreis. Und das hat seinen besonderen Grund: Er und die Frau des Fürsten Carl von Lichnowsky sehen einander gern. Das geht aus einem Brief hervor, den Beethovens Jugendfreund Wegener aus Bonn nach Wien schreibt: »Ich bitt dich, Beethöverl, sieh dich vor! Weiber können einem in gefährliche Situationen bringen. Und vor allem verheiratete Weiber. Laß dich in keine Falle locken. Dann bis nämlich am Ende du allein der Schuldige ...!« Beethoven schreibt unter anderem zurück: »Die Fürstin kümmert sich sehr um mich. Das gefällt mir natürlich, wenn's auch manchmal ein bißerl arg ist, wie sie mich für sich beansprucht. Es fehlt nur wenig, daß die Fürstin eine Glasglocke über mich machen ließe, damit mich niemand anderer berühre oder mich nur anhauche...!« Man flüstert in Wien, daß der Fürst Lichnowsky nicht aus eigenem Antrieb die Druckkosten für Beethovens Komposition - 108 -
Opus I - drei Trios für Klavier, Violine und Violoncello bezahlte, damit der Verlag es herausbrachte, und daß er dem Musiker ein Honorar bezahlte. Man sagt, die Fürstin wäre ihrem Mann solange in den Ohren gelegen, bis er ihrem Wunsch nachgab. Was zwischen Beethoven und der Fürstin wirklich war, erfährt man nie. Es gibt nur sehr spitzzüngige Tagebuchaufzeichnungen von adeligen Angehörigen des FreitagmorgenMusikkreises, die von einem regelrechten Verhältnis sprechen. Jedenfalls ist Fürst Lichnowsky heilfroh, als Beethoven bei einem seiner Hauskonzerte die gräfliche Familie von Brunswick kennenlernt. Der Graf stellt dem angesehenen Musiker seine Schwestern Therese und Josephine vor. Beethoven verliebt sich Hals über Kopf in die Gräfin Therese. Der berühmte Brief des Komponisten, der »An die unsterbliche Geliebte« gerichtet ist, gilt ihr. Man findet dieses dreiteilige, mit Bleistift geschriebene Dokument einer großen Liebe erst nach dem Tod des Musikers; und zwar in einem Geheimfach seines Schreibschrankes. Für viele Musikgelehrte gibt es keinen Zweifel, daß Therese von Brunswick damit gemeint ist. Beethoven widmet ihr auch seine wundervolle Fis-Dur-Sonate Opus 78. Er verbringt mit ihr wunderschöne Tage auf dem gräflichen Schloß in Martonvásár während des Kriegssommers 1809. Es ist heute mit Sicherheit anzunehmen, daß Beethoven seine gräfliche Schülerin, die ihn sehr verehrte, zur Geliebten hatte. Die Wiener zerreißen sich darüber den Mund. Beethoven gibt auch den innigen Kontakt zu der bewunderten Frau nicht auf, als sie verheiratet ist. Beethovens Jugendfreund Wegener schreibt in seinen »Erinnerungen« dazu folgendes: »Ich hab dem Ludwig oft und oft klargemacht, daß er sich vor Ehestörungen in acht nehmen möge. Er aber hat mir geantwortet: »Ich kann doch niemals eine Ehe stören, die nur auf dem Papier, aber niemals in Wahrheit existiert. Das ist doch Blödsinn...!« Eines Tages treffen sich Beethoven und die Gräfin Therese - 109 -
Ein Ausschnitt aus Beethovens berühmtem Brief an die »Unsterbliche Geliebte« - 110 -
von Brunswick nicht mehr. Wie es zu dem plötzlichen Ende der Liaison kam, ist nicht bekannt. Beethoven stürzt sich neuerlich in die Wiener Adelsgesellschaft und will immer wieder sein »van« als Adelsprädikat auslegen. Er mag die Hofluft. Und er macht eine neue Bekanntschaft dabei. Es ist die schöne Komtesse Julie von Guicciardi. Er widmet ihr seine »Mondscheinsonate« Opus 27 Nr. 2, obwohl sie ursprünglich nicht für sie geschrieben wurde. Die Zuneigung der beiden zueinander ist überaus groß. Das geht aus verschiedenen Chroniken hervor. Dennoch reicht die Liebe nicht zu einer Heirat. Der Standesunterschied ist zu groß. Am 2. November 1803 heiratet Julie von Guicciardi den Ballettkomponisten Graf Gallenberg. Am selben Tag meint Beethoven zu seinem Freund Zmeskall trocken: »Was nicht zu ändern ist, darüber kann man nicht zanken!« Zwei Wochen nach der Hochzeit aber passiert ein Skandal, der Beethovens Ruf als Ehestörer wieder anfacht. An einem trüben Frühlingsabend holpert eine Kutsche über die Feldwege der Wieden. Drin sitzt ein Onkel des Grafen Gallenberg mit einer Cousine der Komtesse Julie. Die beiden müssen einen Krankenbesuch absolvieren. Plötzlich streiken die Pferde. Sie gehen einfach nicht weiter. Als der Kutscher die Peitsche benützt, werden die Tiere rabiat, zerren die Kutsche in den Graben und verhängen sich im Gestrüpp. Die Verwandten des Ehepaares Gallenberg steigen aus. Sie schlendern durch die Natur. Der Kutscher hat versprochen, sie zu rufen, wenn der Wagen wieder fahrbereit ist. Der Onkel des Grafen Gallenberg und die Cousine der jungen Gräfin biegen um die Ecke und wollen sich eben auf einem umgesägten Baum niederlassen, da starren sie wie in einem Traum durchs Geäst auf eine Waldlichtung. Sie können es einfach nicht fassen: Was sie sehen, schnürt ihnen die Kehle zusammen. Mitten im Gras vor ihnen ertappen sie auf frischer Tat Beethoven und die junge Gräfin. Dieses Abenteuer bleibt nicht ungeahndet. Gegen Beethoven - 111 -
wird die Ehestörungsklage eingebracht. Kaiser Franz I. ist ärgerlich. Er wirft den Akt, den man ihm vorlegt, zu Boden und tritt darauf ein. »Was soll ich tun? Warum hat man nicht eher etwas gegen diese dumme Geschichte unternommen?« Der Adjutant des Kaisers steht stramm: »Majestät, es war nichts zu machen. Dieser Beethoven scheint es wirklich faustdick hinter den Ohren zu haben. Er kannte die Gräfin schon von früher her!« Franz I. schüttelt den Kopf: »Ja, aber muß er sich denn justament auf der Wieden mit ihr ins Gras legen?« »Dann sollen wir also die Ehestörungsklage an die Justiz weiterleiten?«, fragt der Adjutant. »Nein!« Der Kaiser sagt es scharf und laut. »Sie sind wohl nicht bei Trost! Ludwig van Beethoven ist derart berühmt, ein weltbekannter Meister, der unserer Stadt nur Freunde bringt. Den können wir doch vor der Öffentlichkeit nicht so hinstellen. Der Akt über diese Angelegenheit muß verschwinden. Alle Beteiligten sind zu instruieren, daß sie die Geschichte vergessen. Der Beethoven ist eben ein Künstler. Diese Leut muß man mit anderen Maßstäben messen. Aber ich bitt Sie, gehen S' hin zu diesem Kompositeur und bitten S' ihn händeringend, daß mir so was nicht mehr vorkommt: Keine Mädchen- und Frauengeschichten. Und wenn er's schon nicht lassen kann, sich mit einem verheirateten Weibsbild zu treffen, dann soll er's gefälligst net in Wien tun. Soll er von mir aus nach Baden gehen. Da ist er ohnehin so gern ...!« Die Ehestörungsklage verschwindet urplötzlich in den Geheimarchiven des Kaiserreiches. Durch geschickte Berichte und Meldungen wird Beethoven als genialer Musiker ohne Affären aufgebaut. Bald glaubt ganz Wien wirklich daran, daß der Meister über alle weltlichen Genüsse erhaben ist und nur für seine Musik lebt.
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Die fahle Scheibe des Mondes steht noch am nächtlichen Himmel über der Schwarzlackenau bei Jedlsee im späteren WienFloridsdorf. Nahe dem Ufer der unregulierten Donau stehen Militärzelte. Soldaten des Kaisers Franz I. haben hier ihre Ersatzlager aufgeschlagen. Noch herrscht Krieg ringsum im Land. Napoleon Bonaparte befindet sich zwar bereits seit 15. November 1805 mit seinen Truppen in Wien, doch die Österreicher und ihre verbündeten Mächte geben nicht auf. Es ist der 2. Dezember 1805. In der Mitte des Soldatenlagers flackert ein Feuer. Hinter einem der großen und hohen Zelte hört man ein Flüstern. Dort bewegt sich etwas. Trotz klirrender Kälte ist es ein Pärchen. Klara Zischka, die rassige und wilde Marketenderin im Lager, hat wiederum einen der Männer überredet, sich mit ihr für den halben Wochensold einzulassen. Klara Zischka tut es nicht nur des Geldes wegen. Sie mag die Männer. Und sie hat erst recht eine Schwäche für die Liebe. Sie ist die geborene Soldatendirne: viel Temperament, genügend Geilheit, ein bißerl Herz und die übliche Geldgier. Und noch eins: Sie kann nie genug kriegen. Sie nimmt es an einem Tag spielend mit dreißig oder gar vierzig Männern auf. Klara Zischka hat keine Vergangenheit. Man sieht ihr schon von weitem an, daß sie aus dem Osten stammt. Aber man weiß nicht, wer ihre Eltern waren. Eines Tages lag sie, eingepackt in einen alten Teppich, vor dem Haus des Kaufmannes Hannes Stritzinger in Ottakring. Der gute Mann zog das Mädchen auf. Kaum aber hatte sie das vierzehnte Lebensjahr erreicht, da trieb sie's mit den Lehrbuben hinten im - 113 -
Lagerraum des Geschäftes so laut, daß sich die Kunden, die einkaufen kamen, aufregten. Der Kaufmann las der Ziehtochter die Leviten. Da spuckte sie ihn an, hob den Rock, zeigte ihm ihren Hintern und lief einfach davon. Sie kam nie wieder. So ist sie Marketenderin bei verschiedenen Soldateneinheiten der Österreicher geworden. Das Leben unter so vielen Männern gefällt ihr. Unteroffizier Karl Komarek fingert aufgeregt an der Bluse des rassigen Mädchens herum. Er bemüht sich, sein Keuchen zu unterdrücken. Klara Zischka gurrt leise. Sie knöpft sich mit flinken Händen die Brüste frei. »Du, du bist herrlich«, murmelt der Offizier. Sie lehnt sich gegen die Zeltstange und rafft den weiten Kleiderrock hoch. »Na, mach schon!« Sie lacht dabei ordinär und läßt ihren Körper merklich vibrieren. Sie denkt im Augenblick nicht nur an den halben Wochensold, den sie dafür bekommt. Sie freut sich auf den kräftigen Mann, der vor ihr steht. Sie hofft, wie schon so oft: Vielleicht wird er es fertigbringen, sie zur absoluten Entspannung zu bringen. Klara Zischka leidet darunter, daß sie noch von keinem ihrer Kavaliere wirklich befriedigt worden ist. Darum schläft sie mit jedem neuen Mann so schrecklich gern. Unteroffizier Karl Komarek drängt sich an das Mädchen. Gerade aber, als sie sich über das, was kommen wird, zu freuen beginnt, taumelt der Unteroffizier grunzend zurück. Er murmelt: »Du warst herrlich!« Klara reißt die Augen auf: »Was heißt: Du warst...? Das ist alles gewesen? Du willst doch nicht sagen, daß du fertig bist...« Sie beginnt schallend zu lachen. »Ich halt's nicht aus. In diesem Lager gibt es nur lauter müde Schlappschwänze. Einer unfähiger als der andere. Ist ja nur gut, daß ihr soviel im Krieg seid. Dann bleiben nämlich euren Frauen daheim eheliche Enttäuschungen erspart, die ich jetzt zu spüren krieg. Nein, ich fasse es nicht: Ihr kommt mir alle vor wie die Karnickel...!« - 114 -
Da baut sich ein Schatten vor den beiden auf. Es ist der Adjutant des Lagerkommandanten, Bodo Kammbauer aus Wiener Neustadt. Er ist mit wenigen Schritten bei den beiden: »Hört auf mit der ewigen Vögelei. Auseinander...!« Klara läßt ihren Kleiderrock herunter und sieht dem Offizier ins Gesicht: »Ach, der Bodo ist es. Willst du dem Kerl vielleicht die Liebe verbieten, weil du gerade Lust hast? Du warst doch gestern erst dran!« »Blöde Gans«, zischt Bodo Kammbauer hervor, drängt das Marketendermädchen zur Seite und brüllt Karl Komarek an:
Marketenderinnen und ihre »verschiedenen« Dienstleistungen - 115 -
»Du knutscht da herum und rund um dich geht die Welt unter. Gerade haben wir es erfahren: Heute hat der Napoleon bei Austerlitz alle besiegt. Es war ein schrecklicher Verlust für uns. Seine siegreichen Truppen werden morgen mit Triumph in Wien einziehen. Der Kaiser Franz hat keine Hoffnung mehr, daß er jemals wieder regieren darf. Österreich ist ruiniert.« Dem Karl Komarek zittern die Knie. Er zieht sich die Hose hoch und knöpft seine Uniformjacke zu. Er hat Klara längst vergessen. Die verlorene Schlacht von Austerlitz ist ihm gehörig in die Knochen gefahren. »Und was geschieht jetzt mit uns?« fragt er. Der Adjutant des Lagerkommandanten antwortet: »Uns steht eine besondere Aufgabe bevor. Der Friedensvertrag, der mit dem Bonaparte geschlossen werden mußte, verpflichtet Österreich unter anderem zur Zahlung einer Kriegsentschädigung von 40 Millionen Franken. Davon sind aber acht Millionen schon am 1. Jänner 1806 fällig. Das verlangte Geld muß termingerecht übergeben werden. Für jeden Tag der Verspätung werden 700.000 Gulden aufgeschlagen. Der Vertrag wird zwar erst am 22. Dezember unterzeichnet. Der Kaiser Franz aber hat angeordnet, daß unsere Einheit sofort nach Ungarn aufbricht und die versteckten Geldschätze, die dort in den Bergen liegen, in einem Wagenkonvoi holt und nach Wien bringt. Wir brechen noch heute Nacht nach Ungarn auf.« Karl Komarek ist blaß: »Ich werd's sofort den Kameraden weitersagen!« »Und noch was«, meint Bodo Kammbauer, »sag den Leuten, daß auch die Klara mitkommt. Die Marketenderin wird manchem die Reise leichter machen. Auch wenn das Mensch mit uns net zufrieden ist...!« 7. Jänner 1806. Ein eisiger Wind fegt übers Land. Mühsam bahnen sich vierundzwanzig Pferdefuhrwerke und zwei Droschken, begleitet von hundert Reitern und fünfhundert Mann Fußvolk, den Weg in Richtung Wien. Mit sechstätiger Verspätung nähert sich der Zug der Ortschaft Perchtoldsdorf. Soldaten und Tiere haben eine weite anstrengende Reise hinter - 116 -
sich. Straßenräuber wollten den Geldtransport überfallen. Ein Unwetter drohte die ganze Karawane im Schnee umkommen zu lassen. Natürlich bringen die Soldaten nicht die gesamte von Napoleon geforderte Summe. Es ist nur der erste Teil. Auf dem Hauptplatz von Perchtoldsdorf haben französische Besatzungssoldaten Aufstellung genommen. Die ganze Ortschaft ist abgeriegelt. In der Mitte des Platzes steht eine luxuriöse Droschke. Darin sitzt niemand geringerer als Napoleon. Er will den ersten Geldtransport selbst in Augenschein nehmen, will den Glanz des Goldes sehen und etliche Goldbarren mit eigenen Händen befühlen. Ächzend fahren die schneebedeckten Planenwagen der Österreicher in Perchtoldsdorf ein. Die Soldaten müssen ihre Waffen ablegen. Die Franzosen sind vorsichtig. Sie wollen keinen Kampf. Der kleine Korse, vor dem im Augenblick ganz Europa zittert, und der sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt zu erobern, springt aus dem kaiserlichen Wagen und ist mit raschen Schritten beim ersten Planenwagen. Er winkt zwei Soldaten zu sich her und schreit: »Aufmachen!« Noch ehe einer der Österreicher sagen kann, daß es sich nicht um einen Goldwagen, sondern um den Karren der Marketenderin handelt, wird die Zeltplane schon zurückgerissen: Nackt, nur mit einem Wollmantel behängt, hockt Klara Zischka auf ihrer Bank und schreibt gerade einen Brief an ihre Schwester in Triest. Klara ist eine der wenigen Marketenderinnen, die das Schreiben beherrschen. »Was macht Sie da?« herrscht Napoleon Bonaparte das Mädchen an, das ihm sichtlich auf den ersten Blick gefällt. Er reißt der Marketenderin den halbfertigen Brief aus der Hand und gibt ihm seinem Dolmetscher: »Vorlesen«, zischt er ihn an und wartet. Stockend übersetzt der weißhaarige Wiener, der gezwungen wurde, in die Dienste Napoleons zu treten: »Liebste Marscha. Es geht mit ganz gut. Ich komme soeben aus Ungarn. Wir haben Gold aus den Bergen geholt, damit der Korse Napoleon zufrieden ist. Ich bin neugierig, wenn ich ihn - 117 -
sehen darf. Seltsam, kein Mann hat mich bisher glücklich machen können. Aber allein, wenn ich den Namen Napoleon höre, Marscha, ich gesteh's dir, da zittern mir die Knie vor Liebeslust!« Der Brief ist Jahrzehnte später noch im Pariser Louvre ausgestellt, wird dann aber auf Antrag der Sittenbehörden eingezogen. Napoleon kann ein stolzes Lächeln nicht unterdrücken. Er tritt zu dem Mädchen, hebt ihr Kinn und sieht in ihr Gesicht. Klara ist erregt. Man sieht es dem Flackern ihrer Augen an. Da faßt Napoleon einen kühnen und ebenso frechen Entschluß, der ihm später noch viel Kritik von Seiten seiner Feldherrn eingebracht hat. Er dreht sich rundum, nimmt die Marketenderin an der Hand und zieht sie mit sich zum ersten Goldwagen. Wieder läßt er die Plane zur Seite schieben. Dann hebt er das Mädchen auf den Wagen und klettert nach. Mit einem Wink kommandiert er zwei bewaffnete französische Soldaten seiner Leibgarde zu sich und befiehlt: »Aufpassen, daß mich niemand stört!« Dann richtet er sich auf und schreit, indem er seine Hände in den Brüsten der Marketenderin vergräbt: »Männer aus Frankreich und Österreich! Napoleon, der Unbesiegbare hat heute Grund zum Feiern. Ein ganzer Wagenzug mit Gold gehört ihm. Ich werde es auf meine Weise feiern. Und weil ich mit Österreich Frieden geschlossen habe, soll eine Österreicherin mit mir feiern.« Klara Zischkas Gesicht glüht. Ihr Körper drängt sich dem Feldherrn entgegen. Sie läßt sich auf den blanken Goldbarren nieder. Napoleon reißt sich den Pelzmantel vom Rücken und breitet ihn aus. Dann legt er das zitternde Mädchen darauf und befiehlt den Wachen: »Es ist kalt! Zudecken!« Die Uniformierten bringen aus der Droschke zwei Felle und werfen sie über das Paar. Dann versinken der große Napoleon und die kleine Marketenderin ineinander. Man hört nur ihr Stöhnen und ihre schrille Stimme, die voll Sinneslust hervorstößt: »Es lebe Frankreich! Es lebe Napoleon...!« - 118 -
Napoleon auf dem Rückzug nach der Schlacht bei Aspern
Unteroffizier Karl Komarek, der später Polizist in Wien wurde, schrieb die Erinnerungen an diesen Tag feinsäuberlich auf. Fragmente dieses Heftes, in dem er es eintrug, wurden erst nach Jahren gefunden. Es heißt darin: »Uns Österreichern war zum Brechen. Dieses verfluchte Weibsstück, das mit fast jedem von uns hinters Zelt gegangen war und uns alle ausgelacht hatte, diese nimmersatte Hure, wurde vor unseren Augen zur Hochverräterin und trieb es mit diesem Napoleon. Und noch dazu auf österreichischem Gold. Sie besudelte dieses schwer verdiente Gold unseres Landes mit dem räudigen Korsen. Wir standen fast eine Stunde im Schneegestöber und mußten uns das auch noch anhören...!« Napoleon kehrt nach diesem ungewöhnlichen Erlebnis, von dem die Geschichte nicht gern berichtet, direkt nach Wien zurück. Das Gold dirigiert er nach St. Pölten, wo seine Soldaten Fässer und Kisten vorbereitet haben. Dort wird der österreichische Schatz nachgewogen und verfrachtet. Dann bringen ihn französische Einheiten nach Paris. - 119 -
Österreich ist bankrott. Die Bankhäuser Arnstein & Eskeles, Gayermüller & Co. sowie Fries & Co. sind ebenfalls leer. Weil in Ungarn zuwenig Gold versteckt war. Napoleon ist zufrieden. Er hält sein Versprechen und zieht am 12. Jänner 1806 mit seinem Heer von Wien ab. Bis zu diesem Tag ist Klara Zischka immer in seiner unmittelbaren Nähe. Es heißt, daß der Korse die Marketenderin oft mehrmals am Tag liebte. Und Klara gesteht ihm und seinen Bediensteten, daß er tatsächlich der erste Mann in ihrem Leben ist, der es fertigbringt, sie zu befriedigen. Bei Klara Zischka, die in der österreichischen Sittengeschichte einen festen Platz hat, scheint es allen Anschein nach just Napoleon Bonaparte gewesen sein, der ihrer nymphomanen Sehnsucht einen Höhepunkt vermittelte. Vielleicht ist dies nicht einmal so sehr auf die sexuelle Potenz des Korsen zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, daß die Marketenderin in ihm den einzigen richtigen Mann auf der Welt sah, während sie die nach körperlicher Liebe gierenden Soldaten im Lager mißachtete und verlachte. Tatsache ist, daß Klara Zischka diesem Napoleon hörig ist. Und als er Wien verläßt und sie nicht mitnimmt, da wirft sie sich ihm zu Füßen und bittet, mitreisen zu dürfen. Er aber zieht sich geschickt aus der Affäre und meint: »Es ist wichtig, daß ich überall meine Freunde und Anhänger sitzen habe, die mir berichten, wie man über mich redet. Ich bin glücklich, daß ich eine Frau wie dich in Wien zurücklassen darf...!« Klara Zischka ist todunglücklich. Sie bleibt in Wien und meldet sich bei »ihrem« Regiment. Sie will wieder Marketenderin werden und für jeden Mann, der sie für Geld haben möchte, da sein. Sie weiß genau, daß keiner sie glücklich machen kann. Und sie weiß, daß es so schön, wie damals an jenem Wintertag auf dem Goldwagen, nicht mehr werden kann. Vier Tage, nachdem Napoleon Wien verlassen hat, wird Klara in der Schwarzlackenau verhaftet und dem Polizeikommissariat Leopoldstadt überstellt. Irgend jemand hat sie wegen unsittli- 120 -
chen Treibens mit Napoleon als Hochverräterin angezeigt. Sie soll einen Prozeß bekommen und hingerichtet werden. Der Polizeiwachtmeister rutscht unruhig auf seinem Sessel hin und her. Immer wieder schielt er zu Klara, die hinter Gittern auf ihren Abtransport in die Innenstadt wartet. Sie hat sich ungeniert die Bluse geöffnet und massiert sich die Brüste. »Hör endlich auf damit«, brüllt er sie an. »Du... du... machst mich ja direkt...!« Sie lacht. »Geil? Das wolltest du doch sagen? Ich wüßt da einen Ausweg. Laß mich raus, und du kannst erleben, was ich dir zu bieten hab!« »Du dummes Frauenzimmer, glaubst wegen ein paar Minuten riskier ich meinen Kopf?« Da ertönen draußen Schreie und entsetzte Rufe. Der Wachtmeister stürzt zur Türe und reißt sie auf. Da stehen ein paar Frauen und drei Soldaten vor ihm: »Er ist schon wieder da! Das ist unser Untergang!« »Wer ist wieder da?« fragt der Wachtmeister neugierig. »Napoleon«, tönt es aus mehreren Kehlen und einer der Soldaten erzählt atemlos: »Er wollte zuerst mit seinem Heer durch die Schwarzlackenau nach Wien. Aber da waren unsere Soldaten tapfer. Der O'Brien mit seinen Leuten hat die Franzosen zurückgeschlagen. Dann aber hat sich der Korse mit seinen Männern einen schnellen Weg durch die unwegsame Lobau gebahnt und von dort die Donau überquert. Er ist in Schönbrunn eingezogen. Der Kaiser hat Wien fluchtartig verlassen...!« Da hört man von der Polizeizelle heraus die Stimme der Marketenderin: »Es lebe Frankreich. Es lebe Napoleon. Jetzt werden eure Köpfe rollen. Alle wird er euch massakrieren. Und ich werde zuschauen!« Die anderen laufen davon. Der Wachtmeister steht plötzlich vor dem Mädchen. Sie sieht ihn lächelnd an und flüstert: »Laß mich raus. Aber schnell, dann werd ich bei Napoleon ein gutes Wort für dich einlegen!« Zitternd öffnet der Wachtmeister die Zelle. Klara zieht ihn - 121 -
an sich und murmelt sinnlich: »Komm, Kleiner, jetzt woll'n wir noch ein bißchen Spaß treiben!« Da reißt sich der Uniformierte los: »Laß mich in Frieden. Ich will weg von hier. Mir ist's gründlich vergangen bei solchen Nachrichten!« Klara lacht ordinär, rafft ihre Kleider zusammen und verläßt das Kommissariat. Sie hat nur ein Ziel: Schönbrunn. Sie muß Napoleon sehen. Und vielleicht, wenn sie Glück hat, darf sie noch diese Nacht in den Armen des Franzosen liegen, vor dem sich alle Österreicher so fürchten... Während der Kriegshandlungen hat es in Wien kein Vergnügungsleben gegeben. Die Bier- und Weinhäuser sind zeitig am Abend geschlossen worden. Um Spionen das Handwerk zu legen, herrschte praktisch während der ganzen Nacht Ausgehverbot. Wer sich nicht daran hielt, erlebte unangenehme Dinge. Auch der Prater ist für das Publikum gesperrt. Darum ist es für die Wiener ein großer Tag, als Napoleon mit einem großen Fest im Hochsommer 1809 den Prater wieder eröffnen läßt. Napoleon fährt selbst hin und amüsiert sich. An diesem Tag scheinen Franzosen und Wiener beste Freunde zu sein. Und Napoleon meint zu einem seiner Generäle, die ihn begleiten: »Die Wiener sind nette Menschen. Wenn sie mich auf der Straße sehen; grüßen sie mich freundlich. Nur einer, der mir zuerst gut gesinnt war, mag mich nicht. Das ist dieser Beethoven. Ich hab gehört, er hat mir eine eigene heroische Symphonie gewidmet. Und wie sie dann fertig war, hat er das Titelblatt zerrissen und das Musikstück umbenannt. Aber deswegen laß ich mir auch keine grauen Haare wachsen...!« Napoleon mischt sich unters Volk und genießt das Praterfest. Und ein Spitzel von Kaiser Franz, der im Auftrag seiner Majestät - als Schustermeister verkleidet - alles beobachtet, schreibt später in seinen Bericht: »Napoleon Bonaparte scheint sich sehr amüsiert zu haben. Besonders beim Lusthaus gefiel es ihm bestens. Dort übrigens wartete ein Wagen auf ihn, in den er umstieg. Darin erkannte ich eine fremdländisch wirkende Maid, - 122 -
Klara Zischka brachte es von der Marketenderin bis zur Mätresse Napoleons die sich später als eine stadtbekannte Marketenderin entpuppte. Der Korse Napoleon, der schon lange zuvor dieses Mädchen zu seiner Wiener Mätresse gemacht hat, rief sie zum Gaudium der Leute vor einem Erfrischungsstand im Prater zur Gräfin aus. Und das Weib zierte sich und nahm diese Posse ernst...!« Man munkelt in Wien, daß Napoleon an diesem Tag mit Klara Zischka drei Stunden in einer Pferdedroschke verbrachte, die in der Praterau abgestellt war und verdächtig schaukelte. Manche behaupten sogar, sie hätten die Stimme der Marketenderin mit eigenen Ohren vernommen. Wieder andere aber wollen Napoleon zur selben Zeit in Schönbrunn gesehen haben. - 123 -
Tatsache ist, daß Napoleon der Marketenderin eine Wohnung auf dem Kohlmarkt mietet und sie fürstlich einkleidet. Er besucht sie fast jeden Tag. Am 14. Oktober 1809 aber kommt er nicht. Da schließt er mit Österreich den Frieden von Schönbrunn. Ohne Klara adieu gesagt zu haben, reist er mit seinen Heeren ab. Österreich ist frei. Kaiser Franz I. hat zum ersten Mal wieder das Gefühl, im eigenen Land daheim zu sein. Klara Zischka steht auf der Liste der Geheimpolizei. Als Hure Napoleons ist sie eine Staatsfeindin und Verräterin. Doch die Beamten kommen zu spät. Als sie die Wohnung am Kohlmarkt aufbrechen, finden sie die ehemalige Marketenderin nur mehr tot. Sie hat sich am Fensterkreuz erhängt. Auf dem Tisch liegt ein Zettel mit den Worten: »Merkt euch: Ich bin eine Gräfin...!« 1810 trifft Prinz Alexander als Brautwerber Napoleons in Wien ein. Er bittet für den Korsen um die Hand Marie Louises, der Tochter von Kaiser Franz I. Vor der Abreise der Prinzessin gibt es im Apollosaal des Bandagenfabrikanten Wolffsohn ein glanzvolles Fest. An diesem Tag bittet Marie Louise ihren Vater und dessen Vertraute in aller Öffentlichkeit: »Wenn ich jetzt nach Paris gehe und die Gattin Napoleons werde, um ihm einen Erben zu schenken, so muß ich darauf bestehen, daß in Wien diesen üblen Erzählungen von dieser Marketenderin ein Ende gesetzt wird. Es muß von Seiten der Behörden alles unternommen werden, daß der Name Klara Zischka vergessen wird, als hätte es diese Dirne niemals gegeben. Sonst vergehe ich vor Scham ...!« Tatsächlich gelingt es, Klara Zischka aus der Erinnerung der Wiener zu streichen. Die Macht Napoleons schwindet. Die Völkerschlacht bei Leipzig führt in der Geschichte Europas die große Wende herbei...
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Fürstin Bagration streckt ihren schlanken, fast weißhäutigen Körper auf dem zottigweichen Eisbärfell, das über das Bett gebreitet ist. Ihre Augen sind schmal und von der vielen Liebe der vergangenen Stunden gezeichnet. Sie sieht dadurch noch sinnlicher aus. Ein Wonneschauer durchrieselt ihre Gestalt, als die Hände des Mannes, der neben ihr liegt, nach ihren festen, kugelförmigen und glatten Brüsten greifen und diese in zarten Kreisen zu massieren beginnen. »Ach, du wunderbarer Liebhaber!« stöhnt sie auf. Doch der Mann neben ihr ist müde. Er hat sich verausgabt. Er hat der Fürstin all seine männliche Kraft gegeben. Jetzt will er sie nur ansehen, bewundern... Dieser Mann ist nicht irgend jemand. Ganz Europa kennt seinen Namen und blickt mit Ehrfurcht und Anerkennung auf ihn. Sein Name: Clemens Lothar Wenzel Fürst von Metternich, Österreichs Staatskanzler. Seit Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen worden ist, gilt dieser Metternich als einer der mächtigsten Männer der Welt. Darum hat man sich auch geeinigt, daß der große Friedenskongreß in Wien stattfinden wird. Metternich ist verheiratet. Doch er kann nicht treu sein. Er hat eine Schwäche für schöne Frauen. Und seine ganz besondere Zuneigung gilt der russischen Fürstin Bagration, die schon seit einiger Zeit in Wien lebt. Man munkelt, daß sie eine Verwandte des Zaren ist und sich mit ihm überworfen hat. Darum ist sie aus Rußland geflüchtet und hat all ihre Besitzungen verlassen. Die Spione Metternichs haben ihre Ankunft sofort berich- 125 -
tet. Der Staatskanzler war vom ersten Augenblick an von dieser ungewöhnlich schönen Frau fasziniert. Zuerst interessierte sie ihn rein politisch, weil er eine Spionin in ihr vermutete. Bald aber machte er sie zu seiner heimlichen Geliebten. Viele Male fährt bei Nacht und Nebel eine Kutsche mit Metternich und der Fürstin aus Wien hinaus. Der Staatskanzler hat in Baden bei Wien ein Haus gemietet und es aufs luxuriöseste einrichten lassen. Der Mittelpunkt des Liebesnestes: Ein breites niedriges Bett, überzogen mit einem prächtigen Eisbärenfell, das Metternich aus dem hohen Norden liefern ließ. Dieses Fell ist keine Idee des Staatskanzlers, sondern eine Marotte seiner Geliebten. Die Fürstin Bagration erzählt es immer wieder gern allen, die es hören wollen: »Ich kann einen Mann nur auf dem seidenweichen Fell eines kräftigen Bären lieben...!« Jetzt liegen sie da: die russische Fürstin und der österreichische Staatskanzler. Schweißbedeckt, abgekämpft, mehrere Höhepunkte hinter sich. Aber immer noch brennt die Lust in ihnen. Sie betasten einander und wollen ihre Nacktheit noch auskosten und sich nicht anziehen. Metternich küßt die Fürstin lange. Dann sieht er sie ernst an und flüstert: »Und du willst unser Land wirklich so überstürzt verlassen?« Die Fürstin nickt und zieht dabei Metternichs rechte Hand an sich: »Was denkst du sonst! In wenigen Tagen beginnt euer Wiener Kongreß. Alle Welt reist an. Natürlich auch Zar Alexander. Und der hat mir grade noch gefehlt. Ich hasse und fürchte ihn zugleich. Ich gebe ja zu, daß ich trotz meiner Verwandtschaft mit ihm früher einmal recht eng befreundet war. Aber das ist lange her. Gott sei Dank!« Metternich wirkt verwirrt, als er sich im Bett aufsetzt: »Aber, was soll aus uns werden... ?« Die Fürstin küßt den Staatskanzler auf die Nasenspitze, lacht schelmisch und meint dann: »Du wirst eben wieder brav mit deinem Weibchen schlafen und mich in lieber Erinnerung behalten. Und wenn's dir mit deiner Frau keinen Spaß macht, dann mach fest die Augen zu und denk dir, ich bin es!« - 126 -
Metternich ist aufgesprungen: »Laß die dummen Scherze. Ich will dich nicht verlieren. Du mußt in Wien bleiben!« Er sieht die nackte Frau, die immer noch regungslos vor ihm liegt, scharf an: »Und du sagst, du haßt den Zaren jetzt...?« Sie nickt und streichelt ihre Schenkel. Metternich muß sich umdrehen, um konzentriert weiterreden zu können: »Bleib in
Fürst Metternich, Österreichs Staatskanzler zur Zeit des Wiener Kongresses, hatte eine große Schwäche für Frauen
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Wien und hilf mir, den Zaren nicht außer acht zu lassen. Sei meine Kongreßspionin. Damit kannst du ihm schaden und deinen Haß ihm gegenüber am besten abreagieren. Und wir müssen nicht auf unsere Liebe verzichten. Wenn er dir begegnet und sich wundert, daß du ihm nicht aus dem Weg gehst und Wien nicht verläßt, so antworte ihm einfach, daß beim Wiener Kongreß für alle Platz sei. Er soll nur nicht wissen, daß wir beide miteinander...!« Fürstin Bagration beginnt sich langsam anzuziehen. Sie lächelt: »Gut, Wenzel, ich bleibe bei dir. Und ich werde für dich als Spionin arbeiten. Wir werden über jeden Gedanken, über jeden Schritt des Zaren Bescheid wissen. Und wenn es sein muß, werde ich für dich die Falten seines Hintern zählen und mit ihm schlafen, wenn er mir dabei Geheimnisse verrät...!« »Halt, halt, mein Täubchen...«, murmelt Metternich und pflanzt sich vor der Fürstin auf. »So ernst mußt du deine politische Aufgabe wieder nicht anpacken!« Dann faßt er wieder nach ihren Brüsten, küßt sie stürmisch und flüstert erregt: »Es sind die schönsten Brüste der Welt. Es gibt keine verlockenderen. Und du weißt es genau. Darum könnte ich dich zur Hölle schicken. Weil du die frechsten und sinnlichsten Abendkleider trägst! Warum mußt du immer deine Reize herzeigen? Den Frauen gehen vor Eifersucht die Augen über. Und die Männer bekommen vor Gier Glotzaugen...!« Die Fürstin lacht stolz: »Ich weiß, ganz Wien spricht davon, daß die Russin Bagration so gerne ihre nackten Brüste mit ihren raffinierten Kleidern zur Schau trägt. Das macht mir Spaß. Ich ärgere gern die anderen Frauen. Und ich hab's gern, wenn die Männer mich anstarren und am liebsten sofort mit mir schlafen möchten. Denn wenn sie mich so messen, sehen sie in mir nicht die Fürstin, sondern das Weib ...!« »Und das sollst du dir abgewöhnen, du Bestie!« Metternich wirkt erregt, als er es sagt. Seine Augen flackern eifersüchtig. Sie ist angezogen und läßt sich wieder aufs Bett fallen: »Wenn ich dich noch so sehr liebe, guter Wenzel! Ich muß einfach - 128 -
meine Reize anderen zeigen. Ich bin nur glücklich, wenn ich das tun kann. Vielleicht verstehst du es nicht...!« Damals im Jahr 1813 zur Zeit des Wiener Kongresses mag man vielleicht das auffällige und sonderbare Gehabe der frivolen Fürstin Bagration nicht recht verstanden haben, denn die russische Fürstin war nichts anderes als eine fanatische Exhibitionistin. Nicht umsonst nannte man sie in diplomatischen Kreisen, bei Hof und im Volk den »nackten Engel«. Die strahlende Sonne erleuchtet das Arbeitszimmer Fürst Metternichs in Wien. Rund um den grünen Tisch des Staatskanzlers haben insgesamt fünfunddreißig Vertraute des Politikers Platz genommen. Es sind Polizeibeamte des höheren Dienstes, Hoteliers, Restaurantbesitzer und Innungsmeister etlicher Berufssparten, die mit dem Wiener Kongreß und den ausländischen Gästen zu tun haben. Fürst Metternich eröffnet die geheime Sitzung, von der nur ein inoffizielles Protokoll angefertigt wird. »Auf Ihre Mitarbeit, meine Herren, kommt es an, daß der Wiener Kongreß zu einem durchschlagenden Erfolg Österreichs wird. Es geht darum, daß wir bei der großen Völkerverbrüderung und bei der Aufteilung der Staatsgebiete nicht übervorteilt werden. Wir müssen wissen, was unsere Gäste tun, denken und sprechen. Darum bin ich froh, daß Sie die Verantwortung und Leitung unseres ausgeklügelten Spionagesystems übernommen haben...!« Einer der Männer erhebt sich: »Fürst, wir können Ihnen berichten: Rund achttausend Leute - Wirte, Polizisten, Träger, Dirnen, Tänzerinnen und Zeitungsausträger - sind instruiert und stehen in unseren Diensten. Alles Verdächtige wird von diesen Wiener Bürgern verläßlich an uns weitergeleitet...!« Metternich nickt zufrieden. Dann berichtet er stolz: »Und ich darf ihnen wiederum vermelden, daß es mir persönlich gelungen ist, eine erstklassige russische Spionin für uns zu gewinnen. Es ist die Fürstin Bagration. Sie ist bevorzugt zu behandeln. Sie wird sich ins Lager der Russen einschleichen und den Zaren - 129 -
aushorchen. Sie haßt ihn nämlich. Ich werde ständigen Kontakt mit der Fürstin halten...!« Betretenes Schweigen im Saal. Die Männer sehen einander heimlich an. Sie wissen auf Grund ihrer Spitzeltätigkeit, wie dieses »Kontakthalten« beim Staatskanzler aussieht: Sie haben längst herausbekommen, daß er mit der russischen Fürstin, die für ihre Frivolität stadtbekannt ist, seine Ehefrau betrügt, und daß er regelmäßig mit ihr schläft. Metternich ist mit dem Resultat der Sitzung zufrieden. Er ist überzeugt, daß seine Spionagezentrale funktionieren wird. Er ahnt nicht, daß gerade er selbst einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Er weiß noch nicht, daß er der Fürstin Bagration auf den Leim gegangen ist. Sie ist in Wahrheit die Geliebte des Zaren und wurde von diesem lange vor dem Kongreß nach Wien gesandt, um Vorarbeit zu leisten. Der Zar hat gewußt, warum er gerade diese Frau schickt. Er kennt die Schwäche des österreichischen Staatskanzlers für freizügige und zügellose Bettgenossinnen. Der Wiener Kongreß ist in vollem Gang. Ein Heer von Spitzeln trägt Metternich alles zu, was er wissen will. Der Staatskanzler erfährt jedes Wort, das ein Lakai aufgefangen hat. Jeder Papierschnitzel, das ein Diplomat weggeworfen hat, wird genauestens untersucht. Nur der raffinierteste Diplomat Europas, Talleyrand, bringt es mit Hilfe einer französischen Gegenspionagegruppe fertig, daß Metternich nichts über ihn in Erfahrung bringen kann. Die österreichische Spionage erweist sich in jeder Hinsicht der russischen als ebenbürtig. Die Moskowiter bedienen sich nämlich - wie die Österreicher - vielfach des weiblichen Geschlechtes. Zar Alexander setzt gegen den Staatskanzler viele schöne Frauen aus seinem Land ein. Und Metternich läßt vor dem Zaren eine Reihe hübscher Wienerinnen aufmarschieren. Doch nicht alle arbeiten bis zur letzten Konsequenz für Metternich. So manche Schöne, die mit dem Russen ins Bett steigt und von ihm reich beschenkt wird, will nicht undankbar sein und verrät hinterher dem Österreicher nichts, was sie so gehört hat. - 130 -
Österreich und Rußland stehen einander beim Wiener Kongreß als erbitterte Feinde gegenüber. Daher setzt Zar Alexander seine beste und schönste Waffe ein: die Fürstin Bagration, die bald im Wiener Gesellschaftsleben ein Begriff ist. Eine Wiener Hofdame, die anläßlich eines Empfanges neben der russischen Fürstin zu stehen kommt, schreibt später in ihrem Tagebuch nieder: »Ihre herrlich festen Brüsten springen so frech und lüstern aus ihren Kleider hervor und können von jedermann bestaunt werden. Sie freut sich, wenn man hinsieht und streift recht gern die Männer damit. Und wenn diese dann verwirrt werden, schickt sie ihre triumphierenden Blicke in die Runde. Man nennt sie nicht zu unrecht den nackten Engel. Ich warte ja nur darauf, bis einmal einer die Facon verliert!« Zweimal flattern der Polizei Anzeigen aus bürgerlichen Kreisen ins Haus. Hohe Sittlichkeitsbeamte gehen der Sache nach. Doch Metternich stoppt die Aktionen in beiden Fällen. Die russische Fürstin Bagration, die mit ihrer Kleidung die Empörung mancher Wiener erregt, bleibt ungeschoren und liegt eine Nacht mit Metternich, die andere mit dem Zaren im Bett. Heute weiß man, daß Zar Alexander von der Russin enorm wichtige Details über Metternichs Verhandlungspläne und seine diplomatischen Tricks erfuhr, während Metternich aus dem Mund seiner Geliebten lauter Dinge zu hören bekam, mit denen er wenig anzufangen wußte. Es handelte sich dabei niemals um echte Informationen, sondern um präparierte Nachrichten, die mit dem Zaren abgesprochen wurden. Natürlich sieht Metternich nicht gern, wenn die Fürstin beobachtet wird, wie sie mit dem Zaren in einem abgelegenen Landgasthof verschwindet und die ganze Nacht dort bleibt. Doch der Staatskanzler denkt sich, daß er dieses diplomatische Opfer bringen muß. Er ahnt nicht, daß ihn der Zar und die Fürstin während ihrer Liebesspiele auslachen. Eines aber merkt man bei Hof: Die Eifersucht Metternichs auf den Zaren wächst von Stunde zu Stunde. Und dann plötzlich kann sich der Staatskanzler nicht mehr zurückhalten. - 131 -
Der Apollosaal in der heutigen Apollogasse ist festlich geschmückt. Draußen fahren die höchsten Persönlichkeiten des Wiener Kongresses vor. Der russische Gesandte, Graf von Stakkelberg, gibt eine große Abendgesellschaft. Im Mittelpunkt steht natürlich wieder die schöne Fürstin Bagration. Wie kann es anders ein: Sie zeigt wieder ihren nackten Busen und merkt mit Freude, wie die Augen so mancher Adeligengattin beim Anblick des ordinären Kleides erstarren. Die Zarin betritt den Saal mit gemischten Gefühlen. Sie ist nicht gern gekommen. Sie weiß, daß diese Bagration anwesend ist. Sie weiß, daß ihr Mann sie als seine Geliebte verwöhnt. Und sie kann nichts sagen, weil diese Beziehung angeblich für den Verlauf des Wiener Kongresses so wichtig ist. Metternich ist allein da. Er ist froh, daß seine Gemahlin sehr unter Migräne leidet. Er kann sich daher der russischen Fürstin widmen. Zu bereits vorgerückter Nachtstunde spielt man im Saal ein Menuett. Metternich hat mit der Bagration getanzt und mit ihr einen neuen Treffpunkt in Baden ausgemacht. Mehr darf er an diesem Abend von ihr nicht verlangen. Sie flüstert dem Staatskanzler zu: »Der Zar scheint wichtige Informationen zu haben. Die muß ich aus ihm herauslocken. Ich werde die Nacht mit ihm verbringen ...!« Metternich kocht vor Eifersucht. Er zieht sich in einen Salon zurück und versucht sich im Gespräch mit einigen französischen und englischen Diplomaten abzukühlen. Doch er hat Sehnsucht nach seiner schönen Geliebten. Er will sie zumindest sehen. Er verläßt den Salon und kehrt in den Saal zurück. Er erstarrt. Was sich ihm hier bietet, hat er nicht erwartet. Tags darauf spricht ganz Wien davon: Die Musik ist zu Ende. Die Fürstin Bagration springt auf einen Sessel und ruft: »Ich vermisse eine besondere Überraschung bei dieser Abendgesellschaft. Wenn niemand eine aufwarten möchte, so werde ich sie geben. Ich werde den Wienern einen neuen Tanz vorführen: Die Tarantella!« - 132 -
Die Fürstin bittet die Paare, die in ihrer Nähe stehen: »Bilden Sie einen Kreis ...!« Dann winkt sie der Musik. Sie hat alles mit den Männern abgesprochen. Die Kapelle spielt eine Tarantella. Langsam legt die Fürstin Bagration alle unnötigen Klei-
So sahen Zeitgenossen des Wiener Kongresses die Fürstin Bagration, die sich mit ihren raffinierten Kleidern gern »oben ohne« zeigte
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dungsstücke ab. Man kann nun von ihrem schlanken Körper und ihrer alabasterweißen Haut sehr viel sehen. Die Russin beginnt sich langsam zu drehen, klatscht in die Hände, beginnt sich ekstatisch im Kreis herumzuwirbeln und windet sich aufreizend im Takt der fremdländischen Klänge. Die Männer rundum bekommen große Augen, die Frauen hochrote Köpfe. Doch niemand schreitet ein. Man läßt die Fürstin tanzen. Denn jeder ist irgendwie fasziniert von der Art, wie sie ihren Körper und diesen neuen Tanz zeigt. Sie wirbelt herum, stößt temperamentvolle Rufe aus. Sie serviert den Männerblicken ihre üppigen Reize und läßt sich nach einem orgiastischen Tanzschluß erschöpft zu Boden sinken. Metternich schäumt vor Wut. Er, der sonst so besonnene Staatsmann verliert die Kontrolle über sich. Kein Wunder, daß diese Episode gern von den Historikern verschwiegen wird. Allein eine Eintragung im Handbuch des seinerzeitigen Apollosaals verrät Details. Da steht mit schlampiger Handschrift von einem Saalordner namens Amandus Kerzel vermerkt: »Unseren erlauchten Fürsten von Metternich hat heute ein einziges Mal in seinem Leben der Verstand verlassen: Im Falle der Fürstin Bagration. Da regierte die körperliche Sinnesbegierde über das Gehirn des weisen Staatsmannes. Heute geriet er vollends aus der Facon, was niemand von ihm erwartet hätte...!« Metternich drängt die Paare rund um die Fürstin zurück und schreit: »Schluß mit diesem Hurentanz! Das ist empörend!« Er reißt die Fürstin hoch, blitzt sie an und keucht: »Wie konnten Sie es wagen?« Da flüstert die Fürstin dem Staatskanzler zu: »Aber, Fürst! Warum setzen Sie sich so in Szene? Der Zar soll doch nicht wissen, daß wir uns so gut kennen. Was soll diese alberne Eifersucht? Ich sagte Ihnen doch schon. Ich muß die begehrlichen Blicke der Männer auf mir spüren. Wann werden Sie das endlich verstehen. Und ich glaube, den Wienern hat die Tarantella gefallen...!« Metternich merkt, daß er einen diplomatischen Fehler begangen hat. Er tritt unter die Gäste zurück. Sekunden später - 134 -
steht der Zar neben der Fürstin. Er hilft ihr beim Ankleiden, bietet ihr dann seinen Arm an und meint laut: »Wenn ich jetzt nach dem atemberaubenden Anblick Ihres Körpers und Ihres Tanzes das tun würde, was ich wollte, so wäre dies vor den anderen Leuten in höchstem Maß unschicklich. Darum bitte ich Sie, mit mir zu kommen...!« Die Fürstin hakt sich beim Zaren unter. Die beiden gehen davon. Da stellt sich ihnen beim nächsten Mauerpfeiler die Zarin in den Weg. Ihr Gesicht ist kreidebleich. Sie will etwas sagen. Der Zar aber flüstert beschwichtigend: »Vergiß nicht, meine Liebe. Alles, was ich hier tue, ist von höchster diplomatischer Wichtigkeit!« Der Zar und die Fürstin verlassen den Apollosaal und fahren in das Appartement der Bagration. Am nächsten Tag meldet ein Lakai dem Staatskanzler Metternich: »Die beiden verbrachten die Nacht miteinander. Doch sie taten kein Auge zu. Es ging in ihrem Zimmer sehr laut her!« Metternich geht endlich ein Licht auf. Er erkennt, daß ihn die Fürstin an der Nase herumgeführt hat, daß sie nicht seine Spionin, sondern daß sie im Grunde die Spionin des Zaren war, die ihn, den österreichischen Staatskanzler, aushorchte. Metternich ist nicht von allein daraufgekommen. An jenem Abend im Apollosaal hat ihm die Gräfin Julie Zichy die Augen geöffnet. Sie wird Metternichs neue Geliebte. Sie kann ihm wirklich wertvolle Hinweise aus der diplomatischen Arbeit Zar Alexanders liefern. Sie hat mit ihm geschlafen, fand aber keinen Spaß daran. Von ihr weiß Metternich bald, daß sie ihn nicht hintergeht, daß sie keine russische Spionin ist. Und damit sie es nicht wird, schenkt ihr der Staatskanzler nicht nur zahllose Liebesstunden, sondern auch wertvollen Schmuck. Sie läßt den Fürsten über das enttäuschende Abenteuer mit der Fürstin Bagration rascher hinwegkommen. Der Zar triumphiert. Die Bagration hat die Wiener durcheinandergebracht. Niemand weiß eigentlich, für wen sie arbeitet. Sie hat den Russen viele wertvolle Informationen zugespielt. Und Alexander ist ganz wild auf die körperlichen Reize - 135 -
seiner Geliebten, die er nun endlich nicht mehr mit diesem verhaßten Metternich teilen muß, wenngleich die Fürstin schwört, bei dem österreichischen Staatskanzler nie etwas empfunden zu haben. Nach dem Tarantella-Tanz im Apollosaal verbringen der Zar und seine Geliebte vier Tage und vier Nächte im Zimmer. Dann plötzlich hat der Zar genug. Er kleidet sich an, stürzt aus dem Zimmer, fährt in sein Etablissement zurück und schreit überall umher: »Wo ist meine Gemahlin?« Ein Lakai antwortet: »Sie wohnt seit einigen Tagen im Schloß des Grafen Czartorsky in Meidling...!« Der Zar läßt anspannen und fährt zum Grafen. Es ist wahr, was man ihm gesagt hat: Die Zarin hat die Nächte mit dem Adeligen verbracht. Sie streitet es nicht ab, als sie aus dem Haus kommt und die Droschke Alexanders besteigt. Der Zar will sie anbrüllen. Sie aber legt ihm den Finger auf den Mund und flüstert: »Bedenke, daß alles, was ich getan habe, aus rein diplomatischen Überlegungen geschehen ist...!« Der Zar schweigt. Er redet nie mehr über diese Sache. Er hat die stille Rache seiner Frau hingenommen... Tag für Tag bekommen die Wiener während dieses epochemachenden Kongresses neue Bettgeschichten der Kaiser und Könige, der Staatsmänner und Diplomaten zu hören: Die Gräfin Zichy verläßt den guten Metternich bald wieder und wird das Liebchen von Kronprinz Wilhelm von Württemberg und zugleich von Kronprinz Ludwig von Bayern. Die drei machen eines Tages durch gemeinsame Liebesspiele von sich reden. Der König von Dänemark sucht sich eine dralle Wienerin als Mätresse.
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Der fahle Mond taucht die altwienerischen Häuser in ein bläuliches Licht. Am nächtlich klaren Himmel strahlen Millionen Sterne. Es ist ein lauer Sommerabend. Man schreibt das Jahr 1815. Aus dem Haus Nummer 9 in der Grünentorgasse im Bezirk Wien-Alsergrund klingen die zarten Töne eines Hammerklaviers. Es sind sanfte Lieder, die da von den Tasten gezaubert werden. Kaum jemand, der zu dieser späten Stunde an dem Haus vorbeigeht, achtet darauf. Manchmal sieht einer zu dem offenen Fenster im ersten Stock hinauf und schüttelt verständnislos den Kopf. Musik - mitten in der Nacht! Was muß da oben für ein Spinner wohnen. Nur eine denkt anders darüber: Die Kreuzmeyer Toni, ein 23jähriges Wiener Mädel, ihres Zeichens eine stadtbekannte Vorstadthure, die sowohl bei feinen gutzahlenden Herren als auch bei Bierkutschern und Fiakern sehr gefragt ist. Sie lehnt im Schatten des Hauses Grünentorgasse 9 und lauscht den Liedern, die zu ihr heruntertönen. Sie hat ihren zarten, hübschen Kopf gegen die Mauer gelehnt und träumt. Sie hat die Augen geschlossen und stellt sich vor, daß sie nicht die uneheliche Tochter eines Marktweibes ist, daß sie in ihrer Kindheit nicht herumgestoßen und lieblos behandelt wurde und daß sie schließlich auch nicht zur Dirne wurde. Sie stellt sich vor, die Geliebte oder die Verlobte eines feinen Mannes zu sein, der so schöne Lieder spielen kann, wie dieser junge Lehrer da oben, dem sie nun schon viele Nächte zuhört. Die vorbeigehenden Männer kommen gar nicht auf den Gedanken, daß die Toni eine Dirne ist. Sie hat den tiefen Ausschnitt ihres Kleides mit einem Stricktuch verdeckt. Sie schenkt - 137 -
den Männern keine verführerischen und einladenden Blicke. Sie hat nur Ohren für die zarten Lieder. Jetzt hat das Klavierspiel aufgehört. Die Kreuzmeyer Toni hält den Atem an. Sie hört, wie er oben in seinem Zimmer auf und ab geht. Jetzt denkt er nach. Dann schnelle Schritte. Wieder hat er sich ans Klavier gesetzt. Es ist ihm wieder etwas eingefallen. Und er beginnt neuerlich zu spielen. Die Toni blickt versonnen nach oben. Sie hat ihn auch schon ein paarmal gesehen. Aber er hat keine Notiz von ihr genommen. Er ist Schulgehilfe seines unterrichtenden Vaters an der Konviktschule in der Grünentorgasse. Er hat nicht viel Geld, lebt bescheiden und sieht so nett und zärtlich aus. Die Toni findet diesen jungen Mann sehr fesch. Sie schließt die Augen. Wie heißt er doch gleich? Ach ja, bald hätte sie es wieder vergessen: Schubert, Franzl Schubert. Und immer hat er den Kopf voller Melodien. Die Toni ist überzeugt: Er wird noch einmal ein ganz großer Musiker. Sie muß bitter lächeln: Wenn er nicht vorher elend verhungert. Die Toni wüßte da schon einen Ausweg. Sie geht vor dem Haus auf und ab und denkt: »Er müßte sich in mich verlieben. Ich mag ihn schrecklich gern. Wir würden sicher z'sampassen. Er könnt musizieren und komponieren: Und ich tät fürs Geld sorgen.« Die Toni lehnt sich wieder gegen die Wand: Ach, wenn der da oben doch wüßte, daß sie jedesmal, wenn ein fremder Mann mit ihr schlafen geht und sie dafür bezahlt, die Augen zudrükken muß und daran denkt, daß jetzt er - der Schubert Franzl bei ihr ist. Anders würde sie es nicht ertragen ... Das Lied, das jetzt aus dem Fenster tönt, ist besonders melancholisch geworden. Der Toni steigen die Tränen in die Augen. Da plötzlich wächst ein riesenhafter Schatten neben ihr in die Höhe. Sie schrickt zusammen und wird blaß. Vor ihr steht der 42jährige Konrad Stelzhammer aus Ottakring. Er ist ihr Zuhälter. Der Stelzhammer hat die Toni schon fast im Kindesalter kennengelernt. Er war ihr erster Mann. Sie war ver- 138 -
liebt in ihn. Das nützte er aus. Er schickte sie schon bald auf die Straße. Und sie fand sich damit ab. Weil's ein leichtes Geldverdienen war, das anfangs sogar Riesenspaß machte. Jetzt sieht er sie böse an, reißt mit seiner brutalen rechten Hand ihren Kopf herum, sodaß sie ihm ins Gesicht sehen muß: »Du blödes Mensch, bist deppert word'n? Steht da an der Wand anglahnt und schaut aus wie a verträumtes Nachtg'spenst. So wirst kan Mann finden, der mit dir ins Hotel marschiert. Du faule Hur du...!« Die Toni ist solche Redensarten gewohnt. Sie kennt es nicht anders. Doch im Augenblick erträgt sie diese Behandlung nicht: »Laß mi los, du Idiot. Du kannst wohl überhaupt nimmer nett zu mir sein?« Der Konrad Stelzhammer sieht sie mit rotumrandeten Augen an. Er ist wieder einmal betrunken. Mit einem Ruck zieht er ihr den Schal von der Brust und tritt darauf. Dann schaut er zum geöffneten Fenster im ersten Stock hinauf und grölt höhnisch: »Die gnädige Frau haben wohl wieder der Musik von dem Hungerleider Schubert gelauscht. Der is nix für dich. Wenn der dich anmal packen möcht, von dem kriegst nur Noten und ka Geld...!« Die Toni dreht sich um und schreit, daß die Straßenpassanten neugierig stehenbleiben: »Du bist so gemein. Laß den Musikus aus dem Spiel. Dem da oben tät ich mein verdientes Geld lieber geben als dir. Und es kommt no amal der Tag, an dem du von mir net an Kreuzer kriegst...!« »Halt deine Papp'n, sonst bring i di um!« keucht der Stelzhammer und will auf die Dirne einschlagen. Doch sie ist klug. Sie sieht einen Mann vorbeikommen, der sie gefällig ansieht. Sofort lacht sie zurück, zieht ihren Rock hoch und wippt lockend mit den Beinen. Sekunden später steht der Kavalier vor ihr und verhandelt mit ihr über den Preis. Der Stelzhammer zieht sich in eine dunkle Mauernische zurück. Die Toni stolziert mit dem Kavalier in Richtung Stundenhotel. Sie geht hinauf, zieht sich aus, läßt ihren schlanken, - 139 -
verführerischen und bereits ein wenig verbrauchten Körper von dem fremden Menschen abküssen und gierig abgreifen. Dann legt sie sich mit ihm hin und läßt alles über sich ergehen. Immer wieder denkt sie, daß es Franz Schubert wäre, der sie jetzt mit aller Leidenschaft liebt. Zwei Tage später. Drei Uhr morgens. Die schweren Stiefel von Polizeibeamten poltern die Holztreppe im Haus Nummer 9 in der Grünentorgasse in den ersten Stock. Mehrere Fäuste klopfen gegen die Tür des Musikers. »Franz Schubert, machen's auf. Aber rasch. Die kaiserlichkönigliche Polizei ist da!« ruft einer der Männer. Im Nu ist Franz Schubert wach, hat sich einen Morgenmantel übergeworfen und öffnet: Er ist blaß, als er die Polizisten mit ihren ernsten Gesichtern sieht. »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?« fragt er in seiner höflichen, ruhigen Art. Die Beamten schmunzeln. Einer meint: »Franz Schubert, Schulgehilfe der Konviktanstalt kommen Sie mit, wenn Sie sich angezogen haben. Sie sind verhaftet...!« »Verhaftet... ? Das kann doch net Ihr Ernst sein?« »Natürlich. Sie haben schon richtig verstanden. Verhaftet. Kommens mit. Sie stehen unter dem Verdacht der Unruhestiftung wider den Kaiser!« »Aber, das ist doch alles Unsinn!« »Maulhalten und mitkommen, junger Mann!« Wenige Minuten später folgt Franz Schubert der Polizeiwache auf das nächste Kommissariat. Er weiß tatsächlich nicht, warum man ihn festgenommen hat. Er ist nervös und zittert am ganzen Körper. Ihm ist hundeelend. Wie gern hätte er noch schnell seine Freunde verständigt: den Dichter Franz von Schober, den Eduard von Bauernfeld, den Franz Grillparzer, den Maler Moritz von Schwind. Aber dazu ist keine Zeit. Franz Schubert muß nicht lange warten. Er wird einem k. u. k. Polizeihofrat vorgeführt. Der sieht ihn lange an und fragt dann: »Kennen Sie den Michael Senn aus Tirol, der sich seit einiger Zeit in Wien aufhält?« - 140 -
Schubert nickt: »Er ist mein Freund!« Der Hofrat fährt zusammen: »Das war ja fast schon ein Geständnis. Da haben Sie sich aber keinen guten Freund ausgesucht. Der Michael Senn ist ein politischer Tunichtgut, ein
Die Kreuzmeyer Toni mit ihrem Pudel Wastel ließ sich allzugerne in verführerischen Posen malen
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Unruhestifter, ein Ruhestörer, der unentwegt Zettel gegen den Kaiser verteilt und schmutzige Revolutionslieder singt. Er bekennt sich offen zu den radikalen Nationalisten unter den Studenten.« Schubert sieht den Hofrat unschuldig wie ein Kind an: »Das interessiert mich nicht, Herr Hofrat. Er ist mein Freund, weil wir uns beide für die Musik interessieren. Er macht ganz prächtige Texte zu meinen Liedern. Was er sonst treibt, geht mich nichts an und ist seine Sache.« Der Hofrat wird hochrot: »Aber dem Kaiser ist es nicht egal, wenn es so viele Unruhestifter in Wien gibt. Indessen ist uns zu Ohren gekommen, daß sie mit dem Senn heimliche Treffen arrangieren und dabei böse politische Lieder dichten!« Der Schubert blickt erschrocken auf: »Heilige Maria Muttergottes, ich würd mich nie gegen den Kaiser versündigen. Ich weiß gar nix von den politischen Ambitionen vom Michael...!« Der Schubert Franz wird viele Stunden verhört. Doch es kommt nichts Gescheites dabei heraus. Und so schreibt der Hofrat schließlich in sein Protokoll, sodaß es heute noch die Nachwelt nachlesen kann: »Es scheint, als ob dieser Franz Schubert wirklich völlig unpolitisch ist und seine Freundschaft zu dem Aufrührer Michael Senn keine besondere Bedeutung hat. Schubert fehlen auch der Schwung und der Fanatismus zur Politik. Es handelt sich bei ihm meines Erachtens um einen harmlosen Jungen aus dem hiesigen Mittelstand...!« Der Hofrat, der diese Zeilen niederschreibt, denkt nicht im mindesten daran, daß dieser Franz Schubert dereinst berühmt sein wird. Er entläßt den Schulgehilfen und Musikus, läßt ihn aber draußen in der Kommissariatsstube noch ein wenig warten. Der Zufall will es, daß Schubert neben einem Mädchen zu sitzen kommt, die ihn fasziniert anstarrt. Sie gefällt ihm auch, aber er ist zu schüchtern, um sie anzureden. Auch hat er im Augenblick andere Sorgen. Da kann sie sich nicht mehr halten, stößt ihn an und meint: »Sie sind doch der Herr Schubert?« - 142 -
Er nickt erstaunt. Ihre Augen glänzen: »Ich habe Sie schon so oft Klavierspielen gehört. Ihre Lieder sind einfach wundervoll. Was müssen Sie für ein herrlicher, gefühlvoller Mann sein. Ich würde schrecklich gern mit Ihnen über Ihre Künste reden.« Schubert fragt: »Ja, wer ist Sie denn eigentlich? Mit wem hab ich das Vergnügen? Und warum sitzt Sie denn hier auf der Polizeiwache?« Das Mädchen wird rot und lügt: »Ich... ich ... bin die Tochter vom Kaufmann Neuranninger in der Zaibelgasse. Ich bin nebenher auch Sängerin und habe Schwierigkeiten mit den Behörden, weil ich politische Lieder vorgetragen hab ...!« Schubert schmunzelt: »Sie Arme. Ich bin auch aus ähnlichen Gründen da. Aber ganz unschuldig. Aber ich glaub, man läßt mich wieder gehen. Wenn Sie Sängerin sind, könnten Sie doch einmal eines meiner neuen Lieder probieren?« »Gern!« Sie nickt eifrig und meint: »Kommen S' mich doch in einer Woche am Dienstag um 18 Uhr besuchen: Zaibelgasse 14, Tür 34. Klopfen S' dreimal. Dann weiß ich, daß Sie es sind, Meister!« Als sie »Meister« sagt, wird er verlegen und küßt ihr dankbar die Hand. Er merkt nicht, wie die anderen rundum belustigt zu ihm herüberschauen. Sie amüsieren sich, weil der Schulgehilfe die bekannte Hure wie eine Gräfin behandelt. Denn das Mädchen ist niemand anderer als die Kreuzmeyer Toni. Die Kreuzmeyer Toni ist aus dem Kongreß-Wien nicht wegzudenken. Sie führt ein vielseitiges und abwechslungsreiches Leben. Manchmal sieht man sie im Prater auf Kundenfang gehen. Oftmals lehnt sie in den Vorstadtbezirken an den Häusermauern und läßt sich von Männern ansprechen. Mitunter aber empfängt sie auch vornehme Herren in ihrem versteckten Appartement: Das Zimmer hat sie sich selbst eingerichtet. Hier lebt sie mit ihrem kleinen weißen Pudel »Wastel« und spielt mitunter Nobeldirne. Die Kreuzmeyer Toni ist sehr aufgeregt. Sie weiß nicht, ob der Franz Schubert Wort halten und kommen wird. Sie räumt - 143 -
alles im Zimmer weg, was verraten könnte, daß sie eine Hure ist. Endlich klopft es. Einmal, zweimal, dreimal. Er ist es. Rasch streift Toni noch eine Schachtel mit Präservativen vom Tisch und schleudert die Packung mit dem Fuß unters Bett. Dann ruft sie: »Herein!« Sie hat sich besonders hübsch gemacht und die schönsten Sachen angezogen. Als Franz Schubert eintritt, hat sie sich malerisch mit ihrem Hündchen auf dem Sofa niedergelassen, so wie sie sich etliche Male malen und zeichnen ließ. Der Schubert setzt sich und plaudert mit ihr. Über seine Lieder, über seine Mißerfolge. Über die öde Arbeit in der Schule. Er verrät ihr, daß er liebend gern nur Musiker sein würde und meint: »Dann täten mir viel bessere Sachen einfallen...!« Sie spricht ihm Mut zu. Sie lobt seine Kompositionen. Sie gesteht ihm ihre Zuneigung. Er wird rot und verlegen. Da steht sie auf, geht zum Schrank, holt ein Kuvert heraus und reicht es ihm. Er sieht hinein und erstarrt: Es ist vollgestopft mit Geld. »Nehmen Sie's«, flüstert sie. »Sie brauchen es!« »Nein, nein«, wehrt er ab, »das kann ich net annehmen. Das hat sich Ihr Herr Papa mit seinem Geschäft sicher sauer verdient. Oder Sie haben es sich hart erarbeitet. Hinter dem Ladentisch von Ihrem Herrn Vatern...!« Da kann die Toni nicht mehr ihre Lüge aufrecht halten. Sie wirft sich dem Musiker zu Füßen, schluchzt haltlos und erzählt ihm dann alles: »Herr Schubert, nehmen Sie das Geld und verachten S' mich net. Ich bin eine Hur. Ich bin keine Kaufmannstochter. Ich bin die Kreuzmeyer Toni. Den Namen werden S' sicher schon gehört haben. Ich hab mich in Sie und Ihre Musik verliebt. Nehmen S' mein Geld. Ich flehe Sie an. Es soll net einem unwürdigen Verbrecher gehören.« Dann weint sie noch mehr. Man kann kaum verstehen, was sie sagt: »Ich würd Ihnen gern alles Geld geben, was ich verdien, wenn ich nur hin und wieder mit Ihnen Konversation machen dürft. Meister Schubert: Ich liebe Sie ...!« - 144 -
Das Schubert-Haus in Wien, Nußdorfer Straße 54: Oft klangen die Melodien des Musikers aus seinem Fenster
Sie richtet sich auf. Sie nimmt seine Hände und küßt sie. Ihre Bewegungen haben nichts Ordinäres an sich. Sie handelt in diesem Augenblick nicht wie eine Dirne, sondern wie ein verliebtes Mädchen, das die Initiative an sich gerissen hat. Dann flüstert sie dem verstörten jungen Mann zu: »Meister Schubert. Kommen S', sagen S' net nein. Bleiben S' über Nacht bei mir!« Schubert weiß nicht, was er sagen soll. Das Mädchen tut ihm unendlich leid. Er raunt ihr zu: »Du bist wunderschön. Ich glaub, du hast es satt, auf den Strich zu gehen. Soll ich dir helfen, ein anständiges Leben zu führen?« Da schüttelt Toni Kreuzmeyer den Kopf: »Dafür ist es zu spät. Da können Sie mir a net helfen. Aber ich möcht halt so schrecklich gern...!« »Na was denn ...?« »Für Sie, Meister Schubert, da sein...!« Man weiß nicht, ob Franz Schubert in jener Nacht bei der Kreuzmeyer Toni bleibt oder ob er fortgeht. Nach Hause - 145 -
kommt er jedenfalls nicht. Und am nächsten Tag ist er völlig verstört. Er trifft sich mit seinem Freund Moritz von Schwind und berichtet ihm alles. Der gibt ihm den Rat: »Wenn dir das Mädchen g'fallt und wenn du den Eindruck hast, daß sie es wert ist, so kümmer dich ein bißerl um sie. Die ist sicher in einem schweren seelischen Konflikt. Vielleicht kannst du sie doch auf den rechten Weg bringen!« Da beginnt Schubert zu weinen und schüttelt den Kopf: »Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Heute nacht war sie bei mir und hat ans Fenster geklopft. Und als ich aufstand, um sie nach dem Grund ihres Kommens zu fragen, sehe ich im Mondlicht ein Bündel Geldscheine. Stell dir vor: Die wollte mir Geld geben!« Dennoch beschließt Schubert, wie man aus einem intensiven Briefverkehr mit Bauernfeld entnehmen kann, das Mädchen aus der Gosse zu holen. Wie, das weiß er selbst noch nicht. Er schreibt seinem Freund nur: »Ich werde am nächsten Montag zu ihr gehen und ausführlich mit ihr diskutieren ...!« Es ist ein nebeliger Morgen. Schubert weiß, daß die Toni um diese Zeit ganz sicher daheim ist. Zumeist schläft sie, weil sie müde von der Nacht ist. Das geniert ihn nicht. Er möchte nicht länger mit der Aussprache warten. Das Schicksal des Mädchens macht ihm mehr zu schaffen, als ihm lieb ist. Er klopft dreimal, wie gewohnt. Niemand öffnet. Er ruft leise. Niemand antwortet. Er drückt die Türklinke nieder. Die Tür geht auf. Schubert tritt ein. Sekunden später taumelt er totenblaß zurück: Vor ihm - quer über dem Bett - liegt Toni Kreuzmeyer. Sie ist splitternackt. Ihr schöner, schlanker Körper ist von zahllosen Messerstichen übersät und starr. Die Toni muß schon seit Stunden tot sein. Ermordet. Franz Schubert taumelt kraftlos davon. Er kann kaum sprechen, als er zur Polizei kommt. Auf dem Kommissariat findet man aus diesen Tagen folgende Eintragung:» ... kam ein gewisser Schubert Franz, von Beruf Schulgehilfe, vorbei, um den gewaltsamen Tod einer Dirne anzuzeigen. Wie die ersten - 146 -
Untersuchungen ergaben, wurde sie erstochen, vermutlich von ihrem Zuhälter, mit dem es in letzter Zeit aufsehenerregenden Streit gab...!« Die Fahndung nach Konrad Stelzhammer wird eingeleitet. Man verhaftet ihn nach vier Tagen bei Hainburg. Dort hat er im Rausch an einem Wirtshaustisch die Tat bereits hinausposaunt. Er ist geständig. Offizielle historische Berichte schweigen sich gründlich darüber aus, ob dieser Musiker auch wirklich Franz Schubert war. Tatsache ist, daß Schubert am Tag, als die Kreuzmeyer Toni ermordet aufgefunden wird, stundenlang mit seinen Freunden bei Wein sitzt und weint. Wenige Tage später verläßt er vorübergehend Wien. Er darf bei den Esterházys in Ungarn vorspielen, wo er im Jahr 1818 dann tatsächlich als Musiklehrer angestellt wird. Konrad Stelzhammer wird an einem trüben Herbsttag hingerichtet. Als Schubert die Nachricht von der Hinrichtung in der Zeitung liest, meint er zu Franz Grillparzer: »Siehst Franz, jetzt ist mir wieder leichter, wo der Kerl tot ist und für seine Tat gebüßt hat!« Einen Tag später bereits streitet Franz Schubert jeglichen Zusammenhang seiner Person zu dem Mordfall auf das entschiedenste ab.
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Ein sonniger Sommertag des Jahres 1813. Am Graben in der Wiener Innenstadt herrscht reges Leben. In den Vorgärten einiger Cafés sitzen schon seit Stunden überaus gutgekleidete, bildhübsche junge Damen und halten nach Kavalieren Ausschau. Am Graben treffen sich schon am frühen Nachmittag die Nobeldirnen der Kaiserstadt. Gerade jetzt, wo so viele fremde und reiche Leute zum Wiener Kongreß in die Stadt kommen. Da gibt es eine Menge zu verdienen. Aber es sitzen hier nicht nur die regulären Dirnen herum und flirten mit fast jedem gutaussehenden Mann, der vorbeikommt. Es gibt auch verheiratete Frauen aus gutem Haus, die offiziell mit der Freundin bummeln und Einkäufe tätigen, die in Wahrheit aber durch galante Abenteuer ihr Wirtschaftsgeld aufzubessern gedenken. Eine dieser »Geheimdirnen« ist die 35jährige Theresia Hranninger, die Gattin eines recht angesehenen Börsenmaklers. Ihr Mann hält sie finanziell sehr knapp und ist stolz, daß »sein Weiberl« mit dem bescheidenen Kostgeld so gut auskommt und sich noch hübsche Kleider »vom Mund abspart«. Er hat keine Ahnung vom »Nebenberuf« seiner Gemahlin. Jetzt sitzt sie mit einer Freundin, der 38jährigen Maria Zusanek, der Frau eines Leutnants, beim Kaffee. Sie haben sich besonders hübsch hergerichtet. Sie merken, wie sie von einigen umsitzenden Nobeldirnen mit stechenden Blicken gemessen werden. Die Dämchen wissen sehr wohl, daß sie da unerwünschte Konkurrenz bekommen haben. Aber man will allgemein kein Aufsehen erregen. Wegen der Polizisten, die immer wieder den Graben auf und ab spazieren und für Ordnung zu sorgen haben. - 148 -
Da kommt Bewegung in die Menge. Vom Kohlmarkt her ertönt lautes Peitschengeknalle, die Hufe von schnellen Pferden klopfen aufs harte Pflaster. Fiaker und Privatdroschken weichen aus und halten an. Die Frau in den Cafés recken die Hälse und werden nervös: Da kommt eine prächtige Kutsche gefahren. Sie hebt sich von den anderen nicht nur durch ihren besonderen Prunk, sondern durch ihre Farbe ab. Sie ist außen rosarot gepolstert und innen in derselben Farbe ganz mit Seidenstoffen ausgeschlagen. Der Kutscher auf dem Bock trägt ebenfalls eine rosarote Uniform. Und drinnen in der Kutsche - ebenfalls in rosarote Gewänder gehüllt - lehnt lässig in den weichen Polstern ein alter Mann, den ganz Wien kennt. Es ist der 78jährige Fürst Charles Joseph de Ligne, einst ein tapferer belgischer Heerführer, der seit vielen Jahren in politischer Mission in der Stadt an der schönen blauen Donau lebt und gar nicht daran denkt, wieder einmal von hier fortzugehen. Der Fürst hat die ersten Jahre seines Wienaufenthaltes in Hotels und Gasthöfen gewohnt. Später entschloß er sich, sich fest anzusiedeln. Fürst Metternich war ihm dabei behilflich. De Ligne kaufte sich auf der Mölkerbastei ein kleines Haus. Er ließ es ebenfalls rosa und rot streichen, sodaß alle Wiener von weitem schon wußten: »Da wohnt der rosarote Prinz!« Denn so nannten sie den alten Heerführer. Der betagte Fürst biegt in seiner Kutsche auf den Graben ein und läßt anhalten: Er ist sich sehr wohl der Aufmerksamkeit bewußt, die er bei den Wienern erregt. Langsam steigt er aus seinem Gefährt und nähert sich in seiner leicht gebückten Haltung einem der Kaffeehäuser, wo er die meisten hübschen jungen Damen wittert. Denn - gelinde gesprochen - der alte Fürst ist ein rechter Windhund. Er ist ein Schürzenjäger. Freunden gegenüber prahlt er immer wieder: »Ich bin ein geborener Franzose und verstehe etwas von der Liebe. Daher bin ich bei den Damen auch jetzt noch als Greis gefragt!« Man munkelt in Wien, daß der Fürst, als er noch daheim in seiner belgischen Residenz in Brüssel lebte, in regelmäßigen - 149 -
Abständen in seine Geburtsstadt Paris fuhr, um dort pikanten Abenteuern zu frönen. Man erzählt sich, daß er als junger Mann oft in einer Nacht bis zu vier temperamentvolle Damen konsumiert haben soll. Zugegeben: Der Fürst sieht sogar jetzt mit seinen 78 Jahren noch recht gut aus. Doch am meisten lockt die Wienerinnen, die seine Schwächen kennen, das Geld, das er besitzt. Denn er läßt sich die Abenteuer, die er sucht, eine Menge kosten. Er ist nicht geizig, wenn es um ein Schäferstündchen geht. Charles Joseph de Ligne stolziert zwischen den Kaffeehaustischchen hindurch und beäugt die Hübschen, die da sitzen und ihn anlächeln. Sein Blick bleibt an der bildschönen Theresia Hranninger haften. Er verneigt sich leicht und lächelt sie dann an. Leise kommt es über seine Lippen: »Gnädigste sehen wie eine Göttin aus. Wenn wir uns hier verabredet hätten, so hätten wir uns sicher nicht so pünktlich an diesem Tisch getroffen ...!« Theresia Hranninger blickt verwirrt auf: »Was soll das heißen, Fürst?« Er schmunzelt: »... daß ich Ihnen schon seit Tagen auf der Spur bin. Und jetzt habe ich es gewagt, Sie anzusprechen. Ist es gestattet, eine Göttin zu einer Spazierfahrt einzuladen?« Theresia Hranninger spielt noch die Schüchterne. Aber sie nickt, erhebt sich und hakt sich in den Arm des Fürsten ein. Minuten später steigen die beiden in die rosarote Kutsche ein. Der Kutscher ruft: »Ho!« Das Gefährt setzt sich in Bewegung und verläßt in Richtung Rotenturmstraße die Innenstadt. Theresias Freundin, die dralle Maria Zusanek, lehnt sich träumend zurück. Sie beneidet die Hranninger: um das Abenteuer und um das Geld. Da spitzt sie die Ohren. Hinter ihr an einem Tisch unterhalten sich zwei Nobeldirnen. Die eine lacht verächtlich und meint laut und deutlich: »Na, die wird staunen!« Die andere fragt neugierig: »Was meinst denn damit?« Ein ordinäres Lachen folgt: »Es ist net so wunderbar, mit dem Fürst de Ligne ins Bett zu gehen. Es ist fürchterlich, wenn ein alter Mann noch so ein Bock is!« - 150 -
»Geh hör auf. Was waast denn du vom Fürsten de Ligne?« meint die andere Dirne. Wieder ein freches Lachen: »I weiß genug. Schließlich bin i selbst zweimal mit der Kutschen dort weggefahren. Seine Wohnung is die reinste Liebesinsel mit allerhand Maschinen, damit's ihm mehr Spaß macht. Naja, bei einem alten Mann klappt's eben nicht gleich sofort. I tät net für viel Geld mit ihm fahren. Des Geld is nämlich schwer verdient!« Theresia Hranninger ist ganz benommen. Sie tritt mit dem alten Fürsten in das rosarot gestrichene Häuschen auf der Mölkerbastei ein. Im Foyer wartet schon ein Diener. Er verneigt sich: »Gnädiger Herr, erlauchter Fürst: Es ist alles vorbereitet: Die Musik und der Koch sind zur Stelle ...« Der Fürst nickt, greift die Wienerin um die Hüften und zieht sie mit sich in den Salon, in dem es penetrant nach Pariser Parfum riecht. In der Mitte wartet ein großes, breites Bett. Eine
Die Wiener Mölkerbastei: Hier hatte der Fürst de Ligne sein rosarotes Domizil
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Tür ins Nebenzimmer ist verschlossen. Dort sitzen vier Musiker und spielen zarte Liebesweisen. »Ich brauche Musik bei der Liebe«, flüstert der alle Herr und zittert, als er die Hranninger umarmt und küßt. Eigentlich ekelt ihr vor den welken Lippen. Aber sie denkt an die Ehre, mit einem Fürsten zu schlafen und an das Geld, das sie dafür nach Hause tragen wird. Sie schließt die Augen und läßt sich von den faltigen, gierigen Händen die Kleider vom Leib streifen. Gottseidank, denkt sie, ist er noch angezogen. Sie öffnet ein wenig die Augen, während seine Hände auf ihrem jungen Körper kreisen. Dann reißt sie die Augen auf: Der Fürst ist splitternackt. Sein Diener hat ihm während des Küssens mit flinker Hand ausgezogen und ist eben dabei, sich diskret zu entfernen. »Küß mich«, flüstert er der jungen Frau zu, die sich Mühe gibt, Leidenschaft vorzuspielen. Plötzlich aber spürt sie die flinken, überaus zarten Hände des Greises. Ein Zittern geht durch ihren Körper und sie denkt: »Wahrhaftig, der hat die Künste der Liebe gelernt!« Und sie stellt fest, daß sie mit einmal vergißt, daß sie mit einem alten Mann schläft. Theresia Hranninger geht - wie so viele Wienerinnen vor ihr - auf die ausgefallenen Wünsche des Fürsten ein. Sie krallt ihre Fingernägel in seine Haut und erschauert, wenn er echte Leidenschaft zu zeigen vermag. Als sie dann müde und schweißgebadet auf dem Bett liegt und ihr die Knie erzittern und der Fürst ihr das Geld, das er versprochen hat, auf die nackte Haut legt, da flüstert sie beeindruckt: »Wie mußt du als junger Feldherr geliebt haben?« Er aber antwortet lakonisch und zieht sich zitternd an: »Leider habe ich damals viel zu wenig geliebt und viel zu viel in Schlachten gekämpft, meine Liebe...!« Eine Viertelstunde später verläßt Theresia Hranninger das rosarote Haus auf der Mölkerbastei. Die Kutsche des Fürsten bringt sie nach Hause. Der Kutscher hat den Auftrag, von einer Adresse ein Wiener Mädel abzuholen. Der Fürst hat für diesen Nachmittag noch nicht genug. - 152 -
Doch aus dem zweiten Schäferstündchen wird nichts. Blaß tritt der Diener in den Salon, in dem der Fürst sein bestelltes Menü hinunterschlingt: harte Eier, Selleriesalat, gepfefferte Kartoffeln und gebackene Stierhoden. Lauter Leckereien, die dem alten Mann die Potenz erhalten helfen sollen. Denn er will immerzu lieben. Oft und oft meint er zu Freunden: »Wenn ich einmal nicht mehr lieben kann, möchte ich auf der Stelle tot sein!« Er ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, daß sein Wunsch schon bald in Erfüllung gehen wird. »Was ist los?« fragte der Greis seinen Diener. Stumm hält dieser ihm eine Depesche aus Brüssel hin. Der Fürst überfliegt das hochoffizielle Schreiben. Darin heißt es: »... müssen wir Ihnen im Auftrag seiner Majestät mitteilen, daß wir auf Ihre diplomatischen Dienste in vollem Umfang verzichten und Ihnen daher die finanziellen Zuwendungen für Ihre bisherige Mission streichen müssen. Ihr militärischer Ruhestandsalair wird Ihnen wie gewohnt per Post und Bank zugestellt...!« Der Fürst stottert, als er sich erhebt: »Weißt du, was das heißt? Die schicken mir kein Geld mehr. Die brauchen mich nicht als Beobachter beim Wiener Kongreß. Und weißt du, was sie noch schreiben? Sie wären zu diesem Schritt gezwungen, weil man über mich zuviel Weibergeschichten berichtet. Das schade dem Staat, den ich hier in Wien vertrete ...!« De Ligne zerreißt das Schreiben. Niemand soll erfahren, daß er als Diplomat nicht mehr im Amt ist. Er will den Wiener Kongreß in vollen Zügen genießen und unter den Oberhäuptern der großen Staaten verkehren. Tatsächlich erfährt Metternich niemals, daß der Fürst zum Schluß als Privatmann in Wien weilt und keinerlei Aufgaben seines Staates mehr erfüllt. Der Fürst fixiert seinen Diener: »Bei Hof darf man auch nicht erfahren, daß ich kein Geld mehr habe. Wir müssen also dort einsparen, wo es die Gesellschaft nicht merkt...!« Der Diener nickt: »Ich lasse die Dame, die eben gebracht wird, wieder wegschicken. Sie ist verwöhnt und verlangt zu viel. Ich werde mir erlauben, von jetzt an dem gnädigen Herrn Mäd- 153 -
chen von ebenso reizvoller Schönheit, aber von weitaus niedrigerem Stand zu präsentieren. Sie sind billiger...!« Tage später. Eine vornehme Soiree des Fürsten Metternichs ist in vollem Gang. Der Fürst de Ligne ist auch dabei. Metternich sucht ein Gespräch mit dem alten Mann und flüstert ihm zu: »Nun, wie gefällt Ihnen der Wiener Kongreß... ?« Der Staatskanzler zwinkert dabei und deutet auf die hübschen Damen rundum. Da meint der Fürst: »Herr Kanzler, dieser Kongreß ist so prächtig und reizvoll, weil er nicht tagt, sondern weil er immer tanzt!« Mit diesem Satz geht der »rosarote Prinz« in die Geschichte ein. Sogar Spielfilme wie »Der Kongreß tanzt« bedienen sich seines Ausspruches. Metternich flüstert dem Schürzenjäger zu: »Da Sie kein Kostverächter sind, darf ich Sie zu einem Jagdausflug in kleinem Kreis einladen? Nach Mödling soll's gehen. Nur auserlesene Herren. Die Damen sind diskret. Ich verbürge mich dafür. Allerdings sind sie nicht billig. Aber Geld spielt doch keine Rolle...!« Da zieht sich der Fürst geschickt aus der Affäre. Er will nicht sagen, daß er sich derart teure Mädchen nicht mehr leisten kann. Er zieht die Stirn kraus und meint: »Herr Kanzler, Sie werden es nicht glauben. Ich hab mich in ein einfaches Wiener Mädel verliebt, mit dem ich mich regelmäßig treffe. Ich will sie nicht enttäuschen und bin ihr treu!« Metternich glaubt es nicht. Er läßt den Fürsten de Ligne tagelang beschatten. Später findet man dann einen Bericht des Spitzels, schlampig mit der Hand auf einige Bogen Papier gekritzelt. Da heißt es: »Man wird aus dem Verhalten des Fürsten de Ligne nicht klug. Fuhr er früher mit seiner Kutsche durch die Innenstadt, so läßt er sich jetzt hinaus in die Vorstadt kutschieren und sucht sich käufliche Mädchen, die billigen, die außerhalb der Stadtmauer stehen und hinter Büschen auf Kundschaft warten!« Eines Abends beobachtet der Spitzel, wie der Fürst in einer - 154 -
Das Straflager für Dirnen im alten Wien vor den Toren der Stadt
winkeligen Gasse von Favoriten ein Mädchen aufliest und in die Kutsche holt, die vorher zwei Betrunkene zusammengeschlagen haben. Sie heißt Tori Stani und ist eine Budapesterin. Sie erholt sich im rosaroten Haus des Fürsten bald und läßt sich von ihm lieben. Sie verlangt nichts dafür. Sie liebt den alten Mann. Tori Stani kommt von nun an fast täglich. Sie kann es sich leisten, weil ihr Zuhälter und Ehemann - ein Vorstadtgastwirt - im Zuchthaus sitzt. Doch eines Tages ist er wieder daheim. Tori läßt den Fürsten vergeblich warten. Das ist sein Tod. Scharf fegt ein eisiger Wind über die Mölkerbastei. Es ist ein später Jännerabend des Jahres 1814. Einige hundert Meter von seinem rosarot gestrichenen Häuschen geht der inzwischen 79 Jahre alte Fürst de Ligne auf und ab. Er ist in einen seidenen - 155 -
So und ähnlich machten sich Karikaturisten über das Liebesleben des greisen Fürsten de Ligne lustig
Mantel gehüllt, der wie ein Militärrock geschnitten ist. Ein weißer Schal schützt den Hals des Greises. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. So steht er da, vom fahlen Mondlicht beschienen und hält Ausschau. Er erwartet seine junge ungarische Freundin, Tori Stani. Sie hat ihm versprochen zu kommen und sich ihm wieder mit ihrem glühenden, leidenschaftlichen Körper hinzugeben. Er ist allein beim Gedanken daran erregt. Die Viertelstunden verrinnen. Der Abendwind wird immer eisiger und unangenehmer. Der Fürst trippelt nervös hin und her. Er fühlt, wie ihm die ungemütliche Kälte den Körper hochkriecht. Doch Tori kommt an diesem Abend nicht. Sie liegt daheim auf dem Wirtshaustisch in wilder Umarmung mit ihrem Mann, der unverhofft aus dem Zuchthaus entlassen worden ist. Tori - 156 -
hat den Fürsten ganz vergessen. Und als sie daran denkt, ist Mitternacht längst vorbei. Sie beschließt, ihn ein andermal aufzusuchen und für das Warten zu entschädigen. Doch sie sieht ihn nie wieder. Zwei Stunden wartet der greise Fürst im Schnee. Dann beginnt seine zarte Gestalt zu schwanken. Er bricht mit einem leisen Aufschrei zusammen. Einige Passanten beobachten die Szene und laufen herbei. Sie tragen den frosterstarrten Mann, den sie sofort erkennen, zu seinem Haus und läuten den Diener heraus. Eine Frau hat inzwischen nach einem Arzt geschickt. Der Doktor ist Minuten später zur Stelle, weil er auf der Mölkerbastei wohnt. Er läßt den Fürsten aufs Bett legen und will ihn entkleiden, damit ihm leichter wird. Doch als er den Seidenmantel aufgeknöpft hat, fährt er mit einem Ausruf des Erstaunens zurück: Der alte Mann ist darunter splitternackt. Er war schon auf das Schäferstündchen mit der jungen Ungarin vorbereitet und wollte sich das langweilige Ausziehen ersparen. Doch das kostete ihm nun sein Leben. Der Frost und das lange Warten im Freien haben dem Greis den Rest gegeben. Eine Stunde später konstatiert der Arzt eine schwere Lungenentzündung. Vier Tage ringt der Fürst um sein Leben. Dann verlassen ihn seine Körperkräfte. Er stirbt an hohem Fieber. Seine letzten Worte, die er hinhaucht, sind: »Ich liebe die Wienerinnen...!« Das Kongreßpublikum erlebt ein großartiges Schauspiel, als man den einstigen Feldmarschall mit allen Ehren zu Grabe trägt. Und so manche Grafengattin oder Straßenhure kann sich brüsten, von diesem Mann geliebt worden zu sein. Der rosarote Prinz findet auf dem idyllischen Kahlenberger Friedhof sein Grabe, versteckt zwischen Kastanienbäumen und Weinstöcken, eben dort, wo ein Jahr später auch die schöne Caroline Traunwieser zu Grabe getragen wird, die aus Liebe zu einem Offizier in der Winterkälte erfror. Über den Fürsten de Ligne wird in Wien noch lange geklatscht. - 157 -
Die junge Frau steht in ihrer frischen, jugendlichen Schönheit am Fenster ihrer geräumigen Wohnung in der Rotenturmstraße und blickt zum Stephansdom hinüber. Ihre sonst so großen, leuchtenden Augen haben sich zu schmalen Schlitzen verengt. Sie ist erregt. Ihr nackter, schlanker Körper mit dem üppigen Busen glänzt romantisch im Mondlicht, das in den Raum fällt. Langsam gleiten ihre Hände über ihre Haut. Sie erschauert dabei, denn sie stellt sich vor, daß ein anderer ihren Körper berührt. Einer, den sie nicht kennt, und nach dem sie sich dennoch sehnt. »So komm schon Liebling«, hört sie die leise Stimme ihres Geliebten. Er wartet in ihrem Bett auf sie. Doch sie läßt sich Zeit. Ihr ist noch nicht danach zumute, mit ihm zu schlafen. Sie muß immer an diesen unbekannten anderen denken. Und sie weiß, wenn sie jetzt mit ihrem Kavalier in wilder Umarmung daliegen wird, so muß sie einfach in die Wirklichkeit zurückfinden. Langsam dreht sie sich um. Ein frivoles Lächeln liegt auf ihren Lippen. Mit einem Mal findet sie es reizvoll, was sie vorhat: Sie wird den einen lieben und dabei an den anderen denken. Das ist die einzige erträgliche Lösung. Ihre Brüste straffen sich. Sie schreitet fast feierlich zum breiten Himmelbett. Dort sitzt ihr junger Geliebter, der Baron Stephan von Wesenheim, der Nachkomme eines steirischen Adelsgeschlechtes. Er hat sie vor einigen Jahren nach ihrer Vorstellung in Linz kennengelernt und ist ihr nach Wien gefolgt. Sie ist keine geringere als Henriette Fossi-Theimer, eine der führenden Wiener Theatersängerinnen, die als Cherubin in Mozarts »Figaro« immer wieder stürmische Erfolge feiert. - 158 -
Als ihr dieser junge Baron in der Garderobe das erste Mal gegenüberstand, da gefiel er ihr. Und als sie sich schon nach zwei Tagen in ebenderselben Garderobe liebten, da fand sie ihn aufregend. Dann aber ist er ihr so besonders sympathisch, weil er reich ist und sie mit Geld und Geschenken überhäufte. Allmählich werden für Henriette Foss-Theimer die Geschenke und das Geld wichtiger als die Liebe. Einmal schreibt die Sängerin einer Freundin nach Budapest: »Manchmal ekelt mir vor mir selbst. Ich habe einen zahlenden Liebhaber. Also bin ich im Grunde genommen ein sehr leichtfertiges Mädchen...!« Und jetzt sitzt er da im Bett und wartet. Seine Augen tasten wohlgefällig die Nacktheit der Sängerin ab. Sie ist eine herrlich wilde Frau. Fast zu wild. Sie empfindet den jungen Baron nach all den Jahren als »ein wenig einfallslos und fad«, wie sie sich einmal ausdrückt.
So sah der Wiener Prater in früherer Zeit aus. Der heutige verkehrsreiche Praterstern glich einer Parklandschaft
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»Also, was ist, Henriette?« flüstert er. »Zier dich net so. Komm endlich zu mir...!« Sie steht hart vor ihm und dreht sich plötzlich wieder um. »Schatzerl«, meint sie leise, »du hast was vergessen...!« Er murmelt einen Fluch, springt aus dem Bett und ist mit wenigen Schritten bei seinem Sakko. Während er nach seiner Brieftasche angelt, fragt er: »Warum bist du nur so geworden? Jetzt verlangst du schon vorher dein Geschenk oder das Geld. Und immer betonst du, daß dir Geld lieber ist...!« »Mein Lieber, vergiß nicht: Eine Sängerin will leben!« »Aber du kriegst doch gute Gagen, wie man hört!« Sie lacht: »Eine Sängerin will eben gern noch besser leben. Aber sei doch nicht albern. Du hast doch hoffentlich all diese Geschenke an mich net bereut!« Er schüttelt den Kopf, stürzt auf sie zu, umarmt und küßt sie. Sie lächelt. Sie weiß, wenn er bei ihr ist, dann kann sie mit ihm machen, was sie will. Dann ist er ihr hörig. »Stephan!« Sie singt seinen Namen beinahe. »Stephan. Du mußt mir helfen. Ich hab da ein Problem ...!« Er blickt auf und zieht sie zum Bett. Sie setzen sich hin. Henriette Fossi-Theimer erhebt sich, geht zu ihrem zierlichen Damenschreibtisch, zündet eine Kerze an, holt aus der Lade einen Briefumschlag und kommt zurück. Der junge Baron ist neugierig. Er nimmt den Umschlag und zieht ein blütenweißes Stück Papier heraus, auf dem mit deutlicher Handschrift ein Gedicht gemalt ist. Es heißt »Cherubin« und ist eine stürmische Ode auf Henriette Fossi-Theimer. Aufgeregt liest der Baron Zeile für Zeile. Dann springt er auf und wirft das Gedicht zu Boden: »Verdammt noch einmal, wer ist der freche Kerl, der es wagt, solche Dinge zu dir zu sagen? Wie kommt er dazu, immer wieder von deinem Busen zu schwärmen, von deinen heißen Lippen. Wer ist der Kerl? Ich will mich mit ihm duellieren...!« Henriette sieht jetzt ganz ernst drein: »Du bist ein Dummkopf. Ich habe dieses Gedicht schon vor Monaten erhalten, mich aber nie darum gekümmert. Erst dieser Tage ist mir beim - 160 -
Lesen aufgefallen, welch stürmische Glut in diesen Worten liegt. Dieser Mann muß mich ja schrecklich verehren und förmlich nach mir brennen ...!« »Und wer ist es?« »Das weiß ich eben nicht. Der Brief trägt keinen Absender. Darum mußt du mir helfen. Ich will herausbekommen, wer dieses Gedicht gemacht hat...« Der Baron lehnt sich blaß an die Wand: »Das kannst du von mir nicht verlangen.« Henriette steigt reizvoll ins Bett und legt sich zurück: »Mein kleiner Baron, du wirst es tun. Weil du mich magst. Und weil du nicht von mir loskommst. Sonst jage ich dich nämlich davon. Komm, heb das Gedicht auf, steck es ein und finde den Dichter. Du wirst es nicht bereuen. Und jetzt beeil dich: Ich warte...!« Baron von Wesenheim hebt das Blatt Papier auf und schiebt es in seine Brieftasche, die auf der Kommode liegt. Er nimmt ein paar Geldscheine heraus und legt sie auf die Silbertasse. Das ist sein Geschenk an die Sängerin. Doch er will heute nicht mehr »konsumieren«. Er spuckt im Zimmer aus. »Besten Dank, gnädigste Künstlerin. Ich verzichte auf ihr Bettangebot. Es soll wohl die Belohnung dafür sein, daß ich dir einen anderen Mann zuführe, den du kennenlernen möchtest. Ja, ich mag dich. Du weißt es leider. Und ich werde dir sogar deinen Dichter ausfindig machen.« Hastig eilt er davon. Der Wiener Kongreß ist schon Jahre vorbei. Ein strenger Wintertag des Jahres 1821. Im Palais Seymüller - dem heutigen Gebäude des niederösterreichischen Landesmuseums in der Herrengasse in der Wiener Innenstadt - brennen sämtliche Lichter. Die namhafte Wiener Bankiersfamilie gibt wieder einen Abend, wie das eben zu dieser Zeit in Wien die reichen Leute so tun. Man hat - den Franzosen abgeschaut - sogenannte Salons gegründet. Man lädt Gesellschaften ein und sammelt prominente Namen um sich. Vor allem die vornehmen Damen finden diese Art von Unterhaltung überaus reizvoll. Die Gattin jedes reichen und - 161 -
angesehenen Mannes schart einen Kreis um sich, mit dem sie sich regelmäßig trifft. Diese »Jours« werden zu einer kulturell und sittengeschichtlich höchst bedeutungsvollen Erscheinung. Koketterie, Flirt und Liebe spielen dabei eine wichtige Rolle. Die ganze Atmosphäre knistert vor erotischen Spannungen, vor allem wenn man unter Erotik die vergeistigte Form der Sexualität sehen will. An jenem Winterabend begrüßt Klara Seymüller einige Diplomaten und den Wiener Dramatiker Franz Grillparzer. Er ist vor allem gekommen, um sich mit Beethoven und mit Rossini zu treffen. Die beiden wurden auch eingeladen, weil sie zu ständigen Kunden des Bankhauses Seymüller zählen. Doch sie kommen an diesem Abend nicht. Grillparzer aber bereut es nicht, daß er gekommen ist. Er sucht ohnehin Zerstreuung. Mit seiner Geliebten Charlotte Paumgartner - sie ist die Frau seines Vetters - gibt es Reibereien. Man hat sich auseinandergelebt. Das Verhältnis ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Da geht die Tür auf. In den großen Salon treten vier bildhübsche Mädchen, von denen Grillparzer sofort fasziniert ist. Drei von ihnen sorgen für die musikalische Untermalung des Abends. Sie spielen Klavier und singen. Die vierte und jüngste setzt sich zu den Zuhörern. Gerade ihr gilt Grillparzers Aufmerksamkeit. Er starrt sie fasziniert an. Der Bankier Seymüller bemerkt es und will dem Dichter einen Gefallen tun. Als die drei Mädchen mit dem Gesang fertig sind, dirigiert er sie mit der vierten Schwester zu Franz Grillparzer und stellt sie ihm mit den Worten vor: »Das sind Ihre glühendsten Verehrerinnen, lieber Freund!« Grillparzer hat nur Augen für die Jüngste. Er erfährt, daß sie Katharina Fröhlich heißt. Sie verkehrt mit ihren Schwestern im Haus Seymüller, weil Anna Fröhlich, die Älteste, den Bankierskindern Klavierunterricht gibt. Der Dramatiker ist hingerissen. Doch er wird abgelenkt. In einer Pause, in der er eigentlich mit Katharina Fröhlich reden wollte, tritt ein junger, gutaussehender Mann auf ihn zu - 162 -
und fragt höflich: »Meister Grillparzer, erlauben Sie, daß ich Ihnen eine Frage stelle? Sie sind doch ein Meister des gedichteten Wortes. Sie kennen sicher auch die Stile anderer Künstler. Darf ich Ihnen ein Gedicht vorlegen, von dem ich gern wüßte, wer es verfaßt hat... ?« Grillparzer nickt höflich: »Aber gern, junger Freund, wer sind Sie?« »Baron Stephan von Wesenheim, Herr von Grillparzer...!« Der Dichter nimmt das Papier und beginnt zu lesen. Doch nur einige Worte. Er wird blaß und hält den Atem an. Dann fragt er den jungen Baron: »Wie kommt dieses Gedicht in Ihre Hände?« Wesenheim erzählt es bereitwillig: »Henriette Fossi-Theimer, die Theatersängerin, bekam es zugeschickt. Ohne Namen. Sie ist ganz verrückt nach dem Verfasser. Ich mußte ihr versprechen, ihn zu suchen, wenn ich es auch ungern tue.« Grillparzer sieht ihn scharf an: »Wo wohnt denn Ihre Henriette?« Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: »In der Rotenturmstraße - Ecke Stephansplatz...!« Sekunden später bereut der Baron seine Worte. Grillparzer klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter murmelt: »Machen Sie sich nichts daraus, Baron. Dieses Gedicht hab ich gemacht, weil ich Ihre Henriette zu den schönsten Frauen zähle, die es auf Gottes Erden gibt.« Der Baron will etwas sagen. Die Kehle ist ihm plötzlich zugeschnürt. Darauf wäre er nie gekommen: Der Grillparzer und dieses recht offene Gedicht! Henriette darf nicht erfahren, daß gerade dieser prominente Dichter die Zeilen schrieb. Grillparzer hat sich abgewendet. Er strebt dem Ausgang zu. Mit wenigen Schritten ist der Baron bei ihm und stellt sich ihm in den Weg: »Wohin, Meister Grillparzer?« Die Antwort ist kurz. Sie lautet: »Das geht Sie gar nichts an!« Der Baron will aufreiben. Er will den Dichter mit Gewalt daran hindern, das Palais zu verlassen. Da steht plötzlich Katharina Fröhlich vor ihnen und sieht den Dichter mit unschulds- 163 -
voller Miene an: »Aber, Herr von Grillparzer. Sie wollen uns doch net etwa schon verlassen... ?« Grillparzer blickt in die Mädchenaugen. Dann sieht er die rassige Sängerin Henriette Fossi-Theimer vor sich. Wie sie ihn allein von der Bühne her fasziniert. Er stößt den Baron zur Seite, murmelt irgendeine Drohung und rennt auf die Straße. Schon sitzt er in einer Droschke und ruft dem Kutscher zu: »In die Rotenturmstraße, Ecke Stephansplatz, aber eilig. Zur Mademoiselle Fossi-Theimer...!« Weder aus Aufzeichnungen der Sängerin, noch aus Berichten des Dichters selbst geht hervor, wie sich dieses Zusammentreffen der beiden abspielte. Wie man aber später aus einem Tagebuch einer Zofe der Künstlerin entnehmen kann, muß es eine stürmische und selige Nacht gewesen sein. Doch die gute Henriette Fossi-Theimer blieb dennoch bei ihrem Baron. Weil er - wie sie ehrlich zugab - mehr Geld hatte als der »herrliche, aber bescheidene und knausrige Grillparzer«, der schließlich von einem Staatsgehalt lebte und oft sehr lang auf die Tantiemen seiner Theaterstücke warten mußte. Unglaubwürdig ist, was Grillparzerforscher später berichten: daß nämlich die Zuneigung zwischen der Fossi-Theimer und dem Dichter rein platonischer Natur gewesen sei. Man darf eines nicht vergessen: Das Bild Grillparzers ist von seiner Nachwelt sehr verzerrt worden. Man hat ihn später immer nur als den grantigen und unnahbaren Hofrat dargestellt, der für das schwache Geschlecht wenig oder gar nichts übrighatte. Das sind regelrechte Lügen der Geschichte. Grillparzer war - wie beispielsweise auch der namhafte österreichische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Professor Friedrich Schreyvogel erforschen konnte - kein Hagestolz, sondern vielmehr ein lebenslustiger Mann, der leidenschaftlich lieben konnte. Die Frauen, die ihm angehörten, zählten zu den schönsten von Wien. Er war umschwärmt und machte von den Angeboten reichlich Gebrauch. Er war kein Kostverächter. Er verlangte von seinen Begegnungen die letzte Erfüllung der Liebe. Und die Damen der Gesellschaft verweigerten sie ihm nicht. - 164 -
Und so sieht der Reigen der Frauen aus, mit denen er nachweislich stürmische Liebesverhältnisse hatte: Da ist zuerst Charlotte Paumgartner, die Frau seines Vetters. Als er Katharina Fröhlich kennenlernte, löste er diese Liebe. In dämonischer Leidenschaft verfiel er Marie von Smolenitz, die später den Maler Daffinger heiratete. Sie betrog Grillparzer bereits mit dem reichen Sigmund von Wertheimstein. In ihr Tagebuch schrieb sie: »Der Grillparzer ist ein wundervoller Mann, den ich mein ganzes Leben nicht missen möchte. Er ist so stark und männlich. Er kann so herrlich küssen. Doch der Sigmund hat eben so wunderbar viel Geld. Und das braucht man halt sehr notwendig...!« Während er bereits mit Katharina Fröhlich lebte, verliebte er sich vorübergehend in die schöne Heloise Höchner, später in die Kärntnerin Josephine Miglitz. Mit den beiden letztgenannten verbrachte er wunderbare Liebesstunden, die er nach eigenen Angaben niemals vergaß.
In der Wiener Gesellschaft waren Pariser Gesellschaftsspiele sehr gefragt, wie etwa das »Unter-die-Röcke-gucken«
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Grillparzer meint einmal selbst zum Thema Liebe: »Ich glaube, ich durfte in meinem bisherigen Leben die ganze Skala männlicher Empfindungen erleben und den Charakter der Frauen in Verschiedenheit, seine Anziehung und seine Abstoßung hellsichtig beobachten. Was ich als Mann erlebte, habe ich als Dichter zu gestalten versucht...!« Daher die Vielfalt seiner Frauengestalten in seinen Dramen. Das hätte einem liebesfremden, grantigen Hofrat niemals so gut gelingen können... Seit dem Abend bei den Seymüllers ist ein Vierteljahr verstrichen. Franz Grillparzer ist wieder in einem Salon zu einer Abendgesellschaft zu Gast. Diesmal nicht bei der Familie Seymüller, sondern bei der Konkurrenz, im Hause Arnstein, ebenfalls einer angesehenen Bankiersdynastie. Die Gastgeberin ist Fanny von Arnstein. Sie ist ganz aufgeregt, als sie Grillparzer, Metternich, Wellington, Schlegel, Humboldt, Varnhagen und Körner an diesem Abend begrüßen darf. Sie führt die Herren in den Salon, wo bereits Erfrischungen gereicht werden. Ein Klavierspieler sorgt für Stimmung. Für neun Uhr sind die Geschwister Fröhlich zum Vorspielen und Vorsingen angekündigt. Bis dahin will man sich die Zeit durch Gespräche und Spiel vertreiben. Doch an jenem Abend kommt keine rechte Stimmung auf. Da hat Metternich eine Idee: »Ich weiß ein neues Spiel, aber es ist nicht ganz stubenrein. Man darf sich darüber nicht entrüsten. Es ist ja nur ein harmloses Spiel!« Alle bedrängen ihn, davon zu erzählen. Metternich läßt sich lange bitten, ehe er loslegt: »Das Spiel kommt aus Paris. Im Mittelpunkt stehen die Damen. Alle müssen mittun. Sie setzen sich in einem Kreis rundum. In der Mitte nehmen je zwei Herren Platz. Einem wird ein Sessel gebracht, auf dem er Platz nimmt. Der andere kauert sich auf die Erde. Nun beginnt der Mann auf dem Sessel zu raten, welche Farbe die Strümpfe und die Unterwäsche der einzelnen Damen haben...« Metternich blickt sich um. Schweigen. Die Männeraugen beginnen zu glänzen und auch die Damen scheinen nicht abgeneigt. - 166 -
Als der Kanzler meint: »Aber vielleicht ist es besser, wir lassen es!«, da meint die Gastgeberin: »Warum? Es ist doch harmlos. Wir spielen mit!« Die Stimmung ist mit einem Schlag wieder da. Die Frauen rücken ihre Stühle zu einem großen Kreis. In der Mitte steht ein Polstersessel. Nun entscheidet unter den anwesenden Herren das Los, wer als erster beginnt. Die Wahl fällt auf Varnhagen. Schmunzelnd setzt er sich hin und visiert die einzelnen Frauen
Ein Gesellschaftsspiel aus dem alten Wien: »Kirschenpflücken«
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an. Dann blickt er auf die Gräfin Seitenstetten und murmelt ein wenig verlegen: »Ich erlaube mir zu vermuten, daß Frau Gräfin eine rosa Unterwäsche und schwarze Strümpfe tragen...!« Schmunzeln auf allen Lippen rundum. Sie nickt errötend: »Es stimmt!« Da meint Metternich mit glitzernden Augen: »Jetzt kommt der Mann dran, der das zweite Los gezogen hat. Grillparzer, Ihre große Stunde ist gekommen...« Grillparzer kniet auf dem Teppich und fragt: »Was soll ich tun?« Metternich lacht: »Nachsehen, ob der Varnhagen recht hat und ob die Gräfin die Wahrheit spricht...!« Wieder ist es mäuschenstill. Niemand glaubt wirklich daran, daß Grillparzer der Gräfin unter den Rock schauen wird. Doch das Spiel aus Paris, das sich dort die feine Gesellschaft zurechtgelegt hat, geht nun einmal so und nicht anders. Und Grillparzer ist kein Spielverderber. Er nähert sich der Gräfin und hebt ein wenig ihren weiten Rock. Jetzt ist der Bann gebrochen. Alle biegen sich vor Lachen. Grillparzer kommt wieder hoch und meint, indem er mit der Zunge schnalzt: »Ohlala, meine Herren. Es stimmt. Mehr darf ich als Kavalier nicht zu meinem Erlebnis sagen...!« Da fliegt die Tür zum Salon auf. Schluchzend läuft ein Mädchen aus dem Zimmer und ruft: »Das hätt ich mir von diesem Grillparzer nicht erwartet. Gerade von ihm nicht!« Es ist Katharina Fröhlich. Sie war leise mit ihren Schwestern eingetreten und Zeugin des Spieles geworden. Sie ist entsetzt. Doch Grillparzer, der von ihr fasziniert ist und sie jetzt erst richtig beachtet, eilt ihr nach und besänftigt sie. Er bringt sie zurück zu den anderen. Sie beruhigt sich und spielt und singt mit ihren Schwestern für die Gäste. Dabei verliebt sich Grillparzer in sie. Eine Stunde später promenieren die beiden in einem Vorsaal des Palais und küssen einander bereits. Eine Woche später - man trifft sich wieder bei Seymüllers sind sie ein Paar. Zu diesem Zeitpunkt weiß Kathi Fröhlich - 168 -
noch nicht, auf welch tragisch-schicksalsschweres Leben sie sich da einläßt. Sie ist glücklich und voller Hoffnungen. Hoffnungen, die sie an der Seite Grillparzers später nach und nach aufgeben muß, obwohl sie nie bereut, seine ewige Braut zu sein... Ganz Wien spricht noch wochenlang davon, daß Grillparzer einer Dame der vornehmen Gesellschaft unter den Rock guckte. Es werden sogar Karikaturen gezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt weiß man in Wien noch, daß Grillparzer ein Genießer und Frauenverehrer ist. Heute hat man es vergessen. Aufzeichnungen von Freunden und eigene Notizen des Dichters verraten heute dem erfahrenen Wissenschaftler, daß er - der angeblich so grantige und unnahbare Hofrat - ein sehr potenter Mann war, der aber angeblich von aktiven Frauen zur Leidenschaft geführt werden mußte. Das war natürlich damals verpönt und wurde nicht besprochen. Doch heute weiß man, daß Grillparzer zwar ein herrlicher Liebhaber, aber ein passiver Partner war, der erst aus der Reserve gelockt werden mußte. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, daß man immer versucht hat, ihn nach seinem Tod zu dem lieblosen, humorlosen und einsamen Menschen abzustempeln, der er niemals war. Die Wiener vergötterten ihn bereits zu seinen Lebzeiten. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Und nicht nur zu Füßen, wie man inzwischen weiß...
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Strahlender Sonnenschein dringt durch die hohen Fenster des Bürgerhauses in der Pfarrgasse in Baden bei Wien. Der Raum wirkt freundlich und golden. Es ist die komfortable Wohnung des Weinhändlers und Hofweinlieferanten Valentin von Zankorek, auf den Kaiser Franz große Stücke hält, weil er ihm auf Wunsch so manch guten Tropfen besorgt, den man sonst im ganzen Land nicht bekommt. Kaiser Franz hat nämlich oft Gusto auf ausgefallene ausländische Weine. Vor allem hat er eine Schwäche für Süßweine. Und darauf versteht sich der Händler. Er läßt sich seine Dienste gut bezahlen und lebt deshalb dementsprechend gut und fürstlich. Jetzt dehnt und streckt er sich in seinem breiten Bett. Die Strahlen der Sonne haben ihn aufgeweckt. Neben ihm raschelt die seidenbestickte Bettdecke seiner Frau: Barbara von Zankorek, eine gutaussehende Blondine, setzt sich auf. Mit schnippischer Stimme meint sie zu ihrem Gatten: »Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ich nämlich nicht. Ich bin die vielen Stunden seit gestern Abend dagelegen und habe nachgedacht...!« »Worüber?« Sie lacht entrüstet: »Über uns beide natürlich. Da stimmt doch etwas nicht!« Der Weinhändler rückt zu ihr. Er hat eine unsichere Stimme: »Das ist doch Unsinn. Das kommt in jeder Ehe vor. Manchmal klappt es eben nicht.« »Manchmal ist sehr gut!« kreischt Barbara von Zankorek und schlägt die Bettdecke zur Seite. Sie liegt splitternackt da und - 170 -
ihr bronzener Körper, den sie ganz gegen die Gewohnheiten der damaligen Zeit heimlich der Sonnenbestrahlung aussetzt, glänzt verführerisch in der Morgensonne. »Manchmal ist sehr gut. Es klappt doch seit Monaten überhaupt nicht mehr mit uns. Du siehst mich begehrlich an, du bist mit deinen Händen zärtlich zu mir. Aber das ist schon alles. Wenn's dann darauf ankommt, da versagen wir beide. Du, weil du plötzlich deine ganze Männlichkeit verlierst und ich, weil ich hysterisch werde ...« Sie wirft sich herum, verbirgt ihr Gesicht im Polster und weint. Valentin von Zankorek streicht ihr mit seinen Fingern über ihr appetitliches Hinterteil und legt seine Hände an ihre schmalen, reizvollen Hüften. Er spürt, wie erregt er ist. Doch er weiß, daß es auch heute nicht klappen wird. Irgend etwas fehlt in letzter Zeit bei der körperlichen Vereinigung der beiden. Irgendwo
In sogenannten »Porzellanfuhren« ließen sich viele Pärchen durch Wien führen
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hat sich ein Fehler eingeschlichen. Vielleicht sind ihre Liebkosungen schon zu sehr Routine geworden. Der Weinhändler mag nicht, daß seine Frau so verzweifelt ist. Er beobachtet ihren pikanten Körper, die sanften Schultern, die sich jetzt beim Weinen heben und senken. Er zieht seine Frau an sich und bedeckt ihre Haut mit zarten Küssen, die merklich heißer werden. Barbara spürt, wie ihre Sinne in Ekstase geraten. Sie will endlich wieder einmal ohne zu denken in wilder Umarmung Glück empfinden. Sie klammert sich an ihren Mann. Schnell hat er sein Nachthemd abgestreift und seine Frau mit den besten Vorsätzen an sich gedrückt. Doch die panische Angst, wieder zu versagen, verdirbt auch jetzt wieder die Liebesstunde an jenem sonnigen Morgen des Jahres 1820. Barbara springt im Bett auf. Sie zittert vor Enttäuschung und Zorn: »Du elender Versager. Gestern abend und jetzt heute früh. Ich halte das nicht mehr aus.« Der Weinhändler erhebt sich. Rasch ist er angezogen. Das Frühstück, das das Dienstmädchen gerade hereinbringt, läßt er stehen. Er meint hastig: »Die gnädige Frau wird alleine frühstücken. Ich muß in aller Eile mit der Equipage nach Wien. Der Kaiser erwartet mich. Er hat neue Weinwünsche. Außerdem gibt es ein Fest bei Hof. Und da muß ich eine Menge Wein besorgen...!« Barbara von Zankorek hat sich wieder gefangen. Sie steht ihrem Gatten mit steinernem Gesicht im Morgenmantel gegenüber, als sie sich von ihm verabschiedet: »Wann bist du wieder zurück?« »Sicher noch heute abend, meine Liebe!« haucht er und gibt ihr einen Kuß auf die Wange. Ihm ist dabei nicht behaglich. Er hätte es lieber gesehen, wenn er seine Frau nach langer Zeit wieder einmal hätte zufriedenstellen können. Er ist froh, daß er bald aus dem Haus ist. Sein Kutscher wartet schon mit dem Wagen. Valentin von Zankorek wirft sich in die weiche Polsterung. Dann fährt der Wagen rasselnd los. Barbara von Zankorek ißt ohne Appetit ihr Ei und das Weiß- 172 -
gebäck. Plötzlich steht das Mädchen vor ihr. Sie ist Französin und arbeitet seit dem Wiener Kongreß im Haus des Weinhändlers. Sie heißt Florence und ist sehr hübsch. Ihre Mutter war Pariserin, der Vater stammte aus Algier. Sie hat eine dunklere Hautfarbe als andere Französinnen und blickt aus blitzenden Augen in die Welt. »Madame«, meint sie zu ihrer Herrin, »Sie haben mir versprochen, daß ich mir heute freinehmen darf. Brauchen Sie mich noch?« »Nein«, winkt Barbara von Zankorek ab. »Was macht Sie denn heute?« Florence wird rot. Sie wird immer rot, wenn sie lügt: »Ich besuche eine Freundin in Mödling, die ebenfalls aus Paris stammt und im Haushalt tätig ist...!« Eine halbe Stunde später verläßt die Französin das Haus. Sie sieht wie eine Herrin, nicht wie ein Dienstmädchen aus. Die Männer drehen sich nach ihr um, als sie zur Haltestelle der Postkutsche nach Wien eilt. Sie freut sich schon auf die Kaiserstadt. Einen Tag lang wird sie vergessen, daß sie dienen muß. Sie wird das umworbene Mädchen sein und Geschenke und Geld einstecken. Und nette Männer kennenlernen. Wien ist ja seit dem Wiener Kongreß randvoll mit liebeshungrigen Kavalieren, die in der Innenstadt Ausschau nach netten jungen Damen halten. Barbara von Zankorek zieht den Vorhang wieder zu. Sie hat dem Mädchen nachdenklich nachgesehen und überlegt: »Ob die wohl das Glück einer hemmungslosen Liebesnacht kennt...?« Plötzlich strafft sich der Körper der Frau. Sie denkt an die vielen höflichen Ausländer, die ihr bei so manchen Empfang in Wien die Hand küssen und ihr - wenngleich auch ihr Mann danebensteht - die heißesten Komplimente ins Ohr flüstern. Wenn sie jetzt an einen fremdländischen Mann, vielleicht gar einen mit dunkler Haut denkt, da erfaßt sie ein seltsames Lustgefühl. Ob sie wohl einmal - probeweise - heimlich untreu sein sollte? Ob dann wieder alles gut würde? Sie weiß von angesehe- 173 -
nen, reichen Damen der Wiener Gesellschaft, die hinter dem Rücken ihres Mannes allein in der Innenstadt ausgehen und ein Liebesabenteuer suchen. An Kavalieren fehlt es ja nicht. Die Straßen wimmeln von reichen Herren aus allen Ländern der Erde, die oft nur nach Wien kommen, weil man überall die Freizügigkeit und Schönheit der Frauen in der Kaiserstadt preist. »Ach, was«, murmelt Barbara von Zankorek, »das Leben ist kurz, viel zu kurz. Ich will es genießen ...!« Eilig zieht sie sich das freizügigste und schönste Kleid an, das sie hat, setzt ihren teuersten Hut auf und geht dann zu Fuß aus dem Haus. Sie läutet vier Häuser weiter bei einer Freundin an. Die Frau ist die Gattin des Stadtschreibers von Baden. »Elise, du mußt mir helfen. Mein Mann ist in Wien. Meine Tante ist krank geworden. Ich brauche ein Fahrzeug. Könntest du mir bis heute nachmittag Eure Droschke borgen? Mir genügt ein Pferd...!« Elisa läßt die Freundin nicht in Stich. Barbara von Zankorek besteigt die Droschke. Der Kutscher fragt sie: »Wohin soll's gehen?« Zerstreut antwortet die Frau des kaiserlichen Weinhändlers: »Nach Wien. Setzen S' mich vor dem Hotel >Goldener Krebs< ab. Dann geh ich zu Fuß weiter. Holen S' mich von dort wieder gegen drei Uhr nachmittags ab ...!« Der Graben, der Stephansdom und der untere Teil der Kärntner Straße sind seit dem Wiener Kongreß ein Tummelplatz der Liebe. Man nennt das »Revier« den »Schnepfenstrich«, weil hier die schönsten Mädchen und Frauen - genannt »Schnepfen« - auf den Strich gehen oder zumindest ein Liebesabenteuer suchen, wenngleich sie auch nicht immer Geld dafür nehmen. Wie gesagt: Es sind wahrlich nicht nur professionelle Damen, die da auf und ab promenieren. Unter die leichten Damen mischen sich auch gern Mädchen und Frauen, die sich entweder einen kleinen Nebenverdienst schaffen oder einfach ihre sexuellen Neigungen befriedigen wollen. Wofür sie zumeist allerdings ganz gern ein Geschenk von dem jeweiligen Kavalier entgegennehmen. - 174 -
Vor allem das fremde Dienstpersonal sucht in der Kaiserstadt ein Schätzchen. An ihren freien Tagen schwirren die Dienstmädchen, die vielfach aus Frankreich, der Türkei und aus Polen stammen, aus. Aber auch fremde Herren, die zu Besuch in der Stadt sind, sehen sich um. Schon in diesen Tagen erweist es sich, was heute längst bekannt ist: Die Wienerinnen haben eine unüberwindbare Schwäche für alles Fremde. Und die Schönen der Kaiserstadt können dieser Neigung gerade zur Zeit Kaiser Franz' I. ungeniert nachkommen, weil es in den Straßen der Innenstadt nur so von ausländischen Stutzern, von italienischen, französischen, russischen, deutschen und englischen Kavalieren, Courschneidern und solchen, die es vorgeben zu sein, wimmelt. Die Wienerinnen lassen sich gern von diesen Ausländern ansprechen und sind einem Abenteuer nicht abgeneigt. Kann man es da den einheimischen Männern verübeln, wenn sie darüber in Zorn geraten und sich ihrerseits aus Rache um die französischen Kammerkätzchen kümmern oder um die italienischen Zofen und russischen Mägde, die ganz gern für Geld mit jemandem mitgehen? Der »Schnepfenstrich« ist schon seit Jahren ein eleganter Korso der freien Liebe. Man spricht darüber auch im Ausland. Kaufleute, Handwerker und Soldaten kommen von überall hierher, um das völkerverbindende und soziale Unterschiede überbrückende Element der Liebe auszuprobieren. Eines ist gewiß: Auf dem »Schnepfenstrich« sieht man nur vornehme Mädchen. Selbst die Huren sind nobel und erste Klasse. Die billigen Dirnen bieten sich im Prater und in den Vorstädten an. Valentin Zankorek hat bei Hof nichts ausgerichtet. Der Kaiser vertagte die Besprechung, weil er einen wichtigen ausländischen Diplomaten empfangen mußte. Nun schlendert der Weinhändler über den Kohlmarkt und biegt in den Graben ein. Er will nicht nach Hause fahren. Was soll er jetzt in Baden? Er will sich ein bißchen die Stadt anschauen und einen Blick auf die Mädchen werfen. Viel- 175 -
leicht wird er versuchen, ob es bei der Liebe mit einer anderen klappt? Plötzlich bleibt er wie erstarrt stehen. Da direkt vor ihm sich kokett drehend mit den Röcken wippend - ein Mädchen, das er sofort erkennt: Es ist Florence, kein Zweifel. Florence, sein Dienstmädchen, aufgedonnert wie eine feine Dame. Sie sieht, muß er sich eingestehen, ungeheuer gut und reizvoll aus. Mit raschen Schritten hat er sie eingeholt, ehe ein fremder Kavalier auf sie zutreten und sie ansprechen kann: »Florence, was machen Sie hier?« »Oh, der gnädige Herr!« stottert die Französin und läuft rot bis hinter die Ohren an. Das hat sie nicht erwartet. Es ist ihr nicht angenehm. Doch Minuten später weiß sie, wie sie dran ist. Valentin von Zankorek hakt sich bei ihr unter: »Florence, Sie wird sich doch hier nicht fremden Männern anbieten. Wenn man erfährt, daß Sie bei mir arbeitet, gibt es einen Skandal. Man könnte glauben, Sie ist eine Dame. Sie ist doch zu schade dafür...!« Florence sieht ihren Herrn seltsam an. Sie hat bemerkt, mit welch verlangenden Blicken er sie ansieht und um die Hüften nimmt. Sie murmelt: »Ich brauch ein kleines Abenteuer und ein bißchen Geld. Ich sag es, wie es ist...!« Valentin von Zankorek lächelt verschlagen: »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu opfern. Damit Sie keinem Fremden in die Hände fällt, möchte ich Sie einladen, ob Sie wohl mit mir...?« Florences Stimme ist heiser, als sie antwortet: »Ich bewundere Sie schon lange heimlich und weiß auch, daß mir Ihrer Frau nicht alles in Ordnung ist. Ich glaube aber, daß Sie ein starker Mann sind!« »Ich werd's dir beweisen«, meint der Weinhändler und betet heimlich, daß es diesmal klappen möge. Dann zieht er das Mädchen in Richtung Spiegelgasse fort. Dort kennt er ein Hotel, in dem man rasch vorübergehend untertauchen kann. Es sind nur wenige Minuten, die das Paar benötigt, um das - 176 -
Hotel zu erreichen. Valentin von Zankorek nimmt ein Zimmer und bleibt mit Florence zwei Stunden. Beide sind mit dem Ergebnis dieses Abenteuers überaus zufrieden. Sie sind aufgekratzt und fidel, als sie das Hotel verlassen. Der Weinhändler hat seine längst notwendige Selbstbestätigung wieder. Da hält er inne und starrt auf den Gehsteig. Eben biegt ein anderes Paar zu den Stufen des Hotels ein. Doch es sind nicht irgendwelche Leute. Es ist Barbara von Zankorek mit einem Italiener, den sie erst eine halbe Stunde zuvor in einem Café aufgegabelt hat. Sie ist erregt, weil er sie so aufdringlich ansieht. Sie fühlt, wie er sie schon die ganze Zeit mit seinen Blicken auszieht. Sie weiß: Mit diesem Fremden wird es klappen. Da hört sie eine Stimme vom Portal des Hotels, in das sie eben gehen will: »Ich sehe wohl nicht recht: Barbara. Was soll das? Was macht dieser elende Mensch an deiner Seite ...?« Ehe er noch etwas sagen kann, ist Barbara bereits auf ihn zugesprungen und kreischt: »Was, du wagst es, mir Vorhaltungen zu machen? Und treibst dich mit deinem eigenen Dienstmädchen im Hotel herum? Schämst du dich nicht?« Sie tritt einen Schritt vor und knallt ihrem Mann eine Ohrfeige ins Gesicht. Die Passanten auf dem Gehsteig bleiben neugierig stehen. Sie merken, daß dicke Luft herrscht. Barbara von Zankorak kann sich nicht halten. Sie wendet sich zu Florence und will auch ihr eine Ohrfeige geben. Doch die Französin ist schneller und schlägt bereits in Abwehr zu. Kreischend stürzen sich die Weiber aufeinander. Die Männer wollen sie auseinanderbringen. Es fallen häßliche und ordinäre Schimpfworte. Plötzlich steht ein Schutzmann da, drängt die Leute zur Seite und will einschreiten. Rasch besinnt sich der Weinhändler. Er will nicht, daß man erfährt, wer er ist und was hier vorgefallen ist. Der Kaiser darf es nicht erfahren. Er hat einen Ruf zu verlieren, es steht zuviel auf dem Spiel. »Ich muß Sie bitten, mir Ihre Namen zu nennen und mir sofort zu folgen!« meint der Schutzmann. - 177 -
Da stottert Valentin von Zankorek: »Das ist ein Irrtum, Herr Inspektor. Ein dummer Irrtum. Hier hat es keinen Streit gegeben.« »Das ist doch eine Eifersuchtsszene!« »Nie im Leben! Das ist hier meine Frau, die junge Dame ist eine Cousine aus Frankreich und der Herr ist ein Bekannter aus Rom. Wir bummeln gerade durch die Stadt - und müssen uns leider schon empfehlen ...!« Zum Glück hält gerade ein Fiaker. Der Weinhändler winkt dem Kutscher. Sekunden später hat er seine Frau, ihren Galan, das Dienstmädchen und sich selbst in das Fahrzeug gezwängt und die Pferde galoppieren davon. Sofort taucht neben dem Schutzmann ein Kriminalbeamter auf: »Was ist hier eigentlich los?« Da meint der Schutzmann mißtrauisch: »Die ganze Sache kommt mir reichlich seltsam vor. Das war kein Irrtum. Fahren S' mit ihrem Herren Kollegen in Ihrer Dienstkarosse hinter dem Fiaker dort her. Ich will wissen, wo die Herrschaften hinfahren und was sie tun...!« Der Kriminalpolizist tut, wie ihm geraten. Er bleibt mit seinem Fuhrwerk hinter dem Fiaker, als dieser Wien in Richtung Süden verläßt. Valentin von Zankorek fährt nach Hause. Das Dienstmädchen und der fremde Italiener kommen mit. Man weiß nicht, was auf der Fahrt unter den vier Personen gesprochen wird. Tatsache ist, daß Zankorek alle mit in sein Haus in Baden nimmt und in der Aufregung just an diesem Abend vergißt, die Vorhänge vor den Fenstern im Parterre vorzuziehen... Am nächsten Tag gegen Mittag herrscht in der Wiener Polizeidirektion große Aufregung. Da ist aus dem Kommissariat Innenstadt eine seltsame Meldung gemacht worden. Der bekannte kaiserliche Weinhändler Valentin von Zankorek ist in eine unangenehme Sittenaffäre verwickelt. Ein Kriminalbeamter namens Johannes Reinninger hat einen Bericht folgenden ungewöhnlichen Inhalts abgefaßt: »Ich nahm mir die Freiheit, jetzo gleich ans Haus des kaiserlichen - 178 -
Weinhändlers zu schleichen, um darüber Auskunft zu erhalten, was es wohl mit seiner angeblichen Cousine und dem Bekannten aus Rom auf sich habe. Zum Glück wurden den ganzen Abend die Vorhänge nicht vor die Fenster gezogen, sodaß es mir nicht erspart blieb, das Treiben in der Gesellschaft mitzuerleben, als wäre ich daselbst mit dabei. Zuerst stritten sich die Herrschaften mächtig. Dann schienen sie in ein wichtiges
Gruppensex, wie er anno dazumal in zeitgenössischen Zeichnungen dargestellt wurde
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Gespräch vertieft zu sein. Schließlich aber knöpfte sich das angebliche Mädchen aus Frankreich, das ich später als Dienstmädchen des Hauses ausfindig machte, das Kleid auf. Wie auf ein geheimes Kommando schienen nun auch die anderen wie vom Teufel besessen und begannen ein abscheuliches Treiben. Sie alle entledigten sich ihrer Kleider und führten nun ein Spiel auf, bei dem mich immer wieder aufs neue die Übelkeit übermannte. Nicht etwa, daß sich Paar um Paar liebte und in irgendeine Ecke zurückzog. Nein: Sie trieben es alle miteinander, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Es war ein entwürdigender Anblick, als sie sich in einem unübersehbaren Durcheinander nackter Leiber zu amüsieren schienen...!« Der kuriose Bericht, der nur mehr fragmentarisch erhalten ist, gibt darüber Auskunft, daß das Weinhändlerehepaar auf die Idee kam, die Lust auf Sex durch eine regelrechte Gruppentherapie aufzufrischen. Noch am selben Tag erhält Kaiser Franz Nachricht vom abscheulichen Treiben seines Weinhändlers. Der Kaiser läßt einen Schreiber kommen. Er diktiert: »Man möge sofort Plakate drucken und in der Wiener Innenstadt anbringen lassen, worauf die Bevölkerung benachrichtigt wird, daß es bei strenger Strafe verboten ist, in der körperlichen Liebe die Grenzen des guten Geschmackes zu überschreiten. Ich verbiete hiermit, daß sich liebende Paare vermengen und sich benehmen, wie etwa so manche Gruppen im antiken Rom ...!« Das Plakat wird nie veröffentlicht. Man redet es dem Kaiser wieder aus. Einer seiner Berater meint: »Man könnte damit die Wiener auf eine neue Idee bringen, um die Liebe abwechslungsreicher zu gestalten. Es genügt, wenn der Weinhändler die Sache stolz in Bekanntenkreis ausposaunt. Die Leute scheinen sich gar nicht zu schämen. Sie sind zufrieden, weil jetzt angeblich die Ehe wieder klappt!« Auf die Frage, ob man Valentin von Zankorek verhaften soll, antwortet der Kaiser nach einigem Überlegen: »Eigentlich wär's ja notwendig. Aber ich brauch den Mann. Er besorgt mir so - 180 -
herrliche Weine. Und ich hab mich an ihn gewöhnt. Wenn ich überleg, ist er gestraft genug. Weil er's an einem Abend gleich mit zwei Weibern treiben hat müssen. Ein schrecklicher G e danke. Man lasse Gras darüber wachsen. Aber man möge dem Zankorek Mitteilung machen, daß er das Maul hält und sich nicht mehr mit seinem Abenteuer brüstet...!« Natürlich sickert dennoch etwas durch. Die Wiener erfahren durch Tratsch, daß es ein angesehener Badener gewagt hat, mit seiner Frau und einem anderen Paar durcheinander geschlechtliche Liebe zu betreiben, wie es auch die antiken Völker manchmal erprobten. Sicher versuchten - dadurch angeregt - so manche Wiener im stillen Kämmerlein ebenfalls Gruppensex, weil sie die »Erfindung« vom »Schnepfenstrich« einfach reizte. Doch man vergaß es bald darauf wieder. Denn man hört in späteren Polizeiberichten und Chroniken nie mehr etwas Ähnliches. Beim großen Sommerhofball 1820 sieht man unter den geladenen Gästen - wie eine Extraausgabe einer Zeitung beweist auch den Kaiserlichen Hoflieferanten von Zankorek aus Baden mit seiner hübschen Gattin. Sie präsentieren sich als ein glückliches Ehepaar und tun, als wäre nichts gewesen. Sie wissen, daß man bei Hof über ihre Affäre zum Teil informiert ist und lassen deshalb auch öfters im Gespräch durchblicken: »Wir sind keine Spießbürger. Wir fühlen uns als modernes Ehepaar.« Mehr sagen sie nicht. Sie wissen, daß sie sich sonst die Mißgunst des Kaisers zuziehen könnten. Das können sie sich nicht leisten. Sie leben ja von seiner Gunst...
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Es ist ein Samstag im Februar des Jahres 1822 wie ihn die Wiener lieben. Der Fasching in der Kaiserstadt hat seinen Höhepunkt erreicht. Überall wird gelacht. Auch beim »Weißen Schwan«, draußen in der Alservorstadt. Die vierköpfige Musikkapelle des Michael Pammer spielt zum Tanz auf. Kapellmeister Pammer ahnt zu dieser Zeit noch nicht, wie berühmt seine Musikanten einmal noch sein werden. Da ist ein junger Mann namens Josef Lanner und der Geiger mit Namen Johann Strauß. Beide spielen nicht nur Instrumente, sondern versuchen sich auch im Komponieren. Das Publikum klatscht eifrig in die Hände. Die Stimmung ist prächtig. An den Tischen sitzen die ehrsamen Bürger, die »Gschamster« mit ihren »Madln«. Aber auch adelige Herren haben sich aus der Stadt unters Volk gemischt. Ihnen ist der Trubel im »Weißen Schwan« weitaus lieber als das steife Zeremoniell der großen Bälle. In einer Ecke haben es sich vier elegant gekleidete Herren gemütlich gemacht: zwei Wiener Bankiers, der lebenslustige Graf Startzenmüller aus Mariahilf sowie sein langjähriger Studienkollege Baron August Glemnitz aus Berlin. Glemnitz ist nach Jahren wieder in Wien. Der Vorstadtball fasziniert ihn. Immer wieder klatscht er sich mit den flachen Händen auf die Schenkel und ruft aus: »Mensch Mayer. Det is wat für den Glemnitz. Wat de Mädchen doch für dufte Popos haben. Und erst de apfelrunden Titten, die os den Ausschnitten gucken...!« »Wart nur, mein Lieber! Das ist noch gar nichts!« unterbricht Graf Startzenmüller den Redeschwall des deutschen Freundes. »Jetzt kommen gleich die Wäschermädel, die haben es erst in sich...!« - 182 -
Wie auf Kommando setzt die Musik aus. Der Ball hat seinen Höhepunkt erreicht. Die Wäschermädel, deretwegen viele Herren gekommen sind, ziehen ein. Kapellmeister Pammer intoniert einen zünftigen Marsch. Die doppelte Flügeltür des Ballsaales wird aufgestoßen. Die Augen der Männer glänzen. Da kommen sie in Reih und Glied herein: die reschen, feschen und drallen Wäscherinnen, die tagsüber in der Vorstadt waschen und putzen. Jetzt sind sie der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Ereignisses. In ihren blauweißen Wäscherinnenkleidern mit den kecken Kopftüchern und den kleinen Schür-
Minna Kerzl, das Wiener Wäschermädel mit frivolen Ambitionen
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zen wirken sie wie aus einem Bilderbuch. Kokett werfen sie ihre Blick in die Runde, wiegen die Hüften und drehen sich nach Wäschermädelart, daß es den Männern nur so im Herzen lacht. Der Wirt vom »Weißen Schwan« hat für die insgesamt dreißig Mädchen eine lange Tafel mit Gänsebraten und Bier vorbereitet. Da nehmen sie Platz. Baron Glemnitz kichert und stößt den Freund in die Seite: »Guck mal! Da hat sich mit den jungen Dingern auch eine alte Fee hereingeschwindelt. Die will wohl auch noch 'nen Mann kriegen. Ha, ha, ha...!« Der Graf klärt den Deutschen auf: »Die jungen Mädchen kommen nie allein. Immer geht eine alte Wäscherin mit und paßt auf, daß es beim Wäschermädelball mit rechten Dingen zugeht. Die Alte dort ist schon 80. Es ist die Pascher-Pepi. Manche sagen auch Erharterin zu ihr. Sie ist rüstig wie eine 20jährige und kann mit den Mädels gut umgehen. Sie bereitet den Einzug vor, sorgt dafür, daß die Wäscherinnen mit Speis und Trank versorgt werden und daß den Mädchen nichts zustößt!« »Also eine Gouvernante...!« grinst der deutsche Baron. Die Wäschermädel essen jetzt. Die Musik spielt flotte Musik. Aber niemand wagt es noch, die Wäscherinnen zum Tanz aufzufordern. Erst nach dem Essen gibt die alte Erharterin das Zeichen für die wartenden Kavaliere. Plötzlich ein gellender Schrei im Saal. Er kommt von der Tafel der Wäscherinnen. Eines der Mädchen, ein festes hübsches Ding, ist aufgesprungen. Sie hat einen Gänsehax'n in der rechten, an dem sie gerade gekiefelt hat. Mit der linken deutet sie in eine Sitzloge: »Dort, Pascher-Pepi! Schaut's hin. Des laß ma uns net g'fallen. Dort sitzt a Weib, die a Wäschermädltracht anhat. Pfui. Dabei is sie ka Wäschermädel. So eine ausgschamte Person. Hat nie ihre Hand in der Seifenlaugn drin g'habt und gibt sich jetzt beim Ball als unserans aus!« Alle drehen ihre Blicke zur Loge. Dort sitzt die junge Tochter eines Vorstadtkaufmannes. Tatsächlich in Wäscherinnentracht. Das hätte sie nicht tun dürfen. Das ist verpönt. Mit einem Satz springen alle Wäschermädel auf. Sie stürmen zu - 184 -
dem Tisch, umringen die Kaufmannstochter und zerren die Schreiende aufs Parkett. In Sekundenschnelle haben sie ihr die Kleider vom Leib gerissen und mit Messern von der Tafel in Stücke geschnitten. Das Mädchen sitzt schreckensbleich und nur in der Unterwäsche auf dem Parkett. Sie muß mit ansehen, wie man sie beschimpft und zum Saal hinausjagt. Der Kaufmann springt auf und rennt mit seiner Frau der Tochter nach. Er hat sie ja gewarnt, als Wäschermädel zum Ball zu gehen. Aber sie hat ja nicht hören wollen. Baron Glemnitz aus Berlin ist von der Szene fasziniert. Er starrt unentwegt auf die junge Wäscherin, die das Wort geführt hat und die die falsche Wäscherin entdeckt hat. »Wer ist die Maid dort? Wie heißt Sie? Ich muß sie kennenlernen!« Er ist aufgesprungen. Graf Startzenmüller flüstert ihm zu: »Ich kann mir denken, daß dir die gefällt. Eine der feschesten Persönchen, die es unter den Wäscherinnen gibt. Sie heißt Minna. Minna Kerzl. Kommt aus dem Himmelpfortgrund. Aber sie hat ein weites Herz. Mag bald einen Mann. Hat keinen besonders guten Ruf...!« »Ach was, Ruf hin, Ruf her! Was kümmert mich det«, grölt der Baron. »Ich will wat Nettes in Wien erleben. Und eure faden Gesellschaftsdamen in der Innenstadt können mir längst jestohlen werden!« Er hat bereits seinen Tisch verlassen. Rasch steuert er auf Minna Kerzl zu, die inzwischen wieder Platz genommen hat und weiter ißt. Der Baron tritt auf die alte Erharterin zu und meint: »Erlauben Sie einem Manne aus Berlin, daß ich meine Geduld nicht weiter bezähme und eine ihrer schönen Damen zum Tanz bitte?« Die Alte verzieht das Gesicht, weil sie doch noch nicht das Zeichen zum Wäscherinnentanz gegeben hat. Aber sie nickt und macht mit der Hand eine einladende Geste. Schon steht der Baron vor der Minna Kerzl. Sie sieht zu ihm auf und spürt, wie sie ein eigenartiger Schauer durchrieselt. Der Deutsche gefällt ihr. Er hat freche Augen und sieht wie ein Schürzenjäger, ein Windhund aus. Gerade auf das fliegt die - 185 -
Kerzl so sehr. Bei solchen Männern wird sie schwach. Rasch steht sie auf und macht einen Knicks. Sekunden später stürzen die anderen Herren im Saal zu den übrigen Wäschermädeln. Kapellmeister Pammer hebt den Taktstock. Ein Tusch läßt alle aufhorchen. Dann beginnt eine Polka. Rhythmisch, laut und temperamentvoll. Die ganze Masse von Menschen auf dem Tanzparkett setzt sich in Bewegung. In die Menge kommt wunderbare Ordnung. Baron Glemnitz ist hingerissen. Er hüpft fleißig mit und starrt die Minna unentwegt an. Die Augen quellen ihm über, wenn er in ihren freizügigen Ausschnitt sieht. Am liebsten würde er hineingreifen. Da hört er Minnas Stimme, die in den Armen des Berliners ganz schwach wird: »Der Herr Baron müssen mich fester halten und an sich drücken. Sonst fallen wir auf dem Tanzparkett beim Drehen hin!« August von Glemnitz kommt der Aufforderung gern nach. Für Sekunden treffen sich die Blicke des Barons und des Wäschermädels. Dann ist es um die beiden sinnlichen Menschen geschehen. »Machen S' mich net wahnsinnig. Sie san ein herrliches Mannsbild!« flüstert die Minna, schließt genußvoll die Augen und dreht sich noch schneller mit ihrem Kavalier. »Ich bin verrückt nach dir«, flüstert er und spürt auf einmal mit seiner Hand ihre glatte Haut. Dort, wo er eigentlich nicht hätte hingreifen dürfen. Aber er merkt, wie wohl es dem Mädchen tut, daß sie fast vergeht vor Wonne. Er tastet sich weiter. Und dann plötzlich ist er am Ziel. Die Minna Kerzl drückt sich ganz an den Berliner: »Mann, wieso wissen Sie, was ich so gern hab? Es gibt nix Schöneres, als wenn man beim Tanzen liebt, wenn rundum die Leut sich drehen...!« Sie verdreht die Augen. Noch immer drehen sich die beiden mitten im Tanzgewühl. Niemand merkt etwas von der sinnlichen Zärtlichkeit, die der Baron da zur vollsten Zufriedenheit der Maid ausübt. - 186 -
Und dann stößt sie einen jähen spitzen Schrei aus, vergräbt ihr Gesicht in seinem Frackhemd und murmelt atemlos: »Mir zittern die Knie. Sie waren herrlich, Baron!« August von Glemnitz ist zufrieden. Er hat auch etwas von diesem erotischen Tanz gehabt. Es war für ihn alles so ungewöhnlich. Das Mädchen hat ihn beeindruckt. Er weiß genau: Er ist ihr verfallen. Er muß sie wieder sehen. Jetzt ist die Musik aus. Alle Augen richten sich auf das Tanzpaar, das von der Tanzfläche wankt. Die alte Erharterin ist weiß im Gesicht. Sie steht mit wenigen Schritten vor der Wäscherin und blitzt sie mit zornigen Augen an: »Jetzt hast es schon wieder tan. Du benimmst dich wie a Hur! Da hast a Geld und fahr nach Haus. Sonst kommen wir da alle noch in Verruf!.« Die Minna Kerzl rennt weg. Der Baron bleibt ihr dicht auf den Fersen. Er holt sie ein, packt sie am Arm und flüstert ihr zu: »Ich muß Sie wiedersehen. So ein Mädchen ist mir noch nie begegnet. Ich glaub, wir passen zusammen. Ich liebe das Ausgefallene. Auch in der Liebe. Da steht mein Fiaker. Darf ich Sie nach Hause bringen?« Die Minna nickt. Der Baron führt sie zum Himmelpfortgrund. Doch vor ihrem Elternhaus steigt die Minna noch nicht aus. Der Baron küßt sie immer wieder. Sie aber wehrt schließlich ab und flüstert ihm zärtlich zu: »Net bös sein, Baron. Aber ich muß Sie enttäuschen. Ich mag das alles nur, wenn ich tanz und wenn die Musik spielt.« Draußen auf dem Himmelpfortgrund beim »Thury« und »Beim blauen Herrgott« stehen die alten niedrigen Häuser, die mit Holzschindeln gedeckt sind und grünlich vom Moos schimmern. Die Mauern sind mit gelbem Lehm verschmiert. Vor den Gebäuden dehnen sich geräumige Plätze aus. Da stehen allerlei Gerüste und Pflöcke, zwischen denen endlos Stricke gespannt sind. Darauf flattern, von Kluppen festgehalten, Hunderte Hemden, Hosen und Röcke im Wind. Ein strahlender Montagmorgen. Zwischen den wirbelnden Wäschestücken hantieren kernige junge Mädchen. Das sind die Wäschermädel an der Arbeit. Sie - 187 -
sind noch müde vom Ball am Samstag. Er hat bis sechs Uhr früh gedauert. Und am Sonntag drauf sind die Damen ja nicht schlafengegangen. Da haben sie sich mit ihren Kavalieren im Prater getroffen. Und jetzt schauen sie grantig und trübe aus der Wäsche. Plötzlich steht die alte Erharterin unter ihnen und schreit: »Mädeln kommt's her. Wir müssen was besprechen!« Im Nu haben sich alle um die alte Frau geschart. Auch die Kerzl Minna ist darunter. Auch sie sieht gar nicht blühend aus. Sie hat den ganzen Sonntag mit ihrem Baron beim Tanz in den verschiedensten Lokalen zugebracht. Drohend sind die Augen der alten Wäscher-Matrone auf sie gerichtet: »Du bist eine Schand für uns gewesen. Das war ein Skandal. Mitten beim Tanz hast du's mit dem Baron getrieben. Die anderen hab'n das mitbekommen. Wenn du so was tun willst, dann geh in a Hotel, aber net zum Wäschermädelball!« Mit einem Sprung steht die Minna auf einem Holzstoß und sieht auf die anderen Mädeln herunter. Dann hebt sie ihren Arbeitskittel und zeigt den Kolleginnen, daß sie darunter kein Höschen anhat. Dann ruft sie: »Ihr seid's ja nur neidig!« »Schluß jetzt mit den Schweinereien«, grunzt die alte Erharterin. Dann fährt sie sich mit beiden Händen durch die Haare und jammert: »Wenn sich das herumspricht, dann werden uns die Leut nicht mehr zum Wäschermädelball einladen!« Da meint die Minna Kerzl mit schriller Stimme: »Wie seid's Ihr doch alle blöd! Ich hab bisher nix gesagt, aber jetzt kann i mein Mund net halten. Ihr habt's alle net begriffen, wie die Leut auf uns Wäschermädel narrisch sind. Es ist net mehr für uns die große Ehr, daß wir wohin eingeladen werden, sondern es ist für die anderen eine Ehr, daß wir kommen. Wir dürfen doch die Leut net bitten, daß wir zu an Ball dürfen. Die Veranstalter sollten uns bitten. Und wenn wir gescheit san, werden die Herren auf den Knien zu uns gerutscht kommen. Nützen wir doch unsere Macht im Fasching aus. Erharterin, seid klug. Ziert's euch a bisserl, wenn wieder einer zu einem Wäschermädelball einladet. Oder sagt's einfach glatt ab. Gleich wird man uns - 188 -
anders behandeln. Die Herrschaften, die Wert auf uns legen sollen gefälligst Kutschen schicken und uns abholen lassen. Sie sollen uns a bißerl ein Handgeld zahlen...!« Es gefällt den anderen Mädchen, wie die Minna Kerzl redet. Ihre revolutionäre Idee steckt an. Die Wäscherinnen klatschen
So und ähnlich wurden die Wäschermädel karikiert, die sich im Laufe der Zeit sehr zu den Bällen bitten, ja sogar bezahlen und bestechen ließen
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in die Hände. Und auch die alte Erharterin brummt: »Gar nicht schlecht, die Idee!« Dann meint sie: »Am nächsten Samstag sind wir im Lichtenthal bei einem Ball. Da werden wir schon ein bißerl hochnäsiger sein und den Leuten wissen lassen, daß wir wenig Zeit haben und in Zukunft ein bißerl gebeten werden wollen. Minna, du wirst am besten darüber reden können. Es ist ja schließlich deine Idee.« Minna Kerzl hat längst wieder ihren Rock heruntergezogen. Sie schüttelt lächelnd den Kopf: »Ich helf euch nicht. Ich bin euch ja zu ordinär. Ich komm net mit. Mich hat der Baron fürs nächste Wochenende in die Hinterbrühl eingeladen.« Baron Glemnitz schreibt zwei Wochen später an seinen Freund, den Grafen, nach Wien: »Ein herrliches Wochenende liegt hinter mir. Ich habe mit der Minna getanzt und getanzt. Und dabei haben wir uns unentwegt geliebt. Ein ganz neues herrliches Gefühl. Zugegeben: ein bißerl unkommod und anstrengend. Ich hab mich mächtig echauffiert. Aber es war eine kolossale Sache. Das Mädel ist eine kleine Teufelin. Wir werden jetzt öfter solche Wochenenden miteinander verbringen...!« Die alte Erharterin notiert in ihrem Wäschereibüchlein im Jahr 1822 mit schwer leserlicher Schrift: »Eigentlich schad um die Minna. Und arm ist sie. Muß doch sehr böse sein, wenn man net normal lieben kann und immer dabei tanzen muß. Sicher ist es das einzige abnormale Mädel...!« Dutzende Male läßt sich Minna Kerzl auf Bällen dazu hinreißen, im Tanzgewühl mit einem Mann, der ihr gefällt, ein Verhältnis einzugehen. Von dem Augenblick aber, als sie den deutschen Baron kennenlernt, ist es aus damit. Sie will nur diesen Mann. Auch mit ihm geht sie auf Bälle. Aber meist privat und nicht als Wäschermädel. Dennoch kennt man sie überall. Meist aber schließen sich die beiden mit gemieteter Musik vor der Tür in ein Hotelzimmer ein. Dieses Glück in den Armen des Preußen gibt der Minna ungeheuer Schwung. Sie wird zur Sprecherin und Vorkämpfe- 190 -
rin der Wiener Wäschermädel. In einem Polizeibericht aus dem Jahre 1822 heißt es: »Eine der Wäscherinnen, genannt Minna Kerzl, hat eine Organisation gegründet, die zum Ziel hat, die Wäschermädel zu höherem Ansehen zu bringen. Praktisch aber sieht das so aus, daß die Menscher sich plötzlich vor den Bällen zieren und korrupt werden. Sie wollen Geld für ihr Erscheinen und verlangen allerhand Konzessionen, die man ihnen kaum gewähren wird. Was braucht man schon Wäschermädel auf einem Ball?« Dieser einfache Polizist, der dies niederschrieb, sollte sich sehr täuschen, Minna Kerzl brachte für die Wäschermädelbälle die große Wende. Wenige Jahre später hatte sich das Blatt wirklich gewendet. Die Wäschermädel der Wiener Vorstadt waren in der Faschingszeit hochangesehen. Sie ließen sich mächtig bitten und mit hohen Geldsummen schmieren, ehe sie ihr Kommen versprachen. Wann immer man einen Wäschermädelball plante, fuhr vorerst ein Abgesandter der Veranstalter in die Wäschermädelbezirke und sprach bei den einflußreichsten Mädchen vor, um zu bitten: »Wenn doch die Damen kommen könnten!« Und wenn die »Damen« dann ja sagten, dann hatten sie ihre Forderungen. Sie wollten mit Kutschen abgeholt und nach dem Ball wieder nach Hause gebracht werden, sie wollten Blumen um Mitternacht und alle Konsumation gratis. Manchmal kamen da noch viele Sonderwünsche dazu. Diese sozialen Erfolge und das Verhältnis zum deutschen Baron von Glemnitz sind der guten Minna in den Kopf gestiegen. Sie bildet sich ein, zu Höherem berufen zu sein. Sie will die Frau des Barons werden und nach Berlin ziehen. Doch der Baron - das weiß sie nicht - ist verheiratet. Als er das Drängen des Wäschermädels auf eine Heirat merkt, wird ihm die Sache ungemütlich. Doch Minna treibt ihn in die Enge. Da bleibt ihm nichts anderes übrig. Er macht sie eines Abends bei einem Stelldichein in einem Hotel in Baden bei Wien betrunken, läßt ein paar Freunde kommen und gibt sie als Trauungsbeamte aus Berlin aus. Feierlich wird eine Zeremo- 191 -
nie vorgenommen, nach der der Baron dem Mädchen erklärt: »Jetzt bist du meine Frau und Baronin!« Zwei Tage später verabschiedet sich der Berliner. Er hat es so einrichten können, daß er zu diplomatischen Aufgaben nach Italien berufen wird. Er hinterläßt der Minna keine Adresse und reist ab. Sie glaubt fest, daß er wiederkommen und mit ihr nach Berlin übersiedeln wird. Sie mietet sich eine Wohnung in der Wiener Innenstadt. Sie brüllt jeden Menschen an, der sie nicht mit Baronin tituliert. Bald hat sie kein Geld mehr. Sie will vom Konto des Barons etwas abheben. Doch die Beamten lachen auf der Bank nur, als sie behauptet, seine Gattin zu sein. Zornig kehrt das Wäschermädel wieder in den Himmelpfortgrund zurück. Auch hier wünscht sie von den Kameradinnen als Baronin angeredet zu werden. Sie ist größenwahnsinnig und nicht mehr ganz normal. Aus ihr ist eine hysterische, hochnäsige Person geworden, die immer mehr trinkt und auf ihren angeblichen Mann wartet. Bis ihr die alte Erharterin eines Abends ins Gesicht schreit: »Du dumme Gans. Der hat dich doch sitzen lassen. Und geheiratet hat er dich nicht. Das war alles Komödie. Steig runter vom hohen Roß und geh wieder an die Arbeit!« Da erleidet die Minna einen Nervenzusammenbruch. Sie liegt einen Tag darnieder. Und als sie wieder aufstehen kann, geht sie durch die Straßen und singt laut: »Ich bin eine Baronin!« Ihr Zustand wird immer beängstigender. Eines Morgens holen sie zwei Männer ab und bringen sie in den Wiener Narrenturm. Dort erfüllt sich das erschütternde Schicksal der Kerzl Minna. In einem Anfall von Sexualwahn verletzt sie sich und stirbt. Zu ihrer Beerdigung kommen fast alle Wäschermädel Wiens. Sie vergessen nicht, daß sie der Toten allerhand verdanken. Die Wäschermädel sind nun in jedem Fasching angesehene Mädchen, die fast wie Prinzessinnen behandelt werden müssen.
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Die Mädchen wiegen sich mit leuchtenden Augen im Takt. Sie drängen sich ans Musikpodest heran und pressen ihren Busen gegen die Lichtrampe, damit der junge blonde Musiker auch wirklich all die dargebotenen Reize sehen kann. Anfangs haben die freizügigen Dekolletes den 18jährigen Konzertmeister Josef Lanner verwirrt. Jetzt genieren sie ihn nicht mehr. Im Gegenteil: Er ist gewohnt, daß sich die Weiber um ihn drängen, daß sie sich ihm an den Hals werfen und unbedingt mit ihm schlafen wollen. Mit den ganz jungen, die ihn anhimmeln, wird er ja fertig. Gefährlich aber sind für ihn die älteren Semester, die ihm zudringliche Blicke zuwerfen und ihm nach seiner Musikvorstellung Briefchen mit unsittlichen Angeboten zustecken. Die reiferen Verehrerinnen sind dem jungen Lanner nicht geheuer. Einmal hat er sich zu einem Liebesstündchen mit so einer Frau überreden lassen. Er geriet an eine nymphomane Hysterikerin, die ihn nicht mehr aus ihren Fängen ließ. Josef Lanner fiedelt eine muntere Melodie. Seine Musiker begleiten ihn dabei exakt. Begeistert drehen sich die Paare auf dem Parkett. Im »Paradeisgartl« herrscht beste Stimmung. Gegen 23 Uhr verneigt sich der junge Lanner, gibt ein paar Autogramme, wimmelt etliche stürmische Umarmungen ab und beeilt sich, mit seinen Leuten auf die Straße zu kommen. Draußen wartet schon die Kutsche. Im eiligen Tempo geht es zum Restaurant »Jüngling« in der Unteren Donaustraße. Dort hat der Lanner einen Vertrag, daß er von 23.15 bis 2 Uhr nachts spielt. Er wird wie ein König begrüßt und empfangen. Ein paar Mädchen werfen ihm Kußhändchen zu. Ein allgemeines Rau- 193 -
nen geht durch die Reihen: »Der Lanner Pepi ist da! Jetzt wird's erst lustig und fesch!« Mit einem kühnen Sprung steht der Lanner auf der Bühne, verneigt sich, schwingt den Fidelbogen und ruft: »Da bin i! Los geht's!« Sekunden später setzt eine beschwingte Melodie ein. Die Paare beginnen sich danach zu drehen. Lanner strahlt. Seine neueste Komposition ist gut angekommen. Es gibt einen kurzen Knall und Pepi blickt starr auf seine Geige. Dem Lanner Pepi ist die E-Saite gerissen. Die süße Melodie zerbricht jäh und endet in einem unharmonischen Jaulen. Josef Lanner flucht. Er hat keine E-Saite bei der Hand. Was soll er tun? Da drängt sich ein bildhübsches, schlankes Mädchen in auffälliger Kleidung dicht an ihn heran. Ihr Gesicht ist stark geschminkt und gerötet: »Kann ich dem Meister Lanner helfen? Ich tu alles, was er will!« Der Pepi überlegt kurz. Er sollte die Bereitwilligkeit und Hilfsbereitschaft des Mädchens nicht ablehnen. Rasch sagt er: »Da haben S' a Geld. Laufn S' naus zu einem Fiaker und fahren S' zu mir nach Haus. Ich wohn droben in der Windmühle, im letzten Stock. In meinem Kabinett steht ein wackeliger Schrank. In der ersten Lade oben liegt eine E-Saite in einem Sackerl. Bringen S' mir die, bitte!« Schon ist das Mädchen weg. Lanner überlegt, wie er die ungeduldigen Tanzlustigen inzwischen unterhalten kann. Da teilt sich die Menge. Ein hochaufgeschossener junger Bursche mit tiefliegenden, brennenden Augen und schwarzem Lockenhaar tritt zur Musikerbühne. Er hält eine Geige in der Hand, verneigt sich und meint zu Lanner: »Wenn Herr von Lanner gestattet und Ihm mein Instrument nicht zu schlecht ist, dann möchte ich Ihm heute Abend meine bescheidene Fidel zur Verfügung stellen...!« Josef Lanner strahlt. Er greift nach der Geige und dankt: »Es ist mir eine Ehre, Herr von...!« »Strauß«, meint der andere, »Johann Strauß!« - 194 -
Vierundzwanzig Stunden später gehört dieser Johann Strauß, der später noch weltberühmt werden sollte, mit zum Lanner-Orchester. Die beiden jungen Musiker werden unzertrennliche Freunde. Doch vorerst spielt Josef Lanner mit der geborgten Geige zum Tanz auf. Dann läßt er den Strauß etwas vortragen. Gerade, als ein zünftiger Walzer den Saal durchtönt, da steht plötzlich wieder das Mädchen vor der Bühne. Sie hält in der rechten Hand das Säckchen mit der E-Saite. Sie ist bitter enttäuscht. Josef Lanner sieht sie, läßt den Strauß inzwischen weiterspielen und kommt von der Bühne. »Der Herr von Lanner braucht wohl meine Hilfe net. Warum hat er mich dann unnötigerweise weggeschickt?« meint sie ernst. Josef Lanner antwortet schnell: »Erstens sagen S' net immer Herr von Lanner. I bin der Pepi Lanner, der Sohn von einem Handschuhmacher. Und zweitens hab ich net wissen können, daß da plötzlich jemand kommt und mir seine Geige borgt.« »Jetzt hab ich aber einen Wunsch offen«, erklärt das Mädchen und sieht den blonden Musiker ganz verliebt an. »Was steht zu Diensten?« fragt Lanner und küßt ihr die Hand. Sie fixiert ihn: »Ich möcht mit Ihnen tanzen. Ich möcht ein Busserl haben - und ich möcht Sie in Ihr gemütliches Kabinett begleiten...!« Josef Lanner findet Gefallen an dem Mädchen, das so tiefgründige Augen und einen so sinnlichen Mund hat. Sie ist nicht sehr fein. Aber sie übt einen ungeheuren Reiz aus. Daher ruft er dem Strauß zu: »Spielen S' einstweilen für mich weiter!« Dann zieht er das Mädchen aufs Parkett und tanzt mit ihr. Im Drehen spürt er ihren Körper, ihre reizvollen Formen. Und mit einem Mal weiß er, daß er sie mit in sein Kabinett nehmen wird. Sie drückt sich ein wenig aufdringlich an ihn. Das gefällt ihm. Er merkt, wie andere neugierig zu ihm herüberstarren, wie andere Frauen und Mädchen tuscheln, wie einige Männer die Nasen rümpfen. - 195 -
Als er seine Tänzerin zu einem Tisch gebracht und ihr versprochen hat, sie nachher mitzunehmen, kommt einer der Kellner auf ihn zu: »Herr Lanner. Wenn ich mir den Einwand erlauben darf. Die ist keine Gesellschaft für sie. Das ist...!« Der Musiker lacht fröhlich: »Das ist doch ein bezauberndes Mädel...!« »Ja, aber sie ist...!« Lanner hält ihm den Mund zu: »Das interessiert mich net. Sagen S' mir das ein anderes Mal, wenn S' unbedingt wollen ...!« Dann steht er wieder mitten unter seinen Musikern und spielt zum Tanz auf. Seine Fidel ist inzwischen wieder vollkommen bespannt. Erstmals in der Wiener Musikgeschichte probieren Strauß und Lanner gemeinsam, die Leute zu unterhalten. Sie haben Riesenerfolg damit. Der langanhaltende Applaus macht dem Lanner nach der Vorstellung viel Freude. Er legt um seine neue Bekanntschaft seinen rechten Arm und bringt sie zu einem Fiaker vor dem Gasthaus. Dabei murmelt er: »Das müssen wir beide noch feiern heute. Ich habe einen Mann kennengelernt, der ebenso wie ich etwas für die Unterhaltungsmusik übrig hat!« Sie flüstert nur: »Dann fang schon an mit dem Feiern. Küß mich!« Mit heißen, begehrenden Lippen finden sich die beiden zu einem innigen, leidenschaftlichen Kuß. Der Josef Lanner merkt, wie sich das Mädchen dabei mit ihren Fingern an ihn krallt, als möchte es ihn niemals mehr verlieren. Dabei verdrängt sie ein leises erschütterndes Schluchzen. Es ist früh am Morgen. Josef Lanner ist berauscht von dem stürmischen Liebesabenteuer, das er mit dem Mädchen hatte, dessen Namen ihm nicht einmal bekannt ist. Er streicht zart über ihre nackte Haut, die mit Schweiß bedeckt ist. Ihr Körper glüht noch. Ein herrlicher Körper, in dem der Teufel persönlich zu wohnen scheint. »Wie heißt denn du eigentlich?« flüstert er.
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Das soll Jirina Holczek gewesen sein, zweifelhafte Bekanntschaft Josef Lanners
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»Jirina Holczek. Meine Eltern stammen aus Prag, aber wir leben schon lange in Wien!« Josef Lanner möchte noch soviel fragen. Doch neuerlich überkommt ihn ein Wonneschauer. Das Mädchen hat sich in dem billigen, wackeligen Bett des Musikers aufgesetzt und streichelt ihn. Ihre Finger gleiten zärtlich über seine Haut. »Sie waren herrlich!« haucht sie. Dann bricht sie in ein haltloses Schluchzen aus und vergräbt ihr Gesicht im Polster. »Was ist denn los mit dir?« will er wissen. Da erzählt sie ihm unter Tränen ihre Geschichte: »Nach langem war's wieder schön, mit einem Mann zusammenzusein. Mit Ihnen, Meister Lanner. Ich hab so ein herrliches Gefühl gehabt. Es war alles so, wie's eben gehört. Ich hab das lang net bei einem Mann verspürt. Sie müssen wissen, ich bin... ich hab... Sie dürfen mich net mißverstehen. Ich kann nix dafür. Ich war net schuld. Er hat mich gezwungen. Zuerst hab ich mich gewehrt. Dann hab ich's tan, damit er sein Geld kassieren kann.« »Mädchen, drück dich gefälligst genauer aus!« drängt Lanner, der alles bereits ahnt. Sie sieht ihn mir ehrlichen Augen an: »Ich wollt's Ihnen verschweigen, aber jetzt hab ich Sie viel zu gern, um Sie anzulügen. Ich bin... verzeiht S' mir... a ganz ordinäres Straßenmädchen ...« Sie dreht sich um und weint: »Aber ich mag keines mehr sein. Meister Lanner, helfen S' mir, bitte!« Josef Lanner sieht ernst vor sich hin und kleidet sich an: »Wo ist denn dein Zuhälter, dein sogenannter Beschützer?« Monoton antwortet sie: »Gott sei Dank ist er weg. Untergetaucht. Er hat irgendein krummes Ding gedreht. In einem Postamt in der Vorstadt!« Lanner bekommt große Augen: »Hat er vielleicht den Kassenschrank geplündert, von dem in der Zeitung geschrieben wurde?« Sie zuckt mit den Schultern, steht auf und zieht Lanner sanft wieder das Gewand aus. Und wie sie so beide wieder aufs Bett - 198 -
hinsinken und sich wild umarmen, da durchzuckt es das Gehirn des Musikers: »Das Mädchen ist noch zu retten...!« Wenige Tage später. Diesmal spielt der Lanner in Ungers Kaffeehaus nächst der Hernalser Linie. Die Stimmung hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Tanzpaare applaudieren der Musik des Kapellmeisters zu. Nun übernimmt Johann Strauß die Führung. Lanner pausiert. Er steigt zum Publikum herab. An einem kleinen Tisch im Parkett wartet schon Jirina auf ihn. Er tanzt mit ihr. Plötzlich steht der Besitzer des Kaffeehauses vor ihm, der dicke, schwitzende Unger. »Herr von Lanner. Ich hätt was mit Ihnen zu besprechen!« Lanner entschuldigt sich bei Jirina und folgt dem Kaffeehausbesitzer hinter eine Marmorsäule. Dort meint dann der dicke Mann: »Ich hör, Sie schleppen des Mensch jetzt schon seit Tagen überall dort herum, wo Sie spielen. Das geht net. Ganz Wien weiß, daß sie auf den Strich geht. Für Lokale wie meins und auch für die anderen Lokale, in denen Sie spielen, ist das keine Gesellschaft. Wenn Sie ihr's net selber sagen, schmeiß ich sie raus oder hol die Polizei!« Lanner läuft rot vor Zorn an. Er unterbricht die Musik und ruft seinen Musikern zu: »Schluß! Wir fahren heute früher ins >Paradeisgartel
weil er verdächtig war, in grober Weise gegen Recht und Gesetz verstoßen zu haben. Schließlich aber stellte sich heraus, daß er unschuldig war. Josef Lanner wurde wieder entlassen. Er bestand auf einer schriftlichen Entschuldigung von Seiten der Polizei...« Inzwischen hat Johann Strauß bei dem Mädchen, um das die beiden Musiker stritten, Erfolg gehabt. Er heiratet sie. Doch es wird eine unglückliche Ehe. 1828 heiratet auch Josef Lanner. Johann Strauß gratuliert ihm mit den Worten: »Hoffentlich bleibt dir deine Hochzeitsfreud erhalten. Mir ist sie vergangen!« Die beiden Musiker haben sich wieder versöhnt und spielen gemeinsam für die Wiener auf: Im Paradeisgartel, beim Domayer, in Wagners Kaffeehaus im Prater, im Volksgarten und bei den »Zwei Tauben«, manchmal auch beim »Schwarzen Adler« in Baden. Die Jahre vergehen. Dann kommt der verhängnisvolle Fasching 1843. In der berühmten »Mehllucken« spielt der Lanner bei einer Nobelhochzeit, die im Rahmen eines Balles gefeiert wird. Der Pepi Lanner ist inzwischen 42 Jahre alt geworden. Aber er hat noch immer ungeheures Temperament, und seine Walzer kommen bei den Leuten noch besser an als anno dazumal. Da plötzlich tritt ein Kellner an den Geiger Lanner heran und flüstert: «Draußen ist eine ziemlich herabgekommene Person. Eine Frau. Sie möcht sie unbedingt sprechen. Sie will net herein, damit sie ihnen keine Umständ macht. Sie heißt Jirina Holczek...!« Mitten im Stück läßt Lanner die Geige sinken. Seine Knie und die Hände zittern. Die Jirina. Was mag aus ihr geworden sein? Sie hat ihn nicht vergessen! «Herein mit ihr!« ruft Lanner. »Das geht nicht«, entgegnet der Kellner. »Sie sieht ordinär, häßlich und abgehärmt aus. Wie eine Hübschlerin aus der Vorstadt, kurz vor dem Sterben...!« Die Adern Josef Lanners schwellen an: »Sie wird sofort hereingebracht und an meinem Tisch bestens bewirtet. Wie sie - 202 -
aussieht, ist egal. Die Wiener haben diese Frau auf dem Gewissen. Sie sollen sehen, was sie aus einem jungen Mädchen, das noch zu retten gewesen wäre, gemacht haben!« Dann bringt man Jirina. Josef Lanner war auf vieles gefaßt. Doch er ist dennoch erschüttert. Vor ihm steht das zitternde, von Falten zerfurchte Wrack einer verbrauchten, kranken Frau. Sie reicht ihm die knochigen Hände. Sie wirkt wie eine Greisin. Ihre Augen sind glanzlos. Sie streicht Josef Lanner über die Wangen und weint: »Ich bin gekommen, um mich bei dir zu bedanken, daß du mich damals so tapfer hast verteidigt. Ich bin weggelaufen, damit du keinen Ärger hast. Mich hat's in den Orient verschlagen. Zuerst war ich im Harem eines Kaufmannes. Dann schob er mich in ein öffentliches Bordell ab. Bis ich keinen Funken Lebenswillen mehr hatte und alles mit mir geschehen hab lassen. Und dann ist mir zufällig eine alte Wiener Zeitung in die Hände gekommen. Ich hab gelesen, daß man dich ungerechterweise beschuldigt hat. Da hab ich all meine Kraft zusammengetan, bin geflüchtet und endlich nach Wien gekommen. Gestern hab ich meinen ehemaligen Beschützer, den Franzl, angezeigt. Er ist schon verhaftet. Jetzt kann ich in Ruhe sterben. Zu dir bin ich gekommen, um dir für damals zu danken!« Lanner ist gerührt. Er will die gebrochene Frau umarmen. Sie weicht zurück: »Rühr mich net an. Ich bin schwer krank. Sonst wirst angesteckt. Ich geh jetzt freiwillig in eine Heilanstalt. Dort werd ich sicher sterben. Adieu...!« Schnell dreht sie sich um und ist verschwunden. Wie damals... Josef Lanner wird an diesem Abend dabei überrascht, wie er in der Pause in seiner Garderobe bitterlich weint. Er hat dieses Mädchen sehr gemocht... Als der Nobelball zu Ende ist, überreden Freunde den traurigen Lanner noch zum Weiterfeiern bei ihm zu Hause. Lanner willigt notgedrungen ein. Daheim betrinkt er sich aus Kummer sinnlos. Er ist für jeden Übermut zu haben. So kleidet er sich beispielsweise auf Grund einer Wette splitternackt aus und - 203 -
läuft zum Gaudium der anderen über den schneebedeckten Hof. Er rennt die Mauer entlang und kommt schweißgebadet und keuchend zurück. Am nächsten Tag ist er krank und spuckt Blut. Ein paar Wochen kränkelt er dahin. Am Karfreitag, dem 14. April 1843, stirbt er inmitten seiner halbfertigen Notenaufzeichnungen für einen neuen Walzer. Dreißigtausend Wiener geben dem Musiker das letzte Geleit.
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Die hellblauen Augen des Mädchens sind starr und ausdruckslos auf den nebelverhangenen Morgenhimmel gerichtet. Der kleine Mund ist verzerrt. Der schlanke, zarte Körper liegt verkrampft im Gras unter einem Lindenbaum. Die kalten, starren Hände klammern sich immer noch um die Taille des jungen Mannes, der ebenfalls hingestreckt daliegt. Beide sind tot. Sie wurden ermordet. Im Rücken des Mädchens und des Mannes klafft je eine tiefe, breite Stichwunde. Noch nie zuvor ist in den Praterauen so ein grausiges Verbrechen begangen worden. Hofrat Stolpeck, der Leiter des Kommissariats Leopoldstadt, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er ist im Morgengrauen aus dem Bett geholt worden, ebenso wie der Richter und der Staatsanwalt. Eine Stunde, nachdem der Probepolizist Seidlinger gemeinsam mit dem Gastwirt Rathner im Morgengrauen das ermordete Liebespärchen unter dem Baum entdeckte, war bereits die Mordkommission zur Stelle. Inspektor Weisseneder räuspert sich und stößt den Polizeirat Dr. Moritz Albert an, der eben seine Tasche schließt und ein Protokoll hinkritzelt, das dann die übrigen Mitglieder der Mordkommission unterzeichnen müssen. »Schiach, net wahr, Herr Doktor? Wie hat denn der Kerl die beiden ins Jenseits befördert?« Dr. Albert richtet sich auf. Auch er steht immer noch unter dem Eindruck der grausigen Bluttat: »Es handelt sich bei dem Täter eindeutig um einen sogenannten Rendezvousgucker oder Liebesspion, wie die Leut sagen. Die meisten von diesen Menschen sind harmlos und beobachten die Liebespaare, ohne - 205 -
ihnen etwas anzutun. Der aber hatte einen teuflischen Plan. Er brachte ein langes Küchenmesser mit und hat die beiden meuchlings erstochen. Jeder Stich traf das Herz...!« Hofrat Stolpeck mischt sich in das Gespräch ein: »I versteh das net ganz, mein Lieber. Schäferstündchen hin, Schäferstündchen her: Ich muß doch merken, wenn sich jemand von hinten an mich heranschleicht!« Dr. Albrecht erläutert dem Kommissär den Tathergang: »Die beiden haben nichts bemerkt. Wie auch? Die haben sich ja nicht bloß geküßt. Die waren doch vollauf mit sich selbst beschäftigt: eine Frau und ein Mann in so einer Situation. Die hören und sehen doch ringsum kaum etwas ...!« Der Hofrat reißt die Augen auf: »Was wollen S' denn damit sagen, lieber Doktor?« Dr. Albrecht muß unwillkürlich schmunzeln: »Aber, Herr Hofrat, tun S' doch net so unschuldig. Die beiden haben sich gerade leidenschaftlich geliebt. Sie waren in wilder Umarmung, als es geschah. Und jetzt muß ich Ihnen meine sensationelle Entdeckung vermelden: Der Täter hat genau abgewartet, bis die beiden Liebenden den Geschlechtsakt vollzogen. Und just in dem Augenblick, als das Paar den Höhepunkt erreichte, da sprang er herzu und stach auf die beiden ein. Wenn mich net alles täuscht, verspürte er dabei ebenfalls so etwas wie eine Befriedigung seiner Lüste.« Der Hofrat ist blaß geworden. »Doktor, wieso wollen Sie denn das so genau wissen?« »Ganz einfach: Ich hab an den Geschlechtsteilen der beiden Ermordeten Sekretspuren des Mädchens und des Mannes gefunden. Also waren die beiden eben fertiggeworden, als der Mörder mit seinem Messer ausholte...!« »Schrecklich!« murmelt der Hofrat. »Ein entsetzlicher Tod!« Inspektor Weisseneder fügt hinzu: »Wenn man bedenkt, daß das jeden von uns hätte passieren können!« Der Hofrat fährt ihn an: »Ihnen vielleicht. Mir nicht. Ich pflege meine Liebesstunden net in den Praterauen abzuhalten!« Der Inspektor schmunzelt: »Aber der Herr Hofrat pflegen - 206 -
mit der kleinen Tänzerin vom Leopoldstädter Theater ins Hotel zu gehen!« »Na und?« »Vergessen S' net, Herr Hofrat: Es sind schon Liebende durchs Schlüsselloch beobachtet worden. Und es sind auch schon Morde in Hotels passiert...!« Unwillig meint der Hofrat: »Kontrollieren S' lieber das Tatortprotokoll von den Beamten dort, Inspektor.« Inspektor Weisseneder tritt ganz nahe an die Ermordeten heran. Dann ergänzt er das Protokoll des Polizisten, das man ihm gereicht hat, und setzt seinen Namen und das Datum darunter. Es ist der 24. Juni 1827. Erst zwei Tage später hat die Wiener Polizei die beiden Ermordeten identifiziert. Es handelt sich um die 21jährige Maria Leidolt und um den 29jährigen Tischlergesellen Peperl Zoderer, beide aus der Leopoldstadt. Das Paar traf sich regelmäßig in den Praterauen, weil sie sonst kein Plätzchen wußten, so sie sich lieben konnten. Der Wiener Prater mit seinen weitläufigen Auen ist in diesen Tagen für zahllose Pärchen zum Naturstundenhotel geworden. Es hat sich bald herumgesprochen, daß es sich im Moos unter den alten Bäumen gut liegt und daß hier recht selten Polizei vorüberkommt. Ein Patrouillenbeamter notiert im Jahre 1827 in sein Dienstbuch: »Wenn man an einem Samstagabend durch die Praterauen schlendert, um nach dem Rechten zu sehen, da fühlt man sich wie in einem Gruselkabinett. Man sieht niemanden, aber aus den Büschen klingt Stöhnen und Keuchen, ein Rascheln und Schmatzen. Ich möcht nicht zählen, wie viele Kinder in einer solchen Nacht unter freiem Himmel gezeugt werden.« Der Wiener Wurstelprater und seine Umgebung sind zu einem Unterhaltungszentrum für die Bevölkerung geworden. Es gibt bereits mehr als vierzig Beiseln, ein halbes Dutzend Ringelspiele und viele, viele Schaukeln in allen Größen und - 207 -
Farben. Es stehen bereits viele Schaubuden, Kaffeezelte und es gibt schon ein Wachsfigurenkabinett. Wer ein Mädchen hat - sei es die Verlobte oder die heimliche Geliebte oder gar ein Seitensprung -, der geht in den Prater. Und wer keine Partnerin hat, der geht erst recht dorthin, weil sich hier bald Gesellschaft findet. In manchen Praterlokalen spielt die käufliche Liebe eine bedeutende Rolle. Manchmal weiß man nicht ganz genau, ob die Mädchen, die einem das bestellte Bier an den Tisch bringen, im Grunde genommen getränketragende Lustdirnen oder lustverkaufende Getränketrägerinnen sind. So mancher Herr Papa führt die Kinder in den Prater, setzt sie ins Kasperltheater und vertrollt sich dann, um angeblich ein kleines Bier zu trinken. In Wahrheit aber geht er Dirnen anschauen, läßt sich von den leichtgeschürzten und freizügigen Mädchen ansprechen und vielleicht sogar zum kurzen Besuch eines naheliegenden Hotels überreden. Am regsten bandeln die Praterhuren in der Gaststätte zu den »Drei Lilien« an. Hier kann es passieren, daß ein Mann plötzlich unter dem Tisch die Hand einer fremden Dame spürt. Oder daß ihn ein Mädchen mit heißen Blicken bittet, ob er ihr nicht helfen könnte, ihr Strumpfband zu richten. Da zeigen junge hübsche Mädchen ihre nackten Beine, wenn gerade der Kellner nicht herschaut. Und da flüstern zudringliche Schöne den Gästen ins Ohr, daß sie heute unter dem Rock nichts anhätten. Die meisten »Damen« ziehen es vor, mit ihrer Kundschaft ins Grüne zu wandern und ihre Liebesdienste hinter Büschen und unter Bäumen zu absolvieren. Für jene Kunden aber, denen der Auwald zu gefährlich ist, stehen schon damals die ersten kleinen Stundenhotels am Rande des Pratergeländes. Der Prater ist also in kürzester Zeit ein heißer Boden geworden. Wiens Halb- und Unterwelt hat eine ideale Zuflucht gefunden. Überhaupt, wenn es gilt, für einige Zeit aus den Augen der Polizei zu verschwinden. Es ist also nicht ungefährlich, sich im Prater zu lieben. Da gibt es Totschläger, Räuber und Raubmörder. Da gibt es skrupellose Zuhälter und Erpresser. - 208 -
Oft fällt ein Kavalier auf den Plan einer Dirne und deren Freund herein. Das Mädchen spricht den Herrn an und lockt ihn in die Praterau. Dort gibt sie sich ihm hin. Plötzlich taucht der Zuhälter auf. Entweder beraubt er den Kavalier und jagt ihn davon oder aber er erpreßt ihn und droht, alles der Gattin des Mannes zu melden. Meist bezahlt dann der Kavalier freiwillig und trollt sich. Nicht selten aber werden auch anständige Mädchen, die sich den Praterrummel ansehen wollen, von jungen Männern zum Spazierengehen überredet und dann in der einsamen Au bedrängt. Die Polizei ist angesichts dieser Vorkommnisse machtlos. Sie ist außerstande, das riesige Pratergelände unter Kontrolle zu halten. Und nur so konnte es auch zu jenem grausigen Mord an Maria Leidolt und Peperl Zoderer kommen... Hofrat Stolpeck geht in seinem Amtszimmer auf dem Kommissariat rastlos auf und ab. Er kann gar nicht verstehen, daß der Liebespaar-Mörder im Prater keine einzige Spur hinterlassen hat, die die Polizei einen Schritt weiterbringen könnte. Der Hofrat wartet unruhig auf den Inspektor. Er hat ihn mit einigen Beamten noch einmal zum Tatort geschickt. »Vielleicht haben sie doch noch etwas finden können!« murmelt er und läßt sich dann ächzend in seinen Schreibtisch fallen. Sekunden später klopft es laut. »Herein!« »Stör ich, Herr Kommissär?« »Aber nein, lieber Inspektor. Ich wart doch schon so sehr auf Sie. No, was war?« Ein Triumph liegt auf dem Gesicht Inspektor Weisseneders. »Jawohl, Herr Hofrat, unsere Fahrt in den Prater war nicht vergebens.« Der Hofrat blickt seinen Untergebenen fasziniert an: »Na, dann schießen S' doch endlich los, mein Lieber. Spannen S' mich net so auf die Folter.« Der Inspektor stützt sich auf den Schreibtisch: »Der Täter - 209 -
muß seinen Opfern vom Baum aus zugesehen haben, wie es die Liebesspione gern tun. Wir haben abgebrochene Äste gefunden. Und in einer Astgabel ist dieser Faden gelegen!« Er zieht einen bunt gefärbten, starken Faden hervor und zeigt ihn dem Hofrat. Der starrt darauf und meint dann: »Und damit wolln S' den Pratermörder fangen?« Der Inspektor nickt: »Das ist kein gewöhnlicher Faden. Er stammt von der Lederverzierung eines türkischen Schuhs ohne Absatz, wie man ihn im Orient häufig, bei uns aber sehr selten, ja fast gar net, trägt. Und darum ist das ein wichtiges Beweisstück.« Der Hofrat ist vor Erregung rot im Gesicht: »Großartig, lieber Weisseneder. Das war wirklich tüchtig. Veranlassen Sie die Benachrichtigung aller Kommissariate. Befragung aller Schuhmacher und Schuhhändler. Wir müssen wissen, wer in jüngster Zeit derartige Schuhe gekauft hat. Sie müssen noch ziemlich neu sein. Der Faden ist noch kräftig in seinen Farben.« Die 18jährige Lehrerstochter Dorothea Wenninger aus Mariahilf lehnt sich an einem heißen Juliabend des Jahres 1827 im Schutz eines Weidenbaumes ins Gras. Sie atmet die würzige Luft ein und seufzt glücklich. Der 26jährige Postbote Karl Storzmüller aus der Innenstadt läßt sich neben ihr nieder. Er kennt das Mädchen schon etliche Wochen. Und er weiß: Heute wird es so weit sein. Sie haben beide ein bißchen zuviel über den Durst getrunken. Sie haben einander ihre Liebe gestanden. Und er hat erstmals versucht, mit seinen Fingern an ihrer reizvollen Figur herumzutapsen. Sie hat nichts gesagt. Und jetzt liegen sie im Gras und flüstern einander zärtliche Worte ins Ohr. Karl Storzmüller öffnet das Mieder seiner Dorothea. Sie sinkt stöhnend zurück. Sie hat darauf gewartet. Sie bebt vor Erregung. Im selben Augenblick vernehmen die beiden Verliebten im Geäst des Baumes über sich ein Rascheln. Entsetzt fährt das Mädchen hoch: »Karl, da ist wer! Um Gottes Willen rennen wir weg!« - 210 -
Aber Storzmüller kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er lauscht und als sich nichts mehr rührt, meint er: »Vielleicht war's nur ein Vogerl, das beim Vögeln hat zuschauen wollen!« Er lacht über seine Wortspielerei und küßt Dorothea innig und stürmisch. Sekunden später finden sich die beiden in wilden Umarmungen. Zwei glühende Augen beobachten jede Bewegung des Pärchens. Und als Dorothea immer wieder kurze, hintereinander folgende spitze Schreie ausstößt, da schwingt sich die dunkle Gestalt in Windeseile zu Boden, stürzt auf die beiden zu und stößt ihnen ein Messer zwischen die Rippen. Karl Storzmüller ist sofort tot. Dorothea schreit auf, dann ist auch ihr Leben zu Ende ... Man findet die erkalteten Leichen erst am nächsten Morgen. Ein Polizist, der seinen freien Tag hat und zur Jagd reiten möchte, macht die grausige Entdeckung. Er meldet den Doppelmord vertraulich dem Hofrat Stolpeck persönlich. In aller Heimlichkeit begutachtet die Exekutive den Tatort. Kein Zweifel. Es muß sich um denselben Täter und um dieselbe Tatwaffe gehandelt haben. Die Leichen werden schnell weggeschafft. Hofrat Stolpeck meint: »Wir werden auch die Zeitungen vorderhand nicht verständigen. Niemand braucht von dem Mord zu wissen. Der Mörder soll sich in Sicherheit wiegen.« Drei Wochen sind vergangen. Zwei Kriminalbeamte haben fast den ganzen zweiten Wiener Gemeindebezirk durchkämmt. Nirgends ist ihnen ein Geschäft aufgefallen, das türkische, farbige Schuhe anbietet. Plötzlich, in einem Verbindungsgäßchen von der Praterstraße zur Weintraubengasse, bleibt einer der Männer wie erstarrt stehen und stößt den Kollegen in die Rippen. Sie schauen in eine kleine Auslage. Da stehen zwei Paar türkische Schuhe, das Leder mit farbigen Schnüren zusammengenäht. »Nichts wie hinein in den Laden«, flüstert einer der Beamten. Dann stehen sie auch schon vor dem Verkaufspult. Mit einer höflichen Verneigung tritt ihnen der Schuhhändler ent- 211 -
gegen: ein kleiner Mann mit einem modischen Bart und dichten Augenbrauen. Es ist der 41jährige Michael Prachtl. »Was verschafft mir die Ehre?« erkundigt er sich nach den Wünschen der vermeintlichen Kunden. Doch einer der Beamten weist sich aus und erklärt: »Wir suchen einen Mörder, der türkische Schuhe trägt. Sie verkaufen solche. Können Sie sich erinnern, wann in letzter Zeit jemand derartige Schuhbekleidung bei Ihnen erstanden hat?« Michael Prachtl geht unstet hin und her. Dann blickt er auf: »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich habe in jüngster Zeit ungeheure Mengen dieser Schuhe verkauft...!« Die Beamten geben sich zufrieden. Sie geben dem Mann, der Genaueres über den Mörder wissen will, keine Antwort und verlassen das Geschäft. Da läuft ihnen direkt eine Frau mit einer Einkaufstasche in die Hände. Aufs Geratewohl fragt einer der Kriminalbeamten: »Frau Prachtl?« Sie nickt. »Können Sie sich vielleicht erinnern, wer in jüngster Zeit türkische Schuhe von Ihrem Mann gekauft hat?« Sie schmunzelt und hebt den rechten Ellbogen: »Wollen Sie uns pflanzen, Herr Inspektor?« Mein Mann hat sich eingebildet, er macht mit diesen Schuhen das Geschäft seines Lebens. Bisher hat er kein einziges Paar verkauft. Was bleibt ihm anderes übrig? Er trägt jetzt die Dinger selbst, weil ihm leid ums Geld ist...!« Die beiden Beamten sehen einander blitzschnell an. Hofrat Stolpeck wird mit ihnen zufrieden sein. Eine Stunde später trifft Inspektor Weisseneder mit seinen Leuten und einem Haftbefehl in dem Schuhladen ein. Es ist nur die Frau im Hause. Ihr Mann ist weggegangen: »Zum Schleifer, damit der mir mein großes Küchenmesser wieder scharf macht. Das Messer? Wo es ist? Das hat mein Mann natürlich mit!« Dem Inspektor steigt der Schweiß am Rücken auf. Michael Prachtl hat wieder einen Mord vor, kein Zweifel. »Wo ist der Messerschleifer?« - 212 -
»Drunten im Prater. Neben dem Wachsfigurenkabinett hat er seinen Stand.« In einem Höllentempo rasselt die Polizeikutsche dem Prater zu. Als sie beim Wachsfigurenkabinett um die Ecke kurvt, sieht einer der Beamten, wie der Schuhhändler gerade in der Schaubude verschwindet. Die Männer springen ab und hasten in das Wachsfigurenkabinett, nachdem sie der Kassierin die Polizeiausweise unter die Nase gehalten haben. Drinnen ist es düster. Inspektor Weisseneder gewöhnt sich schnell an die Dämmerung. Dann sieht er auch schon Michael Prachtl, wie er vor der Statue einer bekannten französischen Mätresse König Ludwigs IV. steht und sie anstarrt. »Michael Prachtl! Im Namen des Kaisers: Sie sind verhaftet!« Blitzschnell dreht sich der Schuhhändler um: »Was soll der Unsinn? Verschwinden S' gefälligst und lassen Sie einen braven Bürger in Ruhe!« Inspektor Weisseneder blickt zu Boden. Prachtl hat wieder türkische Schuhe an. Und aus seiner Sakkotasche lugt der Griff eines Küchenmessers. »Was soll i tan haben?« fragt er aufbegehrend. »Du hast das Liebespaar umgebracht, von dem in der Zeitung gestanden ist. Und du hast noch ein Pärchen ermordet, von dem einstweilen nur die Polizei weiß!« Da schreit Prachtl: »Die kann doch auch ein anderer erstochen haben...!« Inspektor Weisseneder brüllt triumphierend: »Warum weißt denn du Lump, daß das zweite Pärchen auch erstochen worden ist? Gib auf. Du bist der Liebenspaar-Mörder!« Michael Prachtl ist käseweiß im Gesicht. Er leistet keinen Widerstand, gibt sein Messer ab und läßt sich abführen. Auf dem Kommissariat legt er ein grausiges Geständnis ab ... Der Mord an den beiden Liebespaaren im Prater ist geklärt. Doch das Geständnis des Täters bewegt die Wiener noch lange Zeit ungemein. Michael Prachtl war von Kindheit an unglücklich. Wenn - 213 -
andere Burschen mit ihren Mädchen schmusten und kosten, dann fand er sich mit den Mädchen nicht zurecht. Er ertappte sich mehr und mehr dabei, daß es ihm Spaß machte, die anderen beim Küssen und auch beim Lieben heimlich zu beobachten. Als er älter wurde und heiratete, machten ihm die ehelichen Pflichten keinen Spaß. Anfangs vermochte er seine Unlust und seinen Widerwillen vor der Ehefrau zu verschweigen. Bald aber merkte sie, daß er kein idealer Mann war. Da gestand er ihr, daß ihm die körperliche Liebe keinen Spaß mache, daß er lieber zusehe. Ja, er wollte seine Frau sogar dazu überreden, sich einen Geliebten zu nehmen und ihm Liebesvorstellungen zu geben. Da ohrfeigte die Gattin ihn für dieses Ansinnen. Und sie trieb ihn damit in die Praterauen, wo Michael Prachtl von nun an begann, fremden Liebespaaren zuzusehen. In seinem Geständnis erklärte der vierfache Mörder: »Zuerst machte es mir Spaß, nur zuzusehen, wie sich diese Menschen liebten, dann aber war ich es ihnen neidig!«
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Sämtliche Tische im Garten des Pratergasthauses Lachmeyer sind bis auf den letzten Platz besetzt. Teller und Eßbesteck klirren. Die raschen Kellnerinnen kommen kaum mit dem Servieren nach. Das Bier und der Wein fließen in Strömen. Unter ein paar dicken, hohen Kastanienbäumen ist ein Holzpodium errichtet worden. Darauf spielt gerade eine Musikkapelle. Neben dem Podium führt eine Tür direkt in die Gastwirtschaft. Immer wieder recken die Leute die Hälse und schauen, ob der Star des Sommernachmittages an jenem Julitag 1827 schon die Bühne betritt. Sie alle sind in erster Linie nur wegen der Volkssängerin gekommen, die heute hier eine Extravorstellung gibt. Es ist die junge, hübsche Fanny Hornischer, eine echte Vorstadtwienerin, die beim Wiener Praterpublikum über Nacht berühmt wurde. Sie hat eine klare, laute und sinnliche Stimme. Sie kann beim Singen so unerhört frivol und aufreizend lachen und weiß so herrlich zweideutige Bewegungen zu machen. Man munkelt immer wieder, daß sie aus einer Vagabundenfamilie stammt und schon mit 14 Jahren auf den Strich ging. Doch das kümmert die Leute wenig. Sie jubeln Fanny Hornischer zu. Sie haben sie ins Herz geschlossen. Und sie genießen ihre ordinären Lieder, die oft sehr unter die Haut gehen. Ein Raunen geht durch die Menge. Es ist so weit. Die Tür geht auf, und eine schlanke Frauengestalt mit einem tief ausgeschnittenen Kleid hüpft auf die Bühne. Applaus brandet los. Die jungen Burschen, die ganz vorne vor dem Podium - 215 -
Tische bestellt haben, laufen rot an vor Begeisterung. Sie freuen sich auf die Zoten der Volkssängerin. Die Kapelle gibt einen lauten Tusch. Alle Augen sind aufs Podium gerichtet. Die Fanny Hornischer verneigt sich, sodaß ihre üppigen Brüste fast aus dem Ausschnitt purzeln. Schnell fährt sie wieder hoch und drängt ihre volle Weiblichkeit ins Kleid zurück. Dabei lacht sie schmutzig. Dann ruft sie: »Grüß euch Gott, da unten. Ich will net viel reden. Ich werd glei was singen!« Sofort erhebt sich ein dicker, schwitzender Bierkutscher: »Wir wollen >Net schön, aber gut< hörn...!« »Net schön, aber gut!« ist der Titel eines überaus freizügigen Liedes, das die Fanny Hornischer berühmt gemacht hat. Sie freut sich darüber, wehrt mit den Händen ab und schreit: »Des sing ich später. Zuerst bring ich euch des, was i will. Ich hab ja was Neues, was ganz Neues ...!« Der Klavierspieler gibt die Tonart an. Dann fliegen seine Finger über die Tasten. Und die Fanny Hornischer fällt mit munterer Stimme ein. Sie singt an jenem Sommernachmittag ein Lied, das die Polizei auf den Plan ruft. Ein Lied, von dem heut nur noch kärgliche Fragmente erhalten sind. Da heißt es beispielsweise: »Net nur der Löwe hat an Schwanz. I hab's bemerkt beim Tanz: Es hat ihn a mein Franz. Doch net nur der Franz, a der Hans ...!« Die Hornischer springt von der Bühne und geht singend und hüftenwiegend durch die ersten Reihen der Tische. Sie merkt, wie die jungen Burschen bei ihrem Lied unruhig dasitzen. Das gefällt der Sängerin. Sie zwinkert ihnen zu. Dann beugt sie sich wieder vor, sodaß die jungen Herrn direkt Einblick auf ihren Busen haben. Sekunden später steht sie wieder auf der Bühne. Und singt, singt, singt. Ohne Pause. Ein Lied nach dem anderen. Und jedes behandelt die körperliche Liebe. Darum heißt es in einem Polizeiprotokoll von damals schwarz auf weiß: »Und so ist es zu überlegen, ob man nicht die ordinären Liedervorträge dieser Frauensperson mit Namen Hornischer ein für alle Mal verbieten und verfolgen sollte. Die Lieder bringen die Leut auf unzüchtige Gedanken!« - 216 -
Zwei Wochen später. Die Fanny Hornischer hat ein einmaliges Gastspiel in Soffners Gasthaus, ganz nahe dem Wurstelprater. Sie sitzt in ihrem »Künstlerzimmer«, der Garderobe der Toilettenfrau, und heult wie ein Schloßhund. Der Wirt geht unruhig vor ihr auf und ab. »Hornischerin, des versteh i net!« Sie blickt auf: »Wahrscheinlich hast zuwenig unter die Leut bracht, daß ich heut bei dir sing. Des gibt's doch net, daß so wenig Leut da sind.« Der Wirt murmelt unwillig: »Ganz Wien weiß es. Aber diese neue Sängerin, die Fiakermilli, die haben S' plötzlich lieber als dich. Du bist denen ein bißerl zu ordinär!« »Aber halt doch die Goschen«, platzt die Hornischer böse heraus. Sie hat selbst schon sehr viel von dieser Fiakermilli gehört. Sie haßt die Konkurrenz und denkt angestrengt nach, wie sie der Person eins auswischen kann. Ganz Wien redet nur
Der »Wettbewerb der Ärsche« heißt die Darstellung aus dem alten Wien. Sie soll daran erinnern, daß einst die Fiakermilli und die Fanny Hornischer ihre entblößten Kehrseiten einer Jury zeigten - 217 -
von der Fiakermilli, die das »Sperl« zu ihrem Stammlokal gemacht hat. Fanny Hornischer schaut in den Gasthaussaal hinaus: Da sitzen an drei Tischen insgesamt sieben Leute. »I sing net!« ruft sie, wirft sich ihren leichten Sommermantel über, besteigt ihren Fiaker, der vor dem Gasthaus gewartet hat, und fährt davon. Sie läßt sich direkt zum Domansky bringen, dem Restaurant »Zum stillen Zecher«. Da gastiert jeden Nachmittag und Abend eine Freundin von ihr: die erfolgreiche Antonie Mansfeld, eine Volkssängerin von besonderer Art. Als die Hornischer gerade den Saal betritt, steht die Mansfeld auf der Bühne und trägt ein Couplet vor, das nur so von ordinären Worten strotzt. Es ist ein Hurenlied. Es wirkt eigenartig reizvoll, wenn die Antonie Mansfeld so in ihrem dunklen hochgeschlossenen Gouvernantenkleid im Scheinwerferlicht dasteht, kein bißchen Mädchenfleisch zeigt, aber aus ihrem Mund die unsittlichsten Worte entfliehen läßt. Da bleibt selbst den abgebrühtesten Männern der Atem weg. Die Mansfeld singt gerade das Lied von einer Rose, die aufgeht und gepflückt werden will. Dabei zeigt die Sängerin auf ihren streng verdeckten Unterleib und präsentiert damit die eindeutigsten Zweideutigkeiten. Applaus brandet auf. Die Mansfeld muß sich ausrasten und zieht sich von der Bühne in eine leere Hinterstube des Lokals zurück, wo man ihr Erfrischungen reicht. Die Stimmung draußen ist großartig. Gerade, als sich die Mansfeld ein bißchen die Schminke im Gesicht nachzieht, steht die Fanny Hornischer hinter ihr. »Servas, Fanny«, meint die Antonie Mansfeld und dreht sich auf ihrem Sessel herum. »Singst du heut net? Is was los?« Wieder beginnt die Hornischer zu weinen: »I bin ruiniert. Die Fiakermilli schnappt mir alle Leut weg. Meine Vorstellungen san nimmer voll. Ja, manchmal sitzen fast gar keine Leut vor der Bühne!« Da schmunzelt die Mansfeld: »Wehr dich doch. Mach die - 218 -
kleine Hur unmöglich. Unsere Lieder, Fanny, san vielleicht ordinär. Aber des größere Biest is sie. Die ist doch zügellos mit ihren Liebschaften. Die schlaft doch mit jedem, der sie nur nett anschaut...« Die Hornischer sieht einfallslos drein: »Was soll i denn gegen sie machen?« »Hetz die Leut a bisserl gegen sie auf. Misch dich unter ihr Publikum. Und noch was. Mir fallt da was ein: Sie hat seit kurzer Zeit an Grafen. Wischinsky heißt er, glaub ich. An dem hängt sie sehr. Sie is sehr bedacht drauf, daß er a gute Meinung von ihr hat. A fescher Mensch. Spann ihr den aus. Dann vergeht ihr die Lust am Singen!« Die Augen der Fanny Hornischer leuchten. Sie weiß es ganz sicher: Schon am nächsten Tag wird sie beim Sperl einen Riesenkrach provozieren. In jenen Tagen, in denen sich nahezu die ganze Freizeit der Wiener im Prater abspielt, gibt es Volkssängerinnen und Volkssänger wie Sand am Meer. Diese Volkssänger sind im Grunde genommen die Nachfolger jener Bänkelliedersänger und Harfenisten, die von Schenke zu Schenke zogen und ihre Lieder vortrugen. Auch der liebe Augustin war im Grunde genommen so ein Geselle. Der erste Volkssänger von Wien war der »blinde Polkl«, mit seinem richtigen Namen Leopold Mayer. Er durchstreifte die Wirtshäuser der Vorstädte. Oft sang er nur für ein Essen. Dann kam der »Müller-Moser«. Er sang zu Klavierbegleitung und verlangte eine regelrechte Gage. Ihm gelang es, das Volkssängertum zum Künstlerstand zu erheben. Der »Höllenbreughel Fürst«, wie man einen anderen Volkssänger nannte, begann, die ersten ordinären Lieder mit pornographischem Einschlag vorzutragen. Er erntete damit Riesenerfolge. Das spornte auch andere an. Vor allem traten nun die Sängerinnen in den Vordergrund, die den Vorzug hatten, neben ihren Liedern auch noch körperliche Reize bieten zu können. Die Fiakermilli wurde die berühmteste der Volkssängerinnen in Wien. Wie schon erwähnt: Sie hatte ihr Stammlokal im Sperl, - 219 -
wo meist vornehme, zahlungskräftige Männer mit ihren Freundinnen oder mit leichten Mädchen verkehrten. Man nannte die Fiakermilli auch »Barmherzige Schwester«, weil sie zu einem Mann so schwer nein sagen konnte. Sie war schamlos, obszön, aber zugleich auch echt volkstümlich. Darin lag das Geheimnis ihres Erfolges. Auf den Fiaker- und Wäschermädelbällen bildeten ihre Gesangseinlagen die Höhepunkte. Sie übte auf die Männer aller Bevölkerungsschichten einen so starken Reiz aus, weil sie zeit ihres Lebens immer frei heraussagte, was sie sich dachte. Antonie Mansfeld wirkte durch ihre züchtige Kleidung, die im krassen Gegensatz zu ihren Liedertexten stand. Aber auch sie war kein Vaserl. Meist wählte sie sich einen Verehrer aus dem Publikum heraus und verbrachte die darauffolgende Nacht mit ihm. Rätselhaft ist bis heute die Rolle ihres »Managers«. Die Mansfeld reiste immer in Begleitung eines kleinen, netten Mannes, der ihre Auftritte vorbereitete, mit ihr ausging und speiste. Sie stellte ihn manchmal als ihren künstlerischen Berater vor, manchmal als ihren Bruder. Die Wiener munkelten bald, es wäre ihr Ehemann. Da er aber mit ansah, wie sich die Mansfeld anderen Männern hingab, wollte er nicht, daß man wußte, das er der gehörnte Gatte wäre. Fräulein Zaidler trat mit zwei Herren auf und war durch ihre aufreizende und ordinäre Pantomime berühmt. Fanny Seifenmoser erschien ebenfalls mit zwei Herren - den Gfrettenbrüdern - auf der Bühne. Sie war erst 16 Jahre alt. Und viele Wirtshausgäste empfanden es als besonders makabren Kitzel, wenn dieses unschuldig aussehende Mädchen die ärgsten Anzüglichkeiten sang und vom »Herumhuren« und vom »Geschändetwerden« schwärmte. Jeanette Weiß wirkte auf die Männer weniger mit ihrer Stimme, als durch ihre äußere Erscheinung. Sie machte während ihrer Vorträge oft ihre riesigen Brüste frei und ließ die Männer sogar hintasten. Und schließlich war die Fanny Hornischer als Erzfeindin der Fiakermilli und als wohl ordinärste Volkssängerin in aller Munde. Ihre Lieder pfiffen die Schusterbuben auf der Straße. - 220 -
Fanny Hornischer sang die ordinärsten Lieder im alten Wien Bei ihren Programmen gab es oft Zwischenfälle. So wollte einmal ein Pferdehändler am Wirtshaustische eine Frau vergewaltigen, weil ihn die Lieder der Hornischer so »scharf« gemacht hatten. Und wenn die Hornischer etwa sah, daß die Männer da unten vor der Bühne vor Gier vergingen und in höchster Erregung waren, fand sie das reizvoll. August 1827. Beim »Sperl« ist Hochbetrieb. Männer und Frauen sind bester Stimmung. Die Fiakermilli hat sich gerade eine kleine Pause gegönnt. Jetzt klettert sie wieder auf die - 221 -
Bühne, wirft Kußhändchen in die Runde und gibt dem Klavierspieler ein Zeichen. Das nächste Lied beginnt. Ein frivoles Lied, aber doch recht salonfähig. Die Leute haben Spaß daran, aber sie merken, daß die Fiakermilli heut besonders vorsichtig und zurückhaltend ist. Manche denken, daß sie sich vor der Polizei in acht nimmt. Vielleicht sitzt sogar ein Spitzel im Saal. Nur wenige wissen, warum die Fiakermilli so vornehm ist und sich so gar nicht gehen läßt. Im Publikum sitzt ihre neue große Liebe, der reiche Graf Wischinsky. Er hat nur Augen für die fesche Sängerin, die diesmal wieder in sparsamer Wäschermädeltracht auf der Bühne steht, die viel Busen und Waden sehen läßt. Vor dem Grafen will sie nicht gar so ausfällige Lieder singen. Sie hofft, daß er sie heiraten wird. Dann will sie überhaupt mit dem Singen aufhören. Er hat ihr schon einmal diesen Wunsch unterbreitet. Die Leute haben davon keine Ahnung. Nur Fanny Hornischer ist informiert, und sie hat einen teuflischen Plan. Ein bißchen verkleidet, daß man sie nicht gleich auf den ersten Blick erkennt, setzt sie sich an den Tisch des Grafen. Zuerst sagt sie nichts und hört nur zu. Sie merkt voll Zorn, wie der Graf die Fiakermilli anschmachtet. »Nicht mehr lange, Freundchen«, denkt sich die Hornischer. Dann schlägt sie zu. Während die anderen applaudieren, steht sie auf und ruft zur Bühne: »He, Fiakermilli. Was ist los? Warum singst du heute so zahme Lieder? Was ist mit den ordinären Versen? Du kannst das doch besser wie die Fanny Hornischer...!« Der Graf ist aufgesprungen: »Fräulein, was erlauben Sie sich? Wie reden Sie von der Künstlerin da vorne auf der Bühne?« Jetzt ist die Stunde der Hornischer gekommen: »Künstlerin? Das ich net lach. Sie is a ganz gewöhnliche Volkssängerin und Vorstadthur. Die is doch das reinste Durchhaus.« Der Graf ist blaß geworden. Die Fiakermilli merkt von der Bühne her, daß da am Tisch ihres Geliebten nicht alles in Ordnung ist. Sie springt vom - 222 -
Podium und läuft zwischen den Zuschauern hin. Jetzt steht sie neben dem Grafen. Noch kennt sie die Hornischer nicht. Sie ist blaß, weil sie merkt, daß das Mädchen viel über sie weiß. Fanny Hornischer ist noch nicht am Ende. Sie steht dicht vor dem Grafen und meint lautstark: »Sie wollen wohl die Hand für die Milli ins Feuer legen. Da tät ich aber sehr vorsichtig sein. Nur wenn vornehme Herren im Prater sind, singt sie zahme Lieder. Sonst treibt sie's so arg, daß sogar die Blätter von den Kastanienbäumen rot werden. Diese Räubersbraut...!« Der Graf spitzt die Ohren: »Was sagt Sie da? Räubersbraut? Wie kommt Sie zu dieser elenden Verleumdung?« Die Hornischerin lacht ordinär auf: »Verleumdung? Haben Sie's noch nicht gehört. Ganz Wiener redet davon, daß die Fiakermilli heimlich die Geliebte eines Räubers ist, der von der Polizei gesucht wird und draußen im Waldviertel mit seiner Bande ein Versteck hat. Oft fährt die Milli hinaus und gibt sich ihm hin. Natürlich soll das niemand wissen, überhaupt nicht der feine Herr, den sie haben möcht. Ich glaub, es ist ein Graf...!« Graf Wischinsky muß sich gegen die Wand lehnen. Ihm wird übel. Er sieht fragend die Fiakermilli an. Die Volkssängerin aber hat keine Zeit für ihren Freund. Sie springt auf die angriffslustige Frau zu und erkennt sie. Hochrot im Gesicht schreit sie: »Du Gfrast, du deppertes. Du hast es notwendig, über andere herzuziehen. Du perverses Luder, halt deinen Mund.« Dann wendet sich die Fiakermilli ihrem Geliebten zu: »Glaub ihr nix. Sie ist eine gefährliche Konkurrentin von mir, die Fanny Hornischer. Wenn die singt, vergessen sich die Männer im Publikum. So ordinär ist die ...!« Die Fiakermilli kommt nicht weiter. Der Graf hat sich umgedreht und muß sich übergeben. Er ist aschfahl im Gesicht. Jetzt erst merkt er, in welche Gesellschaft er durch seine Liaison geraten ist. Er verläßt fluchtartig den Saal. Er will von beiden Damen nichts mehr wissen. Bis heute weiß niemand, ob die Fiakermilli wirklich eine heimliche Räuberbraut war, wie man später noch oft behauptete, oder ob das nur von der Fanny Hor- 223 -
nischer erdacht und verbreitet wurde. Jedenfalls ist die Liaison mit dem Grafen jäh zu Ende. Kaum hat er das Lokal verlassen, entspinnt sich eine Saalschlacht. Fanny Hornischer und die Fiakermilli liegen sich in den Haaren. Sie beschimpfen einander. Ein Wort ergibt das andere. Da brüllt die Fiakermilli: »Was hast du gesagt? Ich hab einen häßlichen Arsch. Na, mit deinem Hintern kann er sich noch leicht messen!« Das Publikum wittert einen Riesenspaß. Man hetzt die beiden Volkssängerinnen so lange auf, bis sie das Lokal verlassen und - gefolgt von fast allen Wirtshausgästen - ein Stück in die Praterauen eilen. Dort lassen sie die Kleider fallen und zeigen den Frauen und Männern keck ihre Hinterseite. Eine Jury bestehend aus einem Faßbinder, einem Bäckermeister und zwei Kellnerinnen - beschließt um des guten Friedens willen, daß beide Sängerinnen hübsche Ärsche haben. Im Gästebuch vom Sperlwirt kann man wenig später nachlesen: »Die beiden waren zufrieden und gingen ihrer Wege. Im Grunde genommen hat die Fiakermilli einen recht faltigen Hintern und Hornischer Hängebacken. Also, bei beiden sind die umstrittenen Körperteile keine Offenbarung...!«
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Ein lauer Sommerabend des Jahres 1821 im ungarischen Ödenburg. Auf dem Bühnenkarren verneigt sich der einst ehrsame Kürschner Franz Joseph Krones aus Freudenthal, seines Zeichens Direktor der kleinen Wanderbühne, vor einem überaus gemischten Publikum mit seiner Familie. Den Leuten hat das Spiel gefallen. Die meisten beschließen, am nächsten Tag wiederzukommen. Vor allem den jungen Männern hat die 20jährige Tochter des Theaterdirektors gefallen, die während ihres Spieles von der Bühne herab mit den Männern flirtete und ihnen heiße Blicke zuwarf. Das hübsche Mädchen ist keine andere als Therese Krones, die später berühmteste Soubrette Wiens, die angebetete liebliche Jugend in Raimunds »Bauer als Millionär«. Jetzt allerdings kennt sie noch kein Mensch. Nur die vielen Männer jeden Alters, denen sie vor und nach den Vorstellungen ihre Gunst beweist, vergöttern sie. Dem Vater bereitet das große Sorgen. Er warnt seine Tochter unentwegt. Es mißfällt ihm, daß sie sich mit jedem, der ihr gefällt und der entsprechend wertvolle Geschenke mitbringt, einläßt. Kaum hat sich das Theaterpublikum vom Hauptplatz in Ödenburg vertrollt, eilt Therese in den elterlichen Wohnwagen. Sie weiß, Vater und Mutter sind noch lange auf der Bühne mit dem Zusammenlegen der Kulissen beschäftigt. An der Tür wartet schon ein junger Mann. Erregt küßt er die Hand der 20Jährigen. Sie zieht ihn stürmisch in den wackeligen Wohnwagen. Und während sie die Tür schließt, streift sie bereits ihr Bühnenkostüm ab und streckt ihrem Besucher ihre kleinen, aber kernigen und sinnlichen Brüste entgegen. Und als er diese - 225 -
mit seinen Lippen bedeckt, sinkt sie bereits zu Boden. Sie streckt ihre Hände aus und spürt in einer Aufwallung von Lust, was sie da erwartet... Vater Krones ist mit dem Abtragen der Bühnendekoration fertig. Die Mutter eilt ins nächste Wirtshaus, um ein Nachtmahl zu holen. Da tritt ein gutaussehender Herr auf den Theaterdirektor zu. »Das war eine nette Vorstellung«, meint er, reicht Franz Joseph Krones die rechte Hand und stellt sich vor: »Gestatten, mein Name ist Ferdinand Raimund. Ich bin aus Wien!« Die Augen des Komödianten verklären sich: »Mein Gott, Herr Raimund, der große Dichter. Habe Ihren Namen schon oft gehört und gelesen. Es ist mir eine Ehre, meiner Seel. Und aus Wien kommt er! Wir waren mit unserer Wanderbühne auch schon einmal in Wien. Damals war meine Tochter Therese erst neun Jahre alt. Wir hatten Pech. Der Erfolg blieb aus. Wir wurden ausgepfiffen. Darum zogen wir wieder nach dem Osten mit dem Thespiskarren. Aber wir wollen wieder nach Wien. So bald als möglich. Vielleicht haben wir jetzt Glück...!« Dann dreht er sich um, bittet Raimund, mit sich zu kommen und meint: »Ich muß Ihnen unbedingt meine Tochter vorstellen. Sie ist im Wohnwagen!« Die Tür des Wagens ist versperrt. Der Vater klopft: »Reserl! Komm heraus. Du wirst staunen, wer da ist, der Herr Raimund!« Für Sekunden ist es drinnen still. Dann hört man Therese Krones' Stimme: »Wart ein bißerl Vater. Ich bin nicht angezogen. Ich komm gleich. Bin sofort fertig!« Endlich öffnet sie die Tür und schließt sie sofort wieder hinter sich. Ihre Wangen sind glutrot. Ihre Augen leuchten. Ihr Busen bewegt sich merklich unter ihren Atemstößen. Ferdinand Raimund ist fasziniert von diesem schönen Kind. Er küßt ihr die Hand: »Ich hab Sie bewundert. Sie spielen wunderbar. Sie sehen traumhaft schön aus. Sie haben Erfolg beim Publikum. Sie werden noch eine große Schauspielerin werden, meine - 226 -
Therese Krones — von Männern begehrter Star des Leopoldstädter Theaters — hatte keinen besonders guten Ruf Liebe. Ich lege Ihnen meine Verehrung zu Füßen. Und wenn Sie nach Wien kommen, werde ich mich persönlich für Sie einsetzen ...!« Die Krones ist außer sich: Der Raimund will sich für sie einsetzen. Endlich würde sie von dem primitiven Theaterkarren des Vaters auf eine echte Bühne kommen. Vater Krones unterbricht die beiden: »Herr Raimund, kom- 227 -
men Sie doch ein bißerl in unseren Wohnwagen. Meine Frau wird gleich mit Essen und Trinken da sein!« Therese ist nervös und stellt sich vor die Tür: »Es ist doch viel schöner, wenn wir mit dem Herrn Raimund spazieren gegen. Es ist so ein herrlicher Abend!« Die beiden Männer lassen sich überreden. Sie schlendern durch einsame Gäßchen in Ödenburg. Es ist stockdunkel. Raimund greift schüchtern nach einer Hand der Krones. Sie zieht sie leidenschaftlich an sich. Und als der Vater einen Augenblick lang nicht hinhört, flüstert sie: »Treffen wir uns morgen vor der Vorstellung...?« Raimund drückt ihre Hand. Sie weiß, daß das »Ja« bedeutet. Als sie zum Wohnwagen zurückkommen, steht die Tür offen. Der Kavalier hat unbeobachtet das Weite suchen können. Am nächsten Tag herrscht bei Beginn der Vorstellung große Aufregung. Dem Vater steht der Schweiß auf der Stirn. Seit Stunden ist seine Tochter verschwunden. In wenigen Minuten soll sie auftreten. Das Stück muß beginnen. Die Leute werden schon unruhig. Franz Joseph Krones betritt die Bühne. Da teilt sich die Menge. Mit fliegenden Haaren kommt Therese und schreit: »Keine Angst, Vater, ich bin schon da. Ich geh mich nur rasch umziehen und schminken!« Pünktlich zu ihrem Stichwort steht sie auf der Bühne. »Wo warst du denn?« raunt ihr der Vater böse zu. Sie stottert: »Ich... ich war spazieren. Da hab ich den Herrn Raimund getroffen und mit ihm geplaudert!« Später verrät sie einer Freundin die Wahrheit. Sie war mit Ferdinand Raimund zusammen und verhexte den Dichter mit ihrem sinnlichen Körper... Die Familie Krones zieht nach Wien. Der einstige Kürschner Franz Joseph Krones, der allmählich merkt, daß seine Tochter Erfolg hat und nicht mehr - wie vor Jahren - ausgepfiffen wird, träumt von einer großen Karriere in der Residenzstadt. Doch er wird bitter enttäuscht. Die Wiener nehmen seine Stücke nicht freundlich auf. Und der Wiener Kritiker Adolf Bäuerle schreibt: »Die Familie Krones hat sich aus ihrer - 228 -
Mittelmäßigkeit in all den Jahren nicht emporzuarbeiten vermocht!« Krones will wieder weg. Aber Therese bittet ihn: »Bleib noch. Ich werde mich mit Herrn Raimund in Verbindung setzen. Er hat versprochen, zu helfen!« Der Vater warnt: »Laß die Männer aus dem Spiel. Vielleicht nützt dich dieser Raimund nur aus. Dein Leichtsinn hat mir schon viel Kummer gemacht.« Tatsächlich hatten die Liebschaften der Krones ein beängstigendes Ausmaß angenommen. Ein junger Mann, den sie enttäuscht hatte, nahm sich ihretwegen das Leben. Er konnte es nicht ertragen, daß er sie antraf, als sie sich unter dem Thespiskarren des Vaters nach einer Vorstellung mit einem jungen Kellner einließ. Ihre Leichtfertigkeit in der Liebe brachte es auch mit sich, daß sie eines Tages Mutter wurde und nicht wußte, wer der Vater des Kindes sein könnte. Das Baby kam in Agram zu Welt, starb aber schon bald nach seiner Geburt. Und nun hat der Vater zu Recht Angst, seine Tochter könnte wieder eine Dummheit begehen. Ferdinand Raimund freut sich, als ihn Therese Krones in seinem kleinen Büro im Leopoldstädter Theater besucht. Es fällt ihm nicht schwer, für das Mädchen eine fixe Stelle auszuhandeln. Und siehe: Die Krones gefällt den Wienern ausgezeichnet. Sie versteht es, den Intrigen, die gegen die »Neue« inszeniert werden, standzuhalten und setzt sich durch. Ferdinand Raimund schreibt für das Mädchen das Stück »Der Bauer als Millionär«. »Der Barometermacher auf der Zauberinsel« wird erst zum Erfolg, als Therese Krones die Rolle der erkrankten Luise Kupfer übernimmt. Raimund betet die junge Darstellerin an. Und an den Wiener Bassenas erzählt man sich, daß die beiden etwas miteinander haben. Tatsächlich gibt es in der Überlieferung ein vergilbtes Blatt Papier - eine Hausmitteilung des Direktors vom Leopoldstädter Theater - das für Raimund bestimmt war. Darauf heißt es: »Lieber Raimund. Ich weiß, daß unser Haus nicht den besten - 229 -
Ruf genießt. Aber ich seh's nicht gern, wenn meine Herrn Bühnenautoren hinter den Kulissen bei laufendem Stück mit meinen Hauptdarstellerinnen ungeniert herumflanieren!« Manche sagen heute, der Zettel sei ein dummer Scherz des Direktor gewesen, andere wieder meinen, die Krones und Raimund hätten tatsächlich ein Verhältnis gehabt. Tatsache ist, daß die Sitten im Leopoldstädter Theater sehr locker waren. Ein Beweis dafür: Freudenmädchen hatten freien Eintritt. Und auch viele Darbietungen auf der Bühne - meist Zwischenbemerkungen der Darsteller, die nicht im Textbuch standen - waren nicht für keusche Ohren gedacht. Während in manchen Stücken der Kasperl als Spaßmacher fungierte, aßen und tranken die Leute im Zuschauerraum und kauften von den Händlern, die mit ihrem Bauchladen umhergingen, nicht nur Waren und Naschereien, sondern auch Mädchen. Die Verkäufer vermittelten junge hübsche Dirnen, die dann lauthals aus ihren Logen herbeigerufen wurden. Auf Wunsch des Publikums waren der Zuschauerraum und die Galerie unbeleuchtet. Hier wurde während des Bühnengeschehens manch Kind gezeugt und mancher Kavalier geschlechtskrank. Es war auch nicht ungewöhnlich, daß Chorsängerinnen, Tänzerinnen und Darstellerinnen in den Pausen von jungen Männern für entsprechende »Geschenke« oder Bargeldzahlungen in den kleinen, schmierigen Garderoben besucht wurden und sich zu einer kurzen Liebelei hingaben. Die Moral der Schauspielerinnen in dieser Zeit war verheerend. Ein sonniger Vormittag des Jahres 1824. Therese Krones ist eine beliebte und wohlhabende Schauspielerin geworden. Sie hat sich in Heiligenstadt ein Landhäuschen gekauft und wohnt hier ständig. Hier empfängt sie zahllose Freunde. Die Krones sitzt auf der Terrasse und blinzelt in die Sonne. Da fährt eine Kutsche vor: Es ist Ferdinand Raimund, unter dem Arm ein neues Rollenbuch. Therese Krones springt auf, sie läuft dem Dichter entgegen und umarmt ihn innig: »Schön, daß du da bist. Ich hab glaubt, du kommst nimmer, weil alle Leute über uns reden!« - 230 -
Raimund schmunzelt: »Ich hab alles entschieden abgestritten. Wegen der Luise ...« Luise Gleich ist seine Frau. Die Krones sieht ihn fragend an: »Willst du diese unglückliche Ehe wirklich weiter durchstehen?« »Ich weiß net...!« kommt es Raimund über die Lippen, »Aber laß uns jetzt nur an was Schönes denken!« Er zieht sie ins Haus. Da hört man die Hufe von Pferden. Ein Fiaker fährt vor dem Haus vor. Luise Gleich springt aus dem Wagen und stürmt ins Haus. Raimund und die Krones stehen gerade beieinander. »Du elendes Miststück. Du Strichkomödiantin. Laß meinen Mann in Ruhe!« schreit die Frau mit sich überschlagender Stimme. Sie wirft sich auf die Krones, zerrt sie an den Haaren zu Boden und bespuckt sie. Therese Krones läßt sich das nicht gefallen. Ächzend und sich gegenseitig beschimpfend wälzen sich die Rivalinnen auf der Erde und schlagen sich. Raimund ergreift die Flucht. Er wünscht sich, daß seiner Geliebten Therese Krones nichts zustoßen möge. Er kennt die groben Hände seiner Gattin. Von diesem Tag an trifft sich Raimund kaum mehr mit der Krones. Er verkehrt nur noch dienstlich mit ihr und läßt sogar hin und wieder ein paar abfällige und enttäuschte Bemerkungen über sie fallen. Nach dem Streit der beiden Frauen hat er herausbekommen, daß Therese viele Kavaliere hat, daß sie sich für Liebe beschenken läßt und außerdem, daß sie niemals die Absicht hatte, eventuell einmal seine Ehefrau zu werden... Ein Sonntag im Herbst des Jahres 1826. Therese Krones ist zu Fuß auf dem Weg zur Mittagsmesse in der Michaelakirche. Da tritt ihr auf dem Graben ein gutaussehender, bestens gekleideter Kavalier in den Weg und stellt sich vor: »Gestatten, mein Name ist Graf Severin von Jaroszynski. Ich komme aus Polen. Ich bewundere Sie oft im Theater und hätte es nie gewagt, Sie anzusprechen, wenn Sie mich nicht so sympathisch angelächelt hätten!« Die Krones spürt, daß sie hier jemandem begegnet ist, der - 231 -
ihr mehr bedeutet, als die Männer vorher. So ist es auch. Bald weiß sie, daß sie zum ersten Mal im Leben nicht mit ihren Gefühlen scherzt, sondern echte, tiefe Liebe empfindet. Am nächsten Tag spricht der Graf bei der Schauspielerin in der Wohnung vor. Als ihn das Stubenmädchen anmeldet, errötet die Krones und zittert vor Erregung. Von da ab kommt der Graf des öfteren. Er bringt kleine Aufmerksamkeiten, benimmt sich sehr bescheiden und läßt durchblicken, daß er nicht nur von hohem Adel, sondern auch ein mutiger und verdienter Soldat ist. Bald kennt man den Grafen in ganz Wien. Er läßt sich gern an der Seite der Krones in der großen Wiener Gesellschaft sehen, gibt das Geld in reichem Maße aus und lädt zu einem glänzenden Fest nach dem anderen ein. So arrangiert er im Gasthaus »Zum Wällischen Bauern« ein Sektgelage für das gesamte Ensemble des Leopoldstädter Theaters. Therese Krones wird bei diesem Anlaß schon als Verlobte des Grafen gefeiert. Sie ist an jenem Abend betrunken und mitten in die Gesellschaft läßt sie sich zu dem Ausruf hinreißen: »Severin, mein Geliebter. Mein Körper brennt nach dir. Nimm mich. Wo du willst. Daheim, hier, auf dem Tisch, unter dem Tisch oder draußen in einen Fiaker. Ich muß dich jetzt haben!« Der Graf entschuldigt sich bei den anderen und verschwindet mit der Krones. Wie eine Freundin der Schauspielerin später ausplaudert, fallen die Liebenden bereits im Extrastüberl des Gasthauses übereinander her und geben sich ihren Leidenschaften hin. Solche und andere pikante Skandalgeschichten liefern der Graf und die Krones den Wienern tagtäglich. Eines Tages meint die Krones zu ihrer besten Freundin, der Schauspielerin Walle: »Ich liebe diesen Grafen. Ich bin ihm verfallen. Er ist herrlich!« »Sei vorsichtig. Ich hab in Wien recht beunruhigende Dinge gehört. Der Graf soll angeblich kein Graf sein. Er soll hohe Schulden haben und gar nicht so reich sein, wie er tut...!« »Alles nur böse Intrigen Walle. Man gönnt mir mein Glück und ihm sein Geld nicht. Lauter Verleumder. Wenn er Schul- 232 -
den hätte, könnte er mir zu Ehren doch nicht diese glänzenden Feste geben!« Am 13. Februar lädt der Graf wieder zu einem Gelage ein, bei dem der Sekt in Strömen fließt. Dann läßt er sich drei Tage nicht blicken. Mitten in der Nacht fährt der Mathematikprofessor Abbé Johann Konrad Blank in seiner Wiener Stadtwohnung aus dem Schlaf hoch. Da hat jemand an seiner Tür geklingelt und anschließend geklopft. Verwundert erhebt sich der Abbé und schlurft in Pantoffeln in das Vorzimmer: »Wer ist es?« Draußen hört er eine vertraute Stimme: »Abbé Blank, ich bin's, Jaroszynski!« »Ja, das ist eine Überraschung!« ruft der Abbé aus. Er war vor vielen Jahren in Polen Jaroszynskis Rechenlehrer am Gymnasium. Er freut sich über den Besuch, weil er in letzter Zeit viel Gesellschaftsklatsch über seinen Schüler gehört und sich gefreut hat, daß dieser in der Residenzstadt lebt. Der Abbé umarmt den Polen und bittet ihn ins Wohnzimmer. »Was führt dich zu mir?« fragt der Professor den jungen Mann. »Es ist ein bißchen spät für einen Besuch. Führt dich ein besonderer Grund zu mir?« Der Graf nickt: »Abbé, ich brauche Geld. Können Sie mir eine größere Summe leihen?« »Aber, mein Freund, man hört doch überall, wie reich du bist!« »Ich habe Schulden. Ich brauche nur vorübergehend Geld. Ich darf die Krones nicht enttäuschen. Ich habe ihr versprochen, zu ihrer nächsten Premiere ein großes Fest für sie zu geben. Lassen Sie mich nicht im Stich, Abbé.« Der Professor sieht abweisend ins Leere: »Das hättest du nicht sagen sollen. Ich warne dich vor dieser liederlichen Frau! Für die gebe ich dir nicht eine Münze. Bitte geh wieder!« Da verliert der Graf die Beherrschung. Er wartet, bis sich der Abbé umgedreht hat. Dann greift er nach einer metallenen Vase, die auf dem Tisch steht, holt aus und läßt das schwere - 233 -
Stück auf den Kopf des Rechenlehrers niedersausen. Noch einmal schlägt er brutal zu. Dann zieht er sein Bajonett und sticht seinem Rechenlehrer fünf Mal in die Brust. Als sich sein Opfer noch immer bewegt und ihn anklagend anstarrt, sticht er den greisen Mann noch wutentbrannt in den Unterleib. Dann durchstöbert er die ganze Wohnung. Er weiß, daß der Abbe eine große Erbschaft gemacht hat. Er findet das Geld: Es sind 60.000 Gulden. Tags darauf spricht ganz Wien von dem grausigen Mord an dem Abbe. Die Polizei findet keinerlei Hinweise auf den Täter. Plötzlich aber ergibt sich ein Verdachtsmoment. 16. Februar 1827. Jaroszynski empfängt Therese Krones und den Baron Lebreux - den polnischen Gesandten in Wien - mit einem Fräulein Jäger. Es gibt viel Sekt und ein traumhaftes Essen. Der Graf eröffnet seiner Therese: »Ich muß vorübergehend nach Polen reisen.« Dann spricht der Graf nicht viel und wirkt mürrisch und nervös. Therese Krones merkt es. Sie meint: »Mein Graferl wird doch nicht schlecht gelaunt sein. Ich werde dir jetzt zum Abschied das >Brüderlein fein!< aus dem Raimund-Stück singen, wenn ich ein Abschiedspräsent krieg!« Sie lacht. Er antwortet: »Das heutige Tafelsilber soll dir gehören. Also sing!« Die Krones beginnt zu singen. Gleich bricht sie wieder ab. Der Diener bittet seinen Herrn in den Vorraum. Die Gäste glauben, es sei ein Abschiedsbesuch von Freunden. Minutenlang hört man draußen heftige Stimmen. Die Krones wird neugierig. Sie eilt zur Tür. Sie öffnet und wird bleich. An den Händen gefesselt liegt ihr Geliebter auf der Erde. Zwei Kriminalbeamte zerren ihn gerade in die Höhe. Ein Inspektor meint zu ihm: »Severin von Jaroszynski im Namen des Kaisers: Sie sind wegen des Raubmordes an Abbé Konrad Blank verhaftet!« Die Krones schluchzt auf. Sie eilt zu Fuß zum nächsten Fiakerstand und läßt sich nach Hause bringen. Abends tritt sie im - 234 -
Leopoldstädter Theater auf. Die Nachricht von der Verhaftung des Grafen hat sich bereits in ganz Wien verbreitet. Die Wiener, die Jaroszynski gemocht hatten, geben der Krones die Schuld an dem Geschehen. Und als sie auf die Bühne tritt, beginnt ein Pfeifen, Schimpfen und Johlen. Immer wieder schreit das Publikum im Chor: »Mördergspusi. Raus mit dir!« Kollegen müssen die ohnmächtige Krones von der Bühne tragen. Die Gerichtsverhandlung gegen Severin Jaroszynski läßt nicht lange auf sich warten, da ein volles Geständnis vorliegt. Es stellt sich heraus, daß der Pole zwar adelig, aber kein Graf ist. Er ist in seiner Heimat verheiratet und Vater dreier Kinder. Nachdem er das Geld seiner Frau und die ihm anvertraute Kasse mit Geld aus Staatseigentum durchgebracht hatte, flüchtete er nach Wien. Hier machte er hohe Schulden und ließ sich, als er nicht mehr weiter wußte, zu dem Mord hinreißen. Jaroszynksi wird zum Tod verurteilt. Seine Henkersmahlzeit: Lungenstrudelsuppe, Rindfleisch mit Milchkren, gebratene Ente mit Pfirsichkompott, Spritzkrapfen, Weintrauben, Mokka, Burgunder Wein und Slibowitz. Der Dichter Castelli leistete dem Mörder dabei Gesellschaft. Nachher äußerte der Verurteilte einen Wunsch, den man jahrelang vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten versuchte: »Ich möchte mit der Therese schlafen, ihre Sinnlichkeit spüren!« Unter dem Siegel der Verschwiegenheit holt man die Krones. Sie willigt ein, denn sie liebt den »Mordgrafen« immer noch. Sie gibt sich ihm in der Zelle hin. Bei Nacht und Nebel läßt sie sich dann wegbringen. Sie ahnt nicht, daß man dennoch davon erfahren wird. Jaroszynski wird zuerst in Begleitung des Galgenpeters Münich auf dem Hohen Markt vor dem Schrannengebäude den Leuten vorgeführt, dann in einem Karren zur Spinnerin am Kreuz gebracht und vor 30.000 Zuschauern gehenkt. Er fleht um Gnade und muß von den Henkersknechten gezerrt werden. Seine letzten Worte: »Wer die Therese nach mir liebt, soll verflucht sein!« - 235 -
Wenn der hochstaplerische »Mordgraf« die Schönheit der Krones rühmte, so waren da nicht alle Wiener dieser Meinung. Sie galt bei vielen als dürr und unsympathisch. Castelli, der bekannte Wiener Dichter, schrieb: »Sie war fürchterlich mager und abgelebt. Alles war schlank und welk an ihr, mit Ausnahme der schönen großen Augen, mit denen sie die Männer verführte. Ihre Arme waren dünn wie Leimruten, ihre Bewegungen waren eckig. Ihre Brüste sollen winzig und häßlich zerbissen gewesen sein, Zeichen von perversen Lustabenteuern. Sie war das liederlichste Frauenzimmer von Wien!« Allerdings muß man zu diesen Schmähungen wissen: »Castelli bemühte sich in jungen Jahren emsig um die Gunst der Krones und bekam einen Korb ... Nach dem Tod Jaroszynskis wagt sich die Krones lange nicht auf die Bühne. Am 6. September 1827 tritt sie wieder auf. Und siehe: »Zu Raimunds Verwunderung wird sie umjubelt. Doch das Glück bleibt ihr nicht treu. Sie schreibt selbst Stücke und spielt darin die Hauptrolle. Sie fällt damit durch ... Sie geht ans Theater an der Wien und setzt sich auch dort nicht durch. Am 28. Dezember 1830 stirbt sie im Alter von 29 Jahren nach einem harten, verzweifelten Todeskampf. Noch auf dem Sterbebett gesteht sie der Freundin Walle: »Mein Körper brennt nach Liebe!« Als sie zu Grabe getragen wird, geht Ferdinand Raimund hinter ihrem Sarg und schluchzt. Und immer wieder murmelt er ergriffen: »Jetzt tragen sie meine Jugend zu Grabe!« Niemand weiß bis heute, was er mit diesen Worten wirklich meinte.
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Der Verlag konnte die Inhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig machen. - 238 -