Die verflixte Mathematik der Demokratie
George G. Szpiro
Die verflixte Mathematik der Demokratie Aus dem Englischen von Markus Junker
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Verlag Neue Zürcher Zeitung
George G. Szpiro Neue Zürcher Zeitung Hayarmuk St. 3 91060 Jerusalem Israel
[email protected] Übersetzer Markus Junker Universität Freiburg Mathematisches Institut Abt. Mathematische Logik Eckerstr. 1 79104 Freiburg Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-642-12890-5 e-ISBN 978-3-642-12891-2 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die englische Ausgabe ist unter dem Titel Numbers Rule, The Vexing Mathematics of Democracy, from Plato to the Present bei Princeton University Press 2010 erschienen. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Mathematics Subject Classification (2010): 97 XX, 00-XX, 01 XX, 90 XX c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: deblik Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com) Lizenzausgabe für die Schweiz: Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2011 ISBN 978-3-03823-521-7 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Vorwort
Ich freue mich, dass „Die verflixte Mathematik der Demokratie“ kaum ein Jahr nach dem Erscheinen in Amerika auch Lesern auf Deutsch zugänglich gemacht werden kann. Ich möchte hier vor allem Markus Junker von der Albert–Ludwigs–Universität in Freiburg für die sorgfältige Übersetzung danken. Im weiteren bin ich Friedrich Pukelsheim von der Universität Augsburg, der das gesamte Manuskript durchlas und viele Korrektur– und Verbesserungsvorschläge machte, zu großem Dank verpflichtet. Für alle verbliebenen Fehler bleibe jedoch ich verantwortlich. Im Weiteren danke ich Herrn Martin Peters und Frau Ruth Allewelt vom Springer-Verlag für das Vertrauen und die Unterstützung. Gewidmet ist dieses Buch meiner Tocher Sarit und ihrem Mann Nir zu Beginn des neuen Kapitels in ihrem Leben. Jerusalem, im Oktober 2010
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Inhaltsverzeichnis
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Der Anti–Demokrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Briefeschreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
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Der Mystiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
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Der Kardinal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
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Der Marineoffizier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
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Der Marquis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
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Der Mathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
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Der Oxford–Dozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
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Die Gründungsväter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
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Die Streithähne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
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Die Pessimisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Die Quotarier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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Die Postmodernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
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Kapitel 1
Der Anti–Demokrat
Platon, der Sohn von Ariston und Periktione, wurde von seinen Bewunderern zum größten der griechischen Philosophen erhoben und von seinen Gegnern als der schlimmste Anti–Demokrat geschmäht. Er war Sokrates’ glänzendster Student. Er widmete sein Leben dem Studium und der Lehre, er erforschte die Bedeutung des Lebens, untersuchte die Natur der Gerechtigkeit und sann darüber nach, wie man ein besserer Mensch wird. Möglicherweise war sein eigentlicher Name „Aristokles“, und „Platon“, was „breit“ bedeutet, war vielleicht nur ein Spitzname, den er aufgrund seiner breiten Stirn oder seiner breitgefächerten intellektuellen Betätigungen bekam. Er wurde 427 v. Chr. in Athen oder nahebei geboren. Platon hatte zwei Brüder, Glaukon und Adeimantos, und eine Schwester, Potone. Sein Vater starb, als er noch ein Kind war, und seine Mutter heiratete daraufhin ihren Onkel Pyrilampes, mit dem sie einen weiteren Sohn bekam, Platons Halbbruder Antiphon. Platon erhielt eine erstklassige Ausbildung in Turnen, Musik, Dichtkunst, Rhetorik und Mathematik und versuchte sich als Bühnenschriftsteller. Später, nachdem er mehr über Dichtung gelernt hatte, verbrannte er aber alle seine Stücke. Den intellektuell neugierigen jungen Mann zog es wie viele seinesgleichen in den Kreis der Studenten um den Philosophen Sokrates. Da gab es die besten Darbietungen in der Stadt, mit Sicherheit interessanter als die ermüdenden Sitzungen der Volksversammlung, des Rates oder der Gerichte. Viele Söhne Athener Aristokraten strömten zu dem Philosophen, der ihnen beibrachte, wie man richtig zu denken und zu argumentieren hatte. Sokrates sah sich selbst weniger als einen Lehrer, der eigene Meinungen und Wahrheiten verbreitete, sondern verglich sich mit einer Hebamme, wie seine Mutter es gewesen war, da er seinen Schülern half, das Wissen an den Tag zu bringen, das bereits in ihnen lag, aber ihrem Bewusstsein noch verborgen war. Seine Methode ist nach wie vor als „Sokratische Methode“ bekannt und besteht darin, die Gesprächspartner in ein von der Vernunft geleitetes Gespräch zu verwickeln, in dem sie selbst durch Fragen und Antworten am Ende unweigerlich die richtigen Schlussfolgerungen herausbekommen. Seine didaktische Methode führte einerseits dazu, dass seine Schüler in kurzer Zeit eine Menge lernten, aber andererseits auch dazu, dass er nie etwas aufschrieb. Sowohl Sokrates als auch seine Schüler zögerten, G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_1,
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ihre Gedanken einem Papyrus anzuvertrauen. Sie schätzten zwar festgeschriebene Wörter für die Übermittlung von Informationen, hielten sie aber für ungeeignet, um tiefste Gedanken auszudrücken. Außerdem würde Geschriebenes den Autor nur dem Neid und der Kritik anderer ausliefern. Sokrates, dieser großartige Mensch, wäre der Nachwelt vielleicht unbekannt geblieben, hätte Platon nicht die Worte seines Lehrers nach dessen Tod aufgeschrieben. Er gab Sokrates’ Lehren in Dialogen wieder, um seinem gesprochenen Wort möglichst treu zu bleiben. Darin führt ein weiser Mensch, üblicherweise Sokrates selbst, seine Gesprächspartner durch eine spitzfindige Untersuchung bis hin zur unausweichlichen Wahrheit. Im Jahre 399 v. Chr., als Platon 28 Jahre alt war, wurde sein verehrter Lehrer Sokrates vor Gericht gebracht unter der Anklage, Atheismus verbreitet und die Jugend verdorben zu haben. Die Obrigkeit stand Sokrates’ Aktivitäten nicht wohlwollend gegenüber: Wenn die Jugend anfängt selbst zu denken, kann dies für die aktuellen Machthaber gefährlich werden. Sokrates verteidigte sich geistreich und beschämte seine Ankläger durch Sarkasmus und feine Ironie. Sein Schicksal war aber bereits besiegelt. Bei der Festlegung des Urteils stimmten 280 der 501 Geschworenen für die Todesstrafe. Platon verfolgte die Gerichtsverhandlungen und schrieb später Sokrates’ Verteidigungsrede nieder. Als aber die Todesstrafe an dem verurteilten Philosoph vollzogen wurde — er musste einen Becher Schierling trinken —, fehlte Platon wegen einer angeblichen Unpässlichkeit. (Dies hinderte ihn aber nicht daran, bis ins kleinste Detail zu beschreiben, wie das Gift von Sokrates’ Körper Besitz ergriff.) Wir wissen, dass Platon die Demokratie verachtete. Allerdings ging es um eine andere Art der Demokratie als diejenige, an die wir gewöhnt sind. Schließlich war die Athener Staatsform und damit die politische Umgebung, in der Sokrates zum Tode verurteilt wurde — vor einem ordentlichen Gericht und durch eine ordnungsgemäße Abstimmung mit einer klaren Mehrheit der Geschworenen — eine Demokratie. Wie konnte es darin zu einer so offensichtlichen Ungerechtigkeit kommen? Irgendetwas in dem System konnte nicht stimmen. Offensichtlich, zumindest für Platon, waren normale Menschen nicht geeignet um zu regieren und Recht zu sprechen. Also war Demokratie, die Herrschaft des Volkes (demos), eine minderwertige Regierungsform. Gründlich angewidert von dem herrschenden Regime setzte sich Platon ernüchtert zum Ziel, eine bessere Form des Gerichtswesens und der Regierung zu entwickeln. Das Ergebnis seiner Untersuchungen legte er in einem wegweisenden Werk nieder, der Politeia, was ins Lateinische als De Re Publica und ins Deutsche als Der Staat übersetzt wurde. Es ist die allererste Abhandlung über politische Philosophie überhaupt und inspiriert seit zweieinhalb Jahrtausenden die Politikwissenschaften. Allerdings waren seine Vorstellungen von einer geeigneten Staatsverwaltung noch nicht ganz durchdacht. Zum Beispiel werden in Der Staat nirgendwo Wahlen und Abstimmungen erwähnt (siehe den Anhang zu diesem Kapitel Seite 14). Mehrere Anläufe zur Umsetzung seiner Theorie, indem er Diktatoren und Tyrannen als Ratgeber diente, schlugen fehl (siehe biografischer Anhang Seite 18). Enttäuscht und gründlich entmutigt machte sich Platon an die Überarbeitung seiner Theorie. Anscheinend war das theoretische Gemeinwesen, wie er es in Der Staat ins
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Auge fasste, weniger praktikabel als erhofft. Falls seine Lehre eine Wirkung haben sollte, so war eine umfangreiche Überarbeitung erforderlich. Sein letztes Manuskript, das mit seinem Tod im Alter von 80 Jahren im Jahre 347 v. Chr. unvollendet blieb, trägt den Titel Gesetze. Es besteht aus zwölf Büchern und ist die längste und praxisorientierteste seiner Arbeiten. In diesem Werk hat Platon eine realistischere, wenn auch immer noch utopische Regierungstheorie entworfen. Diesmal bemerkt er, dass man ohne Auswahlprozesse nicht auskommt, und spricht ausführlich über Wahlen und Abstimmungen. Die Gesetze geben ein Gespräch zwischen drei Männern wieder, die über die Insel Kreta wandern. Sie befinden sich auf einer Wallfahrt zum Zeustempel; ihr Gespräch nimmt einen ganzen Tag in Anspruch. Sie haben einen langen Weg vor sich; von Zeit zu Zeit rasten sie unter hohen Bäumen auf schattigen Plätzen, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen. Einer der Männer, Megillos, stammt aus Sparta. Ein weiterer, Kleinias, ist von der Stadt Knosos entsandt, um auf einem abgelegenen Teil der Insel eine neue Kolonie, Magnesia, zu gründen. Er ersucht um Rat, wie die neue Stadt zu organisieren sei. Der dritte Mann schließlich, der weise „Fremde aus Athen“ — Sokrates oder Platon selbst — ist nur zu glücklich der Bitte zu entsprechen. Er erläutert die soziale Struktur, das Aussehen der Stadt und die Gesetze, die in der neuen Stadt gelten sollten. Diesen Austausch ein Gespräch, einen Dialog oder besser Trialog zu nennen, wäre allerdings eine Übertreibung. Platon gesteht Kleinias und Megillos lediglich zu, von Zeit zu Zeit „gewiss“, „das ist freilich wahr“, „beim Zeus“ oder „o.k.“ zu äußern (nun ja, vielleicht nicht gerade „o.k.“, aber etwas in dieser Art). Der erste Ratschlag des Atheners besteht darin, dass die Stadt aus genau 5.040 Haushalten bestehen sollte. Dabei würde ein durchschnittlicher Haushalt etwa zehn Personen umfassen: ein Ehepaar mit zwei oder drei Kindern, ein bis zwei zu versorgende ältere Verwandte und ein paar Sklaven. Der ideale Stadtstaat würde also etwa 50.000 Einwohner haben. Warum gerade 5.040 Haushalte? Der Athener behauptet, dies sei eine „brauchbare Zahl“. Und das stimmt: Sie kann durch alle Zahlen bis zehn geteilt werden und auch durch 12, 14, 15, 16 und einige weitere Zahlen. Insgesamt hat sie 59 echte Teiler. Dies erweist sich als sehr praktisch, so der Athener, wenn die Bevölkerung eingeteilt werden muss und wenn Vermögen oder Arbeit zu verteilen ist, zum Beispiel, wenn Einnahmen ausgeschüttet oder Steuern erhoben werden. Natürlich muss die Zu– und Abwanderung streng kontrolliert werden um die Anzahl der Haushalte unverändert zu lassen. (Platon sagt übrigens nicht viel darüber, was passieren soll, wenn Kinder groß werden und ihren eigenen Haushalt gründen wollen.) Im Stadtzentrum sollten die Einwohner die Akropolis errichten mit einem Tempel, der Zeus, Hestia und Athene geweiht ist. Um die Akropolis wäre eine Ringmauer zu bauen und außerhalb dieser Umfassung sollten zwölf nach außen weisende Stadtteile angelegt werden wie Kuchenstücke ohne Spitze, die von zwölf Stämmen mit jeweils 420 Haushalten besiedelt werden sollen. (Hier klingt es fast, als habe Platon eine Seite aus dem Alten Testament abgeschrieben.) Jeder der 420 Haushalte würde zwei Stücke Land innerhalb seines Stadtteils bekommen: eines in der Nähe der Akropolis zum Wohnen, das andere im Außenbereich zur landwirtschaftlichen
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Nutzung. Je näher ein Wohnungsgrundstück am Stadtzentrum liegt und je begehrter es daher ist, desto weiter entfernt sollte das landwirtschaftliche Grundstück sein, und umgekehrt. Ein karges Stück Ackerland sollte groß, ein fruchtbares klein sein. Alles sollte präzise und mathematisch gerecht zugeteilt werden. Die Grundstücke sollten den Haushalten aber nur verpachtet werden und ewiges Eigentum der Stadt bleiben. Die jeweiligen Besitzer dürften sie weder zusammenführen, noch aufteic , dieses unlen oder verkaufen. Erinnert Platons virtueller Staat nicht an SimCity geheuer populäre Computerspiel, in dem Spieler eine Stadt nach Lust und Laune gestalten können? Privateigentum wäre gestattet, sollte aber streng kontrolliert werden. Ein Haushalt sollte als Existenzminimum über die beiden zu Anfang zugeteilten Grundstücke verfügen, mit denen der Haushalt ernährt werden könnte. Weniger wäre unzureichend und kein Herrscher würde es zulassen, dass ein Haushalt unter die Armutsschwelle sinkt. Andererseits könnten manche Haushalte durch geschicktes Handeln, besondere Begabungen oder auch durch reines Glück zu zusätzlichem Reichtum kommen. Ihnen wäre es gestattet, bis zu viermal so viel wie ihre ärmsten Mitbewohner zu besitzen. Über die Besitztümer aller Bewohner würde von der Obrigkeit peinlich genau Buch geführt und danach die Steuer bemessen werden. Für die Haushalte gäbe es vier Vermögensklassen. Jeder, bei dem mehr als der erlaubte Besitz oder nicht deklariertes Eigentum festgestellt würde, müsste dies an den Staat abführen und darüberhinaus eine Strafe zahlen, die zum Teil als Belohnung dem guten Bürger zugute käme, der den Betrüger anzeigte. Platon sieht sowohl Vermögens– als auch Einkommensteuern vor, wobei der Staat jedes Jahr entscheidet, welche von beiden eingezogen wird. Die Steuereinnahmen werden für Verwaltungskosten, Militärausgaben, Tempelbau und gemeinsame Mahlzeiten eingesetzt. Das Familienleben müsste streng geregelt werden, denn ein Herrscher, der „das Privatleben [der Bürger] ohne gesetzliche Bestimmungen gelassen hat [. . . ], der geht in seiner Absicht fehl“.1 Denn, wie der Fremde aus Athen bemerkt, es ist „bei den Menschen alles von einem dreifachen Bedürfnis und Begehren abhängig [. . . ] Das sind sogleich nach der Geburt Essen und Trinken“, als drittes und stärkstes Bedürfnis aber „das Verlangen nach Fortpflanzung des Geschlechtes“. Wenn das dritte Bedürfnis nicht in Zaum gehalten werde, breche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Chaos aus. Männer und Frauen müssten verheiratet werden und hätten „möglichst schöne und gute Kinder“ zu zeugen, nicht weil sie es wünschen, sondern als eine Pflicht dem Staat gegenüber. Und obwohl nicht durch Gesetze festgeschrieben werden sollte, wer wen heiraten dürfe, sollte doch jeder „die Ehe eingehen, die dem Staat nützt, und nicht die, die ihm selbst am meisten behagt“. Das beste Heiratsalter für Mädchen wäre zwischen sechzehn und zwanzig, für Männer zwischen dreißig und fünfunddreißig. Jeder Mann, der mit fünfunddreißig noch unverheiratet wäre, müsste jährlich eine Junggesellenstrafe zahlen, „damit er nicht glaubt, sein lediges Leben bringe ihm Gewinn oder Erleichterung“. Dies ist weniger lächerlich, als es klingt. Heutzutage gibt es vielerorts Steuererleichterungen für Verheiratete und kinderreiche Familien, was letztendlich auf das Gleiche hinausläuft 1
Zitate nach Platon „Gesetze“, übersetzt von Klaus Schöpsdau, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977.
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wie eine Junggesellensteuer. Ehepaare, die nach zehn Jahren kinderlos blieben, sollten sich scheiden lassen. Wenn sie es nicht täten, sollten erst Ermahnungen und dann Drohungen sie davon überzeugen, auch hier den Gesetzen der Stadt zu gehorchen. Nachdem die Verhaltensregeln und –formen entschieden sind, steht als nächstes die Frage an, wie die Stadt zu leiten ist und wie die Verwalter zu wählen sind. Im Gegensatz zu Der Staat, in dem diese Fragen zum größten Teil übergangen werden, werden sie in Gesetze ausführlich behandelt. Im sechsten Buch lässt Platon seinen Fremden aus Athen zum ersten Mal auf die Wahl der Beamten zu sprechen kommen: „Nach all dem eben Gesagten hättest du nun wohl die Einsetzung von Beamten für den Staat vorzunehmen.“ Die drei Gewalten — Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung — waren in Athen damals durch drei Institutionen vertreten: die Volksversammlung, den Rat der 500 und die Volksgerichte. Bedeutende Angelegenheiten wie der Erlass von Verordnungen, die Wahl wichtiger Beamter und die Annahme von Gesetzen wurden in der Volkversammlung behandelt. Sie tagte zehn Mal pro Jahr; in späteren Zeiten wurde die Häufigkeit auf vierzig Mal pro Jahr erhöht. Jeder angesehene Bürger — männlich, älter als zwanzig und ohne Schulden an den Staat — durfte daran teilnehmen, und tatsächlich kamen oft Tausende zusammen. Waren Entscheidungen zu treffen, etwa eine Kriegserklärung oder die Einbürgerung eines Ausländers, so mussten die Anwesenden abstimmen. Die Stimmabgabe erfolgte durch Handzeichen, für die Entscheidungen reichte jeweils eine einfache Mehrheit. Weil oft viele Bürger anwesend waren, wurde die Anzahl der erhobenen Hände nach Augenmaß geschätzt. Da man annahm, dass Entscheidungen der Volksversammlung den Willen des Volkes ausdrückten, wurden sie von keiner höheren Autorität überprüft. Die Volksversammlung war also per Definition unfehlbar. Falls es dennoch zu fehlerhaften Entscheidungen kam, so konnte es nur sein, dass die Bürger in die Irre geführt worden waren. Offensichtlich war Athens Vertrauen in das Allwissen und die Unfehlbarkeit seiner Bürger weit entfernt von Platons Der Staat, in dem den einfachen Leuten die Fähigkeit zum Denken und Entscheiden völlig abgesprochen wird. Weniger bedeutend und mit weniger Macht ausgestattet als die Volksversammlung, aber dennoch unverzichtbar, war der Rat der 500. Seine Aufgabe bestand in der Vorbereitung der Gesetzgebung. Der Volksversammlung konnte kein Vorhaben vorgelegt werden, wenn es nicht vorher vom Rat geprüft wurde. Diese Institution spielte also eine wichtige Rolle bei der Erstellung der Tagesordnung für die Volksversammlung. Die Mitglieder des Rates der 500 wurden jährlich durch Los bestimmt. Sie wurden also nicht von ihren Mitbürgern für ihren Dienst bestimmt, sondern von den Göttern. Die Dienstzeit dauerte ein Jahr; allerdings konnte jemand mehrmals in seinem Leben ausgelost werden. Die soziale Ordnung der Stadt wurde hauptsächlich durch die Volksgerichte gewährleistet. Schwurgerichte mit mindestens 201 Männern für Privatprozesse und mindestens 501 für öffentliche Prozesse wurden per Los aus einer Menge von 6.000 Geschworenen zusammengesetzt, die selbst wiederum per Los ausgewählt worden waren. Vor Gericht verhandelte Fälle, wie das Todesurteil über Sokrates, wurden als schwerwiegender betrachtet als die alltäglicheren Angelegenheiten der Volksver-
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sammlung, und so wurden größere Anforderungen an die Seriosität der Geschworenen gestellt als an die der Volksvertreter. Daher mussten sie mindestens dreißig Jahre alt sein. Bevor sie einen Fall anhörten, mussten sie außerdem beeiden, dass sie ein ehrliches Urteil fällen würden. Um auch ärmeren Bürgern die Teilnahme an der Rechtsprechung zu ermöglichen, wurden die Geschworenen für ihre gerichtlichen Pflichten bezahlt. Es gab keinen vorsitzenden Richter und auch sonst niemanden, der die Leitung innehatte. Die Verhandlungen liefen demgemäß chaotisch ab. Aber wie ungestüm auch immer die Verhandlungen abliefen, als Stimme des Volkes konnte das Gericht nicht irren. Es verhielt sich ebenso wie mit törichten Entscheidungen der Volksversammlung: Justizirrtümer konnten nur durch fehlgeleitete Geschworene zustande kommen. Dies waren also die wichtigsten Institutionen des Stadtstaates Athen. Für die Verwaltung im Kleinen wurden Jahr für Jahr etwa tausend Staatsbedienstete bestellt. Da immer die Gefahr bestand, dass Stelleninhaber ihre Position missbrauchten, um Geld oder Macht anzuhäufen, bestand das Hauptziel bei der Auswahl der Beamten in der Vermeidung der Korruption. Kompetenz irgendeiner Art wurde hingegen nicht zur Vorbedingung für die Übernahme eines Amtes gemacht. Also ging es auch nicht darum, die befähigste Person auszuwählen. Eine unglückliche Einrichtung, denn das unfehlbare Volk hätte sicherlich die geeignetsten Bürger für jede Stelle gewählt. Aber es war nun einmal so, dass die Beamten durch Los bestimmt wurden. Kurz zusammengefasst: Es scheint, dass jemand mit Interesse an der Stadtpolitik entweder jederzeit an der Volksversammlung teilnehmen konnte oder per Los bestimmt werden konnte als Ratsmitglied, Geschworener oder Staatsbeamter. Abgestimmt wurde nur, um Gesetze zu genehmigen oder abzulehnen, oder für einen Urteilsspruch in einem Strafgerichtsfall. Jedoch wurden einige wenige erlesene Beamte in ihre Stellung gewählt, nämlich diejenigen, für deren Tätigkeit besondere Fähigkeiten nötig waren: Kriegsführung und Finanzwirtschaft. Auf der einen Seite brauchten die zehn gewählten Generäle, die jedes Jahr wiedergewählt werden konnten, Erfahrung und Expertenwissen. Auf der anderen Seite mussten die Schatzmeister nicht nur klug, sondern auch reich sein, damit sie öffentliches Geld, das durch Misswirtschaft oder Korruption verloren ging, aus ihrem persönlichen Vermögen wiedererstatten konnten. Diese Beamten wurden durch Mehrheitsentscheid der Volksversammlung gewählt. Wir wissen ja bereits, dass die versammelten Bürger sich nicht irren konnten. Wenn also ein gewählter General eine Schlacht verlor, konnte es nur daran liegen, dass er die Bürger betrogen hatte. Bei der Rückkehr musste er also mit Verhaftung, Gerichtsverfahren und Hinrichtung rechnen. Auch die Schatzmeister, deren Konten am Ende nicht stimmten, müssen die Volksversammlung in die Irre geführt haben. Sie mussten das fehlende Geld aus eigener Tasche bezahlen. Trotzdem wurden sie manchmal auch noch hingerichtet, zumindest ist das einmal passiert. Damals wurden neun der zehn Schatzmeister hingerichtet, einer nach dem andern, bis ein Rechenfehler gefunden wurde, gerade noch rechtzeitig, bevor auch den letzten dieses Schicksal ereilt hätte. Platon war mit diesen Zuständen nicht glücklich. Ihn störten allerdings weniger die Hinrichtungen als die Möglichkeit, dass die arme, ungebildete Menge die Reichen terrorisieren könnte. Jeder Idiot durfte an der Volksversammlung teilnehmen,
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und auch wenn die Mitglieder des Rates und der Gerichte älter und mutmaßlich weiser sein sollten, konnten auch halbgebildete Dummköpfe durch das Los bestimmt werden. Wie sollte eine Ansammlung solcher Menschen kluge und sachkundige Entscheidungen treffen? Platons Gesetze wollten für Magnesia, die auf Kreta zu gründende Kolonie, die vermeintlichen Fehler von Athen vermeiden. Wir wir noch sehen werden, neigte Platon dazu, „reich“ und „gebildet“ gleichzusetzen. In Gestalt des Fremden aus Athen legt Platon seine eigenen Vorstellungen davon dar, wie Stellen mit geeigneten Personen zu besetzen seien. Denn die besten Gesetze wären nutzlos, wenn ungeeignete Menschen die öffentlichen Ämter inne hätten. Als allererstes dürfen daher die Richter und die Regierungs– und Verwaltungsbeamten nur von besonders Gebildeten gewählt werden, die zudem eine besondere Ausbildung im Rechtswesen erfahren haben. Nur derart kultivierte Wähler würden sich nach Platons Meinung ein richtiges Urteil bilden können. Durch den Ausschluss der Ungebildeten hielte man diese nur von unvermeidlichen Fehlern ab. Als zweites müssten Kandidaten für ein öffentliches Amt „sowohl selber als auch für ihre Familie eine ausreichende Prüfung von der Kindheit an bis zum Tage der Wahl“ bestehen. Also könnte auch ein Fehlverhalten eines Familienmitgliedes, sogar eines bereits verstorbenen, ein Grund zum Ausschluss des Kandidaten sein. Das von Platon vorgeschlagene Wahlverfahren, das es allerdings in vielen Varianten gibt, wie wir gleich sehen werden, besteht üblicherweise aus mehreren Etappen. Die erste Phase dient dazu, die offensichtlich ungeeigneten Bewerber aufzuspüren; in den weiteren Phasen dringen die Wähler nach und nach zu den geeignetsten Kandidaten vor. Dadurch können Schnitzer zu Beginn des Wahlprozesses später ausgeglichen werden. Am wichtigsten für das Überleben und ordnungsgemäße Funktionieren der Stadt wären die Gesetzeswächter, die als erstes und mit der größten Sorgfalt ausgewählt werden müssten. Diese hochgeschätzten Persönlichkeiten müssten mindestens 50 Jahre als sein und dürften höchstens 20 Jahre lang diesen Dienst versehen. „Wenn aber jemand länger als siebzig Jahre lebt“, so müsste er in jedem Fall von dem Amt zurücktreten. (Der Fremde aus Athen fügt die nützliche, wenn auch unnötige Bemerkung an, dass ein erst im Alter von sechzig Jahren gewählter Gesetzeswächter höchstens zehn Jahre lang dienen kann.) Platons Plan sieht keine Gewaltenteilung vor: Die Wächter sind für Gesetz und Ordnung in der Stadt zuständig, was unter anderem die Verordnung von Gesetzen, die Verwaltung des Rechtswesens und die Erfassung der Einwohner und ihres Vermögens umfasst. Mit fortschreitender Gesetzgebung in der neuen Stadt würden den Gesetzeswächtern auch neue Aufgaben übertragen werden. Die Gesetzeswächter garantierten daher Gerechtigkeit und Stabilität und wären somit unentbehrlich für das Überleben der Kolonie. Deswegen müsste ihre Wahl mit besonderer Sorgfalt unternommen werden. Als Urheber und Gründer der neuen Stadt hätten die Bürger von Knosos die moralische Verpflichtung, der flügge werdenden Kolonie durch ihre erste, noch unsichere Phase hindurchzuhelfen. Daher sollte sich die Wächterschaft nach Platons Entwurf sowohl aus Vertretern von Knosos als auch der neuen Stadt zusammensetzen.
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Die Anzahl der Wächter sollte ungerade sein, damit knappe Entscheidungen nicht mit einem Unentschieden enden. Dabei sollten die Siedler, die ein größeres Interesse an der Zukunft der Stadt haben, mit einer Mehrheit an der Gesetzgebung und Rechtsprechung beteiligt sein. Ohne weitere Umstände erklärt der Fremde aus Athen dann, dass es neunzehn Siedler und achtzehn Knosier unter den Gesetzeswächter geben sollte, insgesamt also 37. Warum 37? Dafür liefert der Philosoph keine weitere Begründung, außer dass es sich um eine ungerade Zahl handelt. Und was würde passieren, wenn die achtzehn Knosier nicht bereit wären, ihr bequemes Zuhause mit einer unwirtlichen Kolonie zu vertauschen? In diesem Fall, so Platon, sei es gestattet, sie „durch maßvolle Gewalt dazu [zu] zwingen“. Während Platon die Gründe für die exakte Anzahl der Wächter im Unklaren belässt, macht er viel genauere Angaben über die Art und Weise der Auswahl. Er schlägt ein dreistufiges Verfahren vor, durch das die Anzahl der Kandidaten nach und nach erst auf 300, dann auf 100 und schließlich auf 37 verringert wird. Da alle Soldaten eine Ausbildung durchlaufen haben, wären alle Bürger, die Militärdienst abgeleistet haben, wahlberechtigt. Frauen waren übrigens in Platons Überlegungen nicht vom Wehrdienst und damit auch nicht von den Wahlen ausgeschlossen. Nur für das Militär ungeeigneten Dummköpfen wäre das Wählen verwehrt. Die Wahlen würden im Tempel stattfinden und die Stimmzettel auf den Altar des Gottes abgelegt werden. Jeder könnte wählen und seinem bevorzugten Kandidaten eine Stimme geben, indem er die Namen des Kandidaten und seines Vaters, den Stamm, zu dem er gehörte, und den Stadtteil, in dem er wohnte, auf ein Täfelchen schriebe und es auf den Altar niederlegte. Wählen wäre mitnichten eine geheime Angelegenheit: Der Wähler hätte auf demselben Täfelchen die gleichen Angaben für sich selbst zu vermerken. Wenn jemand Einwendungen gegen ein Täfelchen hätte — aus Abneigung gegen den Kandidaten oder gegen den Wähler —, dürfte er es vom Altar nehmen. Es würde dann dreißig Tage lang auf der Agora, dem Marktplatz, ausgestellt werden, so dass es jeder besehen könnte. Wenn es keinen Einwand dagegen gäbe, würde der zurückgewiesene Kandidat endgültig ausscheiden. So könnte also jeder Bürger ein Vetorecht geltend machen gegen jeden Kandidaten, den er als ungeeignet für das hohe Amt befände. Sobald alle Stimmen abgegeben wären, würden die Beamten die Täfelchen zählen und die Namen der dreihundert Erstplatzierten bekannt geben. In einer zweiten Runde würden dann die Bürger in der gleichen Weise aus der bereits verminderten Kandidatenmenge noch einhundert aussuchen, und schließlich würden aus dieser noch engeren Wahl in der dritten Runde die 37 Gesetzeswächter ausgesondert werden. An dieser Stelle legt der Fremde aus Athen den Wählern allerdings eine bedeutsame Verpflichtung auf: Bevor sie die dritte, entscheidende Stimme abgeben, sollen die Wähler „zwischen zerstückelten Opfertieren hindurchschreiten“. Diese harmlose Anforderung klingt, als solle sie die Wähler auf die Bedeutung ihrer Aufgabe aufmerksam machen und Gottes Hilfe für eine richtige Entscheidung anrufen, bewirkt aber tatsächlich eine Beschränkung der Wahlmöglichkeit. Denn wer hat genug Geld sich Opfertiere zu leisten und genug Freizeit einen weiteren Tag für die Wahl zuzubringen? Doch nur die reichsten Bürger! Hier beeinflusst Pla-
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ton die Wahlen, wenn auch sehr raffiniert, zugunsten der Reichen, denen er, nicht ganz ohne Grund, eine bessere Bildung unterstellt. An dieser Stelle wird dem Fremden und seinen zwei Gesprächspartnern plötzlich eine Schwierigkeit bewusst: Wie ein nachträglicher Gedanke kommt es ihnen, dass Wahlen auch überwacht werden müssen. Es braucht also auch für die allererste Wahl schon Beamte, um überhaupt Beamte wählen zu können. Wie bei der verflixten Frage nach dem Huhn und dem Ei ist es nicht klar, wie der Prozess in einer völlig neuen Kolonie überhaupt in Gang kommen könnte. Das Problem ist noch drängender, weil laut Platon nach einem Sprichwort „der Anfang [. . . ] die Hälfte des ganzen Unternehmens“ ist. Der Fremde aus Athen fügt zwar hinzu, dass seiner Meinung nach ein guter Anfang sogar noch mehr als die Hälfte des Unternehmens sei, schlägt dann aber eine eher wenig begeisternde Lösung als Starthilfe vor. Bei Ankunft in der neuen Kolonie sollen hundert Knosier und hundert Siedler — jeweils die ältesten und besten aus den beiden Gruppen — einfach die 37 Gesetzeswächter bestimmen. Nach der Überprüfung, dass die ausgesuchten Beamten tatsächlich geeignet sind, dürfen die 82 nicht gewählten Knosier wieder nach Hause zurückkehren und die Siedler müssen zusammen mit den 18 gewählten Knosiern für sich selbst sorgen. Dieser Vorschlag lässt mehr Fragen aufkommen, als er beantwortet. Es ist nicht schwer, die Ältesten in einer Gruppe ausfindig zu machen, aber wie bestimmt man die Besten? Und wenn sie gefunden sind, wie bestimmen sie die 37? Platon beantwortet diese Fragen nicht, sondern schlägt lediglich vor, dass die Knosier und die Siedler die zweihundert Wahlmänner nach bestem Wissen auswählen sollen und dass diese dann die Beamten einsetzen. Sobald die Gesetzeswächter ordnungsgemäß bestimmt sind, schreitet die Stadt zur Wahl der weniger entscheidenden, aber immer noch wichtigen Amtsinhaber. Als erstes kommen hier die höheren Militärbeamten — Generäle, Kommandeure und Regimentsführer.. Die Kandidaten für die Generalsposten werden von den Gesetzeswächtern aus der Mitte der Bürger vorgeschlagen, nachdem sie ihren Hintergrund geprüft und sie für geeignet befunden haben. Jeder, der mit einem Vorschlag nicht einverstanden und der Meinung ist, dass ein Kandidat für das Amt untauglich sei, kann stattdessen einen anderen vorschlagen. Zwischen diesen beiden wird dann eine Vorwahl stattfinden und der Gewinner in die nächste Wahlrunde einziehen. Nach der letzten und entscheidenden Runde werden die drei Kandidaten mit den meisten Stimmen als Generäle eingesetzt. Diese sollen dann zwölf Kommandeure vorschlagen, einen aus jedem der zwölf Stämme. Wieder können Gegenvorschläge gemacht werden mit Vorwahlen, Hauptwahl und Entscheidung. An der Wahl der Generäle kann jeder frühere oder derzeitige Soldat teilnehmen; bei der Wahl der Kommandeure und anderer Stabsoffiziere dürfen dagegen nur die Angehörigen der verschiedenen Armeearten teilnehmen, denen die Offiziere vorstehen sollen: leicht– und schwerbewaffnete Fußsoldaten, Bogenschützen und Reiter. Schließlich werden die niedereren Ränge einfach von den Generälen besetzt. Als nächstes bespricht der Athener die Besetzung des Rates, der die Verwaltung der Stadt regelt und aus 360 Mitgliedern zusammengesetzt sein soll. Diese Anzahl hält der Atheners deshalb für geeignet, weil sie dreißig Mal die Anzahl der Stämme (zwölf) und neunzig Mal die Anzahl der Vermögensklassen (vier) ist. Männer ab
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dreißig und Frauen ab vierzig sind wählbar. Die Wahlen finden jährlich über fünf Tage hinweg statt, und dafür schreibt Platon ein zweistufiges Verfahren mit einem interessanten Zusatz vor. Der Vorschlag besteht nämlich aus einer Mischung aus einer regelrechten Wahl in zwei Stufen und einem Losverfahren. Während der ersten Phase, die die ersten vier Tage beansprucht, wird eine Menge von Kandidaten ausgesucht, aus denen am fünften Tag die letztendlichen Ratsmitglieder ausgewählt werden. Während es wünschenswert, aber nicht unumgänglich ist, dass aus jedem Stamm dreißig Mitglieder gewählt werden, müssen unbedingt aus jeder Vermögensklasse neunzig Vertreter bestimmt werden. Am ersten Tag werden also die Kandidaten der reichsten Klasse ausgesucht. Jeder Bürger muss, unter Androhung von Strafe, an der Wahl teilnehmen. Am nächsten Tag werden auf die gleiche Weise die Kandidaten der zweiten Vermögensklasse bestimmt. Wenn am dritten Tag die Kandidaten der dritten Klasse ausgesucht werden, sind dagegen nur die drei ersten Gruppen zur Wahl gezwungen. Die Armen dürfen ihre Stimme abgeben, müssen aber nicht. Am vierten Tag, bei der Wahl der Kandidaten der ärmsten Klasse, sind nur die ersten beiden Klassen zur Teilnahme verpflichtet. Warum schlägt Platon solch ein verwickeltes Verfahren vor? Wieder geht es darum, den gebildeteren Bürgern, also den Vermögenderen, einen größeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Rates einzuräumen. Denn einerseits werden die Reichen an allen vier Runden teilnehmen, um die Bußgelder zu vermeiden. Andererseits werden die Armen, die bereits zwei Arbeitstage ihrer staatsbürgerlichen Pflicht geopfert haben, Vieh und Felder nicht länger vernachlässigen können. Das Ergebnis wird sein, dass die ersten beiden Klassen vier Stimmen, die dritte drei und die ärmsten nur zwei abgeben. Man beachte, wie der listige Athener sein Ziel erreicht, ohne dass die Armen sich betrogen fühlen! Er schränkt ihr Wahlrecht nicht ein, sondern hält sie nur davon ab es voll auszunutzen, indem er sie sogar glauben macht, dass ihnen etwas geschenkt wird. Und außerdem werden sie genau dann von der Wahl befreit, wenn es um die Wahl ihrer eigenen Vertreter geht. Die Reichen werden also entscheiden, wer für die Armen kandidiert. Kriecher und Ja–Sager dürften die besten Aussichten haben. Nachdem die Kandidaten bestimmt sind, wird es nun Zeit, die tatsächlichen Ratsmitglieder auszuwählen. Am fünften Tag dürfen dann wieder alle! Aus der Menge der Kandidaten jeder Vermögensklasse wählen die Bürger durch Mehrheitsentscheid jeweils 180 Männer und Frauen aus. Aber das Verfahren ist noch nicht zu Ende, denn — das ist das Neue — die Hälfte davon, also neunzig aus jeder Vermögensklasse, werden nun zum Dienst im Rat ausgelost. Durch das Zufallselement in der Auswahl der Ratsmitglieder, indem also Gott oder dem Schicksal die letztendliche Entscheidung überlassen wird, kommen mehr Menschen dem Regierungsamt nahe, und gleichzeitig verhindert es Unzufriedenheit („Nichts für ungut, es war Gottes Wille!“). Platon schränkte für die Armen nicht nur die Stimmen bei den Wahlen ein. Durch die Einteilung der Bürger in vier Vermögensklassen beschnitt er auch ihre Vertretung im Rat, ohne dass sie es bemerken würden. Indem er den Besserverdienenden, den Reichen und den Stinkreichen jeweils dieselbe Anzahl an Plätzen zugestand, werden die Armen glauben gemacht, dass sie mit gleicher Stimme im Rat vertreten
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seien. Es ist aber eine wirtschaftliche Erfahrungstatsache, dass es stets viel mehr Arme als Reiche gibt. Das heißt, dass die Armen verglichen mit ihrem Anteil an der Bevölkerung unterrepräsentiert sind. Die Genialität von Platons Vorschlag liegt darin, dass die Armen vom Gegenteil überzeugt sein werden. Als nächstes bespricht der Athener die Überwachung der Stadt und des Staates. Wie ein Schiff, das keinen Augenblick lang ohne Kapitän sein darf, muss die Stadt ständig kontrolliert werden, so behauptet es Platon in Gestalt des Fremden aus Athen. Straßen, Gebäude, Häfen, Brunnen, Tempel und Märkte müssen ständig von den zuständigen Beamten untersucht und in Ordnung gehalten werden. Manche davon sollten gewählt, andere durch das Los bestimmt und dritte durch eine Mischung beider Verfahren eingesetzt werden. Der erste Sicherheitsdienst, eine Art Polizei, besteht aus sechzig Landaufsehern, fünf aus jedem Stamm, und aus 144 Beauftragten, zwölf aus jedem Stamm. Platon regelt nicht näher, ob die Aufseher und ihre Beauftragten gewählt oder ausgelost werden. Vermutlich würden sich sowieso nicht viele für diese Stellen bewerben, denn die angehenden Polizisten bräuchten einiges an Abenteuergeist, um zwei Jahre in der Wildnis zuzubringen, und durch die notwendige Ausrüstung kämen beachtliche Ausgaben auf die Familien zu. In Gruppen würden sie zwei Monate in einem der zwölf Teile des Landes zubringen. Als ihre Hauptaufgabe sollen sie die Sicherheit der Bürger garantieren, aber auch für die Wasserläufe, die Instandsetzung der Wege und die Sportstätten verantwortlich sein. Stadtaufseher sorgen dafür, dass die Gebäude den Gesetzen gemäß errichtet werden, dass die Infrastruktur erhalten bleibt und dass Wasser von ausreichender Qualität fließt. Sechs Bürger aus den beiden höchsten Vermögensklassen werden vorgeschlagen, von denen drei ausgelost werden. Sie teilen die zwölf Stadtteile in drei Bezirke ein und jeder nimmt einen davon unter seine Verantwortlichkeit. Marktaufseher überwachen das Gewerbe und den Handel: Sie versuchen Ungerechtigkeiten zu vermeiden und sorgen dafür, dass Betrüger und Verbrecher angemessen bestraft werden. Zehn Kandidaten werden durch Handaufheben aus den obersten beiden Vermögensklassen bestimmt, aus denen fünf durch das Los ausgewählt werden. Wie es sich für heilige Männer und Frauen ziemt, werden die Priester nicht durch andere Sterbliche gewählt. Ihre Stelle wird entweder vererbt, dann sind Wahlen irrelevant, oder sie werden durch göttliche Vorsehung bestimmt, das heißt durch Los. Nach den Priestern kommen die sogenannten Ausleger, deren Aufgabe darin besteht, die rätselhaften Mitteilungen des Orakels von Delphi zu entschlüsseln. Wie es sich für die unergründliche Gedankenversunkenheit eines Orakels gehört, ist auch die Passage, welche die Auswahl der Ausleger beschreibt, eine der rätselhaftesten in Platons Gesetze: „Für die Ausleger aber sollen dreimal je vier Phylen [= Stämme] je vier Bürger vorschlagen, jeden aus ihrer Mitte; und nachdem man die drei, die hierbei jeweils die meisten Stimmen erhalten haben, einer Prüfung unterzogen hat, soll man insgesamt neun Kandidaten nach Delphi senden, damit aus jeder Dreiergruppe einer durch das Orakel bestimmt wird“, erklärt der Athener seinen Zuhörern. Über diese Worte haben Gelehrte jahrhundertelang gegrübelt. Wählen die vier Stämme zusammen vier Personen aus, jeweils eine aus jedem der Stämme, und suchen dann drei von den vieren aus? Oder wählen die drei Gruppen von je vier Stämmen vier
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Kandidaten aus irgendeinem Stamm der Gruppe aus und führen dann nacheinander drei Wahlen durch, an denen alle Stämme teilnehmen, und bei denen jedesmal drei der vier Kandidaten gewählt werden? Oder hat jeder Wähler vier Stimmen und die drei Bewerber mit den meisten Stimmen gehen nach Delphi? Oder wählt jeder Stamm getrennt vier Mitglieder seines eigenen Stammes und dann werden drei aus den sechzehn ausgesucht? Erbost kommentiert ein Gelehrter seine Untersuchung dieses Abschnittes mit den Worten: „Falls ich und andere Platon missverstanden haben, hat er sich das an dieser Stelle selbst zuzuschreiben.“ (Trevor J. Saunders, 1972) Es ist erstaunlich, wieviel Tinte für die Versuche zu erraten, was Platon wirklich gemeint hat, verbraucht wurde. Mit eventueller Ausnahme der Generäle sind Musik– und Tanzrichter, Chorleiter und Aufseher von Schulen und Sportstätten die einzigen Beamten, welche ausdrücklich eine gewisse Fachkenntnis für ihr Amt mit sich bringen müssen. Für die Stellenbesetzung ist hier allein die Erfahrung maßgebend, familiärer Hintergrund und rechtschaffener Charakter sind unwichtig. Einmal im Jahr sind die Bürger mit einer Vorliebe für das jeweilige Thema verpflichtet, an der Wahl dieser Beamten teilzunehmen. Für die Musikämter werden zehn Kandidaten durch Handaufheben bestimmt, aus denen einer durch Los ausgewählt wird. Für die Sportämter werden zwanzig Kandidaten aus der zweiten und dritten Vermögensklasse ausgesucht; die Armen und Stinkreichen sind ausgeschlossen und die Armen müssen nicht einmal an den Wahlen teilnehmen. Drei werden dann durch Los bestimmt. Schließlich muss ein Aufseher über das Erziehungswesen bestimmt werden. Die Arbeit dieses Beamten ist von höchster Bedeutung für das Entstehen einer guten Bürgerschaft. Die Erziehung der Stadtjugend ist eine Überlebensfrage, daher ist dieser Beamte bei weitem der wichtigste der Stadt. Bei seiner Auswahl muss größte Sorgfalt angewandt werden. Er sollte der beste Mann der Stadt sein (ja, dies ist ein Posten, für den Platon Frauen als nicht geeignet ansah), mindestens fünfzig Jahre alt, Vater von sowohl Söhnen als auch Töchtern und von makelloser Vergangenheit. Da die besten Bürger bereits alle zu Gesetzeswächtern bestimmt wurden, bleibt nichts anderes übrig, als den Aufseher des Erziehungswesens aus ihrer Mitte zu wählen. Er wird für fünf Jahre gewählt in einer geheimen Wahl, an der alle Beamten außer den Ratsmitgliedern teilnehmen. Zwei Details über die Wahl dieses wichtigsten Beamten sind bemerkenswert: Zum einen werden nur Beamte, die ja in einer vorherigen Wahl auf Herz und Nieren geprüft und als kompetent eingestuft wurden, für fähig erachtet eine solch wichtige Entscheidung zu treffen; nur dieser eingeschränkte Kreis von Personen nimmt also an der Bestimmung des Aufsehers des Erziehungswesens teil. Dadurch entsteht ein Problem: Da es einfach ist, ein paar Menschen zu bestechen, öffnet dies Tür und Tor für Korruption und Einflussnahme von außen. Platon lässt die Möglichkeit der Korruption sogar unter Beamten nicht außer Acht, und um diese Missstände zu unterbinden, schlägt er zum anderen für die Wahl des Aufsehers des Erziehungswesens eine geheime Stimmabgabe vor. Tatsächlich ist dies unter der Vielzahl der Wahlen in Platons Gesetze die einzige geheime Wahl. Nebenbei mag der Wunsch nach der Vermeidung von Situationen, in denen eine kleine Anzahl von bestechlichen Wäh-
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lern die Einsetzung eines Beamten bestimmt, ein Grund dafür sein, die Teilnahme an den Wahlen verpflichtend zu gestalten. Bewerber für alle Ämter müssen, nachdem sie durch Los oder Handzeichen bestimmt sind, aber noch bevor sie in ihre Stellung eingesetzt werden, eine strenge Überprüfung durchlaufen. Bei dieser Bewertung werden seine oder ihre eheliche Geburt, ein einwandfreier Stammbaum, makelloser Ruf, Schuldenfreiheit und fehlerfreier Charakter öffentlich untersucht. Hat ein Bewerber nicht den Erwartungen gemäß gelebt, so ist seine Wahl ungültig und das Auswahlverfahren muss wiederholt werden. Aus der Geschichte ist mindestens ein Fall bekannt, in der ein Kandidat verworfen wurde, weil er nicht gut zu seiner verwitweten Mutter gewesen war. Am Ende der Dienstzeit eines jeden Beamten wird es in seinem Amt eine Rechnungsprüfung geben. Die Existenz eines Untersuchungsausschusses, der die Konten prüft, und die Aussicht, vor ihm erscheinen zu müssen, sollen sicherstellen, dass die Beamten nicht einmal daran denken, sich auf Kosten der Stadt zu bereichern. Falls die Versuchung doch zu groß wäre und ein Beamter die Finger nicht von der Kasse lassen könnte, so sollte der Ausschuss ihn in einem erniedrigenden Verfahren verurteilen, und neben der Erstattung des entstandenen Schaden wäre eine angemessene Geldstrafe fällig. Als nächstes bespricht der Athener die Einrichtung der Gerichte und der Wahl der Richter, denn „ein jeder Staat würde aber doch sicherlich aufhören, ein Staat zu sein, wenn darin nicht Gerichtshöfe in der rechten Weise eingesetzt wären“. Sobald ein Streit zwischen Bürgern aufkommt, sollte ein Gericht der ersten Instanz aus Freunden und Nachbarn der Streitparteien zusammengesetzt werden, da diese den Fall am besten kennen und beurteilen können. Bisweilen nehmen die Aufseher die Rolle des Richters ein, in schweren Fällen auch von ihren Beauftragten unterstützt. Tatsächlich, so sagt es der Athener, sei jeder Beamter in gewisser Weise auch ein Schiedsrichter, da er im Bereich seines Amtes Entscheidungen treffen müsse und daher von Zeit zu Zeit wie ein Richter handele. Falls ein Kläger oder Angeklagter mit der Entscheidung der ersten Instanz unglücklich ist, kann er in der Rechtshierarchie einen Schritt weiter gehen und bei einer zweiten Instanz Berufung einlegen. Dies ist nun ein Stammesgericht, dessen Richter bei Bedarf durch Los bestimmt werden. Falls eine der Streitparteien danach immer noch unzufrieden ist, kann bei der dritten und höchsten Instanz, dem obersten Gerichtshof, Berufung eingelegt werden. Die obersten Richter müssen über jeden Zweifel erhaben sein. Sie dürfen nicht von irgendjemandem, sondern nur von Bürgern mit tadellosem Charakter gewählt werden, die sich zudem gut mit den Gesetzen auskennen. Wie kann man beide Bedingungen besser sicherstellen als dadurch, dass die Beamten die Richter aus ihren eigenen Reihen wählen? Also schlägt der Athener vor, dass jede Gruppe von Beamten einen aus ihrer Mitte auswählt, um am höchsten Gericht Dienst zu tun, „nämlich den, der [. . . ] erkennen lässt, dass er am besten und gottgefälligsten die Prozesse seiner Mitbürger im kommenden Jahr schlichtet“. Dieses Gericht wird also aus einem Landaufseher, einem Marktaufseher, einem Musikrichter, einem Sportstättenverwalter und so weiter zusammengesetzt sein. Die obersten Richter am Gerichtshof fällen ihre Urteile durch Mehrheitsentscheid.
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Für die wahrhaft schwerwiegenden Fälle, wenn zum Beispiel ein Bürger einer Ungerechtigkeit gegenüber der Stadt angeklagt wird, müssen spezielle Strafgerichte eingesetzt werden. Drei hochrangige und mit Zustimmung des Klägers und des Beklagten ausgesuchte Beamte stehen den Verhandlungen vor. (Falls sich Kläger und Beklagter nicht auf drei Beamte einigen können, so entscheidet der Rat.) Sie treffen aber keine Entscheidung, sondern die versammelten Bürger stimmen öffentlich für oder gegen eine Verurteilung ab. Es ist merkwürdig, dass Platon trotz aller Zweifel auf genau die Einrichtungen zurückkommt, welche seinen verehrten Lehrer Sokrates zum Tode verurteilten. Die drei Männer führen ihr Gespräch über Stunden hinweg, wobei der Athener nahezu alles auf Erden bespricht: Familienangelegenheiten, Eigentumsgesetze, Erziehung, Religion, Ernährung, Sex und viele andere Themen, aus denen sich das Sozialgefüge einer Stadt ergibt. Seine Vorschläge, wie die Stadt geführt werden soll, wirken allerdings oft wie ein aus dem Hut gezaubertes Kaninchen, als wären sie gerade während des schönen Spaziergangs erfunden worden. Warum zehn Musikrichter und zwanzig für Sportkämpfe, warum wird manchmal gelost und ein andermal nicht, warum wird Vermögen auf das Vierfache der Armutsgrenze und nicht auf das Fünffache begrenzt? Die Vorschläge des Fremden bieten gute Ideen, aber nicht unbedingt die besten. Die beiden Zuhörer nehmen sie zwar in Ehrfurcht auf, aber mancher Vorschlag dürfte ihnen nur wegen der Autorität des Atheners so genial erscheinen. Schließlich kommen sie an ihrem Bestimmungsort an und müssen sich trennen. Der Fremde aus Athen gibt noch ein paar letzte Ratschläge, bevor er sich auf den Weg macht. Platon kann die Abhandlung aber nicht ohne ein gewisses Selbstlob schließen. Kleinias und Megillos sind niedergeschlagen, denn sie stellen fest, dass sie es ohne die Hilfe des Fremden nie schaffen werden, die neue Stadt zum Blühen zu bringen. Megillos hat eine Idee: „Nach allem, was wir hier besprochen haben“, wendet er sich an Kleinias, „müssen wir entweder die Gründung dieses Staates aufgeben, oder wir dürfen unsern Gastfreund da nicht fortlassen, sondern müssen ihn durch Bitten und alle möglichen Mittel zum Mitarbeiter an dieser Staatsgründung gewinnen.“ „So will ich es machen“, kommt die Antwort. Und damit endet das Gespräch. ZUSÄTZLICHE LEKTÜRE
Der Staat Was ist Gerechtigkeit? Dies ist die erste Frage, die sich Platon in dem etwa dreißig Jahre vor Gesetze geschriebenen Der Staat stellt. Er lässt Sokrates, die Hauptperson in Der Staat, diese Frage im Zuge eines langen Gesprächs mit einer Gruppe von Menschen untersuchen. Kephalos riskiert die Definiti-
on, dass Gerechtigkeit einfach darin bestehe, die Wahrheit zu sagen und seine Schulden zu bezahlen. Diese Antwort ist zu schlicht und Sokrates (d.h. Platon) begegnet ihr schnell mit dem Beispiel von jemandem, der ausgeliehene Waffen an einen in der Zwischenzeit wahnsinnig gewordenen Freund zurück-
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gibt. Sicher wäre es doch ungerecht, ihm die Mittel zum Selbstmord in die Hand zu geben? Polemarchos wagt sich darauf an die Definition von Gerechtigkeit als darin bestehend, Freunden Gutes zu tun und seinen Feinden Strafe zuzumessen. Aber Sokrates erwidert, dass es den Bestrafer selbst ins Unrecht setzt, wenn er Feinde verletzt, und so kann auch dies nicht die richtige Antwort sein. An dieser Stelle kann sich Thrasymachos, ein Sophist, der sein Geld durch philosophische Ratschläge verdient, nicht länger zurückhalten. Er platzt mit einer betörend einfachen Antwort heraus: Was Gerechtigkeit ist, entscheiden die Herrschenden. Das ist nun wahrlich ein Schuss ins Schwarze, und ein ausgewachsenes Streitgespräch mit kaum und manchmal gar nicht versteckten Beleidigungen in beide Richtungen bricht aus. Schließlich weist Sokrates darauf hin, dass es möglich sei, dass ein dummer Regent auch Gesetze erließe, die ihm zum Schaden gereichen könnten. Wäre es dann wirklich gerecht, gemäß der durch den Regenten erfolgten Festsetzung von Gerechtigkeit, wenn die Bürger die Gesetze befolgten, auch wenn dies letztendlich zur Absetzung des Regenten führte? Kaum. Thrasymachos errötet und schleicht sich davon. An einer Stelle kommt das Gespräch vom Hauptthema ab, als einer der Gesprächspartner die Frage aufbringt, ob Gerechtigkeit überhaupt ein lohnendes Ziel sei, um das man sich tatsächlich bemühen sollte. Wenn alle gerecht sind, könnte ja ein Ungerechter einen Vorteil daraus ziehen. Zahlt sich Ungerechtigkeit aus? (In dieser Überlegung wird die Spieltheorie des 20. Jahrhunderts vorweggenommen.) Sokrates, der nie um ein Gegenbeispiel verlegen ist, weist darauf hin, dass sogar eine Die-
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besbande keine erfolgreiche Bande sein kann, wenn unter ihnen Ungerechtigkeit herrscht. Gerechtigkeit ist also sogar unter Dieben höher anzusetzen als völlige Ungerechtigkeit. Schließlich gibt der Philosoph die Antwort, auf die alle warten. Gerechtigkeit bedeute, eine gerechte Ordnung aufrechtzuerhalten: Jeder solle das tun, was er am besten kann, und sich aus den Angelegenheiten der anderen heraushalten. Wenn jeder Bürger das Seinige tue, nicht weil es ihm befohlen wurde, sondern weil er es gerne tut, dann wird Gerechtigkeit herrschen. Bürger würden sich gegenseitig kein Leid antun und der Staat wird aufblühen, weil Gerechtigkeit zu Harmonie und Eintracht führt. Ungerechtigkeit, auf der anderen Seite, führt zu Zwietracht und Aufruhr. Nachdem diese gewichtige Frage gelöst ist, geht es als nächstes darum, wie der Staat so organisiert werden kann, dass tatsächlich Gerechtigkeit herrscht. Wie von Platon ins Auge gefasst, sollte der ideale Staat hinreichend groß sein, damit eine effektive Arbeitsteilung erfolgen kann, aber klein genug, dass jeder Bürger an den Staatsangelegenheiten ein lebendiges und aktives Interesse haben könne. Jeder hätte eine ihm zugewiesene Rolle, die er nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen solle. Und was für eine Rolle könnte das sein? Platon sieht drei Arten von Bürgern vor. (Sklaven machten zwar einen beachtlichen Anteil der Bevölkerung aus, waren aber von der Betrachtung ausgeschlossen.) Als erstes müsste es die Politiker geben, die Platon „Wächter des Staates“ nennt. Sie sind Philosophen, deren Weisheit eine gerechte und angemessene Regierung garantiert. Als Vorbereitung für ihre Aufgabe würden sie eine lange und strenge Erziehung über sich ergehen las-
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sen, die bereits in der Kindheit startet. Als Kindern und Jugendlichen sollte es ihnen nicht erlaubt sein Romane zu lesen, da dies ihre Fähigkeit zu denken und vernünftig zu argumentieren vernebeln würde. Nach der Volksschulbildung und einem verpflichtenden Militärdienst würden zehn Jahre Mathematikunterricht und fünf Jahre Logiktraining folgen. Die dann 35jährigen angehenden Wächter würden dann in eine fünfzehnjährige Lehre im Führen der Staatsgeschäfte einsteigen. Im Alter von 50 Jahren wären sie dann bereit, dem Staat als Philosophen–Könige zu dienen, indem sie Gesetze erlassen, Streitfragen schlichten und Recht sprechen. Persönlicher Besitz wäre ihnen nicht gestattet. Als zweites gäbe es die Berufssoldaten. Die Mitglieder dieses Standes stellen die Polizei und die Armee. Ihre Aufgabe bestünde darin, die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten und den Staat gegen Angreifer zu verteidigen. Die Eigenschaft, durch die sie sich auszeichnen müssten, ist Tapferkeit. Diese Bürger würden ihr Leben der Gemeinschaft widmen und dürften, wie die Philosophen–Könige, keinen persönlichen Reichtum besitzen. Wohnung, Verpflegung und Kleider würden vom Staat gestellt werden, so dass sie sich über materielle Bedürfnisse keine Sorgen zu machen bräuchten. Alles, was sie benötigten, würde ihnen der Staat zur Verfügung stellen. Moment bitte — tritt Platon hier für eine frühe Art des Kommunismus ein, über zweitausend Jahre bevor Karl MarxDas Kapital schrieb? Nun, fast, aber nicht ganz. Im Gegensatz zu Marx erkannte Platon, dass nicht jeder bereit ist die Freuden des persönlichen Besitzes aufzugeben, und er schlug deshalb nicht die gänzliche Abschaffung des Pri-
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vateigentums vor. Daher gibt es noch eine dritte Art von Bürgern. Dieser Stand, der größte von den dreien, würde aus all denen bestehen, die nicht zu den ersten beiden Gruppen gehören. Da für die Verwaltung und die Verteidigung des Staates bereits gesorgt ist, bleibt als Aufgabe die Wirtschaft in Gang zu halten. Sie würden also produzieren, bauen, transportieren und handeln. Bauern und Handwerker fallen in diese Kategorie, aber auch Ärzte, Händler und Seeleute. Dies sind Bürger, die nicht ohne Besitz auskommen. Platon erlaubt ihnen persönliches Eigentum, allerdings in Maßen. Er bestimmt das materielle Existenzminimum für eine Familie, und aller Reichtum, der das Vierfache davon überschreitet, wird vom Staat eingezogen. Platon plant kein Kastensystem. Die Zuteilung zu einem der drei Stände würde nach Veranlagung, nicht nach Geburt entschieden. Je nachdem, welche der drei Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit am ausgeprägtesten in einem Kind ist, bestimmt sich sein zukünftiger Weg. Die Kinder des dritten Standes könnten also Wächter oder Soldaten werden wie auch die Nachkommen der ersten beiden Stände Privateigentümer werden könnten. Übrigens unterscheidet Platon in dieser Hinsicht nicht zwischen Frauen und Männern: Jeder Bürger konnte jede Stellung im Staat erreichen, unabhängig vom Geschlecht, und es könnte sehr wohl Philosophinnen– Königinnen geben. Nachdem die Gesellschaft passend aufgeschichtet ist, stellt sich die Frage, welche Regierungsform am besten für sie geeignet ist. Platons bevorzugte Form war die Aristokratie. Übersetzt als „Regierung der Besten“ ist sie weit entfernt von dem Feudalsystem des europäischen
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Adels im Mittelalter. Der Adelsstand würde nicht vom Vater auf den Sohn übergehen ungeachtet der Frage, ob dieser ein Dummkopf ist oder nicht, sondern die Aristokratie besteht, folgt man Platon, aus einer Regierung durch selbstlose Philosophen–Könige, die sich in jeder Generation von Neuem zusammenfinden würden. Dies war die beste Regierungsform, die man sich vorstellen konnte. Aber sogar in einer Aristokratie lauert Gefahr. Platon war sich der Gefahr der Korruption sehr wohl bewusst. Er wusste, dass angesichts der Versuchung nicht alle Soldaten standfest bleiben würden. Vor allem Kriegshelden, die in einer Schlacht Ehre (timé auf Griechisch) errungen haben, könnten an die Spitze katapultiert werden, von wo sie sich unweigerlich gegen die Philosophen–Könige wenden würden. Die sich daraus ergebende Timokratie würde sich durch eine totale Aggressivität nach außen und Ungerechtigkeit nach innen auszeichnen. Einmal an der Macht, würden die früheren Kriegshelden mit Sicherheit ihre Stellung ausnutzen, um Reichtümer anzuhäufen. Das Ergebnis wäre dann eine Plutokratie (plutos = Reichtum), in welcher die Reichen das Sagen haben. Nun erzeugt Reichtum aber auch Armut und es liegt in der Natur der Sache, dass es mehr arme als reiche Leute gibt. Eines Tages werden diese bemerken, das sie zahlreicher und daher mächtiger sind. Die Massen der einfachen Leute werden die Plutokraten umstürzen und . . . eine Demokratie einrichten. Nun darf man aber nicht glauben, dass dies etwas wäre, worauf man sich freuen dürfe. Das Volk, ohne Ausbildung und ungeeignet für Verwaltungsaufgaben, würde ein schreckliches Schlamassel anrichten. Jeder würde über
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Dinge abstimmen wollen, ohne über irgendwelche Erfahrung oder Wissen darüber zu verfügen. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde Chaos ausbrechen und mit Sicherheit wäre die Demokratie keine überlebensfähige Regierungsform: Es würde noch schlimmer kommen. Nach einer Zeit würden die Übelsten und Dreistesten die Macht an sich reißen und die Demokratie, so schlecht sie schon war, würde sich in etwas noch Schlimmeres verwandeln: tyrannis, Despotismus, die Herrschaft von einem einzigen. Wenn einmal die Sackgasse der tyrannis erreicht ist, gibt es nur noch die Hoffnung, dass der Kreislauf wieder beginnt, indem der Tyrann sich einen Philosophen als Ratgeber zur Seite holt oder indem er selbst zu einem Philosophen– König wird, was beides reichlich entlegene Möglichkeiten sind. Die Selbstsicherheit, mit der Platon Ereignisketten und ihr unvermeidliches Ergebnis voraussagt, nimmt die charakteristische Sicherheit vorweg, mit der Karl Marx die sozialen Umwälzungen beschreibt. Falls nun Aristokratie die bevorzugte Regierungsform ist, wie kann man dann die Philosophen–Könige aussuchen, ohne dass man durch den ganzen Kreislauf von Timokratie, Plutokratie, Demokratie und Tyrannei zu ihnen kommen muss? Platon verabscheute es, die Bürger in irgendeinen Entscheidungsprozess einzubinden, und glücklicherweise war dies in seinem System nicht nötig. In seinem Idealstaat würden die Regierenden gemäß ihren Fähigkeiten und nicht wegen ihrer größeren Beliebtheit ausgesucht. Wie Sokrates bemerkt, kommen die für einen Philosophen–König notwendigen Qualitäten — rasche Auffassungsgabe, Gedächtnis, Weisheit, Geschicklichkeit, Furchtlosigkeit und Standhaftigkeit —
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nicht oft zusammen. Es wird also so selten jemand über all diese Eigenschaften verfügen, dass der Staat kaum je-
mals mehr als einen finden wird, auf den die Stellenbeschreibung passt. Daher sind Wahlen überflüssig.
BIOGRAFISCHER ANHANG
Platon Als Platon etwa 40 Jahre alt war, reiste er nach Kreta, Ägypten, Kyrene und nach Syrakus. Dort, auf Sizilien, herrschte Dionysios der Ältere mit eiserner Hand. Der Schwager des Tyrannen, der Philosoph Dion, gewann Platon für den Versuch, das grausame Regime zu mildern. Gemeinsam versuchten sie, Dionysios die Grundlagen einer auf Philosophie gegründeten Regierungsart beizubringen, jedoch ohne Erfolg. Schlimmer noch, der verärgerte Tyrann verkaufte Platon als Sklaven. Er wurde gerade noch von einem seiner Anhänger gerettet und schaffte es knapp zurück nach Athen. Dort gründete er die Akademie, gewissermaßen die welt-erste Universität, wo Platon seine Schüler in Astronomie, Biologie, Metaphysik, Ästhetik, Ethik, Geometrie, Rhetorik und Politik unterrichtete. (Ein vielversprechender Student an der Akademie, der später dort auch Lehrer wurde, war übrigens ein junger Mann namens Aristoteles.) Die Akademie blieb fast tausend Jahre lang bestehen und wurde erst im Jahre 529 n. Chr. vom römischen Kaiser Justinian I. geschlossen, der in ihr eine Bedrohung des Christentums sah. 367 v. Chr. starb Dionysios. Möglicherweise wurde er von seinen Ärzten vergiftet, auf Betreiben seines Sohnes Dionysios II., der es nicht erwarten konnte, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Der ältere Dionysios war zu
seinem Unglück durch die Regierungsgeschäfte nicht nur zu beschäftigt, um die Ambitionen seines Sohnes zu bemerken, sondern er vernachlässigte auch dessen Erziehung. Der dreißig Jahre alte Prinz war für seinen Hang zu Ausschweifungen bekannter als für seine Führungsqualitäten und kaum auf die Übernahme der Macht vorbereitet. Wieder war es Dion, der für Abhilfe sorgen wollte: Der junge Mann brauchte einen Crashkurs in Führung und Management–Techniken, und wer wäre besser geeignet ihm dies beizubringen als sein alter Freund Platon? Dieser erinnerte sich an den missratenen Versuch mit Dionysios’ Vater, nahm daher zunächst Abstand von dem Vorschlag und lehnte höflich ab. Irgendwann gab er dann aber nach: Schließlich war es eine gute Möglichkeit, seine Lehren zu überprüfen. Allerdings sollte es auch diesmal kein erfolgreiches Experiment werden. Dionysios II. wurde eifersüchtig auf seinen talentierteren Onkel und verbannte Dion ins Exil. Platon selbst, schlecht vorbereitet auf die Intrigen am Hof von Syrakus, hatte ohne seinen Freund keinen Beschützer. Für den sechzigjährigen Philosophen keine beneidenswerte Situation. Platon traf die weise Entscheidung, Syrakus zu verlassen. Wieder in Athen kehrte er an die Akademie zurück, die er zwanzig Jahre zuvor gegründet hatte.
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Sechs Jahre später wurde Platon erneut nach Syrakus eingeladen. Doch der unfähige Despot hatte in den dazwischenliegenden Jahren nichts gelernt und war nicht bereit seine Art zu ändern. Also ging Platon wieder, noch einmal ohne seine Aufgabe erfüllen zu können. In der Zwischenzeit hatte Dion eingesehen, dass der Angelegenheit nicht mit Philosophie beizukommen war, und beschloss die Sache auf altmodische Weise zu regeln. Er landete mit militärischen Kräften in Sizilien und übernahm rasch die Macht. Dionysios., der sich damals
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auf dem italienischen Festland aufhielt, eilte nach Syrakus zurück, wurde aber besiegt. Nun war es Dion, der Gefallen an der Macht fand und zu einem Tyrannen wurde. Allerdings durfte er seinen neuen Status nicht lange genießen: Drei Jahre später wurde er von Handlangern des Philosophen und Mathematikers Kallippos getötet, der seinerseits im darauffolgenden Jahr ermordet wurde. Offenbar war Philosophie damals noch keine so entspannte Angelegenheit wie heute!
Kapitel 2
Der Briefeschreiber
Wie die Verwalter der antiken griechischen Städte sorgten sich auch die Beamten des Römischen Reichs um eine gute und gerechte Regierung. Der Senator und Staatsbeamte Gaius Plinius Caecilius Secundus, allgemein bekannt als „Plinius der Jüngere“, brachte dabei aus besonderem Anlass die tiefgründige Frage auf, wie man richtig abstimmen sollte. Plinius wurde 61 oder 62 n. Chr. in der heute italienischen Stadt Como geboren. Nachdem er seinen Vater, einen Landbesitzer, als Kind verloren hatte, wurde er von seiner Mutter großgezogen. Den Haupteinfluss auf seine Erziehung übte aber sein Onkel mütterlicherseits aus, Plinius der Ältere, römischer Flottenkommandant und unermüdlicher Naturforscher. Im Jahr 79 n. Chr. wurde Kampanien, eine dicht besiedelte Gegend in Süditalien, von einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes heimgesucht. Am 24. August brach kurz nach Mittag der Vesuv aus. Seit zehntausend Jahren war er aktiv. Der heftigste Ausbruch in seiner langen Geschichte geschah in der Bronzezeit ungefähr 1800 v. Chr. Jedoch hielt er die Menschen nie davon ab, die fruchtbare Küstenregion um den Golf von Neapel immer wieder neu zu besiedeln. Dem Ausbruch im Jahr 79 waren viele Erdbeben und Erdstöße vorangegangen, aber dies war nichts Ungewöhnliches in Kampanien und wurde nicht als Grund zur Sorge oder gar Panik angesehen. Die Katastrophe traf alle überraschend. Bereits sechzehn Jahre zuvor hatte ein Erdbeben die Gegend erschüttert und immer noch waren Reparaturarbeiten in Gang, als das neue und weitaus schlimmere Unheil zuschlug. Die geschäftigen Städte Pompeji und Herkulaneum wurden unter einer drei Meter dicken Schicht aus Lava und Asche begraben — Pompeji mit den meisten wenn nicht sogar allen der 20.000 Einwohner und Herkulaneum mit 5.000 Bewohnern. Die genaue Anzahl der durch Trümmer, Feuer und giftigen Rauch Getöteten ist nicht bekannt, aber sogar die Römer, die durchaus an Tausende von Toten in Schlachten und Kriegen gewöhnt waren, betrachteten den Tribut an den Tod als außergewöhnlich hoch. Pompeji lag jahrhundertelang begraben, bis Archäologen im 18. Jahrhundert die Überreste entdeckten. Es wurden Gebäude und Tempel, Münzen und Kunstwerke ausgegraben, aber auch und ganz besonders die Körper von Menschen, Pferden und Hunden. Ein makaberer Anblick! Asche und Bimsstein hatten die Überreste der Opfer in genau der Position konserviert, in der sie zu Tode gekommen waren: Die G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_2,
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Ausgräber konnten an ihnen 1.700 Jahre später den Todeskampf ihrer letzten Lebensmomente erkennen. Heute können die Ruinen der öffentlichen Gebäude, der Villen und sogar der Bordelle bewundert werden, mit Ausnahme einiger Geräte und erotischer Fresken aus letzteren, die sittsam versteckt gehalten werden. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts stellte der Senator und Historiker Cornelius Tacitus eine Geschichte des Römischen Reichs zusammen. Er bat Plinius den Jüngeren als Augenzeugen die tragischen Ereignisse zu erzählen. Zu Ehren seines geliebten Onkels, Plinius des Älteren, der bei dem Unglück ums Leben gekommen war, und in Erinnerung an ihn kam er Tacitus’ Bitte nach, indem er in zwei Briefen das Vorkommnis beschrieb. Beim Ausbruch war er achtzehn Jahre alt, doch seine Erinnerungen daran blieben auch im Alter lebendig. Seine minutiöse Beschreibung der schrecklichen Erfahrung, die im Anhang zu diesem Kapitel nacherzählt ist, liest sich als eine schaurige Mahnung an die Macht der Natur und die menschlichen Tragödien, die sie mit sich bringen kann. Ein Jahr nach der Vesuv–Katastrophe heiratete er zum ersten Mal — insgesamt schloss er dreimal den „Bund fürs Leben“ — und begann bei Hofe zu erscheinen. Nach einiger Zeit wurde er als Ankläger wie auch als Verteidiger von Staatsbeamten bekannt. Seine Karriere begann, typisch für römische Adlige, als Militäroffizier in der Gegend des heutigen Syriens und führte ihn dann die Hierarchie des öffentlichen Dienstes hinauf. Da er in finanziellen Dingen bewandert war, diente er auch als Verwalter der Staatskasse für die Veteranenversorgung. Auf seiner letzten Stelle leitete er im Jahr 111 n. Chr. die Provinzregierung von Bithynien–Pontus in der heutigen Türkei. Man glaubt, dass er zwei Jahre später einen plötzlichen Tod erlitt, aber Genaues darüber ist nicht bekannt. Der einzige Hinweis auf sein Ableben ist, dass seine bis dahin reichhaltige Briefproduktion plötzlich abbricht. Während seiner ganzen Karriere wurde Plinius als ehrlicher und fähiger Beamter geschätzt, und die Tatsache, dass er drei Kaiser unterschiedlichsten Charakters überlebte, spricht für seine sozialen und diplomatischen Fähigkeiten. Soweit man weiß, ist Plinius der Jüngere der erste, der die Frage aufgebracht hat, wie man bei einer Entscheidung auf die richtige Weise die Stimmen zählt. Heutzutage ist er hauptsächlich wegen seiner unzähligen Briefe bekannt. Er hat das Briefeschreiben zu einer Kunstform entwickelt; seine Briefe eignen sich aufgrund ihres Stils gut zur Veröffentlichung. Tatsächlich dürfte dies auch in seiner Absicht gelegen haben, da er die meisten davon selbst zur Publikation vorbereitete. Den Briefen fehlt daher manchmal eine gewisse Natürlichkeit; man spürt, dass Plinius sich nicht nur an den Empfänger wendet, sondern bereits an ein breiteres Publikum. Durch seine reichhaltige Korrespondenz (mehr als 300 Briefe haben überlebt) erfahren wir viel über das tägliche Leben im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts, über die Angelegenheiten eines Provinzstatthalters und die Sorgen der Oberschicht. Üblicherweise ist jeder Brief einer einzelnen Frage gewidmet. Ein ganz bestimmter Brief ist der Grund für unser Interesse an Plinius, wie wir nachher sehen werden. Einige Briefe sind auch heute noch erstaunlich aktuell, etwa der Brief an seinen Freund Julius Valerianus, in dem Plinius über die Schwierigkeiten spricht, die ein-
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fache Leute mit ihren Anwälten haben können.1 In Vicetia, dem heutigen Vicenza, sechzig Kilometer westlich von Venedig, wollte ein früherer Prätor namens Sollers auf seinen Ländereien einen Wochenmarkt einrichten. Er bat den Senat um die Erlaubnis dazu, doch die Bürger der Stadt legten Einspruch ein. Als ihren Rechtsvertreter vor dem Senat bestellten sie Tuscilius Nominatus, der dafür 6.000 Sesterzen und 1.000 Denare bekam, was in etwa dem Jahressold von acht einfachen Soldaten entsprach. Nominatus erschien am anberaumten Tag vor dem Senat, doch aus irgendeinem Grund wurde der Gerichtstermin vertagt. Zum zweiten Verhandlungstag allerdings war Nominatus nirgends zu finden. Kein Wunder dass die Vicetiner verärgert waren. Sie hatten den vereinbarten Lohn gezahlt, nun aber niemanden mehr, der sie vor Gericht vertrat. Die ursprüngliche Angelegenheit um den Prätor und seinen Markt trat in den Hintergrund gegenüber der Frage, ob die Stadtbewohner von ihrem Anwalt hintergangen worden waren. Hat er das Geld einfach eingesteckt und sie im Stich gelassen? Damit endet Plinius’ Brief; er ließ Valerianus im Ungewissen über den Ausgang. Wenn Valerianus nicht freundlich um die Fortsetzung bäte oder selbst nach Rom käme, um die Auflösung zu erfahren, würde Plinius das Ende der Geschichte nicht erzählen. Offenbar hat Valerianus nett genug gebeten, denn in einem folgenden Brief erzählt Plinius die Fortsetzung. Nominatus wurde zu einer Anhörung geladen um sein Verhalten zu rechtfertigen. Seine Verteidigungsstrategie war überaus einfallsreich: Er behauptete, dass er nicht aus mangelndem Pflichtbewusstsein nicht zur Verteidigung seiner Klienten vor Gericht erschienen sei, sondern aus fehlendem Mut. Tatsächlich war er zum Gerichtstermin gekommen (dafür gab es Zeugen), wurde dann aber von Freunden überredet sich Sollers’ Plänen nicht zu widersetzen. Immerhin war Sollers Mitglied des Senats, und Nominatus wäre gut beraten sich ihm nicht entgegen zu stellen, zumal die Frage der Landnutzung zu einer Machtfrage geworden war. Sollers verfolge hartnäckig seinen Plan, einen Markt auf seinem Ländereien zu errichten, und wenn es ihm nur darum ginge zu zeigen, dass er Einfluss ausübe und eine wichtige Stellung innehabe. Nominatus’ Freunde warnten ihn, dass er mit Sicherheit nicht nur die Feindschaft von Sollers, sondern auch von dessen Mit– Senatoren auf sich ziehen würde, wenn er darauf bestünde, die Stadtbewohner zu vertreten. Ein erster Hinweis auf das, was folgen würde, wäre doch, dass er bei der ersten, abgebrochenen Anhörung von einigen Senatoren ausgezischt worden war. Also habe er sich für den ungefährlichen Weg entschlossen, nämlich die Kammer zu verlassen. Was für eine Begründung! Überraschenderweise klappte es. Nominatus, ein begabter Redner, sprach sehr überzeugend. Im rechten Augenblick vergoss er die eine oder andere Träne und er bat um Vergebung, ohne sein Verhalten zu rechfertigen. In dem Senator und früheren Konsul Afranius Dexter fand er einen wohlwollenden Zuhörer. Nominatus’ Verhalten sei sicherlich unangemessen gewesen, befand Dexter, aber nicht betrügerisch. Nominatus solle doch einfach den erhaltenen Lohn zurückbezahlen, darüberhinaus aber freigesprochen werden. Dieser Vorschlag erschien den meisten annehmbar. Je1
Die deutsche Übersetzung folgt in der Wiedergabe der Briefzitate und teilweise auch der Briefinhalte: Gaius Plinius Caecilius Secundus „Briefe“ (herausgegeben von Helmut Kasten), Artemis und Winkler (Sammlung Tusculum), Zürich 1995.
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der sah ein, dass man von einem Rechtsbeistand nicht erwarten konnte, sich gegen einen mächtigen Senator zu stellen. Sollten die Bewohner von Vicetia doch für sich selbst sorgen! Nur ein gewisser Flavius Aper hatte Einwände. In einer erstaunlich modernen Sichtweise widersetzte er sich vehement dem Handel und bestand darauf, dass Nominatus fünf Jahre lang vom Anwaltsstand ausgeschlossen werden müsse. Aper wurde sofort von einem Volkstribun, einer Art Anwalt der einfachen Leute, unterstützt, der sich die Möglichkeit nicht entgehen ließ gegen die etablierte Justiz zu wettern. Anwälte seien durch die Bank käuflich, so ereiferte er sich, sie führten Prozesse um sich gegenseitig Arbeit zuzuschustern, sie verschwörten sich heimlich und verkauften die Rechtsfälle ihrer Klienten. Und anstatt zufrieden zu sein mit der Ehre, die ein erfolgreich absolvierter Fall ihnen brächte, forderten sie hohe Löhne für ihre vermeintlichen Dienste. Die ätzende Kritik führte aber zu nichts, denn die Senatoren — wie könnte es auch anders sein? — stimmten mit Dexter überein. Nominatus würde das Geld zurückzahlen und das Leben würde weitergehen. So endet Plinius’ Brief an Valerianus, aber es gibt noch einen Nachtrag: Die öffentliche Klage des Tribuns hatte eine unerwartete Auswirkung. Per Erlass verbot der Kaiser den Anwälten, in Zukunft um eine Vergütung nachzusuchen. Dies ist nun ein Rechtssystem nach unserem Geschmack. Nicht ohne Genugtuung bemerkt Plinius seinem Freund gegenüber, dass er stets auf jedes Geschenk, jedes Entgelt und sogar jede Aufmerksamkeit verzichtet habe. Sarkastisch fügt er an, dass es ihm keine neuen Freunde schaffen werde, wenn seine Kollegen nun herausfänden, dass sie sich in Zukunft so benehmen müssten, wie er es stets getan habe. Doch wenden wir uns jetzt Plinius’ Beschäftigung mit dem Wählen zu. Es war derselbe Afranius Dexter oder vielmehr sein mysteriöser Tod, der Plinius’ Interesse an diesem Thema auslöste. Am 24. Juni 105 n. Chr. wurde der leblose Körper des Senators in dessen Haus gefunden. Die Umstände seines Ablebens sind unbekannt; man weiß lediglich, dass er keines natürlichen Todes starb, sonst gäbe es nichts zu erzählen. Beging Dexter Selbstmord? Wurde er ermordet? Oder war er zum Selbstmord nicht willensstark genug und beauftragte jemanden ihn zu töten? Die Obrigkeit ließ offenbar eine Untersuchung des Tatorts durchführen, Details sind aber nicht bekannt. Plinius’ Briefe verraten nicht, wo der Körper gefunden wurde und von wem, noch womit Dexter getötet wurde, noch ob die Tatwaffe gefunden wurde und wenn ja wo. Der Verdacht fiel sofort auf Dexters Sklaven. Sie waren die einzigen, die den Mord ausgeführt haben konnten, falls es einer war. Der Fall kam vor den Senat. Die Senatoren wurden über alle bekannten Details unterrichtet und sollten ein Urteil fällen. Wären die Sklaven schuldig, würden sie mindestens auf eine Insel verbannt und schlimmstenfalls zum Tode verurteilt werden; wären sie unschuldig, würden sie freigesprochen. Strafmaß und Urteil hängen somit zusammen: Die Verkündigung des Strafmaßes beinhaltet das Urteil. Verbannung ist eine weniger harte Strafe als ein Todesurteil; sie entspricht einer nur teilweisen Schuld oder mildernden Umständen, etwa für den Fall, dass Dexter einen Sklaven gebeten hatte ihn umzubringen. Das Urteil konnte also auf schuldig, schuldig unter mildernden Umständen oder unschuldig lauten, mit dem entsprechenden Strafmaß Hinrichtung, Verbannung oder Freispruch.
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Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Entscheidung nicht zweiwertig ist — schuldig oder unschuldig — sondern dreiwertig: Hinrichtung, Verbannung oder Freispruch. Durch diese drei Alternativen wurden verschiedene Intrigen und Manipulationen ermöglicht. Und Plinius, der, wie wir gleich sehen werden, für eine etwas zweifelhafte Vorgehensweise eintrat, war bei den Manipulatoren vorne mit dabei. Nachdem aber alles erledigt und vorüber war, ließ ihm die Angelegenheit keine Ruhe und er war ehrlich genug zuzugeben, dass sein Vorgehen fragwürdig gewesen sein mag. Von Gewissensbissen gequält, beschrieb er in einem Brief an seinen weisen und gebildeten Freund Titus Aristo, an den er sich öfters mit Rechtsfragen wandte, den Gang der Ereignisse. Er wollte Aristos Meinung darüber hören, ob er angemessen gehandelt oder einen Fehler begangen habe. Das Problem, das Plinius aufbringt, ist nicht in erster Linie eine Frage des öffentlichen oder des bürgerlichen Rechts, sondern betrifft eher die Vorgehensweise. Zu Beginn der Verhandlungen wurde deutlich, dass eine große Mehrheit, darunter Plinius, der letzten der drei Alternativen Tod, Verbannung und Freispruch zuneigte. Aber es war keine absolute Mehrheit, sondern vielleicht 40 Prozent der Senatoren plädierten für Freispruch. Die Befürworter der beiden anderen Positionen teilten sich ungefähr gleichmäßig auf Todesstrafe und Verbannung auf. Bei einer Wahl zwischen den drei Möglichkeiten würde also eine Mehrheit die Sklaven freisprechen. Daher beschlossen die Befürworter der Todesstrafe und die der Verbannung sich zusammenzuschließen. Wie es üblich war, standen sie von ihren Sitzen auf, gingen zur anderen Seite des Senatsaals und setzen sich als eine Gruppe zusammen. Alle aus dieser großen Gruppe, ungefähr sechzig Prozent der Anwesenden, behaupteten nun zusammen, dass sie gegen einen Freispruch für die Sklaven seien. Dies aber sei unfair, behauptete Plinius. Auch wenn die Trennlinie zwischen den Senatoren der Aufteilung in „schuldig“ und „unschuldig“ entsprach, argumentierte er, sei die Todesstrafe doch ebenso weit von der Verbannung entfernt wie die Verbannung vom Freispruch. Daher wäre es völlig unbillig, dass die Befürworter der Verbannung und die Vertreter der Todesstrafe eine Allianz bildeten. Wenn überhaupt, so wäre es natürlicher, dass die Befürworter der Verbannung mit denen, die für Freispruch plädierten, eine Koalition bildeten, da beide Urteilssprüche die Sklaven am Leben ließen. Aber nun saßen da die Befürworter von Todesstrafe und Verbannung zusammen, vereint in ihrem Ziel einen Freispruch zu vereiteln. Um dies zu erreichen, waren sie bereit ihre Meinungsverschiedenheit beiseite zu lassen und vorübergehend Einigkeit zur Schau zu stellen. Plinius, der der Versammlung vorstand, war entrüstet. Er hielt seine Empörung vor den anderen Senatoren nicht zurück. Selbst wenn sie alle gegen den Freispruch seien, rief er aus, wäre es doch unrecht, vorübergehend Einigkeit vorzutäuschen, obwohl sie sich doch über das Urteil nicht einig seien. Er ordnete dann an, dass jede Meinung getrennt gezählt werden sollte, und forderte die beiden Gruppierungen auf ihre Koalition aufzulösen. Um seine Anweisung zu rechtfertigen, führt Plinius das die Abstimmung regelnde Gesetz an: „Qui haec censetis, in hanc partem, qui alia omnia, in illam partem ite qua sentitis.“ — in der Übersetzung: „Ihr, die ihr für diesen Antrag seid, tretet auf diese Seite, ihr, die ihr für alles andre seid, auf jene, je nachdem wie ihr stimmt.“ Verzweifelt versucht Plinius
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seine Interpretation des Gesetzestextes zu erhärten und untersucht dafür den Satz Wort für Wort. Plinius betont, dass der Gesetzgeber geschrieben habe „ihr, die ihr für alles andre seid“, was seines Erachtens bedeute, dass jede andere Meinung für sich betrachtet werden müsse. Er rechtfertigt sich weiter dadurch, dass er auf die Wendung „qua sentitits“ verweist, was für „je nach eurer Meinung“ oder „je nachdem wie ihr abstimmt“ steht. Indem er dies als „je nach eurer genauen Meinung“ versteht, schließt es aus, dass man sich einer Gruppe mit einer anderen Auffassung anschließt. Infolgedessen weist er den Senat an, sich in drei verschiedene Gruppen aufzuteilen gemäß der Meinungen, für die sie wirklich stünden, und sich in drei verschiedenen Teilen des Senatsgebäudes niederzulassen. Plinius’ Argumentation ist allerdings etwas dürftig, denn der lateinische Text lässt auch eine andere Interpretation zu. „In illam partem ite“ bezieht sich in der Einzahl auf einen Ort im Senatsgebäude („tretet auf jene Seite“, nicht „tretet auf jene Seiten“) und könnte daher bedeuten, dass alle mit einer anderen Meinung auf eine einzige Seite zu gehen haben. Dann würden die Befürworter des Freispruchs als eine Gruppe sitzen und gezählt werden und alle anderen, d.h. die Befürworter der Todesstrafe wie der Verbannung, würden in einer anderen Ecke sitzen und ebenso als eine einzige Gruppe gezählt werden. Da Plinius den Vorsitz führte, war es an ihm zu entscheiden. Folglich schlurften die Senatoren gehorsam zu den Bänken, die den drei Gruppen zugewiesen wurden. Natürlich konnte nicht erzwungen werden, dass Plinius’ Anweisungen tatsächlich befolgt würden, denn niemand konnte die wahren Überzeugungen der Senatoren überprüfen. Genau deshalb, um Manipulationen wie solche Koalitionen zu verhindern, musste in späteren Zeiten geschworen werden gemäß der wahrhaftigen Auffassung abzustimmen. In der Causa Dexter wurden allerdings keine Eide abgenommen und letztendlich gab dies den Ausschlag für das Abstimmungsergebnis. Plinius war zuversichtlich, dass die relative Mehrheit von 40 Prozent bei einer Abstimmung mit drei Möglichkeiten zum Freispruch führen würde, da jeweils nur 30 Prozent auf Todesstrafe und Verbannung gingen. Aber er unterschätzte seine Gegner. Dem Anführer der für die Todesstrafe eintretenden Gruppierung wurde klar, dass sein Vorschlag keine Mehrheit bekommen würde. Um eine völlige Niederlage zu vermeiden, tat er sich erneut mit jenen zusammen, die für eine Verbannung eintraten. Als seine Freunde sahen, dass er sich auf die Seite der Verbannungsbefürworter begab, folgten sie seinem Beispiel. Es ergab sich somit, dass 60 Prozent für die Verbannung stimmten gegen 40 Prozent für Freispruch. Damit war das Schicksal der Sklaven besiegelt: Sie wurden zwar nicht hingerichtet, aber auch nicht freigelassen. Letztendlich brachte Plinius’ Versuch der Manipulation also keinen Gewinn. In der naiven Annahme, alle Senatoren würden aufrichtig abstimmen, hat er das Verfahren so beeinflusst, dass das von ihm erwünschte Ergebnis herauskäme. Er wurde aber von einem klügeren Manipulator übertrumpft, der von Anfang an wusste, wie das Spiel zu führen sei. Dem Befürworter der Todesstrafe war klar, dass er durch Parteinahme für die Verbannung zumindest die Verurteilung der Sklaven erreichen würde. Dies war zwar nicht sein Wunschergebnis, aber doch seine zweite Wahl, die er durch die Verheimlichung seiner wirklichen Ansicht erreichte. Aber auch Plinius
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und seine Anhänger erreichten ihre zweite Wahl: Immerhin blieben die Sklaven am Leben. Plinius’ Wunsch wäre es auch in einem modernen Rechtssystem nicht besser ergangen. Heutzutage entscheiden die Gerichte erst über die Schuld der Angeklagten und dann über das Strafmaß. Im Fall von Afranius Dexter hätte sich die Gruppe, welche von der Schuld der Sklaven überzeugt war, also die Anhänger von Verbannung oder Todesstrafe, mit ihrem Anteil von 60 Prozent im ersten Schritt durchgesetzt (und Plinius hätte ein abweichendes Minderheitenvotum verfasst). Im zweiten Schritt wären dann die mildernden Umstände und andere Fakten zur Sprache gekommen und etwa 70 Prozent der Richter, Plinius eingeschlossen, hätten sich für die Verbannung ausgesprochen. Hatte Plinius nun Recht mit seinem Verhalten? Statt zwei aufeinanderfolgende zweiwertige Entscheidungen — entweder erst über Schuld und Unschuld und dann über das Strafmaß, oder erst über Tod oder Leben und dann über Freiheit oder Verbannung — hat er eine dreiwertige Entscheidung durchgesetzt: Freispruch, Verbannung, Hinrichtung. Später wurde bei Wahlen, welche mehr als zwei Alternativen zulassen oder bei denen zwischen mehr als zwei Kandidaten zu wählen ist, oft eine absolute Mehrheit gefordert, also eine Mehrheit von mindestens 50 Prozent. Solch eine Mehrheit stellt sicher, dass die bevorzugte Auswahl nicht nur jede einzelne der Alternativen schlägt, sondern auch jede Kombination anderer Möglichkeiten. Falls keine absolute Mehrheit erreicht wird, gibt es in der Regel Stichwahlen zwischen den beiden erstplatzierten Alternativen oder Kandidaten. Im Prinzip ist auch Plinius’ Vorschlag einer dreiwertigen Wahl, bei der nur eine relative Mehrheit nötig ist, tragbar — aber nur, wenn man sich im Voraus darauf geeinigt hat. Nicht hinnehmbar ist es dagegen, das Verfahren erst mittendrin festzulegen. Daher war Plinius sicherlich im Unrecht, als er versuchte das Abstimmungsverfahren so zu gestalten, dass sein Wunschergebnis herauskäme. Die Spielregeln müssen zu Beginn festgelegt und von allen akzeptiert sein, vor der ersten Gelegenheit sie zu nutzen oder zu missbrauchen. Leider wissen wir nicht, wie Titus Aristo über die Angelegenheit dachte. Seine Antwort ist nicht überliefert.
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ZUSÄTZLICHE LEKTÜRE
Der Ausbruch des Vesuv Plinius der Ältere lebte mit seiner Schwester und ihrem Sohn in Misenum, ungefähr 20 Kilometer vom Vesuv entfernt. Am Morgen dieses Augusttages sonnte er sich, nahm dann ein kaltes Bad, aß zu Mittag und studierte anschließend, als etwa um zwei Uhr nachmittags seine Schwester ins Zimmer stürzte, um ihm von einer Wolke von ungewöhnlicher Gestalt und Größe zu erzählen, die sich über dem Vesuv erhob. Was sie gesehen hatte, war die heiße Aschesäule des Vulkanausbruchs, die, wie man heute schätzt, vierzig Kilometer hoch in die Stratosphäre reichte. Plinius stand auf um es sich ansehen und was er sah, erregte sein Interesse. Er beschloss mit einem Boot auf die andere Seite der Bucht zu fahren um die Sache näher zu untersuchen. Er lud seinen Neffen ein mitzukommen, der aber zu seinem Glück ablehnte. Plinius der Jüngere wollte zu Hause bleiben und seine Studien fortsetzen. In diesem Augenblick traf ein Bote ein mit einer dringenden Nachricht von Rectina, der verängstigten Frau von Cascus Pomponianus, dessen Villa am Fuß des Vesuv lag. Sie flehte Plinius an sie zu retten und er befahl sofort ein größeres Schiff vorzubereiten. Er wollte so viele Menschen wie möglich in Sicherheit bringen vor dem, was offensichtlich mehr war als nur eine merkwürdige Wolke. Das von Plinius befehligte Schiff nahm Kurs auf Stabiae auf der anderen Seite der Bucht. Es kam gut voran, da Südostwind von hinten wehte. Während der gesamten Überfahrt fielen Asche und Vulkansteine auf Deck und in das Meer, das in Ufernähe durch den herabfallen-
den Schutt seicht geworden war. Plinius’ Steuermann drängte ihn zurückzukehren, doch der mutige Kommandeur wollte davon nichts hören. „Dem Mutigen hilft das Glück“, rief er aus, „halt auf Pomponianus zu!“ Rectinas bedauernswerter Ehemann hatte bereits sein Gepäck auf Schiffe verladen und war bereit zu fliehen. Doch er und seine Familie saßen auf dem Trockenen, denn durch den Wind, der für Plinius’ Ankunft günstig war, konnte man nicht von der Küste wegsegeln. Bei seiner Ankunft umarmte Plinius den verängstigten Mann und tröstete ihn, während in der Nähe Flammen aufflackerten. Der Kommandeur versuchte die entsetzte Menge zu beruhigen und erklärte, Bauern müssten in der Aufregung ihre Hütten verlassen haben ohne das Herdfeuer zu löschen, und diese hätten Feuer gefangen. Um die Furcht der anderen zu beschwichtigen und um seine Seelenruhe oder vermeintliche Seelenruhe zu beweisen, ging er zu den öffentlichen Bädern, wo er sein übliches Programm mit Bad und Abendessen durchlief, und legte sich dann schlafen. Und er schlief wirklich, denn man hörte das Schnarchen des beleibten Mannes außerhalb des Zimmers. Während der Nacht wurden die Erdstöße aber so stark, dass sich die Gebäude aus ihren Fundamenten zu lösen drohten. Nach wie vor fielen Steine vom Himmel, und Asche und Schutt bedeckten den Boden bereits so hoch, dass eine Flucht bald unmöglich sein würde. Plinius erhob sich von seinem Lager und besprach mit den anderen, was zu tun sei: im Haus bleiben unter der Gefahr, dass das Gebäude zusammenbräche, oder nach au-
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ßen gehen unter der Gefahr, von herabfallenden Steinen erschlagen zu werden? Sie entschieden sich für die zweite Alternative, banden sich Kissen um die Köpfe zum Schutz gegen die herabfallenden Steine und machten sich auf den Weg zum Strand. Die Nacht war durch Asche und Rauch pechschwarz und die Gruppe musste in völliger Finsternis ihren Weg suchen. Als sie am Strand ankamen, herrschte noch immer Gegenwind und an Abfahrt war nicht zu denken. Plinius setzte sich nieder um sich auszuruhen, trank etwas Wasser und wartete. Irgendwann jagten Flammen und Schwefelgeruch alle in die Flucht. Von zwei Sklaven gestützt versuchte auch Plinius aufzustehen, brach aber, von den Dämpfen und der stauberfüllten Luft überwältigt, sofort zusammen und starb. In Misenum warteten Mutter und Sohn ängstlich auf Nachrichten von Plinius dem Älteren. Eine Hausaufgabe seines Onkels bearbeitend, saß Plinius der Jüngere auf der Terrasse und gab vor in Ruhe ein Buch zu lesen und sich Notizen zu machen. Später räumte er aber ein, dass diese Zurschaustellung von Gleichmut weniger der Tapferkeit als jugendlicher Tollkühnheit geschuldet war. Am nächsten Morgen bebte die Erde so stark, dass die Wagen hin und her rollten, selbst nachdem man Steine vor die Räder gelegt hatte. Das Meerwasser hatte sich zurückgezogen und Fische und anderes Seegetier lagen auf dem Trockenen im Sand. Eine furchterregende schwarze Wolke ballte sich zusammen und überall brachen Feuer aus. Ein Freund aus Spanien, der zu Besuch war, drängte sie zur Flucht. „Wenn dein Bruder, dein Oheim noch lebt, möchte er auch euch lebend wiedersehen; ist er tot, war es gewiss sein Wunsch, dass ihr am Leben bliebet! Was säumt ihr also,
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euch zu retten?“ Und mit diesen Worten stürzte er davon ohne eine Antwort abzuwarten. Mutter und Sohn zögerten aber nach wie vor ohne Nachrichten von ihrem Verwandten zu fliehen. Kurze Zeit später begann die Wolke zum Boden herabzusinken und nun nötigte Plinius’ Mutter ihren Sohn zu fliehen. Als junger Mann könne er sich noch in Sicherheit bringen, während sie, alt und gebrechlich, glücklich in dem Gedanken sterben werde, dass ihr Sohn überlebe. Aber Plinius wollte davon nichts hören, nahm die Hand seiner Mutter und zog sie mit sich aus der Stadt heraus. Nach einer Weile verließen sie die Straße, um nicht von den fliehenden Menschenmassen erdrückt zu werden, und setzen sich nieder. Bald danach wurde es völlig dunkel. Eltern und Kinder und Ehepartner suchten sich in der völligen Finsternis. Frauen kreischten, Kinder weinten, Männer schrieen. Irgendwann ließ die Finsternis nach, aber das Licht war kein beruhigendes Zeichen, sondern im Gegenteil handelte es sich um Feuer, dass näher kam und die grausige Szenerie beleuchtete. Nach wie vor fielen Asche und Bimsstein herab. Plinius war sich sicher, dass er und seine Mutter dem Untergang geweiht waren und mit ihnen die Welt um sie herum. Nach über einem Tag an Furcht und Schrecken begann die Dunkelheit sich schließlich zu lichten. Bald war es nurmehr ein Qualm, dann nur noch ein Nebel. Das Tageslicht drang wieder hindurch und zeigte den entsetzten Überlebenden eine veränderte Welt, „mit einer hohen Ascheschicht wie mit Schnee überzogen“. Alles war zerstört, viele Überlebende durch die Tortur wahnsinnig geworden. Niemand wusste, was zu tun war, und alle fürchteten sich vor der Zukunft. Irgendwann kam die Nachricht
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vom Schicksal des Onkels. Der Leichnam von Plinius dem Älteren war von Überlebenden gefunden worden, unberührt und unverletzt, als würde er schlafen. Man weiß nicht, wieviele durch den Ausbruch des Vesuvs zu Tode gekommen waren, die Umgebung aber war nahezu völlig zerstört. Nur diejenigen, die wie Plinius der Jüngere frühzeitig flohen und allen Besitz zurückließen, hatten eine Überlebenschance. Die anderen wurden von pyroklastischen Strömen erfasst, über den Boden rollende Lawinen aus brennend heißer Asche, Bims-
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stein, Felsbrocken und Vulkangasen, die mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern den Hang des Vesuvs hinabrasten. Man schätzt, dass der Vesuv vier Milliarden Kubikmeter an Gestein ausspie. Der Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. war keine Einzelkatastrophe. Ein weiterer bedeutender Ausbruch mit 4.000 Toten ereignete sich im Jahre 1631. Und der Vesuv ist auch heute noch aktiv. Niemand weiß, wann das nächste Unheil geschehen und wie vernichtend es sein wird. Heutzutage leben etwa drei Millionen Menschen in der Gefahrenzone.
Kapitel 3
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In der Athener Volksversammlung waren üblicherweise Entscheidungen von der Art ja/nein, dafür/dagegen, schuldig/unschuldig zu treffen. Der Abstimmungsprozess lief daher in der Regel unproblematisch ab, weil es bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten keine besonderen Schwierigkeiten gibt: Ein einfacher Mehrheitsentscheid funktioniert. Und jedesmal, wenn aus mehr als zwei Kandidaten ein Amtsträger auszuwählen war, wurde die Entscheidung durch das Los dem Schicksal oder Gott zugeschoben. Später wurde jedoch klar, dass man Wahlen zwischen mehr als zwei Alternativen nicht vermeiden kann. In solchen Fällen fiel es den Wählern oft schwer sich auf einen Sieger zu einigen. Viele Einrichtungen wollten wichtige Entscheidungen nicht dem Los (oder dem Glück oder Gott) überlassen und stellten im Laufe der Zeit ihre eigenen Regeln auf. Nach und nach wurden spezielle Methoden eingeführt, um Kaiser, Päpste oder die Dogen von Venedig zu wählen. Aber nicht immer fanden diese Hausordnungen den Zuspruch von allen. Plinius mag der erste gewesen sein, der eine dreiwertige Entscheidung organisierte und manipulierte, aber dies ist nur das frühest bekannte Beispiel einer problematischen Abstimmung — unzählige andere folgten. So herrschten beispielsweise dreizehn Jahrhunderte nach Plinius während des päpstlichen Schismas von 1378 bis 1417 erst zwei und dann zeitweise sogar drei Päpste über ihre Herde. Im Laufe des Mittelalters wurde die Notwendigkeit von ausgeklügelteren Wahlverfahren offensichtlich. Bis vor kurzem glaubten die Forscher, dass das Interesse an einer Theorie der Abstimmungen und Wahlen erst zur Zeit der Französischen Revolution gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts einsetzte. Doch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fanden Mediävisten in der Vatikanischen Bibliothek und andernorts Manuskripte, aus denen überraschenderweise hervorgeht, dass man darüber bereits ein halbes Jahrtausend zuvor nachgedacht und raffinierte Ideen entwickelt hatte. Soweit man heute weiß, findet sich die erste Erwähnung einer anderen Abstimmungsmethode als nur des einfachen Mehrheitsentscheids im dreizehnten Jahrhundert bei dem spanischen Theologen und Philosophen Ramon Llull. Llull, der auch als Raimundus Lullus oder Raimundo Lulio bekannt ist, wurde um 1232 in Palma de Mallorca geboren. Heutige Gelehrte sehen in ihm einen der einflussreichsten Intellektuellen des Mittelalters. Er entstammte einer wohlhabenG.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_3,
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den katalanischen Familie. Sein Vater hatte König Jaume I. (Jakob I.) von Aragón bei der Eroberung der Insel Mallorca geholfen und dafür ein wertvolles Landgut erhalten. Natürlich trat auch der Sohn dieses loyalen Untertanen in die Dienste des Königs ein. Er wurde Truchsess, also Oberverwalter der königlichen Hofhaltung, am Hof von Prinz Jakob, der später als Jakob II. König von Mallorca wurde. Mit 33 Jahren aber kehrte Llull völlig unerwartet dem weltlichen Leben am Hof den Rücken und wurde Mönch, Missionar und Philosoph. Während seines langen Lebens schrieb Llull etwa 260 Abhandlungen über Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften und Mathematik. Tatsächlich beanspruchte er aber nicht immer die Urheberschaft an dem, was er geschrieben hatte. Mindestens einmal geschah es, „dass Gott plötzlich seinen Geist erleuchtete [...] und ihm die Art und Weise mitteilte, das [...] Buch gegen die Irrtümer der Ungläubigen zu verfassen“1 , schreibt er in seiner Autobiografie. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde er auch mit dem Titel „Doctor Illuminatus“ (erleuchteter Lehrer) bezeichnet. Seine halb–mathematischen Argumentationen beruhen oft auf kombinatorischen Techniken und einem selbsterfundenen logischen System, das er auch für die Suche nach ethischen und theologischen Wahrheiten anwandte. Daraus ergab sich übrigens ein tiefgehender Einfluss auf Gottfried Wilhelm Leibniz. Nachdem dieser große Philosoph des siebzehnten Jahrhunderts Llulls Schriften studiert hatte, kam er zu der Überzeugung, dass die Philosophen irgendwann in der Zukunft ihre Kontroversen wie Buchhalter lösen würden: durch Rechenmaschinen. In den Bücherregalen von Leibniz’ Rivalen Isaac Newton in England befanden sich ebenfalls einige Werke Llulls. Wenn zwischen mehreren Alternativen eine Wahl zu treffen ist, fasst Llull die Möglichkeiten gerne paarweise zusammen um Zweiervergleiche zwischen jedem Paar anzustellen. (Wir werden gleich sehen, dass diese Entscheidungstechnik die Grundlage für seinen Vorschlag eines Wahlverfahrens bildet.) Die Zahl Zwei und ihre Potenzen bildeten für Llull eine Quelle andauernder Faszination und dies Jahrhunderte vor dem Computerzeitalter, in dem das Binärsystem allgegenwärtig ist. In seinem Versuch, alles binär zu machen, hielt er auch vor den Türen der Kirche nicht an und vielleicht hat er sogar mit dem Gedanken gespielt, die grundlegendste Lehre des christlichen Glaubens, die Trinität, dem Binärsystem anzupassen. Indem er Maria zu Vater, Sohn und Heiligem Geist hinzufügte, so wird behauptet, habe er die Heilige Dreieinigkeit zu einer Heiligen Viereinigkeit oder, in moderner Ausdrucksweise, zu einer Heiligen 22 -Einigkeit machen wollen. Solch revolutionäres Rütteln an allgemein anerkannten Prinzipien passte der Kirchenverwaltung nicht in den Kram und er wurde bald zurückgepfiffen. Unter anderem wegen seiner Faszination für die Zahl 2 und ihre Potenzen wird Llull als ein Vorreiter der Informatik angesehen. Llull gilt auch als Vater der katalanischen Literatur. Zunächst versuchte er sich als (schließlich gescheiterter) Troubadour, dann schrieb er Belletristik, als Hauptwerk den christlichen Bildungsroman Blanquerna, über den ich später noch mehr zu sagen habe. 1 Übersetzung zitiert nach der Einführung von A. Fidora zu Llulls Ars brevis, Meiner: Hamburg 1999.
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In seinen Beiträgen zur Theorie des Abstimmens war Llull von der Überzeugung geleitet, dass stets irgendwo da draußen die göttliche Wahrheit liege — für jedes Entscheidungsproblem die eine und einzige gottgegebene Antwort. Die Wähler müssten sich nur zu dieser Wahrheit vortasten. Wenn sie vollständig ehrlich wären, würden sie so den besten Kandidaten oder die zu bevorzugende Alternative ausfindig machen. Aber die Menschen sind sündig und dies hält sie immer wieder davon ab, die Wahrheit zu erkennen. Also müssen Methoden entwickelt werden, die es trotz der Unzulänglichkeiten den Wähler erlauben würden, Gottes Willen zu entdecken. Llulls Ziel lag darin, solche Methoden aufzufinden. Die Auswahl zwischen zwei Alternativen bzw. Stichwahlen zwischen zwei Kandidaten bilden den Kern von Llulls Abstimmungsmethode. In drei Texten seiner zahlreichen Schriften finden sich Erörterungen über das Wählen. Einer davon war all die Jahrhunderte lang verfügbar, aber niemand hat davon Notiz genommen. Die andern beiden sind ziemlich neue Entdeckungen. Die erste Quelle, über die ich berichten will, ist der schon immer zugänglich gewesene Erbauungsroman Libre d’Evast e d’Aloma e de Blanquerna, den Llull 1283 in Montpellier schrieb. Er ist dank eines ganzen Kapitels über Wahlen von besonderem Interesse für uns. Der Titel bezieht sich auf einen jungen Mann namens Blanquerna, Sohn des wohlhabenden Evast und der schönen Aloma. Libre ist ein Erziehungsbuch für Eltern des dreizehnten Jahrhunderts, wobei Llull den mittelalterlichen Dr. Benjamin Spock spielt. In den ersten Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit den besten Fütterungspraktiken für Säuglinge und damit, wie man ein Kind großzieht. Als Blanquerna volljährig wird, will er Einsiedler werden. Dies gefällt seiner Mutter nicht, die sich wohl eine große Enkelschar erhofft. Sie tut sich heimlich mit einer Freundin zusammen, die mit ihrer Tochter Natana ein ähnliches Problem hat, und die beiden jungen Leute werden zusammengebracht. Wie geplant, verlieben sich die beiden ineinander und die Familien freuen sich auf die Hochzeit. Es droht kein Familiendrama à la Romeo und Julia, denn alle sind sich einig, dass Blanquerna und Natana als Paar vom Himmel zusammengeführt wurden. Wo also liegt das Problem? Nun, der Himmel hat zwar nichts gegen die beiden, aber das Paar selbst sträubt sich. Blanquerna und seine Freundin sind beide ebenso fromm wie verliebt. Und wie wir es von einem christlichen Roman erwarten dürfen, siegt der Glaube über die Leidenschaft. Die Hochzeit wird abgeblasen und die beiden jungen Leute widmen den Rest ihres Lebens der Kirche. Sie steigen in der Kirchenhierarchie auf und irgendwann wird Natana Äbtissin eines Klosters. Blanquerna ist sogar für noch Größeres vorgesehen, aber zunächst wird sein Glaube ernsthaft auf die Probe gestellt. In einer der Prüfungen begegnet er einem Ritter, der gerade ein Mädchen gegen ihren Willen zu entführen sucht. Ihre Hilfeschreie verhallen nicht ungehört in Blanquernas Ohren, und mit nichts anderem als seinem Glauben bewaffnet, schafft es der Mönch, mit seinen rhetorischen Fähigkeiten den Ritter niederzuringen. Natürlich wäre die junge Frau gerne bereit ihre Dankbarkeit zu beweisen, aber Blanquerna bleibt seinem Zölibatsschwur treu und liefert sie unangetastet zu Hause ab. Der tugendhafte junge Mann widersteht zahlreichen anderen Verführungen und Heimsuchungen und wird schließlich zum Abt seines Klosters gewählt. Er klettert auf der kirchlichen Karriereleiter weiter empor
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und wird erst Bischof, dann Erzbischof. Der Aufstieg geschieht aber nicht reibungslos. Kurz bevor er zum Bischof gewählt werden soll, erzählt sein Gegner, der Archidiakon, seinen Unterstützern, dass Blanquerna vorhabe sie zur Keuschheit, zur Armut und zum Gehorsam zu verpflichten. Die Wahl findet statt, und da es nur zwei Kandidaten gibt, reicht eine einfache Mehrheit aus. Die meisten stimmen für Blanquerna, aber eine Minderheit vornehmer Männer, die den Archidiakon unterstützen und ein Leben ohne Frauen oder ohne Geld nicht schätzen würden, erkennen das Ergebnis nicht an. Es kommt zu einer Auseinandersetzung und beide Seiten tragen die Angelegenheit vor den Papst, der natürlich zu Blanquernas Gunsten entscheidet. Später sollte der rechtschaffene Blanquerna sogar selbst Papst werden. Aber als er den Gipfel erreicht, hat er genug von all dem und beschließt seinen Jugendtraum zu verwirklichen und Einsiedler zu werden. Uns interessiert Kapitel 24 des Romans. Darin stellt Llull seine Abstimmungsmethode vor. Das Kapitel ist überschrieben mit „En qual manera Natana fu eleta a abadessa“ (Wie Natana zur Äbtissin gewählt wurde). Die alte Oberin des Klosters ist verstorben und eine neue Leiterin muss gewählt werden. Mit den herkömmlichen Wahlmethoden unzufrieden, erzählt Natana ihren Mitnonnen von einem neuen Verfahren, von dem sie gehört habe. Es findet sich in der Abhandlung „Die Kunst der Wahrheitsfindung“ von — natürlich! — Ramon Llull und erlaubt es diejenige Schwester zu finden, „die die geeignetste und beste ist, um Äbtissin zu werden“2 , ohne dabei die Möglichkeit eines Fehlers zuzulassen. Natana beschreibt dann ihren Mitschwestern dieses zweistufige Verfahren. Zu Beginn muss zunächst jede Schwester beeiden, dass sie die Wahrheit sagen werde. Dann ist kein Schwindel möglich, kein Stimmenkauf und keine abgekartete Sache, denn alles ist dem Allmächtigen sichtbar, und daher werden die Nonnen tatsächlich getreu ihrer tatsächlichen Meinungen über ihre Mitschwestern abstimmen. Der erste Schritt besteht darin, eine ungerade Anzahl von Wählerinnen aus den zwanzig Nonnen des Konvents zu bestimmen, die dann alle automatisch Kandidatinnen für die Führungsposition sind. Natana schlägt vor, dass es sieben Wählerinnen sein sollten, gibt aber keinen Grund für diese bestimmte Zahl an, außer dass sie besser als fünf sei. Womöglich sind hier Einflüsse aus Mythologie, Kultur, Religion oder Aberglaube eingegangen, in denen die Zahl Sieben stark verwurzelt ist: Es gibt sieben Wochentage, sieben Weltwunder, sieben Todsünden und sieben Kardinaltugenden. Natana erklärt nicht einmal, warum die Menge der Wählenden überhaupt reduziert werden sollte und nicht alle zwanzig genommen werden. Vielleicht wollte sie den höherqualifizierten, den klügeren oder verdienteren Nonnen ein größeres Mitspracherecht einräumen. Vielleicht soll dadurch die zweite Stufe des Verfahrens etwas praktikabler werden, in welcher der ziemlich langwierige tatsächliche Auswahlprozess geschieht. Wie auch immer, es sollten sieben sein. Also werden die zwanzig Schwestern befragt, welche der sieben Nonnen am geeignetsten wären um die Oberin zu wählen bzw. zu ihr gewählt zu werden. Die sieben Nonnen mit den meisten Stimmen sind dann diejenigen, welche sowohl zur Wahl stehen als auch die Äbtissin wählen werden. Es könnte aber noch sein, dass die 2
Zitate aus Blanquerna nach www.uni-augsburg.de/llull/
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sieben Schwestern andere Nonnen als ebenso würdig ansehen und der Kandidatenliste anfügen möchten. Daher dürfen sie weitere Schwestern hinzunehmen und zwar gemäß Natanas Vorschlag bis zu zwei. Nun gibt es zusammen neun Kandidatinnen, von denen sieben auch wählen dürfen. Nachdem diese Vorbereitungen abgehandelt sind, kann das eigentliche Verfahren starten. Die elf Schwestern, die weder Kandidatinnen noch Wählerinnen sind, können entspannt dem Ganzen zuschauen. Die charakteristische Besonderheit von Llulls Methode zeigt sich nun im zweiten Teil. Im Gegensatz zu traditionellen Verfahren stehen die neun Kandidatinnen nicht zusammen zur Wahl, sondern jede Nonne auf der Kandidatenliste muss in einer Reihe von Zweierwahlen gegen jede andere antreten. Dafür wird eine Tabelle vorbereitet, in der die Zwischenergebnisse festgehalten werden. Dann tritt jeweils ein Paar von Nonnen vor den Wählerinnen an und diese entscheiden, welche der beiden die geeignetere ist. In jedem der Zweikämpfe bekommt die Siegerin einen Punkt, der auf der Merkliste in das Kästchen („Zelle“) hinter ihrem Namen eingetragen wird. Da es neun Bewerberinnen um die Stellung gibt, muss jede einzelne acht Mal antreten, nämlich gegen jede Mitbewerberin einmal. Zusammen sind dies 36 Paarungen. (Die erste Nonne muss gegen acht Mitbewerberinnen antreten, die zweite Nonne gegen sieben andere, und so weiter. Zusammen sind dies 8 + 7 + 6 + 5 + 4 + 3 + 2 + 1 = 36 Paarungen. Für die mathematisch Interessierteren: Falls n die Anzahl der Kandidaten ist, so ist die Anzahl der Paare n(n − 1)/2.) Nachdem alle Paare begutachtet sind, werden die Punkte zusammengezählt und diejenige Schwester „sei gewählt, die die meisten Stimmen in den meisten Zellen hat“. Falls eine der Nonnen ihren acht Mitbewerberinnen so überlegen ist, dass sie jedes Duell gewinnt, dann erreicht sie den Maximalwert von acht Punkten. Aber um die neue Oberin zu werden muss man nicht alle acht Einzelentscheidungen gewinnen. Es reicht schon aus, mehr Punkte als jede andere der Schwestern zusammenzubekommen. Es kann natürlich Unentschieden geben. Es sind sogar zwei Arten von Unentschieden möglich: Die eine Art wird von Llull betrachtet, die andere übergeht er. Die erste Art von Unentschieden entsteht, wenn zwei oder mehr Schwestern die gleiche Anzahl von Paarungen für sich entscheiden. In diesem Fall, so Llull, muss zwischen all den Schwestern, die die höchste Punktzahl erreicht haben, eine weitere Wahl in der gleichen Art durchgeführt werden. Und was, wenn dann wieder ein Unentschieden vorliegt? Diese Möglichkeit, die bei einem engen Konkurrenzkampf wieder und wieder auftreten könnte, wurde von Llull nicht bedacht. Anscheinend sah er die Wahrscheinlichkeit für solch einen Vorfall als zu gering an. Aber auch eine andere Art von Unentschieden kann auftreten, nämlich in den Zweierentscheidungen selbst. Es ist denkbar, dass zwei Kandidatinnen, wenn sie gegeneinander antreten, die gleiche Anzahl von Stimmen erhalten. Llull hat einen Versuch unternommen diese Möglichkeit zu umgehen, indem er auf einer ungeraden Anzahl von Wählerinnen bestand. Aber er irrte. Dadurch, dass er bis zu zwei Schwestern als zusätzliche Kandidatinnen erlaubte, unterlief er seine Absicht, eine ungerade Anzahl von Wählerinnen zu haben. Denn wenn eine der sieben Wählerinnen mit einer der zusätzlichen Kandidatinnen zur Wahl steht, wird die Entscheidung über die Siegerin von sechs Wählerinnen gefällt. In diesem Fall könnte das Ergebnis
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3 : 3 lauten und es gäbe keine Gewinnerin des Duells. Llull geht auf diese Möglichkeit nicht ein. Dieser Mangel scheint Llull nicht gestört zu haben, denn er erklärt in der Person Natanas, dass mit der vorgeschlagenen Wahlmethode kein Irrtum oder Fehler geschehen könne. Das Verfahren ist dazu gedacht, Gottes Willen offenzulegen. Da die Gewinnerin mit jeder der anderen Kandidatinnen verglichen wurde und häufiger für besser befunden wurde als jede andere Bewerberin, muss sie offensichtlich diejenige sein, welche Gott als die würdigste für die neue Aufgabe erachtet. Wie oben schon erwähnt, muss die Siegerin nicht in jeder einzelnen Zweierentscheidung gewinnen. Es reicht, dass sie mehr Duelle als jede andere der Kandidatinnen gewinnt. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass die schließlich neu gewählte Äbtissin in manchen Zweierentscheidungen als weniger geeignet für die Aufgabe angesehen wurde als andere Nonnen. Zurück zum Roman. Natürlich kam, was kommen musste, und Natana wird zur Äbtissin gewählt. Nun hat ja schon die Kapitelüberschrift den Ausgang der Wahl verraten, aber Llulls Absicht war ja auch weniger zu erzählen, wer als neue Äbtissin gewählt wurde, sondern wie es geschah. Die neu gewählte Oberin fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, durch ein von ihr selbst vorgeschlagenes Verfahren gewählt worden zu sein. Schließlich könnten die unterlegenen Kandidatinnen den Verdacht hegen, Natana habe das Verfahren vorgeschlagen, weil es sie begünstigte. Um die Zweifel zu zerstreuen — wenn auch nicht über die Methode, so doch wenigstens über das Ergebnis — bestand Natana auf einer Nachzählung der 36 Zweiervergleiche. Erst nachdem kein Fehler gefunden wurde, war sie bereit das Amt anzunehmen. Bevor wir fortfahren, müssen wir noch einen Aspekt betrachten. Es gibt einen etwas unklaren Satz in der Roman, aufgrund dessen die Frage aufkam, ob Llull nicht eine etwas andere Methode im Sinn gehabt haben könnte. In der Erläuterung der Äbtissinnenwahl schreibt Llull in Blanquerna: „e sia elet aquel qui haurá mes veus en mes cambres“, zu Deutsch: „Und diejenige sei gewählt, die die meisten Stimmen in den meisten Zellen hat“. Die meisten Stimmen in den meisten Zellen? Dies ist zweideutig. Sollen die Siege so gezählt werden, wie wir es gerade beschrieben haben? Oder meint Llull, dass für jede Kandidatin die Gesamtzahl der Stimmen, die sie von allen Wählerinnen in allen Duellen bekam, gezählt werden soll? Um dies zu veranschaulichen, nehmen wir einmal an Schwester Anna habe fünf Entscheidungen mit fünf gegen zwei Stimmen gewonnen und drei Duelle mit drei gegen vier Stimmen verloren. Schwester Berta dagegen gewinnt sechs ihrer Duelle mit vier gegen drei Stimmen und verliert zwei mit einer Stimme gegen sechs. Falls die Anzahl der Gewinne zählt, so wird Schwester Berta Äbtissin mit ihren sechs Siegen gegenüber den fünfen von Anna. Ist aber die Stimmenanzahl jeder Kandidatin das entscheidende Kriterium, so ist Anna mit einer Gesamtzahl von 34 Stimmen die Gewinnerin und Schwester Berta verliert, da sie nur 26 Stimmen zusammenbekommt. Die Unklarheit kommt daher, dass veus sowohl „Wählerstimmen“ als auch „Gewinnpunkte“ bedeuten kann. Der erste, der auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat, war Martin Honecker, ein deutscher Philosoph und Experte für Llulls Hand-
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schriften. Die Begeisterung und die Fähigkeiten des begierigen Mittelalterforschers und Philologen erstreckten sich unglücklicherweise nicht auf Fragen des Quantitativen, und so brachte er einiges durcheinander. In seiner Erklärung von Llulls Text schreibt er: „Wer nun dabei in allen Wahlgängen zusammen die meisten Stimmern erhalten, d.h. in den meisten Einzelwahlen gesiegt hat, gilt als gewählt“. Nun ist „die meisten Stimmen erhalten“ aber etwas anderes als „in den meisten Einzelwahlen gesiegt“ zu haben. Aus dem ersten Teil von Honeckers Satz folgt nicht der zweite. Man würde erwarten, dass Philosophen in der Interpretation von Texten bewanderter sind, auch wenn diese ein wenig Mathematik enthalten. Aber andererseits gibt es auch viele Mathematiker mit unzureichendem Verständnis für philosophische Inhalte. Schließlich rückte Friedrich Pukelsheim, Professor in Augsburg, die Angelegenheit zurecht. Er bestand darauf, dass nicht die Stimmen zählen, sondern die Siege. Zur Verteidigung der Position von „ein Sieg = ein Punkt“ verwies er auf den folgenden Satz aus Blanquerna: „Und unter Geheimhaltung werde [in jeder Runde] niedergeschrieben, wer mehr Stimmen erhält.“ Da nur der Name des Gewinners jedes Duells niedergeschrieben wird und nicht die Anzahl der Stimmen, argumentiert er, dass es die Anzahl der Gewinne ist, welche darüber entscheidet, wer Abt, Äbtissin oder Bischof wird. Der zweite Text von Llull, der die Wahlmethode ausführlicher darstellt, geht dem Roman Blanquerna um acht bis zehn Jahre voraus. Es handelt sich um das Traktat Artifitium Electionis Personarum (Methode zur Personenwahl). Die einzige bekannte Kopie des Werkes wurde 1959 von dem Gelehrten Llorenç Pérez Martinez in der Vatikanischen Bibliothek entdeckt. Sie ist Teil eines Handschriftenbündels, das insgesamt als „Codex Vaticanus Latinus 9332“ bekannt ist. Man weiß nicht, wann diese Schriften in den Besitz der Vatikanischen Bibliothek übergingen. Im fünfzehnten Jahrhundert gehörten die Blätter Pier Leoni da Spoleto, Astrologe und Hofarzt von Lorenzo de’ Medici, der auch „Lorenzo il Magnifico“ genannt wird. Der Kodex ist nicht leicht zu lesen. Im fünfzehnten Jahrhundert konnte man nicht einfach so Bücher kaufen um eine Bibliothek aufzubauen: Man musste entweder selbst Bücher verfassen oder welche abschreiben. Das Schreiben und die Kalligrafie waren regelrechte Künste, die durch stumpfe Federn und klecksende Tinte erschwert wurden. Selbst geschickte Kopisten hatten keine leichte Aufgabe. Wahrscheinlich war es der Arzt selbst, der das Manuskript von dem verlorenen Original abschrieb — „abgekritzelt“ wäre vielleicht ein zutreffenderes Wort. Leoni da Spoletos Manuskript ist äußerst schwer zu erforschen; es bedurfte der gemeinsamen Anstrengung von Philologen und Handschriftenexperten, um die unklare Schrift zu entziffern und den Sinn der vielen Abkürzungen zu erkennen. Teile des Textes mussten Buchstabe für Buchstabe erarbeitet werden. Das Traktat trägt keine Überschrift; sein Titel kann nur aus dem Schlusssatz abgeleitet werden: „Hier endet die Methode zur Personenwahl.“ Das Verfahren, welches Llull in Artifitium Electionis Personarum vorschlägt, stimmt mit dem in Blanquerna beschriebenen überein, aber in jenem Text geht er zudem ausführlich auf Unentschieden ein. Dies ist einigermaßen überraschend, da Artifitium ja vor Blanquerna geschrieben wurde. Als er den Roman verfasste, hatte
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Llull anscheinend vergessen, was er acht oder zehn Jahre zuvor geschrieben hatte. Für den Fall, dass die Stimmen sich in einem Duell gleichmäßig auf die beiden Kandidaten verteilen, schlägt Llull vor, jedem der beiden Kandidaten einen Gewinnpunkt zuzuteilen. Dies bedeutet, dass sie so behandelt werden, als hätten beide gewonnen. Das klingt fair, oder? Aber warum nicht beiden Kandidaten keinen Punkt geben, so als hätten beide verloren? Würde das nicht das Gleiche ergeben? Die Antwort darauf lautet: nein. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen den zwei Möglichkeiten, beiden einen Punkt oder keinem einen Punkt zu vergeben. Nach Llulls Vorschlag haben Bewerber, die in einer oder mehreren Konfrontationen ein Unentschieden erreichen, am Ende beim Zusammenzählen der Punkte einen Vorteil gegenüber anderen Mitbewerbern. In den meisten Fällen mag dies in Ordnung gehen, aber nicht in folgendem Szenario: Ein mittelmäßiger Kandidat, der mit vielen Mitbewerbern ein Unentschieden erwirkt, könnte ebensoviele Punkte erlangen wie ein hochrangiger Kandidat, der fast alle Zweikämpfe gewinnt. Wie im Fall von Schwester Caecilia, die sechs Duelle gewinnt und ein Unentschieden erreicht, wogegen es bei Schwester Dorothea sieben Mal zu einem Gleichstand kommt. Nach Punkten steht es dann insgesamt unentschieden zwischen beiden. Offensichtlich dachte Llull, dass es so sein sollte. Eine gerechtere Methode würde im Falle eines Unentschiedens jeder Nonne einen halben Punkt zuweisen. Dann würde Schwester Caecilia mit 6,5 Punkten gegen Schwester Dorothea mit 3,5 Punkten gewinnen, was richtiger erscheint. Aber auf diese Idee ist Llull offensichtlich nicht gekommen. Nun zu der anderen Art von Unentschieden. Falls es in der Endauszählung zu einem Gleichstand zwischen zwei oder mehr Kandidaten kommt, so müssen diese die Halle verlassen und die Wähler entscheiden sich erneut zwischen ihnen. (Eigentlich hätten die Wähler auch die Ergebnisse der ursprünglichen Zweierentscheidungen nachschauen können, um zu sehen, wer jeweils der Gewinner war.) Falls dann wieder niemand den Sieg davon trägt, sollte der Gewinner durch Los ermittelt werden. Es mag erstaunen, dass Llull auf die Möglichkeit des Auslosens zurückgreift angesichts der christlichen Einstellung gegen Glücksspiele. Aber in diesem Fall war der fromme Theologe gewillt dem göttlichen Eingriff in die Bestimmung des Siegers freien Lauf zu lassen . . . in Gestalt des Zufalls. Llulls Wahlmethode mag zwar gerecht sein, aber sie dauert überlang. Nehmen wir einmal an, es gäbe zwanzig Kandidaten. Die ausschöpfende Suche nach dem geeignetsten Kandidaten, wie sie in Artifitium Electionis Personarum vorgeschlagen wird, erfordert eine Abfolge von 190 Zweiervergleichen (nämlich 19 + 18 + . . . + 1). Die Zeit, die man jeweils dafür benötigt — die Bewerber treten vor, die Wähler müssen abwägen und sich entscheiden und das Ergebnis wird in die Tabelle eingetragen — mag drei bis fünf Minuten betragen. Dis Dauer des gesamten Verfahrens kann daher von etwa zehn bis über fünfzehn Stunden gehen. Wenn die Kandidatenliste auf neun Personen reduziert wird, wie es in Blanquerna vorgeschlagen wird, müssen nur 36 Zweiervergleiche abgehalten werden. Dadurch ergibt sich eine bedeutende Zeitersparnis, aber die Wahl dauert immer noch zwischen zwei und drei Stunden. Es gibt einen dritten Text von Llull, der sich mit Wahlen beschäftigt. Die darin vorgeschlagene Methode ist deutlich schneller. Der Text heißt De Arte Eleccionis
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(Die Kunst des Wählens) und wurde am 1. Juli 1299 in Paris verfasst. Das Original dieses Textes ist ebenfalls verloren. Nur eine einzige handgeschriebene Kopie aus dem frühen fünfzehnten Jahrhundert hat überlebt. Sie wurde 1937 von Martin Honecker entdeckt (jenem Mittelalterforscher, der Llulls Übersetzung durcheinander brachte) und zwar in der Bibliothek des Sankt–Nikolaus–Hospitals in Bernkastel–Kues, einer hauptsächlich für ihre Moselweine bekannten Stadt. Diese Bibliothek gehörte einst dem Kardinal Nikolaus von Kues und ist heute eine der wertvollsten privaten Sammlungen der Welt. Sie enthält 314 Handschriften aus der Zeit vom neunten bis zum fünfzehnten Jahrhundert. Der Stifter der Bibliothek verbrachte das Frühjahr 1428 in Paris und studierte dort die Werke von Llull, welche dieser 130 Jahre zuvor geschrieben hatte. Vielleicht hat er De Arte Eleccionis sogar selbst abgeschrieben. Ich werde über den Kardinal und seine Arbeit im nächsten Kapitel noch mehr zu berichten haben. Da De Arte Eleccionis und Artifitium Electionis Personarum ähnliche Titel tragen, glaubten einige Forscher, die beiden Traktate wären Kopien des gleichen Originals. Die ersten, die die beiden Texte tatsächlich verglichen, waren die Informatiker Dominik Haneberg und Wolfgang Reif, der Bibliothekar Günther Hägele und zwei Mathematiker, der bereits oben erwähnte Friedrich Pukelsheim sowie Matthias Drton, alle von der Universität Augsburg. In den 1990er Jahren arbeiteten sie lange und hart an dem Versuch, den Text aus Nikolaus von Kues’ Bibliothek zu entziffern. Trotz aller ihrer Anstrengungen blieben einige Teile unlesbar oder sie fehlten gar. Sie hofften, dass der 1959 im Vatikan entdeckte Text die Lücken füllen würde. Die Professoren erbaten vom Heiligen Stuhl Fotokopien und warteten mit verhaltenem Atem auf das Paket. Als es dann ankam, waren sie zugleich freudig erregt und enttäuscht. Freudig erregt, weil sich herausstellte, dass sie den Text aus dem Vatikan noch niemals gesehen hatten. Enttäuscht, denn dies bedeutete, dass die Lücken im ersten Traktat bleiben würden. In De Arte Eleccionis beschreibt Llull eine Methode, die auf den ersten Blick nur wie eine kleine Variante dessen aussieht, was er bereits in Artifitium Electionis Personarum und in Blanquerna vorgeschlagen hatte. Aber wie gering der Unterschied auch zunächst erscheinen mag, er ist von großer Bedeutung. Während die ersten beiden Texte ein Turnier vorschlagen, in dem jeder gegen jeden anderen antritt, unterbreitet der dritte Text — Verzeihung, meine Schwestern! — ein K.-o.-System um Abt, Äbtissin, Bischof oder Papst zu wählen. Es ist effizient, schnell . . . und nicht besonders gerecht. Die Kandidaten betreten hintereinander aufgereiht die Kirche. Der erste bekommt den Buchstaben A zugewiesen, der nächste den Buchstaben B und so weiter, bis der letzte etwa den Buchstaben K bekommt. Sie setzen sich alle nieder und dann treten die ersten beiden Kandidaten A und B gegeneinander an. Die Wähler entscheiden, wen von den beiden sie bevorzugen. Der Verlierer ist aus dem Rennen, setzt sich und kann dem weiteren Geschehen zusehen. Der Gewinner, sagen wir B, kommt in die nächste Runde und und stellt sich darin dem Vergleich mit C. Wieder ist der Verlierer draußen und der Gewinner kommt in die nächste Runde. Dies geht so weiter, bis der Gewinner der vorletzten Runde gegen den letzten Kandidaten K
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antritt. Der Sieger dieses letzten Zweikampfs wird zur neuen Äbtissin, zum neuen Abt, Bischof oder Papst. Der Zeitgewinn ist dramatisch. Während die in Artifitium Electionis Personarum gepriesene Methode 190 Vergleiche braucht und zehn bis fünfzehn Stunden dauert und die Blanquerna–Methode 36 Vergleiche braucht und zwei bis drei Stunden dauert, bringt De Arte Eleccionis viel weniger Aufwand mit sich: Bei 20 Kandidaten gibt es 19 Duelle; bei neun Kandidaten nur acht. Die Wahl kann in einer halben Stunde vorüber sein. Die Zeitersparnis hat aber ihren Preis. Ich habe noch nicht erwähnt, dass die beiden ersten Vorschläge von Llull nicht nur den Spitzenkandidaten bestimmen, sondern auch eine Reihenfolge der Kandidaten, und zwar aller Kandidaten in Artifitium Electionis Personarum und derjenigen in der engeren Wahl in Blanquerna. Die Reihenfolge ergibt sich durch die Anzahl der gewonnen Zweiervergleiche. Die Person, die nach dem Sieger die nächsthöchste Anzahl an Gewinnen verbuchen kann, wird zum Vizesieger, und so weiter. Das in De Arte Eleccionis vorgeschlagene K.-o.Verfahren dagegen legt nur den Sieger fest. Zwar ging es bei der von Llull gestellten Ausgangsfrage gar nicht darum, durch das Wahlverfahren eine Reihenfolge aufzustellen, aber es kann nützlich werden. Falls die Kandidatin auf dem ersten Platz sich zum Beispiel entschließt die Ehre nicht anzunehmen oder falls sie plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, könnte einfach die Vizesiegerin einspringen. In De Arte Eleccionis wäre eine vollständige Neuwahl nötig. Neben dem Fehlen einer Reihenfolge hat die in De Arte Eleccionis vorgeschlagene Methode noch weitere Haken. Zunächst könnte jemand anderes gewinnen als nach dem Verfahren, das in den beiden ersten Texten vorgeschlagen wurde. Nur falls es einen so überlegenen Kandidaten gibt, dass er alle anderen in den Zweikämpfen schlagen würde, wäre garantiert, dass in beiden Systemen das gleiche Endergebnis herauskommt. Und nur ein wahrer Versager, also jemand, der in den Zweikämpfen von jedem anderen geschlagen würde, könnte in keinem der beiden Systeme gewählt werden. Dies sind aber auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Methoden. Abgesehen von einem allerbesten Kandidaten, der stets gewinnt — sofern es ihn gibt — und einem ganz schlechten Kandidaten — sofern es ihn gibt — ist der Ausgang völlig offen. Schließlich muss noch ein ernsthafter Einwand gegen Llulls drittes Wahlsystem angebracht werden. Die Kritik ist nicht so sehr, dass sich die Siegerinnen nach den beiden Systemen unterscheiden könnten, sondern der schwerwiegendere Mangel besteht in der Möglichkeit, die Wahl zu manipulieren. Im Gegensatz zu den beiden früheren Systemen kann De Arte Eleccionis einer zweitrangigen Kandidatin eine gute Chance einräumen, am Ende siegreich zu sein, auch wenn sie den meisten ihrer Mitbewerberinnen unterlegen ist. Durch die Festsetzung der Reihenfolge, in der die Kandidatinnen in die Kirche treten, können deren Gewinnchancen gesteigert oder vermindert werden. Beispielsweise muss die Kandidatin, die zuletzt in die Kirche kommt, also K in der Liste oben, nur die Gewinnerin der vorletzten Runde schlagen. Falls ihr dies gelingt, wird sie zur Äbtissin, gleich wie ungeeignet sie für die Stellung sein mag. Hätte sie als erste in die Kirche gehen müssen, als A, hätte sie vielleicht schon in der ersten Runde gegen B verloren. Und falls nicht, könnte
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sie in der zweiten Runde von C geschlagen werden oder in der dritten oder in der vierten. In jeder Runde könnte sie hinausfliegen. Dagegen kann eine Nonne jeder anderen unterlegen sein bis auf einer und trotzdem den Wettbewerb gewinnen. Und eine Kandidatin in der vorletzten Runde könnte das Rennen verlieren, obwohl sie aus allen vorherigen Zweikämpfen siegreich hervorgegangen ist. Anders als bei den in Blanquerna und Artifitium Electionis Personarum vorgeschlagenen Methoden, bei denen die Reihenfolge keine Rolle spielt, wäre es gemäß De Arte Eleccionis vorteilhaft später in die Kirche hineinzugehen. Man muss sich nur den Tumult an der Kirchenpforte vorstellen! Die Aspiranten müssen sich selbständig in einer Schlange anordnen, wobei jeder versuchen wird die anderen vorzulassen. Diese Art und Weise Wahlergebnisse zu beeinflussen, indem man das Hineingehen in die Kirche verzögert, ist ein frühes Beispiel von dem, was man heute Agenda Setting nennen würde. Durch Festlegung der Reihenfolge der Kandidaten oder der Alternativen, über die abzustimmen ist, kann man das Ergebnis bestimmen oder zumindest beeinflussen. Es gibt allerding einen Ausweg, so überraschend es auch klingen mag. Falls bei der Wahl zwei Bedingungen erfüllt sind, dann ist das Verfahren allen Kandidaten gegenüber gerecht und es wird stets der Kandidat gewählt, der es am meisten verdient. Die erste Bedingung ist, dass es eine wahre, gottgegebene Rangfolge der Kandidaten gibt. Die zweite Bedingung ist, dass mindestens die Hälfte der Wähler diese Wahrheit erkennt. Falls diese beiden Bedingungen erfüllt sind, dann wird immer der beste Kandidat gewinnen, gleich welche Wahlmethode angewandt wird und unabhängig von der Reihenfolge, in der sich die Kandidaten den Duellen stellen. In den Zweierentscheidungen wird die Mehrheit der Wähler immer den besseren Kandidaten heraussuchen, ungeachtet der Reihenfolge, in der sich die Kandidaten präsentieren, so dass jeder Kandidat am Ende an die richtige Position im Ranking gleitet. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, tritt das Problem auf, dass Entscheidungen zwischen zwei Kandidaten sich nicht auf drei oder mehr Kandidaten übertragen. Sie sind nicht transitiv. Was bedeutet dieser Begriff? Ich werde ihn an einem Beispiel erläutern. Da ein Elefant schwerer ist als ein Pferd und ein Pferd mehr wiegt als ein Hund, muss man Hund und Elefant nicht mehr auf eine Waage stellen um herauszufinden, welcher von beiden schwerer ist. Gewicht ist eine transitive Eigenschaft von Gegenständen und daher wissen wir, dass der Dickhäuter schwerer als das Haustier ist, ohne ihre Gewichte direkt vergleichen zu müssen. Transitivität gibt es in vielen Alltagssituationen, aber nicht immer. Steigen wir in einen Boxring um Intransitivität zu veranschaulichen: Falls Hasim Rahman Lennox Lewis k.o. schlägt und Lennox Lewis wiederum Mike Tyson, muss dies dann notwendigerweise mit sich bringen, dass Hasim Rahman in einem direkten Kampf Mike Tyson besiegt? Nein, offensichtlich nicht. Iron Mike könnte einen Trick aus dem Hut zaubern, um Hasim Rahman zu Boden zu bringen (zum Beispiel Hasims Ohr abzubeißen). Dies ist mit Intransitivität gemeint: Ohne den dritten Kampf wird man niemals wissen, welcher der beiden der bessere Boxer ist. Der ewige Reiz — oder die endlose Langeweile — des Schere–Stein–Papier–Spiels beruht auch auf der Intransitivität. Das Papier umwickelt den Stein, der Stein zerkratzt die Schere und die Schere zerschneidet das Papier. Keines der dreien ist den andern völlig über-
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legen, die Vorzüge bewegen sich immer wieder im Kreis herum. Manchmal wird Intransitivität auch in das Pokerspiel eingebaut. Üblicherweise ist der Royal Flush die höchste Kartenkombination, die ein Spieler erhalten kann. Um dem Spiel jede absolute Sicherheit zu nehmen, spielen aber manche nach der Regel, dass auch der Royal Flush geschlagen werden kann . . . durch die niedrigste Kartenkombination, ein einfaches Paar. Das Fehlen von Transitivität ist der Grund, warum keine von Llulls Wahlmethoden notwendigerweise den von der Gesamtheit der Wähler bevorzugten Abt oder die bevorzugte Äbtissin bestimmt. Falls Transitivität gilt, dann kann man problemlos das K.-o.-System für Wahlen benutzen, denn jede Person, die eine Zweierentscheidung gewinnt, hätte auch die vorangehende Entscheidung gewonnen. Aber wegen der Intransitivität kann das Problem der Kreise (oder Zirkel) nicht gelöst werden; Llulls Methoden ergeben daher nicht unbedingt einen unwidersprochenen Wahlsieger. So weit war die Sache zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts gediehen. Llulls Methode einer entweder ausschöpfenden oder teilweisen Abfolge von paarweisen Vergleichen erlaubte die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten. Daher bildeten seine Vorschläge einen großen Fortschritt im Vergleich zu den Entscheidungen mit relativer Mehrheit oder mit qualifizierter Zweidrittel–Mehrheit, wie sie seit dem Altertum in Gebrauch waren. Aber sie haben ihre Mängel. Die erste, in Blanquerna und in Artifitium Electionis Personarum verfochtene Methode ist intransitiv, was bedeutet, dass sie das Problem von auftretenden Kreisen oder Präferenzzirkeln nicht löst. Die zweite, in De Arte Eleccionis beschriebene Methode ist zudem nicht gerecht gegenüber denjenigen, die früh in die Kirche gehen. BIOGRAFISCHER ANHANG
Ramon Llull Als junger Mann war Llull für seinen üppigen Lebensstil bekannt. Er erwarb sich einen Ruf als Troubadour, der „wertlose Lieder und Gedichte schrieb und andere liederliche Dinge tat“3 , wie er es später in seiner Autobiografie beschrieb. Selbst nachdem er sich mit einer gewissen Blanca Picany verheiratet und zwei Kinder, Dominic und Magdalen, bekommen hatte, bedachte er die Damen am Hof mit unverminderter Aufmerksamkeit. Eines Tages aber, als er dreißig Jahre alt war, änderte eine Vision vollständig sein Leben: Er sah in 3
einer Erscheinung Christus am Kreuz. Llull beschloss die Jagd nach den Frauen sein zu lassen und sein Leben drei Zielen zu widmen: Erstens „bereit zu sein, für Christus zu sterben bei der Bekehrung der Ungläubigen zu Seinem Dienst“, zweitens „ein Buch gegen die Ungläubigen zu schreiben, das beste in der Welt“ und drittens „die Einrichtung von Klöstern zu bewirken, in denen verschiedene Sprachen gelernt werden könnten“. Der Grund für das dritte Ziel wird gleich klar werden. Nachdem er sich zu diesem „Berufswechsel“ entschieden hatte,
Dieses und die folgenden Zitate aus dem Englischen übersetzt.
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verkaufte er seinen ganzen Besitz (bis auf einen kleinen Teil, der seiner Familie zum Lebensunterhalt dienen sollte), sagte seiner Frau und seinen Kindern Lebewohl, verließ das fröhliche Treiben am Hof und widmete sich von nun an einer mönchischen Lebensweise. Llull wurde geradezu besessen von dem Ziel, Muslime und Juden zum Christentum zu bekehren, und widmete ihm seine ganze Kraft. Er entschloss sich zu einer neuen und zu seiner Zeit einzigartigen Herangehensweise. Anstatt den Ungläubigen einfach plump zu verkünden, dass die christliche Doktrin ihren Grundlehren überlegen sei — ein üblicherweise von Feuer und Schwert begleitetes Argument —, versuchte Llull sie durch Gespräche und vernünftige Argumente zur Erleuchtung zu führen. Auch wenn blutige Kreuzzüge vielleicht unvermeidbar wären, so sollten sie seiner Meinung nach doch von Überzeugungsversuchen begleitet sein. Aber bevor er seine feinsinnige Bekehrungsmethode anwenden konnte, machte er eine bedeutende Entdeckung: Um Muslime missionieren zu können, müsste er erst Arabisch lernen. Aus diesem Grunde setzte er sich das Ziel, Sprachschulen zu gründen. Er machte sich sofort daran, Arabisch zu lernen, und stellte einen muslimischen Sklaven ein, der ihn unterrichten sollte. Aber während der ersten Unterrichtsstunden geschah ein Unglück. Die Sitzungen beschränkten sich nämlich nicht nur auf Grammatik und Syntax, sondern weiteten sich auf Glaubensfragen aus. Bei einer Gelegenheit entwich dem Sklaven eine Blasphemie. Es folgte eine Auseinandersetzung, in der sie sich so erhitzten, dass Llull ihn schlug, worauf der Sklave ein Schwert auftrieb und seinen Herrn töten wollte.
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Aber Llull war kein zaghafter Mönch. Obwohl er eine ernsthafte Bauchverletzung erlitten hatte, gelang es ihm zusammen mit den herbeigelaufenen Dienern, den aggressiven Sklaven zu überwältigen und ihn einzusperren. Während er noch darüber nachdachte, was zu tun sei, nahm das Unheil seinen Lauf: Der Sklave erhängte sich in seiner Zelle. Für Llull war dies ein Unglück und eine Erleichterung zugleich. Ein Unglück, weil er den Ungläubigen vor seinem Tod nicht überzeugen konnte, und eine Erleichterung, weil ihm die Entscheidung, was mit dem gotteslästerlichen Sklaven zu tun sei, aus den Händen genommen war. Llull danke Gott und setzte sich anschließend für die Einrichtung von Sprachschulen ein, damit Missionare unter ruhigeren Umständen Arabisch lernen konnten, bevor sie sich auf Missionsreisen begaben. Auf sein Drängen hin gründete König Jakob I. von Aragón in Llulls Heimat Mallorca eine Schule für das Studium orientalischer Sprachen. Der erste Jahrgang bestand aus dreizehn Franziskanern, die auch die sieben Freien Künste und Theologie und Islamlehre studierten. Außerdem widmeten sie sich einem intensiven Studium von Llulls Werk Ars inveniendi veritas (Kunst der Wahrheitsfindung). Etwa dreißig Jahre später richtete das Konzil von Vienne (1311–1312) an den Universitäten von Paris, Bologna, Oxford und Salamanca Lehrstühle für orientalische Sprachen ein. Llulls missionarische Strategie bestand nicht darin, die Lehrmeinungen der „Ungläubigen“ durch Argumente zu widerlegen, die auf heiligen Texten beruhten, an die er glaubte. Ihm war klar, dass es in der Regel erfolglos bleiben würde, wenn man Juden und Muslime dadurch zu bekehren versuchte, dass
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man auf die vorgebliche Überlegenheit der christlichen Texte verwies und ihnen die angeblichen Irrtümer des Talmuds bzw. des Korans unter die Nase rieb. Er suchte vielmehr nach der gemeinsamen Grundlage. Schließlich gab es eine ganze Menge an Übereinstimmungen zwischen den drei Religionen: Sie glauben an einen einzigen Gott, sie haben ähnliche Vorstellungen von Tugenden und Lastern, und natürlich wusste jeder, dass die Erde das Zentrum des Universums bildete. Llull war davon überzeugt, dass die drei monotheistischen Religionen denselben Gott anbeten, nur in verschiedener Art der Anbetung. Heutzutage wird Llull als einer der tolerantesten Theologen des Mittelalters angesehen. Wohlgemerkt, er war nicht geneigt den anderen Religionen ein Existenzrecht zuzubilligen — das hieße, von einem mittelalterlichen Theologen zu viel zu erwarten. Aber er erkannte an, dass es gelehrte Juden und Muslime gab. Wenn sie ihm nur zuhören würden, so dachte er, würde ihnen bald klar werden, dass die christliche Lehre einfach allem überlegen war, an das sie glaubten. Seine Schwierigkeit bestand darin, dass nicht alle bereit waren zuzuhören. Aber zu einer Zeit, in der die bevorzugte Methode der Glaubensverbreitung darin bestand, ewige Wahrheiten in die Ungläubigen hineinzuprügeln, war Llulls sanfter Stil aus theologischen, wissenschaftlichen und moralischen Argumentationslinien eine ziemlich innovative Herangehensweise. Bevor Llull damit beginnen konnte, andere das Christentum zu lehren, musste er aber erst eine akademischen Berechtigung erwerben. Er studierte an den Universitäten von Montpellier und Paris und war von da an „Magister“. Nun war er bereit die Sarazenen, wie die Musli-
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me im Mittelalter genannt wurden, zu evangelisieren. Er reiste in die Hafenstadt Genua, von wo aus er sich in Richtung eines islamischen Landes einschiffen wollte, um seine neuen Fertigkeiten anzuwenden. Die Stadt summte von Gerüchten ob seiner Ankunft und die Menschen waren gehörig von Ehrfurcht erfüllt vor jenem gelehrten Mann, der sich anschickte die Ungläubigen zum Christentum zu bekehren. Aber die Dinge nahmen einen etwas anderen Lauf als geplant. Bei der ersten sich bietenden Reisegelegenheit brach er sein Versprechen. Seine Habseligkeiten und Bücher waren bereits an Bord, als er plötzlich Angst bekam, die Sarazenen könnten ihn bereits im Augenblick seiner Ankunft abschlachten oder zumindest lebenslang ins Verließ werfen. Er vergaß seine zunächst geäußerte Absicht, bei dem Versuch die Ungläubigen zu bekehren auch für Christus zu sterben bereit zu sein, und bewegte sich nicht von Genua weg. Der daraus entstande Skandal stürzte Llull in eine tiefe Depression. Er wurde für lange Zeit schwer krank. Letztendlich bot er aber all seinen Mut auf und reiste nach Tunis, wo er schließlich auch in Debatten mit islamischen Gelehrten eintreten konnte. Llull hatte aber keinen Erfolg. Vielleicht war sein Arabisch noch nicht gut genug, vielleicht fanden die Gelehrten seine Argumente nicht überzeugend genug. Wie dem auch sei, Llull wurde bald aus Tunis verbannt und für den Fall der Rückkehr mit der Todesstrafe bedroht. Dennoch kehrte er heimlich zurück in der Hoffnung, seine Mission erfüllen zu können. Er wollte einige Männer von beachtlichem Ansehen taufen, die sich bereits einverstanden erklärt hatten den christlichen Glauben anzunehmen. Aber nach drei weiteren vergeblichen Wochen, in denen ein
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anderer Christ, der Llull in Kleidung und Haltung glich, beinahe zu Tode gesteinigt wurde, reiste Llull nach Neapel ab. Er versuchte dann sein Glück auf Zypern, war aber auch dort nicht sehr erfolgreich. Nach einem Anschlag auf sein Leben verließ er die Insel und fuhr weiter. Laut einigen Berichten kam er bis nach Jerusalem, bevor er nach Europa zurückkehrte. Llull erlebte viele Abenteuer, wurde mehrmals eingekerkert, erlitt Schiffbruch oder saß sonstwie fest. Seine Argumente über die jeweiligen Verdienste der verschiedenen Glaubensrichtungen wurden mit der Zeit nicht populärer, aber er begann nicht zu wanken. „Ich war verheiratet und hatte Kinder, war hinreichend wohlhabend, ausschweifend und weltlich“, schrieb er in einem seiner letzten Werke. „All dies verließ ich bereitwillig, um Gott zu ehren, das öffentliche Wohl zu fördern und den Heiligen Glauben zu verherrlichen. Ich lernte Arabisch; mehrere Male wagte ich mich hinaus den Sarazenen zu predigen und um der Sache des Glaubens willen wurde ich verhaftet, eingekerkert und geschlagen. 45 Jahre lang habe ich daran gearbeitet, die Kirche und die christlichen Prinzen zu bewegen für das öffentliche Wohl zu handeln. Nun bin ich arm und alt, aber mein Ziel ist immer noch dasselbe und sofern es Gott gefällt, wird es bis zu meinem Tode dasselbe bleiben.“ Mit zunehmendem Alter wurde der Doctor Illuminatus, als der er nun be-
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kannt war, weniger tolerant. Die Vergeblichkeit seiner Versuche durch Vernunftgründe zu bekehren ließ ihn nach einer wirksameren Methode suchen. Schließlich setzte er sich für Kreuzzüge als der angemessenen Weise der Muslimmission ein. In der überwiegenden Zeit seines späteren Lebens versuchte er die Mächtigen davon zu überzeugen, Armeen für den heiligen Zweck aufzustellen — allerdings ohne Erfolg. Doch er gab seine Vorliebe für die sanfte Herangehensweise nie auf und wies stets darauf hin, dass Gewalt nur dann eingesetzt werden sollte, wenn sie absolut notwendig ist. Seine Teilnahme an Streitgesprächen wurde von seinen Gegnern nie mit großer Begeisterung aufgenommen. Bei einer Disputation im Jahre 1315, wiederum in Tunis, wurde der unglückliche, damals über achtzig Jahre alte Missionar von den Muslimen gesteinigt. Man ließ ihn als tot liegen, doch der übel verwundete Mann wurde von italienischen Händlern gefunden und auf ihr Schiff gebracht. Das Fahrzeug machte sich auf den Weg nach Mallorca, aber Llull konnte nur noch einen Blick auf Palma erhaschen, bevor er verschied. Es könnte aber gut sein, dass dieses letzte Kapitel seiner Lebensbeschreibung nicht ganz der Wahrheit entspricht. Wahrscheinlich wurde es von seinen Anhängern ausgeschmückt, als sie sich bei der katholischen Kirche um die Heiligsprechung Llulls bemühten.
Die Forscher der Universität Augsburg haben eine wunderbare Internetseite erstellt, auf der von den drei Texten — Artifitium Electionis Personarum, Blanquerna und De Arte Eleccionis — jeweils gleichzeitig die Originalhandschrift, eine Transkription in ordentliches Latein und Übersetzungen ins Englische, Französische oder Deutsche zu sehen sind. Jedesmal, wenn ein Nutzer auf einen Satz oder ein Wort in einem der Fenster klick, erscheinen die entsprechenden Passagen in den anderen Fenstern farblich markiert (www.uni-augsburg.de/llull).
Kapitel 4
Der Kardinal
Nach Llulls Streifzug gab es über ein Jahrhundert lang keinen Fortschritt in der Theorie der Abstimmungen und Wahlen. Dann, im Jahr 1428, entdeckte der deutsche Student Nikolaus Cusanus zufällig eine von Llulls Schriften in Paris. Er fand den Text so interessant, dass er eine Abschrift davon anfertigte, die er nach Hause mitnahm. Er begnügte sich aber nicht damit, den Text nur für den eigenen Gebrauch zu studieren, sondern ein paar Jahre später verbesserte er Llulls Methode noch und wurde dadurch zum zweiten Wegbereiter der modernen Theorie der Wahlen. Der junge Mann wurde 1401, also 102 Jahre nachdem Llull De Arte Eleccionis geschrieben hatte, als Nikolaus Krebs in der Moselstadt Kues geboren. Wegen des Namens findet sich übrigens ein Krebstier im Familienwappen. Krebs hat sich seiner kleinbürgerlichen Herkunft nie geschämt, aber als er älter wurde, fand er es angemessen sich einen nobleren Namen zuzulegen. Er begann sich „Nikolaus von Kues“ oder „Cusanus“ zu nennen — etwas klangvoller als sein ursprünglicher Name. Sein Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann in gesellschaftlichem Aufstieg und manchen Quellen zufolge ziemlich streng. Mit 15 Jahren begann Nikolaus an der Heidelberger Universität das Studium der Geisteswissenschaften. Ein Jahr später ging er nach Padua in Italien um einen Abschluss in Jura zu erwerben und dann setze er sein Studium in Köln mit Philosophie und Theologie fort. An all diesen Hochschulen benutzte er ausgiebig die Archive und entwickelte sich so zu einem äußerst gelehrten Menschen. In Cusanus’ Jugend fiel eine der unangenehmeren Episoden aus der Geschichte der katholischen Kirche: das päpstliche Schisma. Nicht weniger als drei Menschen beanspruchten Papst zu sein. Nur durch verwickelte Manöver konnten die Delegierten des Konstanzer Konzils (1414 bis 1418) das Problem lösen, indem sie schließlich die drei regierenden Heiligen Väter — Gregor XII., Benedikt XIII. und Johannes XXIII. — von ihren Heiligen Stühlen stießen. Die drei sich befehdenden Päpste abzusetzen erwies sich allerdings als der leichte Teil der Angelegenheit. Dagegen musste das Konzil auf kreative und kontroverse Wahlmethoden zurückgreifen um einen neuen Kirchenführer einzusetzen. Die italienischen Kirchenvertreter waren in großer Zahl nach Konstanz gereist um ihren bevorzugten Papst Johannes XXIII. zu unterstützen. Dadurch sahen sich die Delegierten anderer Nationen in der NotwenG.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_4,
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digkeit, auf geschickte Weise die Wahlmacht der Italiener einzudämmen. Die Franzosen etwa wollten deswegen den Wahlkörper auf die Doktoren der Theologie und auf alle anwesenden Priester ausdehnen. Aber dieser Vorschlag wurde weder von den Italienern noch von den Deutschen befürwortet, und so ging die Fehde weiter. Schließlich beschloss man die Abstimmung getrennt nach Nationen durchzuführen. Die dreiundzwanzig meist italienischen Kardinale wurden durch je fünf Abgesandte der anwesenden sechs Nationen ergänzt. Am 8. November anno dominis 1417 zogen sich die 53 Wahlmänner in das Konklave zurück, eine abgeschlossene Halle, die eigens für die Wahl vorbereitet worden war. Sie benötigten drei volle Tage, um sich auf eine Persönlichkeit aus ihren Reihen zu einigen: den römischen Kardinal Odo Colonna, aus dem Papst Martin V. wurde. Tatsächlich sind drei Tage, so viel es zunächst klingen mag, gar nicht schlecht im Vergleich zu den zwei Jahren und neun Monaten, die es gebraucht hatte um schließlich 1271 Gregor X. zu wählen. (Und selbst dann konnten die streitbaren Kardinäle aus Frankreich und Italien nur dadurch dazu gebracht werden, sich auf einen Kandidaten zu einigen, dass die Bevölkerung der Stadt Viterbo, in der die Wahl stattfand, sie auf eine Diät aus Wasser und Brot setzte.) Diese Erfahrung mag in Cusanus den Wunsch nach einer effektiveren Methode, Kirchenpersonal und andere Amtsträger zu wählen, geweckt haben. Es war bei der nächsten Versammlung der Kirchenmänner, dem 1431 von Papst Martin V. einberufenen Konzil von Basel, dass Cusanus sich zum ersten Mal einen Namen machte. Mögen die vier Jahre des Konzils von Konstanz bereits ziemlich viel und lange erscheinen, so waren sie doch nichts im Vergleich zu dem, was in Basel passieren würde. Das dortige Konzil dauerte ganze achtzehn Jahre. Cusanus reiste nach Basel, um einen Konflikt um die Wahl des Trierer Bischofs zu schlichten. Der bitter enttäuschte Wahlverlierer hatte Cusanus angestellt, um als Anwalt seine Sache zu vertreten. Zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts war noch nicht entschieden, ob der Papst oder ob das Konzil das letzte Wort in Glaubensfragen und in Fragen der Kirchenverwaltung haben sollte. Cusanus konnte sich also aussuchen, an wen er sich wenden würde. Nach reiflicher Überlegung hielt er es mit dem Konzil und ging er nach Basel, um die Angelegenheit seines Klienten zu vertreten, anstatt nach Rom zu fahren. Dies stellte sich als die falsche Wahl heraus; die Angelegeheit endete in einer Niederlage. In einer Hinsicht aber hatte dieser Rechtsfall ein positives Ergebnis für Cusanus, wenn auch nicht für seinen Klienten: Wie wir sehen werden, konnte er sich als bedeutender Gelehrter etablieren. Cusanus war zutiefst enttäuscht über die Niederlage seines Falles, aber er gab sich mit seinem Schicksal nicht ab. Im Verlauf der Verhandlungen hatte er Gefallen am Umgang mit den Kirchenmännern gefunden und entschied sich noch an Ort und Stelle das Rechtswesen aufzugeben und eine Kirchenkarriere einzuschlagen. Wie viele andere Konzilsteilnehmer liebäugelte auch Cusanus zunächst mit der Vorstellung, dass der Papst sich den Beschlüssen des Konzils zu unterwerfen habe. Aber mit der Zeit wurde er ernüchtert durch die andauernden Versuche die Anhänger des Papstes auszuschließen. Solche Anstrengungen liefen seiner Ansicht, die Kirche müsse in sich einig sein, zuwider. Fünf Jahre, nachdem er zum Basler Konzil angereist war, änderte Cusanus seine Meinung und wurde zu einem glühenden An-
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hänger des Papstes. Seine Unterstützung des Papstes beruhte jedoch nicht auf der Überzeugung, der Papst sei unfehlbar, sondern er glaubte durch den Eintritt in die Dienste des Vatikans der Einheit der Kirche am besten dienen zu können. Der Heilige Vater betraute Cusanus mit mehreren Missionen in Deutschland. Seine Aufgabe bestand darin, die Kirche, die Orden und die Klöster zu reformieren. Er wurde zu einem workaholic, aber sein Eifer und seine schonungslosen Anstrengungen wurden nicht überall geschätzt. Seine einheimischen Gegner schmähten ihn als „des Papstes Herkules wider die Deutschen“. In Rom wurde seine Arbeit allerdings hoch angesehen. Als Anerkennung für seine Errungenschaften ernannte ihn der Papst 1448 zum Kardinal. Plötzlich wurden nun auch seine Landleute stolz auf ihn und nannten ihn liebevoll den „Deutschen Kardinal“ (denn die meisten anderen Kardinäle waren natürlich Italiener). Als Würdenträger der Kirche eiferte Cusanus zunächst schonungslos gegen die Gier vieler Kirchenleute und die Anhäufung von Pfründen. Schließlich brachte er eine revolutionäre Idee auf: Amtsträger der Kirche sollten ihren Dienst kostenlos erbringen. Falls Gelder benötigt würden, sollten diese durch freiwillige Spenden erbracht werden. Dies klang sehr politically correct, bis etwas Unerwartetes passierte: Mit seinem Aufstieg zur Macht begann auch Cusanus einen Geschmack an weltlichen Reichtümern zu entwickeln. Cusanus’ Gönner, Papst Pius II., träumte von einem Kreuzzug gegen die Türken. Der Kardinal, der ganz im Geiste von Ramon Llull zur Toleranz gegenüber Juden und Muslimen neigte, hasste diese Idee. Sein Eid aber band ihn an den Papst und so folgte er den Anweisungen des Heiligen Vaters und verließ Rom, um Kreuzfahrer unter den Befehl der Kirche zu versammeln. Auf dem Weg nach Ancona in Italien, wo die Kreuzfahrerarmee sich mit der venezianischen Flotte treffen sollte, erkrankte Cusanus schwer. Am 11. August 1464 starb er in der umbrischen Stadt Todi. Seinen ganzen Besitz, darunter seine wertvolle Bibliothek, hinterließ er dem Armenhospiz seiner Heimatstadt Kues. Während des zweiten Weltkriegs verzichteten die Alliierten, die von den versteckten Schätzen der Stadt wussten, auf die Bombardierung der Gegend. So überlebte Cusanus’ einzigartige Bibliothek bis heute. In Basel schrieb Cusanus sein Hauptwerk De Concordantia Catholica („Über die allumfassende Eintracht“), mit der er sich als wahrer Gelehrter etablierte. Mit seinem Buch verfolgte er das Ziel der Einheit von Kirche und Staat. Wie ich im Anhang zu diesem Kapitel ausführe, hätte der Teil von De Concordantia Catholica, welcher ihn schließlich berühmt machte, den damaligen Machthabern heftig missfallen können. Cusanus hatte großes Glück, dass es anders kam. Eines der Themen des Buches sind Wahlen. Sein Interesse an dem Stoff entflammte 1428, als er ein verheißungsvoller junger Student war, den einer seiner Lehrer zu weiteren Studien nach Paris schickte. Cusanus reiste gehorsam in die französische Hauptstadt und nutzte ausgiebig die Angebote der Stadt. Er durchstreifte die Archive, Bibliotheken und Klöster und in einer traf er auf Llulls Manuskripte. Die Schriften des katalanischen Mystikers hatten schon immer eine gewisse Faszination auf Cusanus ausgeübt, aber was er in der Pariser Bibliothek fand, sollte einen tiefen Einfluss auf ihn ausüben. Er war so beeindruckt von Llulls De Arte Eleccionis, dass er beschloss eine Kopie davon nach Hause mitzunehmen. Andern-
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falls hätten wir nie etwas von Llulls Text erfahren, denn Cusanus’ Abschrift ist das einzige bekannte Exemplar. Fünf Jahre später, als Cusanus in Basel an De Concordantia Catholica arbeitete, tastete er sich an das Problem gerechter Wahlen heran. Zunächst erwog er Llulls Methode der paarweisen Entscheidungen, entschied sich dann aber für einen anderen Plan. Ein beachtlicher Teil von De Concordantia Catholica, nämlich die Kapitel 36 und 37, sind diesem Thema gewidmet. Die von Cusanus entwickelte Methode orientiert sich nicht an einer Abts–, Bischofs– oder Papstwahl, sondern an der Wahl eines Monarchen, des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches. Nehmen wir an, wie es auch Cusanus tut, dass zehn Kandidaten die Stelle des Kaisers anstreben. Die sieben Kurfürsten kommen in einem Saal zusammen, um den würdigsten von den zehn auszuwählen. Jeder Kurfürst erhält einen Satz mit zehn Stimmzetteln; auf jedem steht der Namen eines der zehn Kandidaten. Mit den Zetteln in der Hand ziehen sich die Männer in die Ecken des Raumes oder in die Flure zurück, um dort ihre Entscheidung zu treffen. Jeder der Kurfürsten überlegt, welcher der Kandidaten in seinen Augen der ungeeignetste ist, nimmt den Zettel mit dem Namen dieses Kandidaten und vermerkt die Zahl 1 darauf. Dann entscheidet er, welcher der nächst unwürdige Kandidat ist und schreibt die Zahl 2 auf den Zettel mit dessen Namen. So fährt er fort, bis nur noch ein Stimmzettel übrigbleibt. Auf diesem steht dann offensichtlich der Name seines bevorzugten Kandidaten. Er schreibt die Zahl 10 darauf, geht zurück in den Saal und wirft alle zehn Stimmzettel in einen Sack, der in der Mitte des Raumes hängt. Sobald alle Kurfürsten ihre Stimmzettel abgegeben haben, leert ein Kraft Amtes über jeden Verdacht der Unehrlichkeit erhabener Priester den Sack und liest den Namen und die Zahl jedes Stimmzettels laut vor. Ein Assistent schreibt die Angaben gewissenhaft nieder und zählt, nachdem alle Streifen erfasst worden sind, die Punkte jedes Kandidaten zusammen: Zum Kaiser wird dann derjenige Kandidat gekürt, der die meisten Punkte auf sich vereinigt hat. Die Wahlmänner vergeben also den Kandidaten Punkte in Abhängigkeit davon, wie sie deren Eignung einstufen. Je höher der Kandidat im Urteil des Wählers steht, desto mehr Punkte bekommt er. Dies ist der entscheidende Unterschied zu Llulls Verfahren, bei dem der Gewinner einer Stichwahl nur einen Punkt bekommt, gleich wie überlegen er oder sie ist. In Cusanus’ Methode gibt die Differenz der Punkte für zwei Kandidaten an, wie weit sie in der Rangfolge eines Wählers auseinanderliegen. Um practicas absurdissimas et inhonestissimas (höchst widersinnige und unehrliche Praktiken) zu vermeiden, wies Cusanus die Wähler an völlig geheim abzustimmen. Er empfahl auch, dass die Wähler mit ähnlichen Stiften schreiben und die Zahlen mit einem ähnlichen Strich zu Papier bringen sollten, auf dass die Schrift von niemandem erkannt werden könnte. Dadurch wäre das Wahlgeheimnis gewahrt. Ausnahmen wären nur für Wähler gestattet, die des Lesens und Schreibens unkundig sind: Ihnen würde die Hilfe eines vertrauenswürdigen Sekretärs erlaubt sein, der die Namen auf den Stimmzetteln vorliest. Cusanus schrieb dies übrigens ohne Herablassung, auch wenn es damals das Sprichwort gab „Rex illiteratus est quasi asinus coronatus“, zu Deutsch: ein des Lesens unkundiger König ist wie ein ge-
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krönter Esel. Aber im späten Mittelalter ging in Deutschland Macht nicht unbedingt mit guter Ausbildung einher. Warum dient die Geheimhaltung der Gerechtigkeit? Schließlich wollte auch Llull gerechte Wahlen und empfahl das genaue Gegenteil: offene Wahlen. Wer hat Recht? Die kurze Antwort lautet: Beide haben Recht. Und nun die lange Antwort: Cusanus begründete geheime Wahlen mit Argumenten, die auch heute noch gültig sind, wenn eine Gruppe von sich gegenseitig misstrauenden Menschen jemanden in ein Amt wählt. Wenn Stimmen im Geheimen abgegeben werden, können Wähler ihre Stimmen nicht verkaufen und können nicht bedroht werden. Natürlich könnten sie nach wie vor versuchen ihre Stimmen zu verkaufen, aber es gäbe keine Käufer, da nicht nachgeprüft werden kann, ob ein Handel oder eine Abmachung eingehalten wird. Und auch Drohungen könnten ausgesprochen werden, aber sie würden niemanden schrecken, denn die in einer Ecke des Wahlraumes oder in einer Wahlkabine unbeobachteten Wähler können die Stimmzettel dennoch ankreuzen, wie sie möchten. (Daher ist die Geheimhaltung bei einer Wahl nicht nur ein Anrecht, sondern auch eine Verpflichtung. Es ist verboten den angekreuzten Stimmzettel vorzuzeigen, denn damit könnte man nachweisen wollen, dass man einem Handel nachgekommen ist.) Llull dagegen hatte ein anderes Szenario im Kopf, als er sein Verfahren vorschlug. Während Cusanus’ Methode sich an Wähler wendet, die sich gegenseitig misstrauen und nur alle zehn oder zwanzig Jahre zusammentreten, um einen König oder Kaiser zu wählen und nach der Wahl wieder auseinander zu gehen, ist Llulls System für Mönche, Nonnen und Ordensbrüder gedacht. Die Mitglieder dieser Ordensgemeinschaften müssen nach der Wahl weiter gemeinsam leben und arbeiten, und eine Bedingung für ein reibungsloses Zusammenleben ist gegenseitiges Vertrauen. Welch besseren Weg gäbe es Uneinigkeit und Misstrauen zu säen, als seine Stimme vielen Kandidaten zu versprechen und dann heimlich einen ganz anderen zu wählen! Bei offenen Wahlen würde es niemand wagen seine Stimme mit Hintergedanken abzugeben, denn jeder würde es sofort erfahren und das Ansehen dieses Wählers wäre ruiniert. Aus diesem Grund wird heutzutage auch in Firmenvorständen oder Ausschüssen üblicherweise offen vor den Kollegen gewählt. Man kann dann nicht jemandem heimlich in den Rücken fallen, und die Abstimmenden müssen für ihr Votum einstehen. Dadurch vertrauen sie den jeweiligen Urteilen und können nach der Abstimmung weiter zusammenarbeiten. (Dies mag allerdings eine idealistische Vorstellung sein. Zu wissen, dass sein engster Freund für jemand anderen gestimmt hat, dürfte nicht gerade Vertrauen und Harmonie fördern.) Aber kehren wir zu Cusanus zurück. Um ihre Wunschreihenfolge zu bestimmen, breiten die Wahlmänner zunächst die Stimmzettel mit den Namen der Kandidaten vor sich aus. Sagen wir, sie legen sie in einer Reihe von oben nach unten hin. Zu Beginn liegen die Zettel völlig zufällig untereinander. Dann geht die Arbeit los. Eine gute, wenn auch nicht sehr schnelle Methode, die Kandidaten in die gewünschte Rangfolge zu bringen, geht folgendermaßen: Man fängt oben an und vergleicht nach und nach jedes Paar unmittelbar untereinanderliegender Kandidaten. Wenn der Zettel mit dem besseren Kandidaten unten liegt, vertauscht man die beiden Zettel, andernfalls lässt man sie in der vorgefundenen Anordnung. So geht man der Reihe nach eins ums andere nach unten, bis man das Ende erreicht. Dann fängt man wieder
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oben an. Dieses Verfahren muss wieder und wieder durchlaufen werden, bis man die Liste einmal von oben bis unten durcharbeitet ohne irgendeine Vertauschung vorzunehmen. Dann ist ein Wähler mit seiner Anordnung zufrieden und die Sortierarbeit beendet. Diese Methode, um Kandidaten nach und nach in eine Rangfolge zu bringen mit den Besten oben und den Schlechtesten unten, wird in der Informatik „bubble sort“ (deutsch etwa „Blasen–Sortierung“) genannt. Bubble sort ist ein Algorithmus, d.h. ein Rezept, womit eine Liste von Dingen in aufsteigende oder absteigende Anordnung gebracht wird. Sein Name kommt daher, dass bei der Durchführung das beste Ding — in unserem Fall also der Zettel mit dem Namen des bevorzugten Kandidaten — nach oben aufsteigt wie eine Luftblase in einer Flüssigkeit. Dummerweise kann dies ziemlich lange dauern. Tatsächlich ist bubble sort sehr, sehr langsam. Informatikstudenten werden immer ermahnt diesen Algorithmus ja nicht anzuwenden, außer um einzusehen, wie ineffektiv er ist. Die Informatik kennt eine ganze Menge viel schnellerer Sortierverfahren: insert sort zum Beispiel oder shell sort, heap sort, merge sort, quick sort. Natürlich hätten die Wahlmänner auch einen dieser Algorithmen benutzen können, wenn sie damals schon bekannt gewesen wären. Aber auch mit den effizientesten Methoden kann es bei einer großen Anzahl von Kandidaten eine Zeit lang dauern, bis die Zettel geordnet sind. Cusanus’ System macht dies aber dadurch wieder wett, dass die Kurfürsten ihre Rangfolgen gleichzeitig bestimmen. Niemand muss Zeit verschwenden, um auf seinen Vorgänger zu warten. Alle werden ungefähr zur gleichen Zeit fertig, und dann müssen nur noch die Ergebnisse zusammengeführt werden. Wenn die Wahlmänner ungefähr zwanzig Minuten brauchen, um zehn Kandidaten einzuordnen, und der Priester eine weitere halbe Stunde, um die Punkte für die Kandidaten vorzulesen und zusammenzuzählen, ist die Wahl in etwas weniger als einer Stunde vorbei. Da dieses System keine Zweiervergleiche vorsieht, sondern eine gleichzeitige Bewertung aller Kandidaten durch die Wähler, kann der Gewinner bei Cusanus anders lauten als in einem der Llullschen Systeme. Aber das Verfahren bestimmt nicht nur den Gewinner, sondern liefert wie die erste der Methoden Llulls eine Reihenfolge aller Kandidaten, nämlich durch die Anzahl der Punkte für jeden Kandidaten. Zwei mögliche Problemfälle übersieht Cusanus. Der eine tritt dann ein, wenn ein Wähler zwei Kandidaten als gleichwertig ansieht und daher keinen der beiden über den anderen stellen will. Als anderes Problem könnte es vorkommen, dass ein Wähler z.B. Rüdiger höher als Sigismund einschätzt, Sigismund höher als Bernhard und Bernhard höher als Rüdiger. Sollte dies geschehen, würde der arme Wähler beständig seine Papierstreifen herumschieben, ohne jemals zu einer zufriedenstellenden Reihenfolge zu kommen. Cusanus nimmt einfach an, dass solche Situationen nicht auftreten. Es gibt eine andere implizite Annahme in Cusanus’ System, nämlich dass jeder bessere Rang mit genau einem weiteren Punkt belohnt werden sollte. Man kann sich andere Verteilungen von Punkten auf die Rangplätze vorstellen. Cusanus hätte zum Beispiel vorschlagen können, dass die drei zuunterst platzierten Kandidaten gar keine Punkte bekommen oder dass der oberste Kandidat zwei oder drei zusätzliche Punkte bekommt oder was auch immer. Es gibt unendlich viele Möglichkei-
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ten Punkte zuzuteilen, von denen Cusanus die einfachste auswählte. Zum Beispiel benutzt der tödlich langweilige Eurovision Song Contest im europäischen Fernsehen eine Variante von Cusanus’ Punktvergabemethode. Über zwei Dutzend Länder nehmen an dem Wettbewerb teil, indem sie einerseits Sänger zu der Veranstaltung schicken und andererseits eine Jury einrichten, welche die Lieder beurteilt. In einer ersten Runde werden zwanzig Lieder ausgewählt; die anderen scheiden aus. In der zweiten Runde eine Woche später dürfen die Jurys nicht für ihr eigenes Land stimmen. Es bleibt ihnen also die Wahl zwischen neunzehn Liedern. Die acht Lieder, die nach Meinung der Jury am schlechtesten sind (und glauben Sie mir, sie sind wirklich scheußlich), bekommen gar keine Punkte. Dann muss jede Jury noch jene elf Lieder behandeln, die sie als nicht ganz so schlecht ansieht wie die wahrhaft scheußlichen. Während 200 Millionen Zuschauer in ganz Europa mit angehaltenem Atem warten, vergibt jede Jury einen Punkt an das Lied von den elfen, welches sie ganz unten einordnet, zwei Punkte für das nächst untere, und so weiter bis zum zweitbesten Lied, welches zehn Punkte erhält. Das beste Lied schließlich erhält nicht elf, sondern zwölf Punkte. Sobald die zwanzig Jurys ihre Punkte durchgegeben haben, werden die Punkte zusammengezählt und der Gewinner verkündet. Dies ist genau das System des Kardinals mit Ausnahme der scheußlichen Lieder, die null Punkte bekommen, und des jeweils ersten Platzes, welcher einen Punkt mehr bekommt als bei Cusanus. Anscheinend hatten die Organisatoren des Eurovisions–Contests das Gefühl, dass es einen Bonuspunkt wert sein müsse, es in der Meinung einer Jury zum besten Lied geschafft zu haben.1 Offensichtlich kann die Art und Weise, wie zusätzliche Punkte an die besseren Plätze vergeben werden, auch den Ausgang des Wettbewerbs beeinflussen. Im Beispiel des Eurovisions–Contests bekommt etwa ein Lied, das bei einer Jury auf dem ersten und bei einer anderen auf dem elften Platz liegt, von diesen beiden zusammen dreizehn Punkte, während ein Lied mit einem zweiten und einem zehnten Platz nur zwölf Punkte erhält. In Cusanus’ ursprünglichem System würden beide mit zwölf Punkten unentschieden liegen. Also kann nicht nur der Cusanus–Gewinner anders aussehen als die Llull–Gewinner, sondern es sind auch in verschiedenen Versionen von Cusanus’ System verschiedene Gewinner möglich. Es gibt noch einen Punkt, der aufgeklärt werden muss. Wie wir am Ende des vorigen Kapitels gesehen haben, glaubte der deutsche Mittelalterforscher Martin Honecker irrtümlich, Llull habe in seinem Roman Blanquerna ein System empfohlen, in dem einzelne Stimmen gezählt werden und nicht nur die Gewinne. Dies wäre nun genau das, was Cusanus ein Jahrhundert später vorschlug. Hatte er vielleicht nur Llull kopiert, wenn auch mit ebendiesem Lese– und Übertragungsfehler, der Honecker 600 Jahre später unterlief? Verstand Cusanus vielleicht auch veus als „Stimmen der Wähler“ statt als „Siege“? In diesem Fall wäre Llull ein engerer Vorläufer von Cusanus, als gemeinhin geglaubt wird, und Cusanus nur ein Nachahmer. Die englischen Gelehrten Iain McLean und John London sind davon überzeugt, dass dies nicht der Fall ist. In einem 1990 in der Zeitschrift Social Choice and Welfare erschienenen Artikel argumentieren sie, dass Cusanus sehr wohl von dem Roman 1
Inzwischen sieht das Bewertungssystem etwas anders aus, ist aber immer noch eine Variante von Cusanus’ System. Anm. des Übersetzers
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Blanquerna wusste, da er in einem Bücherkatalog seiner Bibliothek auftaucht, aber sie glauben, dass er ihn nicht gelesen hat und noch viel weniger falsch gelesen habe. Sein System sei also eine unabhängige Eigenentwickelung. Lassen Sie mich die Hauptpunkte dieses und des letzten Kapitels wiederholen. In Artifitium Electionis personarum und in dem Roman Blanquerna schlägt Llull eine vollständige Abfolge von paarweisen Vergleichen zwischen den Mitbewerbern vor. Der Kandidat mit den meisten Siegen ist gewählt. In De Arte Eleccionis bringt Llull ein K.-o.-Verfahren ins Spiel. Ein Jahrhundert später empfiehlt Cusanus eine Methode, bei der jeder Wähler die Kandidaten erst in eine Rangordnung bringt und ihnen dann gemäß ihrer Position eine gewisse Anzahl an Punkten vergibt. Der Kandidat mit den meisten Punkte ist gewählt. Wie ich dargelegt habe, unterliegen beide Methoden Llulls dem Nachteil der Intransitivität, während Cusanus’ System darin nicht überzeugt, dass es jedem besseren Platz willkürlich einen zusätzlichen Punkt zuteilt. Es überrascht nicht, dass alle drei Verfahren verschiedene Gewinner hervorbringen können. Nach dem Tod des Kardinals fiel die Theorie der Abstimmungen und Wahlen in einen mehrere hundert Jahre andauernden Winterschlaf. Die Beiträge von Llull und Cusanus lagen in Manuskripten begraben, die zu lesen niemand sich die Mühe machte. Die nächste Entwicklung ergab sich erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich. ZUSÄTZLICHE LEKTÜRE
De Concordantia Catholica Der Teil von De Concordantia Catholica, mit dem Cusanus schließlich berühmt wurde, hätte den damaligen Machthabern heftig missfallen können. Der damals Dreißigjährige gab den ersten Beweis seiner Gelehrsamkeit, indem er eine Fälschung der Kirche entlarvte, die Konstantinische Schenkung. Dieses Dokument, das aus dem vierten Jahrhundert n. Chr. stammen sollte, gibt vor, Kaiser Konstantin (ca. 274–337) habe der Kirche ein sehr bedeutendes und umfangreiches Geschenk gemacht. Bevor er nach Osten zog, um die Stadt Konstantinopel (heute Istanbul) zu gründen, habe Konstantin an Lepra gelitten. In seiner Verzweiflung, so erzählt die Legende, wandte sich der Ungläubige an Papst Silvester. Der Heilige Vater, der in Medizin nicht bewandert war, aber eine Au-
torität in Fragen des Glaubens darstellte, überzeugte ihn davon, dass die beste Behandlung seines Leidens in einer Bekehrung zum Christentum bestünde. Konstantin ließ sich gehorsam taufen und wurde prompt von seiner Krankheit geheilt. Und nun kommt der entscheidende Punkt: Aus Dankbarkeit stiftete er Papst Silvester seine Paläste, die Stadt Rom und den westlichen Teil des Römischen Reiches. Schließlich mangelte es ihm nicht an Liegenschaften und falls er neue Ländereien bräuchte, gäbe es noch genug zu erobern. Für die Kirche war dies ein Geschenk des Himmels. Ohne nennenswerte Wohltäter wäre niemand zur Verteidigung der Kirche herangeeilt und der Papst hätte sehen können, wo er bleibt. Das Dokument lieferte eine Berechti-
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gung für die Gebietsansprüche der Kirche. Die Konstantinische Schenkung bedeutete auch, dass der Gründer des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Karl der Große (742–814), seine Legitimation vom Papst bezog, der ihn im Jahre 800 zum Kaiser krönte. Das ganze Mittelalter hindurch wurde, wenn jemand den Herrschaftsanspruch der Kirche über die weltlichen Mächte in Frage zog, von irgendeinem Kirchenmann das Dokument gezückt und alle Fragen wurden damit zum Schweigen gebracht. Die Schenkungsurkunde leistete der Kirche bis 1433 gute Dienste, als unser junger Held aus Deutschland das Dokument einer näheren Prüfung unterwarf. Indem er nicht nur den Text selbst, sondern auch die ganze einschlägige Literatur jener Zeit studierte, mache er eine folgenschwere Entdeckung. Aus Vergleichen mit Vorkommnissen, die im vierten Jahrhundert unbekannt waren, und Informationen, die nur ein späterer Schreiber wissen konnte, schloss Cusanus, dass die Schenkung eine Fälschung aus dem achten Jahrhundert ist. Tatsächlich hätte die Geschichte von Konstantin und Silvester schon viel früher ein
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Stirnrunzeln oder sogar mehrere hervorrufen müssen, denn durch das Studium der Quellen hätte jeder herausfinden können, dass der Kaiser weder an Lepra litt, noch während seiner Lebenszeit zum Christ wurde. Erst auf dem Totenbett konvertierte er zum Christentum. Aber offensichtlich wollte niemand die Wahrheit wissen. Die folgenschwere Entdeckung, dass sich die Kirche nicht zu schade war zum eigenen Vorteil Urkunden zu fälschen, hatte erstaunlicherweise keine negativen Folgen für Cusanus’ Karriere, wie man es eigentlich erwartet würde. Erst sieben Jahre später, als der Gelehrte Lorenzo Valle zu demselben Schluss kam, ihn allerdings in streitsüchtigerem und geschliffenerem Stil publizierte, begann die Kirche davon Notiz zu nehmen. Aber auch danach wurde die Wahrheit noch einige hundert Jahre lang unterdrückt und mindestens ein Mensch auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er Zweifel an der Echtheit der Urkunde anbrachte. Cusanus blieben zum Glück unangenehme Folgen erspart. Tatsächlich ist er durch die Enthüllung der kirchlichen Fälschung berühmt geworden.
Kapitel 5
Der Marineoffizier
Im achtzehnten Jahrhundert begann in der Alten wie in der Neuen Welt das Zeitalter der Aufklärung. Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und Polen gaben sich Verfassungen. Die Nationen waren in Aufruhr; ihre Bürger begannen gleiche Rechte für alle zu fordern, sich um Menschenrechte zu sorgen und nach einer Neuregelung der sozialen Ordnung zu rufen. Gleichzeitig wuchsen die Ansprüche an die Regierungen: Die Frage, wie Amtsträger für Führungspositionen zu wählen seien, wurde wieder wichtig. In diesem Umfeld traten zwei bedeutende französische Denker auf: Zum einen ein in Land– und Seeschlachten zahlreich dekorierter Offizier namens Chevalier Jean Charles de Borda. Zum andern der adlige Marquis de Condorcet. Beide Männer gehörten zu den herausragenden Wissenschaftlern im Paris der Französischen Revolution und ihnen gelang etwas Erstaunliches: Sie erfanden erneut die Methoden, die Llull und Cusanus einige hundert Jahre früher vorgeschlagen hatten. Allerdings taten sie in Wirklichkeit noch mehr, denn sie steuerten auch die zugehörigen mathematischen Grundlagen bei. In vielem waren sie sich nicht einig und sie lieferten sich daher auch eine lebhafte Debatte über die Theorie der Abstimmungen und Wahlen. Jean Charles de Borda wurde 1733 als zehntes von sechzehn Kindern geboren. Beide Eltern stammten aus dem französischen Adel: Sein Vater Jean Antoine de Borda war Lehnsherr von Labatut; seine Mutter hieß Marie Thérèse de la Croix. Schon als Kind zeigte er eine große Begeisterung für Mathematik und Naturwissenschaften. Einer seiner Cousins, Jacques François de Borda, stand mit den führenden Mathematikern der Zeit in Kontakt und ebnete ihm den Weg für seine zukünftige Karriere. Jacques François unterrichtete den Jungen, bis er im Alter von sieben Jahren in eine Schule der Barnabiter aufgenommen wurde, in der man allerdings nicht viel mehr als Griechisch und Latein lernte. Vier Jahre später überzeugte Jacques François dann Jean Charles’ Vater, seinen Sohn auf das Jesuiten–Kolleg von La Flèche zu schicken, wo der adlige Nachwuchs erzogen wurde. Dort erhielt Jean Charles schließlich eine solide Grundlage in Mathematik und den Naturwissenschaften. Wegen seiner weit überdurchschnittlichen Leistungen ermunterten die jesuitischen Lehrer den fünfzehnjährigen Jungen am Ende seiner Schulzeit, in den Orden einzutreten. Aber Jean Charles war an Religion nicht interessiert, sondern wollte G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_5,
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die Familientradition fortsetzen und zum Militär gehen. In der französischen Armee boten sich nämlich nicht nur tapferen Kämpfern Karrierechancen, sondern auch Intellektuellen. Jean Charles’ Vater erlaubte es seinem Sohn, den eigenen Wünschen zu folgen, obwohl er ihn lieber als Beamten gesehen hätte. So begann also Bordas Karriere als Militärmathematiker. Als Borda zwanzig Jahre alt war, erregte seine erste mathematische Veröffentlichung, eine Arbeit über Geometrie, die Aufmerksamkeit von Jean le Rond d’Alembert, dem berühmten Wissenschaftler in Paris. Drei Jahre später, während er in der Kavallerie diente und dabei den Flugweg von Granaten erforschte, stellte Borda der Académie des Sciences eine Theorie der Geschosse vor. Aufgrund dieses Werks nahmen die Mitglieder der Académie ihn in ihre Reihen auf. Borda sah seine Berufung nach wie vor in der Armee und so kletterte der junge Offizier allmählich die Stufen der militärischen Hierarchie hinauf. Als Adjutant des Maréchal de Maillebois nahm Borda im Juli 1757 an der Schlacht von Hastenbeck teil, in der die französische Armee den Herzog von Cumberland schlug. Aber zu dieser Zeit hatte er genug von den Pferden und beschloss die Kavallerie gegen die See auszutauschen. Nachdem er die zweijährige Marineausbildung in einem Jahr absolviert hatte, widmete er sich Schiffskonstruktionen und dem Studium von Flüssigkeiten. Die Marine begegnete diesem „Erdmenschen“, der sich anschickte in ihr festgefügtes Offizierscorps einzudringen, mit Misstrauen, aber Borda konnte sich dank seiner wissenschaftlichen Errungenschaften behaupten. Entgegen Newtons Theorie der Flüssigkeiten zeigte er zum Beispiel, dass ein kugelförmiger Körper nur den halben Luftwiderstand eines zylinderförmigen Körpers gleichen Durchmessers besitzt und dass der Widerstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst. Mit seinem Einsatz für die Kugelform wurde Borda zu einem Pionier der U-Boot– und Flugzeugkonstruktion, denn Körper dieser Form beherrschten später die Welt der Unterwasser– und Luftreisen, zumindest bis zur Entdeckung, dass für den Überschallflug eine spitze Form noch wirksamer ist. Der junge Offizier beschäftigte sich aber auch mit prosaischeren Vorrichtungen wie Pumpen und Wasserrädern. Sein Leben lang nahm Borda an Reisen, Schlachten, Abenteuern und wissenschaftlichen Unternehmungen teil. Wir wollen uns vorerst in der Beschreibung seiner Errungenschaften auf seine Beschäftigung mit dem Wählen beschränken. Mehr aus seinem bunten Leben findet sich im biografischen Anhang am Ende des Kapitels. Borda überstand unversehrt die Französische Revolution, die doch so vielen seiner Zeitgenossen unter den Adligen, den Offizieren und den führenden Wissenschaftlern das Leben kostete. Er beteiligte sich an keiner politischen Aktion und saß die elf Monate der Schreckensherrschaft (September 1793 bis Juli 1794) im Familiensitz in Dax, einer Stadt im Südwesten Frankreichs, aus. Nach einer langen Krankheit starb er 1799. Viele international bekannte Wissenschaftler nahmen an seiner Beerdigung am Fuß des Montmartre teil. Seine wissenschaftlichen Errungenschaften umfassen wichtige Fortschritte in der Experimentalphysik und der Ingenieurskunst, im Vermessungswesen, der Kartografie und anderen Gebieten. Dass Borda sich während der Französischen Revolution abseits der Politik hielt, lag nicht an einem Desinteresse an politischen Fragen. Tatsächlich war es ein Zei-
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chen der Zeit, dass die Theorie des Wählens eines seiner Interessengebiete bildete. Bereits 1770 hatte er vor der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag gehalten über seine Ideen darüber, wie eine Methode fairer Wahlen aussehen könnte. Weil er zu sehr mit militärischen Fragen beschäftigt war, versäumte er es damals allerdings eine Veröffentlichung. Erst elf Jahre später, im Jahr 1781, schrieb Borda einen Artikel „Mémoire sur les élections au scrutin“ (Abhandlung über Wahlen durch geheime Abstimmung), der drei Jahre später in Histoire de l’académie royale des sciences veröffentlicht wurde. In einem Vorwort eines namentlich nicht genannten Kommentators wird der Artikel überschwänglich gelobt. Diese Einführung endet mit dem Satz, dass Monsieur de Bordas Beobachtungen über die Schwierigkeiten der bisher fast universell akzeptierten Wahlmethoden sehr interessant und absolut neu seien. (Heute glaubt man, dass sich hinter dem Kommentator der Marquis de Condorcet verbirgt, der Held des nächsten Kapitels). In dem Artikel analysiert Borda die althergebrachte Methode, einen Kandidaten für eine Stelle durch Mehrheitsentscheid auszuwählen. Für die meisten schien es offensichtlich, dass es sich dabei um eine korrekte und gerechte Art der Wahl eines Amtsträgers handelt. Aber stimmt das? Sollten Mehrheitsentscheide ohne Zweifel akzeptiert werden? Borda stellte sich gegen das grundlegende und allgemein anerkannte Axiom, das Abstimmungen bislang unterlag, nämlich dass die Mehrheit der Stimmen den Wunsch der Wählerschaft ausdrücke. Dieses Axiom klingt äußerst vernünftig und niemand hat sich je zuvor dagegen ausgesprochen. Jeder war davon überzeugt, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen notwendigerweise vor seinen Mitbewerbern bevorzugt werden müsse. Es war daher eine große Überraschung, als Borda nachwies, dass dies sehr oft nicht der Fall ist. Tatsächlich behauptet er sogar, dass der Mehrheitsentscheid nur dann unzweifelhaft korrekt ist, wenn es nicht mehr als zwei Konkurrenten für eine Stelle gibt. Borda zeigte, dass es zu fehlerhaften Ergebnissen kommen kann, falls sich drei oder mehr Personen bewerben. Zum Beweis legte er ein Beispiel vor, in dem eine paradoxe Situation auftritt. Dieses Beispiel ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen, sondern kann problemlos bei einer normalen Wahl auftreten. Ich werde Bordas Beispiel an Hand einer Klassensprecherwahl in einer Schule veranschaulichen. Die Klasse umfasst 24 Schüler, Peter, Paul und Maria wetteifern um den Posten und die restlichen 21 Schüler müssen sich zwischen den dreien entscheiden. Natürlich benutzen sie die uralte Methode der Mehrheitswahl. Jeder schreibt den Namen seines bevorzugten Kandidaten auf ein Stück Papier und wirft dies dann in eine Wahlurne. Die Auszählung ergibt, dass acht Schüler für Peter stimmen, sieben für Paul und sechs für Maria. Peter dankt den Wählern mit einem breiten Grinsen für ihr Vertrauen, während Maria über ihr schlechtes Abschneiden in Tränen ausbricht und das Klassenzimmer verlässt. Aber drückt das Ergebnis wirklich den Willen der 21 Wähler aus? Fragen wir die Schüler etwas genauer, wie ihre Vorlieben bezüglich der drei Kandidaten aussehen, so kommt Folgendes heraus: Die acht Schüler, die für Peter gestimmt haben, hätten Maria an zweite und Paul an letzte Stelle gesetzt. Die sieben Stimmen für Paul hätten ebenfalls Maria an zweite Stelle gesetzt und dafür Peter an die letzte Stelle der Liste geschoben. Schließlich hätten Marias sechs Unterstützer
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Peter hinter Paul platziert. Die vollständige Liste der Vorlieben ist in der folgenden Tabelle zusammengefasst (dabei steht > für „wird bevorzugt vor“): 8 Stimmen 7 Stimmen 6 Stimmen
Peter > Maria > Paul Paul > Maria > Peter Maria > Paul > Peter
Wenn wir uns nun diese Vorlieben genau anschauen, stellen wir fest, dass Peter in den von Ramon Llull propagierten direkten Zweikämpfen (siehe Kapitel 3) sowohl von Maria als auch von Paul mit jeweils dreizehn gegen acht Stimmen besiegt worden wäre (denn sowohl die sieben Wähler der zweiten Tabellenzeile als auch die sechs Wähler der dritten Zeile setzen Peter hinter beide, Paul und Maria). Peter, der unbestrittene Gewinner der Mehrheitswahl, wäre also schon aus dem Rennen. Ein Vergleich der Wählervorlieben zwischen Maria und Paul würde dann ergeben, dass vierzehn Klassenkameraden für Maria wären (nämlich die der ersten und die der letzten Zeile) und nur sieben für Paul. Jetzt sieht es plötzlich ganz anders aus: Maria gewinnt und Peter wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Das Ergebnis ist das exakte Gegenteil des Ausgangs der Mehrheitswahl. Die einfache Erklärung dieser paradoxen Situation besteht darin, dass die Unterstützung, die Peter von acht Wählern bekommt, mehr als ausgeglichen wird durch die entschiedene Ablehnung, die seine Kandidatur von den dreizehn anderen erfährt, die ihn alle ganz ans Ende setzen. Dieses Paradoxon ist jahrhundertelang unentdeckt geblieben, weil sich niemand je die Mühe machte, nach einer beendeten Wahl die Vorlieben der Wähler bezüglich der Verlierer auszuwerten. Im nächsten Kapitel werden wir noch mehr über dieses Paradoxon zu sagen haben. Mit einem Schlag stellte Borda eine Wahlmethode in Frage, die jahrhundertelang in der ganzen Welt benutzt wurde. Das Beispiel zeigt, dass sich die Ergebnisse ändern können, sobald die Wähler weitsichtiger werden und ihre Vorlieben über den ersten Platz hinaus betrachten. Borda vergleicht die Situation mit einem Sportkampf, bei dem drei Athleten um den Titel wetteifern. Wenn sich zwei Teilnehmer in einer ersten Runde bereits anstrengen müssen, kann jeder von beiden danach müde und erschöpft einem schwächeren Gegner unterliegen. Aber der Marineoffizier begnügte sich nicht damit, die uralte Methode zu kritisieren, sondern er schlug auch Abhilfe vor. Er nannte es „Éléction par ordre de mérite“ (Wahl nach der Rangfolge des Verdiensts). Dies führte zu einer großen Debatte zwischen zwei herausragenden französischen Intellektuellen des achtzehnten Jahrhunderts. Nach Bordas Vorschlag sollte jeder Wähler die Namen der Kandidaten in der Reihenfolge hinschreiben, in der er ihnen den Vorzug gibt. Solch eine Rangfolge könnte zum Beispiel Peter an erste, Paul an zweite und Maria an letzte Stelle setzen. Borda regte an pro Rang eine Verdiensteinheit (kurz: V-Einheit) zu vergeben. Im Beispiel würde Maria als Letzte eine V-Einheit bekommen, Paul zwei V-Einheiten und Peter drei. Falls es mehr Kandidaten gäbe, würde die höchste Punktzahl entsprechend steigen. Bei acht Kandidaten beispielsweise bekäme der zuunterst eingeordnete Bewerber eine V-Einheit, der zuoberst eingeordnete acht V-Einheiten.
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Hinter dieser Art der Verteilung von V-Einheiten steckt freilich eine Annahme. Borda vertritt damit die Meinung, dass der Wähler im Beispiel das gleiche Maß an Vorzug zwischen Peter und Paul sieht wie zwischen Paul und Maria. Diese Annahme muss rechtfertigt werden, was Borda eher nebenbei abtut: Da es keinen Grund gäbe anzunehmen, dass der mittlere Kandidat Paul näher an Peter heranzurücken sei als an Maria, sei es korrekt ihn genau in die Mitte zu setzen. Wenn man Bordas Überzeugung folgt, dass die Unterschiede im Vorzug zwischen jeweils aufeinanderfolgenden Rängen gleich groß sind, dann ist es tatsächlich vernünftig für jeden nächsthöheren Rang genau eine zusätzliche V-Einheit zu verleihen. Selbstverständlich gibt es viele, die dieser Überzeugung widersprechen würden, denn die Intensität, mit der Wähler einen Kandidaten einem anderen vorziehen, kann durchaus verschieden sein. Doch fahren wir fort. In dem Beispiel vorhin wurde Peter von acht Wählern auf den ersten und von dreizehn auf den letzten Platz gesetzt. In Bordas Berechnung würde er also 37 V-Einheiten erhalten (8 · 3 + 13 · 1). Paul bekäme 41 (= 8 · 1 + 7 · 3 + 6 · 2) und Maria überwältigende 48 (= 8 · 2 + 7 · 2 + 6 · 3). Jetzt verstehen wir, warum Maria gewinnen sollte. Übrigens steckt auch hinter dem einfachen Aufaddieren der V-Einheiten eine Annahme, nämlich die Annahme, dass alle Wähler gleichwertig sind. Denn nur dann haben die V-Einheiten aller Wähler den gleichen Wert und können einfach zusammengezählt werden. (Auch diese Annahme würden viele Menschen in Frage stellen. Schließlich könnten meine V-Einheiten verschieden sein von Ihren.) Scharfsinnige Leser dürften in Bordas V-Einheiten–Rechnung das von Kardinal Cusanus vorgeschlagene Verfahren des vorherigen Kapitels wiedererkannt haben. Der französische Marineoffizier war sich aber über die Existenz eines Vorgängers nicht im Klaren. In der Tat wusste man zu Bordas Lebenszeit nichts von Cusanus’ Vorschlag für die Kaiserwahl; erst im späten zwanzigsten Jahrhundert wurde er wiederentdeckt. Aber selbst wenn Borda die älteren Schriften gekannt hätte, wäre doch noch ein Fortschritt dabei gewesen. Während Cusanus stillschweigend angenommen hatte, dass ein zusätzlicher Rang, sei es zwischen fünfzehn und vierzehn oder zwischen zwei und eins, einem Kandidaten immer den gleichen Gewinn einbringt, sprach Borda diese Annahme ausdrücklich aus und gab eine Begründung an. Zwar handelt es sich um eine oberflächliche Begründung, aber nichtsdestoweniger ist es eine. Heute ist die von dem Kardinal und von Borda vorgeschlagene Methode der Kandidatenauswahl, indem man ihnen gemäß den Ranglisten der einzelnen Wähler Punkte bzw. V-Einheiten zuteilt, als „Borda–Wahl“ bekannt. Dabei ist Bordas und Cusanus’ Annahme, dass jeder zusätzliche Rang den gleichen Wert hat, ganz entscheidend. Ohne sie kann man sich mehrere Varianten der Methode ausdenken. Der in Kapitel 4 erwähnte Eurovisions–Contest ist ein treffendes Beispiel. Dabei werden den ungefähr zwanzig schlechtesten Liedern keine V-Einheiten verliehen. Eine V-Einheit geht an das Lied an elfter Stelle und dann jeweils eine V-Einheit mehr für jeden besseren Rang bis zum zweitbesten Lied, das zehn V-Einheiten bekommt. Schließlich bekommt der nach Meinung einer Jury beste Song zwölf V-Einheiten. Andere Varianten sind denkbar und sie können verschiedene Gewinner ergeben.
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Nachdem er seine Wahlmethode „nach der Rangfolge des Verdiensts“ vorgestellt hatte, analysierte Borda als nächstes, unter welchen Umständen der Gewinner nach seinem Verfahren mit dem Gewinner der Mehrheitswahl übereinstimmen würde. Wieviele Stimmen müsste ein Kandidat in einer üblichen Mehrheitswahl erhalten, damit garantiert wäre, dass er nach den Regeln der Borda–Wahl an erste Stelle käme? Stellen wir uns vor, dass Peter und Maria von a bzw. von b Wählern an die erste Stelle gesetzt werden. Borda untersucht den aus Peters Sicht schlimmsten Fall. Dieser tritt ein, wenn Maria von allen Unterstützern Peters an zweite Stelle gesetzt wird und Peter von allen Unterstützern Marias an letzte. a Stimmen b Stimmen
Peter > Maria > Paul Maria > Paul > Peter
In diesem Fall bekommt Peter 3a V-Einheiten von seinen Unterstützern und b VEinheiten von Marias Fans, die ihn sämtlich an den Schluss setzen. Maria wiederum erhält 3b V-Einheiten von ihren Unterstützern und darüberhinaus 2a V-Einheiten von Peters Wählern, die sie an zweiter Stelle sehen. Damit Peter nach der Borda– Methode gewählt wird, muss die Anzahl 3a + b seiner V-Einheiten größer sein als die Anzahl 3b + 2a von Marias V-Einheiten. Die Anzahl der Wähler ist übrigens a + b. Eine einfache Rechnung zeigt nun, dass Peter in einer gewöhnlichen Mehrheitswahl mindestens zwei Drittel der Stimmen erreichen muss, um seinen Gewinn auch nach der Borda–Methode sicherzustellen. Allgemeiner muss, falls es n Kandidaten gibt, der Sieger mindestens einen Anteil von 1 − 1/n der Stimmen in einer normalen Mehrheitswahl erhalten, um mit Sicherheit auch nach der Borda–Methode zu gewinnen. (Ich werde dieses einfache Ergebnis im Anhang zu diesem Kapitel herleiten.) Im Fall von zwei Kandidaten bedeutet dies, dass man mindestens die Hälfte der Stimmen bekommen muss, das heißt, dass die einfache Mehrheit ausreicht. Das ist natürlich sinnvoll. Aber eine Aufstellung von beispielsweise fünf Kandidaten würde es erfordern, dass ein Bewerber vier Fünftel oder 80% der Stimmen erhielte, um nach beiden Wahlmethoden unbestrittener Sieger zu sein. Dies klingt nach viel zu viel und das ist es in der Regel auch. Normalerweise reicht eine geringere Unterstützung aus, weil der schlimmste Fall üblicherweise nicht eintritt. Eine interessanter Situation ergibt sich, wenn es mehr Kandidaten als Wähler sind. Ein Anteil von 1 − 1/n der Stimmen kann überhaupt nur auftreten, wenn es mindestens n Wähler gibt. Sind es weniger, so muss Einstimmigkeit unter den Wählern herrschen, damit dieser Grenzwert überschritten wird. (Falls es sechs Kandidaten, aber nur fünf Wähler gibt, müsste der Gewinner mindestens fünf Sechstel der Stimmen erhalten. Dies bedeutet bei fünf Stimmen aber, dass er alle braucht.) Die Borda–Wahl birgt einige Probleme, kleinere und größere. Eine der kleineren Schwierigkeiten besteht darin, dass es ein Unentschieden geben kann. Borda äußerte sich nicht dazu, was passieren sollte, wenn zwei Kandidaten die gleiche Anzahl an Punkten bekommen. Es mag ihm selbstverständlich gewesen sein, dass es dann eine Stichwahl zwischen beiden geben müsste. Was aber, wenn drei oder mehr Kandidaten die gleiche Anzahl an V-Einheiten erhalten? Dann müsste es eine zweite Wahl nach der Rangfolge des Verdiensts geben, und so weiter. Und was passiert, wenn ein
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Wähler zwei oder mehr Kandidaten nicht in eine Rangfolge bringen kann, weil er ihnen gleichgültig gegenübersteht? Sagen wir, es gibt fünf Kandidaten, der Wähler sucht den ersten und den zweiten aus, hat aber keine Meinung zu den drei anderen. Sollen sie alle jeweils drei V-Einheiten bekommen oder jeweils eine V-Einheit oder etwas dazwischen? Ein schwerwiegenderes Problem liegt darin, dass der Gewinner der Borda–Wahl paradoxerweise niemandes Favorit zu sein braucht. Es ist leicht sich Wahlergebnisse auszudenken, in denen eine Kandidatin gewinnt, obwohl sie von niemandem besser gesehen wird als an zweiter Stelle. Ein Beispiel: 11 Stimmen 10 Stimmen 9 Stimmen
Paul > Maria > Hans > Peter Peter > Maria > Hans > Paul Hans > Maria > Peter > Paul
Paul bekäme hier 63 V-Einheiten (11 · 4 + 19 · 1), Peter 69 (= 11 · 1 + 10 · 4 + 9 · 2), Hans 78 (= 21 · 2 + 9 · 4), und Maria, die von niemandem geliebt oder gehasst wird, bekäme 90 (= 30 · 3) und würde gewinnen. Die Endreihenfolge wäre Maria > Hans > Peter > Paul. Eine übliche Mehrheitswahl hätte übrigens die Reihenfolge Paul (11 Stimmen) > Peter (10) > Hans (9) > Maria (0) ergeben, also das genaue Gegenteil der Borda–Wahl. Eine andere paradoxe Situation kann durch den Auftritt eines klarerweise minderwertigen Kandidaten entstehen. Auch wenn er bei jedem einzelnen Wähler ziemlich weit unten in der Rangliste erscheint, könnte es einen nicht vernachlässigbaren Einfluss auf das Endergebnis haben, dass er zur Liste hinzugekommen ist: Die Borda–Zählung der führenden Kandidaten könnte sich ändern und einen anderen Kandidaten an die Spitze bringen. Nehmen wir an, dass 51 Wähler Ginger vor Fred setzen und 49 Fred vor Ginger. 51 Stimmen 49 Stimmen
Ginger > Fred Fred > Ginger
Nach der Borda–Zählung siegt Ginger mit 151 V-Einheiten (51 · 2 + 49 · 1) gegenüber 149 für Fred (51 · 1 + 49 · 2). Nun erscheint aber Bozo auf der Bildfläche. Niemand kann ihn wirklich ausstehen, aber sein Erscheinen überzeugt doch drei von Freds Wählern Ginger sogar noch hinter Bozo zu setzen: 51 Stimmen 46 Stimmen 3 Stimmen
Ginger > Fred > Bozo Fred > Ginger > Bozo Fred > Bozo > Ginger
Nun erhält Ginger 248 V-Einheiten, Fred 249 und Bozo 102. Durch das Hinzukommen von Bozo gewinnt Fred. Der Sieger kann sich also ändern, wenn ein Trottel hinzukommt. Das gleiche könnte passieren, wenn ein Kandidat aus dem Rennen ausscheidet oder — was Gott verhüten möge — stirbt, bevor die tatsächliche Wahl stattfindet. Die hauptsächliche Schwierigkeit mit der Borda–Wahl besteht aber darin, dass sie Manipulationen durch sogenanntes strategisches Wählen zulässt. Mit diesem Problem hatte bereits
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Plinius der Jüngere zu kämpfen (siehe Kapitel 2). Über diese Praxis werde ich mehr im Kapitel 12 sagen. Bordas Vorschlag wurde in Paris viel diskutiert. Und die Schwierigkeiten blieben dabei nicht unbemerkt. Dann erschien eine andere Koryphäe auf der Bühne. Sein Name: Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet.. BIOGRAFISCHER ANHANG
Chevalier Jean Charles de Borda Borda bekam die Aufgabe übertragen, während mehrerer Atlantiküberquerungen Marine–Chronometer zu testen und Methoden zu untersuchen, mit denen man den Längengrad der aktuellen Schiffsposition berechnete. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren dies Fragen von überragender Bedeutung. Der Breitengrad der Schiffsposition, also die Entfernung zum Äquator in nördlicher oder südlicher Richtung, kann recht einfach mit Hilfe eines Sextanten oder Oktanten ermittelt werden. Diese Messungen werden durch die Erddrehung nicht beeinflusst; man kann den Breitengrad durch Winkelmessungen bestimmen, zum Beispiel durch den Winkel der Mittagssonne zum Horizont. Auf die Messung des Längengrades dagegen hat die Erddrehung einen Einfluss. Die Ost–West–Position eines Bootes kann man daher nicht so einfach feststellen. Um den Längengrad zu ermitteln, brauchte man eine präzise Uhr, welche die genaue Lokalzeit eines Bezugspunktes angab, gleich wo man sich auf dem Globus befand. Indem man dann die Bezugszeit mit der Ortszeit am aktuellen Aufenthaltsort verglich, konnte man den Längengrad der Schiffsposition berechnen. Falls zum Beispiel die Sonne sich am aktuellen Aufenthaltsort gerade in der Mittagsposition befindet und die Uhr mit der Zeit von Le Havre zwei Uhr nachmittags anzeigt, kann
der Navigator daraus ablesen, dass sein Schiff sich zwei Stunden oder 30 Grad westlich des Hafens befindet. (24 Stunden entsprechen dem Vollkreis, also 360 Grad. Daher bedeutet jede Stunde Differenz 15 Grad Unterschied, was auf der Höhe des Äquators etwa 1.600 Kilometern entspricht.) Zusammen mit dem bereits bestimmten Breitengrad kennt man so die genaue Position des Fahrzeugs auf der Erdkugel. Das Uhrwerk musste allerdings äußerst genau gehen: Eine Abweichung von nur fünf Minuten von der korrekten Zeit konnte einen Irrtum von bis zu 140 Kilometern in östlicher oder westlicher Richtung ergeben. Viele Schiffskatastrophen hätten vermieden werden können, wenn die Schiffskapitäne über präzise Zeitmesser verfügt hätten. Pendeluhren konnten auf See natürlich nicht benutzt werden. Sie sind dafür gedacht, an feste Wände gehängt zu werden, und nicht für den Einsatz auf den sich in rauer See hebenden und senkenden Schiffen. Uhrmacher aus verschiedensten Ländern versuchten Vorrichtungen zur Zeitmessung zu konstruieren, die auch unter extremen Umständen ausreichend genau gehen würden. Doch niemand war erfolgreich, bis der Schweizer Uhrmacher Ferdinand Berthoud zu Hilfe kam. Er erfand eine gleichmäßig laufende Unruh, die von einer Feder angetrieben wird, die sich in einer festen Ge-
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schwindigkeit spannt und entspannt und selbst auf einem in stürmischem Wetter schlingernden Schiff die genaue Zeit behält. Ein erstes Experiment ergab, nachdem die Uhr zehn Wochen lang ununterbrochen gelaufen war, einen Fehler von nicht einmal einer Minute. Um Berthouds Chronometer weiter zu testen, ordnete König Louis XV. eine Expedition an. Borda wurde als verantwortlicher Wissenschaftler für die Experimente an Bord der Flore bestellt. Die Ergebnisse übertrafen noch die optimistischsten Erwartungen. Nach der Rückkehr verfassten er und der Schiffskapitän einen Bericht mit dem Titel „Voyage fait par ordre du roi, en 1768 et 1769, dans différentes parties du monde, pour éprouver en mer les horloges de Monsieur Ferdinand Berthoud.“ (Auf Anordnung des Königs zwischen 1768 und 1769 unternommene Reise in verschiedene Teile der Welt, um auf der See die Uhren des Herrn Ferdinand Berthoud zu erproben.) Der Bericht wurde unter großem Beifall der Akademie der Wissenschaften vorgestellt. Berthoud wurde zum königlichen Uhrmacher ernannt und mit einer jährlichen Rente von 10.000 Franken belohnt. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs wurde Borda zum Kapitän befördert und ihm wurde das Kommando eines Schiffs anvertraut. An Bord der Seine kreuzte er in der Karibischen See und entlang der amerikanischen Küste und wurde in viele Heldentaten verwickelt. In der bekannten Schlacht von Les Saintes im Jahr 1782 standen sechs Schiffe unter seinem Kommando. Dies war allerdings auch das Ende seiner Karriere auf See. Die britischen Gegner erwiesen sich als stärker; nach mehreren Stunden des Kampfs war sein Schiff manövrierunfähig, ein großer Teil
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der Mannschaft getötet und Borda wurde gefangen genommen. Er hatte allerdings Glück: Die Haft war nicht hart und dauerte nicht lange. Nachdem er frei gekommen war, kehrte er nach Frankreich zurück und wurde zum Leiter der Ingenieurshochschule der französischen Marine ernannt. Erst dann, im Alter von bereits 50 Jahren, begann Borda seine zweite Karriere, nämlich als Wissenschaftler. Sein Name sollte dadurch weit unsterblicher werden als durch seine militärischen Erfolge. Zu jener Zeit herrschte ein großes Durcheinander in allen Teilen Frankreichs. Händler, Kaufleute und Ladenbesitzer benutzten in allen Provinzen und in jeder Stadt verschiedene Gewichte und Maße, die zudem manchmal den gleichen Namen trugen. Dieses Durcheinander erschwerte den Handel außerordentlich. 1790 setzte König Louis XVI. eine Kommission ein, die Vorschläge erarbeiten sollte, wie die verschiedenen Maße vereinheitlicht werden könnten. Ein halbes Jahr später wurde versuchsweise der Vorschlag gemacht, Längenmaße auf Pendel zurückzuführen. Die Maßeinheit wäre die Länge eines Pendels, das in genau einer Sekunde einmal hin- und herschwingt. Diese Methode schien auch in Großbritannien und den Vereinigten Staaten annehmbar und die französischen Wissenschaftler waren begeistert von der Vorstellung, dass ihrem Vorschlag internationale Anerkennung bevorstand. Der Nationalversammlung wurde ein Vorschlag unterbreitet, den diese an den Ausschuss für Landwirtschaft und Handel weitergab, welcher ihn König Louis XVI. empfahl, der ihn an die Académie des Sciences weiterleitete, die eine Kommission einsetze, welche die Angelegenheit weiter verfolgen sollte. Nun kam die Sache in Gang:
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Diese hochkarätig besetzte Kommission bestand aus den gefeiertsten Wissenschaftlern von Paris: Joseph Louis Lagrange, Pierre Simon Laplace, Gaspard Monge, die führenden Mathematiker ihrer Zeit; Antoine Lavoisier, der große Chemiker, und der Marquis de Condorcet, Mathematiker, Politiker und Ökonom, über den wir im nächsten Kapitel mehr erfahren werden. Jean Charles de Borda wurde zum Vorsitzenden der Kommission ernannt. Die Kommission erkannte einige Probleme mit dem Pendel. Zum einen erschien es ihnen nicht die richtige Herangehensweise, eine Maßeinheit (die Länge) auf eine andere (die Zeit) zu gründen. Schließlich war die Unterteilung des Tages in 86.400 Sekunden eine künstliche Sache, die jederzeit geändert werden könnte. Tatsächlich befürwortete Borda den Tag in 10 Stunden von jeweils 100 Minuten einzuteilen, von denen jede aus 100 Sekunden bestehen sollte. Das zweite Problem war schwerwiegender: Wegen der Abflachung der Erde an den Polen ist die für die Pendelfrequenz verantwortliche Gravitationskonstante nicht überall gleich. An verschiedenen Stellen der Erde bräuchte man also verschieden lange Pendel, um eine Schwingdauer von einer Sekunde zu erreichen. Dieses Problem hätte dadurch beseitigt werden können, dass man einen bestimmten Ort der Erde festlegt, an dem Schwingdauer und Länge des Pendels vermessen würden. Doch dies hätte den Nationalstolz aller der Länder wachgerufen, von denen man hoffte, dass sie das neue System annehmen würden. Ein weiterer Grund, das Pendel zu verwerfen, lag darin, dass die Zeit quadratisch in die Gleichung eingeht, welche die Schwingdauer bestimmt. Die Wissenschaftler wollten aber alles einfach und linear halten.
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Also wurde nach einer anderen Lösung gesucht. Im ersten, im Oktober 1790 verfassten Kommissionsbericht beschlossen die Mitglieder das Dezimalsystem für die Untereinheiten von Geld, Gewichten und Maßen zu benutzen. Eigentlich ging es gar nicht um die Unterteilung der Einheiten, aber die Wissenschaftler fanden es trotzdem wichtig, diesen Punkt anzugehen (vermutlich weil es so bequem war mit den Fingern die Ziffern abzuzählen). Dieser Bericht war der Vorläufer des zweiten Berichts vom März 1791, in welchem die Kommission ihren Entschluss ankündigte, die Längeneinheit als den zehnmillionsten Teil eines Viertels eines Längenkreises zu definieren, also als 0,000.000.1 mal den Abstand des Nordpols vom Äquator. Nun musste nur noch dieser Abstand vermessen werden . . . Und hier begannen erst die wahren Schwierigkeiten. Die Erde zu vermessen stellte im späten achtzehnten Jahrhundert eine Aufgabe dar, die heute etwa dem Bau einer Raumstation entspricht. Die französischen Wissenschaftler ließen sich indes nicht so leicht beeindrucken und machten sich an die Arbeit. Um das gewaltige Unternehmen zu erleichtern, ersann Borda eine Vorrichtung, mit der man in damals ungekannter Genauigkeit Winkel messen konnte. Mit diesem Gerät war man in der Lage Messungen auszuführen, indem man zunächst die Landschaft in Dreiecke zerlegte und dann Abstände mit Hilfe der Trigonometrie berechnete. Dann fiel der Kommission ein anderes Problem auf: Niemand war je am Nordpol gewesen, geschweige denn, dass jemand einen von dort ausgehenden Abstand gemessen hätte. Die Wissenschaftler umgingen dieses Problem, indem sie beschlossen sich mit dem Abstand zwischen Dünkir-
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chen und Barcelona zu begnügen. Wenn sie die Distanz zwischen diesen beiden Städten messen ließen, ihre Breitengrade berechneten und die Abflachung der Erde an den Polen berücksichtigten, könnten sie die Gesamtlänge eines Viertels eines Längenkreises berechnen. Aber die Revolution kam dazwischen. Frankreich befand sich im Krieg, die Republik wurde ausgerufen, König Louis XVI. zum Tode verurteilt und exekutiert, der Terror griff um sich, Lavoisier wurde hingerichtet, Condorcet beginn Selbstmord oder wurde ermordet, die Akademie abgeschafft. Kurz: Es herrschte Chaos. Und inmitten all dessen gingen die Wissenschaftler weiter ihrer Aufgabe nach. Eine Mannschaft von Vermessern mit ihren Stäben, Fahnen und Messgeräten startete in Dünkirchen Richtung Süden, während sich ein anderes Team von Barcelona aus über die Pyrenäen nach Norden vorarbeitete. Die Teilnehmer wurden unzählige Male verhaftet. Mehr als einmal entgingen sie dem Tod nur knapp durch den Hinweis,
dass sie daran arbeiteten, das verhasste königliche Maßsystem zu ersetzen. Unbeeindruckt von allen Mühen setzten sie ihre Aufgabe fort, bis sie sich in der Stadt Rodez trafen, etwa 500 km südlich von Paris. Die Unternehmung dauerte fast acht Jahre. Am 28. November 1798 verkündete die Kommission, dass der zehnmillionste Teil des Abstands zwischen dem Nordpol und dem Äquator 0,513243 toises entspreche, oder eben einem Meter, wie wir es heute ausdrücken würden. Zusammen mit Liter und Gramm wurde das Meter durch ein am 10. Dezember 1799 verordnetes Gesetz zur offiziellen Maßeinheit. Kürzliche Messungen mit Hilfe von Satelliten zeigten, dass sich die französischen Landvermesser bei ihrer Berechnung der Distanz zwischen Dünkirchen und Barcelona nur um etwa die Länge von zwei Fußballfeldern geirrt hatten. Das Meter, das sie vor über zwei Jahrhunderten ermittelt hatten, war bis auf ein fünftel Millimeter genau.
MATHEMATISCHER ANHANG
Borda–Wahl und Mehrheitswahlen Nehmen wir an, es gäbe n Kandidaten und W Wähler, und a sei die Anzahl der Wähler, die Peter an erste Stelle setzen. Falls a/W größer als 50 Prozent ist, dann würde Peter von der Mehrheit gewählt werden. Unter welchen Bedingungen wäre ihm auch der Sieg nach Bordas Methode sicher? Im schlimmsten Fall für Peter würde Maria von allen a Peter–Wählern an die zweite Stelle gesetzt werden und von allen anderen Wählern an erste Stelle, und zudem würden diese W − a Wähler alle Peter an die letzte Stelle schieben: a Stimmen W − a Stimmen
Peter > Maria > · · · > Maria > > · · · > Peter
Peter bekäme also n V-Einheiten von jedem der a Wähler, die ihn an erster Stelle sehen, und jeweils eine V-Einheit von allen anderen, zusammen also a · n + (W − a) · 1.
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5 Der Marineoffizier
Maria würde von jedem der Fans von Peter n − 1 V-Einheiten erhalten und jeweils n V-Einheiten von allen anderen, zusammen also a · (n − 1) + (W − a) · n. Damit Peter mehr V-Einheiten als Maria erhält, muss also die folgende Ungleichung gelten: a · n + (W − a) · 1 > a · (n − 1) + (W − a) · n. Wenn man dies auflöst, erhält man: a n−1 1 > = 1− . W n n Der Ausdruck auf der linken Seite, a/W , ist der Anteil der Wähler, welche Peter an erste Stelle setzen. Falls dieser Anteil größer ist als die rechte Seite, also 1 − 1/n, dann hat Peter auch in der Borda–Wahl den Sieg sicher, sogar im für ihn ungünstigsten denkbaren Fall.
Kapitel 6
Der Marquis
In der französischen Hauptstadt mit all ihren Zeitungen, Verlagen, Akademien und der Tradition der Salons waren die gelehrten Debatten stets sehr lebhaft. Bordas Wahlmethode bildete dabei keine Ausnahme. Wie man es erwarten konnte, blieb sein Vorschlag gemäß den Präferenzen Punkte oder V-Einheiten zu verteilen nicht ohne Widerspruch. Der Herausforderer kam in der Gestalt eines zehn Jahre jüngeren Adligen. Sein vollständiger Name war Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet. Condorcet wurde 1743 in Ribemont geboren als einziges Kind einer alten Familie von niederem Adel. Sein Vater, ein Rittmeister der Kavallerie, kam während einer Militärübung ums Leben, als Condorcet gerade fünf Wochen alt war. Seine Mutter war eine fanatisch religiöse Frau, die ihren Sohn ohne jegliche Ausbildung aufzog. Bis zum Alter von neun Jahren musste er weiße Kleider tragen als Zeichen der Verehrung für die Jungfrau Maria und für die kindliche Unschuld des Jungen. Seine Mutter erhoffte, dass dies ihr und ihrem Sohn die ewige Glückseligkeit sichern würde. Aber dann schritt sein Onkel, ein Bischof, ein. Religion und Verehrung seien zwar gut, doch sogar diesem Kirchenmann schien all das etwas zu weit zu gehen. Er stellte einen Hauslehrer ein, damit der Junge Anschluss an die anderen Kinder seines Alters bekäme, und schickte ihn dann auf eine Jesuitenschule in Reims, im nördlichen Teil des Landes. Auch wenn Jesuitenschulen damals in dem Ruf standen, die beste Ausbildung in Europa zu bieten, stellten sie nicht gerade das zur Verfügung, was man heute eine positive Umgebung nennen würde. Auswendiglernen und körperliche Züchtigung waren die hauptsächlichen Ausbildungsmethoden. Hinzu kam die zügellose Homosexualität unter den Mönchen und Schülern, welche in Condorcet einen Hass auf die Kirche hinterließ, der sein Leben lang anhielt. Nichtsdestoweniger erhielt er eine erstklassige Ausbildung. Bald wurden die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten des Jungen offenbar und sein Onkel schickte ihn auf das Collège de Navarre in Paris, damit er dort seine Ausbildung fortsetze. Das Programm des ersten Jahres am Collège bestand aus einem Philosophiestudium, welches Condorcet überhaupt nicht mochte, und das Programm des zweiten Jahres aus Mathematik, in der er glänzte. Während dieser G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_6,
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6 Der Marquis
Studienzeit hatte er das Glück, dem Enzyklopädisten Jean Le Rond d’Alembert zu begegnen. Dieser berühmte Mathematiker und Physiker hatte selbst eine unglückliche Kindheit erlebt: Er wurde als uneheliches Kind geboren und von seiner Mutter kurz nach der Geburt auf den Stufen einer Kirche ausgesetzt. D’Alembert nahm den schüchternen und linkischen Sechzehnjährigen unter seine Fittiche. Condorcet fühlte sich unwohl in der weltlichen Atmosphäre, die in der Hauptstadt herrschte. Es fiel ihm schwer in Gesellschaft zu reden und er wurde sofort rot, wenn man ihn ansprach. Dennoch war er ein gern gesehener Gast im Salon von d’Alemberts Gefährtin und vielleicht Geliebten Julie de Lespinasse. Ein erster Versuch sich als Mathematiker einen Namen zu machen lief schief, da seine Ergebnisse nicht neu waren. Aber mit 22 Jahren veröffentlichte Condorcet dann eine Arbeit über Integralrechnung, die sehr gelobt wurde. Damit begann seine wissenschaftliche Karriere. Auf d’Alemberts Empfehlung hin wurde er bereits vier Jahre später in die Académie des Sciences gewählt. Condorcet schrieb weitere Abhandlungen; eine davon wurde von seinem Zeitgenossen Joseph Louis Lagrange, einem der führenden Mathematiker der Zeit, gepriesen als ein Buch, das „mit erhabenen und fruchtbaren Ideen angefüllt ist, die Stoff für mehrere Werke hätten liefern können“1 . Nach weiteren vier Jahren wurde er zum ständigen Sekretär der Académie gewählt. Diese Stellung erreichte er vor allem deshalb, weil er dem Rat von d’Alembert und einem gewissen François Marie Arouet alias Voltaire gefolgt war. Beide Männer hatten Condorcet vorgeschlagen, in der wichtigsten von dieser Stellung geforderten Fähigkeit Erfahrungen zu sammeln, nämlich im Schreiben von Nachrufen auf verstorbene Akademiemitglieder. Diese vom Sekretär verfassten Éloges aus allen möglichen Wissenschaftsdisziplinen waren nämlich nicht nur einfache Zusammenfassungen dessen, was die Wissenschaftler während ihres Lebens erreicht hatten. Sie ähnelten eher gelehrten Kapiteln aus einer Wissenschaftsgeschichte als den Nachrufen, die wir aus heutigen Zeitungen kennen. Condorcet hatte literarisch übrigens einiges zu bieten und wurde 1782 sogar in die Académie Française gewählt — die höchste literarische Ehre, auf die ein französischer Autor hoffen konnte — wieder auf Empfehlung seines Mentor d’Alembert hin. Während Condorcet noch mit seinen mathematischen Arbeiten beschäftigt war, begegnete er Anne Robert Jacques Turgot, einem hohen Beamten der königlichen Verwaltung. Turgot war ein glänzender Ökonom und hatte einen großen Einfluss auf Adam Smith, der damals in Frankreich lebte. Einige der Ideen, die Smith schließlich in sein Werk Wealth of Nations aufnahm, kamen direkt von Turgot. König Louis XVI. ernannte Turgot im Jahre 1774 zum Finanzminister. Als solcher suchte er nach Mitarbeitern, denen er trauen konnte, und ernannte seinen Freund Condorcet daraufhin zum Inspecteur Général des Monnaies, also zum Generalinspekteur der Münze. (Interessanterweise hatte der große Issac Newton auf der anderen Seite des Kanals eine ähnliche Stellung.) Turgot sah die Revolution nahen und ihm wurde klar, dass dringend Reformen nötig waren, um die französische Wirtschaft für Wettbewerb und freie Märkte zu öffnen. Unter dem Schlagwort „kein Bankrott, keine Steuererhöhung, keine Anlei1
Ce mémoire est rempli d’idées sublimes et fécondes qui auraient pu fournir la matière de plusieurs ouvrages.
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hen“2 versuchte er die Industrie wirtschaftlicher zu gestalten. Er förderte Wachstumsindustrien, schaffte Binnensteuern auf Weizen ab, senkte die Staatsausgaben, drosselte die üppigen Kosten des königlichen Hofes und hob den Zunftzwang auf, der die Wirtschaft und Industrie seit dem Mittelalter im Würgegriff hatte. All dies war den herrschenden Schichten ein Dorn im Auge und nach einiger Zeit hatte sich Turgot so ungefähr überall im Land Feinde gemacht. Solange allerdings der König zu ihm hielt, war er in Sicherheit. Aber dann beging er einen schweren Fehler. Mit der Begründung, man müsse wirtschaftlich den Gürtel enger schnallen, verweigerte er auch den Günstlingen der Königin Marie Antoinette verschiedene Gefälligkeiten. Damit hatte er eine der wichtigsten Hofregeln gebrochen: sich niemals mit der Gemahlin des Königs anzulegen. Turgot wurde entlassen. Der Schweizer Bankier Jacques Necker wurde sein Nachfolger im Ministerium. Er begann die meisten Maßnahmen seines Vorgängers rückgängig zu machen, was schließlich mit zum Ausbruch der Revolution führte. Nachdem sein Gönner gehen musste, reichte Condorcet ein Rücktrittsgesuch ein, aber der König lehnte es ab und Condorcet blieb weitere fünfzehn Jahre an der Münze. Er schrieb aber weiter wissenschaftliche Abhandlungen über Mathematik, Ökonomie, Politikwissenschaften und die Menschenrechte. Mit 43 Jahren verliebte sich Condorcet bis über beide Ohren in Sophie de Grouchy, eine über zwanzig Jahre jüngere Frau. Sie war die älteste Tochter des Marquis de Grouchy, eines ehemaligen Pagen von Louis XV., und es wird behauptet, sie sei zu ihrer Zeit die schönste Frau in Paris gewesen. Condorcet und die junge Dame hatten in allen Belangen die gleichen Vorstellungen und bildeten ein ideales Paar. 1786 heirateten sie und wie es sich damals in Paris für intellektuelle Frauen gehörte, unterhielt Sophie einen Salon im Wohnsitz des Paares, dem Hôtel des Monnaies. Einer der Gäste, der regelmäßig zu diesen Versammlungen erschien, war ein Amerikaner namens Thomas Jefferson. Darüberhinaus beschäftigte sich Sophie damit, die Werke Adam Smiths, eines anderen Gasts ihres Salons, ins Französische zu übersetzen. Sie war überdies eine begabte Porträtistin, was in harten Zeiten ihre einzige Einnahmequelle werden sollte. Vier Jahre nach der Hochzeit bekam das Paar eine Tochter, die sie Élisa nannten. Condorcet war ein liebevoller Ehemann und ein vernarrter Vater. Als Präsident der Académie des Sciences und Mitglied der Académie Française gehörte Condorcet zu den führenden Intellektuellen Frankreichs. Er war ein echter Vertreter der Aufklärung und setzte sich, wo er konnte, für freiheitliche Gedanken ein: wirtschaftliche Freiheit, Toleranz gegenüber Protestanten und Juden, Gesetzesreformen, staatliche Schulbildung, Abschaffung der Sklaverei, Rassengleichheit. Zum Beispiel verfocht er beredt die Gleichberechtigung der Frauen: „Warum sollten Wesen, die Schwangerschaften und vorübergehenden Unpässlichkeiten ausgesetzt sind, nicht Rechte ausüben können, die niemals jemand Menschen wegzunehmen gedachte, die jeden Winter an Gicht leiden oder sich leicht erkälten? [. . . ] Man hat behauptet, dass Frauen trotz großen Geistes, Scharfsinns und einer Urteilsfähigkeit,
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Pas de banqueroute, pas d’augmentation de la taxation, pas d’emprunt.
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die ebenso entwickelt ist wie bei scharfsinnigen Dialektikern, niemals von dem geleitet wurden, was man Verstand nennt. Diese Beobachtung ist falsch.“3 Als 1789 der Aufruhr ausbrach, konnte Condorcet die Hände nicht in den Schoß legen. Er ließ die Mathematik sein, nahm eine führende Rolle in der Revolution ein und wurde 1791 als Vertreter von Paris in die gesetzgebende Nationalversammlung gewählt. Er gehörte weder den radikaleren Montagnards noch den gemäßigteren Girondisten an, sondern versuchte zwischen den verschiedenen Parteiungen zu vermitteln und die extremen Elemente abzumildern. Als einer der vernünftigeren Männer in der gesetzgebenden Nationalversammlung wurde Condorcet ausgewählt, um eine Verfassung für die neue Nation zu entwerfen. Dann wurde die Versammlung durch den Konvent ersetzt und in der Folge fühlte Condorcet sich den Girondisten näher, die inzwischen ihren politische Macht an die Montagnards verloren hatten. Diese unterdrückten unter Robespierres Führung jede ihnen entgegengesetzte Meinung mit eiserner Hand, schafften das Königtum ab und brachten König Louis XVI. vor Gericht. Condorcet befürwortete den Strafprozess, widersetzte sich aber dem Todesurteil, was ihn nicht zum Liebling der Montagnards werden ließ. Dem König half es auch nicht: Er wurde am 21. Januar 1793 hingerichtet. Condorcet war kein Redner, der die Zuhörer mitreißen konnte. Seine rhetorischen Fähigkeiten hatten sich seit seiner Jugend kaum weiterentwickelt; er war immer noch schüchtern und seine Stimme trug nicht. Kein Wunder also, dass er keinen Erfolg hatte, als er der Versammlung seinen Verfassungsentwurf vorstellte. Seine Gegner präsentierten ihre eigene Fassung — ein Abklatsch von Condorcets ursprünglichem Entwurf — und er protestierte mit aller Kraft, wurde deswegen aber gleich als Verräter angeklagt. Die darauf folgenden tragischen Ereignisse werde ich im Anhang erzählen. Der Marquis de Condorcet hinterließ ein großes Vermächtnis, als einer der beachtenswertesten Männer, die die Französische Revolution hervorgebracht hat: Politiker, Verfassungsjurist, Mathematiker und Schriftsteller. Wichtige mathematische Werke vermischen sich mit Texten über soziale Fragen. Einige seiner erstaunlichsten Texte, als Politiker wie als Mathematiker, sind seine Beiträge zur Theorie der Abstimmungen und Wahlen. Bis heute ist sein Name mit einer der größten gesellschaftlichen Ungereimtheiten aller Zeiten verbunden: dem Condorcet–Paradoxon. Das bereits im vorigen Kapitel über Jean Charles de Borda angedeutete Paradoxon bezieht sich auf einen schwerwiegenden Mangel der Mehrheitsentscheidungen. Es wird allgemein akzeptiert, dass man Entscheidungen treffen, Urteile fällen, über Meinungsverschiedenheiten beschließen und Amtsträger wählen soll, indem man abstimmen lässt und dann zählt, welche der Alternativen die meisten Unterstützer findet. Tatsächlich stellen Mehrheitsentscheidungen eines der Hauptmerkmale der Demokratie dar. Schließlich beruht der Grundsatz „eine Person = eine Stimme“ auf der Annahme, dass die Mehrheit Recht hat. Doch zur Überraschung von vielen 3
Pourquoi des êtres exposés à des grossesses et à des indispositions passagères ne pourraient-ils exercer des droits dont on n’a jamais imaginé de priver les gens qui ont la goutte tous les hivers et qui s’enrhument aisément ? [...] On a dit que les femmes, malgré beaucoup d’esprit, de sagacité, et la faculté de raisonner portée au même degré que chez de subtils dialecticiens, n’étaient jamais conduites par ce qu’on appelle la raison. Cette observation est fausse [...]
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Zeitgenossen Condorcets, und auch noch von vielen heutzutage, ist diese Annahme grundlegend falsch. Der Marquis zeigte auf, dass Mehrheitsmeinungen nicht immer das sind, was sie vorgeben. 1785 schrieb Condorcet eine 200-seitige Abhandlung mit dem Titel „Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix“ (Versuch über die Anwendung der Analysis auf die Wahrscheinlichkeit von Mehrheitsentscheidungen), die er Turgot widmete, weil dieser ihn gelehrt habe, dass man in der Politikwissenschaft den gleichen Grad der Gewissheit erreichen könne wie in der Mathematik. Als typisches Anwendungsbeispiel für die Stärke der Mathematik wählt Condorcet die Mehrheitsentscheidungen aus. Seine Analyse sei nicht nur für den Fall nützlich, dass Bürger ihre Führer wählen, schreibt er, sondern auch für Strafrichter, die zwischen Schuld und Unschuld eines Angeklagten entscheiden müssen. Fünfzehn Jahre nachdem Jean Charles de Borda seinen Vortrag über Wahlen und Abstimmungen vor der Académie des Sciences gehalten hatte und vier Jahre nach der Publikation von dessen Vorschlag, einem Kandidaten gemäß der Rangfolge Punkte oder V-Einheiten zuzuteilen, wurde Condorcets Essai veröffentlicht. In einer Fußnote weist Condorcet auf Bordas Beiträge hin und behauptet, er habe erst davon erfahren, als sein Werk bereits in Druck war. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, kamen Condorcet und Borda nicht besonders gut miteinander aus, aber in einem Punkt stimmten sie überein: Beide hielten nicht viel von Mehrheitsentscheidungen. Anders als Llull und Cusanus, die fest daran glaubten, dass die Mehrheit den Willen Gottes und die absolute Wahrheit aufdeckt, waren die beiden Franzosen nicht davon überzeugt, dass Mehrheitsentscheidungen automatisch auch richtige Entscheidungen sind. Condorcet vertrat die Meinung, dass Gesellschaften die Mehrheitsregel aus viel pragmatischeren Gründen angenommen hätten. Individuen dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen dient der Aufrechterhaltung von Frieden und Ruhe. Die Autorität musste auf die gleiche Seite wie die Macht gestellt werden und die Macht ist dort, wo die meisten Stimmen zusammenkommen. Also muss für das Wohl des Volkes der Wille einer kleineren Zahl dem Willen der größeren Zahl geopfert werden, damit alles ruhig bleibt. Um seine Behauptung zu unterstützen, zitiert Condorcet Beispiele aus alten Zeiten. Die Römer und Griechen strebten nicht unbedingt nach der Wahrheit oder der Vermeidung von Irrtümern. Sie versuchten vielmehr die Interessen und Wünsche der verschiedenen Gruppierungen, aus denen ihre Staaten bestanden, im Gleichgewicht zu halten. Jedesmal, wenn Entscheidungen getroffen wurden — gerechte oder ungerechte, richtige oder falsche, vernünftige oder unvernünftige — mussten sie auch durchgesetzt werden. Und da die Macht durch die Menge ausgeübt wird, wurde sogar irrigen Entscheidungen zugestimmt, sobald sie die Unterstützung der Mehrheit hatten. Es hätte die Autorität der Gruppierungen unnötig eingeschränkt, wenn Entscheidungen auf Gerechtigkeit, Richtigkeit oder Vernunft hin geprüft worden wären. So blieb die Macht im Recht. Aber schließlich suchte man doch nach Methoden, mit denen man vernünftige Entscheidungen treffen könnte. Lange vor dem Zeitalter der Aufklärung hatte man damit begonnen, weniger irrtumsanfällige Mechanismen aufzuspüren. Auch schon
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während der von tiefster Unwissenhait geprägten Jahrhunderte war ein Unbehagen über Mehrheitsentscheidungen aufgetreten, insbesondere in der Rechtsprechung. Wahrscheinlich das größte Problem, dem sich ein Gericht gegenüber sieht, ist die Möglichkeit aufgrund von Justizirrtümern Menschen für Verbrechen zu verurteilen, die sie nicht begangen haben. Daher versuchte man im Mittelalter den Gerichtsverfahren eine Form zu verleihen, mit der die Wahrscheinlichkeit erhöht werden sollte, dass die Entscheidungen der Wahrheit entsprächen. In Frankreich misstraute man gerichtlichen Verfügungen, bei denen ein einziger Richter den Ausschlag der Waage bestimmte, und forderte mehr als eine einfache Mehrheit, um einen Angeklagten zu verurteilen. In England mussten Schwurgerichte einstimmig urteilen. Das Appellationsgericht der katholischen Kirche verlangte sogar nicht weniger als drei einstimmige Entscheidungen, damit ein Urteil gültig wurde. (Bei Hexenprozessen dagegen war natürlich weder eine einfache noch eine qualifizierte Mehrheit nötig. Hier wurde die Wahrheit durch die bewährte Methode, die arme Frau verschiedenen Arten der Folter zu unterwerfen, ans Licht gebracht.) Condorcet gab eine Kostprobe davon ab, wie man mathematische Ideen und insbesondere die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Gerichtsentscheidungen anwenden kann. Er wies darauf hin, dass Justizirrtümer seltener vorkämen, wenn eine überzeugendere Mehrheit als nur die von einer Stimme gefordert würde: Je größer die im Gericht geforderte Mehrheit, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, dass ein unschuldiger Mensch verurteilt würde. Sofort ergibt sich die Frage, wie weit man mit dieser Sicherheit gehen muss. Und ein zweites Problem tritt auf: Schuldige Angeklagte sollten nicht nur deshalb freigesprochen werden, weil die Mehrheitsanforderungen zu hoch angesetzt wurden. Nach dieser eher pessimistischen, wenn auch pragmatischen Sicht auf die Vorteile der Mehrheitsentscheidungen vertieft sich Condorcet in ihre Nachteile. Zu Beginn seiner Abhandlung entschuldigt er sich bei den Mathematikern wegen des begrenzten Interesses der mathematischen Methoden. Tatsächlich braucht man nur die Grundrechenarten, um Condorcets Argumentation zu folgen. Auf Seite 61 seiner Abhandlung stellt Condorcet den Lesern sein berühmtes Paradoxon vor. Er veranschaulicht es am Beispiel von 60 Wählern, die einen von vier Kandidaten in irgendein Amt wählen müssen. Ich gebe hier ein einfacheres Beispiel an mit nur drei Wählern. Sagen wir, Peter, Paul und Maria müssen entscheiden, was sie als Abenddrink kaufen. Peter bevorzugt Amaretto vor Grappa und Grappa vor Limoncello. Paul zieht Grappa Limoncello vor und Limoncello Amaretto. Maria schließlich hat Limoncello lieber als Amaretto und Amaretto lieber als Grappa. Peter Paul Maria
Amaretto > Grappa > Limoncello Grappa > Limoncello > Amaretto Limoncello > Amaretto > Grappa
Die drei fühlen sich demokratischen Werten verpflichtet und wollen daher der Mehrheitsentscheidung folgen. Sie stimmen ab und es wird schnell klar, dass eine Mehrheit Amaretto dem Grappa vorzieht (nämlich Peter und Maria) und eine Mehrheit Grappa lieber als Limoncello hätte (nämlich Peter und Paul). Auf Grund-
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lage dieser beiden Abstimungsrunden könnten sie sich entscheiden und eine Kiste Amaretto kaufen. Aber, Überraschung, Überraschung!, Paul und Maria protestieren. Wieso das? Die vernünftigste Wahlmethode wurde benutzt — eine Stimme pro Person — und sie sind immer noch nicht glücklich? Wollen sie mittendrin die Spielregeln ändern? Nun, ihr Murren ist berechtigt: Paul und Maria weisen darauf hin, dass sie beide Limoncello, das am Ende stehende Getränk, dem Amaretto vorziehen würden. Wie kann das sein? Hier ist der entscheidende Punkt: Hätten die drei eine dritte Abstimmung abgehalten zwischen Limoncello und Amaretto, so hätte eine Mehrheit (nämlich Paul und Maria) Limoncello gewählt. Lassen wir sie also Limoncello kaufen und die Sache beenden. Aber halt! Wenn sie Limoncello kaufen, dann werden Peter und Paul genau so heftig protestieren — ja Paul, genau der, der gerade wegen seiner Abneigung gegen Amaretto auf einer dritten Abstimmung beharrt hat. Beide hätten lieber Grappa als Limoncello. Hier haben wir nun also das Paradoxon. Es wird nicht über Geschmack gestritten: Die Vorlieben von Peter, Paul und Maria sind für sich genommen jeweils stimmig. Aber zusammen kann man es drehen und wenden, wie man will, am Ende kommt immer heraus, dass Amaretto vor Grappa kommt, Grappa vor Limoncello, Limoncello vor Amaretto, Amaretto vor Grappa, Grappa vor Limoncello . . . es geht immer so weiter. Worin besteht nun die Lösung? Die Antwort ist niederschmetternd: Es gibt keine. Es gibt keinen Ausweg aus Condorcets Paradoxon. Was auch immer man auswählt, es gibt eine Mehrheit, die etwas anderes vorziehen würde. Die Vorlieben drehen sich im Kreis durch alle Möglichkeiten hindurch und das Paradoxon bleibt bestehen. Die Tatsache, dass eine Mehrheit Amaretto vor Grappa und eine Mehrheit Grappa vor Limoncello setzt, bedeutet einfach nicht, dass die Mehrheit auch lieber Amaretto als Limoncello hätte. Im mathematischen Jargon würde man sagen, dass „Mehrheitsmeinungen nicht transitiv“ sind. Was für eine Enttäuschung für die Demokratie! Condorcets Paradoxon kann zu Missbrauch genutzt werden. Zum Beispiel kann jemand bei der Aufstellung der Tagesordnung einer Sitzung auf raffinierte Weise die Ergebnisse von Entscheidungen beeinflussen, indem er die Reihenfolge manipuliert, in der die Abstimmungen getätigt werden. Nehmen wir an, ein Unternehmen möchte seinen Angestellten etwas Gutes tun und in seinen Räumlichkeiten entweder eine Cafeteria oder einen Fitnessclub oder eine Kindertagesstätte einrichten. Eine Entscheidung muss gefällt werden. Der Vorstandschef des Unternehmens beauftragt seine persönliche Assistentin mit der Vorbereitung einer Vorstandssitzung. Diese hasst verschwitzte Keller und mag keine schreienden Kinder. Sie liebt es andererseits von Zeit zu Zeit in ihrem vollen Arbeitstag eine Pause für eine Tasse Kaffee einzulegen. In der Sitzung lässt sie die ersten beiden Abstimmungen durchführen, nach denen die Cafeteria an erster Stelle steht. Gespräche und von der Assistentin angeheizte Diskussionen vor der Abstimmung haben den größten Teil des Morgens in Anspruch genommen und es bleibt kaum mehr Zeit für weitere Abstimmungen. Einige Vorstandsmitglieder müssen sich erleichtern, andere wollen rauchen und das Mittagessen wartet auch schon im Speisesaal der Geschäftsführung. „Lassen Sie uns hier einen Schlusspunkt setzen“, könnte die verschlagene Unternehmerin sagen. „Da die Cafeteria dem Fitnesscenter vorgezogen wird und das Fitnesscenter
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der Kindertagesstätte, ist es klar, dass die Mehrheit eine Cafeteria möchte.“ Niemand interessiert sich dafür, ob die Kindertagesstätte in einer Stichwahl die Cafeteria übertroffen hätte. Auf diese Weise könnte die Assistentin ihren Willen durchsetzen. Aus guten Gründen fürchtete also der zutiefst beunruhigte Condorcet, dass in dem Paradoxon große Gefahren lauern. Da unwissende Massen durch korrupte Politiker oder Scharlatane manipuliert werden können, kam er zu dem Schluss, dass das Volk über seine Rechte und bürgerlichen Verpflichtungen informiert werden müsste. Falls die Philosophen in der Gesellschaft nicht den Mut fänden die ahnungslosen Menschen aufzuklären, könnte Tyrannei den Fuß ins Land setzen und sich behaupten. Condorcet, der sich der Wahrheitssuche verpflichtet hatte und dem Vaterland dienen wollte, nahm diese Aufgabe auf sich. Als Organ seiner Bildungsbemühungen gründete der Bürger Condorcet (es war nicht mehr modern und ausgesprochen gefährlich den Titel Marquis zu tragen) zusammen mit Bürger Sieyes und Bürger Duhamel das Journal d’Instruction Sociale (Zeitschrift der sozialen Bildung), eine wöchentliche Veröffentlichung, deren Seiten dazu dienten, die Öffentlichkeit über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären. Man solle niemals vergessen, so erinnerten die Herausgeber ihre Leser in der Subskriptionsanzeige für die neue Zeitschrift, dass Freiheit und Gleichheit zwar die wichtigsten Güter der aufgeklärten Menschheit seien, dass sie aber auch die Ursache für größten Schaden sein könnten, wenn das Volk aus Unwissenheit sie nicht zu bewahren wisse. Die Herausgeber betonten, dass es nicht Ziel der Zeitschrift sei, den Lesern etwas einzutrichtern, sondern sie zu befähigen sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Zeitschrift sollte ab 1793 jeden Samstag erscheinen. Die Herausgeber versprachen, dass ein eventueller Profit an das Nationale Institut für die Taubstummen (oder Gehörlosen, nach moderner Sprechweise) gehen sollte, auf deren Gelände die Zeitschrift gedruckt wurde. Die erste Ausgabe erschien am 1. Juni 1793; ihre sämtlichen drei Artikel waren von Condorcet verfasst. Nach einer philosophischen Untersuchung der Bedeutung des neu geprägten Begriffs „revolutionär“ und einer Abhandlung über gestaffelte Besteuerung schließt das Heft mit einem achtseitigen Artikel, der uns besonders interessiert. Er ist überschrieben mit „Sur les Élections“ (Über Wahlen), und darin skizziert Condorcet seine Vorstellungen über Abstimmungsverfahren. Die Franzosen waren im Begriff sich eine Verfassung zu geben, die für das Schicksal der Nation entscheidend sein würde. Wird das Volk mit Verstand oder durch Intrigen regiert werden, vom Willen aller oder von dem Willen einiger weniger? Wird es eine ruhige oder eine aufgewühlte Freiheit sein? Die Antworten auf all diese Fragen und sogar das Überleben einer gut funktionierenden Gesellschaft, so schrieb Condorcet, hingen von der Qualität der Volksentscheidungen ab. Hingegen würden Verfassungsmängel allein keine unmittelbare Gefahr darstellen. Solange ehrliche und öffentlichkeitsorientierte Männer das Land regierten — trotz seines erklärten Feminismus ging Condorcet nicht so weit Frauen einzuschließen —, gäbe es immer die Möglichheit Gefahren, die der Nation drohten, abzuwehren. Falls
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dagegen korrupte Männer die Macht übernähmen, wären selbst die besten Gesetze nur ein schwacher Schutzwall gegen Ehrgeiz und Intrige. Aber ehrliche Menschen, die ihre Wahlen, Urteile und Entscheidungen auf eine Stimmenmehrheit gründen, können in die gefürchteten, scheinbar widersinnigen Kreise (oder „Zirkelpräferenzen“) hineingeraten. Falls aber Mehrheitsentscheide keine Lösung darstellen, was dann? Condorcet dachte lange und angestrengt über das Problem nach und kam schließlich auf einen Vorschlag. Ähnlich wie bei seiner Abhandlung von 1785 rät er zu kombinatorischen Methoden und zur Wahrscheinlichkeitstheorie als dem sichersten Weg, um den Mängeln der konventionellen Verfahren zu entgehen. Sein Vorschlag wird den Lesern dieses Buches seltsam bekannt vorkommen: Er gleicht sehr der Methode, deren Verwendung Ramon Llull bereits fünfhundert Jahre zuvor angeregt hatte. Wenn ein Wähler einen Bewerber für ein bestimmtes Amt auswählt, führt er eine Reihe von Bewertungen durch. Dies tut er, indem er alle möglichen Paare von Bewerbern vergleicht, die Gründe untersucht, die für den einen oder den andern sprechen, sie abwägt und dann eine Entscheidung trifft. Wenn er dies für alle Bewerberpaare getan hat, erhält er eine Rangfolge und der oberste Kandidat darin ist sein Favorit für die Stelle. Falls allerdings nicht alle Wähler eine vollständige Reihenfolge vorlegen — etwa weil sie keine Meinung über gewisse Kandidaten haben oder weil sie einige nicht kennen — könnte es sein, dass das Wahlergebnis nicht die wahre Meinung der Versammlung ausdrückt. Trotzdem solle man die Wähler nicht dazu zwingen, sich zwischen ihnen unbekannten Kandidaten zu entscheiden, warnt Condorcet, da dies ledinglich eine zufällige Reihenfolge erzeugen würde. Vielmehr rät er, wie Llull ein halbes Jahrtausend zuvor, dass man aus den Anfangsvoten eine Liste akzeptabler Bewerber zusammenstellen sollte, die allen Wählern gut bekannt sind. Die Wähler müssen dann nur noch diese als wählbar erachteten Kandidaten in eine vollständige Rangfolge bringen (wobei Kandidaten gleichwertig eingestuft sein dürfen) Wenn dem Wähler plötzlich klar wird, dass er Alexander Bertram vorzieht, Bertram Charles und gleichzeitig Charles Alexander, dann muss, so behauptet Condorcet, mindestens eine der Entscheidungen durch eine irrige Einschätzung beim Vergleich zweier Kandidaten zustande gekommen sein. (Condorcet nimmt hier stillschweigend an, dass persönliche Vorlieben mit dem gesunden Menschenverstand vereinbar und daher transitiv sein müssen.) In diesem Fall muss der Wähler die Reihe seiner Entscheidungen untersuchen und diejenigen entfernen, die zu den Unstimmigkeiten geführt haben: Durch Überprüfung aller seiner Urteile wird er diejenigen ausfindig machen, die zu der absurden Situation geführt haben, und daraus das ihm am unglaubwürdigsten erscheinende weglassen oder gar umdrehen. Falls er zum Beispiel ganz klar Alexander besser als Bertram findet und ganz klar Bertram besser als Charles, aber nur einen leichten Vorzug von Charles über Alexander sieht, dann wird er diese letzte Vorliebe fallen lassen. Auf diese Weise wird der Wähler am Ende eine Rangfolge erhalten. Nun steht die eigentliche Wahl an. In ihr fügt der Wahlausschuss die einzelnen Rangfolgen zusammen. Condorcet schlägt vor, dass die Wähler, nachdem sie sich einzeln über die Ränge der Kandidaten im Klaren geworden sind, zusammentreten
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und dann die Kandidaten beurteilen. Jeder Kandidat wird nach und nach in einer Reihe von Zweikämpfen jedem anderen gegenübergestellt. Die Wähler geben ihre Vorzüge bekannt und der Bewerber mit den meisten Stimmen wird höher als der andere eingestuft. Nachdem alle Paare durchlaufen sind, wird daraus eine Gesamtrangfolge der Bewerber erstellt. In dieser abschließenden Liste kommt ein Kandidat, falls er sein Duell gegen einen anderen gewonnen hat, an eine höhere Position als dieser. Derjenige, der schließlich an erster Stelle steht, wird zum Sieger gekürt. In einer idealen Situation entscheidet der beste Kandidat alle Wettkämpfe gegen seine Mitbewerber für sich. Dann gibt es einen eindeutigen Sieger, der „Condorcet– Gewinner“ genannt wird. (Ein Kandidat, der in allen Zweikämpfe gegen seine Konkurrenten den Kürzeren zieht, heißt „Condorcet–Verlierer“.) Aber für gewöhnlich ist die Angelegenheit nicht so einfach, denn im allgemeinen kann man keine eindeutige Abschlussliste aufstellen. Es gibt selten einen Condorcet–Gewinner, also den idealen Kandidaten, der jedem einzelnen anderen Bewerbern überlegen ist. Normalerweise gewinnt kein Kandidat jedes einzelne Duell. Selbst ein außergewöhnlich starker Bewerber wird doch einige von ihnen verlieren, und dann gibt es keinen Condorcet–Gewinner. Was soll man dann tun? Wenn bei den Reihungen einer Einzelperson Zirkel auftraten, dann lag das nach Condorcet daran, dass die Situation nicht mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmte und eine der Präferenzen umgedreht werden müsste. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Vorlieben einer Einzelperson und einer Wahl durch mehrere Personen. Wie das Grappa–Amaretto–Limoncello–Beispiel zeigt, können beim Zusammentragen der Rangfolgen von drei oder mehr Wählern auch dann Zirkel entstehen, wenn die Urteile der einzelnen Wähler in sich jeweils stimmig sind. Condorcet schlägt daher vor, dass die Gemeinschaft die gleiche Methode anwenden soll, um Zirkel aufzulösen, wie es eine Einzelperson mit der Überprüfung ihrer Urteile tut: Das Ergebnis von mindestens einem Zweiervergleich muss gelöscht werden. Aber welches? Man kann nicht mehr argumentieren, dass die von den Wählern vorgebrachten Vorlieben unvernünftig wären. Schließlich gründen sie auf einer Mehrheit der Stimmen. Condorcet sah folgenden Ausweg: Der mit der geringsten Stimmenmehrheit entschiedene Zweiervergleich soll fallen gelassen werden. Condorcets Vorschlag bringt also die gleichen Zweikämpfe mit sich, die wir bereits aus Llulls Arbeiten aus dem dreizehnten Jahrhundert kennen. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Llull war ohne weitere Umstände dafür, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen das Rennen macht. Condorcet schlägt dagegen vor, die ganze sich ergebende Rangfolge bis nach unten hin auf Unstimmigkeiten zu überprüfen. Falls der oberste Kandidat einem niedriger eingestuften unterlegen ist, dann muss das Ergebnis von einem der Zweikämpfe, die diesen Zirkel erzeugen, fallen gelassen werden. Am Ende kann es durchaus sein, dass der Condorcet–Gewinner sich von dem Gewinner nach Llull unterscheidet. Schauen wir uns die Wahl des Priors eines Klosters näher an. Elf Kandidaten bewerben sich um die Stellung. Das beste Ergebnis hat Bruder Angelo erzielt, der alle Zweikämpfe gewonnen hat außer gegen Bruder Giulio. Er bekommt daher neun Punkte. Als nächster kommt mit acht Punkten Bruder Giulio, der alle Zweikämp-
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fe außer gegen Bruder Innocenzo und einen anderen Mitbewerber gewonnen hat. Bruder Innocenzo, der gegen Bruder Angelo verloren hat, aber gegen Bruder Giulio gewonnen, hat sechs andere Duelle gewonnen und kommt mit sieben Punkten an dritter Stelle. Die folgende Tabelle fasst die Ergebnisse zusammen: Tabelle 6.1 Duell gegen: Angelo
Giulio
Innocenzo
···
Summe
Angelo
—
verliert
gewinnt
8 weitere Gewinne
9 Punkte
Giulio
gewinnt
—
verliert
7 weitere Gewinne
8 Punkte
Innocenzo
verliert
gewinnt
—
6 weitere Gewinne
7 Punkte
Bei Ramon Llull würde aufgrund der Gesamtpunktzahl Angelo zum Prior gewählt. Aber Angelo wurde von Giulio geschlagen und Giulio von Innocenzo, der wiederum von Angelo geschlagen wurde. Wir haben also einen Zirkel. Wer soll Prior werden? Condorcet sieht vor, die Wahlergebnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Sagen wir, dass Angelo den entscheidenden Zweikampf gegen Giulio grandios mit einer gegen acht Stimmen verloren hat, Giulio seinen Zweikampf gegen Innocenzo dagegen nur knapp mit vier gegen fünf Stimmen. Schließlich habe Innocenzo sein Duell gegen Angelo mit zwei gegen sieben Stimmen verloren. Tabelle 6.2 Duell gegen: Angelo Giulio Innocenzo
Angelo
Giulio
Innocenzo
—
verliert 1:8
gewinnt
gewinnt
—
verliert 4:5
verliert 2:7
gewinnt
—
Nach Condorcet müsste die Niederlage von Bruder Giulio als das knappste der Ergebnisse von der Liste gestrichen werden. Dadurch würde der Zirkel durchbrochen werden und Bruder Giulio könnte der neue Prior werden. Was aber macht man in dem Fall, dass mehrere Zirkel entstehen, was oft passiert, wenn mehr als drei Kandidaten antreten? In diesem Fall sind Unstimmigkeiten sogar noch wahrscheinlicher. Condorcet sieht darin keine besondere Schwierigkeit. Wenn die Zirkel nicht allein dadurch behoben werden können, dass eine Zweierentscheidung gekippt wird, dann muss sich die Mehrheit eben öfters geirrt haben. Die Lösung besteht einfach darin, so viele Urteile wie nötig fallen zu lassen, bis ein unbezweifelbarer Gewinner feststeht. Alle Urteile, die zu Unstimmigkeiten führen,
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werden überprüft und nach und nach weggelassen, indem man mit dem knappsten beginnt. Condorcets Idee, wie man Zirkel aufbrechen sollte, klingt nach einem guten Vorschlag. Könnte man ihn nicht umsetzen? Die Schwierigkeit besteht darin, dass er nicht leicht durchzuführen ist. Bei beispielsweise zehn Kandidaten gibt es 45 paarweise Vergleiche. (Der erste Kandidat begegnet neun Mitbewerbern, der nächste acht anderen, usw. Allgemein: Bei n Kandidaten gibt es n(n − 1)/2 Zweikämpfe.) Die Aufgabe, aus den 45 Einzelentscheidungen diejenigen herauszufinden, die zu Unstimmigkeiten führen, braucht ihre Zeit und kann nicht schnell erledigt werden. Es kann aber ein noch schwerwiegenderes Problem auftreten, nämlich wenn zwei oder mehrere miteinander unverträgliche Urteile mit gleicher Stimmenverteilung gefällt wurden. Schauen wir nochmals das allereinfachste Beispiel der Abenddrinks an. Jede Einzelvorliebe hat die gleiche Mehrheit von zwei zu eins. Wo sollte hier der Zirkel durchbrochen werden? Welche Paarung soll weggelassen werden? Das Duell zwischen Amaretto und Grappa, das zwischen Grappa und Limoncello oder das zwischen Limoncello und Amaretto? Das von Condorcet vorgeschlagene Verfahren sieht insgesamt nach einer sehr vernünftigen Methode aus, ist in seiner Reinform aber reichlich nutzlos. Natürlich wäre ein Condorcet–Gewinner, ein Kandidat also, der alle anderen schlägt, der Vorzugssieger. Bei nur zwei Bewerbern ist das Ergebnis offensichtlich: Derjenige, der den andern übertrifft, ist der Condorcet–Gewinner. Aber schon mit einem weiteren Kandidaten kann eine missliche Lage entstehen, wie das Amaretto–Grappa– Limoncello–Beispiel zeigt. Je mehr Bewerber es gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es einen Condorcet–Gewinner gibt. Außerdem müssen eine große Anzahl von Zweierentscheidungen durchgeführt werden, was schon bei einer mäßigen Anzahl an Kandidaten eine schier nicht zu bewältigende Aufgabe darstellt. *** Nach Jahrhunderten, in denen man mit Mehrheitsentscheidungen auskam, wurden plötzlich gravierende Mängel der Methode aufgedeckt. Und nun gab es nicht nur einen, sondern zwei neue Vorschläge, die beide ihre Vor– und Nachteile haben. Mit Condorcets paarweisen Vergleichen kann zwar nie ein schlechter Kandidat gewählt werden, aber es ist nicht sicher, dass es überhaupt einen Sieger gibt. Bordas Methode, V-Einheiten nach Ranglisten zu vergeben, beachtet zwar die Einschätzungen der einzelnen Wähler, aber es könnte sehr wohl sein, dass der schließliche Gewinner niemandem wirklich recht ist. Falls es einen Borda– und einen Condorcet– Gewinner gibt, brauchen die beiden nicht übereinzustimmen. Paradoxa treten an allen Ecken und Enden auf. Keine der beiden Methoden war der anderen unbestreitbar überlegen. Dies hielt die beiden Wissenschaftler aber nicht davon ab, ihre eigene Wahlmethode vor sich her zu tragen und die andere herabzuwürdigen. Nichtsdestotrotz haben beide Männer große Ehre verdient und große Ehre wurde ihnen zuteil: Im 9. Arrondissement von Paris ist eine Straße nach Condorcet benannt und im 3. gibt es eine nach Borda benannte Straße. Die Ehrungen hörten aber mit der Rue Condorcet und der Rue Borda nicht auf. Um ihre internationale und sogar universelle Bedeutung zu unterstreichen, wurden zwei Mondkrater nach Borda
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beziehungsweise Condorcet benannt. Überdies gibt es auch einen Cusanus–Krater; nur Ramon Llull hat noch nichts auf dem Mond, was nach ihm benannt wurde. BIOGRAFISCHER ANHANG
Marquis de Condorcet Als Verräter gebrandmarkt und um sein Leben fürchtend, flüchtete der Marquis de Condorcet in das Haus einer hingebungsvollen Frau, Madame Rose Vernet. Sie war eine Witwe, die ihren Lebensunterhalt dadurch aufbesserte, dass sie Zimmer in ihrem Haus in der Rue des Fossoyeurs vermietete, und eine Person von besonderem Charakter. Ihr Name wäre uns heute unbekannt, hätte sie nicht während der Schreckensherrschaft außergewöhnlichen Mut bewiesen, indem sie gesuchten Flüchtlingen Unterschlupf gewährte. Nur zwei von Madame Vernets Mietern war Condorcets Identität bekannt. Einer war ein Montagnard namens Marcoz, dem das Geheimnis anvertraut wurde, der es jedoch bewahrte und Condorcet sogar mit Zeitungen und Informationen über die Entwicklungen außer Haus informierte. Der zweite ins Vertrauen gezogene Mieter war Madame Vernets Cousin, der Mathematiker Sarret. Die einzige andere Person, die noch über Condorcet Bescheid wusste, war Madame Vernets loyale Bedienstete, Mademoiselle Manon. Die gemeinsamen Geheimnisse und die engen Platzverhältnisse ergaben eine romantische Atmosphäre und nach manchen Berichten haben Madame Vernet und Monsieur Sarret schließlich geheiratet. Während sich zwischen Madame und Monsieur eine Romanze angebahnt ha4
ben mag, war Condorcet sehr einsam. Die einzigen Kontakte in seinem Versteck bildeten Sarret, Marcoz und Madame Vernet. Von Zeit zu Zeit kam Sophie, um nach ihrem geliebten Ehemann zu schauen, aber die Besuche waren gefährlich und daher selten. Condorcet sollte seine vier Jahre alte Tochter, die er so innig liebte, nie wieder sehen. Ein Brief, den er Élisa schickte, berührt das Herz der Leser auch noch nach zweihundert Jahren: „In welcher Lage du auch sein magst, wenn du diese Zeilen liest, die ich fern von dir aufzeichne, gleichgültig meinem Schicksal gegenüber, aber mit deinem und dem deiner Mutter beschäftigt, denke immer daran, dass nichts verbürgt, dass sie von Dauer sein wird. Gewöhne dich daran zu arbeiten, nicht nur um ohne fremde Hilfe auszukommen, sondern auch damit diese Arbeit deine Bedürfnisse stillt, so dass du auch in der Armut nicht abhängig zu sein brauchst. [...] Mein Kind, einer der sichersten Wege zum Glück besteht darin, die Selbstachtung zu wahren und sein ganzes Leben ohne Scham und Gewissensbisse ansehen zu können, ohne dass es eine hässliche Tat, ein anderen zugefügtes Unrecht oder Leid gäbe, das man nicht wieder gut gemacht hätte. [...] Wenn du möchtest, dass die Gesellschaft in deiner Seele mehr Freuden und Tröstungen als Kummer und Bitterkeiten ausbreitet, dann sei nachsichtig und bewahre dich
„Dans quelque situation que tu sois, quand tu liras ces lignes que je trace loin de toi, indifférent à ma destinée, mais occupé de la tienne et de celle de ta mère, songe que rien ne t’en garantit la durée. Prends l’habitude du travail, non seulement pour te suffire à toi-même sans un service
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vor der Selbstsucht wie vor einem Gift, welches alle Sanftmut verdirbt.“ 4 Um keinen Verdacht bezüglich des Aufenthaltsorts ihres Mannes zu erwecken, traf Sophie eine der schwersten Entscheidungen ihres Lebens: Mit Zustimmung des Marquis ließ sie sich von ihm scheiden. Danach war Sophie fast mittellos und musste sich und ihre Tochter durch Porträtzeichnen über Wasser halten. In jenen unsicheren Zeiten war dies allerdings ein ziemlich einträgliches Geschäft. Da man nicht wusste, was die Zukunft brachte, wollten viele Pariser ihren nächsten Verwandten ein Bildnis hinterlassen. Condorcet verbrachte einen kalten und einsamen Winter damit, an seinem letzten Text zu arbeiteten: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes). Diese halb utopische Beschreibung der Fortschritte der Menschheit von den unzivilisierten Anfangszuständen bis zu der Vision einer zukünftigen Gleichheit zwischen Klassen und Nationen und einer Vervollkommnung der menschlichen Natur, wurde zu Condorcets Vermächtnis. Nachdem er fünf Monate in Madame Vernets Pension verbracht hatte, gab es für den Marquis Anlass zur Befürchtung, dass sein Versteck in der Rue des Fossoyeurs (die heute in Rue Servandoni umbenannt ist) ausgespäht wurde. Ein unbekannter Mann war unter dem Vorwand, ein Zimmer mieten zu wollen, an Ma-
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dame Vernets Tür erschienen. Er stellte merkwürdige Fragen und ging dann wieder. Condorcet hatte das Gefühl, nicht mehr länger sicher in diesem Versteck zu sein. Wäre er entdeckt worden, so hätte dies nicht nur für ihn, sondern auch für Madame Vernet die Guillotine bedeutet und das Leben seiner Frau wäre wohl auch nicht verschont geblieben. Entgegen dem Wunsch seiner ergebenen Gastgeberin verließ Condorcet die Pension. Als gemeiner Mann gekleidet, begab er sich zu einem Anwesen von guten Freunden aus besseren Tagen, Amélie und Jean Baptiste Suard. Er hoffte auf dem Land außerhalb von Paris zeitweilig Zuflucht zu finden. Die Reise war gefährlich. Condorcet gelang es, die Stadtgrenze zu passieren, an der erst sechs Tage zuvor ein früheres Mitglied des Konvents erkannt und dann verurteilt und unverzüglich hingerichtet worden war. Nach einem langen und anstrengenden Marsch — Condorcet hatte fast ein halbes Jahr seinen Beine keine Bewegung verschaffen können — erreichte er schließlich das Haus der Suards. Eine Magd öffnete ihm und konnte ihm nur mitteilen, dass ihre Herrschaft am selben Morgen nach Paris aufgebrochen war. Der einsame Flüchtling verbrachte daraufhin die nächsten zwei Tage ohne Essen, wanderte herum und schlief unter freiem Himmel. Als seine Freunde schließlich aus Paris zurückkamen, ließen sie ihn aus Angst nicht herein. Man kann es ihnen kaum verübeln. Einer gesuchten Person Unterschlupf zu gewäh-
étranger, mais pour que ce travail puisse pourvoir à tes besoins, et que tu puisses être réduite à la pauvreté, sans l’être à la dépendance. [...] Mon enfant, un des plus sûrs moyens de bonheur est d’avoir su conserver l’estime de soi-même, de pouvoir regarder sa vie entière sans honte et sans remords, sans y avoir une action vile, ni un tort ou un mal fait à autrui, et qu’on n’ait pas réparé. [...] Si tu veux que la société répande sur ton âme plus de plaisirs ou de consolations que de chagrins ou d’amertumes, sois indulgente, et préserve-toi de la personnalité comme d’un poison qui en corrompt toutes les douceurs.“ Aus: L’avis d’un proscrit à sa fille.
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ren wurde mit dem Tod bestraft und die nicht vertrauenswürdige Magd hatte sich den unrasierten Fremden bereits scharf angesehen. Suard versprach versuchen zu wollen, einen Pass für ihn zu bekommen, und Condorcet verließ das Anwesen. Er suchte in einem Landgasthof Zuflucht und wollte sich unter die Einheimischen mischen. Aber sein adliges Verhalten verriet ihn bald, und als er ein Omelett mit einer „aristokratischen Anzahl an Eiern“ bestellte — man glaubt, es seien zwölf gewesen —, war seine Tarnung endgültig dahin. Er sollte sich ausweisen. Condorcet, der keine Papiere mit sich trug, gab sich als Kammerdiener mit Namen Pierre Simon aus. Bis zum Nachweis seiner Identität wurde der unbekannte Mann in eine Gefängniszelle gesteckt. Zwei Tage später fand man ihn tot auf. Die Todesursache hat man nie herausgefunden. Starb er eines natürlichen Todes, beging er Selbstmord oder wurde er ermordet, weil er in Paris zu beliebt war, als dass man ihn hätte hinrichten können? Nach einer Version hatte ihm ein Freund, ein Arzt, vor langer Zeit eine Phiole mit Gift gegeben, das Condorcet in einem Ring am Finger ver-
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steckt hielt. Es sollte ihm die Guillotine ersparen, wenn alles schrecklich falsch lief. Hatte er es benutzt? Wir werden es nie wissen. Sophie wurde ebenfalls verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Sie überlebte ihren Mann um 28 Jahre. Mit siebzehn heiratete Élisa einen um 27 Jahre älteren irischen General mit Namen Arthur O’Connor. O’Connor hatte unermüdlich für die irische Unabhängigkeit gekämpft. Er wurde von den Engländern festgenommen und fünf Jahre im Gefängnis festgehalten, bis er schließlich einwilligte nach Frankreich zu emigrieren. Unter Napoléon wurde er zum Général de Division. Er und Élisa kauften sich ein Anwesen südlich von Paris, wo sie drei Söhne aufzogen, die unter tragischen Umständen ums Leben kamen. (Nach anderen Quellen dienten Nachkommen von Élisa und O’Connor als Offiziere in der französischen Armee.) Nach seinem Ausscheiden aus der Armee begann O’Connor als Schriftsteller ein umfangreiches Werk über soziale und politische Fragen zu verfassen und half auch die zwölfbändige Ausgabe von Condorcets Werken herauszugeben.
Kapitel 7
Der Mathematiker
Als Condorcet 1785 seine Abhandlung schrieb, kannte er offenbar schon Bordas Beitrag von 1781. Dies gab er in einer sarkastischen Fußnote zu, in der er anmerkte, Freunde hätten ihn auf Bordas Artikel aufmerksam gemacht, als sein eigenes Werk bereits in Druck war. Etwas herablassend behauptet er, nichts Weiteres über den Artikel zu wissen, außer dass ein paar Leute ihn erwähnt hätten. Man glaubt heute aber, dass Condorcet hier alles andere als die Wahrheit sagt. 1781 war er nämlich ständiger Sekretär der Académie des Sciences und als solcher auch Herausgeber der Mémoires der Akademie. Es ist ausgeschlossen, dass er nicht wusste, was darin gedruckt wurde. Viel wahrscheinlicher ist, dass er selbst die Entscheidung über die Veröffentlichung von Bordas Artikel getroffen hatte. Condorcet hielt nicht viel von Borda. Er schätzte ihn noch nicht einmal als einen besonders fähigen Mathematiker ein. Borda sei unbestreitbar talentiert, sagte Condorcet, aber er habe auf niederere Wissenschaften wie das Ingenieurswesen und den Schiffs– und Festungsbau zurückgreifen müssen, nachdem er in der Mathematik versagt habe. Nach Condorcets Meinung war Borda noch nicht einmal berechtigterweise Mitglied der Akademie der Wissenschaften; er sei in den heiligen Tempel der Gelehrsamkeit nicht durch Bildung oder eben Gelehrsamkeit gekommen, sondern allein aufgrund eines königlichen Wunsches. In einem Brief an einen Freund schrieb Condorcet, Borda spreche gerne viel und verschwende seine Zeit mit kindischen Experimenten. Warum sollte Condorcet als selbst ernannter Hüter der französischen Wissenschaft einen vermeintlich minderwertigen Artikel veröffentlichen? Tatsächlich tat er sogar mehr als nur die Veröffentlichung zu ermöglichen. Bordas Artikel wurde durch ein höchst schmeichelhaftes Vorwort eingeleitet und es war üblich, dass der Herausgeber selbst diese Vorworte schrieb. Condorcet, der Borda als unwürdiges Akademiemitglied ansah, dürfte also nicht nur dessen Artikel veröffentlicht, sondern ihn sogar gepriesen haben. Warum tat er das? Hatte er nicht begriffen, dass Bordas Methode eine Herausforderung für seine eigene darstellte? Was auch immer seine Motive waren, die Veröffentlichung des Artikels gab ihm die Gelegenheit seine eigene, angeblich überlegene Wahlmethode vorzustellen.
G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_7,
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Condorcet wendet sich mit einem Beispiel gegen die Borda–Wahl. Ohne Borda überhaupt zu erwähnen, außer dass er an einer Stelle sarkastisch auf einen „berühmten Mathematiker“ Bezug nimmt, greift er die Methode mit folgender Situation an: 81 Wähler müssen sich zwischen Tom, Dick und Harry entscheiden. (Die Zahlen ist von Condorcet, die Namen sind von mir.) Ihre Vorlieben sind wie folgt: 30 Wähler 1 Wähler 10 Wähler 29 Wähler 10 Wähler 1 Wähler
Tom > Dick > Harry Tom > Harry > Dick Harry > Tom > Dick Dick > Tom > Harry Dick > Harry > Tom Harry > Dick > Tom
In einer kurzen Erläuterung erklärt Condorcet dann, dass die Borda–Wahl dem führenden Rang jeweils drei Verdiensteinheiten, dem mittleren zwei und dem untersten einen zuteilt. Also erhält Tom 182 V-Einheiten, Dick 190 und Harry 114 und somit wird Dick zum Sieger gekürt. Aber gibt diese Entscheidung den wahren Wählerwillen wieder? Wenn man sich die Vorlieben genauer anschaut, und darum geht es ja bei der Borda–Wahl, sieht man, dass 41 Wähler lieber Tom als Dick hätten, während nur 40 Wähler Dick vor Tom setzen. Frohlockend weist Condorcet darauf hin, dass bei Borda Dick gewinnen würde, obwohl weniger als die Hälfte der Wähler ihn bevorzugen. Wer soll also gewählt werden? Condorcet spricht sich in dieser Situation klar für Tom aus, der auch der Condorcet–Gewinner der Wahl ist. Dieses — soviel muss man Condorcet zugestehen — keineswegs an den Haaren herbeigezogene Beispiel zeigt, dass bei der Borda–Wahl ein Kandidat wie Tom, der alle Mitbewerber in Einzelentscheidungen schlagen würde, durchfallen kann. Wie bereits erwähnt, gibt es ein anderes Problem mit Bordas Methode der VEinheiten. Lassen Sie es mich Ihnen an folgender Situation vergegenwärtigen: Es gibt fünf Wähler, die sich zwischen Laurel und Hardy entscheiden müssen. Drei davon ziehen Laurel vor, zwei Hardy: 3 Wähler 2 Wähler
Laurel > Hardy Hardy > Laurel
Für die drei Wähler erhält Laurel jeweils zwei Punkte und für die zwei Wähler jeweils einen, zusammen also acht. Entsprechend bekommt Hardy sieben Punkte und verliert. Nun kommt Goofy ins Spiel und die Wähler reihen die Kandidaten folgendermaßen: 3 Wähler 2 Wähler
Laurel > Hardy > Goofy Hardy > Goofy > Laurel
Diesmal erhält Laurel elf V-Einheiten, Hardy zwölf und Goofy sieben. Der vorherige Verlierer Hardy gewinnt nun. Obwohl Goofy chancenlos ist, kehrt seine Teilnahme an der Wahl das Ergebnis um. Wenn er nicht teilnimmt, gewinnt Laurel, wenn er teilnimmt, gewinnt Hardy.
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Als Condorcets Abhandlung erschien, war Borda mit militärischen Angelegenheiten beschäftigt. Man weiß nicht, ob er je auf die Kritik antwortete. Aber das war auch nicht nötig, denn er hatte dies in seinem Artikel bereits vorweg genommen. Er erwähnt das Verfahren der Zweikämpfe in seiner Arbeit und verwirft die Methode mit der Begründung, dass zu viele Vergleiche benötigt würden. Er konnte allerdings nicht wissen, dass Condorcet genau diese Methode als sein bevorzugtes Wahlverfahren vorstellen würde. Ungefähr zu dieser Zeit beriet die Akademie über eine Änderung ihrer Statuten, die Nachwahl von Mitgliedern betreffend. Jedesmal wenn ein pensionnaire starb, musste aus mehreren Kandidaten ein Nachfolger auf den freigewordenen Sitz gewählt werden. Man dachte darüber nach, Bordas Methode anzuwenden. Aber die Mängel waren offensichtlich. Durch einen neuen Kandidaten, auch wenn er kein ernsthafter Anwärter war, konnte sich der Ausgang der Borda–Wahl verändern, und schlimmer noch, dies konnte auf verschiedene Weisen geschehen. Die Debatte über die jeweiligen Verdienste der beiden Wahlverfahren war in vollem Gange, als ein drittes Schwergewicht den Ring betrat: Pierre Simon de Laplace. Dieser Mathematiker wurde 1749 in Beaumont–en–Auge in der Normandie geboren. Er gehörte zu Bordas Kommission, deren Aufgabe in der Standardisierung der Maße und Gewichte bestand. Sein Vater war ein Geschäftsmann, seine Mutter entstammte einer Bauern– und Grundbesitzerfamilie. Pierre Simon besuchte eine Benediktiner–Schule und studierte dann an der Universität von Caen. Da er zunächst eine kirchliche Karriere ins Auge fasste, begann er ein Theologiestudium. Aber durch die Angeregungen von zwei Lehrern entdeckte er bald seine Liebe zur Mathematik. Als sie seine Ausbildung über ihre eigenen beschränkten Fähigkeiten hinaus nicht mehr fördern konnten, ermutigten sie ihn sich nach Paris zu begeben, dem mittlerweile in Frankreich üblichen Ziel für einen talentierten jungen Mann. Sie gaben ihm ein Empfehlungsschreiben für Jean d’Alembert mit. Der geschätzte Wissenschaftler war von dem Besucher dermaßen beeindruckt, dass er ihn an die École militaire empfahl, wo Laplace dann die Heranwachsenden des Pariser Mittelstands in Geometrie, Trigonometrie und elementarer Analysis unterrichtete. Laplace präsentierte der Akademie nach und nach dreizehn Arbeiten, die von Differentialgleichungen und Integralrechnung über die Wahrscheinlichkeitstheorie bis zur Himmelsmechanik und Wärmelehre reichten. Diese Themen, über die er vor dem gelehrten Publikum sprach, sollten ihn sein ganzes Leben lang beschäftigen. Aber obwohl d’Alembert und Condorcet die Qualität seiner Arbeiten bemerkten, wurde seine Kandidatur für die Akademie der Wissenschaften zweimal abgelehnt. Schließlich wählte ihn die angesehene Institution 1773 zum korrespondierenden Mitglied. 1784 wurde Laplace zum Prüfer beim Artillerie–Corps bestellt. In dieser Eigenschaft nahm er die Prüfung eines sechzehnjährigen Kadetten aus Korsika namens Napoléon Bonaparte ab, der die Prüfung auch bestand. Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, hätte Laplace ihn durchfallen lassen! Laplace sah sich bald als den besten Mathematiker Frankreichs an und ließ dies auch jeden wissen. Selbst wenn es wohl stimmte, machte er sich damit bei seinen Kollegen keine Freunde.
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Sein Verhältnis zu d’Alembert verschlechterte sich ebenfalls, da er die Entdeckungen seines vormaligen Gönners als veraltet ansah. Im August 1793 wurden die Tore der Académie des Sciences von den Revolutionären geschlossen, das die Förderung des menschlichen Wissens nicht länger ein Privileg der Eliten sein sollte. Stattdessen wurde die Ausbildung des Volkes in den Blick genommen. Doch 1796 nahm die Akademie ihre Tätigkeit wieder auf und es wurde für sie zu einer Frage von größter Bedeutung, wie die neuen Mitglieder gewählt werden sollten. Man einigte sich auf die Borda–Regel, trotz ihrer Mängel. Einige Jahre lang waren dann alle ziemlich zufrieden, bis sich ein neueres Mitglied beklagte. Und wenn dieses Akademiemitglied etwas zu bemerken hatte, hörten die anderen besser zu, denn es handelte sich um Laplaces früheren Schüler, den einstigen Kadetten und jetzigen General Napoléon Bonaparte. In der Akademie musste man sich allerdings Napoléons Äußerungen nicht allzu häufig anhören. Angeblich war dies sogar das einzige Mal, dass er aufstand, um als Mitglied der Akademie zu sprechen. Napoléon kam mit einem triftigen Argument. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Pierre Simon Laplace die Methode von Borda kritisiert. Was fanden Laplace und Napoléon an der Borda–Wahl so störend? Ihnen war klar geworden, dass die „Wahl nach Verdienst“ eine raffinierte Art der Manipulation zuließ, die seitdem „strategisches Wählen“ genannt wird. Laplace äußerte seine Kritik erstmals in seinen Vorlesungen an der neugegründeten Lehrerbildungsanstalt École Normale Supérieure (ENS) im Frühjahr 1795. Diese Vorlesungen wurden 1812 schriftlich veröffentlicht; im gleichen Jahr erschien seine viel umfangreichere und deutlich ausführlichere Abhandlung Théorie analytique des probabilités (analytische Wahrscheinlichkeitstheorie), in der er seine Analyse wiederholte. Insgesamt hielt Laplace zehn Vorlesungen an der ENS. Der Kurs begann einfach genug: Wie bildet und schreibt man Zahlen, wie addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert man sie. Offen gesagt erscheint die erste Vorlesung geradezu verdummend, bis auf die Bemerkung, der deutsche Mathematiker Leibniz habe ein Zahlensystem aus binären Ziffern eingeführt, in dem die Eins für „Gott“ und die Null für „Nichts“ stehe — heute kennt man sie im Computer–Umfeld als „Bits“. In den nachfolgenden Vorlesungen kam der Professor dann aber schnell zur Sache. In rascher Folge handelte er Gleichungen höheren Grades, imaginäre Zahlen, transzendente Gleichungen, algebraische Geometrie und viele andere Themen ab. Kein Wunder, dass die armen Studenten, die nur eine mathematische Grundlage erlernen wollten, um als Schullehrer ein Auskommen zu haben, es als eine Schinderei empfanden. Die zehnte und letzte Vorlesung war der Wahrscheinlichkeitstheorie gewidmet. Laplace begann diese Vorlesung mit einer Wunschliste an Themen, die er auch noch gerne besprochen hätte, wenn mehr Zeit gewesen wäre: Differentialgleichungen, Integralrechnung, Mechanik und Astronomie. Aber da ihm nur wenig Zeit zur Verfügung stand, konnte er die Studenten lediglich auf sein Buch Exposition du système du monde verweisen, dessen Erscheinen kurz bevorstand. Man kann sich vorstellen, dass die Zuhörer nicht allzu unglücklich darüber waren, dass ihnen zusätzliche Vorlesungen über schwierige Themen, so wichtig sie auch sein mögen, erspart blieben.
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Er führte dann in das Thema, das er 17 Jahre später in einer bedeutenden Abhandlung ausarbeiten sollte, mit der Bemerkung ein, die Wahrscheinlichkeitstheorie sei nicht nur für sich selbst genommen interessant, sondern auch wegen ihrer zahlreichen Anwendungen auf Fragestellungen, die von großer Bedeutung für die Gesellschaft seien. Dann fuhr er etwa zwei Stunden lang fort die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie darzulegen. Am Ende der Vorlesung wandte er sich einer der versprochenen Anwendungen zu: Abstimmungen und Wahlen. Angesichts der Vielheit an Meinungen unter den Teilnehmern einer Versammlung ist es schwer den Gesamtwillen zu kennen oder auch nur zu definieren, stellt er fest, und vertieft sich dann in einen Angriff auf das früher akzeptierte Verfahren, eine Frage durch Mehrheitsmeinung zu entscheiden. Laplace stimmte völlig mit Borda und Condorcet darin überein, dass ein Mehrheitsentscheid fehlerhaft sein kann. Falls es um eine komplizierte oder heikle Angelegenheit geht oder um eine Angelegenheit, die akzeptiertem Wissen zuwiderläuft, so kann es durchaus sein, erläutert Laplace, dass die Wahrheit bei der Minderheit liegt. Je größer die Versammlung ist, desto wahrscheinlicher sei es in Wirklichkeit, dass die Mehrheitsmeinung falsch liege. Wissenschaftler, so erinnert er seine Hörer, können viele Geschichten erzählen darüber, dass sich erste Eindrücke schließlich als falsch erwiesen. Was wahr scheint, muss nicht immer wahr sein. Allerdings können Mehrheitsmeinungen durch die Beachtung einiger Regeln viel vertrauenswürdiger werden. Falls die Versammlung aus gebildeten und wohlinformierten Personen besteht, die sich vom gesunden Menschenverstand leiten lassen, dann sind ihre Festsetzungen mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig. Falls zum Beispiel hundert Menschen behaupten, dass am nächsten Tag die Sonne aufgehen werde, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie Recht haben. Die erste Regel für Abstimmungen besteht also darin, dass die Richter oder die Wähler gut informiert sein müssen über die Fragestellungen, über die sie zu entscheiden haben. Versammlungen sollten also nur über solche Fragen abstimmen oder ihr Urteil abgeben müssen, die das Fassungsvermögen der meisten ihrer Mitglieder nicht übersteigen. Daraus leitet Laplace ab, dass der öffentlichen Bildung höchste Bedeutung zukomme und dass von den nationalen Abgeordneten Ehrlichkeit und Wohlinformiertheit über die zu behandelnden Themen zu fordern sei. Richter und Wähler müssen sich von Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit leiten lassen als den gesellschaftlichen Voraussetzungen für die soziale Ordnung, so wie die Gesetze der Schwerkraft für die physikalische Ordnung unabdingbar sind. Was sollte man also tun? Nachdem Laplace die Schwierigkeiten der Borda–Wahl erklärt hat, fährt er mit der Behauptung fort, dass sie in der Tat dann das beste Wahlverfahren wäre, wenn jeder Wähler die Kandidaten in die Rangfolge des Verdiensts, das er ihnen tatsächlich zumisst, brächte. Indem er die unangenehme Frage möglicher Unentschieden wie in dem Grappa–Limoncello–Amaretto–Beispiel beiseite lässt, verteidigt Laplace die Auffassung, dass die Borda–Wahl gut funktionieren würde, falls jeder einzelne bei der Aufstellung seiner Rangfolge ganz und gar ehrlich wäre. Aber es wimmele an Gemütserregungen und persönliche Interessen, bemerkt er, und Betrachtungen, die nichts mit dem Verdienst der Bewerber zu tun haben, könnten die Rangordnungen beeinflussen, die die Wähler aufstellen. Ganz
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besonders könnte es geschehen, dass Wähler einen Kandidaten ganz ans Ende der Liste setzen, nicht weil er keinen besseren Platz verdient hätte, sondern weil er eine Bedrohung für ihren Vorzugskandidaten darstellt. Dies muss etwas ausgeführt werden. Nach Laplaces Worten könnte Bordas Idee durch Wähler sabotiert werden, die den stärksten Gegner ihres Favoriten an das Ende der Liste setzen. Die Unterstützer eines bestimmten Kandidaten können also einem starken Konkurrenten die V-Einheiten, die diesem eigentlich zustehen, verweigern, nur damit er nicht zu einer Gefahr für ihren eigenen Kandidaten wird. Im obigen Beispiel könnten Toms Unterstützer aus Furcht vor Dicks Wahlgewinn diesen an letzte Stelle setzen, obwohl sie im Innern eigentlich davon überzeugt sind, dass Dick besser als Harry ist. Harry würde so 30 V-Einheiten hinzugewinnen, aber seine dann insgesamt 144 V-Einheiten würden ihn auch nicht weiter bringen. Dick dagegen würde von seiner vorherigen Siegespunktzahl 190 auf 160 abstürzen. Und Tom, dessen Ergebnis unverändert bei 182 bliebe, bekäme nun den Zuschlag. Genau dieses Phänomen passiert, wenn im anderen Beispiel Hardys Unterstützer den ungeliebten Goofy vor Laurel setzen. Der Kern des strategischen Wählens besteht also in dem Versuch, schwächere Personen ohne Aussicht auf Sieg zwischen den eigenen Lieblingskandidaten und seinen stärksten Gegner zu zwängen. Das strategische Wählen untergräbt Bordas Wahlverfahren, weil es guten Bewerbern die verdienten V-Einheiten verweigert. Es führt dazu, dass mittelmäßige und schwächere Kandidaten an zweite oder dritte Position kommen, anstatt ans Ende der Liste verbannt zu werden, wo sie hingehören. Mittelmäßige Kandidaten, erläutert Laplace seinen Studenten, erhalten so einen großen Vorteil. Denn obwohl sie wenige erste Plätze erhalten, kommen sie auch auf wenige hintere Plätze. Falls also eine Gruppe von Wählern sich zur strategischen Wahl abspricht, kann es sehr wohl sein, dass sie ihren bevorzugten Kandidaten auf den ersten Listenplatz katapultieren. Aber sie müssen aufpassen. Falls zu viele Wähler, und zwar Unterstützer verschiedener Kandidaten, diese Methode anwenden, kann das strategische Wählen nach hinten losgehen. Ohne es wirklich zu wollen, könnte eine Versammlung dann Goofy wählen. Und hier liegt die wahre Gefahr. Beispiele von Missgeschicken, die passieren, weil einige Wähler überschlau waren, könne man sogar heutzutage sehen, behauptet Laplace. Er beendet seine Bemerkungen mit der Beobachtung, dass die meisten Einrichtungen, die die Borda–Wahl erprobt hatten, sie aufgrund schlechter Erfahrungen wieder aufgegeben hätten. Laplaces Kritik war von Condorcet vorweggenommen worden. In seinem 1785 veröffentlichten Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix (Versuch über die Anwendung der Analysis auf die Wahrscheinlichkeit von Mehrheitsentscheidungen) schrieb er, dass Ränkeschmiede das Verfahren zu Fall bringen könnten. Falls zwei Gruppen gegnerische Kandidaten unterstützen und strategisch wählen, könnte versehentlich ein anderer, weniger wünschenswerter Kandidaten zum Sieger werden. Das mögliche Auftreten von Intriganten war sogar der Grund für Condorcet seine eigene Methode zu entwickeln. Im Gegensatz zu Bordas Methode, so behauptete er, würde sein eigener Vorschlag notwendigerweise zur Wahl von einem der bevorzugten Kandidaten führen. Nun, „notwendigerweise“ ist sicher übertrieben. Falls jemand gewählt wird, ist es sicher
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einer der guten Kandidaten. Aber die Betonung liegt hier auf „falls“. Denn wir wissen ja, dass es nicht unbedingt einen Condorcet–Gewinner geben muss. Man würde denken, dass die Möglichkeit, versehentlich einen schlechten Kandidaten zu krönen, Abschreckung genug gegen strategisches Wählen wäre. Auch könnte solch ein Missgeschick nur bei einer gemeinschaftlichen Aktion einer sehr großen Gruppe von Wählern geschehen, was schwer zu organisieren und durchzusetzen wäre. In der Praxis sollte eine irrtümliche Wahl von jemandem wie Goofy daher sehr selten sein. Aber als Mathematiker kann Laplace diese Möglichkeit nicht ausschließen, daher verwirft er die Borda–Wahl. Der Gerechtigkeit willen muss man zugeben, dass Borda selbst das durch strategisches Wählen entstehende Problem gesehen hat, zumindest indirekt. Dies kann man zum Beispiel daran ersehen, dass Borda die Stimmenanzahl berechnet hat, die ein Kandidat im für ihn ungünstigsten Fall zum Sieg bräuchte. Denn dieser Fall tritt genau dann ein, wenn die anderen Wähler strategisch wählen, also wenn zwar die Unterstützer eines Kandidaten, sagen wir Peter, seine schärfste Konkurrentin Maria überall an zweite Stelle setzen, dafür aber alle anderen Wähler Maria an die erste und Peter an die letzte Position schieben. Borda liefert einen mathematischen Beweis dafür, dass das strategische Wählen Peter dann nichts ausmacht, wenn Peter bei n Kandidaten einen Anteil von mindestens 1 − 1/n der Stimmen erhält (siehe Kapitel 5, insbesondere den Anhang). Mit anderen Worten: Falls diese strenge Bedingung erfüllt ist — bei zehn Kandidaten bedeutet sie, dass man die Unterstützung von mindestens neunzig Prozent der Wählerschaft erhält — so stimmen der Borda–Gewinner und der Condorcet–Gewinner überein. Aber sobald die Unterstützung geringer ausfällt, bleibt das egische Wählen ein Problem. Was hatte Borda eigentlich zur Verteidigung seiner Methode vorzubringen? Auf die Kritik entgegnete er, seine Methode wäre nur für ehrliche Menschen gedacht. Damit meint er, dass ehrliche Menschen die Kandidaten gemäß ihren wahren Überzeugungen anordnen würden, ohne irgendeine strategische Überlegung. Wie es sich oft mit Entschuldigungen verhält, ist auch diese nicht besonders überzeugend. Wenn alle ehrlich wären, würden viele Probleme unserer Welt verschwinden und es gäbe wenig Bedarf an Vorsichtsmaßnahmen. Und welche Abhilfe hatte Laplace vorzuschlagen? In seiner Vorlesung vor den angehenden Lehrern sagte er dazu gar nichts. Später allerdings brachte er einen konstruktiven Vorschlag auf, der erst 1812 schriftlich erschien, den Laplace aber schon früher vorgebracht haben muss. Er setzt sich für die traditionelle Mehrheitsentscheidung ein . . . allerdings mit einem Dreh. Die Entscheidung in einer Frage oder die Wahl eines Anführers sollte nicht mit relativer Mehrheit geschehen. Es sollte nicht automatisch der, die oder das mit den meisten Stimmen gewinnen, sondern stattdessen sollte für den Sieg eine absolute Mehrheit gefordert werden: Der Kandidat müsste mindestens die Hälfte der Stimmen plus eine versammeln. Dieses Verfahren hat nach Laplace den offensichtlichen Vorteil, dass ein Bewerber, der von der Mehrheit der Wähler abgelehnt wird, nicht gewählt werden kann. So weit, so gut. Und falls es nur zwei Kandidaten zur Wahl gibt, dann stimmt der Gewinner gemäß Laplaces Bedingung der absoluten Mehrheit mit dem Condorcet– Gewinner und dem Gewinner der Borda–Wahl überein. So weit noch besser. Aber
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was passiert, wenn es drei oder mehr Kandidaten gibt? In dem obigen Beispiel hat weder Tom noch Dick noch Harry die absolute Mehrheit von 41 Stimmen erhalten. Wo stehen wir nun also? Bordas Rangordnungsmethode ist anfällig für strategisches Wählen; Condorcets paarweise Zweikämpfe könnten Zirkel erzeugen; Laplaces Wahl mit absoluter Mehrheit könnte ohne Sieg enden. Wir scheinen uns im Kreis zu bewegen. Da 1796 keine zufriedenstellende Wahlmethode bekannt war, führte die Académie des Sciences für die Wahl neuer Mitglieder das Borda–Verfahren ein, trotz seiner Mängel. Die Flitterwochen dauerten aber nur so lange, bis Napoléon sein Missfallen äußerte. Dann wurde klar, dass einige der ENS–Studenten in Laplaces Vorlesung doch aufgepasst hatten: 1804 ersetzte die Akademie nämlich Bordas Methode durch die Anforderung einer absoluten Mehrheit. Von nun an musste mindestens die Hälfte der Mitglieder der Aufnahme eines Neumitglieds zustimmen. Und was, wenn es keinem Kandidat gelang so viele Stimmen auf sich zu vereinigen? Dann sollte der freie Platz so lange unbesetzt bleiben, bis mindestens 50 Prozent der Mitglieder plus eines einen neuen Kandidaten gutheißen. Laplaces Bedingung der absoluten Mehrheit ging für die Académie des Sciences in Ordnung; aber ein ganzes Land ohne Führung zu lassen, bis mehr als die Hälfte der Wähler sich auf einen Kandidaten einigen kann, ist es nicht. Im Prinzip bedeutet die Forderung der absoluten Mehrheit, dass Wahlen solange wiederholt werden müssen, bis die Hälfte der Wähler plus einer sich für einen Kandidaten entscheiden. Laplace war sich darüber im Klaren, dass dies zu einer endlosen Folge von Abstimmungen führen könnte. Und plötzlich weist der peinlich genaue Mathematiker eine pragmatische Seite auf. Die Erfahrung zeige, schreibt er, dass der allgemeine Wunsch der Wähler, die Wahl hinter sich zu bringen, bald dazu führen werde, dass eine absolute Mehrheit der Wählerschaft sich einem Kandidaten zuwende. Aus dem Munde eines Gelehrten, der sich den strengen Regeln mathematischer Untersuchungen verpflichtet fühlt, klingt dies nach einer faulen Ausrede. Aber andererseits ist es erfrischend zu sehen, dass selbst ein Mann von Laplaces Größe es nicht unter seiner Würde fand, die strengen Regeln der Mathematik bei Bedarf zu lockern. Heutzutage werden in Frankreich die Parlaments– und Präsidentschaftswahlen gemäß Laplaces Vorschlag durchgeführt. Um zu gewinnen, muss ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen sammeln.1 Falls es in der ersten Runde keinen Laplace–Gewinner gibt, wird zwei Wochen später als zweite Runde eine Stichwahl zwischen den beiden nach der ersten Runde führenden Kandidaten abgehalten. Das entspricht nicht ganz den Vorstellungen von Laplace, beschleunigt aber ganz im Sinne der Durchführbarkeit die Angelegenheit. In der zweiten Runde ist es dann sicher, dass einer der beiden Kandidaten mehr als die Hälfte der (gültigen) Stimmen erhält. Der siegreiche Bewerber kann sich dann etwas darauf einbilden, sowohl nach 1 Der Einfachheit halber wird hier und an anderen Stellen des Buchs auf mögliche Stimmenthaltungen nicht eingegangen. Statt der absoluten Mehrheit, also der Mehrheit der Stimmberechtigten, reicht hier in Wirklichkeit die einfache Mehrheit, also die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Da die Umgangssprache zwischen diesen beiden Konzepten nicht klar unterscheidet, verwende ich in der Übersetzung das deutlichere, im strengen Sinn aber bisweilen unsaubere „absolute Mehrheit“ (Anmerkung des Übersetzer)
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traditioneller Mehrheitsbedingung gewonnen zu haben als auch nach Borda–Wahl, Condorcets Methode und Laplaces Kriterium. Und weniger als die Hälfte der Wähler haben den neuen Amtsinhaber abgelehnt. Dass man in der zweiten Runde nur noch gegen einen Mitbewerber angetreten ist, kann man dann ja getrost vergessen. Nachdem er Wahlen und Abstimmungen behandelt hat, wendet sich Laplace einer Besprechung von Strafprozessen durch Richter und Geschworene zu. Mit den Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigt er, dass die Schuld eines Angeklagten bezweifelt werden kann, wenn er mit der Mehrheit von nur einem Geschworenen verurteilt wird, weil der Urteilsspruch auch durch Zufall zustande gekommen sein könnte. Forderte man stattdessen Einstimmigkeit von den Geschworenen, so würde dies mit großer Wahrscheinlichkeit die Richtigkeit der Schuldsprüche sicherstellen. Aber auch dann gäbe es ein Problem, denn eine so strenge Bedingung würde oft eine Verurteilung verhindern: Viele tatsächlich Schuldige würden in Freiheit bleiben und eine Gefahr für die Gesellschaft bilden, nur weil die Geschworenen sich nicht zu einem einstimmigen Schuldspruch durchringen könnten. Laplace schlägt einen Kompromiss vor. Falls die Gesellschaft möchte, dass Schuldsprüche einstimmig gefällt werden, sollte die Anzahl der Geschworenen beschränkt werden (denn es ist schwierig zum Beispiel 31 Richter dazu zu bringen, sich einstimmig auf einen Schuldspruch zu einigen). Falls die Gesellschaft große Geschworenengerichte vorzieht, sollte die Einstimmigkeitsbedingung wegfallen, aber die Mehrheit sollte dennoch mehr als eine Stimme betragen, damit zwischen der Unschuldsvermutung und der Gefahr, Kriminelle ungeschoren laufen zu lassen, die Waage gehalten wird. Auf Grundlage seiner Wahrscheinlichkeitsberechnungen schlägt Laplace eine Mehrheit von neun von zwölf Geschworenen vor, um einen Angeklagten zu verurteilen, anstatt der damals üblichen Mehrheit von fünf von acht. Heute verlangen die USA eine einstimmige Entscheidung von ihren Geschworenengerichten; in England wird eine Zehn–zu–zwei–Mehrheit gefordert; in Schottland reicht eine absolute Mehrheit des fünfzehnköpfigen Geschworenengerichts für einen Schuldspruch. Bevor wir uns dem nächsten Kapitel zuwenden, soll nicht unerwähnt bleiben, dass es natürlich eine Rue Laplace in Paris gibt, im 5. Arrondissement, und ja, es gibt auch außerirdische Adressen, die seinen Namen tragen. Es gibt etwas Besonderes auf dem Mond, das Promontorium oder Kap Laplace, und auch der Asteroid 4628 ist nach ihm benannt. BIOGRAFISCHER ANHANG
Pierre Simon de Laplace Im Alter von 39 Jahren heiratete Laplace die 19jährige Marie Charlotte de Courty de Romanges. Das Paar bekam einen Jungen und ein Mädchen. Während der Schreckensherrschaft floh Laplace mit seiner Familie aus Paris, etwa
50 Kilometer von der Hauptstadt weg. Im allgemeinen wurde er von den Revolutionären in Ruhe gelassen. Nur einmal störten sie ihn, als sie ihn wegen des geplanten neuen Kalenders um Rat fragten. Dieser sollte an der Tagundnachtgleiche
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im Herbst, gegen den 22. bis 24. September, in Kraft treten und aus zwölf Monaten zu je drei Wochen à zehn Tagen bestehen. Am Ende des Jahres kämen fünf Feiertage hinzu. Damit konnte man zwar leicht rechnen, es stimmte aber dummerweise nicht mit den astronomischen Tatsachen überein. Laplace wusste, dass der Kalender auch Schaltjahre bräuchte, aber er wusste auch, dass man mit den Revolutionären besser nicht diskutierte. Also gab er dem Ganzen seine Zustimmung und die Besucher gingen wieder. Nachdem die Revolutionäre die Académie des Sciences geschlossen hatten, erlaubte der Konvent dem Ausschuss für öffentliche Bildung (also dem Erziehungsministerium) eine Lehrerbildungsanstalt zu eröffnen. Ein Jahr später wurde die École Normale Supérieure gegründet. Laplace und der ebenso berühmte Joseph Louis Lagrange wurden als Mathematiklehrer angeworben. Viele der heutigen Mathematiker würden dankbar alles dafür geben, die Vorlesungen dieser beiden berühmten Männer hören zu können. Für die 1.200 angehenden Schullehrer jedoch war das Tempo zu anspruchsvoll. Nach nur wenigen Monaten musste die École vorübergehend ihre Pforten wieder schließen. 1808 wurde sie von Napoléon erneut eröffnete. Heute ist die ENS eine der weltbesten Hochschulen. Nach zermürbenden Auswahlverfahren aus schriftlichen und mündlichen Prüfungen wird jedes Jahr nur eine Handvoll an Studenten zugelassen, von denen viele nach dem
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Abschluss zu führenden Hochschullehrern und Forschern werden, nicht nur in Frrankreich, sondern in der ganzen Welt. Laplace war nicht besonders traurig darüber, seine Arbeit an der ENS zu verlieren, denn im darauffolgenden Jahr öffnete seine geliebte Académie des Sciences wieder ihre Tore. Zusätzlich zu seinen dortigen Pflichten wurde er zum Direktor sowohl des Pariser Observatoriums als auch des Bureau des Longitudes ernannt. Seine Bilanz auf diesen beiden Stellen ist bestenfalls gemischt. Manche seiner Kollegen beschwerten sich, er habe wenig Neigung für praktische Arbeiten, sondern verfolge stattdessen nur seine theoretischen Interessen. Für wenige Wochen diente er auch als Innenminister. Seine Berufung wurde nach kurzer Zeit zurückgenommen, als sich herausstellte, dass er sich für diese Aufgabe nicht eignete. Anscheinend waren ihm seine mathematische Schulung und sein Trachten nach Genauigkeit im Weg. Niemand Geringeres als Laplaces ehemaliger Schüler Napoléon erkannte dessen Schwächen in Verwaltungsfragen: „Er suchte überall nach Spitzfindigkeiten, hatte nur problematische Ideen und schließlich trug er sogar den Geist des unendlich Kleinen bis in die Verwaltung hinein.“ 2 Als die Monarchie wieder eingeführt wurde, bemühte sich Laplace um den Titel eines Marquis und erhielt ihn schließlich auch, was ihm die Geringschätzung vieler seiner Kollegen einbrachte. Er starb 1827.
Il cherchait des subtilités de partout, il avait seulement des idées problématiques et enfin il portait l’esprit de l’infiniment petit jusque dans l’administration.
Kapitel 8
Der Oxford–Dozent
Die Theorie der Abstimmungen und Wahlen war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in keinem zufriedenstellenden Zustand. Mehrheitswahlen ziehen — abgesehen vom ersten Platz — die Präferenzen der Wähler nicht in Betracht; beachtet man dagegen auch die nachfolgenden Plätze, so entstehen Zirkel. Die Borda–Wahl könnte dazu führen, dass ein Kandidat gewählt wird, den niemand wirklich will, und andererseits gibt es keine Garantie dafür, dass ein Condorcet–Gewinner existiert, also jemand, der alle Mitbewerber in Stichwahlen schlagen würde. Die Theorie wusste nicht weiter und Fortschritte gab es erst, als ein unerwarteter Typ die Bühne betrat. Geboren wurde er als Charles Lutwidge Dodgson, aber er liebte es bisweilen, sich hinter einem Pseudonym zu verstecken: Indem er seine Vornamen latinisiert, vertauscht und wieder ins Englische gebracht hatte, wurde aus ihm Lewis Carroll, der Verfasser von Alice’s Adventures in Wonderland (Alice im Wunderland). Dodgson war ein ausgesprochen kreativer Mensch: produktiver Autor, Pionier der Fotografie, professioneller Mathematiker und auch Verfasser einiger wichtiger Artikel über Abstimmungen und Wahlen. Dodgsons Vater gehörte dem Klerus der Anglikanischen Kirche an. Er hatte in Oxford Classics1 und Mathematik studiert und in beiden Fächern hervorragende Abschlüsse erzielt. Nachdem er Mathematikdozent an der Oxforder Universität geworden war, musste er diese Stelle im Anschluss an seine Heirat wieder aufgeben, da die Mitglieder des Lehrkörpers damals zum Zölibat verpflichtet waren. Stattdessen wurde er Pfarrer. Als Charles 1832 als drittes von elf Kindern geboren wurde, war Reverend Dodgson als Hilfsgeistlicher an der Allerheiligenkirche in Daresbury tätig. Seine erste Ausbildung erhielt Charles zu Hause durch seine Eltern. Sie bestand hauptsächlich in der Lektüre religiöser Texte. Aber der Junge, der übrigens stotterte, war neugierig, wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und fand Gefallen an der Mathematik. Als er zwölf Jahren alt war, schickten ihn seine Eltern auf eine zehn Meilen entfernte Schule, wo er im Haus des Schulleiters wohnte. In Mathematik war er hervorragend. Drei Jahre später kam er auf die Rugby School.
1
In etwa: Sprache, Geschichte und Kultur der Römer und alten Griechen.
G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_8,
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Nach dem Schulabschluss in Rugby wollte Dodgson in Oxford studieren. Der Studienbeginn verlief allerdings holprig. Als er im Mai 1850 in Oxford ankam, konnte keine Unterkunft für ihn gefunden werden und er wurde wieder nach Hause geschickt. Ein halbes Jahr später war die Unterkunft geregelt, aber zwei Tage nach seiner Ankunft erreichte ihn die Nachricht, dass seine Mutter plötzlich verstorben war, und er reiste wieder nach Hause. Als er sich dann endlich dem Studium widmen konnte, lief es glänzend in Mathematik, worin er mit Auszeichnung abschloss, und etwas weniger glänzend in Classics, worin er befriedigende Noten erreichte. Seine akademischen Leistungen reichten aber für ein lebenslanges Stipendium von jährlich 25 Pfund, das später in eine Anstellung verbessert wurde. Zu seinen Verpflichtungen gehörte die Betreuung von Studenten. 1855 wurde Dodgson Mathematikdozent. Anders als sein Vater legte er aber nicht das Priestergelübde ab, da er nicht ganz an alle Grundlehren der Kirche glaubte. Als Don, Fakultätsmitglied des Christ–Church–Colleges., schrieb er einige Abhandlungen über Euklidische Geometrie und über Determinanten, aber sie hatten keinen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik. Dodgsons Beitrag zur Mathematik bestand hauptsächlich in der Betreuung seiner Studenten, in seinen Übungsbüchern und Studienführern und im Rätsellösen. Aber es klingt zu herablassend diese letzte Tätigkeit nur als das Lösen von Rätseln zu beschreiben. Die mathematischen Fragen, mit denen Dodgson sich beschäftigte, stammten oft aus der Educational Times, einer bemerkenswerten, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begründeten Monatszeitschrift. Sie widmete sich pädagogischen Fragen und enthielt Ausschreibungen von Stipendien und Lehrerstellen, Buchbesprechungen, Ankündigungen von Lehrbüchern und, nicht zu vergessen, eine Rubrik mit mathematischen Fragen und ihren Lösungen. Diese Fragen waren von hoher Qualität; wichtige Mathematiker wie J. J. Sylvester und G. H. Hardy und der Philosoph Bertrand Russell lieferten Beiträge für die Educational Times. Um für seine überschüssige Zeit eine Beschäftigung zu haben, bestellte Dodgson 1855 seine erste Kamera. Die Fotografie war gerade erst zwanzig Jahre zuvor erfunden worden und steckte noch in den Kinderschuhen. Dodgson wurde bald zu einem ausgezeichneten Fotografen, aber die Auswahl seiner Motive hinterlässt einen verstörenden Eindruck: Er liebte es, Aufnahmen junger Mädchen zu machen. Und als wäre dies noch keine ausreichend fragwürdige Tätigkeit, wurde er mit der Zeit verwegener und versuchte, sie nach Möglichkeit nackt zu fotografieren, wenn auch mit Zustimmung der Eltern. Eines seiner bevorzugten Modelle war die Tochter des Dekans von Christ Church, des bekannten Gelehrten und Mitautors des berühmten Greek Lexicon, Dr. Henry Liddell. Nach Dodgsons Fotografien zu urteilen war Alice Liddell (vollständig bekleidet) wirklich ein schönes elfjähriges Mädchen. Eines Tages machten Dodgson und zwei Kollegen zusammen mit der Liddell– Familie einen Bootsausflug. Alice und ihrer Schwester wurde es langweilig und um sich die Zeit zu vertreiben baten sie Dodgson ihnen eine Geschichte zu erzählen. Aus dem Stegreif entwickelte er eine Erzählung, die so amüsant und gleichzeitig so tiefsinnig war, dass sie Kinder und Erwachsene auch heute noch fasziniert. Dodgson war an diesem Tag in bester Verfassung, sogar sein Stottern verschwand. Später schrieb er alles nieder, was er den Schwestern erzählt hatte, und schenkte dem
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Mädchen eine schriftliche Fassung der Geschichte. Ein Freund der Familie bekam das Manuskript im Haus der Liddells zu sehen und drängte Dodgson es zu veröffentlichen. Alice’s Adventures in Wonderland erschien 1865 als Buch und wurde zu einem anhaltenden Bestseller. 1872 folgte die Fortsetzung Through the Looking Glass (Alice hinter den Spiegeln), von der 15.000 Exemplare innerhalb von sieben Wochen verkauft wurden. Dodgsons wissenschaftliche Karriere dagegen verlief ohne etwas besonders Beachtenswertes. Er fand keine mathematischen Ergebnisse von dauerhaftem Wert, seine Beiträge waren minderer Art und nicht besonders wichtig. Zum Beispiel bestand eine seiner Errungenschaften in der Entwicklung eines Algorithmus (ja, man sollte es einen Algorithmus nennen, auch wenn Computer noch viele Jahre auf sich warten lassen würden) um bis zum Jahr 2499 das genaue Datum des Ostersonntags zu berechnen. Übrigens hat er darin sogar Carl Friedrich Gauss aus Göttingen übertroffen, den „Fürsten der Mathematik“, der als der bedeutendste Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts angesehen wird und dessen Formel nur bis zum Jahr 1999 das richtige Ergebnis liefert. Dodgsons Methode funktioniert bemerkenswerterweise für alle Jahre außer 1954. Warum diese Ausnahme? Er versuchte es herauszufinden, gab aber nach einiger Zeit auf und räumte ein, dass er „nicht im Geringsten diese merkwürdige Unregelmäßigkeit erklären könne“. Zu einem Gebiet jedoch lieferte Dodgson Beiträge, welche die Prüfung durch die Zeit überstanden, nämlich zur Theorie der Abstimmungen und der Wahlen. Sein Interesse an dem Thema erwachte, als er sich um das Wohlergehen seines Colleges kümmerte. Da er keine eigene Familie hatte, beschäftigte er sich dadurch, dass er sich in die Verwaltungsfragen an Christ Church vertiefte. Zum Beispiel protestierte er entschieden gegen die Verwandlung von Parks in Kricketfelder oder gegen die Befreiung der Naturwissenschaftsstudenten von den Classics. Damals wollte Dr. Liddell seinen künstlerischen Drang ausleben, indem er Veränderungen und Verbesserungen der College–Gebäude in Auftrag gab. Sehr zum Missfallen des Dekans war Dodgson der festen Überzeugung, man müsse sich den baulichen Veränderungen widersetzen, um die Interessen von Christ Church zu schützen. So trübte der Dozent oft die baulichen Visionen des Dekans. Gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts endete das bisherige Privileg der Fakultät, Entscheidungen über die Schicksale von Studenten und Mitarbeitern zu treffen. Bis dahin wurden Stipendien und Anstellungen vom Dekan und dem Domkapitel von Christ Church vergeben. Wie zu erwarten wurden hauptsächlich die Söhne von Verwandten und Freunden bedacht. Aber 1855 machte eine königliche Kommission, der Henry Liddell angehörte, dieser Praxis ein Ende. Sie empfahl Veränderungen in der College–Verwaltung. Erziehungsrichtlinien und Fragen der Besitz– und Finanzverwaltung wurden der Kontrolle eines Aufsichtsrats unterstellt, der aus dem Dekan, dem Domkapitel und einigen Mitarbeitern bestand. Die Mitarbeiter sollten sogar die Mehrheit im Rat haben. Natürlich waren die Lehrstuhlinhaber von Christ Church von der Beschneidung ihrer Vorrechte nicht angetan. Als sie hörten, dass Stipendien von nun an auf der Grundlage von Studienerfolgen vergeben werden sollten, waren sie empört. Gekränkt erklärten sie, es sei nicht wünschenswert
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Auszeichnungen aufgrund von „reinem intellektuellen Verdienst“ zu vergeben. So ging es damals in Oxford zu. Die Vorrechte des Dekans wurden ebenfalls beschnitten: Der College–Leiter konnte nicht mehr spontan bestimmen, welches Projekt angestoßen und wer gefördert würde. Der neue demokratische Geist in Christ Church verlangte aber fast täglich Entscheidungen, über die abgestimmt werden mussten. Eine unendliche Reihe von Ausschusssitzungen mit Abstimmungen über alle möglichen Fragen war die Folge. Die Suche nach einem gerechten Verfahren, um zwischen Kandidaten oder verschiedenen Vorgehensweisen auszuwählen, wurde zu einem bedeutenden Problem. Seine erste Abhandlung über Abstimmungen schrieb Dodgson gegen Ende 1873 anlässlich der bevorstehenden Wahl eines gewissen Mr. Francis Paget für ein weiterführendes Theologie–Stipendium und eines gewissen Mr. Robert Edward Baynes auf die Lee–Dozentur in Physik. Die letzte Angelegenheit lag Dodgson sehr am Herzen, denn vier Jahre zuvor hatte er sich der Einrichtung dieser Dozentur widersetzt. Er sah darin ein unberechtigtes Eindringen in seinen Wirkungskreis. Schließlich war Physik aus seiner Sicht nichts anderes als angewandte Mathematik. Er ließ sich erst erweichen, als ihm versichert wurde, dass der Lee-Dozent sich nur mit experimenteller Forschung beschäftigen würde. Die Ausschusssitzung war für Donnerstag, den 18. Dezember angesetzt. Am vorangehenden Freitag saß Dodgson mündlichen Prüfungen bei und verbrachte dann den restlichen Tag über verschiedenen Hausarbeiten. Am Abend kam ihm die Idee, die Frage der bevorstehenden Entscheidung zu untersuchen. Dies stellte sich als schwieriger heraus, als er zunächst erwartet hatte. In großer Eile machte er sich daran, die Abhandlung „A discussion of the various methods of procedure in conducting elections“ (Eine Besprechung der verschiedenen Vorgehensweisen zur Durchführung von Wahlen) zu schreiben. Er brauchte nur sechs Tage um sie zu vollenden. Gleichzeitig erklärte er den Kollegen im Dozentenzimmer seine Ideen. Die Abhandlung wurde innerhalb eines Tages als Broschüre gedruckt und den Mitgliedern des Aufsichtsrats von Christ Church verteilt. Der stotternde Mathematiker Dodgson hätte als erster zugegeben kein großer Redner zu sein und normalerweise hatte seine Stimme in der Verwaltung des Colleges kein großes Gewicht. Aber nun war eine Zeit des Umbruchs, die Bautätigkeiten hatten das Budget des Colleges strapaziert und Unsicherheit über die Zukunft von Christ Church lag in der Luft. Die Mitglieder des Aufsichtsrats waren allen vernünftigen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossen und sogar bereit Plänen jüngerer Fakultätsmitglieder Beachtung zu schenken. Außerdem verfügten sie über die Intelligenz, einen komplizierten Vorschlag seinem Wert gemäß beurteilen zu können. Dodgson fängt sein Papier mit einer Beschreibung all dessen an, was nach den überkommenen Wahlmethoden schief laufen kann. Er beginnt mit der Mehrheitswahl und merkt an, dass sie zu außergewöhnlichen Ungerechtigkeiten führen kann, wenn man das Ergebnis mit den Wählerpräferenzen über den ersten Platz hinaus vergleicht. Im folgenden Beispiel mit vier Kandidaten und elf Wählern würde Kandidat b in einer Mehrheitswahl zum Gewinner erklärt werden:
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b b b b b b a a a a a
>a >a >a >a >a >a >c >c >c >d >d
>c >c >c >c >c >c >d >d >d >c >c
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>d >d >d >d >d >d >b >b >b >b >b
Nach Dodgsons Meinung läuft dies dem gesunden Menschenverstand völlig zuwider, da Kandidat a stets an erster oder zweiter Stelle kommt, während b zwar in der Mehrheitswahl die meisten Stimmen bekommt, aber von fünf Wählern an allerletzte Stelle gesetzt wird. Sollte nicht, fragt Dodgson, stattdessen sinnvollerweise a gewählt sein? Dann bespricht er ein Beispiel, in dem Bewerber oder Vorschläge, über die abgestimmt wird, in Zweiervergleichen gegeneinander gestellt werden. Der Gewinner eines Zweikampfs wird dann zufällig einem anderen Kandidaten zugeteilt, bis nur noch ein Kandidat übrig bleibt. Abgesehen davon, dass die Paarungen zufällig ausgelost werden, ist dies eine Wiederholung von Llulls dritter Methode. Es trifft also die gleiche Kritik zu und Dodgson merkt an, dass diese Methode „widersinnige Ergebnisse“ liefere, da sie von der Reihenfolge abhängen, in der die Kandidaten aufeinandertreffen. Diese Methode ist vollständig unzuverlässig, schreibt er, da aus der Wahl je nach Kandidatenreihenfolge ein zufälliges Ereignis wird. Als nächstes analysiert Dodgson ein mehrstufiges Verfahren. In jeder Runde stimmen die Wähler für ihren bevorzugten Kandidaten. Derjenige mit den wenigsten Stimmen wird ausgeschieden. Der Prozess wird dann solange wiederholt, bis nur noch einer, nämlich der Gewinner, übrig ist. Dodgson zeigt auch hier durch ein Beispiel, dass durch diese Methode in der ersten Runde ein Kandidat herausfallen kann, der für alle Wähler am annehmbarsten wäre. Da es sich hier um eine neue Methode handelt, werde ich Dodgsons Beispiel vollständig vorstellen. Sagen wir, dass es sich um elf Wähler mit den folgenden Präferenzen handelt: b b b c c c d d d a a
>a >a >a >a >a >a >a >a >a >b >c
>d >c >d >b >b >b >c >c >b >d >d
>c >d >c >d >d >d >b >b >c >c >b
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Nur zwei Wähler setzen a an erste Stelle. Folglich wird diese Möglichkeit als erste entfernt. Die anderen Auswahlmöglichkeiten rücken um eins auf, so dass die verkürzten Präferenzen der Wähler nun wie folgt aussehen: b b b c c c d d d b c
>d >c >d >b >b >b >c >c >b >d >d
>c >d >c >d >d >d >b >b >c >c >b
Nun fällt d heraus, da es dafür nur drei Stimmen gibt (im Gegensatz zu je vieren für b und c). Wir haben nun: b b b c c c c c b b c
>c >c >c >b >b >b >b >b >c >c >b
In dieser letzten Runde erhält c sechs Stimmen gegen fünf Stimmen für b. Also ist c der Sieger. Aber wenn man dies mit der Ausgangssituation vergleicht, als noch alle vier Kandidaten im Rennen waren, sieht man, dass acht der elf Wähler a gegenüber c vorgezogen haben. Schließlich schlägt Dodgson die „Markierungsmethode“ vor. Bei dieser Methode verfügt jeder Wähler über eine gewisse Anzahl von Marken, die er den Kandidaten zuteilen kann. Der Kandidat mit der höchsten Gesamtzahl an Marken wird zum Sieger gekürt. Sie unterscheidet sich dennoch von der im Kapitel 5 beschriebenen, V-Einheiten zählenden Methode von Jean Charles de Borda. Dort bekam der zuunterst eingestufte Kandidat eine V-Einheit und pro höherem Rang gab es einen Punkt mehr. Dodgsons Methode dagegen gestattet es den Wählern, alle Marken so zu verteilen, wie es ihnen gefällt. Zum Beispiel könnten sie ihre Punkte auf die beiden besten Kandidaten aufteilen oder sie könnten ihrem Lieblingskandidaten fünf Marken geben, dem nächsten drei und den drei folgenden jeweils einen. Und darin liegt ein Problem.
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Dieses Verfahren wäre dann ein annehmbares Wahlverfahren, bemerkt Dodgson, wenn die Wähler ihre Marken gemäß ihren tatsächlichen Einschätzungen vergeben würden. Aber da die Wähler eigennützig und unredlich seien, behauptet er, dass sie höchstwahrscheinlich alle ihre Marken ihrem einen Lieblingskandidaten zuschanzen würden und alle anderen leer ausgehen ließen. Also würde die Markierungsmethode mit der Mehrheitswahl übereinstimmen und alle ihre Nachteile erben. (Als nachträglichen Einfall erwähnt Dodgson noch eine Methode, bei der ein Kandidat vorgeschlagen wird und die Wähler entweder für oder gegen ihn stimmen. Aber auch bei dieser Methode wie bei allen anderen kann das Ergebnis der Intuition widersprechen. Es könnte vorkommen, dass eine Mehrheit der Wähler einen anderen Kandidaten vorgezogen hätte als denjenigen, der gewählt würde.) Kommt Ihnen all dies nicht ungefähr bekannt vor? Es sollte so sein, denn bisher besteht der Inhalt von Dodgsons Arbeit aus nicht viel mehr als einer Wiedergabe der Vorschläge und Kritiken, die der Marquis de Condorcet und der Chevalier de Borda ein Jahrhundert früher vorgebracht hatten. War Dodgson also nur ein Plagiator? Dodgson kann entlastet werden. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass er weder Bordas noch Condorcets Schriften über das Wählen gelesen hatte. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, eine solche verneinende Aussage zu beweisen — versuchen Sie einmal zu beweisen, dass die alten Römer keine schnurlose Telekommunikation benutzten — aber in diesem Fall können Belege geliefert werden. Zum einen ist bekannt, dass sich Dodgson ungern in die Werke seiner Vorgänger vertiefte. Tatsächlich las er, abgesehen von allgemeiner Literatur, nur sehr wenig. Aber nehmen wir einmal an, er habe versucht herauszufinden, ob und was bereits über das Thema geschrieben worden ist. Für seine Recherche hätte er mit Sicherheit die Bibliothek in Christ Church benutzt. In dieser ehrwürdigen Institution kann man den Beleg dafür finden, dass Dodgson die Werke seiner beiden französischen Vorgänger nicht gelesen hat. Ein Exemplar der „Histoire de l’académie royale des sciences“ findet sich zwar in der Bibliothek von Christ Church, aber die Seiten, welche Bordas Artikel „Mémoire sur les élections au scrutin“ enthalten, waren nicht aufgeschnitten! Alle Anzeichen sprechen also dafür, dass Dodgson Bordas Arbeit nicht gelesen hat. Wie steht es aber mit Condorcets „Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix“? Diese Abhandlung war in der Bibliothek von Christ Church nicht einmal vorhanden. Als nächster Ort für Dodgsons Suche wäre die Bodleian–Bibliothek in Frage gekommen. Im Jahre 1602 gegründet, bildete sie die wichtigste Forschungsbibliothek der Oxforder Universität mit einer viel bedeutenderen Sammlung als in Christ Church. Tatsächlich befand sich auch Condorcets Essai unter den Beständen. Aber auch hier waren einige Seiten unaufgeschnitten, und zwar in einem Abschnitt über Wahlen. Natürlich kann man sich vorstellen, dass Dodgson die Abhandlungen in irgendeiner anderen Bibliothek gelesen hatte, aber dies ist eher unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass sie ihm so nahe von zu Hause zur Verfügung standen. Wir können dies als starkes Anzeichen dafür werten, dass Dodgson weder Bordas noch Condorcets Schriften über das Wählen gesehen hatte. Und natürlich hatte er nie etwas von Ramon Llull oder Nikolaus von Kues gehört, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem Wählen. Also war er kein Plagiator.
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Im nächsten Kapitel seiner Broschüre führt Dodgson nun eine Neuheit ein. Er besteht darauf, dass man, wenn verschiedene Kandidaten oder Vorgehensweisen vorgeschlagen sind, auch immer die Möglichkeit haben muss, für „keine Wahl“ oder „nichts tun“ zu stimmen. Ohne die „Nichtstun“–Möglichkeit sind die Wähler gezwungen, auch dann aus einer Menge ungeeigneter Bewerber einen auswählen, wenn alle es vorziehen würden, die Stelle unbesetzt zu lassen. Oder es wird eine Vorgehensweise ausgewählt, obwohl eine Mehrheit der Wähler es allen vorgeschlagenen Möglichkeiten gegenüber vorgezogen hätte, nichts zu tun. Im dritten Kapitel kommt Dodgsons erster wirklich eigener Beitrag. Er bespricht die Markierungsmethode und ihre Anfälligkeit für Manipulationen durch die Wähler; eine Vorgehensweise, die im vorherigen Kapitel „strategisches Wählen“ genannt wurde. Zunächst betrachtet Dodgson den Spezialfall, dem am wenigsten erwünschten Kandidaten keine Marke zuzuteilen, dem vorletzten eine Marke, dem vorvorletzten zwei und so weiter. Falls sich n Kandidaten bewerben, bekommt der oberste also n − 1 Marken. So weit nichts Neues im Vergleich zur Borda–Wahl. Aber dann schlägt Dodgson eine Verbesserung vor. Er schaut sich besonders die zuvor vernachlässigte Situation an, in der zwei oder mehr Kandidaten als gleichwertig angesehen werden. Wie wir sehen werden, löst er, indem er sich dieser Frage zuwendet, gleichzeitig auch das Problem des strategischen Wählens. In Dodgsons System fasst ein Wähler gleichwertige Kandidaten zusammen und setzt sie „in Klammern“. Wieviele Marken sollen diese Kandidaten bekommen? Ein strategischer Wähler würde versuchen die Wahl dadurch zu manipulieren, dass er seinem Lieblingskandidaten n − 1 Marken zuteilt und alle anderen Kandidaten in einer Klammer ans Ende der Liste setzt und ihnen keine Marken gibt. Aber nun erschließt Dodgson Neuland. Sein genialer Vorschlag besteht darin, dass alle in einer Klammer zusammengefassten Kandidaten die gleiche Anzahl an Marken bekommen und zwar ebenso viele Marken, wie wenn sie als einziger Kandidat an dieser Position stünden. So bekommt etwa der oberste Kandidat n − 1 Marken, der nächste n − 2. Wenn dann eine Klammer mit drei Kandidaten folgt, weist Dodgson jedem dieser drei n − 3 Marken zu. Die Anzahl der Marken für den nächsten Kandidaten oder für die nächste Klammer an Kandidaten ist dann n − 4, und so weiter. Falls also ein Wähler einen Kandidaten an die Spitze setzt und alle anderen in einer Klammer ans Ende, dann bekämen die Kandidaten in der unteren Klammer jeweils n − 2 Marken. Dadurch wird die Absicht der Manipulation durchkreuzt und Wähler werden davon abgehalten, Klammern mit niederen Rängen zu bilden. Der 18. Dezember 1873 kam und damit der erste Test für die von Dodgson vorgeschlagene Methode. Mr. Paget wurde das Stipendium ohne weiteres Getue auf traditionelle Art zuerkannt. Aber für die Physikdozentur wurde Dodgsons Markierungsmethode benutzt. Das Ergebnis der Abstimmung war äußerst knapp: Ein gewisser Mr. Becker erhielt 48 Marken, Mr. Baynes bekam 47 (und ein anderer Bewerber landete weit abgeschlagen auf dem dritten Platz). Angesichts der Neuheit der Markierungsmethode beschloss man, die beiden Bewerber, die so gut wie unentschieden abgeschnitten hatten, einer traditionellen Direktwahl zu unterwerfen. Und hier platzte die Bombe: Ohne den dritten Kandidaten kam der in der Markierungsmethode unterlegene Mr. Baynes an erste Stelle, mit elf Stimmen gegen neun
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für Becker. Baynes wurde also der Lee–Dozent in Physik. (In dieser Stellung diente er Christ Church fast ein halbes Jahrhundert, er schrieb Lehrbücher über Wärme und Thermodynamik, ging 1919 in Ruhestand und starb 1923.) Der Test entsprach nicht Dodgsons Vorstellungen. Seine Methode sollte paradoxe Ergebnisse verhindern. Er versuchte seine Enttäuschung herunterzuspielen. In seinem Tagebucheintrag für diesen Tag notierte er nur, dass die Markierungsmethode in der Ausschusssitzung benutzt wurde. Er erwähnte nicht, dass die Methode erbärmlich gescheitert war, indem sie nicht den von der Mehrheit des Ausschusses gewünschten Kandidaten ausgewählt hatte. Aber das sonderbare Ergebnis verdross ihn und gab ihm zu denken. Bald kam die Möglichkeit, seinen ersten Vorschlag zu verbessern. In der Sitzung mit der Wahl des neuen Physikdozenten war auch eine Kommission eingesetzt worden, die einen Plan für den Bau von Christ Churchs Glockenturm erstellen und einen Kostenvoranschlag einholen sollte. Sechs Architekten wurden aufgefordert Vorschläge einzureichen. Die Kommission traf sich mehrere Male; es gab heftige Meinungsverschiedenheiten und die Mitglieder konnten sich nur auf eine Sache einigen, nämlich dass eine Entscheidung getroffen werden musste. Seit den Weihnachtsferien hatte Dodgson lange und angestrengt darüber nachgedacht, wie Entscheidungen getroffen werden sollten. Seine Ideen waren noch nicht vollständig durchdacht, aber Architekturangelegenheiten lagen ihm am Herzen und die Zeit drängte. Er beeilte sich seine Ideen vor dem entscheidenden Treffen niederzulegen. Ein halbes Jahr nach dem Erscheinen seiner ersten Arbeit über das Thema stellte Dodgson seine neuesten Ideen über Entscheidungsverfahren einem Ausschuss vor. Aber sie waren noch nicht ausgereift und ihre Veröffentlichung verfrüht. Er machte Vorschläge, wie man bei einer Abstimmung vorgehen sollte, ohne zu erklären, warum diese neue Methode besser funktionieren würde als herkömmliche Methoden. Und seine Arbeit konnte ein aufgetretenes Problem nur mit einem großen Fragezeichen beantworten. Die Arbeit datiert vom 13. Juni 1874 und trägt den Titel „Suggestions as to the best method of taking votes, where more than two issues are to be voted on“ (Vorschläge für die beste Abstimmungsmethode, wenn über mehr als zwei Alternativen abzustimmen ist). Nach der Peinlichkeit, dass seine Markierungsmethode den von der Mehrheit bevorzugten Physikdozenten Baynes hat durchfallen lassen, war Dodgson klug genug diese Methode einzumotten. Zu seinen Gunsten muss man sagen, dass er ihre Mängel freimütig eingestand. Im Vorwort der neuen Arbeit schreibt er: „Ich befürworte die [zuvor vorgestellte] Methode nicht . . . als eine, mit der man sinnvollerweise beginnen sollte. Wenn andere Mittel versagt haben, könnte sie sich als nützlich erweisen, aber es ist unwahrscheinlich, dass dies oft geschieht . . . Nun schlägt er vor zunächst abzuprüfen, ob es eine absolute Mehrheit für einen Kandidaten oder eine Vorgehensweise gibt. Ein Blatt Papier sollte herumgereicht werden, auf dem alle Kandidaten oder vorgeschlagenen Vorgehensweisen aufgelistet sind, und natürlich sollte auch die Möglichkeit „niemanden wählen“ bzw. „nichts tun“ aufgeführt sein. Dann schreibt jeder Wähler seinen Namen hinter die von ihm bevorzugte Alternative. Falls es zu diesem Zeitpunkt eine absolute Mehrheit für
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einen Kandidaten oder eine Wahlmöglichkeit gibt, kann die Frage als abgeschlossen angesehen und die Sitzung beendet werden. Falls kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht, so schlägt Dodgson vor, dass über die Kandidaten paarweise abgestimmt wird. Ein Kandidat, der gegen alle Mitbewerber gewinnt, wird zum absoluten Sieger erklärt. Wir scheinen uns wieder in vertrautem Gebiet zu bewegen. Natürlich ist Dodgsons „absoluter Sieger“ nichts anderes als der in Kapitel 6 besprochene Condorcet–Gewinner. Offenbar hoffte Dodgson, dass sich in den Zweiervergleichen ein Kandidat herausstellen würde, der allen anderen vorgezogen wird. Aber wir wissen aus den vorherigen Überlegungen, dass es nicht immer einen Condorcet–Gewinner gibt. Selbst wenn ein Kandidat fast allen anderen überlegen ist, kann es einen anderen geben, der ihn schlägt, auch wenn dieser wiederum allen anderen unterlegen sein sollte. Was schlägt Dodgson für diesen Fall vor? In einem Wort: nichts. Alles, was er zu sagen hat, ist: Wenn in der ersten Runde keine absolute Mehrheit erreicht wurde und falls durch die paarweisen Vergleiche kein absoluter Sieger festgestellt werden konnte, dann weiß man zumindest, dass die Meinungen der Ausschussmitglieder ziemlich gleichmäßig verteilt sind. Dies sind keine erstaunlichen Erkenntnisse und Dodgson bemerkt, dass sein Vorschlag seinen eigenen Anforderungen nicht genügt. Er schließt seine Arbeit mit der scharfsinnigen Bemerkung, dass „es natürlich sehr schwer sei, mit einer solchen Lage umzugehen“. Und als Zusammenfassung fügt er einfältig an, dass „die Schwierigkeit zwar möglicherweise nicht verringert, aber sicherlich auch nicht verstärkt werde, wenn man das von mir vorgeschlagene Verfahren anwendet“. Das kann man wohl sagen. Am 18. Juni 1874 traf sich der Aufsichtsrat von Christ Church, um über den Glockenturm zu beraten. Es war eine stürmische Sitzung, die fünf Stunden lang dauerte. Vier der ursprünglich sechs Architekten hatten Pläne eingereicht und jeder Wähler hatte seinen Lieblingsentwurf. Als über alle Pläne gleichzeitig abgestimmt wurde, erhielt Mr. Jacksons Turm neun Stimmen, Mr. Deanes Arkade fünf und Mr. Bodleys Eingangstor zwei. (Ein vierter Entwurf wurde bereits vor Beginn der Abstimmung niedergeschlagen.) Aber es gab auch sieben Stimmen, die sich dafür aussprachen, von Mr. Bodley eine neue Gestaltung anzufordern. Da kein Vorschlag eine absolute Mehrheit erreichte, griff der Aufsichtsrat auf die von Dodgson vorgeschlagene Methode zurück. In den Zweikämpfen wurde der Turm von Sir Thomas Jackson, der in der ersten Abstimmung den größten Zuspruch erhalten hatte, mit 17 gegen 9 Stimmen geschlagen zugunsten des Vorschlags, von George Frederick Bodley eine Neugestaltung einzuholen. Es ist nicht bekannt, was schließlich mit dem Glockenturm passierte, aber die Kontroverse hielt über ihre unmittelbaren architektonischen Auswirkungen hinaus an. Für Dodgsons weitere Forschungen auf diesem Gebiet war sie ein Katalysator. Er beschloss sogar ein Buch über die geeignetste Wahlmethode zu schreiben. Zugleich braute sich eine neue Auseinandersetzung zusammen, in die sich Dodgson mit Wonne stürzte. Es ging um den deutschstämmigen Orientalisten und Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Religion, Friedrich Max Müller. Dieser Gelehrte war 1851 ans Christ Church College gekommen und galt als der weltweit führende Experte für Sanskrit und indische Religion und Philosophie. Sein
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Ruf war sogar auf den indischen Subkontinent vorgedrungen, wo seine Schriften große Begeisterung hervorriefen. Müller interessierte sich auch lebhaft für die erwachende Politik in Indien, ohne allerdings das Land selbst je besucht zu haben. Seine Texte sind noch heute Pflichtlektüre für Studenten und Forscher. (Seine Forschung wurde allerdings nicht von allen Seiten anerkannt. Ein römisch–katholischer Bischof sah in Müllers Vorlesungen „einen Kreuzzug gegen die göttliche Offenbarung, gegen Jesus Christus und das Christentum“.) Im Alter von ungefähr 50 Jahren bemühte sich Müller um eine Veränderung. Nach 28 Dienstjahren am College wollte er nicht länger unterrichten, da er der Meinung war, dass dies andere ebenso gut, wenn nicht sogar besser könnten. Er wollte den Rest seines Lebens der Übersetzung und Herausgabe der heiligen Schriften des Ostens widmen. Die Universität lehnte dies ab. Als aber die Wiener Universität Müller einen Lehrstuhl anbot, der mit keiner Lehrverpflichtung verbunden war, dachten die Oxforder Professoren noch einmal reiflich darüber nach. Angesichts der Gefahr, einen weltberühmten Gelehrten zu verlieren, erarbeiteten sie den Vorschlag, Müller von der Lehre und der Betreuung von Studenten zu befreien unter Einbuße der Hälfte seines Gehalts. Mit der anderen Hälfte würde man einen Ersatz bezahlen. Dekan Liddell war ganz für den Vorschlag und legte ihn dem Senat, also dem mit wichtigen Fragen der Universität befassten rechtlichen Gremium, zur Entscheidung vor. Dodgson hingegen versetzte es in Wut. Es beleidigte seinen Gerechtigkeitssinn, dass dem Vertreter nur die Hälfte des Gehalts bezahlt werden sollte. Und dass der Vorschlag von seiner „Nemesis“ Dekan Liddell unterstützt wurde, machte die Sache nur noch schlimmer. Dodgson lehnte den Plan entschieden ab, betonte allerdings stets, dass dies nicht gegen seinen Freund Müller gerichtet sei. Der Senat tagte am 15. Februar 1876. Dodgson fürchtete, dass die Abweichler aus Angst, eine kleine und daher auffallende Minderheit zu bilden, sich der Stimme enthalten würden, und verteilte Flugblätter am Eingang des Saals. In wahrer Lewis–Carroll– Manier verglich er den Vorschlag, Müller das halbe Gehalt zu belassen und dafür das Einkommen des neuen Dozenten um die Hälfte zu kürzen, mit einer Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der ein Zuhörer von der Redegewandtheit eines Predigers so überwältigt ist, dass er alles Geld auf den Almosenteller legt, das er in den Taschen seines Nachbars finden kann. Nach der Eröffnung der Sitzung kam die Diskussion schnell vom Thema ab. Die Sprecher übertrafen sich in Lobeshymnen auf Müller und vergaßen vollkommen, dass es um die Bezahlung des neuen Sanskritlehrers ging. Dodgson war so erbost, dass er sich genötigt sah aufzustehen, wie die Times am nächsten Tag berichtete, und seine Kollegen bat, doch bitte bei der Sache zu bleiben. Es gab viele verschiedene Meinungen zu der Frage eines halben Gehalts für einen volle Stelle, aber die Überzeugungskraft von Dekan Liddell obsiegte. Der Vorschlag wurde mit 94 gegen 35 Stimmen angenommen. Müller widmete den Rest seines Lebens den wichtigen Texten des Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Zoroastrismus, Jainismus und Islams. Zusammen wurden es schließlich 49 Bände und ein Indexband, die sämtlich bei Clarendon Press in Oxford erschienen. Dodgson war empört — weniger über das miserable Gehalt für den neuen Literaturwissenschafts– und Sanskritlehrer als darüber, einen Zweikampf mit dem De-
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kan verloren zu haben. Obwohl seine Niederlage nicht an der Wahlmethode lag, beschloss Dodgson mit aller Kraft die Verfahren zu durchdenken, mit denen Kommissionen zu Abstimmungsergebnissen kommen. Innerhalb einer Woche verfasste er einen dritten Text über das Thema, „A Method of Taking Votes on More than Two Issues“ (Eine Methode, um über mehr als zwei Alternativen abzustimmen). In den Worten eines schottischen Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts, Duncan Black, war es diese Arbeit, „die [Dogdson] in der Theorie der Wahlen und Ausschüsse den Anspruch auf einen Platz nur knapp unterhalb von Condorcet einbrachte“ 2 . Anderthalb Jahre später, im Dezember 1877, verteilte Dodgson das Heft an Freunde und Bekannte. Ein Begleitschreiben bat die Empfänger um ihre Kommentare; man weiß aber nicht, ob er welche zurückbekam. In diesem Text geht er erstmals auf Zirkel ein, allerdings ohne Condorcets Namen zu nennen und so, als wüsste sowieso jeder von ihrer Existenz. Vielleicht war Condorcets Paradoxon in England bereits ein wohlbekanntes Phänomen, auch wenn Dodgson anscheinend die Beiträge des Franzosen nicht kannte. Seine Arbeit beginnt mit ein paar vernünftigen Vorschlägen. Falls eine Vorab– Umfrage ergibt, dass eine Alternative (ein Kandidat oder eine Vorgehensweise) eine absolute Mehrheit erhält, dann kann der Wahlleiter den Sieger ausrufen und die Zusammenkunft beenden. Falls es keine absolute Mehrheit gibt, bittet der Wahlleiter die Wähler jeweils, die Alternativen in der Reihenfolge des Vorzugs anzuordnen, und dann werden Zweiervergleiche durchgeführt. Falls ein Kandidat allen seinen Mitbewerbern gegenüber von einer Mehrheit der Wähler vorgezogen wird, so wird dieser Kandidat zum Sieger erklärt und wieder ist die Zusammenkunft zu Ende. Bis hierher bewegt sich Dodgson noch im bekannten Bereich von „Suggestions as to the best method . . . “. Sein unmittelbar anschließender Kommentar ist nicht viel besser als seine vorherige Beobachtung, dass „es natürlich sehr schwer sei, mit einer solchen Lage umzugehen“: Falls einige Alternativen einen Zirkel bilden, so sollte nach Dodgsons lahmem Vorschlag den Wählern die Möglichkeit zu weiterer Debatte gegeben werden. Offenbar hofft er, dass das Problem irgendwann einfach verschwinden wird: Ein oder mehrere Wähler werden, der Debatte müde, ihre Meinung ändern, der Zirkel bricht auf und es ergibt sich eine Rangfolge mit einem klaren Gewinner. Erst wenn die Verschleppungspolitik auch keinen Sieger hervorbringt, wird es richtig spannend. Der Hauptpunkt in Dodgsons dritter Arbeit, der ihm immerwährenden Ruhm unter den Anhängern der Theorie des Wählens einbrachte, ist sein Vorschlag, wie Zirkel aufgebrochen werden sollten. Kandidaten, die einen Zirkel bilden, kann man gewissermaßen als gleichwertig ansehen. Niemand ist den anderen überlegen, da jeder von mindestens einem geschlagen wird. Aber Dodgson fand heraus, dass es Kandidaten gibt, die gleichwertiger als die anderen sind. Sagen wir, die Stimmabgaben der Wähler haben aus Alex, Bert, Carl und Dirk einen Zirkel gebildet (Alex schlägt Bert, Bert schlägt Carl, Carl schlägt Dirk und Dirk schlägt Alex). Wenn es nun der Fall sein sollte, dass nur ein einziger Wähler seine Meinung über den Rang von Bert und Carl ändern müsste, 2
[. . . ] which entitles [Dodgson] to a position in the theory of elections and committees only a little lower than that of Condorcet.
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damit Carl Bert schlägt, dann sollte nach Dodgsons Vorschlag Carl zum Sieger erklärt werden. Allgemeiner sollte derjenige Kandidat zum Sieger werden, bei dem die geringste Anzahl von Wählern ihre Meinung ändern müsste. Schauen wir uns das folgende Beispiel an. Es gibt elf Wähler, die sich zwischen den vier Kandidaten Alex, Bert, Carl und Dirk entscheiden müssen. Ihre Präferenzen sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben: Wähler 1: Wähler 2: Wähler 3: Wähler 4: Wähler 5: Wähler 6: Wähler 7: Wähler 8: Wähler 9: Wähler 10: Wähler 11:
Alex Alex Alex Alex Bert Bert Bert Carl Carl Carl Dirk
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Dirk Dirk Bert Bert Carl Carl Dirk Bert Bert Bert Carl
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Carl Carl Dirk Dirk Alex Alex Carl Dirk Dirk Dirk Bert
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Bert Bert Carl Carl Dirk Dirk Alex Alex Alex Alex Alex
In einer herkömmlichen Mehrheitswahl entfielen vier Stimmen auf Alex, je drei auf Bert und Carl, und Dirk bekäme eine Stimme. Dann wäre Alex der Gewinner. Aber sieben der elf Wähler finden Bert besser als Alex. Außerdem ziehen sechs Wähler Carl Bert vor, sechs Dirk Carl und sechs Alex Dirk. Es ergibt sich also die Abfolge „Alex > Dirk > Carl > Bert > Alex“: Wir haben einen Zirkel und damit keinen Sieger. Falls aber Wähler 11 seine Rangordnung nur leicht änderte (indem er Carl und Bert vertauscht), würde der große Zirkel aufbrechen und Bert zum unangefochtenen Gewinner. Falls dagegen Wähler 7 Dirk und Carl vertauscht, würde Carl gewinnen. Um allerdings Alex oder Dirk zum Sieg zu verhelfen, wären jeweils vier Vertauschungen nötig. Daher haben Bert und Carl ein höheres Anrecht auf den Siegerkranz als Alex oder Dirk. Dodgsons Vorschlag läuft darauf hinaus, den Kandidaten zu finden, der am nächsten am Condorcet–Gewinn ist. Die Zirkellöseregel sieht daher folgendermaßen aus: Man zähle für jeden Kandidaten in einem Zirkel die Anzahl der Wechsel, die er benötigt um an oberste Stelle zu gelangen, und küre den zum Sieger, der die wenigsten Wechsel benötigt. („Wechsel“ bezeichnet hier die Vertauschung von zwei unmittelbar hintereinander stehenden Kandidaten in der Präferenzliste eines Wählers.) Die kleinste Anzahl von Wechseln, die ausreicht um aus einem Kandidaten einen Condorcet–Gewinner zu machen, wird „Dodgson–Wert“ (Dodgson score) des Kandidaten genannt. Ein richtiger Condorcet–Gewinner, falls es ihn gibt, hat einen Dodgson–Wert von null (denn er braucht gar keine Wechsel). Natürlich kann es mehrere Kandidaten in einem Zirkel geben mit dem gleichen, niedrigsten Dodgson–Wert. Im obigen Beispiel haben Bert und Carl jeweils einen Dodgson– Wert von eins. Da dieser niedriger als der Dodgson–Wert von Alex und Dirk ist, hat sich die Zahl der möglichen Gewinner immerhin von vier auf zwei verringert.
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Es bleibt aber ein Problem bestehen. Es ist keine leichte Aufgabe festzustellen, ob ein Kandidat ein Dodgson–Gewinner ist. Man muss herausfinden, welche Präferenzen welcher Wähler umgedreht werden müssen. Natürlich kann man jeden Kandidaten zu einem Condorcet–Gewinner machen, wenn beliebig viele Wechsel erlaubt sind. Aber es geht darum, die kleinste Zahl an Wechseln zu finden, die einen Kandidaten an die erste Stelle bringen. Dies ist eine schwere Aufgabe und tatsächlich ist es sogar eine sehr schwere Aufgabe, wie Informatiker 113 Jahre nach der Veröffentlichung von Dodgsons dritter Arbeit herausgefunden haben. 1989 beschlossen die drei Operations–Research–Professoren John Bartholdi, Craig Tovey und Michael Trick sich Dodgsons Vorschlag, wie man „Wahl–Zirkel“ durchbrechen sollte, genauer anzuschauen. Sie fanden heraus, dass es zwar keine große Schwierigkeit darstellt diejenigen Vorlieben herauszufinden, die umgedreht werden müssen, wenn nur wenige Wähler an der Wahl teilnehmen und nur wenige Bewerber zur Wahl stehen. Aber mit wachsender Anzahl an Wählern und Kandidaten steigt die Anzahl der erforderlichen Berechnungsschritte, um die nötigen Wechsel zu finden, drastisch an. Die Anzahl der Berechnungsschritte eines Computerprogramms bestimmt dessen Komplexität. Genauer geht es um die Frage, wie stark die Rechenzeit wächst, wenn die Größe der Eingabe wächst. Zum Beispiel braucht man einen Rechenschritt, um zwei einstellige Zahlen wie 3 und 7 miteinander zu multiplizieren. Für die Multiplikation von zweistelligen Zahlen wie 76 und 84 braucht man fünf Rechenschritte: 70 mal 80, 70 mal 4, 6 mal 80, 6 mal 4, und dann muss alles noch aufsummiert werden. Die Multiplikation zweier fünfstelliger Zahlen braucht noch mehr Rechenschritte. Selbst schnelle Computer brauchen dafür mehr Zeit, wenn die Zahlen größer werden. Wie das Beispiel andeutet, wächst sie bei dem Problem, zwei n-stellige Zahlen zu multiplizieren, ungefähr mit dem Quadrat von n. Fragestellungen, bei denen die Rechenzeit proportional zu einer Potenz der Eingabegröße wächst, heißen „P-Probleme“. Viele Fragestellungen können nicht in P-Zeit abgehandelt werden. Einige davon gehören zu der so genannten Klasse der „NP-harten Probleme“ („NP“ steht für „non-deterministic polynomial“ und „hart“ steht für . . . hart). Die Zeit, die ein Computer zur Beantwortung solcher Fragen braucht, wächst exponentiell mit der Eingabegröße. Sogar bei noch mäßig großen Eingaben werden NP-harte Probleme schnell nicht mehr handhabbar. Und Bartholdi, Tovey und Trick bewiesen, dass es NP-hart ist den Dodgson–Wert auszurechnen. Dies war sein Totengeläut. Nach der Veröffentlichung seiner drei Arbeiten wollte Dodgson ein Buch über Wahlen und Abstimmungen schreiben, doch er kam nie dazu. Seine einzige andere Arbeit auf dem Gebiet besteht aus einigen Briefen an die St. James’ Gazette über die Art und Weise, wie man die Wettkämpfer in einem Tennisturnier reihen sollte. Aber er nutzte sein Wissen gut aus: Bei Abendgesellschaften bat er regelmäßig seine Freunde, die Weinflaschen nach ihren Vorlieben anzuordnen, um so zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen, welche Flaschen geöffnet werden sollten. In den nächsten Kapiteln werde ich über ein anderes verflixtes Problem sprechen, das immer noch die Demokratien zwickt: die Frage, wie Parlamentssitze verteilt werden.
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BIOGRAFISCHER ANHANG
Charles Lutwidge Dodgson Dodgson war in Alice Liddell, die elfjährige Tochter des Dekans von Christ Church, vernarrt und suchte beständig ihre Gesellschaft. Seine Zuneigung zu Alice bildete fast anderthalb Jahrhunderte lang eine Quelle von Verwunderung — und Schlimmerem. Eines Tages, gegen Ende Juni 1863, geschah etwas, was alles veränderte. Leider wird der Leser nicht viel darüber erfahren, denn man weiß nichts über die geheimnisvolle Begebenheit. Es gibt nur Vermutungen. Die Fragen um das Ereignis wurden als „Liddell–riddle“ (Liddell–Rätsel) bekannt. Sicher ist, dass Dodgson und Alice im Wald spazieren gingen und dass ihre Beziehung anschließend plötzlich und vollständig abgebrochen war. Was passierte auf dem verhängnisvollen Ausflug? Selbst Dodgsons peinlich genau geführte Tagebücher, insgesamt 13 Bände, geben keinen Hinweis. Genauer gesagt sind sie Ursache weiterer Spekulationen: Die Seiten für die Tage vom 27. bis 29. Juni 1863 wurden aus dem Tagebuch herausgerissen. Zu so vielem anderen Geheimnisvollen in dieser Angelegenheit kommt hinzu, dass man nicht weiß, wer dies getan hat und warum. Es ist unwahrscheinlich, dass Dodgson selbst die Seiten heraustrennte, denn als er im Januar 1898 an Lungenentzündung starb, geschah dies reichlich plötzlich und unerwartet. Vermutlich wollte jemand aus der Familie die Welt davon abhalten, ein schreckliches Geheimnis zu erfahren. Die Spekulationen darüber, was auf dem Spaziergang passierte, reichen von einem Heiratsantrag, den der 31-jährige Mann dem elfjährigen Mädchen mach-
te, bis zum Kindesmissbrauch. Ein Heiratsantrag an ein vorpubertäres Mädchen dürfte in Viktorianischen Zeiten nicht so unerhört gewesen sein wie heute, da das gesetzliche Heiratsalter bei zwölf Jahren lag. Falls der Antrag selbst nicht so unerhört war, könnte der Grund für die Verschwiegenheit darin liegen, dass der junge Mathematiker Dodgson als Freier von dem Dekan und seiner Frau aufgrund des wenig ansehnlichen Stands abgelehnt wurde. Der Dozent stellte wirklich nicht den Freier dar, den die Liddells für ihre Tochter im Sinn hatten. Schließlich wimmelte es in Oxford an Junggesellen, die in Frage kamen, wie zum Beispiel Leopold, Sohn von Königin Victoria und ihrem Ehemann, Prinz Albert von Sachsen–Coburg und Gotha. Prinz Leopold war für sein Studium nach Christ Church gekommen. Auch wenn heute kaum jemand weiß, wer Leopold war, wohingegen Lewis Carroll ein bekannter Name ist, wurde Dodgson damals auf dem Heiratsmarkt sicher nicht als gleichwertig mit dem Prinzen angesehen. Sogar sein Einser–Abschluss in Mathematik konnte nicht mit dem Jura– Ehrendoktor des Prinzen mithalten. Die traurige Tatsache, dass er für die Hochzeit mit der Tochter des Dekans nicht geeignet war, könnte der Grund für die herausgerissenen Tagebuchseiten sein. Übrigens hatten Alice und der Prinz anscheinend eine Liebelei, aber die Affäre zerschlug sich. Diesmal war es die Familie des Prinzen, die Einwände gegen die Verbindung hatte, da Alice die Tochter eines Bürgerlichen war. Das geschah den Liddells wohl recht!
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Als der angebliche Heiratsantrag vorgebracht war, verboten die ärgerlichen Eltern Dodgson jeglichen weiteren Kontakt mit ihrer Tochter. Der abgelehnte Freier antwortete mit gleicher Münze. Er veröffentlichte ätzende Pamphlete gegen die Familie Liddell. Aber schlug Dodgson Alice wirklich die Heirat vor, oder Schlimmeres? Es gibt dazu Theorien im Überfluss. Eine davon vermutet, dass Dodgson in Wirklichkeit hinter Alices Kindermädchen her war. Er selbst widerlegt aber solche Gerüchte durch einen Tagebucheintrag, demzufolge Miss Prickett eine unansehnliche Frau war. Über ein Jahrhundert später, in der Mitte der 1990er Jahre, gab es einen Durchbruch im Liddell–Rätsel. Ein Filmregisseur, der für einen Film über Lewis Carroll auf der Suche nach einem Drehbuch war, fand zwischen den Akten eines Archivs ein verstecktes Stück Papier. Es stellte sich als eine Zusammenfassung der herausgerissenen Tagebuchseiten heraus, die andeutet, dass Dodgson gar nicht Alice den Hof machte, sondern ihrer älteren Schwester Lorina. Sie war vierzehn zu der Zeit und für ihr Alter weit entwickelt. Heutzutage würde man vierzehn nicht einmal annähernd anständiger als elf finden, aber in Viktorianischen Zeiten zählte Lorina nicht mehr als Mädchen, sondern als junge Frau. Für Mrs. Liddell, die andere Pläne für ihre Töchter hatte, machte es allerdings absolut keinen Unterschied, um wen Dodgson freite. Sie verbot jegliche Verbindung und dies könn-
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te es gewesen sein, was Dodgson in sein Tagebuch schrieb. Dann gibt es diejenigen, die die Theorie einer verdrängten Pädophilie ablehnen und stattdessen in Dodgson einen gefährlichen Frauenhelden sehen. Nach dieser Meinung war seine vermeintliche Neigung zu jungen Mädchen nur ein Ablenkungsmanöver. Zum Beispiel gibt es Behauptungen, dass er — Schreck allen Schreckens — mit der Frau des Dekans romantisch verstrickt gewesen sei. Mildere Beurteilungen von Dodgson Psyche wollen es, dass er niemals wirklich erwachsen geworden und sein ganzes Leben lang ein großes Kind geblieben sei. Alice heiratete schließlich Reginald Hargreaves, einen jungen Mann, der als Kricketspieler bekannter war denn als Student. Die Hochzeit fand in Westminster Abbey statt und war ein beachtetes Gesellschaftsereignis. Das Paar hatte drei Söhne, der mittlere davon wurde Leopold genannt (und Prinz Leopold, der den Titel Duke of Albany bekommen hatte, nannte seine Tochter Alice). Zwei der Söhne fielen im ersten Weltkrieg. Als Alice und ihr überlebender Sohn in harte Zeiten gerieten, bot sie Dodgsons Manuskript bei Sotheby’s zum Verkauf an und hoffte 4.000 Pfund zu erlösen. Mit 15.400 Pfund erbrachte es einen in der damaligen Zeit unglaublich hohen Preis. Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Dodgson wurde der achtzigjährigen Alice von der Columbia University die Ehrendoktorwürde in Literatur verliehen. Sie starb zwei Jahre später.
Kapitel 9
Die Gründungsväter
Nun verlassen wir für eine Weile das beschwerliche Thema der Abstimmungen und Wahlen, um ein anderes Gebiet voller mathematischer Rätsel zu betrachten — Rätsel, welche die Demokratien in der ganzen Welt quälen. Es geht um das Problem, wie Parlamentssitze verteilt werden. Jeder möchte, dass die Anzahl der Abgeordneten, die eine Region oder eine politische Partei in eine Volksvertretung schicken darf, auf gerechte und gleichmäßige Weise bestimmt wird. Wir werden sehen, dass die damit verbundenen Fragen leider ebenso ärgerlich, verblüffend und manchmal widersinnig sind wie die Probleme und Paradoxa, die auftreten, wenn man über einen Vorschlag abstimmt oder einen Anführer wählt. *** „Das Repräsentantenhaus soll aus Mitgliedern bestehen, die jedes zweite Jahr vom Volk gewählt werden . . . Die Anzahl der Volksvertreter soll einen pro 30.000 nicht übersteigen . . . “ Dies sagt die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787. Die Gründungsväter beschlossen die Kongresssitze so auf die Bundesstaaten zu verteilen, dass sich ihr Anteil als die Zahl der Wahlberechtigten jedes Staates geteilt durch eine Zahl, die mindestens 30.000 ist, ergibt. Die Verfassung führt auch aus, dass „jeder Staat mindestens einen Vertreter haben soll“. Andere Länder haben andere Zuteilungsmethoden gewählt. Die Verfassung der Schweiz zum Beispiel spricht ausführlicher über ihr Parlament. Artikel 149 besagt: „Der Nationalrat besteht aus 200 Abgeordneten des Volkes. [. . . ] Die Sitze werden nach der Bevölkerungszahl auf die Kantone verteilt.“ Die Angaben der Alpenrepublik sind genauer, aber, wie wir sehen werden, auch problematischer. In einem Zusammenschluss von Staaten verschiedener Größe wird die Anzahl der Abgeordneten je nach Bundesstaat unterschiedlich hoch sein. Natürlich möchte jeder Staat oder Kanton ein möglichst großes Mitspracherecht und daher eine möglichst große Vertretung haben. Man muss also ein Verfahren finden, durch das die Sitze eines Parlaments gerecht und nachvollziehbar verteilt werden, ohne dass es Anlass zu Streit gibt. Die Anforderungen der amerikanischen Verfassung, nämlich dass mindestens 30.000 Bürger auf einen Vertreter kommen müssen und dass es mindestens einen G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_9,
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Vertreter pro Staat geben muss, sollten sicherstellen, dass den großen Bundesstaaten nicht zu viel Macht zukommt. So würde ein kleiner Staat mit 15.000 Einwohnern einen Vertreter erhalten, während ein Staat mit zehnmal mehr Einwohnern höchstens fünf Vertreter bekäme, vielleicht weniger. Der Wortlaut der Verfassung lässt allerdings viel Spielraum. Da die Gesamtzahl der Sitze nicht bestimmt ist, bleibt eine große Bandbreite für die mögliche Anzahl an Gesetzesgebern. Bei einer Bevölkerung von 280 Millionen könnte das Abgeordnetenhaus aus 5.600 Kongressleuten bestehen, falls der Divisor „50.000 Bürger“ wäre, oder aus 560 bei einem Divisor von 500.000. Beide Zahlen sind verfassungsgemäß: Die Verfassung müsste nicht erweitert werden — höchstens das Kapitol. Die Schweiz, ein Bund aus ursprünglich drei Kantonen, deren Anzahl über die Jahrhunderte auf 26 anstieg, ist bekannt für die Genauigkeit ihrer Uhren. Ebenso präzise war sie, als es um ihr Parlament ging. Die Schweizer Verfassung setzte fest, dass in der Parlamentsabordnung jedes Kantons ein Vertreter pro 20.000 Einwohnern sitzen sollte — nicht mehr und nicht weniger. Die Nationalversammlung wurde 1848 mit 111 Vertretern für etwa 2,2 Millionen Schweizer eröffnet und wuchs nach und nach mit dem Anstieg der Bevölkerung auf 198 Sitze im Jahr 1928. Um zu verhindern, dass die Anzahl der Abgeordneten weiter stieg, wurde die für einen Abgeordneten in der Hauptstadt nötige Wählerzahl 1931 auf 22.000 und 1950 auf 24.000 angehoben. Aber dann hatten die ordentlichen Schweizer genug davon, alle paar Jahre Sitze zur Kammer hinzuzufügen oder wieder wegzunehmen, und setzten 1962 die Anzahl der Vertreter auf 200 fest. Die größere Genauigkeit der Schweizer Verfassung sorgte aber nicht für Ordnung im Haus, im Gegenteil schuf sie Probleme. Zum einen ist da der Wortlaut: Die Verfassung schreibt Tatsachen fest, wo man sich ein Verfahren erhoffen würde, nach dem die Sitze verteilt werden sollen. Zum anderen, und das ist der wichtigere Punkt, sind die vermeintlichen Tatsachen überhaupt keine Tatsachen. Sie sind untereinander unverträglich. Eine feste Anzahl an Sitzen — gleich ob 200 oder eine andere Zahl — exakt gemäß der Bevölkerung der Kantone zu verteilen ist aus einem einfachen Grund unmöglich: Da die parlamentarische Abordnung eines Kantons nicht aus 3,7 oder 16,2 Mitgliedern bestehen kann, können die 200 Vertreter nie ganz genau nach den Einwohnerzahlen der Kantone verteilt werden. Dies ist ein Problem, das die Vereinigten Staaten, die Schweiz und viele andere Länder die letzten Jahrhunderte gequält hat. Jede zum Bevölkerungsanteil exakt proportionale Verteilung enthält Bruchanteile. Diese Überreste müssen auch verteilt werden. Aber wie? Fast jeder denkt zunächst, dass es am einfachsten wäre, den Bruchteil in Richtung der nächsten ganzen Zahl zu runden. Aber dies funktioniert ganz und gar nicht, wie das folgende Beispiel (Tabelle 9.1) sofort zeigt. Aber der Reihe nach. Da die amerikanische Verfassung so wenige Einzelheiten enthielt, gab es bald Meinungsverschiedenheiten. Die Gründungsväter wollten eine möglichst große Volksvertretung, um die Korruptionsgefahr auf ein Minimum zu beschränken (denn es ist leichter eine kleine Menge von Menschen zu bestechen als eine große). Nach der Volkszählung von 1790 und nachdem Vermont und Kentucky in die Union aufgenommen worden waren, lag der Bevölkerungsstand der Vereinigten Staaten bei 3.615.920. Mit der magischen Zahl aus der Verfassung, dem Divi-
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Tabelle 9.1 Drei–Staaten–Bund mit 1.000 Einwohnern und 100 zu verteilenden Sitzen. Zahl der Sitze Staat Einwohnerzahl Prozentsatz ungerundet gerundet Louisibama 506 50,6 50,6 51 Calyoming 307 30,7 30,7 31 Tennemont 187 18,7 18,7 19 Summe 1000 100,0 100,0 101 Es gibt nur 100 Sitze in der Kammer, aber durch die Rundungsmethode werden den drei Staaten insgesamt 101 Vertreter zugewiesen.
sor 30.000, würde dies einen Kongress mit 120 Sitzen ergeben. Der Finanzminister Alexander Hamilton schlug ein zweistufiges Verfahren vor, um die Abgeordneten auf die einzelnen Staaten zu verteilen: Zunächst sollte jeder Bundesstaat die abgerundete Anzahl der Sitze erhalten. Dann würden die verbleibenden Sitze anhand der größten Nachkommaresten vergeben werden. Nachdem die Rechnungen ausgeführt und die Zahlen abgerundet waren, wurden im ersten Schritt 112 Sitze vergeben. Dem entsprechend legte der Kongress am 26. März 1792 einen Gesetzesentwurf vor, der vorsah, den acht Staaten mit dem größten Bruchanteil jeweils einen zusätzlichen Sitz zuzuteilen. Zum Beispiel hätte Connecticut mit seinen 236.841 Wählern rein rechnerisch 7,895 Sitze erhalten müssen (236.841 geteilt durch 30.000). In der ersten Runde sollte der Staat sieben Sitze erhalten, und da er zu den acht Staaten mit den größten Nachkommaresten gehört, hätte er in der zweiten Runde einen zusätzlichen Sitz erhalten, insgesamt also acht. Tabelle 9.2 Volkszählung von 1790: 120 Sitze sind zu verteilen; 30.000 Einwohner pro Vertreter. Staat Connecticut * Delaware * Georgia Kentucky Maryland Massachusetts * New Hampshire * New Jersey * New York North Carolina * Pennsylvania Rhode Island South Carolina * Vermont * Virginia Summe
Einwohnerzahl 236.841 55.540 70.835 68.705 278.514 475.327 141.822 179.570 331.589 353.523 432.879 68.446 206.236 85.533 630.560 3.615.920
Anzahl der zugewiesenen Sitze ungerundet abgerundet endgültig 7,895 7 8 1,851 1 2 2,361 2 2 2,290 2 2 9,284 9 9 15,844 15 16 4,727 4 5 5,986 5 6 11,053 11 11 11,784 11 12 14,419 14 14 2,282 2 2 6,875 6 7 2,851 2 3 21,019 21 21 120,531 112 120
Die mit einem Sternchen (*) gekennzeichneten Bundesstaaten bekommen am Ende einen zusätzlichen Sitz.
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Bevor das Gesetz durch seine Unterschrift in Kraft treten würde, beriet sich George Washington mit seinen engsten Beratern. Einer davon war Thomas Jefferson, dem wir bereits in Kapitel 6 als Botschafter in Frankreich und häufigem Gast in Sophie de Condorcets Salon in Paris begegnet sind. Jefferson war Autor der Unabhängigkeitserklärung, Außenminister unter Washington und später der dritte Präsident der Vereinigten Staaten. Jefferson mochte den Gesetzesentwurf gar nicht. Er stammte aus Virginia, dem Staat mit der bei weitem größten Delegation, die aber nicht aufgerundet werden sollte. Seine ablehnende Haltung wurde von seinem Landsmann aus Virginia, dem Generalstaatsanwalt Edmund Randolph, geteilt. Auf der anderen Seite standen Alexander Hamilton und der Kriegsminister General Henry Knox: Sie sprachen sich für die Annahme des Entwurfs aus. Knox kam natürlich aus einem Staat, der ein Kandidat für das Aufrunden war, nämlich Massachusetts mit einem Nachkommarest von 0,844. Der einzige Beteiligte, der halbwegs selbstlos zu sein schien, war Hamilton, dessen Heimatstaat New York nach seinem System 0,053 Sitze verlieren würde. Die Neinsager hatten ein berechtigtes Verfassungsargument. Der scharfsinnige Randolph wies darauf hin, dass das Gesetz allen den Staaten, deren Delegation aufgerundet würde, mehr als einen Vertreter pro 30.000 Bürger zuteilen würde. Dies wäre verfassungswidrig. Zum Beispiel würde New Hampshire einen Vertreter auf 28.364 Bürger erhalten (141.822 geteilt durch 5). Am 4. April war sich Washington immer noch unsicher. Zwei Tage später würde die Vorlage automatisch, auch ohne seine Unterschrift, zum Gesetz werden. Der Morgen des 5. April kam, der letzte Tag, an dem ein Veto eingelegt werden konnte. Washington musste sich entscheiden. Er rief Jefferson in sein Büro, noch bevor der Außenminister die Möglichkeit zum Frühstücken hatte. Der Präsident war bestürzt. Die Meinungen schienen nicht deshalb geteilt zu sein, weil eine gerechte Zuteilung der Sitze problematisch war, sondern weil die Nordstaaten gegen die Südstaaten standen. Der Präsident wollte sich nicht auf eine Seite schlagen. Jefferson frohlockte heimlich und beruhigte Washington. Ein Brief an den Kongress wurde entworfen, in dem der Präsident sein Veto gegen das Zuteilungsgesetz ankündigte. „Ich habe reiflich das von den beiden Kammern verabschiedete Gesetz erwogen . . . und ich reiche es zurück . . . “, schrieb er in seiner Nachricht an den Kongress. Als einen der Gründe für sein Veto gab er an, dass „das Gesetz acht der Staaten mehr als einen [Sitz] für dreißigtausend [Wähler] zuweist“. Es war das erste Veto in der Geschichte der Vereinigten Staaten und eines von nur zweien, die George Washington jemals einlegte. Nebenbei sei erwähnt, dass der Heimatstaat von George Washington Virginia war. Also zurück auf Start. Am 10. April verwarf der Kongress das mit dem Veto bedachte Gesetz und nahm eine von Thomas Jefferson vorgeschlagene Zuteilungsmethode an. Sie bestand darin, erstens die Wunschgröße des Parlaments festzulegen und zweitens einen Divisor zu finden, der nach Abrundung der Ergebnisse genau die gewünschte Parlamentsgröße ergibt. Der Trick besteht also darin, den Divisor der Größe des Parlaments anzupassen. Wie wir oben sahen, hätte Jeffersons Methode bei einem Divisor von 30.000 ein Parlament mit 112 Abgeordneten ergeben. Um ein Parlament mit 120 Sitzen zu erhalten, wäre ein Divisor von etwa 28.500 nö-
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tig gewesen. (Genauer: Es funktioniert jeder Divisor zwischen 28.365 und 28.511.) Aber diese Zahl hinterlässt ein ungutes Gefühl. Auch wenn sie im Mittel die Verfassungsbedingung von mindestens 30.000 Wählern pro Kongressvertreter für die USA als Ganzes erfüllt (3,6 Millionen Wähler für 120 Sitze), verletzt sie die Bedingung doch für manche Bundesstaaten. Schließlich war es die Verfassungswidrigkeit eines kleineren Divisors als 30.000 für einzelne Staaten, welche Washington zu seinem Veto bewogen hatte. Um diese Probleme zu umgehen entschied der Kongress, dass das Parlament aus 105 Mitgliedern bestehen sollte. Nachdem die Anzahl der Sitze feststand, wurde ausgerechnet, dass es mit einem Vertreter pro 33.000 Bürgern klappt. Nun schien alles in Ordnung. Jeffersons Methode1 wird als „Divisorverfahren“ (divisor method) bezeichnet. Sie blieb fünfzig Jahre lang bis 1840 in Kraft. In der Zwischenzeit nahm die Union von 15 auf 24 Staaten zu und die Bevölkerung auf nahezu zwölf Millionen. Um der wachsenden Bevölkerung der größer werdenden Union gerecht zu werden, wurde die Anzahl der Parlamentssitze von 105 auf 240 angehoben. Aber das Prinzip blieb dasselbe: erst die Größe des Parlaments entscheiden, dann einen geeigneten Divisor finden und abrunden. Allerdings waren nicht alle mit dem System zufrieden. Die kleinen Staaten begannen unruhig zu werden; sie bemerkten, dass etwas schief lief. Die großen Geschwister wie Virginia schienen immer etwas mehr als ihren gerechten Anteil zu bekommen. Es wurde bald klar, dass Jeffersons Methode (die 1790 Virginia zwar einen Vorteil verschaffte, aber eigentlich ausreichend gerecht schien) den kleinen Staaten schadete. Delaware zum Beispiel wurde viermal abgerundet mit ungerundeten Sitzanteilen von 1,61, 1,78, 1,68 und 1,52. Der Staat New York dagegen wurde mit Anteilen von 9,63, 16,66, 26,20, 32,50 und 38,59 jedesmal aufgerundet. Ein Grund für die Benachteiligung liegt darin, dass es schmerzhafter ist 3,5 Abgeordnete auf 3 abgerundet zu bekommen als 30,5 auf 30. Der kleine Staat braucht in diesem Fall mehr Bürger pro Vertreter. Tabelle 9.3 Jeffersons Methode des Abrundens Zwei–Staaten–Bund, Gesamtbevölkerung 340.000 und 33 Sitze im Abgeordnetenhaus. Das Verhältnis von Bürger pro Vertreter (der „Divisor“) für diese Parlamentsgröße wurde auf 10.000 festgesetzt. Staat Massaware Louisylvania Summe
Einwohnerzahl 305.000 35.000 340.000
ungerundete Sitze 30,5 3,5 34,0
Sitze 30 3 33
Verhältnis 10.167 11.667 10.303
Der kleinere Staat braucht ungefähr 15 Prozent mehr Bürger für jeden Vertreter als der größere Staat (11.667 gegenüber 10.167).
1
In Deutschland auch als D’Hondt–Verfahren bekannt, in der Schweiz als Hagenbach–Bischoff– Verfahren. Anm. des Übersetzers
116
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Es gibt noch einen anderen Grund, warum die kleinen Staaten meistens einen Fußtritt bekamen. Er ist mathematischerer Natur und etwas subtiler. Lassen Sie mich erst ein Zahlenbeispiel angeben (die ungerundeten Sitze von 26,20 und 1,68 in Tabelle 9.4 entsprechen übrigens der oben erwähnten tatsächlichen Situation von New York und Delaware). Tabelle 9.4 Jeffersons Methode des Abrundens Die Bevölkerung besteht aus 10 Millionen, es gibt 100 Sitze im Parlament, der Ausgangsdivisor ist 100.000. Auf Neware und Delayork sind 28 Sitze zu verteilen. Um Jeffersons Methode anzuwenden, wird der Divisor von 100.000 auf 97.000 reduziert.
Neware Delayork .. . Summe
Einwohner 2.620.000 168.000
10.000.000
Divisor 100.000 26,20 1,68 .. .
Sitze 26 1 72 99
Divisor 97.000 27,01 1,73 .. .
Sitze 27 1
Verhältnis 97.037 168.000
72 100
100.000
Delayork braucht 73% mehr Bürger pro Sitz im Parlament.
Neware bekommt einen zusätzlichen Sitz, obwohl es ursprünglich den kleineren Nachkommarest hatte (0,20 gegenüber 0,68). Die Erklärung für diese offensichtlich unbefriedigende Situation liegt hierin: Wenn der Divisor von 100.000 auf 97.000 reduziert wird, dann wird für jeden der zugeteilten Sitz ein kleinerer Bevölkerungsanteil benötigt. Im obigen Fall braucht Neware für jeden seiner ursprünglich 26 Sitze 3.000 Bürger weniger, die zusammen diesem großen Staat einen 27. Sitz verschaffen. Gleichzeitig profitiert der kleine Staat Delayork nur einmal von dem kleineren Divisor. Eine andere Art und Weise dies zu sehen, geht so: Der kleinere Divisor erhöht die Anzahl der ungerundeten Sitze um 3,1 Prozent. Dadurch erhöhen sich Delayorks ungerundete Sitze von 1,68 auf 1,73, während Newares Sitze von 26,20 auf 27,01 ansteigen und damit um Haaresbreite die Schwelle für einen zusätzlichen Sitz überschreiten. Im Endergebnis braucht Neware weniger als 100.000 Bürger pro Kongresssitz, während Delayorks Sitz für gigantische 168.000 Bürgern steht. Natürlich ist dies den kleinen Staaten gegenüber offensichtlich ungerecht und irgendwann wurde es ihnen auch klar. Sie beschwerten sich darüber, dass das Abrunden einige ihrer Wähler unrepräsentiert ließe. Gewiss ein berechtigtes Argument: Die Wähler, die dem Bruchteil entsprechen, werden durch das System herausgerundet. Die kleinen Staaten fanden in der Person von John Quincy Adams einen Anwalt für ihre Sache. Dieser frühere Präsident und erfahrene Staatsmann, der aus dem zweitgrößten Staat der Union, Massachusetts, stammte, war niemandem mehr verpflichtet, weder der eigenen Karriere noch seinem heimatlichen Bundesstaat. Tief besorgt von der Tatsache, dass Jeffersons Methode in Wahrheit vielen Wählern das Wahlrecht nahm, wurde er zu einem Sprecher der kleinen Staaten. Nachdem er viele schlaflose Nächte verbracht hatte, kündigte er an ein System gefunden zu haben, das die Diskriminierung der kleinen Staaten beenden würde.
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Adams hatte sich nicht sehr weit umgesehen um eine Abhilfe für diesen gesellschaftlichen Missstand zu finden. Tatsächlich hat er Jeffersons Methode übernommen mit einem klitzekleinen Unterschied: Nach den anfänglichen Berechnungen sollte die Anzahl der Sitze nicht ab– sondern aufgerundet werden. In seiner Sichtweise entsprach dies mehr dem Geist der Verfassung, denn indem man den Bruchteil eines Sitzes auf einen vollen Sitz aufrundet, würde jeder Wähler repräsentiert sein, nur einige etwas mehr. Natürlich würde dieses Verfahren nun den kleinen Staaten einen Vorteil verschaffen. Aber dieser „Aufrunder“ war offensichtlich der Meinung, ein wenig positive Diskriminierung wäre nach so vielen Jahren der Benachteiligung kein Schaden. Tabelle 9.5 Adams Methode des Aufrundens Die Bevölkerung besteht aus 10 Millionen, es gibt 100 Sitze im Parlament, der Ausgangsdivisor ist 100.000. Auf Neware und Delayork sind 28 Sitze zu verteilen. Um Adams Methode anzuwenden, wird der Divisor von 100.000 auf 104.000 erhöht.
Neware Delayork .. . Summe
Einwohner 2.668.000 120.000
10.000.000
Divisor 100.000 26,68 1,20 .. .
Sitze 27 2 72 101
Divisor 104.000 25,65 1,15 .. .
Sitze 26 2
Verhältnis 102.615 60.000
72 100
100.000
Obwohl Delayork zunächst den kleineren Nachkommarest aufweist (0,20 gegenüber 0,68), bekommt es doch den zusätzlichen Sitz. Neware braucht 71% mehr Einwohner pro Sitz im Parlament.
Jetzt verhält sich die Sache genau anders herum: Durch die Erhöhung des Divisors von 100.000 auf 104.000 wird für jeden Sitz ein größerer Bevölkerungsanteil benötigt. Neware bräuchte 4.000 zusätzliche Bürger für jeden seiner 27 Sitze. Da es diese nicht hat, bekommt seine Abordnung nur 26 Sitze. Delayork dagegen hat noch Bürger übrig und wird auf 2 Sitze aufgerundet. Nach der abschließenden Rechnung braucht Delayork nur 60.000 Bürger pro Abgeordnetem, während das große Neware über 100.000 braucht. Wie zu erwarten wollten die großen Staaten davon nichts wissen: Von positiver Diskriminierung hielten sie nicht viel. Als die Stärkeren in der Auseinandersetzung bekamen die „Abrunder“ ihren Willen. Adams Vorschlag, der manchmal „Divisorverfahren mit Aufrundung“ (method of smallest divisors) genannt wird, wurde im Kongress verhandelt, aber nie umgesetzt. „Ich hing meine Harfe in die Trauerweiden“, schrieb Adams in seinen Erinnerungen und gab einfach auf. Es bedurfte der rhetorischen Fähigkeiten von Senator Daniel Webster, einem der redegewandtesten Amerikaner, der je über die Flure des Senats lief, um den Kongress zu einer Handlungsweise zu bringen, die vernünftige Menschen schon lange als sinnvoll angesehen hätten, wären sie nicht so gefangen darin gewesen, sich nur um sich selbst zu kümmern. Webster war von Beruf Anwalt und erlangte Prominenz
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durch seine berühmte Verteidigung des Dartmouth–Colleges gegen die Gesetzgebung von New Hampshire. Er war ein fesselnder Redner; seine Reden gelten auch heute noch als Beispiele seltener Redekunst. Wenn er im Senat sprach, gab es nur Stehplätze: Von weit her reisten Männer und Frauen an, um ihn reden zu hören, und wenn er ans Rednerpult schritt, wurden alle still. Es wird berichtet, dass seine Ansprachen die zurückhaltendsten Menschen zu Tränen rühren konnten. Nach so viel Lob erstaunt es etwas, dass das von Webster vorgeschlagene Zuteilungsverfahren eigentlich ganz einfach ist. Wieder war es die von Jeffersons vorgeschlagene Methode, aber diesmal mit einem doppelten Dreh. Es besteht darin, einen Divisor für die Bevölkerungszahlen der Staaten zu finden, der die gewünschte Anzahl an Sitzen liefert, wenn das Ergebnis zur nächsten ganzen Zahl ab– oder aufgerundet wird. Das „Divisorverfahren mit Standardrundung“ (method of major fractions, Schepers– oder Sainte–Laguë–Verfahren), wie es später manchmal genannt wurde, kann zwar Ungerechtigkeiten auch nicht vermeiden, ist aber zumindest unparteiisch: Manchmal bevorzugt es die großen Staaten, andermal die kleinen. 1842 übernahm der Kongress, der seit 1787 aus Senat und Repräsentantenhaus besteht, Websters Methode. Tabelle 9.6 Websters Methode des Rundens zur nächsten ganzen Zahl Zwei–Staaten–Bund, Gesamtbevölkerung 330.000, 33 Sitze im Abgeordnetenhaus. Das Verhältnis von Bürger pro Vertreter (der „Divisor“) für diese Parlamentsgröße wurde auf 10.000 festgesetzt. (1)
Staat Coloraska Nebrado Summe
Einwohner 304.000 26.000 330.000
ungerundete Sitze 30,4 2,6 33,0
Sitze 30 3 33
Verhältnis 10.133 8.667
(2)
Staat Oregansas Arkanson Summe
Einwohner 296.000 34.000 330.000
ungerundete Sitze 29,6 3,4 33,0
Sitze 30 3 33
Verhältnis 9.867 11.333
Manchmal, wie in (1), brauchen die kleinen Staaten weniger Bürger pro Abgeordnetem, manchmal haben die großen Staaten den Nutzen.
Das so vernünftige Divisorverfahren mit Standardrundung blieb nur zehn Jahre in Kraft. Vielleicht war es zu vernünftig. Jedenfalls begann der Zank bald von Neuem. Bevor 1850 überhaupt die Ergebnisse der Volkszählung ausgewertet werden konnten, schritt Senator Samuel Vinton aus Ohio ein. Sein Ziel war es, dem regelmäßig alle zehn Jahre nach der neuesten Volkszählung einsetzenden Geziehe und Gezerre ein Ende zu machen. Er schlug ein neues Verfahren vor. Jeder Staat sollte zunächst die abgerundete Anzahl an Sitzen erhalten. Der Rest sollte dann nach den größten Nachkommaresten auf die Staaten verteilt werden. Freilich war dieser Vorschlag gar nicht so neu. Tatsächlich war es genau der Vorschlag, den Hamilton ein halbes Jahrhundert zuvor eingebracht hatte. Es war auch genau der Vorschlag, gegen den George Washington sein Veto eingelegt hatte. Aber ein Namenswechsel verhinderte, dass sich das Debakel von 1792 wiederholte.
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Die Methode wurde nun „Vinton–Methode“ genannt2 und vom Kongress in Kraft gesetzt. (Hamilton hätte über die Rehabilitierung seiner Methode jubeln können, wäre er nicht 1804 in einem Duell sein Leben gekommen.) Um alle glücklich zu stimmen wurde gleichzeitig die Größe des Parlaments von 233 auf 234 Sitze erhöht. Bei dieser Größe stimmten nämlich Hamiltons und Websters Methode überein. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten hörte nicht auf zu wachsen und mit ihr wurde die Größe des Parlaments immer wieder erhöht. 1860 stieg die Anzahl der Abgeordneten auf 241, gegenüber 234 zehn Jahre zuvor, und 1870 sollte die Anzahl der Sitze zunächst auf 283 festgelegt werden, eine Zahl, für die wiederum Hamiltons und Websters Verfahren die gleiche Verteilung ergaben. Aber aufgrund von politischem Gezänk wurde die Parlamentsgröße schließlich auf 292 Sitze angehoben. Nun waren alle unzufrieden, denn die letztendliche Verteilung stimmte mit keiner der beiden Methoden überein. Dann geschah etwas Außergewöhnliches. Nachdem die Ergebnisse der Volkszählung von 1880 bekannt gegeben wurden, erwartete jeder wieder eine Vergrößerung des Parlaments. Um den Abgeordneten die nötige Munition zu liefern für die mit Sicherheit anstehenden Kämpfe um die zukünftige Parlamentsaufteilung führte der Leiter der Volkszählungsbehörde C. W. Seaton einige Berechnungen durch. Auf Grundlage der Volkszählungsergebnisse von 1880 arbeitete er die Verteilungen nach Vintons Methode für alle Parlamentsgrößen zwischen 275 und 350 aus. Von 275 Abgeordneten an bis zu 299 klappte alles vorzüglich. Jedesmal, wenn er einen zusätzlichen Sitz einfügte, wurde dieser von einem glücklichen Staat aufgeschnappt. Aber als er bei 300 anlangte, platzte eine Bombe. Die Delegation des Staates Alabama verringerte sich um einen Abgeordneten von 8 auf 7, während dafür zwei Staaten, Illinois und Texas, einen zusätzlichen Sitz bekamen. Seaton war sprachlos, die Abgeordneten verblüfft. Wie konnte so etwas passieren? Das Phänomen wurde als „Alabama–Paradoxon“ bekannt. Der Grund für dieses Paradoxon wird sichtbar werden, wenn wir uns etwas in die Zahlen vertiefen (siehe Tabelle 9.7): Beim Anstieg der Gesamtzahl der Sitze von 299 auf 300 wächst die ungerundete Zahl der Sitze eines Staats um etwa ein Drittel Prozent. Aber Texas und Illinois gehen mit größeren Einwohnerzahlen ins Rennen und gewinnen daher mehr in absoluten Zahlen. Die Anzahl der ungerundeten Sitze wächst für Alabama nur um 0,025 (von 7,646 auf 7,671), aber um 0,032 in Texas (von 9,640 auf 9,672) und um 0,061 in Illinois (von 18,640 auf 18,701). Als Folge schleichen sich die großen Staaten an Alabama vorbei. Tatsächlich war dieses Phänomen bereits zehn Jahre zuvor aufgefallen. Rhode Island hatte seit 1790 zwei Vertreter im Parlament. Aber nach der Volkszählung von 1860 wurde dem Plantation State zu seiner Bestürzung nur ein Parlamentarier von insgesamt 241 zuerkannt. Zehn Jahre später hoffte Rhode Island mit wachsender Bevölkerungszahl und Parlamentsgröße seinen zweiten Abgeordneten wiederzuerlangen. Die Berechnungen zeigten, dass dies in der Tat der Fall wäre, wenn das Parlament auf 270 vergrößert würde. Bei einer Anhebung auf 280 Mitglieder verlöre Rhode Island seinen zweiten Kongressmann aber wieder. Das Alabama–Paradoxon 2
In Deutschland als Hare–Niemeyer–Verfahren bekannt. Anm. des Übersetzers
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Tabelle 9.7 Das Alabama–Paradoxon 299 Sitze sind zu vergeben. Gesamtbevölkerung 49.713.370. Der geeignete Divisor ist 165.120. Einwohner Ungerundete Zuteilung Sitze in der ersten Runde Nachkommarest Zusätzliche Sitze Gesamtsitze
Alabama 1.262.505 7,646 7 0,646 1 8
Texas 1.591.749 9,640 9 0,640 0 9
Illinois 3.077.871 18,640 18 0,640 0 18
Nun sind 300 Sitze zu vergeben. Der geeignete Divisor ist 164.580. Einwohner Ungerundete Zuteilung Sitze in der ersten Runde Nachkommarest Zusätzliche Sitze Gesamtsitze
Alabama 1.262.505 7,671 7 0,671 0 7
Texas 1.591.749 9,672 9 0,672 1 10
Illinois 3.077.871 18,701 18 0,701 1 19
Alabama verliert einen Sitz; Texas und Illinois gewinnen jeweils einen.
hätte also korrekterweise 1870 „Rhode–Island–Paradoxon“ getauft werden müssen. Aber die Entscheidungsträger beschlossen damals die Parlamentsgröße auf 292 festzulegen. Rhode Island bekam damit seinen zweiten Vertreter und die Angelegenheit wurde für weitere zehn Jahre vergessen. 1880 aber geriet der Kongress in Aufregung. Die Hamilton–Vinton–Methode der Sitzzuteilung, mit der sich inzwischen alle angefreundet hatten, war in Gefahr. Die Wogen schlugen hoch. Ein Abgeordneter beschuldigte einen anderen „im Angesicht des Hohen Hauses geradezu eine Vergewaltigung auf einer Wolke der Statistik zu begehen“. Um zu vermeiden, dass der Streit zwischen den Verfechtern der beiden Methoden weiter ausartete, entschied der Kongress sich nicht zu entscheiden und beschloss stattdessen das Parlament auf 325 Sitze zu vergrößern. Mit dieser Größe brauchten sich die Parlamentarier nicht für eine Seite zu entscheiden, weil Websters und Hamiltons Methoden wieder übereinstimmten und das Problem weitere zehn Jahre verschoben werden konnte. Vielleicht würde in der Zwischenzeit eine ganz andere Zuteilungsmethode gefunden werden? Oder die Methoden würden wieder übereinstimmen? Oder die Abgeordneten wären nicht länger im Kongress und könnten es ihren Nachfolgern überlassen, sich über das Alabama–Paradoxon den Kopf zu zerbrechen. Sie hatten Recht. 1890 musste nur eine Zunahme auf 356 Sitze vorgenommen werden, damit der gleiche Kompromiss möglich war. Bei dieser Parlamentsgröße stimmten wieder beide Verfahren überein und kein Staat verlor gegenüber der vorherigen Zuteilung einen Abgeordneten. Aber kein Glück zehn Jahre später: Als 1901 die Zuteilungstabellen für Parlamentsgrößen zwischen 350 und 400 vorbereitet wurden, schwankte der Anteil von Maine zwischen 3 und 4 Sitzen und Colorado
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würde bei jeder Größe 3 Sitze bekommen außer bei 357, wo es nur 2 bekäme. Der Vorsitzende des Sonderausschusses für die zwölfte Volkszählung war kein Freund von Colorado und Maine und schlug natürlich genau 357 als Parlamentsgröße vor. Wieder ging es hoch her und die Stimmung wurde hässlich. Und es sollte noch schlimmer kommen. Den Abgeordneten und Büroleuten war eine andere, viel schwerwiegendere Gefahr für Hamiltons Zuteilungsmethode entgangen. Die Bevölkerung der Nation stieg stetig an und mit ihr die Größe des Parlaments. Aber könnten nicht auch bei einer festbleibenden Parlamentsgröße Probleme auftreten? Das könnte durchaus passieren. Lassen Sie es mich an einem Beispiel veranschaulichen. 1900 standen die Einwohnerzahlen von Virginia und Maine bei 1.854.184 bzw. 694.466 Bürgern. Im folgenden Jahr wuchs die Bevölkerung von Virginia um 19.767 Einwohner (+ 1,06 %), wohingegen die von Maine um 4.648 (+ 0,7 %) anstieg. Falls ein übriger Sitz an einen der beiden Staaten zu vergeben wäre, so sollte man meinen, dass er Virginia zustehen würde. Weit gefehlt. Überraschenderweise bekäme Maine nach Hamiltons Verfahren, überzählige Sitze den Staaten mit den größten Nachkommaresten zu vergeben, den zusätzlichen Sitz, während Virginia ihn verlöre. Schauen wir uns die Zahlen an: Tabelle 9.8 Wählerzuwachsparadoxon
Virginia Maine
1900 Einwohner 1.854.184 694.466
Sitze ungerundet gerundet 9,599* 10 3,595 3
1901 Einwohner 1.873.951 699.114
Sitze ungerundet gerundet 9,509 9 3,548* 4
Summe
74.562.608
386
76.069.522
386
* wird aufgerundet Die Gesamtbevölkerung wuchs von 74.562.608 auf 76.069.522 und die geeigneten Divisoren waren 193.167 im Jahr 1900 und 197.071 im Jahr 1901. Die Bevölkerung von Virginia wuchs um 19.767, während die von Maine nur um 4.648 anstieg. Trotzdem hätte Virginia einen Sitz an Maine verloren, falls 1901 ein neues Parlament bestimmt worden wäre. (Die Zahlen für 1901 sind aus dem Bevölkerungsanstieg heraus berechnet. Es gab 1901 keine gesonderte Volkszählung.)
Der Grund für diese seltsame Situation, die später als „Wählerzuwachsparadoxon“ (population paradox) bekannt wurde, liegt darin, dass die Reste gewissermaßen den Platz tauschen. 1900 hatte Maine den kleineren Nachkommarest (0,595) und verfehlte nur knapp das Ziel. Weil ein Jahr später die Gesamtnation stärker angewachsen war als die beiden Staaten jeweils für sich, hätte Virginia mit dem kleineren Rest (0,509) den zusätzlichen Sitz an Maine abgegeben. Warum ist das Wählerzuwachsparadoxon eine größere Herausforderung für Hamiltons Zuteilungsmethode als das Alabama–Paradoxon? Nun, letzteres tritt nur auf, wenn das Parlament vergrößert wird, und kann vermieden werden, indem der Kongress beschließt die Anzahl seiner Mitglieder festzuschreiben. Aber das Bevölkerungswachstum kann nicht gestoppt werden und daher bleibt dieses Paradoxon bestehen.
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Diesmal bezog der Kongress Stellung und gab Hamiltons Methode zugunsten des Webster–Verfahrens auf, da dieses wenigstens nicht unter den Mängeln des Alabama– und des Wählerzuwachsparadoxons leidet. Zusätzlich wurde das Parlament auf 386 Sitze erhöht, wodurch kein Staat einen Sitz verlor. (Erstaunlicherweise ist es aber nicht vollkommen klar, ob 1901 wirklich Websters Methode angewandt wurde oder doch die von Hamilton. Je nachdem welche Bevölkerungsdaten man zugrunde legt — die vorläufigen vom Parlament benutzten Zahlen oder die endgültigen von der Volkszählungsbehörde veröffentlichten —, kann man zu dem einen oder dem anderen Schluss kommen.) Und dies war noch nicht alles: Um die Ecke wartete schon das nächste Paradoxon. 1907 kam Oklahoma zur Union hinzu. Das Parlament bestand aus 386 Sitzen. Diesmal dachten die Parlamentarier genau zu wissen, was zu tun sei, damit alle zufrieden wären. Die Bevölkerung von Oklahoma belief sich auf ungefähr eine Million, was fünf Sitzen im Kongress entsprach. Also beschlossen die Abgeordneten, die Kammer einfach um fünf Sitze zu erweitern. Diese würden Oklahoma zukommen, niemand hätte einen Schaden und alle wären glücklich. Das glaubten sie zumindest. Die fünf Sitze wurden hinzugefügt und niemand war überrascht, dass Oklahoma alle fünf bekam, als die neue Gesamtanzahl von 391 Sitzen — nun wieder nach Hamiltons Methode — neu verteilt wurden. Aber dabei passierte etwas Merkwürdiges: New York verlor einen Sitz, der Maine zufiel. Es war zum Haareraufen! Einmal hatten alle alles richtig gemacht und nun dieses. Die Situation wurde „Parteizuwachsparadoxon“ genannt (new state paradox). Sehen wir uns an, wie es zustande kommt. Tabelle 9.9 Parteizuwachsparadoxon Einwohner ohne Oklahoma New York 7.264.183 Maine 694.466 Oklahoma — Total
74.562.608
Sitze ungerundet gerundet 37,606* 38 3,595 3 — —
Einwohner mit Oklahoma 7.264.183 694.466 1.000.000
Sitze ungerundet gerundet 37,589 37 3,594* 4 5,175 5
386
75.562.608
391
* wird aufgerundet Nach der Hinzunahme von fünf Sitzen, die an Oklahoma gehen, verliert New York einen Sitz an Maine
Obwohl die Bevölkerungszahlen von New York und von Maine sich nicht verändert hatten und Oklahoma genau die fünf zusätzlichen Sitze zugeteilt bekam, war die Verteilung der anderen Sitze betroffen. Indem die Einwohner von Oklahoma zur Gesamtbevölkerung hinzugezählt wurden, verminderten sich die Nachkommareste von New York und Maine und aller anderen Staaten. Aber New York als der größte Staat verlor mehr in absoluten Zahlen als die kleineren Staaten. Als Ergebnis konnte sich der Sitzbruchteil von Maine an dem von New York vorbeischlängeln.
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Übrigens entspricht die Anzahl der Wahlmänner, die jeder Staat in das Wahlkollegium für die Präsidentenwahl entsendet, genau der Anzahl von Abgeordneten und Senatoren des Staates im Kongress. Die Zuteilungsfrage greift also auch auf die Präsidentenwahlen über. Im Jahr 2000 wurde Al Gore von George W. Bush mit 266 gegen 271 Stimmen in der Wahlversammlung besiegt (wobei eine Zuteilungsmethode benutzt wurde, die ich im nächsten Kapitel beschreiben werde). Hätte man nach den Zahlen der 1990er Volkszählung das Jefferson–Verfahren zur Verteilung benutzt, hätte Al Gore 271 Stimmen auf sich vereinen können und wäre Präsident geworden. Lassen Sie mich als Abschluss dieses Kapitels die Vor– und Nachteile der verschiedenen Methoden in der folgenden Tabelle zusammenfassen: Tabelle 9.10 Methode Vorteil für:
Hamilton niemanden
Jefferson große Staaten
Adams kleine Staaten
Webster niemanden
Paradoxon — Alabama — Wählerzuwachs — Parteizuwachs
ja ja ja
nein nein nein
nein nein nein
nein nein nein
Websters Methode scheint die vernünftigste Methode zur Verteilung der Parlamentssitze zu sein, während Hamiltons Methode für alle bisher entdeckten Paradoxa anfällig ist und herauszufallen scheint. (Es gibt allerdings auch einen guten Grund für die Verwendung von Hamiltons Methode, aber dafür müssen wir auf Kapitel 12 warten.)
Kapitel 10
Die Streithähne
Enttäuscht und entmutigt wandten sich die Politiker, die nach Lösungen für das anscheinend widerspenstige Problem der Sitzzuteilung im Kongress suchten— nicht immer mathematische, sondern häufig politische Lösungen — schließlich an einen Profi, Walter F. Willcox. Willcox war Professor für Sozialwissenschaften und Statistik an der Fakultät für Philosophie der Cornell–Universität, er war an der Volkszählung von 1900 beteiligt und sollte später Chefstatistiker für Bevölkerungsentwicklung in der Volkszählungsbehörde werden. Er trug dazu bei, die Debatte über die Sitzzuteilung aus den Niederungen der Politik in das Reich der Wissenschaft zu heben. Die Volkszählungsbehörde war erst kurz zuvor eingerichtet worden. Zu Beginn, 1790, wurde die erste Volkszählung von besonderen Polizeibeamten, den U.S. Marshals, durchgeführt. Hundert Jahre lang blieb das Zählen der Einwohner eine immer wieder einmalig organisierte Angelegenheit. Jedesmal wenn die Daten veröffentlicht waren, wurde die Dienststelle für die nächsten zehn Jahre wieder geschlossen. Aber gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde klar, dass es einer dauerhaften Einrichtung bedurfte. Willcox erklärte, wie die Einrichtung der Behörde zustande kam: „Direktor William R. Merriam ging sehr geschickt mit dem Kongress um; er hatte eine tolle Gruppe junger Frauen in seiner Mannschaft versammelt, die ohne Zweifel fast alle in Washington und im Volkszählungsamt bleiben wollten, zumindest bis sie heirateten. Diese Frauen, so wurde mir erzählt, übten so viel Druck auf den Kongress aus, dass . . . das Amt zu einer Dauereinrichtung gemacht wurde, nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern um zu verhindern, dass die Belegschaft entlassen wurde.“ Durch ein Kongressgesetz von 1902 wurde die Volkszählungsbehörde als dauerhafte Organisation eingerichtet. Willcox war der Begründer der Soziologie an der Cornell–Universität. Er wurde 1861 in Reading (Massachusetts) geboren, studierte zunächst in Amherst und dann an der Columbia–Universität, wo er sowohl den Grad eines LL.D. (Doktor beider Rechte) als auch eines Ph.D. (Doktor der Philosophie) erwarb. Er verbrachte auch ein Jahr in Deutschland an der Berliner Universität. Nach seiner Promotion wurde er an die Cornell–Universität berufen, wo seine Karriere vierzig Jahre lang andauerte.
G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_10,
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(Mehr über Willcox und die anderen Hauptpersonen dieses Kapitels findet sich im Anhang.) Die erste Volkszählung des zwanzigsten Jahrhunderts fand 1910 statt. Verglichen mit der letzten Dekade ergab sich aus ihr ein Bevölkerungswachstum von zwanzig Prozent. Die Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten war von weniger als 75 Millionen Einwohnern zehn Jahre zuvor auf über 91 Millionen angewachsen. Aber höhere Geburtenraten, Einwanderung und der Beitritt von Oklahoma geben noch kein vollständiges Bild ab. Über das Wachstum der Gesamteinwohnerzahl hinaus hatte sich auch die Verteilung der Bevölkerung innerhalb der Vereinigten Staaten verändert. Arme Bauern begannen ihr Glück in den Städten zu suchen und führten so zu einer Abwanderung aus ländlichen Bundesstaaten in die urbanen Zentren. Diese neuen Verhältnisse mussten sich in der Parlamentszuteilung widergespiegeln. Welches Verfahren aber sollte man anwenden, um die Sitze im Kongress zu verteilen? Die Landbevölkerung wollte ihren sinkenden politischen Einfluss nicht hinnehmen. In einer unerwarteten Koalition kämpften wohlhabende Landbesitzer zusammen mit armen Farmern um ihre politischen Rechte, auch wenn das Recht nicht ganz auf ihrer Seite war. Aber der Reihe nach. Nachdem Willcox die verschiedenen Zuteilungsmethoden studiert hatte, kam er zu der Überzeugung, dass Websters Verfahren der Standardrundung der richtige Weg sei. (Zur Erinnerung: Dieses Verfahren besteht darin, einen Divisor für die Einwohnerzahlen der Bundesstaaten zu finden, der nach Auf– oder Abrunden des Ergebnisses zur nächsten ganzen Zahl die gewünschte Gesamtzahl an Sitzen liefert.) Es unterliegt keinem der Paradoxa und ist weder für die großen noch die kleinen Staaten voreingenommen. Überzeugt von den Argumenten, begann sich der Kongress mit der Webster–Willcox–Methode anzufreunden. Aber Ohio, der viertgrößte Staat, und Mississippi, der 21., lehnten sie entschieden ab, denn mit Hamiltons Verfahren hätten sie je einen zusätzlichen Sitz erhalten (die Maine, der nach Größe 34. Staat, und Idaho, der 45., verloren hätten). Um alle zufrieden zu stellen übernahm der Kongress daher zwar Websters Methode, erhöhte aber gleichzeitig die Anzahl der Sitze von 386 auf 433. Je ein zusätzlicher Sitz wurde für Arizona und für New Mexico vorgehalten für den Fall ihres Beitritts zur Union, der dann auch im Jahr 1912 erfolgte. Seitdem umfasst das Parlament 435 Sitze. Bei dieser Anzahl behielten Ohio und Mississippi die Sitze, die ihnen nach der vorherigen Volkszählung zugekommen waren, Maine und Idaho erhielten ihren zusätzlichen Sitz nach Websters Verfahren und keiner der anderen Staaten verlor einen Sitz. Die Tatsache, dass durch die Inflation der Sitzzahl der Einfluss jedes Abgeordneten um elf Prozent sank (386/433 − 1 = −11%), blieb anscheinend unbemerkt. Jedoch blieb im Kongress ein ungutes Gefühl zurück. Was auch immer dazu geführt hatte, dass Maine sowohl im Wählerzuwachsparadoxon als auch im Parteizuwachsparadoxon betroffen war — alle bekamen kalte Füße. Was einmal Ohio und Mississippi, Maine und Idaho, Alabama, New York oder Virginia passiert war, könnte eines Tages sehr wohl einen anderen Staat betreffen. Für die nächste, 1920 anstehende Zuteilung brauchte man eine neue Idee. Schließlich fand man sie. Joseph A. Hill, als Chefstatistiker in der Abteilung für Revision und Ergebnisse ein Kollege von Willcox in der Volkszählungsbehörde, war ihr geistiger Vater.
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Hill suchte nach der gerechtesten Art der Zuteilung und betrachtete dabei die Anzahl der für einen Abgeordneten nötigen Wähler (den „Vertretungswert“) als den Schlüsselwert. Das Ziel der Unparteilichkeit erfordert seines Erachtens, dass der prozentuale Unterschied zwischen den Vertretungswerten der einzelnen Bundesstaaten möglichst klein gehalten werden muss. Falls ein Staat 200.000 Menschen benötigt, um einen Abgeordneten in den Kongress zu entsenden, und ein anderer Staat nur 190.000, dann ist der prozentuale Unterschied 5 Prozent. Nach Hills Auffassung sollten die Sitze so verteilt werden, dass dieser prozentuale Unterschied so klein wie möglich ist. Das folgende Beispiel zeigt, wie die Verteilung berechnet wird: Tabelle 10.1 Hills Zuteilungsmethode Zwei–Staaten–Bund, Gesamtbevölkerung 4 Millionen, 20 zu verteilende Sitze. Einwohner pro Sitz = 200.000. Möglichkeit 1 Möglichkeit 2 ungerun– zugewie– Bürger Unter– zugewie– Bürger Unter– Staat Einwohner dete Sitze sene Sitze pro Sitz schied sene Sitze pro Sitz schied A 3.300.000 16,5 16 206.250 17 194.117 B 700.000 3,5 4 175.000 3 233.333 Summe 4.000.000 20,0 20 17,9% 20 20,2% Da der prozentuale Unterschied bei Möglichkeit 1 (17,9 %) kleiner als bei Möglichkeit 2 (20,2 %) ist, wird die erste bevorzugt.
Was würde Websters Methode, zur nächsten ganzen Zahl zu runden, in diesem Beispiel ergeben? Nun, gar nichts. In dem seltenen Fall, dass der Bruchrest beider Staaten genau 0,5 ist, gibt Websters Methode keinen Hinweis darauf, für welchen Staat man die Abordnung auf– oder abrunden sollte. Es wäre ein Unentschieden. Hills Idee gefiel dem Professor für Mathematik und Mechanik an der Harvard– Universität Edward V. Huntington, der Hill von dem gemeinsamen Studienbeginn in Harvard her kannte. Huntington beschäftigte sich nur nebenbei mit dem Problem der Zuteilung. Nachdem er sich alle Methoden näher angeschaut hatte, wurde er zu einem eifrigen Verfechter von Hills Vorschlag, den er die „Methode der gleichen Proportionen“ (method of equal proportions) nannte, der aber später als „Hill– Huntington–Verfahren“ (H–H–Verfahren) bekannt wurde. Huntington formalisierte Hills Idee. Eine Zuteilung ist „gut“, setzte er fest, wenn keine Verschiebung eines Sitzes von einem Staat zu einem anderen Staat die Disparität verringert. Nun muss natürlich noch der Begriff der Disparität definiert werden. Huntington interpretierte ihn, wie schon Hill, als den prozentualen Unterschied zwischen den Vertretungswerten, also zwischen den Anzahlen an Wählern, die für einen Kongresssitz nötig sind. Diejenige Sitzverteilung, welche diese Disparität am kleinsten hält, ist die beste Aufteilung. Zusammenfassend: Das Webster–Willcox–Verfahren (W–W) erfordert einen geeigneten Divisor, so dass die Anzahl der Sitze nach Auf– und Abrunden in der Summe genau 435 ergibt. (Für Staaten, denen zunächst weniger als ein Sitz zufällt, wird
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stets aufgerundet.) Das H–H–Verfahren erfordert einen Divisor, so dass nach Auf– und Abrunden der prozentuale Unterschied im Vertretungswert minimiert ist. Wie bei vielen akademischen Debatten ergab sich daraus eine heftige Auseinandersetzung. Da viele Gelehrte sich auf einer der beiden Seiten in den Streit einmischten, wurden die Verfechter der beiden Verfahren bald als „Cornell–Schule“ (W–W) und „Harvard–Schule“ (H–H) bekannt. Bei der Frage, welche Methode vorzuziehen sei, ging es nicht nur um die mathematische Überlegenheit, sondern auch darum, welche man dem Kongress am einfachsten erklären konnte. Die Methode der Harvard–Schule ist zunächst gar nicht so leicht umzusetzen. Nicht nur muss man verschiedene Divisoren ausprobieren, sondern man muss für jeden Divisor auch noch überprüfen, ob die Verschiebung einen Sitzes zwischen zwei Staaten den prozentualen Unterschied zwischen den nötigen Anzahlen an Wählern verringert oder nicht. Zum Glück gibt es eine einfachere Art das H–H–Verfahren durchzuführen. Zur Erklärung bedarf es aber einiger Vorbereitungen. Die Standardrundung am Mittelpunkt zwischen zwei ganzen Zahlen, also bei dem Bruchteil 0, 5, wird auch „Runden am arithmetischen Mittel“ genannt. Das arithmetische Mittel zweier Zahlen wird berechnet, indem man sie addiert und dann das Ergebnis durch 2 teilt (zum Beispiel: 2 plus 18, dividiert durch 2, ergibt 10) — man braucht also zur Berechnung nur die Arithmetik, d.h. die Grundrechenarten. Es gibt aber auch einen anderen Mittelwert: das „geometrische Mittel“. Es wird berechnet, indem man die beiden Zahlen multipliziert und dann die Quadratwurzel zieht. Zum Beispiel ergibt die Quadratwurzel aus dem Produkt von 2 und 18 die Zahl 6. Das arithmetische Mittel von 2 und 18 ist also 10, das geometrische Mittel 6. Huntington behauptete nun, dass man durch Auffinden eines geeigneten Divisors und Runden am geometrischen Mittel genau die Aufteilung der Sitze erhält, die den prozentualen Unterschied zwischen den Anzahlen der für einen Kongresssitz benötigten Wähler minimiert, also genau das vom H–H–Verfahren gesuchte Ergebnis. Statt also exakt auf halbem Weg zwischen zum Beispiel 3 und 4 oder 17 und 18 zu runden, wie es das W–W–Verfahren erfordert, verlangt die H–H–Methode danach, bei 3, 4641 (Quadratwurzel aus 3 mal 4) beziehungsweise bei 17, 4928 (Quadratwurzel aus 17 mal 18) zu runden. Der Unterschied zwischen dem arithmetischen und dem geometrischen Mittel ist für aufeinander folgende natürliche Zahlen ziemlich klein, aber bei Fragen der Sitzzuteilung könnte er den Unterschied zwischen einem oder keinem zusätzlichen Sitz ausmachen. Durch das Runden am geometrischen Mittel kann man das H–H–Verfahren auf einfache Art durchführen. Aber stimmt es auch? Warum sollte das Runden am geometrischen Mittel irgendetwas damit zu tun haben, dass der prozentuale Unterschied bei der Anzahl der für einen Kongresssitz benötigten Leuten minimiert wird? Die erstaunliche Behauptung, dass beide Vorgehensweisen das gleiche Ergebnis liefern, muss erst bewiesen werden. Huntington tut dies ihn in einem Artikel in den Transactions of the American Mathematical Society. Diese Arbeit, die auf sieben Vorträgen beruht, die er während der acht vorangegangenen Jahre vor unterschiedlichem Publikum gehalten hatte, erschien 1928. (Es würde zu weit führen, den Beweis an dieser Stelle wiederzugeben. Er folgt im Anhang zu diesem Kapitel.) Nicht nur for-
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malisierte er also Hills Argument und fand eine einfacherer Art der Durchführung, sondern er sorgte auch für den mathematischen Unterbau. Dummerweise brachte die Entdeckung, dass das Runden am geometrischen Mittel mit dem H–H–Verfahren gleichwertig ist, auch ein schwerwiegendes Problem ans Licht. So gerecht die Methode auf den ersten Blick auch scheinen mag — wer wäre nicht dafür, dass die prozentualen Unterschiede möglichst klein sein sollten? — so bevorzugt sie doch ein wenig die kleinen Bundesstaaten. Ein kleiner Staat braucht nur einen Sitzbruchteil von 0, 4142, um von einem Sitz auf zwei aufgerundet zu werden, wohingegen ein großer Staat einen Sitzbruchteil von mindestens 0, 4959√braucht, also fast 20√ Prozent mehr, um von 31 auf 32 aufgerundet zu werden (denn 1 · 2 = 1, 4142 und 30 · 31 = 30, 4959). Dies wird von den Tatsachen bestätigt: Im Vergleich mit dem Cornell–Verfahren (W–W) hätte die Harvard–Methode (H–H) 1920 den vergleichsweise kleinen Staaten Vermont, New Mexico und Rhode Island einen zusätzlichen Sitz zugewiesen und dafür den vergleichsweise großen Staaten New York, North Carolina und Virginia einen Sitz weggenommen. Klar, dass diese H–H nicht freundlich gegenüberstanden. Die weniger bevölkerten ländlichen Staaten dagegen waren W–W nicht zugetan, denn verglichen mit H–H hätte es sie insgesamt elf Sitze gekostet. Der Streit zwischen den Unterstützern von Cornell und von Harvard gingen immer weiter. Am Ende war alles umsonst. Angesichts unerbittlichen Widerstands gegen beide Methoden versuchte der Kongress zunächst als Kompromiss die damals 435 Sitze gemäß Websters erprobter Methode zu verteilen. Darüber konnte aber keine Einigkeit erzielt werden. Als nächstes zog der Kongress eine Vergrößerung des Hauses auf 483 Sitze in Betracht, was wiederum allen Staaten mindestens so viele Sitze wie zuvor garantiert hätte, allerdings auf Kosten einer weiteren Erosion von 10 Prozent aufgrund der Inflation der Sitze. Dieser Entwurf starb im Senat. Anderen Versuchen erging es nicht besser. Die Abgeordneten und Senatoren der ländlichen Staaten blockierten jeden Gesetzentwurf, der die Sitzzuteilung betraf, und stellten sicher, dass jeder Versuch, den Status quo zu ändern, von Anfang an dem Untergang geweiht war. Stillstand war das Ergebnis und der Kongress entschied am Ende wieder nichts zu entscheiden. Unter klarem Bruch der Verfassung wurde 1921 keine Neuzuteilung der Sitze durchgeführt und die Zusammensetzung des Parlaments blieb unverändert gegenüber der Sitzzuteilung nach der Volkszählung von 1910. Die hohen Vertreter der ländlichen Staaten beglückwünschten diesen Ausgang. Sie waren recht zufrieden darüber, das Unausweichliche um weitere zehn Jahre verschoben zu haben. Wegzuschauen konnte aber keine dauerhafte Antwort sein. Gegen Ende der 1920er Jahre und angesichts der nahenden nächsten Volkszählung drängte eine Entscheidung. Der Kongress konnte die Verfassung nicht erneut vor den Kopf stoßen; eine Lösung musste her. Die Debatte nahm beißende Töne an und die Fürsprecher ließen sich sogar zu persönlichen Angriffen herab. Hill war ein leidenschaftsloser Intellektueller, aber Huntington das genaue Gegenteil. Streitbar und mit einer Vorliebe für verbale Auseinandersetzungen nahm er den Kampf für Hill und sein Verfahren mit geradezu religiösem Eifer auf.
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Die Tatsache, dass der Parlamentsausschuss für die Volkszählung seine Methode der gleichen Proportionen nicht annehmen wolle, sei „gänzlich einem einzigen Menschen anzulasten, Professor W. F. Willcox von Cornell“, erhob er in der Zeitschrift Science im Februar 1928 Anklage und behauptete, dass dieses Mannes „vollständig falsche Beschreibung . . . unterstützt von beeindruckenden Karten und Diagrammen“ dazu geführt habe, den Parlamentsausschuss völlig fehlzuleiten. Er nannte Willcox’ Methode der Standardrundung eine „veraltete Methode“ und „irrige Idee“ und rühmte die Vorzüge seines eigenen Verfahrens der gleichen Proportionen, dessen „Einfachheit, Direktheit und Einsichtigkeit nichts zu wünschen übrig lasse“. Die Tirade ging weiter. Während Willcox zwar weiterhin behaupte, dass Mathematiker und Statistiker seine Methode bevorzugten, so könnte er in Wirklichkeit doch nur die Unterstützung von Verfassungsjuristen und Volkswirtschaftsprofessoren zitieren, gibt Huntington an. Überdies sei auch deren Unterstützung auf Fehlinformation zurückzuführen. Im Gegensatz dazu werde sein eigenes Verfahren der gleichen Proportionen „in allgemeinem Konsens von der wissenschaftlichen Meinung gut geheißen“ als „die einzige Methode, welche die Zustimmung der organisierten Wissenschaft genieße“. Er vergaß genauer anzugeben um welche Wissenschaftler es sich handele, forderte aber Willcox auf seine Ansichten in einer ordentlichen Zeitschrift zu veröffentlichen „um sie für sämtliche Wissenschaftlergruppen der Überprüfung zugänglich zu machen“, statt nur vor dem Kongress auszusagen. Ein halbes Jahr später, im Dezember 1928, nutzte Huntington erneut die Seiten von Science für einen Vergleich seiner „wissenschaftlichen Methode der gleichen Proportionen“ mit der „unwissenschaftlichen Methode der Standardrundung“. Willcox’ Behauptungen über diese seien „unvereinbar mit bekannten mathematischen Fakten“ und ernsthafte Fehler in den Anhörungen durch den Kongress „werden eine Quelle der Verwirrung für zukünftige Studenten des Problems sein“, schäumte er. Besonders brachte ihn auf, dass „das Erscheinen von solchen falschen Behauptungen . . . in bleibenden öffentlichen Dokumenten dem Kongress eine entmutigende Vorstellung von dem Wert wissenschaftlicher Methoden gebe“. Huntington argumentiert weiter, dass „mathematisch bewiesen wurde, dass die Methode der gleichen Proportionen . . . kein Ungleichgewicht zugunsten der größeren oder der kleineren Staaten habe“. Diese Behauptung ist sehr seltsam, wenn nicht sogar ausgesprochen unehrlich. Sein wenige Monate zuvor veröffentlichter Artikel in den Transactions of the American Mathematical Society hatte unzweifelhaft gezeigt, dass das H–H–Verfahren mit dem Runden am geometrischen Mittel übereinstimmt. Und das Runden am geometrischen Mittel bevorzugt klarerweise die kleinen Staaten. Gab der Professor vor dies nicht zu sehen oder wusste er es wirklich nicht besser? Als Vorgehensweise hätte der Kongress nun das Problem an eine kenntnisreiche Institution weitergeben können, damit sie das Thema durcharbeitet und einen unabhängigen Expertenbericht verfasst. Tatsächlich hat Willcox dies in seinen Anhörungen vor dem Kongress vorgeschlagen. Unglücklicherweise weigerte sich die American Political Science Association, die gut geeignet gewesen wäre zwischen den beiden wettstreitenden Methoden zu schlichten, in die Angelegenheit hineinge-
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zogen zu werden. In offenkundiger Zurschaustellung einer Elfenbeinturmmentalität schrieb der Vorstand der Organisation, seine Vereinigung „habe das Gefühl, dass sie es nicht unternehmen sollte, Fragen dieser Art zu entscheiden“. Anscheinend hielt es die Vereinigung für angemessen zu untersuchen und zu kritisieren, wie öffentliche Personen schwierige Entscheidungen treffen, aber nicht einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Im Februar 1929 brachte zum ersten Mal auch Willcox seinen Standpunkt in Science ein. Seine Manieren waren vornehmer als die Huntingtons. Statt seinen Gegner persönlich anzugreifen, ging er auf das Problem ein. Es drohte ernsthaft die Gefahr, dass die zunächst 1911 in Kraft gesetzte und 1921 verfassungswidrig verlängerte Sitzzuteilung weitere zehn Jahre bis 1940 Bestand hätte, falls der Kongress nicht eine Veränderung beschließen würde. Willcox wollte sich mit diesem großen Problem beschäftigen, anstatt mit Debatten über Sitzbruchteile Zeit zu verschwenden. Sein Ziel bestand also nicht darin, die beste oder gerechteste Methode zu finden, sondern eine, die praktikabel und für den Kongress annehmbar war. Er beschrieb das Ziel lakonisch: „Mit welcher Methode hat der Gesetzesentwurf wohl die größten Chancen im Kongress angenommen zu werden?“ Überzeugt davon, dass sein Verfahren der Standardrundung in dieser Hinsicht die besseren Karten habe, konnte er sich ein bisschen Demagogie nicht verkneifen. Würden die Parlamentarier, so fragte er, ein „neues, unerprobtes Verfahren“ akzeptieren, das Laien schwer zu erklären ist? Oder würden sie eine Methode bevorzugen, die bereits 1911 benutzt wurde und für die nicht mehr nötig ist als Bruchzahlen abzurunden, wenn ihr Nachkommateil unter 0, 5 liegt, und aufzurunden, wenn über 0, 5? Er erinnert die Leser an den vorherigen, vergeblichen Versuch ein Zuteilungsgesetz zu verabschieden, und im Bestreben, dieses Mal einen ähnlichen Reinfall zu vermeiden, versichert er mit einer Selbstlosigkeit, die nur wenig gekünstelt klingt: „Ich würde leichten Herzens meine Vorliebe aufgeben . . . , wenn ich der Überzeugung wäre, dass eine andere Methode eine bessere Chance hätte vom Kongress und von der Nation angenommen zu werden.“ Was nun eine Veröffentlichung in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift betrifft, wie Huntington es verlangte, so scherte sich Willcox kein bisschen darum. Seine Arbeit war nicht als wissenschaftliches Vergnügen gedacht, sondern als Dienst für den Kongress. „Das Urteil eines durchschnittlichen Abgeordneten oder des Parlamentsausschusses ist von weit größerer Bedeutung als das irgendeiner Gruppe von Wissenschaftlern.“ Die Erwiderung kam kaum vier Wochen später. Eingezwängt zwischen „Geologische Arbeiten in Tonga und Fidschi“ und „Einfuhr kinematografischer Filme“ erschien eine kurze Notiz von Huntington, in der er vermeintliche Fehler in Willcox’ Artikel darlegt. Huntington muss das Stück mit dem Vergrößerungsglas gelesen haben. Frohlockend stürzte er sich auf einen leicht missverständlichen Satz in dem Papier. Willcox hatte geschrieben, dass die Einwohnerzahlen der Staaten, geteilt durch einen geeigneten Divisor, eine Reihe von Quotienten ergebe, die nach Ab– oder Aufrunden die Anzahl der Sitze für jeden Staat angebe. „Die ganze Reihe summiert sich zu 435 auf.“ Huntington missverstand absichtlich „die ganze Reihe“ als „die Reihe der Quotienten“, wohingegen Willcox offensichtlich „die Reihe der (Anzahlen von) Abgeordneten“ meinte. Huntington bezeichnete daraufhin die Ar-
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gumente in dem Papier als krasse Fehldarstellungen mathematischer Tatsachen und Willcox’ Beschreibung der Methode als grotesk. Die Notiz endet mit einem Schlag unter die Gürtellinie: „Anscheinend kann die Methode der Standardrundung nur mit merkwürdigen Argumenten wie diesem verteidigt werden.“ Aua! Willcox nahm den Angriff nicht auf die leichte Schulter. Er verteilte Kopien der zweideutigen Stelle an eine Klasse von dreißig Studenten und fragte sie nach ihrer Meinung, ohne den Grund der Frage zu nennen. Drei Viertel meinten, „die Reihe“ stehe für „die Reihe der Abgeordneten“, nur ein Viertel interpretierte den Ausdruck in der Bedeutung „Reihe der Quotienten“. Willcox berichtete im März 1929 in Science über den Ausgang seiner Umfrage, als wäre sie ein wissenschaftliches Experiment von höchster Bedeutung. „Es ist schwer zu verstehen, wie ein Gelehrter vom Rang Professor Huntingtons in meine Worte diese Bedeutung hineinlegen konnte“, kommentiert er und schließt seinen Artikel mit der Bemerkung: „Bisher habe ich die persönlichen Angriffe von Professor Huntington nicht beantwortet, aber dieser Fall ist so klar und typisch, dass ich eine Ausnahme gemacht habe.“ Die Debatte tobte das Jahr 1928 und die erste Hälfte des Jahres 1929 hindurch. Wenn sie zu nichts anderem gut war, so zeigte sie doch zumindest, dass Politik in der Wissenschaft zu ebenso unerbittlichen Auseinandersetzungen wie im Kongress führen kann. Huntington griff im Mai 1929 wieder in die Debatte ein, aber zu dieser Zeit war sie bereits irrelevant geworden. Anfang 1929 war klar geworden, dass die sich befehdenden Politiker zu keiner Einigung kommen würden und dass die Wissenschaftler, sich selbst überlassen, sich auch nicht besser benahmen. So wandte sich der Kongress also an die einzige Institution, die sie vor der nahenden Katastrophe bewahren konnte: die Nationale Akademie der Wissenschaften (National Academy of Sciences, NAS). Sie bestand aus Experten — Koryphäen in ihren Gebiet — auf die man zählen konnte, wenn es darum ging, wissenschaftliche Fragen aller Arten in unparteiischer Manier zu entscheiden, unbeeinflusst von Parteigängertum oder der Herkunft. Als daher der Abgeordnete Ernest Gibson aus Vermont bemerkte, dass „die Zuteilung der Abgeordneten . . . ein mathematisches Problem ist“, und die Frage stellte: „Warum benutzt man nicht ein Verfahren, das die Probe besteht . . . nach einer korrekten mathematischen Formel?“, beschloss der Parlamentsvorsitzende Nicholas Longworth aus Ohio die Diskussion zu beenden, indem er die National Academy of Sciences aufforderte über ein geeignetes Zuteilungsverfahren zu entscheiden. Die Akademie wurde 1863 von Abraham Lincoln gegründet. Ihre Aufgabe besteht darin, die Bundesregierung und die Öffentlichkeit hinsichtlich der Auswirkungen von wissenschaftlichen und technologischen Gesichtspunkten auf politische Entscheidungen zu beraten. Wie in ihrer Gründungsakte gefordert ist, muss die NAS „jedes Gebiet der Wissenschaften oder Künste erforschen, untersuchen, erproben und darüber Bericht erstatten“, sobald ein Ministerium dies anfordert. Die Mitglieder der NAS — Universitätsprofessoren und Wissenschaftler in Forschungslaboratorien oder privaten Unternehmen — arbeiten außerhalb des Regierungsbereichs um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Die Dienste der Akademie sind für die Regierung über die Jahre so bedeutend geworden, dass der Kongress und das Weiße Haus ihre einzigartige Rolle wiederholt durch Gesetze und Verordnungen bestätigt haben.
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Im Gegensatz zur American Political Science Association nahm die NAS die Herausforderung an. Eine Kommission wurde eingesetzt, die entscheiden sollte, welches das beste Sitzzuteilungsverfahren sei. Das hochrangige Expertenteam bestand aus den drei Mathematikern Gilbert A. Bliss von der Universität von Chicago, Ernest W. Brown von der Yale–Universität, Luther P. Eisenhart von der Universität in Princeton und aus dem Vorsitzenden, dem Biologen und Genetiker Raymond Pearl von der Johns–Hopkins–Universität in Baltimore. Pearl fiel unter all den Mathematikern heraus. Er kannte sich aber gut mit Statistik aus, denn er hatte ein Jahr in England bei Karl Pearson verbracht, dem Gründer des weltweit ersten Universitätsinstituts für Statistik am University College in London. Für die Parlamentarier und eigentlich für die ganze Bevölkerung der Vereinigten Staaten war es eine Erleichterung zu wissen, dass solch hochkompetente Wissenschaftler von den Universitäten von Chicago, Yale, Princeton und Johns Hopkins sich mit dem Problem beschäftigen würden, auch wenn nicht mehr als die Grundrechenarten darin vorkommen. Das Gutachten beginnt erst einmal reichlich harmlos. Falls der Sitzanteil einfach dadurch berechnet würde, dass man die Einwohnerzahl eines Bundesstaates durch die Gesamtbevölkerungszahl teilt, so stellt der Bericht fest, dass dann die Anzahl der Vertreter in fast allen Fällen aus einer ganzen Zahl und einem Bruchrest bestünde, „wie zum Beispiel 7, 3“. (Diese letzte Bemerkung war offenbar nachträglich angefügt, damit das Gutachten auch für den beschränktesten Leser verständlich würde.) Falls nun im Parlament Bruchstimmen abgegeben werden dürften, dann gäbe es kein Problem, bemerkten die Kommissionsmitglieder: Jeder Staat würde zunächst so viele Abgeordnete mit vollem Stimmrecht bekommen, wie die ganze Zahl angibt, und dann — das ist eine neue Idee — einen zusätzlichen Vertreter mit einem dem Bruchteil entsprechenden anteiligen Stimmrecht. Letzteres wäre sozusagen ein unvollständiger Volksvertreter. Aber die Verfassung sah Bruchteile an Stimmen im Kongress nicht vor. Dieser Ausweg war also eine Sackgasse. Rasiermesserscharf schlossen sie daraus, dass man für das Sitzzuteilungsproblem eine Lösung mit ganzen Zahlen finden müsste. Aber durch diese Bedingung verändere sich die mathematische Natur des Problems grundlegend: „Man muss sich darüber klar werden, dass Probleme der angewandten Mathematik häufig keine eindeutige Lösung haben, da die Ausgangsdaten die Lösung mathematisch nicht vollständig festlegen. In solchen Fällen muss die Lösung unter den mathematisch möglichen Lösungen aus anderen als mathematischen Gründen ausgewählt werden.“ Die Kommissionsmitglieder machten sich also auf die Suche nach nicht–mathematischen Gründen. Sie betrachteten alle damals bekannten Zuteilungsmethoden, die das Alabama–Paradoxon vermieden und zu praktikablen Lösungen führten. Dies waren fünf: die von Webster, Adams, Jefferson und Hill vorgeschlagenen Verfahren sowie eine andere Methode, die von James Dean, einem Mathematik– und Physikprofessor an der Universität von Vermont, in den 1820er Jahren vorgeschlagen worden war. Ich habe über Deans Methode bislang nichts gesagt, weil sie nie zum Tragen kam, außer 1991 in einer Anfechtungsklage im Bundesstaat Montana. (Sie besteht darin, den Vertretungswert „Einwohner pro Sitz“ für die Vereinigten Staaten als Ganzem so abzustimmen, dass der Wert „Einwohner pro Sitz“ für die einzelnen Bundesstaaten diesem Wert möglichst nahe kommt.)
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Die vier Männer schätzten die Idee prozentuale Unterschiede zu minimieren. Die Ausgangslage war also günstig für das H–H–Verfahren, das ja gerade dies tut. Und tatsächlich gipfelt das Gutachten in der Feststellung, dass die Methode der gleichen Proportionen den anderen vorzuziehen sei, da sie die prozentualen Unterschiede minimiert. „Nach vollständiger Betrachtung der verschiedenen Methoden ist die Kommission der Meinung, dass aus mathematischen Gründen das Verfahren der gleichen Proportionen die zu bevorzugende Methode ist.“ Die Art und Weise, in der die Professoren zu ihrem Schluss kamen, erinnert etwas an eine zirkuläre Argumentation. Zunächst stellten sie ihre Vorliebe für die Minimierung prozentualer Unterschiede fest und dann wählten sie die Methode aus, die darauf zugeschnitten ist, genau dies zu tun. Da bleibt natürlich nicht viel zu entscheiden. Sie räumten allerdings ein, dass ein anderes Verfahren besser wäre, wenn man den absoluten Unterschied in der Anzahl benötigter Wähler pro Sitz minimieren wollte. Und wenn man den absoluten Unterschied zwischen den Kehrwerten dieser Zahlen, also zwischen den Anzahlen an Abgeordneten pro Wähler („Erfolgswert“), betrachtete, wäre eine nochmals andere Methode die beste. Sie schlossen mit der Feststellung: „Jede der vier anderen aufgelisteten Methoden ist allerdings in sich stimmig und unzweideutig.“ Aber die Professoren gaben noch eine weitere Rechtfertigung für ihre Entscheidung. Sie zogen H–H den anderen Methoden vor, weil „sie mathematisch eine neutrale Stellung einnimmt, was die Betonung größerer oder kleinerer Staaten anlangt“. Unterzeichnet: G. A. Bliss, E. W. Brown, L. P. Eisenhart, Raymond Pearl, Vorsitzender. Mit „neutral“ meinten die vier Kommissionsmitglieder nicht, dass H–H unparteiisch wäre — wir wissen, dass das geometrische Mittel die größeren Staaten benachteiligt — sondern dass H–H in Hinsicht auf die Schieflage einen mittleren Platz innerhalb der fünf Methoden einnimmt. Spätere Wissenschaftler merkten an, dass der Kommission durch einen glücklichen Umstand eine ungerade Anzahl an Verfahren vorlag. Andernfalls wäre es schwierig gewesen, das beste Verfahren als das in der Mitte zu identifizieren. Huntington konnte erleichtert aufatmen; seine Methode der gleichen Proportionen war durch die Kommission rechtfertigt worden. In einer Zusammenfassung des Befunds der NAS beschreibt er frohlockend den Kommissionsbericht in Science: „Die Meinungsverschiedenheiten um die mathematischen Aspekte des Problems der Sitzzuteilung im Kongress können durch das vor kurzem erschienene maßgebliche Gutachten der National Academy of Sciences als abgeschlossen angesehen werden“, stellt er zu Beginn fest, um dann zu einem weiteren Seitenhieb gegen Willcox’ „komplizierte und künstliche“ Methode auszuholen. „Der Einfluss, den dieses inzwischen veraltete Verfahren immer noch auf die Vorstellung mancher Parlamentarier ausübt, scheint hauptsächlich auf einer falschen Auffassung zu beruhen.“ Huntington ließ die Gelegenheit zu einem weiteren Schlag unter die Gürtellinie nicht aus: Er wiederholt die Behauptung, Willcox habe eine Reihe von Quotienten aufsummieren wollen statt Parlamentariern. Aber all dies könne nun vergessen werden, denn „die National Academy of Sciences bestätigt, dass . . . die Methode der gleichen Proportionen . . . der Methode der Standardrundung logisch überlegen
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ist“. Die Methode der gleichen Proportionen erhielt den einstimmigen Beifall der NAS, weil sie Kongresssitze so verteilt, dass die Disparität möglichst klein wird. Eine Verteilung nach dieser Methode kann in dem Sinne nicht verbessert werden, dass die Verschiebung eines Sitzes von einem zu einem anderen Bundesstaat die Disparität erhöhen wird. Huntington schreibt: „Willcox’ nutzlose Verwicklungen . . . werden von der modernen Theorie vollständig beseitigt, die einen einfachen und unmittelbaren Test liefert, mit der man jeglichen Streit zwischen zwei Staaten klären kann.“ Die Hetze endet mit einem Seitenhieb gegen die bedauernswerten Misserfolge der jüngsten Geschichte. „Die rein politischen Versuche, die erfolgt sind um die veraltete Methode der Standardrundung in der laufenden Gesetzgebung aufrechtzuerhalten, haben sich als eine ernsthafte Bedrohung der gesamten Neuzuteilungsbestrebungen erwiesen.“ Habe ich erwähnt, dass die NAS–Kommission ihr Gutachten einstimmig herausgab? Das habe ich, und formal gesehen stimmt es auch. Aber einige Jahre nach der Veröffentlichung des Gutachtens ließ Willcox einen dunklen Hinweis fallen. Er deutete an, dass es nicht einstimmig beschlossen war. Wie konnte das sein? Alle vier Mitglieder der Kommission — Bliss, Brown, Eisenhart und Pearl — hatten das Gutachten unterzeichnet. Wollte Willcox unterstellen, einer der Professoren sei dazu genötigt worden? Dies wäre grotesk und jede solche Vermutung sollte sofort zurückgewiesen werden. Huntington war von dieser Vorstellung entsetzt: „Jeder Versuch zu zeigen . . . dass diese Unterschriften nicht bedeuten, was sie aussagen, ist eine schwere Beleidigung für diese hervorragenden Gelehrten“, schrieb er tief entrüstet. War also die fehlende Einstimmigkeit eine Erfindung von Willcox? Das war sie nicht; die Akten der National Academy of Sciences enthalten ein dunkles Geheimnis. Niemand wurde genötigt, aber in der Geschichtsschreibung fehlt die Information, dass die Kommission ursprünglich ein fünftes Mitglied hatte, den Harvard–Mathematiker William Fogg Osgood. Was war geschehen? Osgood war zusammen mit Bliss, Brown, Eisenhart und Pearl für die Kommission angeworben worden und am Entwurf der ersten Version des Gutachtens war er auch noch beteiligt. Es hatte sich bereits herauskristallisiert, dass die Kommission die Methode von Huntington, Osgoods Kollegen in Harvard, unterstützen würde. Aber mit voranschreitender Arbeit befiel Osgood Ernüchterung: Er gewann den Eindruck, dass die Harvard–Methode nicht stark genug unterstützt wurde. Schließlich war er nicht mehr zur Mitarbeit bereit. In einem Telegramm an den Geschäftsführer der NAS kündigte er am 30. Januar 1929 seinen Rücktritt an. Es lautete: Gutachten [der] Kommission ist durch die Einführung unerheblicher Materialien so sehr geschwächt worden, dass ich nicht in der Lage bin, die revidierte Fassung zu unterzeichnen. S TOP Um das Vorgehen nicht zu behindern, bitte ich, aus weiterem Dienst für die Kommission entlassen zu werden.
Zwei Tage später liefert er in einem Telegramm an den Vorsitzenden der Kommission Pearl die Einzelheiten nach: Mein Rückzug aus der Kommission sollte dazu dienen, ein einstimmiges Gutachten der anderen vier Mitglieder zu beschleunigen S TOP Da Sie mir dritten Entwurf geschickt haben, gebe ich gerne folgende Kommentare S TOP Ich würde an Absatz fünf anfügen Z ITAT aber das vorliegende Problem gehört nicht in diese Klasse Z ITATENDE oder den ganzen Absatz
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weglassen S TOP Sie sollten sich klarmachen, dass ich konsequent den ersten Teil des Gutachtens unterstützt habe, so wie er entworfen, in Baltimore einstimmig angenommen und herumgereicht wurde S TOP Mein Einspruch wendet sich gegen neues Material, das seither auf Antreiben des Akademiepräsidenten eingefügt wurde. Dieses neue Material beraubt meines Erachtens das Gutachten seiner eigentlichen Bedeutung S TOP Mein Rücktritt bleibt daher gültig.
Drei Tage nach dem Telegramm gab Raymond Pearl dem Präsidenten der Akademie in einem Brief einen Bericht der Lage: Das Gutachten ist von vier Mitgliedern der Kommission unterzeichnet worden, nämlich Bliss, Brown, Eisenhart und Pearl. Das fünfte Kommissionsmitglied, Prof. William F. Osgood, hat während ihrer Arbeit seinen Rücktritt erklärt aus Gründen, die er Ihnen dargelegt hat. Er hat mich darüber informiert, dass er seinen Rücktritt nicht zurücknehmen und an der weiteren Kommissionsarbeit vom Tag seines Rücktrittsgesuchs an nicht mehr beteiligt sein möchte. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass Sie seinen Rücktritt annehmen und das Gutachten als von den vier Mitgliedern, die es unterzeichnet haben, verfasst ansehen. Ich bedauere sehr, dass Professor Osgood sich zum Rücktritt genötigt sah. Sowohl ich als auch alle anderen Kommissionsmitglieder taten alles in unseren Kräften stehende um ihn davon abzuhalten. Außerdem versuchten alle Kommissionsmitglieder, soweit sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte, Professor Osgoods Sichtweisen in jedem Punkt so weit wie möglich entgegenzukommen.
Willcox war nicht so naiv zu glauben, Osgoods Rücktritt habe daran gelegen, dass der Harvard–Professor der Cornell–Methode zustimmte. Im Gegenteil war ihm klar, dass Osgood zurückgetreten war, weil er die Unterstützung der Kommission für die Harvard–Methode nicht stark genug fand. Osgood hatte den Präsidenten der NAS beschuldigt die Schlussfolgerungen der Kommission derart verwässert zu haben, dass er mit ihnen nicht mehr übereinstimmte. Selbst wenn Osgood weiter mit der Kommission zusammengearbeitet hätte, wäre es für Willcox’ Standpunkt zu keinem Nutzen gewesen. Lange Zeit war von Willcox über dieses Thema nichts mehr zu hören. Erst 1941 deckte er auf, dass er einen Brief von Raymond Pearl, dem Vorsitzenden der NAS– Kommission, erhalten hatte. Darin verteidigt Pearl verspätet Willcox’ Methode: „Ich unterstütze von Herzen und vorbehaltlos ihre Anstrengungen . . . Meines Erachtens erweisen sie nun einen wahren Dienst, indem Sie [die Methode der Standardrundung] voranbringen.“ Falls sich der Kongress durch das NAS–Gutachten schließlich zu einer Entscheidung über die anzuwendende Methode durchringen könnte, würde nach zwanzig Jahren endlich eine Neuzuteilung stattfinden. Über diese Aussicht waren allerdings nicht alle glücklich. Welche Zuteilungsmethode auch immer benutzt würde, sie wäre sicher zum Nachteil der ländlichen Staaten, deren Bevölkerung stark abgenommen hatte. Sie waren entschlossen sich erbittert gegen die drohende Gefahr zu wehren. Falls sie noch einmal die Versuche der Parlamentsneuzuteilung vereiteln könnten, bestand die Chance, dass die gegenwärtige Verteilung sogar weitere zehn Jahre Bestand hätte. Abgeordnete und Senatoren der ländlichen Staaten schimpften und wetterten gegen die „unheilige und ungerechte“ Methode, die „uns unter die Räder brächte, uns unter dem System der Standardrundung zerschmetterte . . . skrupellos und ohne Gnade“. Ihr Hauptziel bestand nicht darin, W–W zu verhindern, sondern jegliche Übereinkunft.
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Ungeachtet ihres Widerstands verabschiedete der Kongress im Sommer 1929 eine Verordnung, wonach der Präsident dem Kongress die Volkszählungsdaten zusammen mit zwei Zuteilungsvorschlägen zusenden sollte — einmal nach der W– W–Methode und einmal nach der H–H–Methode berechnet. Sollte sich der Kongress zwischen den beiden Methoden nicht entscheiden können, würde automatisch wieder die bereits 1911 verwendete W–W–Methode zum Zug kommen. Aber dann geschah ein bemerkenswerter, wenn nicht sogar völlig überraschender Zufall: Nachdem die Volkszählungsdaten gesammelt und ausgewertet und die Zuteilungen berechnet und verglichen waren, stellte sich heraus, dass W–W–Methode und H–H–Methode das gleiche Ergebnis lieferten. Der Kongress brauchte nicht über das Verfahren zu entscheiden, niemand kam unter die Räder und die Zuteilung konnte 1931 in idyllischer Harmonie erfolgen. Alle gaben Stoßseufzer der Erleichterung von sich und der Kongress konnte sich für die nächsten zehn Jahre zur Ruhe begeben — zumindest was die verflixten Sitzzuteilungsfragen betraf. Beim nächsten Mal hatte der Kongress nicht so viel Glück. Nach der Volkszählung von 1940 brach wieder alles zusammen. Als Präsident Franklin D. Roosevelt die Sitzzuteilungen nach den beiden Methoden vorstellte, bekamen 46 Staaten tatsächlich die gleiche Anzahl an Sitzen. Aber Arkansas und Michigan nicht. Nach der H–H–Methode bekam Arkansas 7 Sitze und Michigan 17, nach der W–W–Methode bekam Arkansas 6 und Michigan 18 Sitze. Tabelle 10.2 Vergleich zwischen H–H und W–W (Volkszählung von 1940) Gesamtbevölkerung 7.205.493 und 24 zu vergebende Sitze. Einwohner pro Sitz = 300.229 (A)
Hill–Huntington–Methode (gleiche Proportionen) Möglichkeit 1 ungerun– zugewie– Einwohner dete Sitze sene Sitze
Staat
Bürger pro Sitz
Möglichkeit 2 Unter– zugewie– schied sene Sitze
Bürger pro Sitz
AR
1.949.387
6,493
6
324.898
7
278.484
MI
5.256.106
17,507
18
292.006
17
309.183
Summe
7.205.493
24,000
24
11,26%
24
Unter– schied
11,02%
Da der prozentuale Unterschied bei Möglichkeit 1 (11,26%) größer ist als bei Möglichkeit 2 (11,02%), wird die zweite bevorzugt. (B)
Webster–Willcox–Methode (Standardrundung)
Man sucht einen Divisor, so dass die gerundeten Sitzzahlen sich zu 24 aufsummieren. Dies ist 300.000 (tatsächlich funktioniert jeder Divisor zwischen 299.906 und 300.349). Einwohner
ungerundete Sitze
Arkansas
1.949.387
6,498
gerundete Sitze 6 (abgerundet)
Michigan
5.256.106
17,520
18 (aufgerundet)
Summe
7.205.493
24,018
24
138
10 Die Streithähne
Dies reichte aus, um die Kontroverse wieder ausbrechen zu lassen. Nicht nur die beiden Staaten griffen ein. Da Arkansas fest in Hand der Demokraten lag und Michigan üblicherweise republikanisch wählte, wurde die Frage zu einer Parteienangelegenheit für das ganze Haus. Plötzlich hing die richtige Antwort auf eine mathematisches Frage davon ab, ob man Demokrat oder Republikaner war. Jene bevorzugten H–H, diese W–W. (Für das Folgende sollte man wissen, dass 1941 die Demokraten die Mehrheit im Parlament innehatten.) Am 17. Februar 1941 begann die Parlamentsdebatte. Wie von dem ein Jahr zuvor gefassten Beschluss vorgesehen, hatte der leitende Beamte des Parlaments am 8. Januar die möglichen Verteilungen der Sitze auf die Bundesstaaten vorgestellt: einerseits nach der Cornell– und andererseits nach der Harvard–Methode. Falls sich das Haus innerhalb von sechzig Tagen, also bis zum 9. März, zu keiner Handlung entschließen könnte, würde die Zuteilung automatisch nach dem alten W–W– oder Cornell–System der Standardrundung durchgeführt werden. Für die Demokraten wurde es also Zeit aktiv zu werden, denn andernfalls könnte Arkansas seinem siebten Sitz für die nächsten zehn Jahre Lebewohl sagen. Die Diskussion wurde von J. Bayard Clark aus North Carolina angestoßen. Er wies darauf hin, dass Michigan mit der Methode der Standardrundung einen Sitz auf Kosten von Arkansas erlangen würde, obwohl doch die Bevölkerung von Arkansas stärker angewachsen war als die von Michigan. „Das Haus wird es nicht zulassen wollen, dass irgendeine mathematische Formel eine Ungleichheit oder Ungerechtigkeit dieser Art erzeugt“, rief er aus und versuchte dadurch sich das unterschwellige Misstrauen der Parlamentarier gegenüber der Mathematik zunutze zu machen. (Dass seine Behauptung überhaupt nicht stimmte, spielte kaum eine Rolle: Zwischen 1930 und 1940 war die Bevölkerung von Arkansas um 5,1 Prozent gewachsen, die von Michigan um 8,5 Prozent.) Joseph W. Martin aus Massachusetts warf ein: „Wir versuchen das umzuwerfen, worauf wir uns letztes Jahr geeinigt haben. . . . Warum sollten wir die Angelegenheit nur aufgrund des besonderen Vorteils für irgendeinen der Staaten anders sehen?“ Darauf wollte sich Clark nicht einlassen: „Das Haus sollte es nicht gestatten, dass eine rein mathematische Formel Gerechtigkeit verhindert!“ donnerte er von den Rängen, um wieder seinen Punkt gegen die vorgeblichen Wundersamkeiten der Mathematik vorzubringen. Außer Atem überließ Clark zehn Minuten seiner Redezeit Ed Gossett aus Texas. Der versuchte seine Kollegen zu beruhigen: „Wir sollten nicht in die komplizierten mathematischen und geometrischen Formeln einsteigen, die zum Verständnis dieser verschiedenen Methoden nötig sind“, schlug er vor, um sie von der ihnen eigenen Furcht vor der Mathematik zu befreien. Stattdessen beantragte er, die National Academy of Sciences in ihrer Entscheidung über die beste Methode beim Wort zu nehmen. „Das wissenschaftliche Gutachten hat ergeben . . . dass gleiche Proportionen die Tendenz haben, die Größen der Kongressbezirke untereinander anzugleichen.“ Mit dieser Unterstützung für die Hill–Huntington–Methode würde Arkansas seinen siebten Sitz behalten. Michigan wollte sich dies nicht gefallen lassen. Der Abgeordnete Earl C. Michener brachte Argumente für seinen Staat vor und begann in einem vermittelnden Ton: „Keine der Methoden ist perfekt“, merkte er an, „und es ist eher die Regel als
10 Die Streithähne
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die Ausnahme, dass Experten nicht übereinstimmen“. Er räumte ein, „jeder sei ehrlich und völlig davon überzeugt, dass die jeweils eigenen Vorstellungen im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit vom Kongress übernommen werden sollten“, und fuhr fort, indem er zugab, dass es keine absolute Antwort gebe. In diesem Fall sollte man besser der altbewährten Methode vertrauen als unverbürgte Änderungen anzubringen. „Niemand wusste damals, wo der Schuh drücken würde.“ Und dann kam er zur entscheidenden Stelle: „Die Professoren, Statistiker und Mathematiker haben ihre Argumente vorgestellt und nach sorgsamer Prüfung durch den Volkszählungsausschuss und den Kongress selbst wurde die Methode der Standardrundung als die unter allen Umständen vorzuziehende akzeptiert“, rief er aus, indem er zweckdienlich die gegenteiligen Schlussfolgerungen der National Academy of Sciences ignorierte. Dann war wieder Arkansas dran. „Die benutzten Methoden sind nicht heilig“, räumte der Abgeordnete dieses Staates David Terry ein. Das Parlament müsse einfach nach einer Zuteilungsmethode suchen, die „dieses verflixte, alle zehn Jahre wiederkehrende Problem in einer für alle Bundesstaaten — große, mittlere und kleine — möglichst gerechten und billigen Weise löst“. Dann kam er zur Sache, versteckte sich nicht mehr hinter Nettigkeiten und brachte es auf den Punkt: „Die Republikanische Seite des Hauses unternimmt eine verzweifelte Anstrengung, diese Versammlung ihrer Kontrolle zu unterwerfen“, rief er unter dem Beifall seiner Mit– Demokraten aus. Ezekiel Gathings aus Arkansas gab vor überrascht zu sein angesichts des Treibens der Gesetzgeber von Michigan. Warum plötzlich dieser Protest? Schließlich habe sich kein Abgeordneter von Michigan bemüßigt gefühlt anwesend zu sein und für seinen Staat einzutreten, als der Volkszählungsausschuss die Frage debattierte. Dies war zu viel für Jesse P. Wolcott. Er und seine Kollegen aus Michigan hätten den Eindruck gehabt, dass bereits alles entschieden gewesen wäre, deshalb seien sie nicht erschienen. Aber dies ließ Gathings nicht durchgehen. Jeder hätte Wochen zuvor gewusst, dass diese Angelegenheit besprochen werden würde. Anscheinend wollten die Herren aus Michigan gar nicht wirklich, dass ihre siebzehn Wahlbezirke in Michigan gestört würden, schloss er daraus. „Moment mal!“, schoss ein wütender Wolcott zurück, „was glaubt der Herr, wofür wir uns einsetzen? Wir sitzen hier nicht mit offenen Mündern nur um des Vergnügens wegen. . . . Michigan hat ein Anrecht auf diesen Sitz und wir werden dafür kämpfen!“ Die Debatte wurde immer erboster. Fred C. Gilchrist aus Iowa brachte einen völlig neuen Gesichtpunkt in die Diskussion ein. Ihm war es egal, welche Methode benutzt würde, denn Iowa würde so oder so einen Sitz verlieren. Er hatte ein anderes Hühnchen zu rupfen: nicht eingebürgerte Immigranten, damals einfach als Ausländer (aliens) bezeichnet. Mit Hilfe einer von der Immigrations– und Einbürgerungsbehörde vorbereiteten Karte wies er darauf hin, dass von den fast fünf Millionen Nicht–Bürgern in den Vereinigten Staaten ein Viertel in New York und weitere elf Prozent in Kalifornien lebten. Also habe New York vier und Kalifornien zwei zusätzliche Parlamentarier nur wegen der in diesen Staaten lebenden Fremden. „Man kann keinen Grund ersehen, warum ein in einem anderen Land geborener Mensch, der Amerika nicht hoch genug schätzt um sich einbürgern zu lassen, . . . gezählt werden sollte, wenn es darum geht, den Anteil an Vertretern zu bestimmen.“ Schlimmer
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10 Die Streithähne
noch, erinnert Gilchrist seine Hörer, „versteckten sich einige von ihnen hinter fremden Flaggen und lehnten es ab, für Amerika zu kämpfen. Stattdessen blieben sie zu Hause und verdienten täglich 10 oder 12 oder 15 Dollar an Lohn, während unsere eigenen Jungs ihre Arbeit aufgaben und zwischen 1 und 1,10 Dollar täglich erhielten und viele Tausende von ihnen nicht wieder nach Hause kamen, sondern in den Gefechten auf den europäischen Schlachtfeldern getötet wurden.“ Dann kam er zu seinem wahren Anliegen. „Eine übergroße Mehrheit dieser Fremden befindet sich in den Städten und diese Tatsache trägt dazu bei, den ländlichen und landwirtschaftlichen Bevölkerungsteilen ihren gerechterweise zustehenden Anteil an der Gesetzgebung wegzunehmen.“ Die ländlichen Staaten wären durch die Fremden also doppelt bestraft, beklagte Gilchrist. Sie nähmen nicht nur den amerikanischen Jungs die Arbeit weg, sondern indem sie in den Städten siedelten, verhinderten sie auch, dass die ländlichen Staaten korrekt im Kongress vertreten wären. Mit fortschreitender Diskussion griffen andere in den Streit ein. Leland M. Ford aus Kalifornien hatte etwas zu sagen und ebenso August H. Andresen aus Minnesota; John R. Kinzer aus Pennsylvania brachte seine Argumente ein und A. Leonard Allen aus Louisiana andere. Carl T. Curtis aus Nebraska gab seine Meinung ab und ebenso taten dies viele andere. Und so ging es weiter und weiter. Natürlich war die ganze Übung letztendlich sinnlos. Kein Argument konnte die eine Methode wirklich über die andere erheben, denn die ganze Frage lief letztendlich darauf hinaus, ob man wollte, dass Arkansas oder dass Michigan den zusätzlichen Sitz erhielt. Gewicht hatten weder Appelle an Gerechtigkeit oder Gleichheit noch die Berufung auf mathematische Autoritäten oder Institutionen, sei es die NAS, die Brookings Institution oder die Volkszählungsbehörde, denn für jedes Argument konnte ein Gegenargument gefunden werden, das stets mit den hochtrabendsten Gründen das Verfahren bevorzugte, das man gerade wollte. Während es im Parlament bei mehr oder weniger höflichen Hänseleien blieb, stieg der Ton unter den Wissenschaftler wieder an.. Diesmal breitete sich die gelehrte Debatte hauptsächlich auf den Seiten von Sociometry aus, einer 1937 gegründeten Zeitschrift, die sich Fragen der Sozialpsychologie — oder, wenn Sie wollen, der psychologischen Soziologie — widmete. (Sociometry erschien bis 1977, dann änderte die Zeitschrift ihren Namen in Social Psychology. Heute heißt sie Social Psychology Quarterly.) Huntington begann die Debatte mit einem Artikel „The role of mathematics in congressional appointments“ (Die Rolle der Mathematik in Kongresszuweisungen). In einem Vorwort schreibt der Herausgeber, dass „die von Huntington vorgeschlagene Zuteilungsmethode . . . während der Drucklegung vor dem Kongress verhandelt wird“. Der Artikel will eine mathematische Rechtfertigung der Harvard–Methode liefern. Ein mathematisches Theorem ist entweder wahr oder falsch, so Huntington, und dann zaubert er ein „Theorem der gleichen Proportionen“ hervor. Tatsächlich dürfte dies das erste Mal sein, dass irgendjemand von solch einem Theorem spricht, aber Huntington behauptet, dass „die Wahrheit des Theorems verbürgt werde durch das einstimmige Gutachten der Gutachterkommission für die Volkszählung . . . und das einstimmige Gutachten einer Kommission der National Academy of Sciences“. Diese gewichtige Unterstützung sollte sicherlich dazu dienen, den Kongress mitzureißen, aber bei genauerem Hinseghen bemerkt
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man, dass Huntington mit seinem Appell an den Respekt der Leser vor mathematischen Theoremen und ihren Beweisen nicht aufrichtig war. (Bemerkenswert wie Huntington sich bei den Lesern von Sociometry einschmeicheln wollte, indem er an ihren Respekt vor der Mathematik appellierte, während der Abgeordnete J. Bayard Clark seine Kollegen zu überzeugen versuchte, indem er an ihre Missachtung der Mathematik appellierte.) Was Huntington tat, war seine bevorzugte Frage — ob die Verschiebung eines Sitzes von einem Staat zu einem anderen die prozentuale Ungleichheit der Kongresswahlbezirke minimiert — als geeigneten Test für einen gute Zuteilung festzusetzen. Dann stellt er als Theorem fest, dass die Harvard–Methode diesen Test erfüllt. Dies ist ziemlich heimtückisch, denn da alles auf jener Annahme beruht, ist das Argument zirkulär. Falls man den Test akzeptiert, ist die Harvard–Methode die richtige. Falls nicht, ist alles offen. Also sagt das „Theorem“ nichts darüber aus, welche Methode die beste ist. Um die offensichtlichen Mängel seines Arguments zu vertuschen, nimmt Huntington Zuflucht zur Demagogie. Er bedauert, dass „einige in hohem Maße von Professor Willcox von Cornell beeinflusste Berufspolitiker . . . dem Eindringen mathematischer Theorien in ein Gebiet, das sie als rein politisch und nicht als mathematisch ansehen, äußerst negativ gegenüber stehen. Professor Willcox lehnt das oben zitierte mathematische Theorem rundweg ab (genauer gesagt, nimmt er absichtlich keine Kenntnis davon).“ Außerdem klagt er Willcox der Kongressbeleidigung an, da Willcox weiterhin behaupte die Harvard–Methode sei schwierig zu verstehen, wohingegen die der Cornell–Methode zugrundeliegende Theorie auch nicht–mathematische Köpfe überzeugen könne. „Dies mag das erste Mal in der Geschichte sein, dass die Verfechter einer Maßnahme den Kongress der Vereinigten Staaten offen beschuldigt haben, nicht fähig zu sein zu multiplizieren und zu dividieren“, verkündet er. Willcox wollte dies nicht durchgehen lassen. „Solange [Huntingtons Artikel] sicher in den Katakomben öffentlicher Dokumente versunken blieben, habe ich sie nicht beachtet. Aber nun, da [sie] uninformierten Leuten zugänglich sind, deren Meinung ich schätze, . . . muss der vorsintflutliche Achtzigjährige von angenehmeren Aufgaben Abstand nehmen um ihm zu antworten“, schrieb der damals 80 Jahre alte Professor in einer Entgegnung in derselben Zeitschrift. Willcox begründet seine Haltung damit, dass die Auswahl einer geeigneten Zuteilungsmethode eine politische Entscheidung sei, da sie von einer politischen Körperschaft aus politischen Motiven heraus getroffen werde. „Die Motivation hinter dem Gesetz ist nicht eine späte Bekehrung des Kongresses zur Methode der gleichen Proportionen, sondern die Entdeckung durch die Anführer der Mehrheit, dass [ein Wechsel der Methode] einen Sitz von Michigan nach Arkansas verschieben würde.“ Das vorhandene Problem sei also nicht „die Auswahl zwischen zwei Verfahren, sondern in Wirklichkeit eine Auswahl zwischen zwei Parteien . . . “ Der jetzt zugestandene Wechsel zur Harvard–Methode, wetterte Willcox, würde eine Pandorabüchse zukünftigen Ärgers öffnen, da die machthabende Partei die Zuteilungsmethode wechseln würde, wie es ihr gerade am besten passte.
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Das Grundproblem liege darin, „ein Ergebnis zu erreichen, dass so nah wie möglich am exakten Anteil liegt“, bemerkt Willcox und erläutert dann korrekterweise, dass dies zu der Frage führt: „Wie soll ‚Nähe‘ zu einem exakten Anteil gemessen werden?“ Wie das NAS–Gutachten zwölf Jahre zuvor dargelegt hat, hängt viel davon ab, ob „Nähe“ in absoluten oder in prozentualen Zahlen definiert wird. Der Befürworter der Cornell–Schule lässt sich dann selbst zur Demagogie herab, wenn auch in feinerer und poetischerer Weise als der Anwalt der Harvard–School. Huntingtons Artikel „verrate den Schreiber als einen modernen Don Quijote, der in einer unwirklichen Welt herumstreift, in der er gegen eine Kongress–Windmühle anreitet, deren Struktur er nicht versteht, und gegen die regierenden Kräfte, die zu beeinflussen er nicht fähig gewesen ist“. In der Schlussbemerkung seiner Entgegnung bedauert Willcox, dass Huntington schlafende Hunde geweckt habe. „Indem er den Streit von 1929 wieder aufleben ließ, zog er — unbeabsichtigterweise, aber darum nicht weniger wirksam — das Zuteilungsproblem zurück in den Morast der Politik, nachdem seine akademischen Gegenspieler lange darum gekämpft hatten, es daraus zu befreien, und hat es dadurch seinen und meinen Nachfolgern in einem Zustand hinterlassen, der weitaus komplizierter und bedrohlicher ist, als wenn er es nie berührt hätte.“ Um es mit dieser langen Geschichte kurz zu halten: Willcox war nicht überzeugend genug und Präsident Roosevelt ließ die Partei der Demokraten nicht im Stich. Am 15. November 1941 unterzeichnete er, ohne groß die Verdienste der verschiedenen Verfahren in Betracht zu ziehen, das Gesetz „An Act to Provide for Apportioning Representatives in Congress among the Several States by the Equal Proportions Method“ und verordnete damit, dass von nun an die Hill–Huntington–Methode für die Zuteilung des Kongresses benutzt werden würde. Die Harvard–Methode hatte gesiegt und die Herren aus Arkansas konnten erleichtert aufatmen. Sie bekamen ihren siebten Sitz. Und die Mehrheit der Demokraten im Parlaments erhöhte ihre Mehrheit um einen Sitz. Zweifel über H–H blieben im Parlament aber wegen der kruden Art, in der die Methode angenommen worden war, bestehen und 1948 wurde die Frage einer erneuten wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen. Der verunsicherte Kongress wandte sich erneut an die National Academy of Sciences um Hilfe und bat sie noch einmal zu untersuchen, welche Zuteilungsmethode der Kongress verwendet sollte. Die NAS bildete eine neue Kommission. Dieses Mal war dies Kommission eine reine Angelegenheit von Princeton und womöglich noch hochrangiger besetzt als die erste. Eines ihrer Mitglieder war John von Neumann vom Institute of Advanced Study (IAS). Er kam ursprünglich aus Ungarn und wird heute als einer der bedeutendsten Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen. (Das IAS bot ihm, wie auch seinen Kollegen Albert Einstein, Kurt Gödel und anderen Flüchtlingen vor den Nazis, einen ruhigen Platz um das menschliche Wissen zu vergrößern, ungestört von solch banalen Pflichten wie dem Unterrichten von Studenten oder der Betreuung von Doktoranden.) Ein weiteres Kommissionsmitglied war Marston Morse, John von Neumanns Kollege am Institute for Advanced Study in Princeton. Das dritte Kommissionsmitglied war Luther Eisenhart von der Universität von Princeton, der
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bereits zwei Jahrzehnte zuvor Mitglied der ersten Kommission gewesen war. Er wurde als Vorsitzender ausgewählt. Die drei Mathematiker machten sich an die Arbeit. Sie waren vom Präsidenten der NAS gebeten worden (der wiederum vom Parlamentspräsidenten gebeten worden war) über alle neueren mathematischen Entwicklungen beim Zuteilungsproblems seit dem ersten Gutachten 1929 zu berichten. In Wirklichkeit gab es nicht viel Neues zu beachten. Der einzige seitdem geschriebene Artikel, den die Kommission einer Betrachtung für würdig erachtete, war von Walter E. Willcox für ein Treffen des International Statistical Institute vorbereitet worden. Darin schlug er eine neue Zuteilungstechnik vor: die „modern House method“ (neue Haus–Methode). Aber selbst dies war keine neue Erfindung. Nach näherer Überprüfung stellte sich heraus, dass die „neue Haus–Methode“ bereits im vorherigen NAS–Gutachten berücksichtigt war, wenn auch unter dem Namen „Divisorverfahren mit Aufrundung“. Die Kommission konnte sich also darauf beschränken, im Wesentlichen das gleiche Gebiet wie ihr Vorgänger abzuschreiten. Nachdem sie erneut die Tatsache beklagten, dass „bruchteilige Vertretung bisher nicht eingeführt wurde“, unterwarfen Morse, von Neumann und Eisenhart noch einmal die verschiedenen Methoden einer intensiven Prüfung. Sie verglichen die H–H–Methode der gleichen Proportionen, die bereits im ersten NAS–Bericht als überlegen angesehen wurde, mit den konkurrierenden Verfahren. Dazu überprüften sie, ob die Unterschiede zwischen den Anzahlen an Bürgern, die für einen Sitz nötig sind, abnehmen, wenn eine der anderen Methoden benutzt wird. Ein Kommissionsmitglied (das Gutachten gibt nicht an, um wen es sich handelt) wurde bestimmt um die Vergleiche algebraisch auszuführen. Er tat dies und es war nicht überraschend, dass die mathematische Schreibarbeit die Schlussfolgerung des vorherigen, neunzehn Jahre zuvor dem Kongress überreichten Gutachtens bestätigte. „In den obigen vier Vergleichen konnte EP [d.h. die H–H–Methode der gleichen Proportionen (equal proportions)] in jedem einzelnen Fall entscheidend punkten“, schloss das Gutachten. Dies war nicht verwunderlich, denn die neue Kommission hätte kaum ihren Vorgänger verleugnet, zumal ein Drittel der Mitglieder, also der Vorsitzende Eisenhart, die Kontinuität sicherstellte. Aber es blieb noch eine Frage zu klären. Schließlich hatte Willcox die neue Haus–Methode beziehungsweise das Divisorverfahren mit Aufrundung ins Spiel gebracht und „dieses Gutachten wäre keine Antwort auf die Anfrage der Nationalen Akademie, wenn es nicht den kürzlich erschienenen Artikel von Professor Willcox analysierte“. Denn Willcox hatte die neue Haus–Methode nicht nur mit neuem Namen und neuer Verpackung versehen, sondern auch eine neue Rechtfertigung für sie gegeben. Er schlug vor die verschiedenen Zuteilungsmethoden nicht nur zwischen Paaren von Staaten zu vergleichen, sondern zwischen allen Staaten gleichzeitig. Wie groß ist der Unterschied, so fragt er sich, zwischen dem größten und dem kleinsten Bevölkerungsanteil, der für einen Sitz nötig ist? Willcox nennt diese neue Größe, die für alle 48 Staaten gleichzeitig berechnet wird, die „Ausdehnung“ (range). Die Zuteilungsmethode mit der kleinsten Ausdehnung wäre dann diejenige, die man vorziehen sollte.
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Nachdem er sich die Ausdehnungen der verschiedenen Zuteilungsmethoden auf Grundlage der 1940er Volkszählung angesehen hatte, entdeckte Willcox, dass sie unter der neuen Haus–Methode am kleinsten war. Also sollte sie die bevorzugte Methode sein, argumentierte er. Aber seine Analyse hatte einen Haken. Getreu seines Vorschlags, alle Staaten in seine Betrachtung aufzunehmen, hatte Willcox auch Nevada eingeschlossen. Dieser Staat war mit einer Einwohnerzahl von nur 110.247 aber zu klein, um allein durch seine Größe einen Vertreter im Parlament zu bekommen. Er hatte seinen Sitz nur durch das Verfassungsrecht erhalten, das jedem Staat mindestens einen Vertreter zugesteht. Die Anzahl der Bürger für Nevadas einzigen Sitz war also außergewöhnlich niedrig (110.247), vor allem im Vergleich mit South Carolina, wo es für 1.899.804 Einwohner sechs Sitze gab, also jedem Sitz 316.634 Bürger entsprachen. Morse, von Neumann und Eisenhart argumentierten, dass Nevada von den Vergleichen ausgeschlossen werden müsste, da die Zuteilung des Sitzes für diesen Staat nicht auf einer der Methoden beruhte. Und nun kommt der K.–o.–Schlag: Wenn man Nevada aus den Berechnungen herausnimmt, ist die Ausdehnung bei der H–H– Methode etwas geringer. Nach der 1930er Volkszählung wäre es allerdings anders herum gewesen. Wenn man also diesen oder jenen Staat hinzu– oder herausnimmt, kann sich das Ergebnis vollständig ändern. Die Kommissionsmitglieder machten ihrer gemeinsamen Verärgerung Luft: „Um in der Sprache der Geschützfeuer zu reden“, schrieben sie in dem Gutachten, „macht der Test auf minimale Ausdehnung die Bewertung einer Methode von einigen wenigen abweichenden Schüssen abhängig. In diesem Sinn legt sie einen willkürlichen Wert fest.“ Einer solchen Zufälligkeit wollte sich die Kommission nicht unterwerfen und blieb bei ihrer Präferenz für das Hill–Huntington–Verfahren. So war die Lage gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Was auch immer ihre Vor– und Nachteile sind, die Huntington– oder Harvard–Methode ist seitdem die Methode der Wahl für den Kongress. Von allen betrachteten Verfahren stellt sie einen mittleren Weg dar und war daher die annehmbarste. Trotzdem hinterließ die ganze Angelegenheit einen faden Beigeschmack, denn auf theoretischer Ebene war die Frage ganz und gar nicht geklärt. Man konnte der Willkür durch die mathematische Ungenauigkeit des Rundens nicht entgehen. Es war nur halb ironisch gemeint, als einige Witzbolde vorschlugen, man sollte den Zufall in die Zuteilungsmethode einbauen. Sie schlugen eine Art Roulette vor, um die bruchteiligen Sitze zu vergeben. Die Breite der Fächer auf dem Roulette–Rad würde den Nachkommaanteilen der Staaten entsprechen und — rien ne va plus — der Staat, in dessen Fach die Kugel fällt, bekommt den zusätzlichen Sitz. Dies ist weniger absurd als es klingt, denn im Schnitt ist die Methode absolut unparteiisch: Auf lange Sicht bekommt jeder Staat seinen gerechten Anteil an den überzähligen Sitzen. Aber da die Zuteilungen nur alle zehn Jahre stattfinden, würde es einer sehr langen Sicht bedürfen, damit sich die Ungleichheiten herausmitteln. Und wie der bedeutende englische Ökonom John Maynard Keynes einmal bemerkte, „auf lange Sicht sind wir alle tot“.
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BIOGRAFISCHER ANHANG
Walter F. Willcox Viele Sozialwissenschaftler betrachten Willcox als den „Vater der amerikanischen Demografie“. Er begann seine Lehrtätigkeit der Statistik an der Cornell–Universität. Unter dem Titel „Angewandte Ethik“ (applied ethics) bot er 1892 an der philosophischen Fakultät einen „elementaren Kurs in statistischen Methoden mit besonderer Behandlung von Bevölkerungs– und Sterbestatistiken“ an. Es handelt sich dabei um eine der frühesten Lehrveranstaltungen in Sozialstatistik in den Vereinigten Staaten. Willcox’ Haupterrungenschaft bildete die Anwendung der noch jungen Wissenschaft der Statistik auf das Gebiet der Demografie. Nach heutigem Standpunkt kann man ihn überhaupt nicht als ausgewiesenen Statistiker bezeichnen. Laut Frank Notestein, einem früheren Studenten von Willcox, der später Leiter des Office of Population Research (Amt für Bevölkerungsforschung) an der Universität von Princeton wurde, wusste Willcox kaum, was Mittel, Median und Modus waren, und benutzte nur einfache Methoden statt hochentwickelter Techniken. Allerdings war die Statistik damals ein neues Gebiet, insofern ist dies nicht allzu überraschend. Am wich-
tigsten dürfte sein, dass er einen gesunden Respekt vor empirischen Daten hatte, und alle stimmen darin überein, dass er ein großartiger Lehrer war. Viele Wissenschaftler heute beschuldigen ihn ein Verfechter wissenschaftlichen Rassismus gewesen zu sein. Anscheinend glaubte er an die rassische Unterlegenheit der Afro–Amerikaner — er nannte sie immer noch „Negroes“, in der gleichen Weise, in der er von „Mädchen“ sprach, wo man heute respektvoll von „Frauen“ spricht — und versuchte die Notlage der schwarzen Farmer mit deren angeblicher Unterlegenheit zu erklären. Willcox blieb weit über das Alter von 90 Jahren hinaus aktiv und starb mit 103. Verschiedene Male war er Präsident der American Economic Association, der American Statistical Association und der American Sociological Association. Er gehörte als prominentes Mitglied dem äußerst elitären und wählerischen International Statistical Institute an, dessen Treffen er fast alle besuchte, sei es in Tokio, Warschau oder Rio. Sogar bei dem Treffen 1938 in Prag, das nach dem Einmarsch Hitlers in die Tschechoslowakei vorzeitig abgebrochen werden musste, war er anwesend.
Joseph A. Hill Man würde nicht erwarten, dass das Leben eines Statistikers ebenso abenteuerlich verläuft wie das Leben von etwa einem Archäologen wie Indiana Jones, aber Hills Lebenslauf scheint grau sogar im Vergleich zu den mäßigen Erwartungen, die man an Menschen seines Berufsstands stellen würde. Hill studier-
te in Harvard und wurde dann Statistiker bei der Regierung. „Die Natur seiner Arbeit war derart, dass sie wenig Gelegenheit für Öffentlichkeit bot“, liest man im Nachruf im Journal of the American Statistical Association, der dann die „mühsame und recht undankbare Aufgabe Statistiken zu erstellen und zu ver-
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arbeiten“ beschrieb, die Hill sein Leben lang ausführte. „Weitgehende Anonymität gehörte zu seiner Arbeit“, fuhr der Biograf fort, um dann nichts weiter tun zu können als Hills „nötige Sorgfalt und außerordentliche Genauigkeit“ zu preisen. Wehmütig fügt er an, dass „diese Art von Dienst keinen Ruhm erzeugt“. Mangels irgendetwas Außergewöhnlichem präsentiert er Hills Zusammenstellung eines „gut gestalteten statistischen Buchs mit deutlichen und genauen Überschriften und Titeln“ als den Höhepunkt seiner „geduldigen, geistvollen, aber unspektakulären Arbeit“. Seine Produktion umfasste ein weites Gebiet — seine statistischen Darlegungen betrafen Verbrechen, Fruchtbarkeit, Wahnsinn, Migrationsmuster, Kinderarbeit, Heirat und Scheidung — war aber ziemlich unspektakulär. „In seiner Arbeit wurde wenig höhere Mathematik oder statistische Technik erfordert“, erzählt der Biograf. Da man einen Nachruf nicht beendet, ohne wenigstens eine herausragende Fähigkeit zu erwähnen, wird Hill beschrieben als ein Meister „der Kunst, aus einer Menge von Statistiken alles bis auf den letzten Tropfen an nachweislicher Bedeutung herauszuholen“. Lobenswerterweise ließ er die Suche nach mehr Information nie die Oberhand gewinnen. Er presste Informationen aus den Zahlen aus, blieb aber dabei immer der „unerweichlichen Erkenntnis dessen, was die Zahlen beweisen können und was nicht“ treu. Besonders rühmenswert in den Augen des Biografen war Hills Selbstdisziplin, die ihn davon abhielt „das Material zu dehnen, um ir-
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gendeine Lieblingstheorie zu beweisen“. Außerdem waren seine Veröffentlichungen stets mit einer „ehrlichen und genauen Angabe der Fehlerspanne“ versehen. Wahrhaft ein tugendhafter Mann. Dann gab es natürlich die Volkszählungen. Eine ganze Generation beginnender Statistiker identifizierte Hill mit der Arbeit der Volkszählungsbehörde. Er hielt Vorträge über die Volkszählung vor der American Historical Association, der American Sociological Society, der American Statistical Association, dem nationalen Kirchenrat und er schrieb darüber in Youth’s Companion, National Republic, der New York Times und Monthly Labor Review. Außerdem war er der Autor zahlreicher interner und unveröffentlichter Dokumente über diesen oder jenen Aspekt von Volkszählungen. Als Vorsitzender des Quota Board (Quotenbehörde) trug er dazu bei, dass die Einwanderungquoten für andere Länder den Anteilen entsprechen, zu denen das amerikanische Volk seine Herkunft auf diese Länder zurückführen kann. Auch wenn er fern des Rampenlichts stand, so sollte man doch die Arbeit eines solchen pflichtbewussten Profis hinter den Kulissen nicht geringschätzen. Sein ganzes Leben war der Aufgabe gewidmet, die Qualität des Materials zu verbessern, auf dem die Staatstätigkeit aufbaut. Aufgrund dieser Vorstellung vom Dienst an der Allgemeinheit dachte er gründlich über Zuteilungsmethoden nach. Seine Ideen über dieses Thema wurden im Congressional Digest veröffentlicht.
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Edward V. Huntington Huntington wurde 1874 geboren, erhielt seine Ausbildung in Harvard, wurde Dozent am Williams College und ging dann nach Europa, um in Straßburg (damals Teil Deutschlands) seinen Doktor in Mathematik zu erwerben. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten begann seine Karriere in Harvard zunächst als Dozent und führte dann Stufe für Stufe die akademische Karriereleiter hinauf als Assistenzprofessor, außerordentlicher Professor und ordentlicher Professor. Im Gegensatz zu den meisten
seiner Kollegen in den Mathematikinstituten weltweit unterrichtete Huntington mit besonderer Freude auch Ingenieursstudenten, wofür er den zusätzlichen Titel eines „Professors der Mechanik“ bekam. Während des Ersten Weltkriegs war er in Washington, wo er sich für das Militär mit statistischen Problemen beschäftigte. Huntingtons Hauptforschungsinteresse galt den Grundlagen der Mathematik. Er schrieb wichtige Arbeiten über axiomatische Systeme in Algebra, Geometrie und Zahlentheorie.
MITGLIEDER DER NAS–AUSSCHÜSSE
Gilbert A. Bliss Bliss, Mathematikprofessor an der Universität von Chicago, wurde 1876 als Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Sein Vater war Präsident der Chicago Edison Company, des hauptsächlichen Stromlieferants für Chicago. Aber während der Depression litt die Familie unter den harten Zeiten und als junger Mann musste er sich daher durch Mandolinenspiel auf professionellem Niveau sein Studium finanzieren. Nach seiner
Promotion an der Universität von Chicago ging Bliss für ein Jahr an die damalige Hochburg der Mathematik, die Universität von Göttingen. Dort begegnete er den überragenden Riesen Felix Klein und David Hilbert. Während des Ersten Weltkriegs entwarf er Schusstafeln für die Artillerie. Bliss war vor allem für seine Arbeiten über Variationsrechnung bekannt.
Ernest W. Brown Brown wurde in England als Sohn eines Landwirts und Holzhändlers geboren. Nach seiner Ausbildung in Cambridge zog er im Alter von 25 Jahren in die Vereinigten Staaten. Brown unterrichtete zunächst Mathematik am Haverford–College in Pennsylvania, bevor er 1907 als Professor nach Ya-
le berufen wurde. Sein Hauptinteresse galt der Astronomie. Er veröffentlichte wichtige Arbeiten über die Theorie der Mondbewegung. Zum Beispiel schrieb er zuvor unerklärte Schwankungen in der Mondbahn richtigerweise unregelmäßigen Veränderungen der Erdumlaufzeit zu.
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Luther P. Eisenhart Eisenhart war Sohn eines ehemaligen Zahnarzts und ein frühreifes Kind. Am Gettysburg–College zeichnete er sich sowohl im Studium als auch in Baseball aus. Nach seiner Promotion in Mathematik an der Johns–Hopkins–Universität verbrachte Eisenhart seine akademische Karriere gänzlich an der Universität von Princeton, zunächst ab 1900 mit 24 Jahren als Dozent, dann die Karriereleiter hinaufsteigend, bis er 45 Jahre später als Direktor des mathematischen Instituts in Ruhestand ging. Als Spezialgebiete wählte er die Differentialgeometrie und, schon im Ruhestand, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Neben Forschung
und Lehre übernahm Eisenhart auch viele Verwaltungsaufgaben. Mehrere Male war er Präsident der American Mathematical Society, er war Vorstandsmitglied der American Philosophical Society, Präsident der American Association of Colleges, Herausgeber der Annals of Mathematics und der Transactions of the American Mathematical Society. Ihm wurden sieben Ehrendoktorwürden für seine Verdienste um die Mathematik und die Hochschulbildung im allgemeinen verliehen und von König Leopold III. von Belgien wurde er zum Offizier des Kronenordens ernannt.
Raymond Pearl Pearl von der Johns–Hopkins–Universität in Baltimore war einer der ersten Wissenschaftler, der statistische Methoden und Verfahren auf Probleme der Biologie anwandte. Er schrieb „Breeding Better Man” (Bessere Menschen züchten), unterstützte zunächst die Eugenik und war zahlendes Mitglied in der American Eugenics Society. Später wandte er sich gegen diese Pseudowissenschaft, und seine Kritik an der Eugenik, die er in dem einflussreichen Magazin The American Mercury veröffentlichte, brachte es in die nationalen Schlagzeilen. Sie trug ihm aber auch die Feindschaft vieler Biologen ein. Aber sein Fortschritt in den Ansichten über einen pseudowissenschaftlichen Fehltritt hielt ihn nicht von rassistischen und antisemitischen Standpunkten ab. Er war stolz darauf, wie die Johns–Hopkins– Universität mit dem Problem der Juden umging. „Seit einigen Jahren sind sehr stille und geschickte Maßnahmen ge-
troffen worden und werden für die Zukunft geplant, um unseren jüdischen Anteil gering zu halten“, schrieb er einem Freund in Harvard. Das Geheimnis bestehe nicht in einem groben Mittel wie Quoten, so wie Harvard es versuchte, sondern in der Diskriminierung. Denn „wessen Welt soll es sein, unsere oder die der Juden?“ 1927 stand Pearl im Mittelpunkt eines Falls von akademischem Nahkampf, der große Beachtung fand. Ihm war die Stelle des Leiters einer Forschungsabteilung an der Harvard–Universität angeboten worden und Pearl gab sofort seine Professur in Johns Hopkins auf, um die angesehene Stellung annehmen zu können. Dies war ein etwas voreiliger Schritt, denn ein Belegschaftsmitglied jenes Instituts, der sich durch Pearls frühere Eugenikkritik gekränkt fühlte, erhob bei Harvards Aufsichtsbehörde Einspruch gegen das Angebot an Pearl. Tatsächlich wurde, was selten vor-
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kommt, das Angebot zurückgenommen und Pearl musste bei Johns Hopkins bescheiden darum bitten, wieder eingesetzt
zu werden — was die Universität auch tat.
William Fogg Osgood Osgood wurde 1864 als Sohn eines Arztes geboren und wollte als junger Mann Altphilologie studieren. Aber nach zwei Jahren in Harvard wurde er von seinen Lehrern überredet zur Mathematik zu wechseln. Seinen Bachelor– Abschluss schloss er glänzend als zweiter von 286 Studenten ab. Nach einem weiteren Jahr in Harvard, um seinen Master–Abschluss zu erlangen, erhielt Osgood ein dreijähriges Stipendium, mit dem er in Deutschland studieren konnte. Er lernte Deutsch und verbrachte seine erste Zeit in Göttingen, wo er, wie Bliss, von der beherrschenden Person Felix Klein unter die Fittiche genommen wurde. Später ging er nach Erlangen, wo er seine Promotion abschloss. In Göttingen heiratete er Theresa Anna Amalie Elise Ruprecht, die Tochter des Besitzers eines örtlichen Verlages. Das Paar bekam drei Kinder, bevor die Ehe zerbrach und mit einer Scheidung endete. In Harvard wurde Osgood Dozent, dann Assistenzprofessor und schließlich ordentlicher Professor. Während seiner drei Jahre im Ausland hatte er viel an europäischer Mathematik aufgesogen und
half nun deren Methoden und Techniken in den Vereinigten Staaten einzuführen. Osgood hatte Gefallen an allem Deutschen gefunden, unterstützte Deutschland im Ersten Weltkrieg und gewöhnte sich sogar an das Gehabe eines deutschen Professors nachzuahmen. Zwischen 1905 und 1906 war er Präsident der American Mathematical Society. In fortgeschrittenem Alter beschloss Osgood nochmals den Bund fürs Leben zu schließen. Der schon 68-jährige Mathematiker heiratete eine vierzig Jahre alte Frau, Celeste Phelpes Morse, die geschiedene Frau seines berühmten Harvarder Kollegen, des Mathematikers Marston Morse, über den ich weiter unten mehr sagen werde. Morse war empört, als er von dieser Verbindung erfuhr. Wegen des daraus erfolgenden Skandals nahm Osgood seinen Abschied von Harvard. Zwei Jahre lang unterrichtete er in Peking, bevor er nach Massachusetts zurückkam. Heutzutage erinnert man sich hauptsächlich an ihn wegen seiner Arbeiten über Differentialgleichungen und Variationsrechnung. Er starb 1943.
John von Neumann Jancsi, wie er damals genannt wurde, wurde 1903 geboren und war ein Wunderkind. Sein Vater, ein wohlhabender Bankier in Budapest, wollte, dass sein Sohn einen praktischen Beruf erlernte. Also begann er an der ETH in Zürich Chemieingenieurwesen zu studie-
ren. Gleichzeitig, aber heimlich, studierte er — trotz einer antijüdischen Quote — Mathematik an der Budapester Universität, allerdings ohne jemals eine Vorlesung zu besuchen. Er kam nur zu den Prüfungen, die er glänzend absolvierte. 1926 erlangte er das Diplom
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in Chemieingenieurwesen an der ETH Zürich und ein Doktorat von der Universität Budapest. Es folgte ein Studienjahr bei David Hilbert am weltberühmten Mathematikinstitut der Göttinger Universität. Von Neumann galt bereits als Genie und alle, die ihm begegneten, erkannten seine überlegene Intelligenz an. „Als Mitzwanziger war von Neumann bereits weltweit in der mathematischen Gemeinschaft bekannt. Auf akademischen Konferenzen passierte es ihm, dass er als junges Genie angekündigt wurde“, schrieb sein Biograf William Poundstone. Während der Jahre von 1930 bis 1933 hatte er gleichzeitig Stellen in Deutschland und an der Princeton–Universität inne. Bei der Gründung des IAS wurde er dorthin als einer der sechs anfänglichen Mathematikprofessoren berufen. 1937 wurde von Neumann, nun „Johnnie“ genannt, in die USA eingebürgert. Er starb an Krebs im Alter von 54 Jahren. Von Neumann wird als der Vater der modernen Computer angesehen. Doch er begründete noch viele andere Disziplinen und Unterdisziplinen. Seine grundlegenden Beiträge zu Mathematik, Quantentheorie, Wirtschaftswissenschaften, Entscheidungstheorie, Informatik, Neurologie und anderen Gebieten sind zu umfangreich, als dass
sie hier aufgeführt werden könnten. Nur ein Bereich soll genannt werden. Als Berater des Manhattan Project war er an der Entwicklung der Atombombe in Los Alamos beteiligt. Er arbeitete die Theorie der „Implosion“ aus, die sich als Schlüssel des Erfolgs für die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben „Little Boy“ und „Fat Man“ herausstellte. Die Idee bestand darin, dass in einer bestimmten Weise geformter Sprengstoff Plutoniummengen unterhalb der kritischen Masse umgeben sollte. Unmittelbar nach der Detonation des Sprengstoffs dringt die Druckwelle nach innen und presst das Plutonium zusammen, so dass es die kritische Masse übersteigt. Wegen seiner Verbindung mit dem Manhattan Project (und da der an Krebs erkrankte Professor während seiner letzten Lebensmonate auf einen Rollstuhl angewiesen war) wurde von Neumann nachgewiesenermaßen zum Vorbild für Stanley Kubrick, als dieser 1963 für seinen Film die Figur des „Dr. Strangelove“ (im Film „Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“) erfand. Unter den vielen Ehrungen, die von Neumann erhielt, waren zwei Auszeichnungen durch dem Präsidenten: 1947 die Medal for Merit und 1956 die Medal for Freedom.
Marston Morse Nach seiner Promotion in Mathematik in Harvard diente Morse im Ersten Weltkrieg als Soldat in Frankreich. Für seine außergewöhnlichen Dienste im Sanitätscorps wurde ihm ein Croix de Guerre verliehen. Nach dem Krieg unterrichtete er in Cornell, Brown und Harvard, bevor er ans Institute for Advanced Study ging. Am bekanntesten ist er
für die „Morse–Theorie“, ein Gebiet innerhalb der Topologie, d.h. des Studiums der Formen. Morse erhielt zwanzig Ehrendoktorwürden und er wurde in Frankreich zum Chevalier de la Légion d’Honneur ernannt. Als Mitglied der zweiten NAS–Kommission könnte man sagen, dass auch Morse die Kontinuität zur ersten herstellte, da er der ers-
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te Ehemann der zweiten Frau von William Osgood war, der in der ersten NAS–
Kommission tätig war, dann aber davon zurücktrat.
MATHEMATISCHER ANHANG
Anhang über das Runden am geometrischen Mittel In diesem Kapitel wurde die Frage gestellt, warum das Runden am geometrischen Mittel etwas damit zu tun haben sollte, die prozentualen Unterschiede zwischen den Anzahlen der für einen Kongresssitz benötigten Wähler zu minimieren. Hier folgt nun ein Beweis der erstaunlichen Behauptung, dass beide Vorgehensweisen das gleiche Ergebnis liefern. Seien p1 , p2 , . . . , pn die Einwohnerzahlen der Staaten, sei d der Divisor und a1 , a2 , . . . , an die Zuteilung, die man dadurch erhält, dass man die Verhältnisse pi /d am geometrischen Mittel rundet. Für jeden Staat i haben wir dann
ai · (ai − 1)
pi ai · (ai + 1). d
Dies ist gleichwertig mit 1 ai · (ai + 1) ai · (ai − 1) 2 . 2 d pi p2i Da dies für alle i gilt, folgt für alle i und j ai · (ai − 1) a j · (a j + 1) . p2i p2j Nun nehmen wir in einem Widerspruchsbeweis an, dass die Zuteilung a1 , a2 , . . . , an die prozentualen Unterschiede zwischen den Anzahlen der für einen Kongresssitz benötigten Wähler nicht minimiert. Dann gibt es ein Paar von Staaten i, j, so dass eine Verschiebung eines Sitzes von i nach j den prozentualen Unterschied zwischen ihnen verringern würde. Dies bedeutet, dass a j + 1 ai − 1 ai a j < . pj pi pi p j Aber dies impliziert
ai · (ai − 1) a j · (a j + 1) > , p2i p2j
was der vorherigen Ungleichung widerspricht. Also muss die Zuteilung, die sich durch das Runden der Verhältnisse pi /d am geometrischen Mittel ergibt, die prozen-
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tualen Unterschiede zwischen den Anzahlen der für einen Kongresssitz benötigten Wähler minimieren. Nach: Peyton H. Young, „Equity in Theory and Practice“, Princeton University Press, 1995.1
1 Ich möchte Daniel Barbiero, dem Leiter der Archive der National Academy of Sciences dafür danken, dass er mir den Inhalt der hier zitierten Dokumente zugänglich gemacht hat. Die Dokumente befinden sich in dem Ordner: NAS–NRC Archives, Central File: ADM: ORG: NAS: Committee on Mathematical Aspects of Reapportionment: 1928–29.
Kapitel 11
Die Pessimisten
Wir verlassen nun die Frage der Zuteilung für eine Weile und kehren zu dem beschwerlichen Problem der Wahl eines Anführers zurück. Erinnern Sie sich an Condorcet und sein Paradoxon? Und wie sich Lewis Carroll damit abmühte? Nun, das Problem verschwand natürlich nicht, noch wurde es mürbe mit dem Alter. Falls überhaupt etwas passierte, so wurde die Sache nur noch ärgerlicher: Auftritt von Kenneth Arrow, einem der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts und Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 1972. Als herausragender Student an der Columbia–Universität dachte Arrow in den späten 1940er Jahren über seine Doktorarbeit nach. Für angehende Wirtschaftswissenschaftler war es eine aufregende Zeit: Man konnte zusehen wie neue Gebiete entstanden und konnte sie mitgestalten. Arrow wurde mitgerissen von diesen „ungestümen Tagen des Aufkommens der Spieltheorie und des mathematische Programmierens“, wie er es später formulieren sollte. Darüber vernachlässigte er allerdings seine Doktorarbeit. Er hatte große Ziele und auch seine Lehrer und Kollegen erwarteten viel von ihm, aber es war, als wäre er in einen Bann geschlagen. Keines der betrachteten Themen schien ihm herausfordernd genug. Obwohl er die nötigen Vorlesungen an der Columbia University schon 1942 abgeschlossen hatte, fehlte ihm sechs Jahre später immer noch die Arbeit. Und obwohl jeder wusste, dass er ausgezeichnet war, vergingen die Jahre, ohne dass er etwas zu Papier brachte. Doch es gab Hoffnung. Wenige Jahre zuvor hatte John von Neumann zusammen mit Oskar Morgenstern, der vor den Nazis aus Österreich geflüchtet war, am Institute for Advanced Study in Princeton ein dickes Lehrbuch vollendet, das zu einer der einflussreichsten wissenschaftlichen Arbeiten des zwanzigsten Jahrhunderts werden sollte. „Theory of games and economic behavior“ (Spieltheorie und ökonomisches Verhalten) hat seitdem einen tiefgehenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Wirtschafts– und Politikwissenschaften gehabt. Auf der Grundlage von nur einer Handvoll an Axiomen leitete die in dem Buch enthaltene Theorie, die von da an „Spieltheorie“ genannt wurde, das Zeitalter der mathematischen Wirtschaftswissenschaften ein. Was Euklid für die Geometrie getan hatte, taten von Neumann und Morgenstern für das ökonomische Verhalten.
G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_11,
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Eine der grundlegenden Annahmen ihrer neuen Theorie besteht darin, dass jeder Beteiligte über eine so genannte Nutzenfunktion verfügt. Wie wir nun sehen werden, sind Nutzenfunktionen nicht nur ein grundlegendes Konzept für das ökonomische Verhalten, sondern auch für das Verständnis von Condorcets Paradoxon. Erste Versuche ökonomisches Verhalten zu erklären gab es bereits zwei Jahrhunderte zuvor in der Arbeit des berühmten Schweizer Mathematikers Daniel Bernoulli. 1713 hatte Daniels Cousin Nikolaus die folgende Frage gestellt: Stellen Sie sich ein Spiel vor, in dem Sie eine Münze werfen. Falls sie Kopf zeigt, bekommen Sie zwei Dollar. Falls sie Zahl zeigt, werfen Sie noch einmal, und falls sie dann Kopf zeigt, bekommen Sie vier Dollar. Falls nicht werfen Sie weiter bis Kopf erscheint und bei jedem Wurf verdoppelt sich der Gewinn. Wieviel Geld würden Sie dafür bezahlen, an dem Spiel teilnehmen zu dürfen? Die meisten Menschen wären zu einem Einsatz irgendwo zwischen zwei und zehn Dollar bereit. Aber warum so wenig? Immerhin könnte das Preisgeld enorm hoch sein. Falls die Münze erst nach dem zehnten Wurf Kopf zeigt, würde die Auszahlung 1024 Dollar betragen, nach dem zwanzigsten Wurf mehr als eine Million und nach dreißig Würfen wäre es eine lässige Milliarde. Zugegebenermaßen ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, 19 oder 29 Mal hintereinander Zahl zu werfen und erst im zwanzigsten oder dreißigsten Versuch Kopf. Aber der hohe Gewinn gleicht die kleine Wahrscheinlichkeit aus. Tatsächlich fand Nikolaus Bernoulli heraus, dass die zu erwartende Prämie unendlich hoch ist! (Sie wird berechnet, indem man alle möglichen Ergebnisse mit ihren Wahrscheinlichkeiten multipliziert und dann aufsummiert: 12 · 2 + 14 · 4 + 18 · 8 + . . . = 1 + 1 + 1 + . . ., also eine unbeschränkte Summe.) Wir haben somit eine weitere paradoxe Situation: Warum ist niemand bereit tausend Dollar für die Teilnahme an diesem Spiel zu bezahlen, obwohl der zu erwartende Gewinn unendlich groß ist? Nachdem er eine Weile über die Frage nachgedacht hatte, kam Daniel Bernoulli zu der überraschenden Folgerung: Ein Dollar ist nicht immer einen Dollar wert. Auf den ersten Blick scheint dies ein Widerspruch in sich zu sein, aber wenn man es sich näher anschaut, ist es nicht so unvernünftig. Immerhin würde ein Bettler, der nur einen Dollar besitzt, einen zweiten Dollar sehr hoch schätzen, während ein Millionär von einem weiteren Dollar kaum Notiz nehmen würde. Der „Nutzen“ von Geld ist also verschieden, je nachdem wie reich jemand ist. Der Nutzen eines Dollars nimmt ab, je mehr Dollar man bereits besitzt. Daher argumentiert Daniel Bernoulli, dass man nicht die zu erwartende Prämie betrachten müsse, sondern deren Nutzen. Damit war die Suche nach einer geeigneten Nutzenfunktion eröffnet. Die Bedingungen bestehen darin, dass die Funktion anwächst — mehr ist besser als weniger, und selbst eine reiche Person hätte gerne mehr Dollar als weniger — aber dass der Nutzen eines zusätzlichen Dollars mit wachsendem Reichtum abnimmt — der millionste Dollar wird weniger geschätzt als der erste. Die beiden Anforderungen an die Form der Nutzenfunktion sind also, dass sie beständig ansteigt, aber in immer geringerem Grad. Eine vertraute Funktion, die beide Bedingungen erfüllt, ist die Logarithmus–Funktion: Sie nimmt beständig zu, aber in immer kleinerem Maße. Also setzte Daniel Bernoulli sie als eine geeignete Nutzenfunktion an. Demgemäß ist der Nutzen eines zweiten Dollars nach dem ersten 0,3, der erwartete Nutzen ei-
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nes millionsten Dollars aber nur 0,000.000.4. Wenn man das Münzwurfspiel damit berechnet, stellt sich heraus, dass der zu erwartende Nutzen des Preisgelds vier Dollar beträgt. Dieser Betrag, der mit unserer Intuition übereinstimmt, ist der Betrag, den eine Person nach Daniel Bernoullis Meinung durchschnittlich für die Spielteilnahme bezahlen sollte. Die genaue Form der Nutzenfunktion ist Ansichtssache: Verschiedene Menschen haben verschiedene Nutzen für ihr Vermögen. Daniel Bernoulli benutzte den Logarithmus nur als ein Beispiel, an dem aber das Prinzip klar wird. 1738, zwölf Jahre nach Nikolaus’ Tod, wurde Daniels Lösung des Problems in den Berichten der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften veröffentlicht. Daher wurde das Problem als „Sankt–Petersburg–Paradoxon“ bekannt. (Vergleichen Sie auch Kapitel 36 meines Buches „The Secret Life of Numbers“ um zu sehen, wie die Existenz der Versicherungsindustrie an den Nutzenfunktionen und den Anforderungen an ihre Form hängt.) *** Ab 1948 verbrachte Arrow den Sommer bei der RAND Corporation in Santa Monica, dem ersten nicht–gewinnorientierten Forschungsinstitut für Weltpolitik, das den Maßstab für alle folgenden Denkfabriken setzte. (Mehr als ein halbes Dutzend Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften arbeiteten zu verschiedenen Zeiten bei der RAND Corporation: Neben Arrow waren dies Herbert Simon (1978), Harry Markowitz (1990), John Nash (1994), Thomas Schelling (2005), Edmund Phelps (2006) und Leonid Hurwicz (2007).) Spieltheorie und Operations Research (Ablauf– und Planungsforschung) waren heiße Themen im Hauptquartier des Instituts. Der Kalte Krieg kam gerade in Fahrt und daher überrascht es nicht, dass die Denkfabrik beauftragt war zu untersuchen, wie die Spieltheorie genutzt werden könnte um internationale Konflikte und Strategien zu analysieren. Dies stellte sich als schwierige Aufgabe heraus. Wenn man den Kalten Krieg als ein (wenn auch äußerst ernstes) Spiel zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion betrachtet, was sind dann die Nutzenfunktionen der beiden Spieler? Haben Gemeinschaften wie zum Beispiel Nationen überhaupt eine Nutzenfunktion? Einzelpersonen haben sie, aber wie kann man ihre jeweiligen Vorlieben zu etwas zusammenfassen, auf das sich die Spieltheorie anwenden ließe? Plötzlich hatte Arrow das Thema seiner Doktorarbeit gefunden. Seine Erleuchtung bei RAND geschah 1948, nun musste er sich hinsetzen und alles aufschreiben. Im Oktober, gleich nach seiner Rückkehr nach Chicago, begann er ernsthaft zu arbeiten und schrieb neun Monate lang ohne Unterbrechung. Im Juni 1949 kam ein Artikel dabei heraus, der ein Jahr später unter dem Titel „A Difficulty in the Concept of Social Welfare“ (Eine Schwierigkeit im Konzept der gesellschaftlichen Wohlfahrt) im Journal of Political Economy erschien. Seine Betreuer waren zunächst verwirrt. Niemand wusste so recht, was das war und — was auch immer es war — ob es zu den Wirtschaftswissenschaften gehörte. Aber als Arrow schließlich seine Doktorarbeit vorstellte, schlug sie wie eine Bombe ein. Sie wurde zwei Jahre später von der Cowles Foundation als ein Büchlein mit dem Titel „Social Choice and Individual Values“ (Sozialwahl und individuelle Wer-
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te) veröffentlicht. Die Doktorarbeit wurde bejubelt als „kritische Bewertung der Demokratietheorie im Allgemeinen und der Wirtschaftspolitik und Sozialökonomie im Besonderen“. Sie umfasst zwar nur knapp neunzig Druckseiten, begründete aber dennoch die Theorie der kollektiven Entscheidungen (oder „Theorie der Sozialwahl“). Ihre Bedeutung wird bereits auf Seite 1 des Vorwortes deutlich; nicht weniger als fünf zukünftige Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften sind in der Danksagungsliste aufgeführt: Tjalling C. Koopmans (1975), Milton Friedman (1976), Herbert Simon (1978), Theodore W. Schultz (1979) und Franco Modigliano (1985). Arrow weist darauf hin, dass die einfachste Art der Entscheidungsfindung für eine Gemeinschaft entweder darin besteht, einer Einzelperson oder einer kleinen Gruppe die Entscheidungsgewalt für die gesamte Gemeinschaft zu überlassen, oder darin, die Wahl auf Grund einer Reihe von überkommenen Regeln zu treffen, zum Beispiel eines religiösen Verhaltenskodex. Die erste Methode ist eine Diktatur, die zweite beruht nur auf Übereinkunft. Keine von beiden ist wünschenswert, da beide die Einzelpersonen entmündigen. Die Demokratie verfügt dagegen über zwei Wege, wie Individuen am Prozess kollektiver Entscheidungsfindung teilnehmen können: Sie können wählen und damit über politische Fragen mitbestimmen und sie können die Marktmechanismen nutzen — gegen Lohn arbeiten, Güter und Dienste kaufen und verkaufen — um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Aber wie wir insbesondere aus den Schriften des Marquis de Condorcet wissen (Kapitel 6), kann der Wahlvorgang zu einem Problem führen. Durch Mehrheitsentscheidungen können Zirkel entstehen. Lassen Sie mich die paradoxe Situation durch ein Beispiel in Erinnerung rufen: Toms Präferenz für die Präsidentschaftswahl 2000 war Bush vor Gore und Gore vor Nader, Dick mochte die Kandidaten Gore, Nader, Bush in dieser Reihenfolge und Harry zog Nader Bush und Bush Gore vor. Tom: Dick: Harry:
Bush > Gore > Nader Gore > Nader > Bush Nader > Bush > Gore
Dann hat eine Mehrheit (Tom und Harry) Bush lieber als Gore, eine andere Mehrheit (Tom und Dick) hat Gore lieber als Nader und noch eine andere Mehrheit (Harry und Dick) Nader lieber als Bush. Die hier aus Tom, Dick und Harry zusammengesetzte Gemeinschaft hat Bush lieber als Gore, Gore lieber als Nader, Nader lieber als Bush, Bush lieber als Gore . . . Siehe da: Wir haben einen Zirkel! Man könnte Argumente anbringen und mit Tom, Dick oder Harry über ihre politischen Vorlieben diskutieren, aber wie es damit nun einmal steht, sind die individuellen Rangfolgen für sich völlig vertretbar. Wenn aber diese Präferenzen durch Mehrheitsentscheid in eine gemeinsame Rangfolge gebracht werden sollen, kommt etwas Widersinniges heraus. Arrow schließt daraus, dass einfache Mehrheitsentscheidungen nicht geeignet sind als Methode, um von individuellen Vorlieben zu einer Gesamtentscheidung zu kommen. Er zeigt durch Beispiele, dass auch kompliziertere Methoden, etwa solche, bei denen man bevorzugte Möglichkeiten mit Gewichten versieht und dann die Gewichte aus den Einzelentscheidungen zusammenzählt, nicht funktionieren. Wie kann man also die Vorlieben der Einzelpersonen
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zu einem gesellschaftlichen Plan verschmelzen, der die vielen Möglichkeiten, vor denen die Gesellschaft steht, in eine Rangfolge bringen kann? Die kurze Antwort ist: Es geht nicht. Aber widmen wir uns der langen Antwort. Zu Beginn seiner Doktorarbeit auf Seite 2 beschreibt Arrow das Ziel seiner Unternehmung: Er stellt die Frage, ob „es formal möglich ist eine Regel aufzustellen um von einer Menge bekannter individueller Vorlieben zu einem Muster gesellschaftlicher Entscheidungsfindung zu kommen“. Mit andern Worten: Wenn jede Einzelperson eine Nutzenfunktion hat, wie können diese Nutzenfunktionen zu einer gesellschaftlichen Nutzenfunktion verschmolzen werden? Damit eine Methode der Zusammenführung (eine „Aggregationsregel“) sinnvoll ist, muss die in Frage stehende Regel gewisse natürliche Bedingungen der erfüllen. Das Problem besteht darin, dass man die Nutzen von zweien oder mehreren Menschen nicht einfach addieren kann. Sie können noch nicht einmal verglichen werden. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel veranschaulichen. In einer Kneipe bestellen auf die Frage, was sie trinken wollen, Dwaine ein Glas Wein und Dwight einen Krug Bier. Nach seinen Vorlieben befragt, könnte Dwaine sagen, dass er nach seinem Nutzenschema Wein 5 „Nutzos“ und Bier 3 „Nutzos“ zuweist. In Dwights Weltsicht ist Bier 12 andere Einheiten wert, nennen wir sie „Nützos“, und Wein 8 „Nützos“. Kann man dann sinnvollerweise sagen, dass Dwight Bier viermal lieber als Dwaine hat? Oder dass zwei Glas Bier Dwaine und Dwight zusammen 15 „Irgendwas“ wert sind? Nein, und nochmals nein. Man kann Nutzos und Nützos nicht addieren, subtrahieren oder vergleichen. Nutzen, die verschiedene Menschen Getränken oder irgendwelchen anderen Gütern zuweisen, können nicht verglichen werden. Es ist wie mit dem Messen von Temperaturen. Sagen wir, dass es an einem bestimmten Tag in Paris 26 Grad Celsius warm ist und in San Francisco 78 Grad Fahrenheit. Offensichtlich wäre es völlig falsch zu behaupten, dass es dann in San Francisco dreimal so warm wie in Paris ist. Wenn Temperaturen auf verschiedenen Skalen gemessen werden, können sie nicht einfach dadurch verglichen werden, dass man die Zahlenwerte vergleicht. Ganz ähnlich hat jeder Mensch eine besondere, ihm eigene Nutzenskala, die mit der Nutzenskala einer anderen Person nicht verglichen werden kann. Arrow war überaus formal und peinlich genau. Um die Sache in Bewegung zu bringen, formulierte er zwei Axiome über die Art, wie Menschen Entscheidungen treffen, und fünf Eigenschaften, die vernünftige gesellschaftliche Nutzenfunktionen aufweisen sollten. Für solch eine weite und allumfassende Theorie wie die Theorie der kollektiven Entscheidungen ist dies sehr sparsam. Aber so sollte es auch sein. Nur wenige Axiome zu benötigen ist ein Gütesiegel für eine Theorie. Schließlich sind sie nur unbewiesene Annahmen, auf denen alles andere aufbaut. Je weniger solche Voraussetzungen eine Theorie braucht, desto aussagekräftiger ist sie, denn sie erklärt mehr mit weniger. Und je weniger Axiome es gibt, desto geringer ist die Gefahr, dass sie sich untereinander widersprechen, wodurch die Theorie inkonsistent würde. Als typisches Beispiel eines axiomatischen Systems kann man die euklidische Geometrie zitieren. Im dritten Jahrhundert vor Christus stellte der griechische Ma-
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thematiker Euklid einen Satz von fünf Axiomen auf, aus denen die gesamte Geometrie der Ebene abgeleitet werden konnte. Er behauptete auch, dass dieser Satz nicht verkleinert werden kann: Jedes der fünf Axiome wird benötigt. Unter den Mathematikern herrschte allerdings das Gefühl vor, dass eines davon überflüssig sein könnte, nämlich das so genannte Parallelenaxiom, das aussagt, dass es zu jeder Geraden und jedem beliebigen Punkt auf der Ebene genau eine parallele Gerade durch diesen Punkt gibt. Sie glaubten, dass diese Aussage (und damit die ganze ebene Geometrie) allein aus den anderen vier Axiomen ableitbar wäre. Jahrhundertelang versuchen Mathematiker den Axiomensatz auf vier Axiome zu reduzieren, bis im neunzehnten Jahrhundert festgestellt wurde, dass das Parallelenaxiom für die Geometrie der Ebene tatsächlich unentbehrlich ist. Ohne dieses Axiom erscheint etwas vollkommen Neues auf der Bühne: die nichteuklidische Geometrie. Zum Beispiel müssen sich auf einem kugelartigen Planeten auch „möglichst parallele“ Geraden irgendwo schneiden. Wenn man einen Punkt auf dem Äquator nimmt und eine Linie durch ihn zieht, die genau nach Norden weist, und einen weiteren Punkt 100 Kilometer weiter im Westen und auch durch ihn eine genau nach Norden weisende Linie nimmt, dann werden sich diese parallel scheinenden Linien doch am Nordpol und am Südpol schneiden. Euklids Parallelenaxiom gilt nicht auf der Kugel. So erhält man mit dem Parallelenaxiom die euklidische Geometrie und andere Geometrien ohne das Parallelenaxiom. Im Vergleich zu fünf Axiomen, die man für die euklidische Geometrie braucht, und vier Axiomen für die auch nichteuklidischen Geometrien sind nur zwei Axiome zur Beschreibung vernünftiger Entscheidungsfindungen sicher nicht übermäßig viele. Offensichtlich hat Arrow keinen unnötigen Ballast mitgeführt. Was sind nun diese beiden Axiome, diese unbewiesenen Annahmen, die sowohl unentbehrlich als auch hinreichend dafür sind, die ganze Theorie kollektiver Entscheidungen abzuleiten? Das erste Axiom sagt aus, dass jemand, der vor zwei Alternativen steht und eine Entscheidung zu fällen hat, stets in der Lage ist, einen Vergleich zwischen den beiden Alternativen zu treffen: Entweder zieht er die eine der anderen vor oder die andere der einen oder er steht beiden gleichgültig gegenüber. Ausnahmsweise sind Äpfel und Birnen vergleichbar, zumindest in Hinsicht auf den Nutzen, den sie einem Individuum bringen. Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang an Buridans Esel, der zwischen zwei gleichartigen Hafersäcken verhungerte. Dieses Tier erfüllte Arrows Axiom bis ins Äußerste: Indem es eher starb, als sich einem der beiden Säcke zuzuwenden, zeigte das arme Tier, dass es keinen der beiden Säcke dem anderen vorzog. Das zweite Axiom betrifft das Problem, das uns verfolgt, seit wir die Arbeit des Marquis de Condorcet besprochen haben: zirkuläre Vorlieben. Es ist vorstellbar, dass jemand Saft lieber als Milch hat, Milch lieber als Wasser, sich dann aber dafür entscheidet, Wasser dem Saft vorzuziehen. In einer vollkommenen Welt sollte dies nicht auftreten und Arrow setzt als gegeben voraus, dass die Vorlieben eines vernünftigen Wesens transitiv sind. Dies ist eine ausgefallene Art zu sagen, dass sich Präferenzen übertragen: Falls Saft Milch vorgezogen wird und Milch Wasser, dann muss Saft auch Wasser vorgezogen werden. Während in einer Gruppe von Perso-
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nen durch Mehrheiten Zirkel auftreten können, darf dies also in Arrows System bei Individuen nicht der Fall sein. Die einzigen Anforderungen, die Arrow an Entscheidungsträger stellt, sind also, dass sie stets eine Wahl treffen können und dass diese Entscheidungen keine Zirkel ergeben. Die beiden Axiome sind sehr einsichtig; viel einfacher kann man es sich nicht vorstellen. (Jedoch gibt es mit dem ersten Axiom ein subtiles Problem — siehe dazu den Anhang über das Auswahlaxiom). Wir können nun zur kollektiven Nutzenfunktion weitergehen. Arrow war der Meinung, dass die Anforderungen, die er an individuelle Entscheidungen stellt, auch für Entscheidungen von Gruppen sinnvoll sind. Wie kann man nun von den individuellen Vorlieben zu einer kollektiven Entscheidung der Gruppe kommen? Da Nutzen nicht aufsummiert werden können, braucht man etwas Raffinierteres. Eine Regel, nach der individuelle Präferenzen in eine „gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion“ (d.h. kollektive Nutzenfunktion) zusammengeführt werden, muss bestimmte Bedingungen erfüllen, um akzeptabel zu sein. Wie wir sehen werden, sind diese Bedingungen auch ziemlich einsichtig: Sie entsprechen dem gesunden Menschenverstand und stimmen mit unserer Vorstellung von Gerechtigkeit und demokratischem Vorgehen überein. Die erste Bedingung läuft unter dem technisch klingenden Namen „uneingeschränkter Bereich“. Sie sagt aus, dass es keine weiteren Einschränkungen geben darf an die persönlichen Nutzenfunktionen, die zusammengeführt werden sollen, außer den beiden vorhin erwähnten Axiomen. Die Regel soll also für alle möglichen Kombinationen von individuellen Vorlieben funktionieren. Keine individuelle Rangordnung darf von vornherein ausgeschlossen werden, solange sie nur die beiden Axiome erfüllt. Auch wenn diese Anforderung vernünftig klingt, ist sie doch nicht immer erfüllt. Manche Rangordnungen werden aus kulturellen oder religiösen Gründen ausgeschlossen, oder es könnte sein, dass die Verfassung gewisse Rechte garantiert, obwohl jeder etwas anderes vorziehen würde. Die Bedingung ist ebenfalls verletzt, falls man sich bei einem System von Stichwahlen stets darauf beschränkt, nur zwei Personen zur Wahl zu haben. Das schwerwiegendste Problem tritt allerdings auf, falls die Bedingung des uneingeschränkten Bereichs erfüllt ist. Falls es den Wählern gestattet ist die zur Auswahl stehenden Möglichkeiten in eine beliebige Reihenfolge zu bringen (immer unter der Bedingung, dass die individuellen Vorlieben transitiv sind), dann können zusammen Zirkel entstehen. Wir haben dies an zahlreichen Beispielen im Buch gesehen. Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll machte einen Vorschlag, wie man Zirkel aufbrechen kann, indem man die Rangordnung von einigen Wählern missachtet (siehe Kapitel 8). Dies wäre eine Verletzung von Arrows erster Bedingung. Arrows nächste Bedingung wird die „Monotonie–Anforderung“ genannt. Sie sagt folgendes aus: Wenn eine Einzelperson den Rang einer Möglichkeit erhöht, während er sich bei allen anderen Personen nicht ändert, dann kann die Gesellschaft als Ganzes nicht dadurch darauf reagieren, dass sie den Rang dieser Möglichkeit verringert. Als Veranschaulichung: Falls die Gesellschaft insgesamt entscheidet, dass Limonade Orangensaft vorzuziehen ist, und ein Individuum verändert seine eigenen Vorlieben und zieht nun auch Limonade vor statt wie früher Orangensaft,
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dann kann es nicht passieren, dass Limonade von der Gesellschaft plötzlich niedriger als Orangensaft eingestuft wird. Die dritte von Arrow aufgeführte Anforderung besteht darin, dass die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion nicht durch unwesentliche Faktoren beeinflusst sein darf. Falls A der Alternative B vorgezogen wird, dann sollte das zusätzliche Auftreten von C die Entscheidung zwischen A und B nicht beeinflussen. Die Situation kann durch die folgende Szene in einem Restaurant veranschaulicht werden. (Diese Anekdote wird dem Philosophen Sidney Morgenbesser von der Columbia– Universität zugeschrieben.) „Heute gibt es Apfelkuchen und Schokoladenkuchen“, informiert der Kellner den Gast, der die geringe Auswahl beklagt und sich für Apfelkuchen entscheidet. Kurz darauf kommt der konfuse Kellner zurück und ergänzt, er habe vergessen, dass es auch Eis gäbe. „Dann nehme ich lieber Schokoladenkuchen“, erwidert der Kunde nach kurzem Überlegen. Der arme Kellner ist nun völlig verwirrt und dies mit Recht. Offensichtlich hatte der Gast gar keine Lust auf Eis, da er sich, auch als es angeboten wurde, nicht dafür entschied. Aber die plötzliche Verfügbarkeit von Eis drehte seine Entscheidung zwischen den anderen beiden Möglichkeiten, Apfel– oder Schokoladenkuchen, um. Unsere Intuition sagt uns, dass dies einfach nicht passieren sollte. Und das ist genau die Meinung, die Kenneth Arrow vertrat. Er setzte fest, dass eine kollektive Rangordnung nicht durch unwesentliche Alternativen beeinflusst werden sollte, und formulierte diese Anforderung als „Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen“. Keine Einzelperson und auch keine Gruppe von Menschen sollte, falls sie sich vernünftig verhält, jemals eine Entscheidung umkippen, nur weil eine niedriger eingestufte und damit irrelevante Alternative ins Spiel kommt. So vernünftig das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen auch klingt, es stellt eine strenge Anforderung dar, die nicht immer erfüllt ist. Gerade im Zusammenhang mit Wahlen ist es oft verletzt. Sehen wir uns an, wie das geschehen kann: Es könnte sein, dass man in einer Wahl die ökologisch gesinnte Kandidatin dem sozial orientierten Kandidaten vorzieht und sich in einer Stichwahl zwischen den beiden ganz klar für sie entscheiden würde. Aber wenn dann plötzlich ein kapitalistischer Mitbewerber ins Rennen einsteigt, könnte man sich umentscheiden und mit seiner Stimme doch den Sozialisten unterstützen, damit am Ende nicht der Kapitalist siegt. Aus diesem Grund hat Ralph Nader, US–Präsidentschaftskandidat für die Grüne Partei, immer so wenige Stimmen bekommen, obwohl viele Menschen seine Werte unterstützen. Weil ihnen klar ist, dass er keine Siegchance hat, stimmen Wähler aus vollkommen vernünftigen Gründen für den in ihrer Rangfolge nächsten Kandidaten. (Aber im Jahr 2000 waren nicht genug Leute „vernünftig“ — womit ich keine politische Meinung ausdrücken will. Die hartnäckigen „grünen“ Wähler, die Nader die Treue hielten, nahmen hinreichend viele Stimmen von Al Gore weg, um George Bush zum Sieg zu verhelfen. Dessen Rekord an globaler Erwärmung spricht für sich.) Deshalb kann auch das Erscheinen eines ernsthaften dritten Kandidaten wie zum Beispiel Ross Perot verheerende Auswirkungen haben. Wie auch immer, Arrow ist wie der Kellner für die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen.
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Die vierte von Arrow geforderte Bedingung an eine gute Aggregationsregel ist die „Souveränität der Bürger“. Dies bedeutet, dass die Entscheidung den Wählern nie aufgezwungen wird. Es darf niemals vorkommen, dass die Gesellschaft X vor Y setzt, ganz gleich wie die Vorlieben der Individuen zwischen X und Y aussehen. Die Bedingung des Nicht–Auferzwingens (non-imposition), wie sie oft genannt wird, bringt es mit sich, dass kein Ergebnis von vornherein feststehen kann. Jedes Ergebnis, das denkbar ist, kann auch durch die Zusammengeführung gewisser Einzelrangfolgen erreicht werden. Im täglichen Leben ist diese Bedingung oft verletzt. Auch wenn alle Einzelpersonen eine Möglichkeit einer anderen vorziehen, sind doch manche Entscheidungen tabu. Zum Beispiel gibt es Steuern, die den Bürgern vorgesetzt werden, ob sie wollen oder nicht, und in den meisten Ländern bedeutet eine rote Ampel ausnahmslos „Stopp!“, selbst wenn alle Fahrer der Ansicht sein sollten, dass ein Rechtsabbiegen keine Gefahr birgt. Schließlich und am wichtigsten: „Die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion darf nicht diktatorisch sein.“ Mit diesem entscheidenden Postulat fordert Arrow, dass die Aggregationsregel ein grundlegendes demokratisches Prinzip erfüllt. Eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion wird „diktatorisch“ genannt, falls das Ergebnis der Aggregationsregel immer den Präferenzen einer bestimmten Person entspricht, unabhängig von den Vorlieben der anderen Personen. Niemand würde das hinnehmen; wir lassen nicht zu, dass unsere Entscheidungen von irgendjemandem diktiert werden. Andererseits hat der Regierungschef, sobald er gewählt ist, das Sagen, ob es uns gefällt oder nicht. Aber in einer Demokratie kann eine solche Lage nicht andauern: Falls die Entscheidungen des Präsidenten oder der Kanzlerin nicht den (wie auch immer zusammengefassten) Willen des Volkes ausdrücken, wird er oder sie nicht wiedergewählt werden. Nachdem diese fünf äußerst vernünftigen Bedingungen angegeben sind, muss man nur noch eine Aggregationsregel ausfindig machen, die sie alle erfüllt. Aber bei diesem Versuch beißt man auf Granit. Im Kapitel 5 seiner Abhandlung gibt Arrow einen strengen mathematischen Beweis dafür, dass es unmöglich ist eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion ausfindig zu machen, sobald es mehr als zwei Wahlmöglichkeiten gibt. Ohne Ausnahme verletzt jeder Versuch die Rangordnungen einer Gruppe von Menschen in eine kollektive Auswahl zusammenzuführen mindestens eines der fünf Axiome. Diese Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Seit Platon und Plinius, Llull und Kues, Borda und Condorcet hatte man gehofft, irgendwann ein Verfahren zu entdecken, mit dem man die jeweiligen Rangordnungen der einzelnen Wähler zusammenführen könnte. Arrows Doktorarbeit. machte diesen Hoffnungen ein Ende. Man kann ganz einfach keine passende Methode finden: Es gibt keine Aggregationsregel, die gleichzeitig alle fünf Bedingungen erfüllt. Arrow bemühte sich zunächst um Optimismus und versuchte einen Satz zu formulieren, der retten sollte, was zu retten war. Der Satz besagt, dass die Methode des Mehrheitsentscheids die Anforderungen an eine Aggregationsregel erfüllt, wenn es nur zwei Auswahlmöglichkeiten gibt. Möglicherweise im Versuch trotz der pessimistischen Nachricht optimistisch zu klingen nannte Arrow den Satz das „Möglichkeitstheorem“, womit er andeutete, dass unter sehr eingeschränkten Umständen,
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nämlich bei nur zwei Auswahlmöglichkeiten, die Mehrheitswahl ein annehmbares kollektives Auswahlverfahren darstellt. Das Theorem könnte man als eine Bestätigung des anglo–amerikanischen Zwei–Parteien–Systems ansehen. Es erfüllt alle Bedingungen außer der ersten: Wenn man die Auswahl auf nur zwei Alternativen beschränkt, ist der Bereich nicht uneingeschränkt. Aber bald musste Arrow das Unausweichliche hinnehmen. In Theorem 2 formulierte er die zentrale Behauptung seiner Doktorarbeit, eine Aussage, die das allgemeine Vertrauen auf den Kopf stellen sollte. Es besagt das folgende: Falls es mindestens drei Auswahlmöglichkeiten gibt, dann ist jede Aggregationsregel, die vernünftige Bedingungen erfüllt, entweder auferzwungen oder diktatorisch. Die Welt der Demokratie war nun für immer verändert. Allein die Diktatoren konnten erleichtert aufatmen: Für ihren Regierungsstil entstanden keine Probleme. Arrow brauchte nur acht Seiten für einen strengen Beweis seines Satzes, der ein Fragezeichen hinter die Theorien der Sozialwahl, der Wohlfahrtsökonomie und der Politikwissenschaften setzte. Der Satz hätte eigentlich „Unmöglichkeitstheorem“ heißen müssen und so wurde er später in der Literatur auch üblicherweise genannt, obwohl Arrow bei seinen ursprünglichen Bezeichnungen blieb. Siehe den mathematischen Anhang (Seite 170) für eine Idee davon, wie Arrow den Satz bewies. Natürlich ist der Mehrheitsentscheid, den wir über die Jahrhunderte so lieb gewonnen haben, auch nur eine von den vielen inakzeptablen Aggregationsregeln. Dies war allerdings keine Neuigkeit. Condorcet war sich bereits darüber im Klaren, dass vollständig vernünftige Präferenzsysteme von drei oder mehr Wählern insgesamt zu Zirkeln führen können. Mehrheitswahlen verletzen daher die Bedingung des unbeschränkten Bereiches: Nur wenn gewisse Kombinationen von Einzelpräferenzen ausgeschlossen werden, können Zirkel vermieden werden. Aber dann kommt es wirklich dicke: Kein anderes, noch so kompliziertes Verfahren verhältnismäßiger Teilhabe kann das Paradoxon des Wählens umgehen. Die Souveränität der Wähler ist einfach mit kollektiver Vernunft nicht verträglich. Arrow erinnert daran, dass man einen Ausweg aus dem Dilemma für möglich halten könnte. Indem man die Nutzenfunktionen der verschiedenen Wähler vergleicht und abändert, könnte man vielleicht eine gemeinsame Rangordnung der Auswahlmöglichkeiten rechnerisch konstruieren. Aber dieser Weg ist ausgeschlossen, da man die Nutzen verschiedener Menschen nicht addieren oder vergleichen kann. Irgendwo muss man nachgeben: Mindestens eine der fünf Bedingungen muss fallen gelassen werden. Schließt man Bedingung 1 aus (uneingeschränkter Bereich), dann kann die Mehrheitswahl als Aggregationsregel dienen, welche die anderen vier Bedingungen erfüllt. Aber dann muss man bereit sein Zirkel hinzunehmen. Lässt man Bedingung 4 (Nicht–Auferzwingen) weg, dann wird man im Sowjet–Stil durch vorgegebene Gesetze, Regeln, Tabus und Gewohnheiten regiert. Keine besonders verlockende Aussicht. Oder man übergeht Bedingung 5 (keine Diktatur). Aber wer möchte einen Diktator? Es bleiben zwei Möglichkeiten. Zum einen könnte man die Monotonie–Bedingung fallen lassen. Aber dies würde bedeuten, dass die Gesellschaft insgesamt eine Auswahlmöglichkeit herabstufen könnte, nachdem sie von einer oder mehreren Einzelpersonen hochgesetzt wurde. Dies liefe der Intuition äußerst zuwider. (Es er-
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innert an das Alabama–Paradoxon: Das Parlament wird um einen Sitz vergrößert und ein Bundesstaat bekommt dadurch weniger Vertreter.) Also werden wir diese Bedingung nicht weglassen. Schließlich gibt es noch die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen. Sie ist die umstrittenste der Bedingungen und man könnte darüber nachdenken, sie fallen zu lassen, um die Demokratie zu retten. Schließlich wird sie auch von Einzelpersonen immer wieder verletzt. Aber dies ist auch keine verlockende Aussicht, da es irrationale Handlungen zur Folge hätte, wie etwa den falschen Nachtisch zu bestellen oder statt Laurel nun Hardy zu unterstützen, nachdem Goofy aufgetreten ist. Auch andere erkannten das Dilemma und suchten nach einem Ausweg aus der Patsche. Lassen Sie mich zwei Beispiele anführen. Der schottische Ökonom Duncan Black betrachtete die Möglichkeit, die Präferenzlisten der Bürger einzuschränken. Nehmen wir an, die Alternativen, zwischen denen die Menschen auswählen können, lassen sich anhand eines Parameters in einer Reihe anordnen. Zum Beispiel könnte man die Menge der politischen Parteien von der extremen Linken über die Linke, die Mitte, die gemäßigten Konservativen bis zu den Ultrakonservativen anordnen. Für solche Fälle und wenn bei jeder Einzelperson die Vorlieben einen einzigen Scheitelwert annehmen — zum Beispiel, wenn jemand die Mitte allen Parteien sowohl zur Rechten wie zur Linken vorzieht — bewies Black, dass die Mehrheitswahl alle Bedingungen von Arrow erfüllt, vorausgesetzt es gibt eine ungerade Anzahl von Wählern. Der Preis dafür ist, dass Black den Bereich, aus dem die Bürger auswählen dürfen, einschränkt, beziehungsweise die möglichen Reihenfolgen, in die sie die Alternativen bringen dürfen. Dadurch verletzten die Wähler Arrows erste Bedingung des unbeschränkten Bereichs. Falls aber eine neue Partei auftaucht wie die Grünen oder eine Schwulenpartei, die sich nicht in das Links–Rechts–Schema einordnen lässt, oder falls einige Wähler sowohl die extremen Linken als auch die Mitte den gemäßigten Linken vorziehen, dann würde Blacks Verfahren, Einzelpräferenzen durch Mehrheitsentscheid zusammenzuführen, wieder Opfer möglicher Zirkel werden. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zeigte dann der aus Indien stammende Ökonom und Philosoph Amartya Sen, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, dass es eine Aggregationsregel gibt, die alle Bedingungen von Arrow erfüllt außer der Transitivität. (Zur Erinnerung: Transivitität folgt aus dem Axiom des unbeschränkten Bereichs und bedeutet beispielsweise, dass ein Ausschuss für öffentliche Bauten, wenn er eine Oper einem Fußballstadion und ein Fußballstadion einer Eisbahn vorzieht, dann auch die Oper der Eisbahn vorziehen muss.) Er untersuchte die Auswirkungen davon, dass man die Transitivität zur „Quasi–Transitivität“ abschwächt (wenn der Ausschuss sich zwischen Oper und Fußballstadion nicht entscheiden kann und auch nicht zwischen Fußballstadion und Eisbahn, darf er doch die Oper der Eisbahn vorziehen). Es gab andere heldenhafte Versuche, diese oder jene Bedingung nur ein kleines bisschen abzuschwächen. Letztendlich waren aber alle Versuche, die für eine sinnvolle Aggregationsregel geforderten Bedingungen zu verbessern, zu erweitern oder anzupassen, nur faule Kompromisse.
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Arrows Entdeckung war äußerst verstörend. Es gibt keine demokratische Verfassung mit einem stimmigen Verfahren kollektiver Entscheidungen; nur eine Diktatur kann ein paar wenige harmlos klingende Bedingungen erfüllen. Wir haben die Wahl zwischen fünf Arten von Pest oder der Cholera. Entweder akzeptieren wir Zirkel oder eine Diktatur oder auferzwungene Rangfolgen oder eine von zwei Arten irrationalen Handelns oder wir werfen die Demokratie zur Tür hinaus. Wir können nicht alles haben. *** In seinem wegweisenden Buch zeigte Arrow, dass die einzelnen Präferenzordnungen einer Bevölkerung nicht zu einer kollektiven Präferenzordnung zusammengeführt werden können. Als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, ist es nur ein Teil der Geschichte und Schlimmeres stand noch bevor. Arrow hat die Vorlieben der Wähler als gegeben angenommen. Aber was passiert, wenn die Wähler keine wahrheitsgemäßen Angaben machen? Was, wenn ihnen klar wird, dass ihre erste Wahl keine Chance auf den Sieg hat, und sie dann vorgeben eine andere Wahlmöglichkeit oder einen anderen Kandidaten zu unterstützen, um so ihre zweite oder dritte Wahl nach vorne zu bringen? Als jemand Jean Charles Borda darauf aufmerksam machte, dass sein Verfahren ganz leicht manipuliert werden könnte durch eine Gruppe von Wählern, die sich entschließen den aussichtsreichsten Kandidaten seines Siegs zu berauben, war er entrüstet: „Mein Verfahren ist nur für ehrliche Menschen“, schnauzte der Marineoffizier den Fragenden an. Aber was geschieht, wenn die Wähler zugunsten des Zweitbesten nicht ehrlich sind? Mit diesem Problem hat sich bereits Plinius der Jüngere im ersten Jahrhundert n. Chr. herumgeschlagen und die Wähler ringen im 21. Jahrhundert immer noch damit. Während der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2000 beispielsweise zogen es zahlreiche Unterstützer von Ralph Nader vor, ihre Stimme für Al Gore abzugeben anstatt für ihre wahre erste Wahl, in der Hoffnung zumindest George Bush zu schlagen. Um solche Fehldarstellungen der wahren Gesinnungen zu unterbinden mussten Wähler in früheren Zeiten und im Mittelalter oft beeiden, dass sie ehrlich abstimmen würden. Arrow beschäftigte sich nicht mit dem Problem des strategischen Wählens. Aber in den frühen 1970er Jahren beschlossen unabhängig voneinander zwei Doktoranden diese Frage zu untersuchen: der Philosoph Allan Gibbard und der Wirtschaftswissenschaftler Mark Satterthwaite. Genauer fragten sie sich, wie empfindlich Wahlsysteme gegenüber der Manipulation durch Wähler sind. Können Wähler den Ausgang beeinflussen, indem sie ihre wahren Absichten falsch wiedergeben? Beide betrachteten einen einfacheren Rahmen als Arrow. Während es bei Arrow um eine vollständige Reihenfolge aller Kandidaten oder Alternativen ging, vom besten bis zum schlechtesten, zeigten Gibbard und Satterthwaite, dass es bereits dann Schwierigkeiten gibt, wenn nur ein einzelner Sieger gesucht wird. 1969 kündigten Kenneth Arrow, Amartya Sen und der Philosoph John Rawls eine gemeinsam von den Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften und für Philosophie der Harvard–Universität organisierte Seminarreihe über „Entscheidungsfindung in Organisationen“ an. Es war ein großartiges Ereignis, bei dem die besten Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen vom MIT und aus Harvard Woche für
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Woche im Publikum saßen. Nur zwei Studenten waren beim ersten Treffen anwesend, einer davon Gibbard. Als Arrow ankündigte, dass man auch von ihnen erwartete im Laufe des Seminars einen Vortrag zu halten, eilte der andere Student (dem Autor persönlich bekannt) zum Prüfungsamt um sich von der Veranstaltung wieder abzumelden. Gibbard blieb, und als sein Vortrag an die Reihe kam, sprach er über das Thema seiner Doktorarbeit, die Manipulation von Wahlen. Alle im Publikum einschließlich des anderen Studenten, der weiterhin zu den Vorträgen kam, waren tief beeindruckt und damit war Gibbards akademische Karriere so gut wie sicher. Vier Jahre später, 1973, veröffentlichte er den richtungsweisenden Artikel „Manipulation of voting schemes: a general result“ (Manipulation von Wahlverfahren: ein allgemeines Ergebnis) in Econometrica, einer der bedeutendsten Zeitschriften auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften. Weiter unten werde ich mehr über den Inhalt des Artikels sagen. Gibbard wusste nichts von Mark Satterthwaite, der in den frühen 1970er Jahren als Doktorand an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität von Wisconsin an seiner Dissertation über genau das gleiche Thema arbeitete, und Satterthwaite kannte Gibbards Artikel nicht. Schließlich kam er erst 1973 zur Veröffentlichung, im gleichen Jahr, in dem Satterthwaites eigene Doktorarbeit von der Universität von Wisconsin angenommen wurde. Als eine bearbeitete Version seiner Dissertation im Journal of Economic Theory erschien, war es bereits 1975. Durch den Hinweis eines Gutachters, der die Einreichung für das Journal of Economic Theory prüfte, hörte Satterthwaite da zum ersten Mal von Gibbards zuvor veröffentlichter Arbeit. Trotzdem ist das Ergebnis heute als „Gibbard–Satterthwaite–Theorem“ bekannt und das mit Recht, denn beide haben darüber nachgedacht und gleichzeitig am Beweis gearbeitet, freilich mit unterschiedlichen Methoden. Einer der Unterschiede ist, dass Gibbard die fälschliche Darstellung der eigenen Präferenzen als Manipulation beschreibt, wohingegen Satterthwaite sie eine Strategie nennt. Was sind nun die schlechten Nachrichten an dem Satz? Gibbard und Satterthwaite bewiesen, dass jedes demokratische Wahlverfahren, bei dem es darum geht, aus mindestens drei Kandidaten einen Sieger zu wählen, manipuliert werden kann. Indem ein Wähler seine wahren Vorlieben versteckt und vorgibt einen Kandidaten vorzuziehen, den er in Wirklichkeit gar nicht will, kann er den Ausgang der Wahl beeinflussen. Ganz gleich welche Wahlmethode benutzt wird: einfache oder absolute Mehrheitswahl, Borda–Wahl, Stichwahlen, was auch immer — das Gibbard–Satterthwaite–Theorem besagt, dass ein Lügner dazu beitragen kann, einen Kandidat zu wählen, der keine Chance hätte, wenn alle Wähler völlig ehrlich wären. (In der Regel braucht man ein ganzes Bündnis von Lügnern, aber wenn die Ergebnisse sehr knapp sind, könnte ein Lügner ausreichen.) Also gibt es kein Wahlverfahren, das sowohl demokratisch als auch „strategiesicher“ ist! Nur eine einzige Methode kann nicht manipuliert werden. Es dürfte inzwischen keine Überraschung mehr sein, dass dies die Diktatur ist. In einem totalitären Regime ist es natürlich gleichgültig, ob man ehrlich oder unehrlich abstimmt, da der Diktator am Ende sowieso das Sagen hat. Und der Diktator braucht nicht zu lügen, da am Ende sowieso Gesetz wird, was er sich wünscht.
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Ist es nun unmoralisch die eigenen wahren Vorlieben zu verstecken und dadurch den angeblich ehrlichen Ausgang zu verfälschen? Wenn man in einer Gesellschaft lebt, muss man oft Kompromisse eingehen. Dies geschieht in allen Bereichen des täglichen Lebens: welche Arbeit wählen, welches Haus bauen, wohin in Urlaub fahren? Noch viel mehr Paare würden sich trennen, wenn die Ehepartner nicht zurückstecken würden und sich mit einer einvernehmlichen Entscheidung begnügten, die nicht ihre erste Wahl sein muss. Es könnte sein, dass eine Familie am Ende weder zum Boxkampf, noch zum Ballett, noch zum Picknick oder in ein schickes Restaurant geht, sondern sich zu einem Kinoabend mit anschließendem Imbiss um die Ecke entschließt, und niemandem schadet es. Warum sollte es bei Wahlen anders sein? Seine erste Wahl aufzugeben um für die zweite Wahl zu stimmen, ist auch nur solch ein Kompromiss. Andererseits ist es unfair, wenn man in einer Ausschusssitzung unehrlich ist und die Tagesordnung so festlegt, dass man seinen Lieblingskandidaten oder seine Lieblingslösung an die Spitze bringt. Zum Beispiel könnte ein elfköpfiges Gremium in einem K.–o.– Verfahren den neuen Sozialdezernenten zu bestimmen haben. Sie hätten lieber Alice als Bruce und haben dafür vier Verbündete; fünf andere Ausschussmitglieder ziehen Bruce Alice vor und niemand mag Dofus außer Frau Dofus. Nun tun Sie zwei Dinge: Erst legen Sie die Tagesordnung so fest, dass in der ersten Runde Bruce gegen Dofus antritt. Bei der Stimmabgabe lügen Sie und Ihre Freunde über ihre wahren Vorlieben und stimmen für Dofus. Zusammen mit der Stimme von Frau Dofus gewinnt Herr Dofus mit sechs gegen fünf. Die nächste Runde zwischen Alice und Dofus wird dann ein Spaziergang für Alice. Dies wäre offensichtlich kein Kompromiss, sondern ganz sicher eine Manipulation eines Entscheidungsprozesses. Die beiden Professoren, deren Namen der Satz trägt, versahen die Handlungen der Wähler nicht mit einem Etikett. Trotzdem hat Gibbards Gebrauch des Wortes „Manipulation“ einen negativen Anklang, während die Bezeichnung als „Strategie“ bei Satterthwaite einige der beunruhigenden Aspekte beschönigt. Wie so oft hängt es vom Kontext ab. *** Erst Arrow, dann Gibbard und Satterthwaite . . . Die Lage der Dinge war wahrhaftig pessimistisch und leider gibt es kein Happy End in diesem Kapitel. Schlimmer noch, auch der Ausblick ist trübe, denn es wird noch mehr schlechte Nachrichten geben. Im nächsten Kapitel werden wir auf das Problem der Sitzzuteilung zurückkommen und dabei sehen, was noch alles unmöglich ist. BIOGRAFISCHER ANHANG
Kenneth Joseph Arrow Arrow wurde 1921 in New York geboren und verbrachte seine Jugend und Studienjahre im Big Apple. Die Familie lebte in Wohlstand, bis fast ihr ganzes
Vermögen durch die große Depression vernichtet wurde. Während der nächsten zehn Jahre verbrachte die Familie in Armut. Arrow bestand die Aufnah-
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meprüfung der Townsend Harris High School in Queens, einer für ihre hohen akademischen Standards bekannten Schule, die er von 1933 bis 1936 besuchte. Die Lehrer waren von großem Format, viele waren promoviert und hofften auf Universitätsprofessuren berufen zu werden. Daher ist es nicht so überraschend, dass die Schule drei Nobelpreisträger hervorbrachte: Arrow selbst, seinen Klassenkameraden Julian Schwinger (Nobelpreis für Physik 1965) und Herbert Hauptmann (High–School– Abschluss 1933, Nobelpreis für Chemie 1985). Als Arrow dann aufs College gehen sollte, konnte die Familie es sich nicht leisten. Zum Glück bot das City College of New York für Kinder von Immigranten und armen Familien ein gebührenfreies Studium an. Arrow blieb sein Leben lang dankbar für die ihm gebotene Gelegenheit. Selbst in der für die Nobelstiftung über dreißig Jahre später verfassten Autobiografie vergaß er nicht „diese ausgezeichnete kostenlose Institution“ zu erwähnen. Am City College studierte er im Hauptfach Mathematik mit den Nebenfächern Geschichte, Wirtschaft und Erziehungswissenschaften und wollte Mathematiklehrer werden. Aber nach seinem Abschluss, für den er die goldene Pell–Medaille für die besten Noten erhielt, gab es im New Yorker Schulbereich keine freien Stellen. Also schrieb es sich in die Columbia– Universität ein, um weiter Mathematik zu studieren. 1941 erhielt Arrow seinen Master–Grad und wusste anschließend nicht so genau, was er tun sollte. Zu seinem großen Glück hatte er eine Veranstaltung in mathematischer Ökonomie bei dem Statistiker Harold Hotelling besucht, der eine Stelle an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften innehatte. Diese Begegnung sollte ent-
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scheidend werden: Arrow ersah sich die mathematische Ökonomie als das Gebiet, dem er sich in Zukunft widmen wollte. Er bekam auch ein Stipendium der Fakultät, aber dann wurde das Leben vom Zweiten Weltkrieg unterbrochen. 1942 wurde er als Wetteroffizier in die Armee aufgenommen und stieg bis zum Rang eines Hauptmanns in der Gruppe für Langzeitprognosen auf. Eines Tages nutzten Arrow und seine Kollegen ihre akademische Ausbildung und beschlossen ihre Arbeitsergebnisse einem statistischen Test zu unterwerfen. Sie untersuchten, ob sie ihr Arbeitsziel, nämlich die Anzahl der Regentage für einen Monat vorherzusagen, erreichten. Wenig überraschend fanden sie heraus, dass dies nicht der Fall war. Sie schickten daraufhin dem General der Luftwaffe einen Brief, in dem sie zur Auflösung der Gruppe für Langzeitprognosen rieten. Die Antwort kam ein halbes Jahr später: „Der General weiß sehr wohl, dass ihre Prognosen nichts taugen. Aber sie sind für Planungsfragen nötig.“ Also fuhr die Gruppe fort Sonnen– und Regentage vorauszusagen mit Methoden, die ebenso gut waren wie Münzwürfe. Arrow verließ 1946 die Luftwaffe. Etwas Positives ergab sich trotzdem aus Arrows Arbeit bei der Air Force, nämlich sein erster wissenschaftlicher Artikel, der den Titel „On the optimal use of winds for flight planning“ (Über die optimale Nutzung des Winds für die Flugplanung) trägt und im Journal of Meteorology 1949 veröffentlicht wurde. Nach dem Krieg setzte Arrow seine wissenschaftliche Arbeit an der Columbia–Universität fort. Weil er die Entbehrungen, die seine Familie während der Depression erdulden musste, nicht vergessen hatte, suchte er nach einem soliden, bodenständigen Beruf. Eine Zeit-
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lang spielte er mit dem Gedanken Aktuar für Lebensversicherungen zu werden und absolvierte sogar eine Reihe von Aktuarsprüfungen. Nachdem er eine Weile ernsthaft nach einer Arbeitsstelle in der Versicherungsbranche gesucht hatte, riet ihm ein älterer Kollege davon ab und Arrow entschloss sich dazu, eine wissenschaftliche Karriere anzugehen. 1947 trat er an der Universität von Chicago der Cowles Foundation für Forschung in den Wirtschaftswissenschaften bei. Dort erlebte er „eine glanzvolle intellektuelle Atmosphäre . . . mit eifrigen jungen Ökonometrikern und mathematisch interessierten Wirtschaftswissenschaftlern . . . “. Ebenfalls dort begegnete er auch der jungen Doktorandin Selma Schweitzer, die er bald darauf heiratete. Sie erhielt von der Cowles–Stiftung ein spezielles Stipendium für Frauen, die quantitative Arbeiten im Gebiet der Sozialwissenschaften durchführten. Ursprünglich war das Stipendium bevorzugt für „Frauen aus der Episkopalkirche“ ausgeschrieben, aber die kirchliche Mitgliedschaft wurde glücklicherweise als Bedingung fallen gelassen, den Selma war wie Ken jüdischen Glaubens. Nach seiner Promotion erhielt Arrow 1949 eine Stelle an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Statistik der Stanford–Universität und stiegt dann die Karrierestufen hinauf, bis er schließlich Professor für Wirtschaftswissenschaften und Professor für Operations Research wurde. Abgesehen von einem elfjährigen Zwischenspiel an der
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Harvard–Universität und Gastaufenthalten in Cambridge, Oxford, Siena und Wien verbrachte Arrow seine ganze Karriere bis zu seiner Emeritierung 1991 in Stanford. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem 1957 die John Bates Clark Medal, die jedes Jahr einem herausragenden Wirtschaftswissenschaftler verliehen wird, und natürlich 1972 den Nobelpreis. Er wurde in die National Academy of Sciences und in die American Philosophical Society aufgenommen und erhielt mehr als zwanzig Ehrendoktorwürden. Sogar der Vatikan ehrte ihn, indem er ihn zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften ernannte. Während seiner reichhaltigen Karriere diente Arrow auch im Rat der Wirtschaftsweisen der US–amerikanischen Regierung, war Präsident der Econometric Society und Mitglied vieler Gelehrtengesellschaften. Im Ruhestand wurde es nicht ruhiger, auch als emeritierter Professor blieb er aktiv. Zum Beispiel leitete er viele Sommer lang ein Fortgeschrittenenseminar in Wirtschaftstheorie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. 1986 verlieh das Institute of Management Science und die Operations Research Society of America Arrow den John–von–Neumann–Theorie– Preis. Die Laudatio hob hervor, dass „sein blitzschneller Verstand, sein bewundernswerter Reichtum an Wissen, seine elegante Prosa und Sprache und seine große menschliche Wärme unzählige Studenten, Kollegen und Mitarbeiter inspiriert und bezaubert haben“.
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Allan Gibbard Gibbard wurde 1942 in Providence, Rhode Island, geboren, wuchs in West Virginia auf und studierte Mathematik am Swarthmore College. Er schloss mit einem Bachelor of Arts ab mit Nebenfächern Physik und Philosophie. Dann schloss er sich dem Friedenskorps in Afrika an. Zwei Jahre lang unterrichtete er Mathematik und Physik am Achimota–Gymnasium, einer Eliteschule in Accra in Ghana. Zurückgekehrt in die USA wandte er sich wieder seinem Nebenfach im College zu, der Philosophie, und wurde darin 1971 an der Harvard–Universität promoviert. Als Philosophieprofessor, zunächst an der Universität von Chicago, dann in Pittsburgh und in Michigan, versuchte Gibbard die Natur ethischer Urteile zu bestimmen und die Bedeutung ethischer Aussagen zu definieren. Gibbard hat bedeutende Fortschritte zur Ethik, Metaphysik, Sprachphilosophie und der Identitätstheorie beigetragen. Philosophen sind es gewohnt, sich in ihren Abhandlungen in hochfliegen-
de Gedankengebiete zu begeben, stellen oft Fragen über Fragen, anstatt sie zu beantworten, und lassen den Bereich des Bodenständigen und Jetzigen weit hinter sich. Gibbard passt in dieses Bild, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Auch wenn seine Bücher „Wise Choices, Apt Feelings“ (Kluge Entscheidungen, angemessene Gesinnungen) von 1990 und „Thinking How to Live“ (Nachdenken über die Art zu leben) von 2003 praktische Ratschläge im Stil der Ratgeberliteratur zu versprechen scheinen, ist dies absolut nicht der Fall. Aber von Artikeln wie „Norms for Guilt and Moral Concepts“ (Normen für Schuld und ethische Begriffe), „Preference and Preferability“ (Vorzug und Vorzuziehendes), „Truth and Correct Belief “ (Wahrheit und richtige Überzeugungen) würde man nicht erwarten, dass Gibbard sich zu solchen nüchternen Themen herablässt wie die Art Wahlen zu manipulieren. Aber genau das tat er und die zu Beginn seines Studiums erlernte Mathematik kam ihm dabei sehr zustatten.
Mark Satterthwaite Satterthwaite schloss mit einem Ba- ment der Northwestern University, die chelor of Arts in Wirtschaftswissen- er abgesehen von einem Semester als schaften am California Institute of Tech- Gastprofessor am Caltech nie mehr vernology (Caltech) ab und ging dann nach ließ. Er arbeitete sich die KarriereleiWisconsin für seinen Master of Arts und ter hinauf, begann als Assistenzprofesdie Promotion. Seine Dissertation wur- sor, noch bevor ihm offiziell der Doktorde 1973 eingereicht und angenommen grad verliehen war, und stieg auf bis zum und trägt den Titel „The Existence of Fakultätsvorstand und Lehrstuhlinhaber Strategy-Proof Voting Procedures“ (Die für Management im Krankenhaus– und Existenz von strategiesicheren Abstim- Gesundheitswesen. Seine Interessen lamungsverfahren). Nachdem er den Dok- gen und liegen in der Mikroökonomie, torgrad erlangt hatte, bekam er eine Stel- der Ökonomie industrieller Organisation le an der Kellogg School of Manage- und Gesundheitsökonomie.
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MATHEMATISCHER ANHANG
Zu Arrows Beweis des Unmöglichkeitssatzes Der Beweis beginnt mit der Definition einer Menge von Individuen als „maßgeblich“ für die Auswahl zwischen x und y, sofern die Gesellschaft x vor y vorzieht, falls alle Mitglieder der maßgeblichen Menge dies tun (und zwar unabhängig davon, was die anderen Teile der Gesellschaft vorziehen, und unabhängig von den Vorlieben hinsichtlich der verbleibenden Möglichkeiten). Aus den fünf Bedingungen, die die Aggregationsregel erfüllen muss, leitet Arrow dann fünf Folgerungen für maßgebliche Mengen ab. Eine davon sagt beispielsweise aus, dass die Gesellschaft als Ganzes eine maßgebliche Menge bildet. Der Beweis davon ist einfach. Falls jede Einzelperson in einer Gesellschaft lieber Grappa als Amaretto hat, dann muss also auch die Gesellschaft als Ganzes Grappa dem Amaretto vorziehen. Es ist schwieriger die anderen Schlussfolgerungen zu erklären, daher werde ich sie hier nicht aufführen. Aber — Sie können Arrow hier beim Wort nehmen — es sind wirklich unmittelbare Folgerungen aus den fünf Bedingungen, die eine Aggregationsregel zu erfüllen hat. Nachdem er diese fünf Folgerungen aufgestellt hat, jongliert Arrow mit den Alternativen, zwischen denen die Wahl zu treffen ist, und mit Mengen von Einzelpersonen, wobei er immer annimmt, dass die fünf Anforderungen an eine vernünftige Aggregationsregel erfüllt sind. Nach einer Weile erreicht er plötzlich einen Widerspruch: Unter gewissen Bedingungen kommt für eine Menge von Einzelpersonen heraus, dass sie gleichzeitig sowohl maßgeblich als auch nicht maßgeblich ist. Dies kann natürlich nicht sein. Als Folgerung ergibt sich, dass die fünf an eine Aggregationsregel gestellten Bedingungen nicht alle gleichzeitig gelten können. In einer späteren Version des Beweises ersetzte Arrow die Monotonie–Bedingung und die Bedingung des Nicht–Auferzwingens durch die etwas schwächere „ParetoBedingung“. Ihr Name geht auf einen italienischen Soziologen und Ökonomen aus dem neunzehnten Jahrhundert zurück, Vilfredo Pareto, der verschiedene Versionen dieser Bedingung formulierte: Falls jeder eine Möglichkeit höher als eine andere einstuft, dann darf diese Möglichkeit in der kollektiven Rangordnung nicht niedriger eingestuft werden. Zur Veranschaulichung: Falls jeder einzelne lieber Kaffee als Tee trinkt, dann darf es nicht sein, dass die Gesellschaft als Ganzes Tee Kaffee vorzieht. Es gibt eine stärkere Variante: Falls alle gleichgültig gegenüber Kaffee und Tee sind außer einer Person, die Tee vorzieht, dann sollte die Gemeinschaft als Ganzes schon Tee vorziehen. Die Pareto–Bedingung gehört wie auch die Monotonie–Bedingung in gewissem Sinne zur Demokratie, weil sie bewirken, dass die kollektive Auswahl auf die Präferenzen der Einzelnen eingeht. Genauer gesagt besteht Pareto darauf, dass die Gemeinschaft als Ganzes A vor B vorziehen muss, wenn der Wechsel von A nach B eine einzelne Person glücklicher macht, ohne irgendjemand anderen zu verletzen. Schließlich wiegt die nun besser gestellte Person mit ihrem Zugewinn alles andere auf. Die Pareto–Bedingung hängt eng mit dem Begriff des „Pareto–Optimums“ zusammen, das einen ökonomischen Zustand beschreibt, in dem man die Situation von keinem verbessern kann, ohne gleichzeitig einen anderen schlechter zu stellen.
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Das Auswahlaxiom In der mathematischen Logik gibt es ein äußerst berühmtes wie umstrittenes Postulat, das so genannte „Auswahlaxiom“, das auf subtile Weise mit Arrows erstem Axiom in Verbindung steht. Das Auswahlaxiom wurde 1904 von dem deutschen Mathematiker Ernst Zermelo aufgestellt. Wenn eine unendliche Ansammlung von Mengen gegeben ist, von denen jede eine gewisse Anzahl von Elementen enthält, so besagt es, dass man dann aus jeder Menge gleichzeitig ein Element auswählen kann. Falls man etwa unendlich viele Paare an Handschuhen vor sich hätte, könnte man dies mit einer Regel wie „von jedem Paar der linke Handschuh“ erreichen. Aber falls man unendlich viele Sockenpaare gegeben hätte, gäbe es ein Problem, weil der rechte von dem linken Socken nicht zu unterscheiden ist. Eine Regel wie „von jedem Paar der linke Socken“ könnte man daher nicht aufstellen: Man fände sich in der Rolle von Buridans Esel wieder. Das Auswahlaxiom liefert einen Ausweg aus dieser Zwickmühle. Ohne ein konkretes Verfahren oder eine Auswahlregel anzugeben, setzt es einfach fest, dass es immer eine Möglichkeit gibt, gleichzeitig aus den unendlich vielen Mengen jeweils ein Element auszuwählen. In mathematischen Beweisen wird das Auswahlaxiom oft vorausgesetzt. Manchmal sind sich weder Autor noch Leser ganz bewusst, dass man gerade aus einer Gruppe von Objekten jeweils ein Mitglied auswählt. Bei einer endlichen Anzahl von Mengen kann man einfach von einer zur nächsten Menge fortschreiten und jedesmal wahllos auf eines der Elemente zeigen. Aber für unendlich viele Mengen braucht man eine Regel. „Nimm das größte Kind aus jeder Klasse“ oder „nimm das kalorienärmste Getränk an jeder Bar“ sind annehmbare Regeln. Aber „nimm ein Streichholz aus jeder Schachtel“ ist fragwürdig, denn diese Regel gibt nicht an, wie solch eine Auswahl (für unendliche viele Schachteln gleichzeitig) getroffen werden kann. Dafür braucht man das Auswahlaxiom. Nun aber zu Arrows erstem Axiom. Es besagt, dass ein Entscheidungsträger je zwei Alternativen miteinander vergleichen kann. Selbst wenn er sich einem Paar Socken gegenüber sieht, kann er einen von beiden als den bevorzugten Socken auswählen. Also behandelt Arrows Axiom Socken und Handschuhe in der gleichen Weise (so wie es auch das Auswahlaxiom tut). Aber es gibt einen Unterschied zwischen Arrows Axiom und dem Auswahlaxiom. Denn Arrows Axiom erlaubt es nicht nur, eine Alternative der anderen vorzuziehen, sondern auch sich beiden gegenüber neutral zu verhalten. Gleichgültigkeit ist eine gültige Haltung, die Entscheidungsträger werden also nicht wie Buridans Esel verhungern.
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Gödel und das Unmöglichkeitstheorem Die Art und Weise, in der das Unmöglichkeitstheorem demokratische Prinzipien in Aufruhr brachte, erinnert an ein ähnliches Ereignis zwanzig Jahre zuvor. Ein junger Mann in Wien hatte für die Mathematik getan, was Arrow für die Sozialwissenschaft und Politiktheorie tat. 1931 veröffentlichte der Logiker Kurt Gödel in der deutschen Zeitschrift Monatshefte für Mathematik und Physik einen Artikel mit dem Titel „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme“, der zeigt, dass es in einem mathematischen System Sätze geben kann, die gelten, aber nicht aus den Axiomen des Systems heraus bewiesen werden können. (Gödels Artikel bezieht sich auf die imposante Arbeit Principia Mathematica von Alfred North Whitehead und Bertrand Russell.) Gödels Unvollständigskeitssatz, wie das Theorem später genannt wurde, beweist, dass ein axiomatisches System unter gewissen Umständen nicht gleichzeitig widerspruchsfrei und vollständig sein kann, und beendete damit alle Versuche die gesamte Mathematik auf eine axiomatische Grundlage zu stellen. Damit erreicht Gödel für die Mathematik, was Arrows Unmöglichkeitstheorem für die Sozialwahltheorie tat. Eine auf einer Handvoll an Axiomen beruhende Aggregationsregel kann nicht einige wenige vernünftige Anforderungen erfüllen und gleichzeitig demokratisch sein. (Zum allgemeinen Unbehagen könnte man ergänzen, dass Werner Heisenberg mit seiner Unschärferelation vier Jahre zuvor, also 1927, etwas Ähnliches für die Phyik getan hatte.) Es gibt eine wohlbekannte Anekdote über den bedeutenden Logiker, die einen Zusammenhang mit dem gerade Besprochenen haben könnte. Gödel verließ Österreich während des Zweiten Weltkriegs und fand am Institute for Advanced Study in Princeton ein neues Zuhause. 1948 entschloss er sich, nicht wieder in sein Heimatland zurückzukehren, und bewarb sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft. Seine Kollegen Albert Einstein und Oskar Morgenstern, selbst eingebürgerte Amerikaner, begleiteten den weltfremden Mathematiker zum entscheidenden Gespräch bei der Einwanderungsbehörde. Auf dem Weg dorthin instruierten sie ihn bezüglich der amerikanischen Verfassung. Gödel hatte sie in der Nacht zuvor studiert und verbrachte die Fahrt damit darzulegen, dass das ehrenwerte Dokument eine Diktatur ermöglichen könnte. Einstein und Morgenstern war klar, dass der Einwanderungsbeamte diese Art von Argument nicht schätzen würde, und überredeten Gödel auf diesem Punkt nicht zu bestehen, falls er darüber befragt würde. Glücklicherweise beachtete Gödel die Warnung und bekam ordnungsgemäß die Staatsbürgerschaft zuerkannt. Es ist nicht überliefert, worin die Hintertür für eine Diktatur bestand, die Gödel entdeckt zu haben glaubte. Aber vielleicht, ganz vielleicht, war es die Vorstellung, dass das von allen Amerikanern hochgeschätzte demokratische Eine– Person–eine–Stimme-Mehrheitswahlsystem zu Zirkeln führen könnte, daraus zu einer Revolution und schließlich zur Diktatur?
Kapitel 12
Die Quotarier
Wir kehren nun zurück zu dem frustrierenden Thema der Zuteilung. Im vorigen Kapitel habe ich von Kenneth Arrow erzählt, der bewiesen hat, dass jede Wahlmethode, die sinnvolle Rationalitätsbedingungen erfüllt (zum Beispiel Zirkel zu vermeiden) entweder auferzwungen oder diktatorisch ist, und von Allan Gibbard und Mark Satterthwaite, die gezeigt haben, dass jede demokratische Wahlmethode manipuliert werden kann. Dieses Kapitel wird leider weitere schlechte Nachrichten bringen: Auch eine faire und gerechte Verteilung der Kongresssitze ist eine mathematische Unmöglichkeit. Nachdem 1912 die Größe des US–Parlaments auf 435 Sitze festgeschrieben worden war, stellte das Alabama–Paradoxon keine Gefahr mehr dar. Und nach der Aufnahme von Alaska und Hawaii 1959 wurde es unwahrscheinlich, dass neue Bundesstaaten der Union beitreten würden, also war auch das Parteizuwachsparadoxon kein Problem mehr. Aber die Bevölkerung nahm weiter zu und somit konnte das Wählerzuwachsparadoxon nicht umgangen werden. Und natürlich bleiben alle Ungerechtigkeiten, die beim Ab– oder Aufrunden der Sitzzahl auftreten. Auch wenn der Kongress sich bemühte, nach Möglichkeit die Meinungsverschiedenheiten unter der Decke zu halten, war das Problem nie wirklich verschwunden. Nach der Volkszählung von 1950 hätte Kalifornien auf Kosten von Kansas einen Sitz gewonnen, wäre das Webster–Willcox–Verfahren (alias W–W– oder Cornell– Methode) angewandt worden. 1960 hätte North Dakota einen seiner zwei Sitze an Massachusetts verloren und zehn Jahre später, 1970, hätten Kentucky und Colorado auf Kosten von South Dakota und Montana jeweils einen zusätzlichen Sitz erhalten, wäre die Cornell–Methode in Gebrauch gewesen. Von Zeit zu Zeit gab es Widerspruch. Nach der 1980er Volkszählung hätte Indiana nach der W–W–Methode einen elften Sitz sicher gehabt und schlug Krach. Das Parlament überlegte tatsächlich, ob es die Zuteilungsmethode ändern sollte — New Mexico hätte dann einen Sitz verloren — aber die Gesetzesinitiative kam nicht wirklich in Gang. Besonders hoch schlugen die Emotionen nach der Volkszählung von 1990. Dieses Mal kam durch das Hill–Huntington–Verfahren (alias H–H– oder Harvard– Methode) der Staat Montana schlecht weg, der einen seiner zwei Parlamentssitze verlor. Montana schätzte dies ganz und gar nicht und verklagte die Regierung, geG.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_12,
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nauer gesagt das die Sitzzuteilung verwaltende Wirtschaftsministerium. Dummerweise hätte Montana auch mit der W–W–Methode seinen zweiten Sitz verloren, also musste der Staat nach anderen Wegen suchen, um Beweismaterial für sein Anrecht auf einen zweiten Sitz zusammenzutragen. Die Anwälte wurden schließlich fündig und gruben die Dean–Methode aus (siehe Kapitel 10), die zuvor niemals benutzt oder ernsthaft erwogen worden war. Sie hatte allerdings einen Vorteil: Sie hätte Montana einen zusätzlichen Sitz gebracht (und die Anzahl der Sitze vom Staat Washington wäre stattdessen von neun auf acht geschrumpft). Die Juristen bauten ihre Beweisführung auf der Dean–Methode auf, die Klage wurde vor dem erstinstanzlichen Bundesgericht in Montana verhandelt und — man höre und staune! — der Bundesstaat war erfolgreich! Ein Gremium aus drei Richtern befand bei einer abweichenden Stimme, dass das Verfahren der gleichen Proportionen zu einer ungerechtfertigten Abweichung vom Ideal der gleichmäßigen Repräsentation führte. Aber damit war die Regierung nicht glücklich und focht das Urteil vor dem obersten Gerichtshof an. Die Richter in Washington DC verwarfen einstimmig das Urteil der niedereren Instanz. Bundesrichter John Paul Stevens verkündete das Urteil. Er endete mit den Worten: Der Entschluss, die Methode der gleichen Proportionen zu übernehmen, wurde vom Kongress nach Jahrzehnten der Erfahrung, des Ausprobierens und der Debatte über das Wesen der Verfassungsanforderungen gefällt. Unabhängige Gelehrte unterstützten sowohl die grundlegende Entscheidung, ein festes Verfahren vorzusehen, das nach jeder Volkszählung anzuwenden ist, als auch die spezielle Entscheidung, dafür die Methode der gleichen Proportionen zu benutzen. Ein halbes Jahrhundert lang waren die Ergebnisse dieser Methode von den Bundesstaaten und der Nation akzeptiert worden. Die Geschichte deckt also unsere Schlussfolgerung, dass der Kongress die umfassende Befugnis hatte, 1941 das gesetzliche Verfahren in Kraft zu setzen und nach der Volkszählung von 1990 die Methode der gleichen Proportionen anzuwenden.
Zur großen Erleichterung des Bundesstaates Washington konnte sich das Harvard–Verfahren wieder einmal behaupten. Etwas Überraschendes geschah nach der Volkszählung des Jahres 2000: Niemand beschwerte sich. Wie konnte das geschehen? Sahen plötzlich alle die Weisheit von H–H ein? Sicher nicht. Aber es ergab sich zufälligerweise wieder, dass die W–W–Methode für alle 50 Bundesstaaten die gleiche Zuteilung lieferte wie die H–H–Methode. Also regte sich niemand auf oder zumindest konnte kein Staat die Methode für die Sitzverluste verantwortlich machen. Trotz einer Ruhepause im Streit zwischen den Verfechtern und Gegnern der verschiedenen Methoden blieb ein Gefühl des Unbehagens bestehen. Obwohl die Hill– Huntington–Methode stillschweigend akzeptiert wurde, hauptsächlich weil es nun einmal so festgelegt war, fühlte sich niemand wohl damit, dass für die Zuteilung der Kongresssitze der theoretische Unterbau fehlte. Es wäre wünschenswert, den Vorzug einer Methode über eine andere anders zu rechtfertigen als durch juristische Ratsamkeit und politische Bequemlichkeit. Dieses Vakuum rief die Akademiker dazu auf, die Grundlagen für eine exakte Theorie der Zuteilung zu legen. Zwei Mathematiker, Michel L. Balinski und H. Peyton Young, stellten sich dieser Herausforderung.
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Balinski war Mathematikprofessor an der City University of New York, als er Young zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle als Assistenzprofessor an der Graduiertenschule einlud. Beide kamen sofort glänzend miteinander aus. Als Young zu Balinskis Haus fuhr, beendete dieser gerade ein Interview mit französischen Fernsehjournalisten, wovon Young äußerst beeindruckt war. Anscheinend konnte mathematische Forschung mit politischem Einfluss verbunden sein. Als Young dann als Nachwuchsdozent an das Graduate Center of the City University of New York berufen wurde, beschlossen er und Balinski zusammenzuarbeiten. Auch wenn beide in Mathematik promoviert waren, so waren beide doch in ihrer Ausbildung, ihrer Lehre und Gutachtertätigkeit überaus interdisziplinär. Diese breite Erfahrung kam ihnen für die bevorstehende Tätigkeit sehr zu Nutze. Eines von Balinskis Spezialgebieten war die ganzzahlige Optimierung (genauer: Integer Programming), ein Teil des Operations Research (Ablauf– und Planungsforschung). Dieses Gebiet wurde vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt und stammte aus dem Militärwesen, wo Logistik, Lagerung, Planung und Optimierung vorrangige Aufgaben sind. Aber Operations Research erlangte bald auch in vielen anderen Bereichen große Bedeutung, zum Beispiel im Ingenieurwesen und im Unternehmensmanagement. Während die gleichzeitig entwickelte Spieltheorie hauptsächlich von theoretischem Interesse war, wurde Operations Research unmittelbar auf praktische Probleme angewandt. Sobald irgendetwas unter eingeschränkten Ressourcen minimiert oder maximiert, also optimiert werden muss, liefert Operations Research das Werkzeug dafür. Optimierungsprobleme gibt es überall im täglichen Leben um uns herum. Geschäftsleben, Haushalt, Schule, Technik oder Verkehr sind nur wenige der Gebiete, in denen wir uns beständig darum bemühen, etwas zu maximieren: Einkommen, Durchschnittsnoten, Gewinne, Kraft, Geschwindigkeit, Vergnügen usw. In anderen Situationen will man vielleicht Größen wie Ausgaben, Anstrengung, Laufentfernung usw. minimieren. Eine der Techniken aus dem Werkzeugkasten des Operations Research ist das lineare Programmieren. Immer dann, wenn man etwas optimieren möchte, was irgendwelchen Einschränkungen unterliegt — wie zum Beispiel bei einem beschränkten Budget Investitionen zu maximieren — benutzt man lineares Programmieren. Bei Fragestellungen des linearen Programmierens besteht die Lösung aus reellen Zahlen, zum Beispiel die Anteile der verschiedenen Komponenten, wenn man eine Legierung maximaler Stärke herstellen möchte. Die Probleme werden aber viel schwieriger, wenn die Lösungen ganze Zahlen sein müssen. Denken Sie an die teuflisch schweren diophantischen Gleichungen, für die also nur ganzzahlige Lösungen gesucht werden. Es ist ganz leicht so viele Lösungen, wie Sie nur möchten, für die Gleichung x3 + y3 = z3 anzugeben, wenn für die Variablen reelle Zahlen stehen dürfen. Aber falls für x, y und z ganze Zahlen ungleich null eingesetzt werden sollen, ist die Gleichung nicht lösbar, was Fermat zu zeigen versuchte und was Andrew Wiles dann gelang. Etwas ähnliches passiert, wenn die Größen, über die man zu entscheiden hat, ganzzahlig sein müssen. Wenn zum Beispiel eine Fluggesellschaft beschließt, wieviele Flugzeuge sie kauft, wieviele Strecken sie befliegt, wieviele Mannschaften sie
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einsetzt, dann können die Lösungen nicht irgendwelche reellen Zahlen sein, sondern müssen ganze Zahlen sein. Schließlich kann die Fluggesellschaft nicht 17,6 Flugzeuge kaufen, 2,4-mal am Tag von Memphis nach Dallas fliegen und 0,8 Piloten in Bereitschaft halten. Seitdem George Dantzig 1947 den Simplex–Algorithmus entwickelt hat, ist es nicht mehr schwierig Lösungen für Fragestellungen des linearen Programmierens zu finden, aber die Aufgabe wird viel anspruchsvoller, wenn die Lösungen aus ganzen Zahlen bestehen müssen. Es gibt aber auch Werkzeuge um Entscheidungsprobleme zu behandeln, deren Lösungen ganzzahlig sein müssen. Balinski wurde zu einem der weltbesten Experten in dieser Disziplin, dem Integer Programming. Diese Erfahrung kam ihm zusammen mit seiner interdisziplinären Weltsicht sehr gelegen, als er die Zuteilungen von Kongresssitzen studierte. Bei der Begegnung mit Young war Balinski in keiner guten Verfassung. Er hatte intensiv an einem Buch gearbeitet, das seine Arbeiten über das Integer Programming enthalten sollte, als eines Tages ein Feuer sein Büro zerstörte und alle seine Aufzeichnungen und Bücher verbrannte. Man kann sich sehr gut den Schmerz und die Frustration von Balinski vorstellen, als er sah, dass alle seine Bemühungen zunichte waren. Die Vorstellung alles, was er bereits getan hatte, noch einmal zu tun widerte ihn an und so suchte er nach einer neuen Herausforderung. Als der Direktor der Mathematikabteilung des Graduate Center an der City University of New York nach einem Freiwilligen suchte, um eine einsemestrige Veranstaltung für zweihundert Studienanfänger zu halten, meldete sich Balinski. Das Graduate Center wagte ein Experiment mit den Erstsemestern. Diese Studenten hatten weder Mathematik noch eine Naturwissenschaft als Hauptfach und die Vorlesung war ihre einzige Mathematikvorlesung. Sie sollten dadurch eine Vorstellung von der Bedeutung der Mathematik bekommen. Niemand an der Fakultät war darauf erpicht, diese Aufgabe zu übernehmen, aber für Balinski, der immer noch am Verlust seines Materials über die ganzzahlige Optimierung litt, war es genau das, was er benötigte. Diese Vorlesung bot eine Gelegenheit, die praktische Bedeutung der Mathematik zu vermitteln ohne die Last, eine vorgeschriebene Menge an Stoff und Techniken zu lehren. Was Balinski nun noch brauchte, war ein Problem, das die Studenten als wichtig und bedeutend anerkannten. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, kam er auf das perfekte Thema: die Zuteilung der Kongresssitze. Es war aus zwei Gründen ideal geeignet: Zum einen würde ein Verfassungsproblem von den Studenten ohne Zögern als bedeutend anerkannt werden. Zweitens: „Fast jeder ist bereit eine Lösung für das Problem vorzuschlagen“, erinnerte sich Balinski viele Jahre später. „Oft erweist sie sich als schlechter Vorschlag und befeuert so die Debatten und Auseinandersetzungen, was im Hörsaal ideal ist.“ Balinski begann die Vorlesung vorzubereiten. Während er sich anschaute, was in dem Gebiet getan und geschrieben worden war, wurde ihm bald klar, dass die immer noch aktuelle H–H–Methode suspekt war, trotz der formellen Unterstützung durch die National Academy of Sciences. Als wahrer Mathematiker beschloss er, dass man eine axiomatische Herangehensweise benutzen müsse, um das tatsächlich gerechteste Verfahren herauszufinden. Er warb Peyton Young an, um mit ihm das Thema zu bearbeiten.
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Ihre Zusammenarbeit ergab schließlich das weithin gepriesene Buch Fair representation: Meeting the ideal of one man, one vote (Gerechte Repräsentation: wie man dem Ideal von „eine Person, einer Stimme“ entspricht), das 1982 von Yale University Press veröffentlicht wurde. Es war die erste ernsthafte wissenschaftliche Studie des Zuteilungsproblems, seitdem die Gründungsväter die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten — die beiden Gutachten der National Academy of Sciences eingeschlossen. Es ist bemerkenswert, dass das Buch 2001 in einer seitenidentischen zweiten Auflage herauskam. Nicht viele wissenschaftliche Werke werden zwanzig Jahre später erneut gedruckt unter Beibehaltung des ursprünglichen Materials (abgesehen von der Verbesserung einiger Druckfehler). Übrigens dürfte diese Monografie die einzige sein, die jemals eine seitenlange Besprechung in einer Entscheidung des obersten amerikanischen Gerichtshofs erhielt. Das erklärte Ziel der Autoren war es, mathematische Argumentationsweisen auf eine Frage der öffentlichen Politik anzuwenden, „ähnlich zu der in der Mathematik verwendeten axiomatischen Herangehensweise, bei der es darum geht, logische Schlussfolgerungen aus gewissen allgemeinen Prinzipien aufzudecken“. Auf den ersten Blick scheint es ein einfach zu lesendes Buch zu sein, mit vielen geschichtlichen Exkursen und Zahlenbeispielen, aber der scheinbaren Einfachheit widerspricht seine Bedeutung. Auch wenn man keine schwierigere Mathematik braucht, um den Argumenten der Autoren zu folgen, als nur einfache Arithmetik, geht es doch um herausfordernde Probleme und raffinierte Beweise. Aber falls Sie erwarten, dass das Buch eine Antwort auf die Frage gibt, welches Zuteilungsverfahren das beste ist, dann seien Sie gewarnt: Es gibt kein bestes Verfahren. So wie es Kenneth Arrow in seiner Arbeit getan hatte, begannen auch Balinski und Young ihre Suche nach einem guten Verfahren damit, die Anforderungen aufzuführen, die es erfüllen sollte. Die erste Anforderung ist die Proportionalität: Ein Bundesstaat mit einer dreimal so großen Einwohnerzahl wie ein anderer sollte dreimal so viele Vertreter haben. Aus demselben Recht heraus sollte es sich in der Vertretung widerspiegeln, wenn ein Staat schneller wächst als ein anderer. Falls die Proportionalitätsanforderung verletzt ist, sehen wir uns dem gefürchteten Wählerzuwachsparadoxon gegenüber. Da das Alabama–Paradoxon und das Parteizuwachsparadoxon nicht länger drohen, ist dies das letzte verbleibende Hindernis. Einige Zuteilungsmethoden verletzen die Proportionalitätsanforderung. Im Kapitel 9 haben wir gesehen, wie Hamiltons Verfahren Sitze gemäß dem größten Nachkommarest zu verteilen zu paradoxen Ergebnissen führen kann. Obwohl Virginias Bevölkerung schneller wuchs als die von Maine, sowohl prozentual wie in absoluten Zahlen, gewann doch Maine auf Kosten von Virginia einen Sitz hinzu. Kurz gesagt: Die zwischen 0 und 1 variierenden Nachkommareste spiegeln nicht die relativen Größen der Staaten untereinander wider. Also sind sie ein ungeeigneter Behelf um zu bestimmen, welche Staaten zusätzliche Sitze erhalten sollten. Jedes Verfahren, das in irgendeiner Weise auf den Nachkommaresten beruht, krankt am Fehler des Wählerzuwachsparadoxons. Hamiltons Verfahren ist also aus dem Rennen. Falls Nachkommaverfahren nicht geeignet sind, welche Methode ist es dann? Lassen Sie mich das Kaninchen aus dem Hut ziehen und es später erst erklären:
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Jede der Divisormethoden ist es. Zur Erinnerung: Bei diesen Verfahren wird eine geeignete Zahl gesucht — der Teiler oder Divisor — so dass, wenn man die Einwohnerzahl jedes Staates durch den Divisor teilt und dann auf– oder abrundet, die richtige Gesamtzahl an Sitzen herauskommt. Falls die Anzahl der Sitze zu groß oder zu klein ist, wird ein größerer oder ein kleinerer Divisor genommen und das Verfahren wiederholt. Die Zahl, die man erhält, wenn man die Einwohnerzahl eines Staates durch den Divisor teilt, wird sein Quotient genannt. Wie wir in Kapitel 9 gesehen haben, wimmelt es an Divisorverfahren. Die einzigen Unterschiede zwischen ihnen sind die Scheidepunkte für das Auf– oder Abrunden. Jede Auswahl an solchen Scheidepunkten funktioniert! Für die fünf traditionellen Methoden sind dies die folgenden: Adams Verfahren rundet immer auf; Jeffersons Verfahren rundet immer ab; Webster rundet am √ Mittelpunkt (z.B. 1 · 2 = 1, 414 oder bei 1,5 oder 2,5); Hill am geometrischen Mittel (z.B. bei √ 2 · 3 = 2, 449) und Dean am harmonischen Mittel, was definiert ist als das Produkt zweier Zahlen geteilt durch ihren Mittelwert (z.B. (1 · 2)/(0, 5 · (1 + 2)) = 1, 333 oder (2 · 3)/(0, 5 · (2 + 3)) = 2, 4). Balinski und Young nannten die Bruchzahl, an der die Rundung stattfindet, eine Wegmarke (signpost). Jede Zuteilungsmethode hat ihre eigene Folge an Wegmarken. Sobald bei einer der Methoden der Quotient die nächste Wegmarke überschreitet, wird er aufgerundet und der Staat gewinnt einen Sitz hinzu. Tabelle 12.1 Wegmarken 2 Sitze Adams Dean Hill Webster Jefferson
1,000 1,333 1,414 1,500 2,000
Quotient gerundet auf 3 Sitze 4 Sitze 5 Sitze bei mehr als: 2,000 3,000 4,000 2,400 3,429 4,444 2,449 3,464 4,472 2,500 3,500 4,500 3,000 4,000 5,000
6 Sitze 5,000 5,454 5,477 5,500 6,000
Rundungsverfahren: immer aufrunden am harmonischen Mittel am geometrischen Mittel am arithmetischen Mittel immer abrunden
Als Beispiel betrachten wir die vier ausgedachten Staaten IO, HJ, MU und NK. Wenn man die Einwohnerzahlen der vier Staaten durch den Divisor 50.000 teilt, bekommt man nach Rundung die folgenden Zuteilungen: Tabelle 12.2 Rundungsverfahren IO HJ MU NK
Einwohner 361.250 222.750 324.100 836.250
Quotient 7,225 4,455 6,482 16,725
Adams 8 5 7 17
Dean 7 5 7 17
Hill 7 4 7 17
Webster 7 4 6 17
Jefferson 7 4 6 16
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Warum sind diese Verfahren nicht für das Wählerzuwachsparadoxon anfällig? Angenommen ein Staat wächst, überschreitet dabei eine Wegmarke und gewinnt einen Sitz hinzu, und angenommen ein anderer Staat wächst stärker. Offenbar bewegt er sich damit nach vorne auf den nächsten Sitz zu. Es kann sein, dass er nicht stark genug wächst, um die eigene nächste Wegmarke zu überschreiten und einen zusätzlichen Sitz zu erhalten, aber er kann auch niemals hinter die vorherige Wegmarke zurückfallen. Dies steht in starkem Kontrast zu den Resteverfahren, bei dem sich Staaten sowohl vorwärts als auch rückwärts über den Punkt bewegen können, an dem die Rundung stattfindet. Divisorverfahren führen nie dazu, dass ein schneller wachsender Staat einen Sitz verliert, wenn ein langsamer wachsender Staat einen hinzu gewinnt. Schlussfolgerung: Kein Wählerzuwachsparadoxon. Ende der Geschichte. Mit diesem Argument zeigten die beiden Mathematiker, dass Divisorverfahren welcher Art auch immer das Wählerzuwachsparadoxon umgehen. Etwas überraschend stellte sich heraus, dass auch das Alabama–Paradoxon und das Parteizuwachsparadoxon bei keinem der Divisorverfahren auftreten können. Auch dies kann durch das Wegmarkenargument gezeigt werden. Balinski und Young hatten nach einem Weg gesucht, um das Wählerzuwachsparadoxon zu vermeiden, und wurden durch die Aufhebung der anderen beiden Paradoxa zusätzlich belohnt. Aber Balinski und Young taten mehr als nur zu zeigen, dass die Divisormethoden dafür gut sind, die Paradoxa fernzuhalten. Vielmehr zeigten sie in einem exakten Beweis, dass die Divisorverfahren die einzigen Methoden sind, die das Wählerzuwachsparadoxon vermeiden. Jede Zuteilungsmethode, die kein Divisorverfahren ist, wird unweigerlich Opfer des Wählerzuwachsparadoxons. Ich werde den Beweis hier nicht wiedergeben. Es reicht die Bemerkung der Autoren, die selbst den Beweis einem Anhang anvertrauten, „dass dies der Teil ist, den die Mathematik übernimmt“. Sobald man weiß, dass die Divisorverfahren die einzigen Zuteilungsmethoden sind, die man betrachten sollte, stellt sich die Frage, welche Unterschiede es überhaupt zwischen den Rundungsverfahren von Adams, Dean, Hill, Webster und Jefferson gibt. Wenn es darum geht, Paradoxa zu vermeiden, sind sie alle gleichermaßen geeignet. Aber von einem guten Verfahren erwartet man mehr als nur lächerliche Ergebnisse zu vermeiden. Eine geeignete Technik für die Zuteilung der Kongresssitze sollte zusätzliche Anforderungen erfüllen. Die nächste Bedingung an eine gutes Zuteilungsverfahren ist, dass es nicht verzerrt ist, also nicht gewissen Staaten Vorteile verschafft. Mit „Verzerrtheit“ ist die systematische Tendenz gemeint entweder größere oder kleinere Staaten zu bevorzugen. Die Betonung liegt hier auf „systematisch“, denn in jedem einzelnen Jahr ist es unvermeidbar, dass einige Staaten etwas besser vertreten werden, als ihnen zusteht, und andere etwas weniger. Wie wir in Kapitel 9 gesehen haben, wurde Jeffersons Methode genau deshalb aufgegeben, weil sie beständig die großen Staaten bevorzugte. Also wird eine Methode als „unverzerrt“ angesehen, „falls die Menge der großen Staaten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit bevorzugt wird wie die Menge der kleinen Staaten“, erklärten Young und Balinski. Der sinnvolle Test für die Unverzerrtheit ist, dass sich die Vor– und Nachteile auf lange Sicht herausmitteln.
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Welche der Divisormethoden — Adams, Dean, Hill, Webster, Jefferson — sind nun auch unverzerrt, zusätzlich zu ihrer Eigenschaft immun gegen Paradoxa zu sein? Balinski und Young gingen diese Frage von zwei Gesichtspunkten aus an: geschichtlich und theoretisch. Sie erstellten eine Liste mit den zusammengerechneten Verzerrungen zwischen 1790 und 2000 und bekamen für Adams einen Verzerrungsindex von etwa 15 für die kleinen Staaten heraus und für Jefferson einen Verzerrungsindex von etwa 15 für die großen Staaten. Dean und Hill bevorzugten die kleineren Staaten mit geringeren Raten von etwa 3 und 5. Aber der haushohe Gewinner des historischen Test war Websters Verfahren mit einem angehäuften Verzerrungsindex von etwa 0,5 für die kleinen Staaten. Das überrascht nicht. Mit Scheidepunkten bei 1,5, 2,5, 3,5, . . . bietet Websters Verfahren jedem Staat jedesmal eine fünfzigprozentige Chance auf– oder abgerundet zu werden. Offensichtlich mitteln sich Vor– und Nachteile auf lange Sicht heraus. Auf der anderen Seite sind die Scheidepunkte von Adams, Dean und Hill stets unterhalb von 0,5 (siehe die Wegmarken in Tabelle 12.1), was die kleinen Staaten aus einigen Gründen bevorzugt. Erstens ist das Aufrunden zwischen 2,4 und 3,0 „mehr wert“ als das Aufrunden zwischen 32,4 und 33,0. Zweitens werden die Scheidepunkte größer und bewegen sich auf 0,5 zu, je größer der Staat ist. Schließlich, wie in Kapitel 9 erklärt, erfordert das Aufrunden eine Vergrößerung des Zählers, was wiederum bedeutet, dass die Staaten für jeden Sitz, den sie bereits haben, bestraft werden. Dies bedeutet also, dass die größeren Staaten stärker benachteiligt werden. Schließlich gibt es noch Jeffersons Verfahren, das stets abrundet, was umgekehrt aus all den genannten Gründen die kleinen Staaten trifft. Von allen Divisormethoden ist also Websters Verfahren (aus dem das Webster– Willcox–Verfahren wurde, nachdem der Cornell–Professor Walter F. Willcox ins Spiel gekommen war) das einzige, welches in der Praxis unverzerrt ist. Diese Tatsache folgt sowohl aus der empirisch–geschichtlichen Betrachtung als auch aus Sicht der Theorie. Balinski und Young konnten ihre Überraschung nicht verbergen, dass dies zuvor nie bemerkt worden war und dass Hills Verfahren (aus dem das Hill–Huntington–Verfahren wurde, nachdem der Harvard–Professor Edward V. Huntington ins Spiel gekommen war) von allen maßgeblichen Institutionen offiziell gebilligt wurde. „Es scheint daher erstaunlich, dass 1941 Hills Methode ausgesucht werden konnte . . . und dass Websters Methode verworfen wurde. Eine besondere Mischung aus beruflicher Rivalität, wissenschaftlichem Irrtum und politischen Zufällen scheint die Frage entschieden zu haben.“ Webster hatte die richtige Einsicht, aber Willcox fehlten die mathematischen Mittel dies auch zu beweisen. Denken Sie daran, dass Willcox Statistiker war und der Fakultät für Sozialwissenschaften angehörte und daher von dem Mathematiker Huntington, der sich auch als solcher benahm, nicht als ernsthafter Gesprächspartner angesehen wurde. Entsinnen Sie sich, dass die National Academy of Sciences das Hill–Huntington– Verfahren unterstützte, weil es in der Mitte lag hinsichtlich der Bevorzugung von kleinen und großen Staaten? Kein besonders schlagendes Argument, dachten Balinski und Young, als sie ihre Gedanken über diesen Punkt zusammenfassten: „Am Ende lieferte Huntingtons Behauptung, von dem Wirrwarr über die ‚Mitte‘ aufgebauscht, die wissenschaftliche Rechtfertigung und klare Parteiinteressen lieferten
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die Stimmen.“ Man könnte hinzufügen, dass sich auch der oberste Gerichtshof Sand ins Auge streuen ließ. Denn auch wenn das Buch von Balinski und Young ausführlich im Urteil der Richter über den Fall „Montana gegen das Wirtschaftsministerium“ zitiert wird, ist von diesem Fazit darin nicht die Rede. Wir erwarten, dass eine gerechte Zuteilungsmethode unverzerrt ist und immun gegenüber den Paradoxa. Websters Verfahren erfüllt beide Anforderungen und wir könnten uns also zurücklehnen und entspannen. Aber auf Balinskis und Youngs Wunschliste steht noch ein weiterer Punkt: Ein Bundesstaat sollte nicht mehr und nicht weniger als seinen gerechten Anteil erhalten, also nahe an seinem Idealanspruch an Sitzen liegen. Dies klingt ziemlich grundlegend, aber was ist mit „Idealanspruch“ gemeint? Man geht von der ungerundeten Sitzzahl eines Staates aus, also der anteilsmäßigen Zahl an Sitzen mitsamt Bruchteil, die der Staat zugeteilt bekäme, wenn es nicht nur eine ganzzahlige Anzahl an Vertretern geben könnte. Dies ist der Idealanspruch, der manchmal auch „Quote“ genannt wird, und die Anforderung an den Idealanspruch oder „Quotenbedingung“ ist erfüllt, wenn der Idealanspruch um nicht mehr als um Eins auf– oder abgerundet werden muss, um die Zahl der Sitze zu erhalten. (Übrigens: Warum dürfen die Bundesstaaten nicht eine Bruchzahl an Vertretern haben? Das erste NAS–Gutachten erwähnt diese Möglichkeit (siehe Kapitel 10) und es scheint nichts in der Verfassung zu stehen, was dies verbietet. Man könnte sich vorstellen, dass ein Staat, dessen Idealanspruch bei 15,368 Vertretern liegt, sechzehn Abgeordnete nach Washington schickt. Wenn es um die Abstimmung über ein Gesetz ginge, hätten die ersten fünfzehn jeweils eine ganze Stimme, während der sechzehnte mit 0,368 Stimmen zählte. Die Stimmen aller Bundesstaatsvertreter würden sich auf 435 aufsummieren und alle Zuteilungsprobleme wären verschwunden. Die Redezeit der bruchteiligen Abgeordneten könnte anteilsmäßig beschränkt werden und ebenso könnte dies mit seinem oder ihrem Bürobudget geschehen. Im Mittel müsste das Parlament lediglich etwa 25 zusätzliche Abgeordnete aufnehmen.) Auf den ersten Blick scheint die Quotenbedingung überflüssig, denn natürlich rundet man nicht um mehr als Eins. Aber bei der Zuteilung geschieht manchmal das Undenkbare. Erinnern Sie sich daran, dass es passieren kann, dass sich die Sitzanzahlen aller Staaten nach der vorgesehenen Rundung nicht zu der gewünschten Summe aufaddieren. Die Divisorverfahren sehen dann vor, einen größeren oder kleineren Divisor zu nehmen und die Zuteilungsprozedur zu wiederholen. Bis die Sitze sich zu der gewünschten Gesamtzahl aufaddieren, kann es sehr wohl passieren, dass die Vertretung einiger Staaten von der Quote ausgehend nicht zur nächsten ganzen Zahl, sondern zu der danach gerundet werden. Diese Staaten bekommen mehr oder weniger als ihren Idealanspruch, sie „fallen aus der Quote“. Schauen Sie sich Tabelle 12.3 an um zu sehen, wie dies geschehen kann. Welche Zuteilungsmethoden erfüllen nun die Quotenbedingung? Eine, die dies sicher tut, ist Hamiltons Verfahren des größten Restes. Nachdem der Idealanspruch abgerundet wurde, verteilt die Methode die verbleibenden Sitze an die Staaten mit dem größten Nachkommarest. Alle Staaten bleiben also automatisch in ihrer Quote. Dies ist der guten Grund für die Verwendung von Hamiltons Verfahren, den ich am Ende von Kapitel 9 erwähnt habe. Wir wissen allerdings, dass dieses Verfah-
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Tabelle 12.3 Idealanspruch 36 Sitze sind auf 4 Staaten zu verteilen. Staat AA BB CC DD Summe
Einwohner 70.000 118.000 212.000 1.210.000 1.610.000
Ideal– anspruch∗ 1,565 2,639 4,740 27,056 36,000
gerundete Sitze 2 3 5 27 37
Divisor 46.000 1,52 2,57 4,61 26,30
gerundete Sitze 2 3 5 26 36
∗ (Einwohnerzahl des Staates/Gesamteinwohnerzahl) × 36 = Einwohnerzahl des Staates/44.722 Nach der anteilsmäßigen Aufteilung der Sitze (also nach Teilen der Einwohnerzahlen mit dem Divisor 44.722) summieren sich die gerundeten Sitze zu 37 anstatt 36. Also wird ein größerer Divisor benutzt (46.000) und nach Rundung ergeben sich in der Summe 36 Sitze. Dann erhält Staat DD aber nur 26 Sitze, was „außerhalb der Quote“ ist (korrekt, d.h. der Quotenbedingung entsprechend, wären entweder 27 oder 28 Sitze).
ren das Wählerzuwachsparadoxon zulässt (und auch das Alabama–Paradoxon und das Parteizuwachsparadoxon, aber um diese beiden kümmern wir uns nicht länger). Da das Wählerzuwachsparadoxon unter allen Umständen vermieden werden muss, werden nur noch Divisormethoden betrachtet. Welche darunter, fragten sich Young und Balinski — Adams, Dean, Hill, Webster, Jefferson — stellen sicher, dass die Kongressvertretungen der Bundesstaaten in der Quote liegen? Die Antwort ist kurz und deprimierend: keine von allen! In der Tat gibt es keine Divisormethode, die die Quotenbedingung erfüllt. Balinski und Young formulieren und beweisen diese traurige Tatsache als ein Theorem: Falls es vier oder mehr Bundesstaaten gibt und das Parlament über mindestens drei Sitze mehr verfügt als es Staaten gibt, dann „gibt es keine Methode, die das Wählerzuwachsparadoxon vermeidet und immer in der Quote bleibt“. Was hält man nun davon? Dreißig Jahre nach Arrows Unmöglichkeitssatz sind wir wieder im Stich gelassen. Wir haben gerade mal drei bescheidene Voraussetzungen an eine gute Zuteilungsmethode gestellt: Sie sollte unverzerrt sein, Paradoxa vermeiden und in der Quote bleiben. Ist das zu viel verlangt? Ja, das ist es. Balinski und Young zeigten auch, dass selbst wenn wir eine winzige Verzerrung als unvermeidbar akzeptieren, jede denkbare Zuteilungsmethode eine der anderen verbleibenden, überaus vernünftigen Bedingungen verletzt: Entweder ist sie anfällig gegen das Wählerzuwachsparadoxon oder Verstöße gegen die Quotenbedingung können nicht ausgeschlossen werden. (Nebenbei bemerkt ist die Bibliografie von Balinski und Young ein interessantes Beispiel dafür, wie geistig offene Wissenschaftler mitten in ihrer Karriere ihren Standpunkt in grundlegenden Fragen ändern können. Zunächst kämpften Balinski und Young vehement für die Quotenmethode (eine die Quotenbedingung erfüllende Methode). Dann lernten sie die Divisorverfahren schätzen und zogen kurz danach ihre Unterstützung für die Quotenmethode vollständig zurück und warben von da an für Webster.)
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In klassischer Untertreibung sprechen Balinski und Young von einer „verstörenden Entdeckung“. Natürlich stört sie. Aber wenn man sich nach den Gründen umsieht, bleibt sie keine Überraschung mehr. Die Quotenbedingung ist nämlich eine sehr starke Bedingung, die leicht verletzt ist. Sehen wir uns an, warum dies so ist. Wenn man den Idealanspruch eines kleines Staates rundet, kann dies eine viel größere Anpassung bedeuten als für einen großen Staat. Bei einem Staat mit Idealanspruch 1,5 bleibt man in einem Bereich von 66 Prozent innerhalb der Quote (33 Prozent für das Aufrunden von 1,5 auf 2 und weitere 33 Prozent für das Abrunden). Bei einem Staat mit Idealanspruch 41,5 umfasst dieser Bereich weniger als 2,5 Prozent. Da die Anforderung in der Quote zu bleiben für große Staaten eine viel stärkere Bedingung als für kleine ist, ist sie nicht verträglich mit der Idee, dass die Anzahl der Sitze zu der Einwohnerzahl möglichst proportional sein sollte. Erinnern Sie sich daran, dass man bei den Divisorverfahren den Divisor ändern muss, wenn dies nötig ist um die Anzahl der verteilten Sitze mit der Anzahl der zu verteilenden Sitze in Einklang zu bringen. Genau dies führt dazu, dass die Abordnungen einiger Staaten über die gerundeten Zahlen hinweg bewegt werden. Wir können mal wieder nicht alles haben, irgendetwas muss nachgeben. Wie Tabelle 12.4 zeigt, muss entweder das Wählerzuwachsparadoxon in Kauf genommen oder die Quotenbedingung aufgegeben werden. Balinski und Young sprechen sich für letzteres aus. „Eine Zuteilung zu erreichen, die zutreffend die verhältnismäßigen Veränderungen der Bevölkerungszahl widerspiegelt, scheint wichtiger zu sein als stets in der Quote zu bleiben“, erklären sie. Tatsächlich gibt man nicht besonders viel auf, wenn man Quotenverletzungen zulässt, denn in der Praxis tauchen sie nicht sehr häufig auf. Durch den Vergleich theoretischer Schätzungen für die fünf bekannten Methoden folgern die Autoren, dass die Methoden von Adams und Jefferson die Quotenbedingung fast immer verletzen, wohingegen Deans Verfahren dies nur in 1,5 Prozent der Fälle tut und Hills H–H–Methode in etwas weniger als 0,3 Prozent. Aber wieder einmal gewinnt Websters Verfahren spielend: Quotenverletzungen treten nur in 0,06 Prozent aller Fälle auf. Wenn die Neuzuteilung alle zehn Jahre durchgeführt wird, erzeugt Websters W–W–Verfahren im Mittel nur alle 16.000 Jahre eine Quotenverletzung. (Auch die H–H–Methode schlägt sich ganz ordentlich mit im Mittel einer Quotenverletzung alle 3.500 Jahre.) Tabelle 12.4 Verfahren Quotenverletzung Paradoxon — Alabama — Wählerzuwachs — Parteizuwachs
Hamilton
Adams
Dean
Hill
Webster
Jefferson
nein
ja
ja
ja
ja
ja
ja ja ja
nein nein nein
nein nein nein
nein nein nein
nein nein nein
nein nein nein
Falls eine Zuteilungsmethode die Quotenbedingung erfüllt, erzeugt sie paradoxe Situationen; falls sie gegen Paradoxa immun ist, so verletzt sie die Quotenbedingung. Die traurige Schlussfolgerung aus all dem ist, dass nicht alle Punkte auf der
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Wunschliste von Balinski und Young gleichzeitig erfüllt werden können. Trotz dieses betrüblichen Stands der Dinge sind es nicht durchweg schlechte Nachrichten. Es gibt ein Verfahren, das dem Ideal sehr nahe kommt: Das W–W–Verfahren. „Die einfachste und von allen Methoden intuitiv einleuchtendste ist auch die beste . . . sie verhindert die Paradoxa, ist unverzerrt und bleibt praktisch in der Quote.“ Warum wird sie dann nicht benutzt? Das Buch von Balinski und Young wurde 1982 veröffentlicht, aber trotz aller Kritik bliebt Hill–Huntington die Methode der Wahl. Wie zu Beginn des Kapitels erzählt wurde, hat der Bundesstaat Montana sie nach der Volkszählung von 1990 in Frage gestellt, aber er musste in seiner Klage zu der weitgehend unbeachteten Methode von Dean Zuflucht nehmen, da sowohl H–H als auch W–W ihm einen Sitz nahmen. Und nach der 2000er Volkszählung hatte niemand ein Hühnchen zu rupfen. Dass weiterhin eine bekanntermaßen unzureichende Methode benutzt wird, ist ein rätselhaftes Phänomen. Wir warten atemlos darauf, was 2011 passieren wird, oder 2021 . . .
BIOGRAFISCHER ANHANG
Michel L. Balinski Balinski wurde in der Schweiz geboren und stammte aus einer polnischen Familie, die im internationalen Handel tätig war. Sein Großvater Ludwik Rajchman, ein Arzt, war ein bekannter sozialistischer Intellektueller, der sein Leben und seine Karriere dem Dienst der Menschheit widmete. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete er UNICEF und wurde zum geistigen Vater der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Familie zog von der Schweiz nach Frankreich um, aber als Jude und prominenter Gegner des Nationalsozialismus musste Rajchman in die Vereinigten Staaten fliehen und nahm den jungen Michel mit. Dort nahm die Familie die amerikanische Staatsbürgerschaft an und Michel erhielt eine gründliche amerikanische Ausbildung: Bachelor of Arts in Mathematik am Williams–College 1954, Master of Arts in Wirtschaftswissenschaften am MIT zwei Jahre später und Promoti-
on, wieder in Mathematik, 1959 an der Princeton–Universität. Seinem Studium folgte eine reichhaltige Karriere als Experte und Professor für Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Statistik, Management, Entscheidungstheorie und Operations Research an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten. Eine Zeit lang gehörte er auch dem Beraterstab des Bürgermeisters der Stadt New York an. In den 1980er Jahren kehrte er nach Frankreich zurück. Er wurde Direktor des Laboratoire d’Économétrie an der École Polytechnique in Paris. Balinski war der Gründungsherausgeber der Zeitschrift Mathematical Programming, er ist eine bekannte Autorität für mathematische Optimierung und Operations Research und war von 1986 bis 1989 Präsident der Mathematical Programming Society.
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H. Peyton Young Young schloss 1966 mit einem Bachelor of Arts in „General Studies“ an der Harvard–Universität ab und ging dann zur Promotion in Mathematik an die Universität von Michigan. Nach Abschluss seiner Dissertation 1971 hatte Young genug vom Elfenbeinturm und dessen mangelnder Verbindung mit der „wirklichen Welt“. Daher zog er es einer akademischen Karriere vor, für eine Kommission in Washington zu arbeiten. Aber nach einem Jahr in Washington hatte er auch von der wirklichen Welt die Nase voll (das war zur Watergate–Zeit) und entschied sich noch einmal in die Universitäten hineinzuschnuppern. Daraufhin schloss er sich Balinski an. Anschließend unterrichtete er Ökonomie, Public Policy, Entscheidungstheorie und Betriebswirtschaft an der Johns Hopkins University, der Universität von Maryland und der Universität von Chicago. Er hatte auch Stel-
len in Europa inne, als Gastprofessor in Siena (Italien), als Gastwissenschaftler am Nuffield College in Oxford und als stellvertretender Direktor für System and Decision Sciences am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse in Österreich. Young ist ein Senior Fellow bei der Brookings Institution in Washington DC, wurde 2006 zum Präsidenten der Game Theory Society gewählt und ein Jahr später als Professor an die Universität von Oxford berufen. Young ist wahrhaft interdisziplinär. Seine vielen Dutzende Veröffentlichungen behandeln verschiedene Themen der angewandten Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Spieltheorie und Politikwissenschaften. Seine letzten Forschungen beschäftigen sich mit der Entwicklung von Normen, Konventionen und anderen Formen gesellschaftlicher Ordnungen.
Kapitel 13
Die Postmodernen
In diesem letzten Kapitel werde ich an Fallstudien beschreiben, wie sich drei verschiedene Länder mit Zuteilungen und Wahlen im Lichte der Unmöglichkeitssätze abmühen. Jede repräsentative Demokratie muss für ihre gesetzgebenden Versammlungen Abordnungen bestimmen, die aus einer ganzzahligen Anzahl von Parlamentariern bestehen. Diese Abordnungen vertreten geografische Gebiete oder politische Parteien. Einige Länder haben ganz eigene Vorschläge aufgebracht, andere experimentieren noch mit zwar nicht idealen, aber doch angemessenen Zuteilungsmethoden für die Parlamentssitze. Als Beispiel werde ich zwei Länder vorstellen: eine der älteren Demokratien, die 1291 gegründete Schweiz, und eine der neueren, das 1948 entstandene Israel. Schließlich werde ich einen neuen Vorschlag für die Wahl des Präsidenten in Frankreich, das nach der Revolution am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zur Demokratie wurde, beschreiben. *** Die Schweiz ist als eine der ältesten Demokratien der Welt bekannt. Das Land besteht aus 26 Kantonen, von denen jeder ein Mitspracherecht an den Staatsangelegenheiten haben möchte und es auch bekommt. (Übrigens haben die Gründungsväter der Vereinigten Staaten das Schweizer Modell benutzt, als sie im späten achtzehnten Jahrhundert ein Regierungssystem für ihre dreizehn Staaten suchten.) Alle vier Jahre wählen die Bürger aller Kantone ihre Vertreter in den Nationalrat. Artikel 149 der Schweizer Bundesverfassung legt fest, (a) dass der Nationalrat aus 200 Abgeordneten besteht und (b) dass die Kantone im Verhältnis zu der Bevölkerungszahl vertreten sind. Wir wissen natürlich inzwischen, dass die apodiktischen Anweisungen der Verfassung wegen der Unmöglichkeit Sitzbruchteile zu vergeben nicht erfüllt werden können. Und wir wissen natürlich auch, dass alle Versuche die Bruchteile zu verteilen mit Problemen beladen sind. Was die Schweiz anlangt, so ist das Alabama– Paradoxon seit 1963 kein Problem mehr, da die Anzahl der Abgeordneten, die zuvor variabel war, auf 200 festgelegt wurde. Niemand kümmerte sich um das Parteizuwachsparadoxon (oder passender: das „Kantonzuwachsparadoxon“), da letztmalig 1815 mit Genf, Neuenburg und dem Wallis neue Kantone der Eidgenossenschaft G.G. Szpiro, Die verflixte Mathematik der Demokratie, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12891-2_13,
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beigetreten waren. Nach langen Jahren der Auseinandersetzung wurde 1979 die Region Jura (die bis dahin Teil des Kantons Bern war) ein unabhängiger Kanton. Aber dies war ein einmaliges Ereignis und es ist gewiss unwahrscheinlich, dass die Schweiz neue Kantone bekommt. Also ist auch das Kantonzuwachsparadoxon von keiner Bedeutung mehr. Mit der Festlegung der Größe des Nationalrats auf 200 und dem gebannten Alabama–Paradoxon konnte die Schweiz nun mit gutem Gewissen ihre Parlamentssitze auf die 26 Kantone verteilen, und zwar nach Hamiltons Verfahren (das im deutschsprachigen Teil Europas als „Hare–Niemeyer–Verfahren“ bekannt ist, nach dem britischen Juristen Thomas Hare und dem deutschen Mathematiker Horst Niemeyer). Somit droht in der Schweiz nur noch das Wählerzuwachsparadoxon. Bislang aber hat dies noch nie zu Schwierigkeiten geführt. Und nach der Devise „Bewährtes soll man nicht verändern“ wurde die Frage beiseite getan. Derzeit wird nach wie vor dieses Verfahren benutzt, erst abzurunden und dann die restlichen Sitze nach dem größten Nachkommarest zu vergeben. Aber die Probleme sind bei weitem nicht vorüber, wenn die 200 Sitze des Nationalrats auf die Kantone verteilt sind. Denn dann müssen die Sitze jedes Kantons noch auf die einzelnen Parteien verteilt werden. Die Artikel 40 und 41 des Schweizer Bundesrechts besagen, wie dies getan werden muss. Der Verteilungsschlüssel beruht auf dem Vorschlag des Belgiers Victor D’Hondt. D’Hondt (1841–1901) war Anwalt, Steuerexperte und Professor für Zivil– und Steuerrecht an der Universität von Gent. Als leidenschaftlicher Befürworter der Minderheitenrechte verfocht er die proportionale Vertretung und entwickelte eine Methode, nach der auch die Minderheiten in Staatsangelegenheiten ein Mitspracherecht hätten. D’Hondts 1878 vorgeschlagenes „Höchstzahlverfahren“ stellt sicher, dass hinter jedem Sitz die größte Anzahl an Wählern steht. Es funktioniert folgendermaßen: Für die Verteilung jedes Sitzes wird die Anzahl der für eine Partei abgegebenen Stimmen durch die Anzahl der dieser Partei bereits zugeteilten Sitze plus eins geteilt. Der Sitz geht dann an den höchsten „Bieter“. Das Prozedur wird solange fortgesetzt, bis alle Sitze gefüllt wurden. (Tabelle 13.1 sollte dieses kompliziert klingende Verfahren etwas klarer machen.) Die Schweizer beschlossen diese Methode zu benutzen, aber sie brauchten nicht lange um zu bemerken, dass sie das Rad erneut erfunden hatten. Es stellte sich nämlich heraus, dass vom Endergebnis her D’Hondts Verfahren das Gleiche ergibt wie die hundert Jahre zuvor von Thomas Jefferson für das Repräsentantenhaus in den Vereinigten Staaten entwickelte Methode zur Verteilung von Abgeordneten (man sucht einen geeigneten Divisor, so dass nach Teilen des Stimmanteils durch diesen Divisor und Abrunden der Ergebnisse in der Summe genau die zu verteilende Anzahl an Sitzen herauskommt). Was die Schweizer betrifft, so lehnten sie es ab, den Namen den Belgiern oder den Amerikanern zu überlassen, und beschlossen die Methode nach Eduard Hagenbach–Bischoff (1833–1910) zu benennen, einem einheimischen Professor der Mathematik und Physik an der Basler Universität. Hagenbach–Bischoff verbrachte den größten Teil seiner Karriere damit, die Zusammensetzung von Gletschereis, die Geschwindigkeit zäher Flüssigkeiten in Röhren, die Fluoreszenz und die „Fortpflanzung der Elektrizität im Telegraphen-
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Tabelle 13.1 Verfahren von Jefferson–D’Hondt 10 Sitze sind zu vergeben Stimmen 1. Sitz 2. Sitz 3. Sitz 4. Sitz 5. Sitz 6. Sitz 7. Sitz 8. Sitz 9. Sitz 10. Sitz Summe
Liste A 6.570 6.570* 3.285* 2.190 2.190* 1.642* 1.314* 1.095 1.095* 938 938* 7
Liste B 2.370 2.370 2.370 2.370* 1.185 1.185 1.185 1.185* 790 790 790 2
Liste C 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060 1.060* 530 1
Die Anzahl der Stimmen jeder Liste wird durch die Anzahl der bereits zugeteilten Sitze plus eins geteilt. Der höchste Bieter (durch * gekennzeichnet) erhält den Sitz, bis alle Sitze vergeben sind. Schauen wir uns die Vergabe des 3. Sitzes an: Liste A hat bereits zwei Sitze, also wird ihre Stimmenzahl durch 3 geteilt, was 2.190 ergibt. Liste B und C haben noch keinen Sitz, also wird ihre Stimmenzahl durch 1 geteilt, was 2.370 bzw. 1.060 ergibt. Da 2.370 die größte der drei Zahlen ist, erhält Liste B den Sitz. Für den 7. Sitz wird die Stimmenzahl von Liste A durch 6 geteilt, da A bereits 5 Sitze hat. Die Stimmenzahlen der Listen B und C werden durch 2 bzw. 1 geteilt. Der „höchste Bieter“ für den 7. Sitz ist wieder Liste B. (Wenn man beispielsweise 900 als Divisor nimmt und dann mit Jeffersons Methode abrundet, erhält man die gleiche Sitzverteilung.)
draht“ zu studieren. Aber er hatte auch eine politische Ader und diente lange im Rat des Kantons Basel. Dabei begegnete ihm D’Hondts Methode und er kämpfte energisch für ihre Einsetzung. Nachdem sie schließlich 1905 in Basel eingeführt worden war, kämpfte er ebenso energisch gegen die Benutzung des Namens „Hagenbach– Bischoff–Verfahren“, indem er auf D’Hondts frühere Arbeit hinwies. Aber trotz seiner Bemühungen wurde die Methode in der Schweiz unauslöschlich mit seinem Namen verbunden. Die Tatsache, dass das Jefferson–D’Hondt–Hagenbach–Bischoff–Verfahren die großen Parteien leicht bevorzugt, wurde von den Schweizern nicht als eine gravierende Schwäche angesehen. Schließlich hatten die Verfechter der verhältnismäßigen Vertretung am Anfang gegen das alte Mehrheitssystem zu kämpfen und gegen dessen Ideologie, dass der Sieger alles bekommt. Die leichte Verzerrung war für die Schweizer früherer Tage kein Grund zur Aufregung (auch wenn sie im Vergleich zur Webster–Methode irritiert). Man ging davon aus, dass das nachteilige Verhalten erst dann für die kleineren Parteien spürbar wird, wenn es sich aufsummiert, beispielsweise wenn das Parlament das D’Hondt–Verfahren ein zweites Mal anwendet, um die verschiedenen Ausschüsse zu besetzen. Aber mit dieser Einschätzung stimmten nicht alle überein. Sehr kleine Parteien wie die Grünen oder andere besondere Interessengruppen fühlten sich außen vor gelassen. In einem Kanton, der nur über wenige Sitze im Nationalrat verfügt, könnten sie leicht überhaupt keinen Vertreter bekommen. Zum Beispiel haben auf der
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Grundlage der Volkszählung vom Jahr 2000 zehn Kantone nur vier oder noch weniger Sitze. Insofern könnte es passieren, dass sogar Parteien beachtlicher Größe ihre Stimme im Nationalrat nicht zu Gehör bringen können, vor allem wenn ihre Anhänger über die gesamte Schweiz verteilt leben. Wähler würden sich betrogen fühlen. Falls ein Kanton etwa nur zwei Sitze hat, könnte ein Stimmenanteil von ungefähr einem Drittel der Wähler letztendlich untergehen, wenn ihre Partei es nicht in den Nationalrat schafft. Viele Bürger wären entweder praktisch ohne Stimmrecht oder sie würden, da sie die Gefahr des Verlusts ihrer Stimmen sehen, mangels besserer Möglichkeiten und entgegen ihrem Gewissen für eine der größeren Parteien stimmen. Das Problem tritt auch bei Regionalwahlen auf. Im Kanton Zürich gibt es achtzehn Bezirke — kleine und große — und viele Parteien wetteifern um die 180 Sitze des Kantonsrats. In einigen Bezirken bewerben sich ein Dutzend Parteien um nicht mehr als vier Sitze. Die Unzufriedenheit mit dem Verfahren erreichte das höchste Gericht der Schweiz. Die Richter ergriffen die Partei der Kläger und ordneten eine Revision des Zuteilungsverfahrens an. Daraufhin beauftragte der Kanton einen Beamten aus der Direktion des Innern mit der Vorbereitung einer neuen Zuteilungsmethode. Sie sollte sowohl den Bezirken als auch den Parteien gegenüber gerecht sein und sicherstellen, dass jede Stimme zählt. Der Beamte tat, was die meisten von uns heutzutage tun würden, wenn ihnen eine ähnliche Aufgabe übertragen wäre: Er suchte im Internet. Beim Herumsurfen traf er auf die Seite des deutschen Mathematikprofessors Friedrich Pukelsheim. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn: Er ist derjenige, der Ramon Llulls Schriften ins Netz stellte (siehe Kapitel 3). Auf der Internetseite fand der Beamte genau das, wonach er suchte: einen Artikel, der das Problem betrachtet, wie man Bezirke im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl repräsentiert und gleichzeitig Parteien im Verhältnis zu ihrer Gesamtstimmenanzahl über alle Bezirke. Bei dem Fund handelte es sich um die deutsche Übersetzung eines Aufsatzes, den Michel Balinski für die Zeitschrift Pour la science, die französische Ausgabe des Scientific American, geschrieben hatte. Pukelsheim war gebeten worden den Artikel für die deutsche Schwesterzeitschrift Spektrum der Wissenschaften zu übersetzen. Aber der Professor tat mehr als das: Er entwickelte auch ein Computerprogramm, das Balinskis Methode umsetzt. Pukelsheim bekam die Erlaubnis der Herausgeber, die Übersetzung auch auf seiner Internetseite zu veröffentlichen, wo sie dann der Schweizer Beamte fand. Der Artikel behandelt genau das Problem, dem sich der Kanton Zürich gegenüber sah. Balinski hatte zusammen mit Kollegen eine Lösung entwickelt für das, was sie das „Biproportionalitätsproblem“ nannten. Es ist eine geniale Methode, die alle Anforderungen erfüllt. (Ich erkläre nur eine vereinfachte Version des Verfahrens. Insbesondere werde ich nicht die Gewichte der Parteien anpassen, wenn die Wähler in unterschiedlich großen Bezirken unterschiedlich viele Stimmen haben.) Zunächst wird auf Grundlage der Volkszählungsergebnisse die Gesamtzahl der Vertreter jedes Bezirks bestimmt, indem man Websters Methode benutzt, also das Divisorverfahren mit Standardrundung. Dann wird die Gesamtzahl der Vertreter jeder einzelnen Partei bestimmt, indem man Websters Methode auf die Wahlergebnisse des Kantons anwendet. (Es könnte natürlich auch ein anderes Divisorverfahren benutzt werden.
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Balinski empfiehlt Jeffersons Rundungsmethode zur Verteilung der Sitze auf die Parteien, da dann große Parteien bevorzugt werden, was der Parteienzersplitterung vorbeugt.) Die Schlüsselfrage besteht nun darin, welcher Bezirk Vertreter welcher Partei stellt. Um sie zu beantworten, bedarf es einer näheren Analyse der Wahlergebnisse. Wir beginnen mit einer Tabelle oder Matrix, in der die Zeilen für die Bezirke und die Spalten für die Parteien stehen. Die Anzahl der Stimmen, die eine Partei in einem Bezirk bekommt, wird in das entsprechende Kästchen eingetragen. Diese „Stimmenmatrix“ wird die Grundlage sein für die Berechnung einer anderen Matrix, die ich „Sitzmatrix“ nennen will. Diese zeigt dann für jeden Bezirk und jede Partei an, wieviele Vertreter die Partei aus dem Bezirk entsenden darf. Für jede Zeile und für jede Spalte der Sitzmatrix ist also die Summe vorgegeben, nämlich als die Gesamtzahl an Vertretern jedes Bezirks bzw. jeder Partei, so wie sie zuvor bestimmt worden sind. Durch Auffüllen der Sitzmatrix werden wir die Parteienvertreter den verschiedenen Bezirken zuteilen. Das Ganze erinnert an ein großes Sudoku–Rätsel, allerdings mit einem raffinierten Zusatz. In Zürich würde die Sitzmatrix aus 18 Zeilen und 12 Spalten bestehen, da es 18 Bezirke gibt und 12 Parteien antreten. Die Summe jeder Zeile und jeder Spalte ist bereits gegeben und man sucht nun nach der geeigneten Zahl für jedes Kästchen. Eine Bedingung besteht darin, dass die Zeilen und die Spalten sich jeweils zu der gegebenen Summe aufaddieren. (Die Gesamtsumme über alle Parteien, die auch die Gesamtsumme über alle Bezirke ist, entspricht der Anzahl der Ratsmitglieder, also 180.) Das ist der Sudoku–Teil. Die andere Bedingung besteht darin, dass die letztendlichen Zuteilungen irgendwie die verhältnismäßige Stärke der Parteien in den einzelnen Bezirken widerspiegeln. Das ist der raffinierte Zusatz. Pukelsheim bewies, dass man eine alle Bedingungen erfüllende Sitzmatrix erhält, wenn man Websters Divisorverfahren gleichzeitig auf Parteien und Bezirke anwendet. Mehr noch: Dies ist die einzige solche Sitzmatrix. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Divisoren nicht direkt berechnet werden können, sondern nach und nach gesucht werden müssen. Mit dem von Pukelsheim entwickelten Computer– Algorithmus ist dies allerdings kein Problem. Die Schönheit des Verfahrens liegt darin, dass sowohl die Bezirke als auch die Parteien proportional vertreten sind und dass jede Stimme gezählt wird. Auch Stimmen, die in kleinen Bezirken für kleine Parteien abgegeben werden und nicht unbedingt dazu führen, dass diese Partei in diesem Bezirk vertreten wird, finden doch ihren Weg in den Parteientopf und helfen der Partei, woanders Sitze zu gewinnen. Dieses Verfahren wurde in Zürich zum ersten Mal im Februar 2006 benutzt und im Großen und Ganzen waren alle mit dem Ergebnis zufrieden. Aber ist das Biproportionalitätsverfahren wirklich gerecht? Schließlich ist es möglich, dass eine Partei in einem Bezirk mehr Sitze bekommt als eine andere Partei, die in diesem Bezirk mehr Stimmen erhalten hat, weil überzählige Stimmen von woanders „übertragen“ wurden. Auf den ersten Blick könnte dies ungerecht erscheinen, aber insgesamt bekommt doch jede Partei ihren gerechten Anteil an Abgeordneten. Kleine Parteien profitierten doppelt von dem neuen Verfahren: Zum einen gingen ihre Stimmen in kleinen Bezirken nicht verloren und zum andern wurden Bürger, die zuvor nicht
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Tabelle 13.2 Biproportionalitätsverfahren (A) Stimmenmatrix Bezirk 1 Bezirk 2 Bezirk 3 Summe (Wahl)
Partei AA 1.800 3.600 4.500 9.900
Partei BB 1.200 1.350 6.000 8.550
Partei CC 1.500 2.250 1.800 5.550
Summe (Volkszählung) 4.500 7.200 12.300 24.000
9 Sitze sind zu verteilen. Auf Grundlage der Volkszählungsdaten ergibt Websters Methode mit einem Divisor 2.850 zwei Sitze für Bezirk 1, drei Sitze für Bezirk 2 und vier Sitze für Bezirk 3. Auf Grundlage der Wahlergebnisse ergibt Websters Methode mit einem Divisor 2.700 vier Sitze für Partei AA, drei für Partei BB und zwei für Partei CC. (Wir nehmen an, dass alle in der Volkszählung erfassten Bürger auch abgestimmt haben.) (B) Sitzmatrix
Bezirk 1 Bezirk 2 Bezirk 3 Parteiendivisor
Gesamtanzahl der Sitze 2 3 4
Partei AA 4 1 1 2 2.250
Partei BB 3 0 1 2 2.400
Partei CC 2 1 1 0 2.775
Bezirks– divisor 1,01 1,10 1,30
Indem man sowohl den Parteiendivisor als auch den Bezirksdivisor auf die Kästchen der Stimmenmatrix anwendet und dann rundet, erhält man die Sitzmatrix. (Z.B. Partei AA in Bezirk 3: (4.500/2.250)/1, 30 = 1, 54. Nach der Rundung ergibt dies zwei Abgeordnete für Partei AA im Bezirk 3.)
gerne chancenlose Parteien gewählt hatten, dazu ermutigt, ihre Stimmen für die von ihnen tatsächlich bevorzugte Partei abzugeben, auch wenn es eine kleine Partei ist. Sollten große Parteien deshalb Bedenken gehabt haben, so wurden sie jedenfalls nicht laut geäußert, denn es wäre politisch äußerst unkorrekt gewesen solche eigennützigen Motive zuzugeben. *** Gehen wir weiter zu einer jungen Demokratie: Israel. Der Staat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Heimat für jüdische Menschen gegründet und war seitdem durch die ihn umgebenden arabischen Staaten bedroht. Aber Belastungen sind auch im Innern entstanden. Immigranten aus der ganzen Welt haben sich in Israel gesammelt: orthodoxe Juden aus Bagdad oder Warschau, weltliche Juden aus Paris oder London, hochgebildete und freisinnige Immigranten aus Deutschland, ergebene, aber kaum des Lesens und Schreibens kundige Juden aus dem Jemen und Marokko. Hinzu kommen Muslime, Christen und Beduinen. In jüngeren Jahren haben sich Hunderttausende an Immigranten aus Äthiopien und eine Million Immigranten aus der früheren Sowjetunion im Heiligen Land angesiedelt. Der ganze Staat ist eine einzige Mischung aus Kulturen, Religionen, Sprachen und Gebräuchen. Und natürlich möchte jeder, dass seine Stimme gehört wird und seine Interessen im Parlament vertreten werden.
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All dies ergibt eine sehr lebendige und pulsierende Demokratie. Wenn Wahlzeit ist, wetteifern üblicherweise mindestens zwei Dutzend Parteien um die 120 Sitze des israelischen Parlaments, der Knesset. Aufgrund der Verschiedenheit und Uneinheitlichkeit der Bevölkerung wurde absichtlich eine niedrige Schwelle von 2 Prozent der gültigen Stimmen (bis vor kurzem 1,5 Prozent) für den Einzug einer Partei ins Parlament angesetzt. Der ganze Staat wird als ein einziger Wahlkreis angesehen und meistens gelingt es einem Dutzend oder mehr Parteien, die Hürde zu überwinden und in der Knesset vertreten zu sein — manche nur mit zwei oder drei Abgeordneten. Solch ein aufgesplittertes Parlament macht die Regierungsarbeit sehr schwierig und kaum eine Regierung hält bis zum Ende der Wahlperiode durch. Folglich gibt es alle zwei bis drei Jahre Neuwahlen. Da sehr viele kleine Parteien ins Parlament einzuziehen, gehen sehr viele Bruchteile an Sitzen verloren. Mitte der 1970er Jahre beschlossen zwei Mitglieder der Knesset, Yohanan Bader von der rechten Seite des politischen Spektrums und Avraham Ofer von der linken, etwas dagegen zu tun. Immerhin könnte für eine Partei, die genug Stimmen für zwei Sitze bekommt, aber abgerundet wird, über ein Viertel der Stimmen verloren gehen. Bader und Ofer wollten, dass die Unterstützer der Partei in solch einem Fall zumindest die Gewissheit haben, dass ihre Stimmen zum Erfolg einer irgendwie ähnlich orientierten Partei beitragen. (Dies sollte allerdings nicht für Parteien gelten, die die Zweiprozenthürde nicht überschreiten. Stimmen für solche Parteien sind definitiv verloren.) Das von Bader und Ofer vorgeschlagene Verfahren sollte es zwei politischen Parteien mit nur geringfügig unterschiedlichem Programm erlauben, ihre überzähligen Stimmen zusammenzulegen. Wenigstens eine von beiden sollte die Möglichkeit eines zusätzlichen Sitzes erhalten. Um also die Sitze der Knesset auf die verschiedenen Parteien zu verteilen, schlugen Bader und Ofer eine ganz eigene, Israel– spezifische Version des Jefferson–D’Hondt–Hagenbach–Bischoff–Verfahrens vor. Bevor die Zuteilung vorgenommen wird, dürfen ähnlich gelagerte Parteien ihre überzähligen Stimmen zusammenführen, so dass eine von ihnen einen zusätzlichen Sitz erringen könnte. Am 4. April 1975 verabschiedete die Knesset nach einer 17stündigen Debatte den Gesetzesvorschlag von Bader und Ofer und seitdem kann sich Israel damit rühmen, für die Sitzzuteilung im Parlament das Jefferson–D’Hondt–Hagenbach– Bischoff–Bader–Ofer–Verfahren zu benutzen. Vor jeder Wahl unterzeichnen ähnlich gelagerte Parteien „Überschussstimmen“–Abkommen (im deutschsprachigen Raum auch „Listenverbindungen“ genannt). Falls nach der anfänglichen Zuteilung der ganzzahligen Sitzanteile die beiden Parteien zusammen hinreichend viele Stimmen für einen zusätzlichen Sitz in der Knesset übrig haben, dann überträgt die Partei mit der geringeren Anzahl an Überschussstimmen diese an die andere Partei und ermöglicht ihr dadurch einen zusätzlichen Sitz. Dieses Verfahren hat nun schon mehr als drei Jahrzehnte lang zur Zufriedenheit aller Beteiligten funktioniert. Ein Grund dafür, dass sich noch niemand beschwert hat, könnte sein, dass die Zahlenberechnungen von Computern im Hintergrund ausgeführt werden und daher niemand wirklich weiß, auf Kosten welcher dritten Partei die beiden Parteien mit den zusammengeführten Überschussstimmen ihren zusätzlichen Sitz erringen.
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*** In Frankreich blieb Michel Balinski derweil nicht untätig. Nachdem er mit Peyton Young zusammen festgestellt hatte, dass es für das Zuteilungsproblem keine Lösung gibt, ließ er allerdings die Fragen des Parlamentszuschnitts sein und wandte sich stattdessen der Präsidentschaftswahl zu. Konnte das Wahlverfahren irgendwie verbessert und trotz Arrows Unmöglichkeitssatz Zirkel vermieden werden? Zusammen mit einem jungen Kollegen an der École Polytechnique, Rida Laraki, brachte er einen neuen Vorschlag auf, der alle Hindernisse umgehen sollte: Condorcets Paradoxon, die Probleme der Borda–Wahl wie auch Arrows Unmöglichkeitssatz. Die beiden Mathematiker schlugen eine erweiterte Wahlprozedur vor. Die Wähler sollten nicht mehr nur ein Stück Papier mit dem Namen ihres bevorzugten Kandidaten in die Wahlurne werfen. Stattdessen sollten sie ein „Bewertungsformular“ ausfüllen, in dem sie jedem Kandidaten eine Note erteilen, von „sehr gut“ über „gut“ und „befriedigend“ und so weiter bis hinunter zu „ungenügend“ (gleich „abgelehnt“). Für jeden Kandidaten wird notiert, wieviel Prozent der Stimmen er in den einzelnen Notenstufe erreicht hat, und dann der so genannte Median (die „Mehrheitsnote“) berechnet: Von „sehr gut“ angefangen werden für jeden Kandidaten die Prozentzahlen pro Note addiert, bis mindestens die Hälfte der Stimmen erreicht ist. Der Kandidat mit dem besten Median oder, falls mehr als ein Kandidat denselben besten Median aufweist, der Kandidat mit dem höchsten Prozentsatz beim Median, würde zum Sieger erklärt werden. Eine Gelegenheit, das Verfahren auszuprobieren, bot die französische Präsidentschaftswahl im Frühsommer 2007. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen muss der Sieger mindestens die Hälfte der Stimmen erreichen. Da sich üblicherweise drei oder mehr ernsthafte Kandidaten um das Amt bewerben, ist solch ein Ergebnis nur schwer zu erreichen. Daher gehen die beiden in der ersten Runde führenden Kandidaten zwei Wochen später in eine zweite Runde. Ein Dutzend Kandidaten trat an, die wichtigsten darunter waren der Kandidat der Rechten Nicolas Sarkozy und die Sozialistin Ségolène Royal für die Linke. In der ersten Runde am 22. April erreichte Sarkozy 31 Prozent der Stimmen und Royal 26 Prozent. François Bayrou von der zentristischen „Union für die französische Demokratie“ wurde mit 19 Prozent der Stimmen Dritter. Da keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreichte, gingen die beiden Führenden, Sarkozy und Royal, in die zweite Runde. Bayrou war zusammen mit neun anderen weiter unten angekommenen Kandidaten aus dem Rennen. In der Stichwahl am 6. Mai schlug Sarkozy Royal mit einer bequemen Mehrheit von 53 Prozent. Daher übernahm er für fünf Jahre das Amt des Président de la République. Aber war er wirklich der bevorzugte Kandidat der Franzosen? Balinski und Laraki baten in drei Wahllokalen die Wähler, nachdem sie erst auf normale Weise ihre Stimme abgegeben hatten, auch das Bewertungsformular auszufüllen. Dabei kam ein überraschendes Ergebnis heraus: Keiner der beiden Favoriten hätte das beste Resultat erreicht, sondern der herausgefallene Kandidat François Bayrou wäre der Gewinner gewesen. 69 Prozent der Wähler bewerteten ihn mit „befriedigend“ oder besser. Nur 58 Prozent sagten das Gleiche von Royal, und Sarkozy hinkte mit nur 53 Prozent der Wähler, die ihm mindestens eine befriedigende Note
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erteilten, weit hinterher. Entsprechend wurde Bayrou von nur 7 Prozent der Wähler abgelehnt, wohingegen die Ablehnungsrate für Royal bei 13 Prozent und für Sarkozy bei beachtlichen 28 Prozent lag. Der Kandidat Jean–Marie Le Pen von der extremen Rechten wurde ganz ans Ende gesetzt, obwohl er bei der traditionellen Stimmabgabe in der ersten Runde auf den vierten Platz kam. Während er bei der regulären Stimmabgabe auf 10 Prozent der Stimmen kam, wurde er von 75 Prozent der Wähler auf Balinskis und Larakis Bewertungsformular abgelehnt. Die beiden Mathematiker behaupten, dass ihr Verfahren ein differenzierteres Bild gestattet, da über das Bewertungsformular die Meinungen der Wähler zu allen Kandidaten berücksichtigt werden. Damit würde es nicht mehr ausreichen von der Hälfte der Bevölkerung abgenickt zu werden, sondern die Kandidaten müssten sich bemühen von allen Bürgern beste Noten zu bekommen. Anscheinend vermeidet die von ihnen vorgeschlagene Methode alle Fallen. Condorcets Paradoxon wird umgangen, da die Vergabe der Noten nicht von einer Reihenfolge der Kandidaten abhängt. Die Methode läuft nicht in die Borda–Falle, denn das Hinzufügen oder Entfernen eines Kandidaten ändert nicht die Noten der anderen Kandidaten. Und sie geht Arrows deprimierender Schlussfolgerung aus dem Weg, denn es gibt keinen Versuch, unvergleichbare Nutzen zusammenzuführen, sondern die Wähler drücken in verständlicher Sprache die Intensität ihrer Präferenzen aus. Es treten allerdings eine Menge an Fragen über den Gebrauch und die Interpretation von Ausdrücken auf. Legen alle Wähler Wörtern wie „gut“ oder „annehmbar“ die gleiche Bedeutung bei? Balinski behauptet, dass man in der Praxis die Existenz einer gemeinsamen Sprache annehmen kann. Wenn zum Beispiel Eiskunstlauffiguren beurteilt werden oder Weine, dann glaubt Balinski, dass die Juroren tatsächlich eine gemeinsame Sprache der Bewertung benutzen. Allerdings lassen uns die immer wieder auftretenden Skandale bei Olympischen Spielen oder anderen Sportereignissen eher an das Gegenteil glauben. Und warum soll ausgerechnet der Median das Siegeskriterium sein und nicht der „Dreiviertelian“ (oberes Quartil), der einen anderen Sieger hervorbringen könnte? *** Über all das hinaus, was in diesem Buch Erwähnung fand, wurden noch andere Verfahren und Techniken für die Sitzzuteilung in Parlamenten oder für die Wahl eines Präsidenten, Direktors, Oberbosses oder capo di tutti capi vorgeschlagen. Ich werde zwei davon erwähnen, die „übertragbare Einzelstimmgebung“ und die Wahl durch Zustimmung. Die übertragbare Einzelstimmgebung wurde erstmals im neunzehnten Jahrhundert in Dänemark eingesetzt und wird heute für die Parlamentswahlen in Irland und in Malta genutzt sowie für Regional– und Kommunalwahlen in Australien, Schottland und Neuseeland. Im ersten Schritt bringen die Wähler die Kandidaten in eine Rangfolge. Falls ein Kandidat von einer absoluten Mehrheit an die erste Stelle gesetzt wird, gewinnt er. Andernfalls wird der Kandidat mit den wenigsten ersten Plätzen von den Stimmzetteln entfernt und seine Stimmen werden auf die jeweils nächsten Kandidaten übertragen, die um einen Platz in der Rangfolge aufrücken. Falls wieder niemand die absolute Mehrheit erreicht, wird der nächste Verlierer
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ausgeschieden. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht und zum Sieger wird. Kritikpunkte an dem Verfahren sind, dass strategisches Wählen möglich ist, dass ein gemäßigter Kandidat sehr früh ausscheiden könnte, dass einige von Arrows Anforderungen verletzt sind und dass das Verfahren, wenn es für die Sitzzuteilung eines Parlaments genutzt wird statt für eine Personenwahl, auch dem Alabama–Paradoxon unterliegt. Bei der Wahl durch Zustimmung darf jeder Wähler auf seinem Stimmzettel einen oder mehrere Kandidaten anstreichen, die er annehmbar findet. Er kreuzt also nicht nur seinen bevorzugten Kandidaten an, sondern alle, die er als ausreichend geeignet für das Amt ansieht. Jedes Kreuz zählt als eine Stimme für den betreffenden Kandidaten und derjenige mit den meisten Stimmen wird zum Sieger. Der Kandidat mit der größten Gesamtunterstützung gewinnt. Der Vorteil dieses Verfahren besteht in der zusätzlichen Flexibilität. Ein Wähler hat die Möglichkeit, für seinen bevorzugten Kandidaten zu stimmen, auch wenn dieser kaum eine Chance auf den Sieg hat, und gleichzeitig für einen vernünftigen Kandidaten mit größeren Chancen. So wird die Stimme nicht verschwendet. Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2000 hätten die Unterstützer von Ralph Nader zum Beispiel Al Gore als annehmbare Wahl kennzeichnen können. Dann wäre dieser gewählt worden anstelle von George W. Bush, was wohl dem Willen des Volkes näher gekommen wäre. (Um die Wahrheit nicht zu verschweigen: Gore hatte eine Mehrheit der Stimmen der Bevölkerung, aber im Wahlmännerkollegium ging seine Kandidatur um die Präsidentschaft verloren.) Außerdem bringt es keinen Vorteil, wenn man seine wahren Präferenzen falsch wiedergibt. Die anrüchige Gewohnheit des strategischen Wählens wird also bei Wahlen nach dem Zustimmungsverfahren nicht zum Einsatz kommen. Die Wahl durch Zustimmung wird und wurde von verschiedenen Berufsverbänden genutzt, von deren Mitgliedern man ein Verständnis ihrer Vorzüge erwarten kann, wie zum Beispiel der Mathematical Association of America, der American Mathematical Society, der American Statistical Association, des Institute of Electrical and Electronics Engineers und der Ökonometrischen GesellschaftOekonometrische@Ökonometrischen Gesellschaft. Am sichtbarsten wird die Wahl durch Zustimmung, wenn die Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen den Mitgliedern des Sicherheitsrats in einer Meinungsumfrage zur Vorentscheidung vorgestellt werden. Dann zeigt jedes Mitglied an, welche Kandidaten ihm annehmbar sind und welche nicht. (Um das Verfahren weniger hart klingen zu lassen, stehen auf dem Stimmzettel neben den Kandidatennamen das diplomatischere „zugeraten“ und „abgeraten“.) Wenn die Ergebnisse vorliegen, hält der amtierende Generalsekretär informelle Besprechungen ab und weitere Umfragen werden durchgeführt, bis ein Kandidat ermittelt ist, den alle Mitglieder als akzeptabel bezeichnen. Dieser Konsenskandidat wird anschließend der Generalversammlung vorgestellt, in der dann die eigentliche Wahl stattfindet, die aber nur noch eine Formalität ist. Eine Kritik an der Wahl durch Zustimmung ist, dass der schließlich gewählte Kandidat einfach derjenige sein könnte, gegen den die wenigsten Wähler etwas haben, also ein Kandidat des „kleinsten gemeinsamen Nenners“. ***
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Am Ende dieses Buches kommen wir zu der traurigen Schlussfolgerung, dass die verflixte Mathematik der Demokratie nicht verschwindet. Alle Wahlmethoden und Zuteilungsverfahren haben ihre Unzulänglichkeiten. Paradoxa, Tricks, Geheimnisse, Rätsel und Schwierigkeiten, die perfekte demokratische Prozesse behindern, werden bestehen bleiben. Achten Sie auf die nächste Wahl in Ihrem Land und auf die nächste Sitzzuteilung in Ihrem Parlament!
BIOGRAFISCHER ANHANG
Yohanan Bader Bader wurde 1905 in Krakau (heute Polen) geboren und war aktiv im Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund, kurz „Der Bund“ genannt. Als er etwa zwanzig Jahre alt war, änderte er seine politischen Ansichten und trat einer nationalistischeren Organisation bei, der so genannten revisionistischen zionistischen Bewegung. Bader studierte Jura und zog 1939 nach Ost–Polen, damals unter sowjetischer Herrschaft. Er wurde 1940 verhaftet und zu Zwangsarbeit in Nordrussland verurteilt. Nach seiner Freilassung 1941 verließ er die Sowjetunion, reihte sich 1942 in die freie polnische Armee ein und kam gegen Ende des Jah-
res 1943 in Palästina an. Dort wurde er Mitglied der rechten Untergrundgruppe „Etzel“, die mit Guerillataktiken für ein Ende des britischen Mandats in Palästina kämpfte. 1945 wurde er von den britischen Behörden verhaftet und verbrachte drei Jahre im Gefängnis. Nach der Errichtung des Staates Israel 1948 wurde Bader zu einem der Begründer der rechten Herut–Bewegung, die später der Likud–Partei beitrat und noch später sich wieder abspaltete. Bader wurde 1949 in die erste Knesset gewählt und war ununterbrochen bis 1977 in der Opposition tätig. Er starb 1994.
Avraham Ofer Baders „wahlpolitischer“ Waffengefährte Ofer gehörte zur anderen Seite des politischen Spektrums in Israel, zur Arbeiterpartei. Er wurde 1922 ebenfalls in Polen geboren; Ofers Familie emigrierte aber nach Palästina, als er noch ein Kind war. Dort schloss er sich der vorstaatlichen Untergrundarmee, der Hagana, an und wurde einer der Gründer des Kibbuz Hamadia im Jordan–Tal. (Aus der Hagana wurden später die offiziellen israelischen Verteidigungskräfte. Etzel war vor der Gründung des Staates Israel ein unerbittlicher Rivale der Ha-
gana.) Während des Unabhängigkeitskriegs diente Ofer als Oberstleutnant in der israelischen Marine und als erster Kommandeur der Marinebasis in Eilat. In den ersten Jahren nach der Errichtung des Staates Israel betätigte Ofer sich als Geschäftsmann. Aber er war auch schon immer in der Politik aktiv, seit er 1944 der Mapai–Partei beitrat, die sich später in die israelische Arbeiterpartei verwandelte. 1969 wurde er in die Knesset gewählt und 1974 unter Premierminister Yitzhak Rabin zum Wohnungsbauminister. Traurigerweise wurde er in eine Be-
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stechungsaffäre verwickelt, die die Partei und den Staat bis auf die Grundfesten erschütterte. Im Januar 1977, noch be-
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vor irgendjemand angezeigt wurde oder irgendetwas bewiesen war, beging Ofer Selbstmord.
Literaturverzeichnis
Dieses Verzeichnis stellt keinen vollständigen Überblick über die Literatur zu den in den vorherigen Kapiteln behandelten Themen da. Die aufgeführten Werke bieten eher eine bunte Auswahl von Büchern und Artikeln, die dem interessierten Leser einen Einstieg und Vorgeschmack bieten können. 1. Arrow, Kenneth. J., 1970 „Social Choice and Individual Values“, 2. Auflage, Yale University Press, New Haven, CT. 2. Balinski, Michel. L. und Rida Laraki, 2007 „A Theory of Measuring, Electing, and Ranking“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 104, S. 8720–8725. 3. Balinski, Michel L. und H. Peyton Young, 1975 „The Quota Method of Apportionment“, American Mathematical Monthly, Band 82, S. 701– 730. 4. Balinski, Michel L. und H. Peyton Young, 1977 „Apportionment Schemes and the Quota Method“, American Mathematical Monthly, Band 84, S. 450–455. 5. Balinski, Michel L. und H. Peyton Young, 1980 „The Webster Method of Apportionment“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 77, Nr. 1, S. 1–4. 6. Balinski, Michel L. und H. Peyton Young, 2001 „Fair Representation: Meeting the Ideal of One Man, One Vote“, zweite Auflage, Brookings Institution Press, Washington DC. 7. Bartholdi, J. III, C. A. Tovey und M. A. Trick , 1989 „Voting Schemes for Which it Can Be Difficult to Tell Who Won the Election“, Social Choice and Welfare, Band 6, S. 157–165. 8. Benardete, Seth, 2001 „Plato’s Laws: the Discovery of Being“, University of Chicago Press, Chicago IL. 9. Bezembinder, Thom G. G., 1981 „Circularity and Consistency in Paired Comparisons“, British Journal of Mathematical and Statistical Psychology, Band 34, S. 16–37. 10. Black, Duncan, 1958 „The Theory of Committees and Elections“, Cambridge University Press, Cambridge, England. 11. Black, Duncan, Iain McLean, Alistair McMillan und Burt Monroe, 1996 „A Mathematical Approach to Proportional Representation: Duncan Black on Lewis Carroll“, Springer–Verlag, Heidelberg.
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Sachverzeichnis
Abrunden, siehe D’Hondt–Verfahren Abstimmungsmethoden, Geschichte der, 31 Académie des Sciences, 65, 92 Borda in der, 58, 73, 85 Condorcet in der, 70, 71, 85 Laplace in der, 87, 94 Nachrufe, 70 Nachwahl von Mitgliedern, 87, 92 Napoléon in der, 88 Schließung und Neueröffnung, 88, 94 Académie Française, 70, 71 Adams’ Verfahren, siehe Divisorverfahren mit Aufrundung Adams, John Quincy, 116 Adeimantos, 1 Ägypten, 18 Agenda Setting, 41 Akademie (Griechenland), 18 Akropolis, 3 Alabama–Paradoxon, 119–121, 173, 177, 179, 182 (Tabelle), 120, 123, 183 Alaska (Aufnahme in die USA), 173 d’Alembert, Jean le Rond, 58, 70, 87, 88 Algorithmus, 97 Alice hinter den Spiegeln (Carroll), 97 Alice im Wunderland (Carroll), 97 Allen, A. Leonord, 140 American Mathematical Society, 196 The American Mercury, 148 American Political Science Association, 130 American Statistical Association, 196 Analphabetismus, 50 Andresen, August H., 140 Antiphon, 1 Antisemitismus, 148, 149 Aper, Flavius, 24
Aristo, Titus, 25 Aristokratie, 16, 17 Ariston, 1 Aristoteles, 18 Arizona (Aufnahme in die USA), 126 Arkansas, Zuteilung von Kongresssitzen, 137–142 (Tabelle), 137 Armee (Platon über), 16 Arrow, Kenneth, 153–164, 166–168 über Abstimmungen und Wahlen, 162 über Gleichwertigkeit als Wahlmöglichkeit, 171 bei der RAND Corporation, 155 A Difficulty in the Concept of Social Welfare, 155 Doktorarbeit, 153, 155, 161 Einfluss/Reputation, 168 Nobelpreis, 153, 168 On the optimal use of winds for flight planning, 167 sein Leben, 166–168 Social Choice and Individual Values, 155 Arrow, Selma geborene Schweitzer, 168 Ars inveniendi veritas (Llull), 43 Artifitium Electionis Personarum (Llull), 37–39, 41, 42, 45, 54 Athen, 1, 2, 5–7, 18 Atombombe, 150 aufklärerisches Denken, 71 Aufrunden, siehe Divisorverfahren mit Aufrunden Ausschuss für öffentliche Bildung, 94 Ausschuss für Landwirtschaft und Handel, 65 Australien, Wahlen, 195 Auswahlaxiom, 171 Axiomensysteme, 157–159, 176 203
204 Bader, Yohanan, 193, 197 Balinski, Michel, 174–184, 194–195 (Tabelle), 182, 183 über die H–H–Methode, 176 an der City University of New York, 175 Experte in integer programming, 175 Fair representation, 177–184 sein Leben, 184 und Laraki, 194–195 und Young, 175–184 Barnabiter, 57 Bartholdi, John, 108 Baynes, Robert Edward, 98, 102, 103 Bayrou, François, 194 Benedikt XIII. (Papst), 47 Berichte der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften, 155 Bernoulli, Daniel, 154, 155 Bernoulli, Nikolaus, 154, 155 Berthoud, Ferdinand, 64 Binärsystem, 32 Biproportionalitätsverfahren, 190–192 (Tabelle), 192 Black, Duncan, 106, 163 Blanquerna (Llull), 32–39, 41, 42, 45, 53, 54 Bliss, Gilbert A., 133–136, 147 Bodleian–Bibliothek, 101 Bodley, George Frederick, 104 Borda, Jacques François de, 57 Borda, Jean Antoine de, Seigneur de Labatut, 57, 58 Borda, Jean Charles de, 57–67, 164 in der Académie des Sciences, 58, 73, 85 Mémoire sur les élections au scrutin, 59, 101 Militärkarriere, 58, 65 Nachruhm, 80 sein Leben, 57, 64–67 sein Tod, 58 über Flüssigkeiten, 58 und Condorcet, 57, 59, 69, 73, 85–87 Voyage fait par ordre du roi, 65 Wahl nach der Rangfolge des Verdiensts, 60–64, 85–91 wissenschaftliche Errungenschaften, 58, 65 Brown, Ernest W., 133–136, 147 Bruchstimmen, 133 bubble sort, 52 Budapest, Universität, 149 Bush, George W., 123, 160, 164, 196 Carroll, Lewis, siehe Dodgson, Charles Lutwidge Chicago Edison Company, 147
Sachverzeichnis Christ–Church–College (Oxford University), 96–105, 109 Christentum gegenüber Judentum und Islam, 44 Chronometer, 64 City University of New York, 175, 176 Clark, J. Bayard, 138, 141 Codex Vaticanus Latinus 9332, 37 Collège de Navarre, 69 Columbia–Universität, 167 Condorcet, Marquis de, 69–83 Anklage als Verräter, 72, 81 aufgeklärtes Denken, 71 Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, 82 Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix, 73, 90, 101 Generalinspekteur der Münze, 70 in der Académie Française, 70, 71 in der Kommission für Maße, 66 Mitbegründer des Journal d’Instruction Sociale, 76 Nachruhm, 80 Rolle in der Französischen Revolution, 72 sein Leben, 69–72, 81–83 sein Tod, 67, 83 Sur les Élections, 76 über Wahlen und Abstimmungen, 73–76, 162 (Tabelle), 74 und Borda, 57, 59, 69, 73, 85–87 und Turgot, 70, 73 Verfassungsentwurf, 72 Vermächtnis, 72 versteckt bei Mme Vernet, 81–82 wissenschaftliche Schriften, 70 Condorcet, Sophie de (geborene Grouchy), 71, 81–83, 114 Condorcet–Paradoxon, 72, 74–76, 106, 153, 154 Cornell–Schule, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung Cornell–Universität, 125, 145 Cowles Foundation (University of Chicago), 155, 168 Croix, Marie Thérèse de la, 57 Curtis, Carl T., 140 Cusanus, 47–55 beim Konzil von Basel, 48 De Concordantia Catholica, 49, 50, 54–55 über Mehrheitsentscheidungen, 73 Llulls Einfluss, 47, 49, 54 Nachruhm, 81
Sachverzeichnis Nachwirkung, Einfluss, 54 Ruf als Gelehrter, 48, 49, 54 sein Leben, 47, 49 sein Tod, 49 seine Bibliothek, 39, 49 seine Kirchenkarriere, 48 Dänemark, Wahlen, 195 Dantzig, George, 176 Dartmouth–College, 118 De Arte Eleccionis (Llull), 38–42, 45, 47, 49, 54 De Concordantia Catholica (Cusanus), 49, 50, 54–55 Dean, James, 133 Dean–Verfahren, 133, 174, 178–180, 182–184 (Tabelle), 178, 183 Deane, Mr., 104 Demografie, 145 Demokraten gegen Republikaner über die Kongresszuteilung, 138–140, 142 Demokratie, 164 Athen, 2 eine Person, eine Stimme, 72, 75 individuelle Teilnahme an kollektiven Entscheidungen, 156 Platon über, 2, 6, 17 und die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion, 161 und Monotonie–Bedingung, 170 und Pareto–Bedingung, 170 Denkfabrik, 155 Dexter, Afranius, 23–27 D’Hondt, siehe Hondt A Difficulty in the Concept of Social Welfare (Arrow), 155 Diktatur/diktatorisch, 161, 162, 164, 165, 172 Dion, 18, 19 Dionysios der Ältere, 18 Dionysios II., 18, 19 diophantische Gleichungen, 175 A discussion of the various methods of procedure in conducting elections (Dodgson), 98 Divisorverfahren, 115, siehe auch Dean– Verfahren, D’Hondt–Verfahren und Methode der gleichen Proportionen mit Aufrundung, 117, 133, 143, siehe auch neue Haus–Methode, 178–180, 182, 183 (Tabelle), 117, 123, 178, 183 mit Standardrundung, 118–120, 122, 123, 126–131, 133, 136–138, 173, 178–183 (Tabelle), 118, 123, 137, 178, 183 Dodgson, Charles Lutwidge, 95–110
205 Alice hinter den Spiegeln, 97 Alice im Wunderland, 97 als Fotograf, 96 Christ Church, 96, 98, 103–106 A discussion of the various methods of procedure in conducting elections, 98 Einfluss/Ruf, 97, 98, 109 A Method of Taking Votes on More than Two Issues, 106 sein Leben, 95–97, 109–110 Suggestions as to the best method of taking votes, where more than two issues are to be voted on, 103, 106 über Wahlen, 97–101, 103, 106–107, siehe auch Markierungsmethode, 159 und Alice Liddell, 96, 109 und Max Müller, 105 Dr. Seltsam (Kubrick), 150 Dreieinigkeit, 32 dreiwertige Entscheidungen gegenüber sukzessiven zweiwertigen Entscheidungen, 25–27, 31 Drton, Matthias, 39 Duelle, siehe Zweikämpfe ebene Geometrie, 158 École Normale Supérieure, 88, 92, 94 Econometrica, 165 Educational Times, 96 eingeschränkte individuelle Präferenzsysteme, 163 Einstein, Albert, 142, 172 einstimmige Entscheidungen, 74 Einwanderungquoten, 146 Einzelstimmabgabe, übertragbare, 195 Eisenhart, Luther P., 133–136, 142–144, 148 Éléction par ordre de mérite, 60–64, 85–91 ENS, siehe École Normale Supérieure Enthaltung, 102, 103 „Entscheidungsfindung in Organisationen“ (Harvard–Universität), 164 Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Condorcet), 82 Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix’ (Condorcet), 73, 90, 101 Etzel, 197 Eugenik, 148 euklidische Geometrie, 157 Eurovision Song Contest, 53 The Existence of Strategy-Proof Voting Procedures (Satterthwaite), 169
206 Fair representation (Balinski, Young), 177–184 Fermat, Pierre de, 175 Feudalsystem, 16 Flugzeugkonstruktion, 58 Ford, Leland M., 140 Fotografie, 96 Frankreich, Wahlen, 92, 194–195 Französische Revolution, 57, 58, 67, 70, 72, 88, 93 Frauen Condorcet über die Rechte von ..., 71 Platon über ihre Wählbarkeit für Ämter, 10, 12 ihren Status, 16 ihren Wehrdienst, 8 Friedman, Milton, 156 ganzzahlige Optimierung, 175 Gathings, Ezekiel, 139 Gauss, Carl Friedrich, 97 geheime gegenüber offenen Wahlen, 51 Geld, Nutzen von, 154 Generalsekretär der Vereinten Nationen, 196 geometrisches Mittel, 128 Runden am, 128–130, 151 gerechte Zuteilung von Parlamentssitzen, Unmöglichkeit davon, 173 Gerechtigkeit (Platon über), 14, 15 Gerichte (Athen), 5 Geschworenengerichte, 93 gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion, 159 Gesetze (Platon), 3–14 über Gerichte und Richter, 13 über Stadtaufseher, 11 über Vermögensklassen, 4, 9, 10 über Wahlen und Abstimmungen, 5, 7–11 über Wahlen, die Musik und Sport betreffen, 12 über den Aufseher des Erziehungswesens, 12 über die Bestimmung der Generäle, 9 von Beamten, 9–13 von Priestern und Auslegern, 11 über die Größe von Haushalten, 3 über die Polizei und ihre Beauftragten, 11 über die Überwachung von Wahlen, 9 über geheime Wahlen, 12 Gesetzeswächter, 7–9 Gibbard, Allen, 164–166, 169 Manipulation of voting schemes, 165 Norms for Guilt and Moral Concepts, 169 Preference and Preferability, 169
Sachverzeichnis Thinking How to Live, 169 Truth and Correct Belief, 169 Wise Choices, Apt Feelings, 169 Gibbard–Satterthwaite–Theorem, 165 Gibson, Ernest, 132 Gilchrist, Fred C., 139 Girondisten, 72 Glaukon, 1 Gödel, Kurt, 142, 172 Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, 172 göttliche Wahrheit bei Abstimmungen, 33, 36, 41, 73 Gore, Al, 123, 160, 164, 196 Gossett, Ed, 138 Gregor X. (Papst), 48 Gregor XII. (Papst), 47 H–H–Verfahren, siehe Methode der gleichen Proportionen Hägele, Günther, 39 Hagana, 197 Hagenbach–Bischoff, Eduard, 188 Hagenbach–Bischoff–Verfahren, siehe D’Hondt–Verfahren Hamilton, Alexander, 113 Hamiltons Verfahren, siehe Hare–Niemeyer– Verfahren Haneberg, Dominik, 39 Hardy, G.H., 96 Hare, Thomas, 188 Hare–Niemeyer–Verfahren, 113, 119–123, 126, 177, 181 (Tabelle), 123, 183 Hargreaves, Alice, siehe Liddell, Alice Hargreaves, Reginald, 110 harmonisches Mittel, 178 Harvard–Schule, siehe Methode der gleichen Proportionen Harvard–Universität, 148, 164 Hastenbeck, Schlacht von (1757), 58 Hauptmann, Herbert, 167 Hausordnungen, 31 Hawaii (Aufnahme in die USA), 173 heap sort, 52 Heirat (Platon über), 4 Heisenberg, Werner, 172 Herkulaneum (Italien), 21 Hexenprozesse, 74 Hilbert, David, 147, 150 Hill, Joseph A., 126–127, 129, 145–146, siehe auch Methode der gleichen Proportionen
Sachverzeichnis Hill–Huntington–Verfahren, siehe Methode der gleichen Proportionen Höchstzahlverfahren von D’Hondt, 188, siehe auch D’Hondt–Verfahren D’Hondt, Victor, 188 D’Hondt–Verfahren, 114–116, 133, 178–180, 182, 183, 188, 189, 193 (Tabelle), 115, 116, 123, 178, 183, 189 Honecker, Martin, 36, 39, 53 Hôtel des Monnaies, 71 Hotelling, Harold, 167 Huntington, Edward V., 127–132, 134, 140–142, siehe auch Methode der gleichen Proportionen The role of mathematics in congressional appointments, 140 sein Leben, 147 Hurwicz, Leonid, 155 IAS, siehe Institute for Advanced Studies Idealanspruch, 181–184 (Tabelle), 182 Immigranten, nicht eingebürgerte, 139 Informatik, 32, 52, 150 insert sort, 52 Institute for Advanced Study, 142, 150, 153, 172 Institute of Electrical and Electronics Engineers, 196 integer programming, 175, 176 International Statistical Institute, 143 Intransitivität, 41, 42, 54 Irland, Wahlen, 195 Islam gegenüber Judentum und Christentum, 44 Israel, 192–193, 197–198 Istanbul, 54 Jackson, Sir Thomas, 104 Jakob I., König von Aragón, 32, 43 Jakob II., König von Mallorca, 32 Jefferson, Thomas, 71, 114 Jeffersons Verfahren, siehe D’Hondt– Verfahren Jesuitenschulen, 69 Johannes XXIII. (Papst), 47 Johns–Hopkins–Universität, 148 Journal d’Instruction Sociale, 76 Juden, Benachteiligung von, 148, 149 Judentum gegenüber Christentum und Islam, 44 Justinian I., 18 Kaiserwahl, 50–53
207 Kalligrafie, 37 Kallippos, 19 Kalter Krieg, 155 Kampanien, 21 Das Kapital (Marx), 16 Karl der Große, 55 Katholische Kirche, 54–55, 74 Keynes, John Maynard, 144 Kinzer, John R., 140 Klein, Felix, 147, 149 Knesset, 193, 197 Knosos, 3 Knox, Henry, 114 kollektive Entscheidungen, 156–159, 164 kollektive Nutzenfunktion, 159 Kommunismus, 16 Komplexität eines Computerprogramms, 108 Kompromisse, 166 Kongresssitze, Zuteilung der, 111 Konstantin (Kaiser), 54, 55 Konstantinische Schenkung, 54, 55 Konstantinopel, 54 Konzil von Basel (1431–49), 48, 49 von Konstanz (1414–18), 47, 48 von Vienne (1311–12), 43 Koopmans, Tjalling C., 156 Krebs, Nikolaus, siehe Cusanus Kreta, 18 Kreuzzüge, 43, 45, 49 Kubrick, Stanley, Dr. Seltsam, 150 Kues, Nikolaus von, siehe Cusanus Kyrene, 18 La Flèche, 57 ländliche Staaten, ihr Widerstand gegen die Neuzuteilung des Kongresses, 129, 136, 140 Längengrad, Messung, 64 Lagrange, Joseph Louis, 66, 70, 94 Landvermessung, 66 Langzeitprognosen, Gruppe für, 167 Laplace, Pierre Simon, 66, 87–94 als Prüfer des Artillerie–Corps, 87 an der ENS, 88–89, 94 in der Académie des Sciences, 87, 94 Kalender, 93 Nachruhm, 93 sein Leben, 87–88, 93–94 sein Tod, 94 Théorie analytique des probabilités, 88 über Geschworenengerichte, 93 über Mehrheitsentscheidungen, 89, 91–93 Laraki, Rida, 194–195
208 Laufzeit eines Computerprogramms, 108 Lavoisier, Antoine, 66, 67 Le Pen, Jean–Marie, 195 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 32, 88 Leoni da Spoleto, 37 Leopold III., König von Belgien, 148 Leopold, Prinz, 109, 110 Lespinasse, Julie de, 70 Liddell, Alice, 96, 97, 109–110 Liddell, Henry, 96, 97, 105, 106, 109 Liddell, Lorina, 110 Lincoln, Abraham, 132 lineares Programmieren, 175 Listenverbindungen, 193 Llull, Ramon, 31–45 als Doctor Illuminatus, 32, 45 als Magister, 44 Ars inveniendi veritas, 43 Artifitium Electionis Personarum, 37–39, 41, 42, 45, 54 Binärsystem, 32 Blanquerna, 32–39, 41, 42, 45, 53, 54 De Arte Eleccionis, 38–42, 45, 47, 49, 54 Einfluss, 31, 32, siehe auch Cusanus, 54 Gründung von Sprachschulen, 43 mathematische Beweise, 32 Missionstätigkeit, 43–45 Nachruhm, 81 sein Leben, 31, 42–45 über Mehrheitsentscheidungen, 73 über Wahlen und Abstimmungen, 33 über göttliche Wahrheit, 33, 36, 41, 73 und Kreuzzüge, 45 Logarithmus, 154 Longworth, Nicholas, 132 Los, Wahl durch, 31 Ludwig XV., König von Frankreich, 65, 70, 71 Ludwig XVI., König von Frankreich, 65, 67, 72 Münzwurfspiel, 154 maßgebliche Menge, 170 Magnesia (fiktive Stadt auf Kreta), 3 Maillebois, Maréchal de, 58 Malta, Wahlen, 195 Manhattan Project, 150 Manipulation of voting schemes (Gibbard), 165 Manipulation von Wahlen, 40, 75, 76, 164–166 Marcoz, 81 Marie Antoinette, Königin von Frankreich, 71 Markierungsmethode, 100–103 Markowitz, Harry, 155 Martin V. (Papst), 48
Sachverzeichnis Martin, Joseph W., 138 Martinez, Llorenç Pérez, 37 Marx, Karl, 17 Das Kapital, 16 Maße, 65–67 Mathematical Association of America, 196 Mathematical Programming, 184 Mathematik, Respekt für die, 138, 141 Medici, Lorenzo de’ („il Magnifico“), 37 Mehrheitsentscheid, 74 mit absoluter Mehrheit, 91–93, 103, 104, 106 mit einfacher Mehrheit, 42, 73, 74 mit Zweidrittel–Mehrheit, 42 Mehrheitswahl, 162 mehrstufiges Wahlverfahren, 99 Mémoire sur les élections au scrutin (Borda), 59, 101 merge sort, 52 Merriam, William R., 125 Meter (als offizielles Längenmaß), 67 A Method of Taking Votes on More than Two Issues (Dodgson), 106 Methode der gleichen Proportionen, 127–129, 142, 144, 173, 174, 176, 178–180, 182–184 (Tabelle), 127, 137, 178, 183 Michener, Earl C., 138 Michigan, Zuteilung von Kongresssitzen, 137–142 (Tabelle), 137 Modigliano, Franco, 156 Möglichkeitssatz, 161 Mondbahn, 147 Monge, Gaspard, 66 Monotonie–Anforderung, 159, 162, 170 Montagnards, 72 Montana, Zuteilung von Kongresssitzen, 173–174, 184 Morgenbesser, Sidney, 160 Morgenstern, Oskar, 153, 172 Spieltheorie und ökonomisches Verhalten, 153 Morse, Celeste Phelpes, 149 Morse, Marston, 142–144, 149, 150 Morse–Theorie, 150 Müller, Friedriech Max, 104–105 Nader, Ralph, 160, 164, 196 Napoléon Bonaparte, 87, 88, 92, 94 NAS (National Academy of Sciences), 132–136, 140, 142, 143, 176 Nash, John, 155 Nationalrat (Schweiz), 187–190
Sachverzeichnis natürliche Sprache, 195 Navigation in der Seefahrt, 64 Necker, Jacques, 71 neue Haus–Methode, 143–144, siehe auch Divisorverfahren mit Aufrundung Neumann, John von, 142–144, 149 Spieltheorie und ökonomisches Verhalten, 153 Neuseeland, Wahlen, 195 Nevada, Zuteilung von Kongresssitzen, 144 New Mexico (Aufnahme in die USA), 126 Newton, Isaac, 32, 58, 70 Nicht–Auferzwingen, Bedingung, 161, 162, 164, 170 nichteuklidische Geometrie, 158 Niemeyer, Horst, 188 Nominatus, Tuscilius, 23, 24 Nordpol, 66 Norms for Guilt and Moral Concepts (Gibbard), 169 Notestein, Frank, 145 NP–hart, 108 Nutzenfunktion, 154, 155, 157, 159, 162 kollektive, 159 O’Connor, Arthur, 83 O’Connor, Élisa (geborene Condorcet), 71, 81, 83 oberster Gerichtshof (Griechenland), 13 ökonomische Verhalten, 153, 156 Ofer, Avraham, 193, 197 Oklahoma (Aufnahme in die USA), 122, 126 (Tabelle), 122 On the optimal use of winds for flight planning (Arrow), 167 Operations Research, 175 Optimierungsprobleme, 175 Orakel von Delphi, 11 Orientalische Sprachen (Studium), 43 Osgood, William Fogg, 135–136, 149, 151 Osterdatum, Berechnung, 97 P–Probleme, 108 päpstliches Schisma (1378–1417), 31, 47 paarweise Vergleiche, 33, 35–41, 53, 54, 77 Paget, Francis, 98, 102 Palästina, britisches Mandat, 197 Papstwahl, 31, 47, 48 Parallelenaxiom, 158 Pareto, Vilfredo, 170 Pareto–Bedingung, 170 Pareto–Optimum, 170 Parteizuwachsparadoxon, 122, 173, 177, 179, 182
209 (Tabelle), 122, 123, 183 Pearl, Raymond, 133–136, 148 Pearson, Karl, 133 Pendel (Messungen), 64–66 Periktione, 1 Perot, Ross, 160 Phelps, Edmund, 155 Philosophen–Könige, 16, 17 Pius II. (Papst), 49 Platon, 1–19, siehe auch Gesetze über Demokratie, 2, 6, 17 Gründung der Akademie, 18 Reputation, 1 sein Leben, 1, 18–19 sein Tod, 3 Der Staat, 2, 5, 14–18 und Sokrates, 1, 2 Plinius der Ältere, 21, 28–30 Plinius der Jüngere, 21–30 über Wahlen und Abstimmungen, 24–27, 31, 64 über den Ausbruch des Vesuv, 22, 28–30 Briefe, 22–24 Karriere als Beamter, 22 sein Leben, 22 sein Tod, 22 seine Ehen, 22 Plutokratie, 17 Poker, Intransitivität beim ..., 42 Polizei (Platon über), 16 Pompeji, 21, 22 Potone, 1 Poundstone, William, 150 Präferenzzirkel, siehe Zirkel Preference and Preferability (Gibbard), 169 Principia Mathematica (Russell, Whitehead), 172 Proportionalität, 177 Pukelsheim, Friedrich, 37, 39, 190–191 Pyrilampes, 1 Quasi–Transitivität, 163 quick sort, 52 Quote, 181–184 Quotenbedingung, 181–184 (Tabelle), 183 Quotenmethode, 182 Rajchman, Ludwik, 184 RAND Corporation, 155 Randolph, Edmund, 114 Rangordnung, 40–41, 50–54, 67, 77, 89 Rawls, John, 164 Reif, Wolfgang, 39
210 Repräsentantenhaus (USA), Größe, 126 Republikaner gegen Demokraten über die Kongresszuteilung, 138–140, 142 Robespierre, Maximilien François Marie Isidore de, 72 Römisches Reich, 21–22 The role of mathematics in congressional appointments (Huntington), 140 Roosevelt, Franklin D., 137, 142 Roulette–Methode, 144 Royal, Ségolène, 194, 195 Runden am arithmetischen Mittel, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung am geometrischen Mittel, siehe geometrisches Mittel am harmonischen Mittel, siehe Dean– Verfahren Ruprecht, Theresa Anna Amalie Elise, 149 Russell, Bertrand, 96 Principia Mathematica, 172 Sainte–Laguë–Verfahren, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung Les Saintes, Schlacht von (1782), 65 Sankt–Nikolaus–Hospitals, Bibliothek des ... in Bernkastel–Kues, 39, 49 Sankt–Petersburg–Paradoxon, 155 Sarkozy, Nicolas, 194, 195 Sarret, M., 81 Satterthwaite, Mark, 164–166, 169 The Existence of Strategy-Proof Voting Procedures, 169 Saunders, Trevor J., 12 Schelling, Thomas, 155 Schepers–Verfahren, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung Schere–Stein–Papier, 41 Schisma, päpstliches (1378–1417), 31, 47 Schottland, Wahlen, 195 Schreckensherrschaft (1793–94), siehe Terror Schreiben im 15. Jahrhundert, 37 Schultz, Theodore W., 156 Schweiz, 111–112, 187–192 Demokratie in der ..., 187 Sitzverteilung (Tabelle), 192 Schwinger, Julian, 167 Science, 130–132, 134 Seaton, C.W., 119 Sen, Amartya, 163, 164 shell sort, 52 Sieben, Bedeutung der Zahl, 34 Silvester (Papst), 54, 55 SimCity (Computerspiel), 4
Sachverzeichnis Simon, Herbert, 155, 156 Simplex–Algorithmus, 176 Sizilien, 18, 19 Smith, Adam, 70, 71 Wealth of Nations, 70 Social Choice and Individual Values (Arrow), 155 Sociometry (später: Social Psychology Quarterly), 140 Sokrates, 1–3, 5, 14, 15, 17, siehe auch Der Staat Soldaten (Platon über), 16 Sollers, 23 Souveränität der Bürger, 161 Sowjetunion–USA: Verhältnis zueinander, 155 Sozialstatistik, 145 Sozialwahl, 156, 162, 172 Spieltheorie, 15, 153, 155, 175, 185 Spieltheorie und ökonomisches Verhalten (Morgenstern, von Neumann), 153 Sprachschulen, 43 Der Staat (Platon), 2, 5, 14–18 Stadtstaat, idealer, siehe Gesetze, Der Staat Statistik, 145 Steuern (Platon über), 4 Stevens, John Paul, 174 Stichwahlen, 27, 92 strategisches Wählen, 63, 88, 90–92, 102, 164 Suard, Amélie und Jean Baptiste, 82 Sudoku–Rätsel, 191 Suggestions as to the best method of taking votes, where more than two issues are to be voted on (Dodgson), 103, 106 Sur les Élections (Condorcet), 76 Sylvester, J.J., 96 Syrakus, 18, 19 Tacitus, Cornelius, 22 Terror (1793–94), 58, 67, 93 Terry, David, 139 Théorie analytique des probabilités (Laplace), 88 Thinking How to Live (Gibbard), 169 Topologie, 150 Tovey, Craig, 108 Townsend Harris High School (Queens, NY), 167 Transactions of the American Mathematical Society, 130, 148 Transitivität, 41–42, 54, 158, 163 Trick, Michael, 108 Trinität, 32 Truth and Correct Belief (Gibbard), 169 Turgot, Anne Robert Jacques, 70, 71, 73
Sachverzeichnis Tyrannis (Platon über), 17 U-Bootkonstruktion, 58 Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme (Gödel), 172 Überschussstimmen, 193 übertragbare Einzelstimmabgabe, 195 Uhren, 64 UN–Generalsekretär, 196 Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, 160, 163 uneingeschränkter Bereich, 159, 162–163 Unentschieden bei Wahlen, 35, 37, 38 UNICEF, 184 University College (London), 133 Unmöglichkeitssatz, 162, 170 Unschärferelation, 172 unverzerrte Methode, 179–181 USA–Sowjetunion: Verhältnis zueinander, 155 Valerianus, Julius, 22, 24 Valle, Lorenzo, 55 Verdienst, Rangfolge des, 60–64, 85–91 Verfassungsbestimmungen für Parlamentssitze, 111–113 Vermögen Armut erzeugt durch, 17 Platon über Vermögensklassen, 4, 9, 10 Vermessung, 66 Vernet, Rose, 81–82 Verschleppungspolitik, 106 Verzerrung, 179–181 Vesuv, Ausbruch 79 n.Chr., 21, 22, 28–30 Veto (erstes in der US–Geschichte), 114 Vinton, Samuel, 118 Vinton–Methode, siehe Hare–Niemeyer– Verfahren Volkszählung, 118 1790, 112 (Tabelle), 113 1850, 118 1860, 119 1880, 119 1890, 120 1900, 121, 125 1910, 126, 129 1930, 129, 137, 144 1940, 137, 144 (Tabelle), 137 1950, 173 1980, 173 1990, 123, 173, 174, 184 2000, 174, 184
211 Behörde, 119, 125, 146 Entstehung der Behörde, 125 und Hill, 126, 146 Voltaire (François Marie Arouet), 70 Voyage fait par ordre du roi (Borda), 65 W–W–Verfahren, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung Wählerzuwachsparadoxon, 121, 122, 173, 177, 179, 182, 183 (Tabelle), 121, 123, 183 Wächter des Staates, 15 Wahl durch Zustimmung, 196 Wahl nach der Rangfolge des Verdiensts, 60–64, 85–91 Wahlausschuss, 77 Wahlkollegium, 123, 196 Wahrscheinlichkeitstheorie, 74, 77, 87–89, 93 Washington, George, 114 Wealth of Nations (Smith), 70 Webster, Daniel, 117 Webster–(Willcox–)Verfahren, siehe Divisorverfahren mit Standardrundung Wechsel bei einer Abstimmung, 107 Weltgesundheitsorganisation, 184 Whitehead, Alfred North, Principia Mathematica, 172 Wiles, Andrew, 175 Willcox, Walter F., 125–144, siehe auch neue Haus–Methode und Divisorverfahren mit Standardrundung über Zuteilungsmethoden, 126 an der Cornell–Universität, 125, 145 Debatte mit Huntington in Sociometry, 140–142 Rassismus, 145 sein Leben, 125, 145 sein Tod, 145 Wirtschaftsministerium, 174 Wirtschaftsreformen, 70 Wise Choices, Apt Feelings (Gibbard), 169 Wohlfahrtsfunktion, gesellschaftliche, 159 Wolcott, Jesse P., 139 Young, H. Peyton, 152, 174–185 (Tabelle), 182, 183 Fair representation, 177–184 sein Leben, 185 Zünfte, 71 Zermelo, Ernst, 171 Zirkel in Abstimmungen und Wahlen, 42, 77– 80, siehe auch Condorcet–Paradoxon,
212 95, 106–108, 156, 159, 162–164, 172, 173, 194 (Tabelle), 79 Zustimmung, Wahl durch, 196 Zuteilungsprobleme bei den US– Präsidentschaftswahlen, 123
Sachverzeichnis Zwei–Parteien–System, 162 Zweikämpfe, 33, 35–41, 50, 54, 77–80, 99, 104 (Tabelle), 79