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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck
Repräsentation als Performanz: Die symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen im Leviathan des Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Dirk Tänzler
Literarische Repräsentation – Überlegungen zur Doppelungsstruktur des Repräsentativen: Hölderlins Gedicht An eine Fürstin von Dessau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jan Andres
Herstellung und Darstellung politischer Einheit: Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Barbara Stollberg-Rilinger
Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft: Das deutsche und das englische Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Martin Kohlrausch
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DIE SINNLICHKEIT DER MACHT
Monarchische Herrschaftsrepräsentationen zwischen Konsens und Konflikt: Zum Wandel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Matthias Schwengelbeck
Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«: Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Alexa Geisthövel
Das ambivalente Angebot der Macht: Der Einsatz der SS-Männer in der NS-Herrschaftsinszenierung . . . . . . . . . . 187 Paula Diehl
Gewalt als Grenzphänomen von Herrschaftsrepräsentation – exemplarisch dargestellt an Gewalthandlungen der 1960er und 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . 213 Gisela Diewald-Kerkmann
Einleitung Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck
»An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten des Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muß sehen, um zu glauben.«1 Man mag einwenden, dass Norbert Elias, als er diese Zeilen verfasste, den absolutistischen Herrschaftsstil Ludwigs XIV. vor Augen hatte. In den aufgeklärten Gegenwartsgesellschaften dagegen, könnte man argumentieren, muss Macht nicht mehr sinnlich sein, um ihre Wirkung entfalten zu können. Schließlich bedeutet Macht nach Max Weber ohnehin die spezifische Chance, »seinen eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«.2 Warum sollte der Machthaber seine Macht dann aber darstellen müssen? Bedarf er nicht vielmehr lediglich der geeigneten Mittel des physischen Zwangs, um seine Ziele durchzusetzen? Richtet man seinen Blick auf parlamentarische Demokratien der Gegenwart, wird eine solche, vermeintlich nüchtern-realistische Betrachtungsweise schnell unhaltbar. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Bedeutung von Darstellungskompetenz in modernen demokratischen Gemeinwesen liefert der Wahlkampf. Verstanden als »Kommunikationsund Interaktionsprozeß«, der in einem Dreieck von Parteien, Medien und den Wählern verläuft, stellt er eine »rituelle Inszenierung des demokratischen Mythos« dar: Der Wahlkampf vermittelt symbolisch den Grundgedanken der parlamentarischen Demokratie, dass nämlich die souveräne Entscheidung des Wählers über die Ordnung und Verteilung der politischen Macht entscheidet.3 »Das was man heutzutage in repräsentativdemokratisch organisierten Gemeinwesen noch ›politische Macht‹ nennen
—————— 1 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 179. 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 28. 3 Andreas Dörner, Wahlkämpfe – eine rituelle Inszenierung des »demokratischen Mythos«, in: ders./Ludgera Vogt (Hg.), Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual, Frankfurt/M. 2002, S. 16-42, hier S. 21 u. 28.
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könnte«, so der Soziologe Ronald Hitzler, »entsteht [...] vor allem durch Darstellungskompetenz.«4 Elias’ Einschätzung ist also nach wie vor aktuell, sie trifft ebenso die vormodernen Gesellschaften der Frühen Neuzeit wie sie für die europäischen Staaten des 20. und 21. Jahrhunderts gültig bleibt. Anders als ein absolutistischer Herrscher wie Ludwig XIV., der seine Macht darstellen musste, um diese zu haben und zu sichern, müssen sich Politiker in modernen Demokratien dagegen darstellen, um politische Macht überhaupt erlangen zu können. Diese muss dann aber auch jenseits des Wahlkampfes dargestellt werden, um wirksam zu werden und zu bleiben. Auch wenn man im Anschluss an Max Weber analytisch zwischen Macht und Herrschaft differenzieren könnte, eignet der Zwang zur Darstellung doch beiden Phänomenen. Der vorliegende Band versucht diese Thematik von der Sinnlichkeit der Macht dadurch zu erschließen, dass er weniger die viel diskutierte Differenzierung von Macht und Herrschaft fokussiert als vielmehr den Aspekt der Darstellung, der Repräsentation im Sinn von Sinnlichkeit, ins Zentrum rückt. Unter dem noch näher zu erläuternden Begriff der Herrschaftsrepräsentation werden Erscheinungs- und Darstellungsweisen des Politischen von den Autoren des Bandes untersucht. Die versammelten Aufsätze schließen dabei an die jüngsten Bestrebungen an, eine neue Politikgeschichte zu entwerfen, die sich gegen die traditionelle Vorliebe der Forschung für die Rekonstruktion großer Staatsaktionen positioniert. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen nicht mehr die vermeintlich rationalen Entscheidungswege »großer Männer«. Vielmehr wird nach den Konstruktionsprinzipien des Politischen selbst gefragt. Dabei geht es den neueren, kulturgeschichtlichen Forschungsansätzen jedoch auch nicht um die von der politischen Sozialgeschichte privilegierte Entlarvung sozioökonomischer Interessenlagen, die sich hinter den Entscheidungsprozessen verbergen. Vielmehr beginnt sich der Begriffapparat nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Soziologie und ansatzweise der Politikwissenschaft auf ein kulturwissenschaftlich informiertes Verständnis politischer Strukturen und Prozesse hin auszurichten. Danach wird Politik als figuratives Ensemble symbolischer Praktiken verstanden,
—————— 4 Ronald Hitzler, Inszenierung und Repräsentation. Bemerkungen zur Politikdarstellung in der Gegenwart, in: Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 35-49, hier S. 37.
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wird ein kulturgeschichtlicher Blick auf die Politik eingefordert, werden die symbolischen Dimensionen politischer Verfahren erkundet oder das Politische als semiotisch strukturierter Kommunikationsraum begriffen.5 Diesem letzten Ansatz ist auch der Bielefelder Sonderforschungsbereich 584 der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« verpflichtet, aus dessen Arbeit der vorliegende Band hervorgegangen ist. Der Sonderforschungsbereich untersucht das Politische als kommunikativ hergestellten Raum, der durch den Gebrauch von Symbolen und Signifikanten von Semantiken strukturiert wird.6 Der Raum des Politischen wird weder als klar abgrenzbarer Sachbereich vorgestellt noch über die Entscheidungsgewalt im Ausnahmezustand definiert. Vielmehr liegt seine Spezifik in der Breitenwirkung, der Nachhaltigkeit und der Verbindlichkeit – zumindest dem Streben danach – der ihn konstituierenden symbolischen und diskursiven kommunikativen Praktiken. Politische Kommunikationsprozesse zielen stets auch auf die Konstitution, Aufrechterhaltung und Infragestellung von Herrschaftsverhältnissen. Sie beschreiben im Sinne Pierre Bourdieus einen »symbolischen Kampf um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt durch die Bewahrung oder Veränderung der Sicht- und Teilungsprinzipien«.7 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes konzentrieren sich auf die Analyse unterschiedlicher Repräsentationsformen von Herrschaft zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Damit schließen sie an die oben erwähnten Diskussionen um die symbolische Konstitution des Politischen an und vermitteln über den Begriff der Repräsentation Einblicke in die Funktionsund Darstellungsweisen von Herrschaft. Mit der Herausbildung frühneuzeitlicher Territorialstaaten konstituierten sich Herrschaftsverhältnisse zunehmend nicht mehr in den unmittelbaren sozialen Erfahrungsräumen historischer Akteure, sondern bezogen sich immer mehr auf ein jeweils
—————— 5 Vgl. etwa Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574606; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001; Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152-177. 6 Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/M./New York 2005. 7 Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 81.
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vorgestelltes staatliches Ganzes, das als Einheit selbst nicht mehr erfahrbar war. Daher bedürfen moderne Herrschaftsverhältnisse in besonderer Weise der Repräsentation, der sinnlich-sinnhaften Vergegenwärtigung. Bewusst setzt der Band zeitlich an der Nahtstelle zwischen Vormoderne und Moderne an, um die Veränderungen und Kontinuitäten von Herrschaftsrepräsentationen über konventionelle Epochenschwellen hinaus zu diskutieren. Dabei bietet wieder Max Weber einen guten Anknüpfungspunkt für eine theoretische Reflexion des Themas. Seine viel zitierte Definition von Herrschaft als »Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, lässt Herrschaftsverhältnisse als grundsätzlich reziproke Beziehungen erscheinen.8 Dem Befehl des Herrschenden muss stets ein Minimum an Bereitschaft zum Gehorsam entsprechen. Diese Bereitschaft beruht nach Weber auf bestimmten »Motiven der Fügsamkeit«. Neben Interessenlage, Gewöhnung und affektueller Neigung, die lediglich eine relativ labile Grundlage für Herrschaftsverhältnisse schaffen, gewinnt Herrschaft innere Stabilität erst durch die »Gründe ihrer Legitimität«, beziehungsweise genauer: den spezifischen Glauben der Gehorchenden an die Legitimität der Herrschaftsbeziehung.9 Bekanntlich hat sich Weber weniger für das Zustandekommen dieses Legitimitätsglaubens interessiert, sondern lediglich eine typologische Unterscheidung von rationalen, traditionalen und charismatischen Legitimationsgründen vorgenommen. Jedoch wird Herrschaft nicht per se in jeweils verschiedener Weise als legitim oder illegitim anerkannt. Legitimität, das ist schon vor einiger Zeit von Peter Graf Kielmannsegg bemerkt und jüngst von Andreas Gestrich am Beispiel absolutistischer Herrschaft empirisch gestützt vorgeführt worden, ist kein statisches Phänomen. Legitimation ist vielmehr immer ein Prozess.10 Legitimität von Herrschaft, verstanden als »Geltungserfahrung« (Kielmannsegg) einer konkreten Herrschaftsbeziehung, realisiert sich erst in der kommunikati-
—————— 8 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 28; vgl. dazu auch Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1991; Dirk Kaesler, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M./New York 1995, S. 207ff. 9 Vgl. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 475-488, Zitate S. 475. 10 Vgl. Peter Graf Kielmannsegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische Vierteljahresschrift 12 (1971), S. 367-401; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994.
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ven Praxis und kann darüber auch infrage gestellt werden. »Eine Herrschaftsordnung ist nicht legitim, sie wird es ständig.«11 Oder, so ist dem hinzuzufügen, sie wird es eben möglicherweise nicht. Erst in der kommunikativen Praxis politischer Prozesse jedenfalls kann ein Legitimitätsglaube an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hergestellt oder erschüttert werden. Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler haben jüngst darauf hingewiesen, dass dieser Legitimitätsglaube zu wesentlichen Teilen durch spezifische Darstellungsleistungen als »Versinnbildlichung der Politik« hervorgebracht wird.12 Man kann sogar noch radikaler sagen: Politik wird erst politisch, wenn sie sinnlich ist, zur Erscheinung kommt, repräsentiert ist. Herrschaft muss sich darstellen, um als legitim anerkannt werden zu können. Daher ist Herrschaft grundsätzlich auf Repräsentation angewiesen. Der in dem Sammelband fokussierte Begriff der Herrschaftsrepräsentation zielt dabei auf die spezifische »fabrication« (Peter Burke), die symbolische Gestaltung, Hervorbringung oder Infragestellung der Legitimität von Herrschaftsverhältnissen. In den Präsentationen von Herrschaft äußern sich bestimmte Legitimitätsansprüche, die sich als Legitimitätsglaube in die »kollektiven Vorstellungen« der Akteure einschreiben können – oder verworfen werden.13 Bezug nehmend auf Ernst Cassirers erkenntnistheoretisches Repräsentationsverständnis zielt der Begriff der Herrschaftsrepräsentation in diesem Sinn auf den Umstand, dass sich Herrschaftspraxis überhaupt erst in ihren vielschichtigen diskursiven und nicht-diskursiven symbolischen Repräsentationen realisiert.14 Herrschaftspraxis und Herrschaftsrepräsentation sind mithin grundsätzlich zusammen zu denken. Dabei grenzt sich der Band von Carl Schmitts Verständnis der Repräsentation als einer Urbild-Abbild-Dialektik ab, die sich einem neuplatonischen Modell verdankt. Nach Schmitt manifestiert sich in der Repräsenta-
—————— 11 Kielmannsegg, Legitimität [wie Anm. 10], S. 373. 12 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler, Einleitung, in: dies. (Hg.), Figurative Politik [wie Anm. 5], S. 7. 13 Vgl. Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt/M. 1995; Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley 1984; Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 577ff. 14 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Gesammelte Werke Bd.11, Darmstadt 2001, S. 39ff.; zu diskursiven und nicht-diskursiven Logiken der symbolischen Formen Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1965.
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tion ein »höheres Sein«. Repräsentieren bedeutet ihm eine existenzielle Vergegenwärtigung. Im Akt der Repräsentation, so Schmitt, werde »ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar« gemacht und vergegenwärtigt. Dabei liege die »Dialektik des Begriffs« darin, »daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht werde«.15 Die mit Schmitt und anderen verknüpfte Diskussion um eine vermeintlich ontologische Wesenhaftigkeit der Repräsentation ist von Hasso Hofmann als spezifisch deutsches Problem herausgearbeitet worden, das seinen Ursprung in der polemischen Diskreditierung demokratisch-parlamentarischer Formen besitzt. Dagegen zeigt Hofmanns begriffsgeschichtliche Studie, dass der Repräsentationsbegriff keinen ursprünglichen Wesenskern besitzt, sondern in unterschiedlichen Kontexten jeweils verschiedene Bedeutungen angenommen hat.16 An anderer Stelle kontrastiert er dabei zwei Sprachtraditionen: zum einen Repräsentation als »Darstellung politischer Einheit durch Personifizierung«, zum anderen Repräsentation als »Bildung politischer Einheit durch Verbindlichkeit erzeugendes Verhalten ihrer Mitglieder«. Entspreche dem ersteren Begriffsgebrauch eine »mehr oder weniger zeremonielles Rollenspiel eines einzelnen«, ziele der andere auf »organisierte kollektive Handlung«. Historisch entstammen die Verwendungen dem liturgischen Kontext der Stellvertretung einerseits sowie dem korporationsrechtlichen Begriff der Identitätsrepräsentation als körperschaftlicher Handlungen eines Teils für das Ganze andererseits.17 Während Hofmanns begriffsgeschichtliche Herleitung historischsemantisch überzeugt, fragt sich jedoch, ob sich die Dinge in der Praxis so genau trennen lassen. So zeichnen sich zum einen Organe der klassischen corpus-Repräsentation – vormoderne Landtage ebenso wie moderne Parlamente – durch symbolische und zeremonielle Praktiken aus. Folgt man Hans-Georg Soeffner, dann sind politische Repräsentationsformen grundsätzlich dem »Reich des symbolisch-vermittelten Wissens« beziehungsweise dem »symbolisch ausgeformten Kosmos der Weltbilder
—————— 15 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 209f. 16 Vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974; vgl. auch Hanna F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley 1972. 17 Hasso Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Staat und Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 17-42, Zitate S. 21; vgl. dazu auch ders., Repräsentation [wie Anm. 16].
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und der in sie eingelagerten Traditionen« verhaftet. Neben der alltäglichen, unmittelbaren Welt und der Welt in »potentieller Reichweite« ist damit eine dritte Ebene angesprochen, auf der sich das Politische als spezifische Repräsentationsbeziehung zwischen Repräsentant und Repräsentierten offenbart, die sich als dreistellige Relation immer auch auf das sie legitimierende Weltbild richten muss.18 Auch die von Hofmann angesprochenen Formen der Identitätsrepräsentation, die primär auf die Herstellung politischer Einheit gerichtet sind, müssen sinnlich sein und sich darstellen, um als legitim anerkannt zu werden. Zum anderen realisiert sich die caput-Repräsentation des Monarchen wie auch nichtmonarchischer Staatsoberhäupter nicht nur durch das »Rollenspiel eines einzelnen«, sondern ist grundsätzlich auf wechselseitige medial vermittelte Kommunikationsprozesse zwischen Monarch/Präsident und Untertanen/Staatsbürgern angewiesen. Hier zeigt sich auch ein Strukturproblem von Jürgen Habermas’ Modell der »repräsentativen Öffentlichkeit«. In Anlehnung an Carl Schmitt hatte Habermas die Repräsentation des Herrschers als per se öffentliches Phänomen gewertet. Repräsentative Öffentlichkeit sei mithin an die »Attribute der Person« geknüpft, markiere keine Sphäre politischer Kommunikation, sondern offenbare lediglich einen sozialen und politischen Status.19 Demgegenüber hat die interaktionistische Soziologie gezeigt, dass Repräsentation als basale Form sozialen Handelns zu verstehen ist und keineswegs auf die existenzielle Wertigkeit einer gesteigerten Seinsform beschränkt werden kann.20 Folgt man Hans-Paul Bahrdt, so ist Repräsentation zu konzeptualisieren als »eine Form der Selbstdarstellung, in der ein Subjekt sowohl sich selbst als auch ein Gemeinsames, das nicht ohne weiteres sichtbar ist, sichtbar macht und hierdurch Kommunikation und Integration ermöglicht.«21 Die von Hofmann angesprochenen Formen der caput-Repräsentation sind daher grundsätzlich als kommunikative Phänomene zu betrachten. Sie richten sich an jeweils spezifische medial konstituierte Öffentlichkeiten, die als Kommunikationsräume
—————— 18 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden, in: Ragotzky/Wenzel, Repräsentation, S. 43-63 [wie Anm. 17]. 19 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuauflage Frankfurt/M. 1990, S. 58ff. 20 Vgl. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, Middlesex 1969. 21 Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 69.
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aufzufassen sínd.22 Deren mediale Verfasstheiten bestimmen dabei die Kommunikationsformen. Die Ausprägungen der Herrschaftsrepräsentationen hängen mithin wesentlich von ihrer je spezifischen Medialität ab. Ein immer mitschwingendes Problem der Herrschaftsrepräsentation ist schließlich das für den modernen Staat kennzeichnende »Monopol legitimen physischen Zwanges«. Einerseits ist die Darstellung des staatlichen Gewaltpotenzials ein wesentliches funktionales Mittel zur Sicherstellung von Herrschaft, andererseits hatte bereits Weber betont, dass politisch lediglich jenes Handeln zu nennen ist, das die »Leitung eines politischen Verbandes [...] auf nicht gewaltsame Weise bezweckt«.23 Gewalt markiert insofern einen Grenzfall von Herrschaft. Einerseits ruhen Herrschaftsverhältnisse stets auf dem Drohpotenzial physischen Zwangs, andererseits darf die Gewalt letztlich nicht eingesetzt werden, wenn die grundsätzlich als reziproke Beziehung gedachte Herrschaftsstruktur nicht in bloße Gewaltherrschaft umschlagen soll. Aus diesem Grund ist Gewalt sowohl Grenzfall als auch zugleich konstitutiver Bestandteil von Herrschaftsrepräsentation. Die analytisch auseinander dividierten Ebenen – die juristisch-politische Problematik der Herrschaft kraft Stellvertretungs- und Identitätsrepräsentation einerseits, die präsentative Darstellung und öffentliche Rezeption von Herrschaft andererseits – lassen sich im konkreten historischen Zusammenhang nicht trennen. Die Sinnlichkeit der Macht entsteht im Spannungsfeld der verschiedenen Facetten des Repräsentationsbegriffs. Die Beiträge des Bandes sind daher in thematische Paare gegliedert. Darüber hinaus fügen sie sich in eine chronologische Struktur vom 17. Jahrhundert im Falle des Leviathan des Thomas Hobbes bis zum 20. Jahrhundert ein, markieren aber nicht nur Stationen einer Entwicklung, sondern verweisen argumentativ auch aufeinander. Die theoretisch angelegten Beiträge von Dirk Tänzler und Jan Andres akzentuieren die grundlegend performative Qualität von Repräsentation. Dirk Tänzler hat sich einen kanonischen Text der politischen Theorie herausgegriffen, Thomas Hobbes’ Leviathan, den er als ein Zusammenspiel von rationalem Text und den latenten Botschaften des bekannten Frontis-
—————— 22 Vgl. dazu aus historischer Perspektive auch Gestrich, Absolutismus [wie Anm. 10]; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a. 2000. 23 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 29.
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piz versteht. Dieses entfaltet sich jedoch erst im sinnlichen Vorgang der Bildbetrachtung. Die visuelle Repräsentation erfüllt ihre zentrale Aufgabe, Widersprüche in der Argumentation zu überbrücken, indem das Bild den Betrachter in einen reziproken Blickwechsel mit dem dargestellten Herrscher hineinzieht. Das rezipierende Subjekt leitet auch in Jan Andres’ Analyse einer Ode Friedrich Hölderlins an die Fürstin Amalie von Anhalt-Dessau eine performanztheoretische Formulierung »des Repräsentativen« an. Entlastet man die Repräsentation von der Zumutung, ein nur vermeintlich authentisches Ab-Bild von etwas liefern zu sollen, eröffnet sich ihr Potenzial als eine Instanz, die ein Abstraktum wie die Macht, die es losgelöst von ihren konkreten Erscheinungsformen nicht gibt, in einer sinnlich erfahrbaren Form bereithält. Aktiviert wird die latente Bedeutung des Präsentierten erst in der Verstehensleistung des Zuhörers oder Lesers – in der Doppelungsstruktur der Re-Präsentation. Dass der Leviathan als mediales Konstrukt Herrschaft nicht nur sichtbar macht, sondern damit gleichzeitig die Künstlichkeit der herrschaftlichen Stellvertretung offenlegt, verweist laut Dirk Tänzler bereits auf die moderne Problematisierung des Repräsentativen. Die Darstellung von Stellvertretung verändert sich um 1800 strukturell, wie Barbara Stollberg-Rilinger und Matthias Schwengelbeck herausarbeiten. Die Landtage des Kurfürstentums Köln handelten im 18. Jahrhundert, so Barbara Stollberg-Rilinger, noch für ein »Ganzes« (das Land), das jenseits dieses gemeinsamen Handelns der anwesenden Ständevertreter nicht existierte. Die politische Bedeutung des Stellvertretungsorgans lag daher weniger in seinen ebenso vorhersehbaren wie folgenlosen Beschwerden an den Landesherrn als darin, zwischen- und innerständischen Konsens zum Ausdruck zu bringen, die »Ungleichheitsstrukturen des Gemeinwesens« symbolisch zu bestätigen. 1790 brachen die Vertreter der Städte mit diesem Prozedere und machten das Konsensforum erstmals zu einem Schauplatz moderner politischer Interessenvertretung, die Differenzen statt Identität darstellte. Ähnlich hatten die Königs-Huldigungen, das zeigt Matthias Schwengelbeck, gegen Ende des 18. Jahrhunderts den rechtsverbindlichen Charakter einer Verfassung in actu schon weitgehend verloren. Während Jan Andres das Widmungsgedicht Hölderlins als ästhetisches Produkt mit eingeschriebener sozialer Logik analysiert, wird an den Huldigungs- und Krönungsritualen im 19. Jahrhundert deutlich, wie die neue symbolische Offenheit dieser Handlungen zu Deutungskämpfen führte, die vor allem in den weltanschaulich ausdiffe-
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renzierten Printmedien ausgetragen wurden. Welches Prinzip der Stellvertretung – Konstitutionalismus oder Gottesgnadentum – Huldigung und Krönung darstellten, war nicht mehr selbstverständlich. Dass der tief greifende Wandel medialer Kommunikation im späten 19. Jahrhundert die (Selbst-)Darstellung der Monarchen signifikant umgestaltete, ist das Ergebnis der Beiträge von Alexa Geisthövel und Martin Kohlrausch. Bei Alexa Geisthövel steht die Frage im Vordergrund, wie das neue Medium der illustrierten Familienzeitschrift das öffentliche Interaktionsverhalten des Monarchen präsentierte. Wilhelm I. von Preußen-Deutschland ließ sich durch das Fenster seines Arbeitszimmers beobachten und interagierte mit den Anwesenden, worüber in Wort und Bild berichtet wurde. Wie das Titelkupfer des Leviathan machte auch diese Berichterstattung Lesern und Betrachtern das Angebot, sich dem dargestellten Herrscher zu nähern, mit ihm zu kommunizieren. Martin Kohlrausch untersucht die Beziehung von Monarchie und der nun konsequent kommerziellen, aktualitäts- und nicht mehr in erster Linie parteigebundenen Massenpresse um 1900 im deutsch-englischen Vergleich. Während die nicht regierende Monarchin Victoria persönlich keine Angriffsfläche für eine alle politischen Lager einende Kritik bot, wurde Kaiser Wilhelm II. zum Gegenstand von neuartigen Medienskandalen. Die kontroverse Diskussion um die Person des Monarchen schuf einen übergreifenden »Diskursanker« und setzte, statt die Monarchie als Institution zu gefährden, eine Verständigung über die Beziehung von Herrscher und Beherrschten in Gang. Es ist ein gängiger Einwand gegen die Repräsentationsgeschichte, ihr konstruktivistischer Zugriff relativiere die existenzielle Unmittelbarkeit beispielsweise von Hunger oder Schmerz. Insbesondere wo soziale Akteure Urheber des Leidens anderer sind, wird auf die hinter den Vergegenwärtigungen liegende »Realität« verwiesen. In dieser Perspektive stellen die Ausübung und das Erleiden von Gewalt einen Grenzfall des Repräsentativen dar. In der Tat könnte man argumentieren, dass es nicht mehr um Vergegenwärtigung geht, wenn die auf Distanz beruhende Sinnlichkeit der Macht in unmittelbare, nicht kontingente Gewalthandlung umschlägt. Dagegen rückt Gewalt durchaus in das Blickfeld einer kommunikationsorientierten Herrschaftskonzeption, wenn Gewalthandlungen an einzelnen Dingen oder Personen an ein breiteres Publikum von Beherrschten adressiert sind und auch für etwas anderes als nur für sich selbst stehen. Gewalt als ein solchermaßen konstitutives Element von Herrschaftsrepräsentation ist das
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Thema von Paula Diehl und Gisela Diewald-Kerkmann. Paula Diehl behandelt den ambivalenten Effekt, den die Auftritte der SS in der Darstellung nationalsozialistischer Herrschaft hatten. Aus dem Zeichenarsenal von Stärke, Kampf und Tod schöpfend, verkörperten die SS-Formationen bei Paraden oder Staatsfeiern die Drohgebärde willkürlicher Gewalt, die sie in Aktionen gegen Minderheiten auch realisierten. Zugleich barg diese an alle Beherrschten gerichtete Botschaft potenzieller Willkür ein Sicherheitsversprechen. Die auf eine starke Präsenz der SS-Männer abgestimmten Herrschaftsinszenierungen unterbreiteten dem Publikum ein Angebot, sich positiv mit der dargestellten Staatsmacht zu identifizieren. Im Beitrag von Gisela Diewald-Kerkmann sind es dagegen staatsferne Gruppierungen, die in einem Eskalationsprozess das staatliche Gewaltmonopol herauszufordern beginnen, um »die« Gesellschaft tatkräftig zu verändern. Seit in den 1960er Jahren Studenten und andere außerparlamentarische Oppositionelle eine ubiquitäre »strukturelle Gewalt« (Johann Galtung) im Staat diagnostizierten und das System der Bundesrepublik unter Faschismusverdacht stellten, begann eine Debatte um die Legitimität gewaltsamer Aktionen zuerst gegen dingliche Symbole und Zeichen, dann auch gegen Institutionen und Funktionsträger des Staates. Adressat solcher (zunächst noch nur potenziellen) Handlungen war die Gesamtheit der Staatsbürger, denen die Gewalttätigkeit staatlicher Überreaktion vor Augen geführt werden sollte. Selbst die terroristischen Gruppen der 1970er Jahre beharrten noch darauf, »Widerstand« und »Notwehr« zu leisten und befanden sich damit in einem traditionsreichen Diskurs über die Legitimität staatlicher Herrschaft. Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Rahmen des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 584 am 14. und 15. November 2003 im Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) der Universität Bielefeld stattgefunden hat. Wir danken der Herausgeberin und den Herausgebern der Reihe »Historische Politikforschung« für die Gelegenheit, diesen Band in der Reihe zu publizieren.
Repräsentation als Performanz: Die symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen im Leviathan des Thomas Hobbes Dirk Tänzler
I. Repräsentation und Politiktheater Politiktheater ist zur Metapher für die Krise des politischen Systems in der so genannten Mediendemokratie geworden. Theatralität und Repräsentation nimmt der ganz an seine rationale Entscheidungsfähigkeit glaubende moderne Mensch fast nur noch als Lug und Trug, vielleicht noch als schönen Schein wahr, rechnet Darstellung aber nicht mehr zum »harten« Kern des politischen Geschäfts. »Staat machen« war und ist aber immer auch ein Spektakel. Das gilt für die balinesische negara (sansk. für ưƼƫƩƲ: Stadt, Staat) des 19. Jahrhunderts, einen wahren Idealtypus des rituellen Theaterstaats,1 und nicht minder für den Leviathan des Thomas Hobbes, der Ikone der modernen Staatsrepräsentation. Auf die Sprache des Theaters in dieser Schrift machte schon Ferdinand Tönnies,2 einer der Wiederentdecker von Hobbes, aufmerksam und die amerikanische Politologin Hannah Pitkin3 verweist in ihrem grundlegenden Buch über politische Repräsentation ausdrücklich auf Erving Goffmans dramatologische Soziologie,4 sieht aber im Begriff der Repräsentation und nicht im Theatermodell den relevanten Erklärungsschlüssel für die politische Theorie im Leviathan.5 Im Zuge des performative turn erweist sich das allerdings als eine falsche Gegenüberstellung. Hobbes schließt Stellvertretung und Darstellung in dem seiner politischen Theorie zugrunde gelegten
—————— 1 Vgl. Clifford Geertz, Negara. The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton 1980. 2 Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Werk, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971. 3 Hannah Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley/Los Angeles 1967. 4 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969. 5 Pitkin, Representation [wie Anmerkung 3], S. 24f.
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Begriff der persona kurz und überträgt so das »Als-ob« des Theaters auf die Staatsaktionen des Souveräns.6 Bleibt man allerdings dem dramatischen Theatermodell des 18. Jahrhunderts verhaftet, führt das, wie der Disput zwischen Runciman und Skinner zeigt,7 zu exegetischen Problemen, denen man entgehen kann, wenn man, wie die moderne Theaterwissenschaft, einen erweiterten Begriff der Theatralität zugrunde legt.8 Erst dann erschließt sich ein für das Verstehen des Personenbegriffs und der Repräsentationstheorie im Leviathan relevanter Horizont. Der Begriff des Horizonts9 verweist auf eine für die hier vorgestellte Analyse relevante Sinnschicht im Denken des Thomas Hobbes’: das Sehen.10 Das Optische liefert die Grundlage für den aus performanztheoretischer Perspektive »erweiterten« Begriff der Theatralität im Sinne des öffentlichen Schauhandelns.11 Theatralität ist dann im Sinne Helmuth Plessners der conditio humana zuzurechnen.12 Von Natur wesenlos, ist der Mensch gezwungen, sich »performativ« eine kulturelle Identität zu schaffen. Da die Identität gegen konkurrierende Entwürfe durchgesetzt werden muss, ist die menschliche Existenz unmittelbar politisch und auf Gemeinschaftlichkeit bezogen. Archetypus der Vergemeinschaftung ist das Ritual – ein Gedanke, der für die folgende Deutung des Leviathan und den darin entwickelten Begriff der
—————— 6 Joseph Vogel zitiert in: Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der »Politischen Romantik«, Freiburg 1999, S. 78. 7 David Runciman, Pluralism and the Personality of the State, Cambridge 1997; Quentin Skinner, Visions of Politics. Volume III: Hobbes and Civil Science, Cambridge 2002. 8 Erika Fischer-Lichte u.a., Theatralität, 7 Bde. Tübingen/Basel 2000ff.; Andreas Kotte, Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater, in: Theaterwissenschaftliche Beiträge, Beilage zu: Theater der Zeit, S. 2-9. 9 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8, Hamburg 1992; Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975, S. 286. 10 Vasco Ronchi, Preface à Thomas Hobbes ›De Homine‹. Traité de L’Homme, traduction et commentaire par Paul-Marie Maurin, Paris 1974, S. 5-26; Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 16512001, Berlin 2003. 11 Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Jahrmärkte und Handelsmessen die Orte, auf denen die Handwerker, Ärzte und Spielleute ihr Können zur Schau stellten (vgl. Katrin Kröll, Körperbegabung versus Verkörperung. Das Verhältnis von Geist und Körper im frühneuzeitlichen Jahrmarktspektakel, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung, Theatralität Bd. 2, Tübingen/Basel 2001, S. 29-52). Erst zu Hobbes’ Zeiten wurde das Theater als privilegierter Ort professioneller Darstellung «wiederentdeckt«. 12 Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Gesammelte Schriften VII, Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1982, S. 399-418.
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Repräsentation als Stellvertretung fruchtbar gemacht werden soll: Die von Hobbes aus der rationalen Konstruktion des Textes ausgeschlossene mythisch-mystische Identitätsrepräsentation hat im Titelkupfer des Leviathan Spuren hinterlassen, die in der folgenden bildhermeneutischen Rekonstruktion aufgedeckt werden. Das Bild erlaubt dann eine performanztheoretische Deutung als medial konstruiertes politisches Ritual. Diese Ausführungen werden zum Schluss als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zur Repräsentation in der Mediendemokratie der Gegenwart genommen.
II. Die Auflösung der antiken Ordnungsvorstellung und die Erfindung der Repräsentation Hobbes’ Einführung des Repräsentationsbegriffs im Rahmen eines Theatermodells ist nicht nur Tribut an den Zeitgeist des Barock und seiner Kosmologie des Welttheaters.13 Der Begriff der Repräsentation markiert im Sinne Gaston Bachelards14 einen epistemologischen Bruch im politischen Denken des Abendlandes und konstituiert ein neues wissenschaftliches Paradigma im Sinne von Thomas Kuhn,15 das bis in die Gegenwart Theorie und Praxis des Politischen bestimmt. Zwar kannten schon die alten Griechen politische Repräsentationstechniken,16 doch waren diese nicht prägend für ihre Praxis der direkten Demokratie.17 Der Begriff der Repräsentation im Sinne der Stellvertretung, den Hobbes in die politische Theorie einführt, trennt das Politische vom Moralischen, führt zur Überwindung der aristotelisch-scholastischen Tradition, die den Staat aus der Natur des Menschen ableitet. Die konträre Idee der »Künstlichkeit« des Politischen entwickelt Hobbes in Begriffen des Theaters, denn die organische Theorie des Politischen ist für Hobbes in doppelter Hinsicht proble-
—————— 13 Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München 1959. 14 Gaston Bachelard, Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Wiesbaden 1978. 15 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 2003. 16 Jakob A.O. Larsen, Representative Government in Greek and Roman History, Berkeley/Los Angeles 1966; Raban von Haeling, Repräsentation antiker Staaten. Persepolis und Athen, in: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 37-61. 17 Dolf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart 1971.
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matisch geworden. Sie diente in seinen Augen sowohl zur Legitimation der im vierten Teil des Leviathan als Reich der Finsternis apostrophierten Herrschaft der katholischen Kirche als auch der gnostischen Gegenbewegungen, die er beide für die Zerstörung der paganen Einheit von Religion und Politik verantwortlich macht.18 Mit den Ideen der Repräsentation und der Souveränität intendiert Hobbes die Restitution dieser Ordnungsvorstellung auf neuer, moderner, konstruktivistischer Grundlage. Die antike Vorstellung von einer natürlichen Ordnung, in der das ƦƾƯƭ ưƯƫƩƴƩƪƼƭ seine Bestimmung findet, muss – darauf hat Eric Voegelin hingewiesen – jede Evidenz einbüßen, wenn zum Beispiel, um den mystischen Charakter des Glaubens wieder in den Vordergrund zu rücken, Wilhelm von Ockham das christliche Dogma als unbeweisbar und die Metaphysik sowie die rationale Theologie als unsinnig erklärt. Damit werden die Grundlagen der aristotelisch-scholastischen Lehre vom rationalen Staat erschüttert und das Einsickern der gnostischen Idee der Glaubensgemeinschaft setzt die kirchlichen und weltlichen Hierarchien der permanenten Gefahr der Entlegitimierung durch mehr oder weniger demokratische charismatische Bewegungen aus.19 Die Wurzeln dieses Konflikts liegen in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, wie sie sich auf den Konzilien in Konstanz und Basel manifestieren, wo um die Frage gestritten wird, ob der Papst oder die Versammlung die Stellvertretung Gottes auf Erden beanspruchen dürfe. Die Ordnungsvorstellungen der societas und der universitas, die hier aufeinanderstoßen, gründen auf der für die moderne politische Theorie folgenreichen Unterscheidung zwischen einer Vertretungsrepräsentation und einer Identitätsrepräsentation. Nach römischer Rechtsauffassung ist die societas eine vertragliche Zweckgemeinschaft (engl. partnership), die universitas dagegen die Idee einer Korporation, einer dauerhaften Glaubens- und Lebensgemeinschaft analog der Familie.20 Archetypus der societas und – daraus abgeleitet – des moder-
—————— 18 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938. 19 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959. 20 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19.Jahrhundert, Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 22, Berlin 1998; Oakeshott nach Runciman, Pluralism [wie Anm. 7], S.13ff. Schon die Römer werteten gegenüber den Griechen die Familie auf, hielten aber an der Unterscheidung zwischen ƯƟƪƯƲ und ưƼƫƩƲ fest. Erst die Christen rissen mit ihrer »Umwertung aller Werte» die Grenze ein und »familiarisierten« die entpolitisierte Gemeinschaft (vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002).
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nen europäischen Staates ist die katholische Amtskirche. Diese ist als realer hierarchischer Herrschaftsverband ein dem Papst gehorsamspflichtiger corpus fictum, das heißt ein Abbild oder eine Repräsentation der Herrschaft Christi. In Gestalt der universitas tritt der paternalistisch-vormundschaftlichen Stellvertretungsrepräsentation durch das Verbandsoberhaupt (»guter Hirte«) die Identitätsrepräsentation eines Vertretungskörpers gegenüber, dessen Haupt (caput) nicht der Papst, sondern Christus selbst ist. Dieser zweite Typus von Repräsentation beruht auf einem transzendenten Identitätsprinzip: der Identität von Repräsentant und Repräsentiertem, gestiftet durch den Geist, der über die Gläubigen gekommen ist und in ihnen – und nicht nur im Priester – anwesend ist. Der Priester ist zwar weiterhin Organ des Körpers Kirche, aber nur Verkörperung (persona repraesentativa) einer in der Versammlung/Kirche (collectio repraesentativa) lebendigen, doch unsichtbaren Wirklichkeit. Die Identitätsrepräsentation setzt eine jenseitige, irrational-hierokratische Legitimation durch Gott an die Stelle der diesseitigen, formalrational-hierarchischen Legitimation und untergräbt damit prinzipiell die Herrschaft der katholischen Kirche unter Führung des Papstes. Nikolaus von Kues versucht diese Spannung in der später von ihm revidierten Idee der Vermittlungsrepräsentation aufzuheben, die er jenseits von Gemeinde und Papst dem Konzil zuschreibt. Der consensus communis, manifest in der electio oder Bischofswahl, konstituiert Organschaft und wird damit zur Bedingung von Vertretung und Zurechnung. Die Organschaft ist nicht als demokratische Bündelung individueller Willensmacht konzipiert, denn repräsentiert werden nicht Individuen, sondern was sie vereint. Noch ist die Vermittlungsrepräsentation ständische »Ratsrepräsentation« durch das Konzil (nicht die Kirchengemeinde) und vormodern auch dadurch, dass die Vermittlung nur möglich ist, weil Konsens und Hierarchie auf die Wirkung von Gottes Gegenwart zurückgehen und im Zeichen des Vertrauens auf die christliche Seelengemeinschaft stehen – eine Bedingung, die dann bei Hobbes nicht mehr gegeben ist. Trotzdem ist damit die für Hobbes und die Moderne folgenreiche und revolutionäre Vorstellung formuliert, dass nur ein durch Gesellschaftsvertrag freier Menschen legitimierter Herrschaftsvertrag Geltung beanspruchen kann.21 Die katholische Kirche drängte die mystischen oder, mit Eric Voegelin zu sprechen, gnostischen Ideen der universitas und der Identitätsrepräsentation, die im innerkirchlichen Streit zwischen Papst und Konzil, aber auch in häretischen
—————— 21 Dazu Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20].
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Bewegungen zum Ausdruck kamen, immer wieder zurück. Geschichtsträchtig wurden sie in den protestantischen, insbesondere puritanischen Sekten.22 Der Gegensatz zwischen Repräsentation und Identität fand schließlich in den konkurrierenden Theorien von Hobbes und Rousseau seinen Niederschlag. Die ursprünglich theologischen Begriffe societas und universitas leben in säkularisierter Form in den soziologischen Grundbegriffen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung fort.23
III. Die Repräsentationstheorie des Thomas Hobbes im Leviathan Die durch die irrationalen Glaubensvorstellungen permanent drohende Legitimationskrise und schließlich faktische Zerstörung des Staates im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts – von Thomas Hobbes in die Metapher des Behemoth gekleidet – bilden den Hintergrund, vor dem er seinen Leviathan24 entwirft. Jenseits von Metaphysik und religiösem Glauben will er zu einer Wissenschaft der Politik zurückfinden, welche die Bedingungen für den sozialen Frieden formuliert, indem er die nicht mehr überzeugende Idee der natürlichen Ordnung durch die Idee eines Gesellschaftsvertrages ersetzt. Hobbes gilt dann auch als Begründer der Vertragstheorie und im Allgemeinen nicht als einschlägiger Autor über das Problem der Repräsentation. Vertragsgedanke und Vertretungsgedanke gehören in seiner politischen Theorie aber zusammen.25 Grundlage des modernen Vertragsverständnisses wird die im Leviathan entwickelte Idee der Stellvertretung. Es ist wiederum Ferdinand Tönnies, der auf die Schlüsselrolle des Repräsentati-
—————— 22 Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19]. 23 Die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft ist aus Tönnies’ Beschäftigung mit Hobbes hervorgegangen, dessen individualistisch-vertragsrechtliches und staatspolitisch verengtes Gesellschaftskonzept er um Gierkes Genossenschaftstheorie als moderner Variante nichtstaatlicher Ordnungsmächte ergänzte (vgl. Einleitung von Karl-Heinz Ilting in: Tönnies, Thomas Hobbes [wie Anm. 2], S. 88). Zu denken ist weiterhin an die Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Gesellschaften bei Bergson und Popper. 24 Leviathan und Behemoth bilden bei Hobbes ein Gegensatzpaar: »der Staat das eine Ungetüm, die Revolution das andere.« (Tönnies, Thomas Hobbes [wie Anm. 2], S. 61; vgl. Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18]. 25 Johannes Weiß, Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung, Wiesbaden1998.
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onsbegriffs in Hobbes’ politischer Theorie hinweist, mit dem die Wissenschaft der Politik vom Primat des Rechts und der Moral, damit von jeder Willensmetaphysik abgelöst wird.26 Kreiste die Idee der Politik seit Plato und Aristoteles bis zu den Kirchenvätern um die Fragen des guten Herrschers und des Gemeinwohls, so trennt das moderne Verständnis das Politische vom Moralischen. Bereits Machiavelli formuliert eine »wertneutrale«, erfolgsorientierte Kunstlehre der Macht, bewegt sich aber noch ganz im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Vorstellungen, wenn er politisches Handeln (ưƱƜƮƩƲ) weiterhin an das Gemeinwohl knüpft. Erst Hobbes vollzieht die radikale Umdeutung der Machttechnik zu einem künstlichen Herstellen (ưƯƟƧƳƩƲ) des Politischen – bildlich dargestellt im Frontispiz – und einer technischen Konstruktion der Staatsmaschine.27 Herrschaft – bei Max Weber, der diese instrumentelle Auffassung fortsetzt, identisch mit Ordnung – avanciert zu einem Wert an sich, einer nicht mehr im Rahmen der praktischen, sondern der theoretischen Vernunft wissenschaftlich behandelten autonomen Wertsphäre.28 Im Zentrum dieser neuen Wissenschaft der Politik stehen die Souveränitätslehre und die Theorie der Repräsentation.29 Hobbes’ Votum für den Absolutismus ist eine Entscheidung,
—————— 26 Hans Maier nennt zwei Gründe für diese Abkehr vom Prinzip der Willensfreiheit. »Theologisch ist es der Nominalismus in der Linie Duns Scotus, Ockham und der englischen philosophischen Tradition, durch den die Gottesmacht ins Absolute gesteigert und der Mensch zum Spielball des göttlichen Willens gemacht wird. Naturwissenschaftliche Quelle ist ein Determinismus, der aus dem Verständnis eines in sich zusammenhängenden, konsistenten, nicht zufälligen Universums fließt, das individuelle Willensregungen aus systematischen Gründen ausschließt.« (Hans Maier, Hobbes, in: Hans Maier/Heinz Rausch/Horst Denzer (Hg.), Klassiker des Politischen Denkens, Bd. 1, München 1968, S. 351-375, hier S. 360f.). 27 Tönnies hebt den Unterschied zwischen mittelalterlicher Vertragstheorie, die den Staat als »Rechtsstaat« begründet, und Hobbes’ Vertragstheorie hervor, die den Staat zum menschlich-sozialen Konstrukt macht (vgl. Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 103f; Arendt, Vita activa [wie Anm. 20]. 28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen 1976. 29 Repräsentation und nicht Souveränität führt zur Unterscheidung zwischen dem gesellschaftlichen Naturzustand und der Zivilgesellschaft. Auch Eric Voegelins »Neue Wissenschaft der Politik« behandelt den Begriff der Repräsentation als »das Zentralproblem einer Theorie der Politik« (Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19], S. 17). »Die neue Repräsentationstheorie, die Hobbes in seinem Leviathan entwickelte, erkaufte zwar ihre eindrucksvolle Geschlossenheit um den Preis einer Simplifizierung, die selbst in die Klasse der gnostischen Missetaten gehört. [...] [doch sie] trifft ins Herz des Übels« (ebd., S. 211f.), der Auflösung politischer Rationalität in Theorie und Praxis. Der moderne Rationalisierungsprozess hat für Voegelin einen zutiefst irrationalen Kern.
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erstens, gegen die Idee der im irrationalen Glauben gründenden universitas samt Identitätsrepräsentation sowie, zweitens, für die Idee einer rationalen Konstruktion der societas als Vertragsgemeinschaft mit Stellvertretungsrepräsentation. Im Moment seiner Ausdifferenzierung zur autonomen Handlungssphäre erkennt Hobbes die Repräsentation als Kern des Politischen. Das Faktum des Staates versucht Hobbes durch die Fiktion vom Gesellschaftsvertrag plausibel zu machen. Notwendig war dieser Schritt, weil mit den liberal-naturrechtlichen Fundamenten des Leviathan, also der Idee des von Natur aus freien Menschen, die antike Vorstellung einer aus der Natur des Menschen abgeleiteten Herrschaftsbegründung obsolet wurde. Die Fiktion des Gesellschaftsvertrages soll eine rationale, aus dem Prinzip der Selbsterhaltung (Nutzen) abgeleitete Erklärung für die Unterwerfung unter den Staat erlauben. Der von Natur aus freie Mensch verzichtet auf seine unumschränkte Freiheit, weil er ein höheres Gut dafür erhält. Dieses höhere Gut ist das Leben selbst beziehungsweise die Bedingung dauerhafter Existenzsicherung: Frieden. Frieden kann aber weder durch Vernunftbeschluss noch Selbsterhalt herbeigeführt werden, weil Selbsterhaltung zum bellum omnium contra omnes führt und unter diesen Bedingungen allein die Unterwerfung und gegebenenfalls Tötung des Kontrahenten rational ist. Es ist dann auch die Furcht vor dem Tod durch den anderen, die zu dem vernünftigen Schluss führt, dass alle auf die unumschränkte Freiheit und das Recht auf Selbstverteidigung verzichten und beides auf einen Stellvertreter übertragen. Einerseits ist der Gesellschaftsvertrag ein Vertrag zwischen natürlichen, das heißt unverbundenen Personen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, kein Bündnis zur Bildung einer Korporation mit eigener Identität und einem über die Selbsterhaltung hinausgehenden kollektiven Ziel. Die Erfüllung des Vertrages ist aber an Stellvertretung gebunden. Hobbes gibt dem Gesellschaftsvertrag nach römischem Recht die Form einer Vereinbarung zugunsten eines durch diesen Vertrag selbst nicht gebundenen Dritten.30 Darüber hinaus ist der Gesellschaftsvertrag als Herrschaftsvertrag konzipiert, nicht als Begünstigungsvertrag nach dem Modell des auf Wechselseitigkeit beruhenden Lehnsverhältnisses, der bei Verletzung von beiden Partnern gekündigt werden könnte und damit aus Hobbes’ Sicht (wieder) die Gefahr des Bürgerkrieges heraufbeschwören
—————— 30 Iring Fetscher, Einleitung, in: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen Staates, übersetzt von Walter Euchner, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt/M. 2002, S. IX-LXVI.
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würde.31 Der Gesellschafts-/Herrschaftsvertrag kann von den Untertanen nicht mit Verweis auf Vertragsbruch gekündigt werden, weil der Souverän gar nicht Vertragspartner war und ist. Da er nichts hat versprechen können und müssen, ist der Souverän völlig frei und ungebunden. Der Vertrag konstituiert keine Willensübereinstimmung und kein Mandatsverhältnis innerhalb einer paritätischen Körperschaft, sondern ein Verhältnis der Vormundschaft nach römischem Recht, die sich allerdings nur auf die öffentlichen Angelegenheiten des Citoyens, nicht auf die Privatinteressen des Bürgers erstreckt. Diese, im Hobbes’ Werk unaufgelöste Spannung zwischen Liberalismus und Autoritarismus wird sehr deutlich, wenn er dem Bürger einerseits Glaubensfreiheit und das Recht auf Desertion attestiert, anderseits von ihm ein Lippenbekenntnis zur Staatsreligion beziehungsweise Unterwerfung unter die Gesetze des Souveräns fordert. Stellvertretung im Sinne des »Handelns für« bedeutet bei Hobbes also Delegation der Gewalt, analog dem römischen Vormundschaftsverhältnis nicht Interessenvertretung – denn der Citoyen hat im Gegensatz zum Bourgeois keine Interessen und Rechte, sondern nur Pflichten. Stellvertretung hat nach antikem Vorbild bei Hobbes auch noch die Bedeutung des »Gegenwärtigmachens«: In der körperlichen Repräsentation des Souveräns erhält das Volk reale Gestalt. Das Volk existiert nur in und durch die Repräsentation, ist nur im fiktiven Moment des förmlichen Vertragsschlusses vom Souverän unterschieden. Denn der Vertrag führt seinem Inhalt nach dazu, dass sich das Volk dem Souverän unterwirft und sich in ihm sogleich auflöst – in dem doppelten Sinne, dass allein der Souverän – durchaus wörtlich genommen – das einige Volk verkörpert, während sich die Bürger wieder in eine Menge vereinzelter Einzelner zurückverwandeln. Die Zivilgesellschaft bildet, wie schon Ludwig Feuerbach in seiner Hobbesinterpretation hervorhebt,32 keinen Organismus, sondern ist eine durch die Gewaltmaschine des Staates zusammengehaltene äußere Verbindung. Die Bürger, so Feuerbach, befinden sich im Staate außerhalb des Staates, also weiterhin im Naturzustand der Vereinzelung. Auch der Souverän handelt wie im Naturzustand, weil er Souverän nur ist, insofern ihm die Menschen alle natürlichen Rechte übertragen haben, die er ohne Einschränkung ausüben muss, um dem Gesellschaftsvertrag Geltung zu verschaffen. Der Gesellschaftszustand, so sein Resümee, unterscheidet sich vom Naturzustand
—————— 31 Ebd., S. XXVI. 32 Ludwig Feuerbach, Geschichte der neueren Philosophie von Bacon bis Spinoza, Berlin 1969, S. 99-138.
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nur dadurch, »daß in jenem auf einen einzelnen oder auf einige konzentriert und gehäuft ist, was in diesem alle hatten.«33 Eine mit unbeschränkter Souveränität ausgestattete Staatsgewalt sei reine Willkür, unsittlich, rohe Naturgewalt. Insofern sei der Unterschied zwischen Staat und Naturzustand wieder aufgehoben. Diesen merkwürdig changierenden Übergang zwischen Natur- und Gesellschaftszustand beschreibt Hobbes dann nicht zufällig in Theaterbegriffen. Zunächst führt er in dem zentralen 16. Kapitel den Begriff der Repräsentation im Sinne der Präsentation oder Darstellung ein. Der Repräsentant ist ein Rollenspieler. Wie auf dem Theater präsentiert ein Akteur (Schauspieler) die von einem Autor (Dichter) geschaffenen Rollen. Alsdann zählt Hobbes eine Reihe von Repräsentationsverhältnissen auf. Als terminus comparationis fungiert dabei der Begriff der Autorisierung, mit dessen Hilfe sich Stellvertretungen mit und ohne Vertretungsmacht wie zum Beispiel Mandat und Vormundschaft unterscheiden lassen. Die verschlungene Argumentation zielt auf das Problem der Personifikation einer Menschenmenge und die Herleitung eines Gemeinwillens aus einzelvertraglichen Bindungen der Individualwillen:34 »A Multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one Person, Represented; so that it be done with the consent of every one of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One. And it is the Representer that beareth the Person, and but one Person: And Unity, cannot otherwise be understood in Multitude.«35
Die Sprache der Textpassage ist wie die damit beschriebene Sache von Uneindeutigkeit geprägt. Mehr noch: Hobbes macht sich hier die Äquivokationen zu nutze, die im Begriff der Repräsentation liegen, so dass diese Textpassage weniger durch Argumentation als Suggestion geprägt ist. Unter der Hand wandelt sich dabei der Sinn der Ausdrücke »Vertretung« und »Repräsentation«: »Denn wenn der Souverän, autorisiert durch die Einzelnen, eben nicht nur diese, sondern vor allem das Commonwealth oder die Civitas vertritt (civitatis personam gerit), welche er zugleich erst durch seine Souveränität konstituiert, so bedeutet das, daß die ursprüngliche Einheit von Vollmacht, Zuschreibung der Handlung und
—————— 33 Ebd., S. 125. 34 Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 390. 35 Thomas Hobbes, Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, reprinted from the edition of 1651, Oxford 1909.
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Zurechnung ihrer Rechtsfolgen auseinander bricht: Die Ermächtigung trägt die Zurechnung der Rechtsfolgen der Vertretungshandlung nur noch, wenn man sie als blinde Unterwerfung unter alle künftigen Vertretungshandlungen versteht, die damit zu Herrschaftsakten eines ›Vertreters‹ werden, der ein Subjekt berechtigt und verpflichtet, das es ohne ihn nicht gibt, das er allein verkörpert.«36
Hobbes Theorie der Repräsentation, wie sie hier skizziert ist, enthält im Kern Elemente, die mit seiner These von der Einheit von Gesellschaftsund Herrschaftsvertrag sowie mit seiner Theorie der unumschränkten Souveränität nicht ohne weiteres vereinbar sind.
IV. Der Titelkupfer des Leviathan und die optische Konstruktion der Repräsentation Die sich in Hobbes’ Schrift offenbarenden Spannungen kulminieren im Konstrukt einer freiwilligen Unterwerfung. Dieses Paradox verweist auf den Doppelcharakter der Staatsraison: einerseits gründet sie im Prinzip der Selbsterhaltung der Individuen, andererseits erstrebt sie die Selbsterhaltung einer symbolischen Ordnung. Beides lässt sich aber nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen und bleibt dann auch im Leviathan rätselhaft: Der künstliche Gott Leviathan ist so unergründlich wie Gott im Himmel. Legitimitätsgrund ist nicht ein Rationales, sondern ein Mysterium, die Verkörperung.37 Die bildliche Darstellung des corpus politicum auf dem Titelblatt ist daher keine bloße Illustration zum Text des Leviathan. Sie dient, wie die folgende rezeptionsästhetische Analyse zeigt, auch weniger einem Verstehen der Repräsentation als vielmehr ihrer performativen Erzeugung. Wie die Griechen misstraut Hobbes der Verführung durch das Wort und die Schrift, setzt aber an die Stelle der Tonkunst, die bei den Griechen als Medium der politischen Bildung galt, die Bildkunst.38 Den Übergang in den
—————— 36 Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 390. 37 Ähnlich Max Weber, der von der Pflicht des Gehorsams gegenüber dem charismatischen Führer spricht, dessen Anerkennung notwendige Folge seiner Legitimität und nicht Legitimitätsgrund sei (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 28], S. 155f). 38 Dirk Tänzler, Der Charme der Macht. Zur medialen Inszenierung politischer Eliten am Beispiel Franklin D. Roosevelts, in: Ronald Hitzler/Stefan Hornbostel/Cornelia Mohr (Hg.), Elitenmacht, Wiesbaden 2004, S. 275-291. Die geometrische Konzeption des Titelblatts folgt, so Reinhard Brandt, verborgenen musiktheoretischen Grundlagen und manifestieren eine Kosmologie: die harmonia mundi civilis et ecclesiastici (Reinhardt Brandt,
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Staatszustand kann die Macht des besseren Arguments weder herbeiführen noch sichern. Es bedarf der Macht eines rational konstruierten technischen Mediums, das über die Sinne die Seele beeindruckt und beim Bürger den Sinneswandel zum Citoyen bewirkt. Die Repräsentation der Repräsentation im Titelkupfer des Leviathan demonstriert und verschleiert ein der Repräsentation immanentes Moment der Verführung, so dass der Herrschaftsvertrag natürlich, als Teil der kosmologischen Ordnung erscheint. Im Spiegelkabinett der Repräsentation irrealisiert sich der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, die wie in einem Ritual als Momente einer höheren Macht erscheinen. Subjekt dieser imaginierten Verführung ist das Opfer selbst. Wie bei Freud die psychodynamische Urszene,39 so müssen auch die gesellschaftliche Urszene und der sie hervorrufende Krieg aller gegen alle40, von denen Hobbes im Leviathan erzählt, nicht naturalistisch als reales historisches Geschehen, sondern strukturell und symbolisch als Gründungsmythos gedeutet werden. Das Frontispiz des Hobbesschen Leviathan überbrückt, so Horst Bredekamp, wie eine effigies das den Bürgerkrieg ermöglichende interregnum zwischen dem Tod des Königs und der Krönung seines Nachfolgers. Im einen wie im anderen Fall droht mit dem individuellen Tod des Herrschers der soziale Tod der Ordnung, der Einbruch des Naturzustandes in den Gesellschaftszustand und der bellum omnium contra omnes. Die individuell wie sozial drohende Vernichtung durch den Tod muss rituell gebannt41 wer-
—————— Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, in: Udo Bermbach/Klaus-M. Kodalle (Hg.), Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 203-231, hier S. 211). 39 Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1974, S. 287-444. 40 Eine genauere Analyse der Hobbesschen These vom »Krieg aller gegen alle« hätte der Einschätzung von Panajotis Kondylis zu folgen: »Der sprichwörtliche Krieg aller gegen alle bildet einfach eine praktische Unmöglichkeit, das heißt es ist kein Zustand vorstellbar, in dem ein solcher Krieg samt all seinen Implikationen buchstäblich stattfindet und mehr als einen Augenblick dauert. [...] Die Formel ist entweder metaphorisch oder sinnlos. Genauer: Sie hatte keinen realen, sondern nur einen polemischen Sinn, als sie in der frühen Neuzeit aufgeboten wurde, um die aristotelisch-scholastische Lehre von der Ursprünglichkeit der Gesellschaft aus den Angeln zu heben und in einem zweiten Schritt die Vertragstheorie dieser oder jener Couleur zu stützen. Was man Hobbes entgegnen kann, will man ihn im Nominalwert nehmen, ist folgendes: Gesellschaft wurde nicht gegründet, damit der Krieg aller gegen alle ein Ende nimmt; Gesellschaft besteht, weil der Krieg aller gegen alle praktisch unmöglich ist.« (Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1, Berlin 1999, 296f.). 41 Vgl. Carlo Ginzburg, Repräsentation – das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, Freibeuter 52 (1998), S. 2-23.
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den in der die Königswürde (dignitas) verewigenden effigies beziehungsweise im Bild vom Staatskörper des Leviathan. »Die Leerstelle zwischen den Worten des Vertrages und dem Gesamtkörper des Staates füllt die ›visible power‹ des Bildes. [...] Damit Verträge und Gesetze zu kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und diesen Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan.«42
Die im Bild festgehaltene Szene der den corpus des Staates bildenden und zum Souverän als caput aufschauenden Menschen deutet Bredekamp als pseudosakralen Akt der Erschaffung des sterblichen Gottes durch die Versammelten. »Keineswegs nur Symbol eines Nicht-Darstellbaren, schließt das zum mentalen Bild gewordene Frontispiz die Lücke zwischen Repräsentant und Repräsentiertem, um damit die symbolische Achillesferse des Leviathan zu heilen, als Gesamtkörper nicht körperlich erfahrbar zu sein.«43 Im Frontispiz gibt Hobbes, so könnte man im Anschluss formulieren, eine optische Konstruktion der Identitätsrepräsentation, die er auf geometrische Weise zu enträtseln sucht, ihr damit aber nur einen neuen, den Schleier des Vernunftglaubens umhängt. Denn zumindest in einem Punkt bleibt der Akt des Vertragsschlusses irrational, dort nämlich, wo Vernunft in blinde Herrschaft umschlägt und der Bürger zum Untertan wird. Die vom Bild überbrückte Lücke in der logischen Ableitung der Repräsentation reist im Bild erneut auf. Die optische Konstruktion der Repräsentation hat einen blinden Fleck. Abbildung 1: Abraham Bosse, Leviathan, Frontispitz von: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, a.
—————— 42 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 130f. 43 Ebd., S. 72.
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Zwar mache das Bildnis des Leviathan, so Ethel Matala de Mazza, Repräsentation als Darstellung eines Sichtbaren und Stellvertretung eines Unsichtbaren ansichtig; alle, König, Volk, Hobbes und Gott als universeller Beobachter seien im Bild vorhanden, aber: »Dafür gibt es in dem Feld der Repräsentation nun keine für sich seienden Repräsentierten mehr. [...] Das Leben, dem der Leviathan Schutz gibt, ist erkauft in einem symbolischen Tausch des eigenen Gesichts gegen die Maske der politischen Person. [...] Der symbolische Tausch vollstreckt mit Zeichen, was der Machtanspruch des Despoten [...] von den Körpern fernhält: den Tod – besiegelt nun in der Auslöschung des Individuums als handelndes Subjekt.«44
Die Verleugnung der Identität wird hier als ideologisch motivierter Konstruktionsfehler dechiffriert. Die Verleugnung der Identität ist aber der Kern aller zivilisatorischen Rationalität und ein der Subjektivität inhärentes strukturelles Moment, genetisch ihre erste Erscheinungsform, wie Sigmund Freud am Beispiel der Ich-Spaltung angesichts der Kastrationsdrohung und am Fetischismus,45 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an den Abenteuern des Odysseus zeigen, dessen Name sowohl Held als auch Niemand (ƯƵƤƟƲ) bedeuten kann.46 Identität wird aus Abwehr geboren, ist keine an sich seiende Entität. Unter dem Fluch der Naturabhängigkeit ist Autonomie nur durch selbst verleugnende List und Mimikry ans Heteronome zu erschleichen. Die ideologiekritische Deutung der Huldigung als Auslöschung thematisiert den Gesellschaftsvertrag nur aus der Perspektive der societas, der geltenden Ordnung und der Stellvertretung. Diese bei Hobbes – im wahrsten Sinne des Wortes – im Vordergrund stehende und im Frontispiz dargestellte »technische Repräsentation« erklärt den Vorgang noch nicht hinreichend. Tatsächlich finden sich in dem Frontispiz, Bredekamps Deutung zeigt das deutlich, auch Spuren der Identitätsrepräsentation und der Idee der universitas. Das Moderne an Hobbes Konstruktion ist ja, dass er den Herrschaftsvertrag, also die paternalistische societas, an den modernen Gesellschaftsvertrag und an die Identitätsrepräsentation rückbindet. Indem er beide Verträge verknüpft, lässt er die universitas in
—————— 44 Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6], S. 82-85. 45 Freud, Totem und Tabu [wie Anm. 39], S.371-394; siehe unter dem Stichwort »Verleugnung« in: Jean Laplanche/J. B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, S. 595-598. 46 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1968.
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der societas verschwinden und Identität in der Stellvertretung aufgehen. Die societas verliert dadurch ihren natürlichen oder göttlichen Ursprung und wird zum künstlichen Konstrukt, geschaffen von freien Menschen zum eigenen Schutz. Die Paradoxie des Gesellschaftsvertrages, das Rätsel der Selbsttransformation einer wilden Horde in eine geordnete Gemeinschaft, hat Emile Durkheim als das zentrale soziologische Problem bezeichnet und als Suche nach dem »Nichtkontraktuellen des Kontraktes« formuliert.47 Dieser Übergang, und das ist Durkheims Lösung, vollzieht sich im Ritual. Wir müssen also die Urstiftung der Gesellschaft nicht nur juristisch als Vertrag, sondern – soziologisch grundlegender – als Passageritual im Sinne Arnold van Genneps lesen.48 In einem Ritual bringt sich eine religiöse Gemeinschaft hervor und gibt sich dauerhafte Existenz durch die Schaffung eines Selbstbildes und eines Stellvertreters, dem es die rituelle Funktion sowie deren Verkörperung und Ausdeutung überträgt. Allerdings wirft diese auch von Voegelin nahegelegte Deutung ein Problem auf: Sie irrealisiert den Gesellschaftsvertrag, der nicht mehr allein in der rationalen Konstruktion der societas aufgeht, sondern zumindest auch Züge der mystischen Identitätsrepräsentation der universitas annimmt.49 Die rationale Konstruktion des Leviathan verbirgt ein rational nicht auflösbares Rätsel, wie die Bildanalysen von Ethel Matala de Mazza und Horst Bredekamp zeigen. Diese Bildanalysen versäumen es allerdings, aus der Bildlichkeit des Leviathan auf das bildähnliche Wesen der Identitätsrepräsentation zu schließen. Die Leerstelle verweist nicht auf einen Fehler in der Konstruktion der societas, sondern auf das Wesen der Macht; ihr Anderes wäre
—————— 47 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1984 (zuerst 1912). 48 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt/M. 1986. 49 »Der Scharfsinn Hobbes’ zeigt sich am deutlichsten in seiner Erkenntnis, dass die Vertragssymbolik, die er in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten des siebzehnten Jahrhunderts verwandte, nicht das Wesentliche an der Sache ist. Der Zusammenschluß zu einem Gemeinwesen unter einem Souverän mag sich in Rechtsform vollziehen, aber seinem Wesen nach ist er eine psychologische Wandlung der sich zusammenschließenden Personen. Die Hobbessche Konzeption des Prozesses, durch welchen eine politische Gesellschaft existent wird, kommt der Auffassung Fortescues über die Schaffung eines neuen corpus mysticum durch die Eruption eines Volkes ziemlich nahe. Die Vertragspartner schaffen nicht etwa eine Regierung, die sie als Einzelpersonen repräsentiert. Durch den Vertragsakt hören sie auf, selbstbestimmende Menschen zu sein, und lassen ihre Machttriebe in einer neuen Person, dem Gemeinwesen, aufgehen, und der Träger dieser neuen Person, ihr Repräsentant, ist der Souverän.« (Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19], S. 250).
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nicht die Autonomie des Subjekts – diese ist mit jener identisch –, sondern Ohnmacht, Auslöschung, Rückfall in den Naturzustand. Im Frontispiz des Leviathan sehen Matala de Mazza und Bredekamp nicht bloß eine adäquate Versinnbildlichung der Repräsentationstheorie, sondern eine sinnhafte Einheit von Wort und Bild.50 Diese Deutungen beziehen sich vornehmlich auf Form und Inhalt des Bildes und untersuchen die Wechselwirkung mit dem Text. Erweitert man die Analyse der Bildwahrnehmung und des Bildverstehens jedoch um die rezeptionsästhetische Rekonstruktion des Bildes als Protokoll einer sozialen Handlung, dann eröffnen sich Anschlüsse für eine medien- und ritualsoziologische Deutung der »Repräsentation der Repräsentation« im Bildnis des Leviathan. Aus dieser Perspektive rückt dann an die Position des in aller Regel mit Gott identifizierten Betrachters der reale beziehungsweise idealtypische Betrachter (generalized other) vor dem Bild und an die Stelle der großen, jeder Erfahrung sich entziehenden Transzendenz die mittlere, durch face-to-faceInteraktionen überbrückbare Transzendenz zwischen zwei Akteuren.51 Im Akt der Bildwahrnehmung wird der Betrachter aus der Alltagswirklichkeit herausgerissen und in die Bildwirklichkeit hineingezogen, im Akt des Bildverstehens aber auch wieder von dieser Bildwirklichkeit auf die Handlungswirklichkeit des Akteurs verwiesen, weil ein Verstehen nur mit Rekurs auf einen gesellschaftlichen Wissensvorrat möglich ist. Die Intention des Bildes erfüllt sich schließlich nicht in der Beschaulichkeit des interesselosen Wohlgefallens an dem Bildinhalt, der Prosopopöie des Politischen, oder an der Form des Bildaufbaus, die sich als Allegorie der Repräsentation lesen lässt,52 sondern erst, mit Hegel gesprochen, in der Reflexion auf die durch das Sehen inaugurierte Erfahrung des Bewusstseins.
V. Die Repräsentation der Repräsentation im Bildnis des Leviathan Der Bildaufbau – die Säulen des Unterbaus sowie das sich darüber dachartig erhebende, über das Bild hinausragende, von Schwert und Bischofsstab gebildete Dreieck – leitet den Blick des Betrachters auf das Gesicht des Souve-
—————— 50 Vgl. auch Brandt, Titelblatt [wie Anm. 38]. 51 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Die Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003. 52 Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6], S. 80.
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räns.53 Der Blickkontakt auf gleicher Augenhöhe stellt Nähe her, ein Eindruck, den die geöffneten Arme des Souveräns – sowohl Einladungs- als auch Schutzgeste – unterstreichen. Der Betrachter wird aufgefordert, sich unter die schützenden Arme des mit den Insignien der geistigen (Bischofsstab) und der weltlichen Macht (Schwert) bewehrten Souveräns zu begeben und sich in die den Körper des Souveräns bildende Menschenmenge einzureihen. Der wechselseitige Anerkennung signalisierende und face-to-face-Interaktion eröffnende Blickwechsel auf gleicher Augenhöhe scheint sich »mikrologisch« und en detail im zentralen Bildinhalt zu wiederholen, so als verkörpere die Figur nach dem caput-corpus-Schema die Repräsentationsbeziehung, die der Betrachter als »inneres Bild« im Kopf entwirft: Auf den ausgestreckten Armen der Figur sieht man Menschen in Richtung der den Oberkörper der Figur bildenden Menge strömen. Alle den Körper der Figur bildenden Menschen blicken auf den Kopf derselben, einige sogar in knieender Pose. Aber der Blick der Menge findet keine Erwiderung. Die Einladung zur Annäherung schlägt um in eine Distanzmarkierung und in einen Akt der Huldigung zwischen Ungleichen. Der Beobachter versetzt sich, ästhetisch verführt durch die Inszenierung des »guten Hirten«, in die unter dem – durch die Insignien der Macht symbolisierten – Baldachin im Körper des Souveräns vereinte und zu seinem Kopf aufschauende Menschenmenge. Unmerklich hat sich eine asymmetrische und schließlich hierarchische Machtbeziehung hergestellt, die den Betrachter mit einbezieht, aber »ungreifbar« bleibt, weil sie das im Bild Dargestellte übersteigt. Differenz und Distanz des Souveräns zu dem seinen Körper bildenden Landvolk wird durch das metaphorische Symbol (»eins fürs andere«) des den Wassern entsteigenden Meeresungeheuers Leviathan dargestellt. Zugleich tritt der künstliche politische Körper aber auch als Ganzer in Distanz zur alltäglichen Lebenswelt, die unterhalb der Figur sichtbar wird, wie die Festtagskleidung der am Huldigungsritual Teilnehmenden unterstreicht. Gemeinsam bilden caput und corpus – jetzt als Manifestation einer metonymischen Beziehung (»pars pro toto«) – das Inselreich des Commonwealth. Ein Commonwealth ist mehr und anderes als eine Ansammlung von
—————— 53 Eingehendere Beschreibungen und Deutungen des Titelbildes finden sich bei Margery Corbett/Ronald Lightbown, The Comely Frontispiece. The emblematic Title-Page in England 1550-1660, London/Henley/Boston 1979; Brandt, Titelblatt [wie Anm. 38]; Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6]; Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10] u.a. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die für das vorgetragene Argument wesentlichen Bildelemente.
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Menschen und hat sein Vorbild im Himmelreich Christi im Sinne der universitas-Idee. Der künstliche Gott des Leviathan ist also nicht nur ein Ebenbild des fürchterlichen und unberechenbaren deus absconditus Calvinscher Prägung.54 Zu diesem Eindruck passt die Miene des Souveräns auf dem Frontispiz nicht, der alles andere als grimmig und Angst einflößend schaut, sondern wie ein gütiger Vater, ja freundlich und barmherzig wie Jesus Christus, den Menschen nah und ähnlich – ein Nähe suggerierendes, daher für die Identitätsrepräsentation prädestiniertes Objekt. Die Beziehung zwischen Souverän und Volk ist also durchaus ambivalent.55 Tatsächlich schauen die den Körper des Leviathan bildenden Menschen nicht nur gebannt auf den Souverän, sondern repräsentieren sich und kommunizieren auch untereinander; in anderen Versionen des Frontispizes (vgl. Abb. 2) wenden sie sich gemeinsam mit dem Souverän sogar dem Betrachter zu allerdings verschwindet hier die im Original von 1671 gezeigte »Repräsentationsoptik«. Beide Formen der Repräsentation – die zur Verleugnung zwingende Stellvertretung (Repräsentation) und die reziproke Darstellung der bürgerlichen Identitäten (Präsentation = Performanz) – stehen aber nicht unvermittelt oder gar unvereinbar neben-, beziehungsweise gegeneinander, sondern im Wechselverhältnis. Erniedrigung und Erhöhung werden im Hegelschen Sinne rituell aufgehoben und bilden eine neue, mystische Abbildung 2: Abraham Bosse, Leviathan, Qualität. Die absolute Macht des Frontispiz von Thomas Hobbes, Souveräns zwingt zur Vortäuschung Le Corps Politique 1652.
—————— 54 »Der hervorragende englische Kenner dieser Epoche religiöser Kämpfe und Begriffsbildungen, John Neville Figgis, sagt sogar, der Gott des Calvinismus sei der Leviathan des Hobbes, mit einer weder durch Recht, noch Gerechtigkeit, noch Gewissen eingeschränkten Allmacht.« (Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 49f.). 55 Auch darauf hat schon Carl Schmitt hingewiesen. Gerade in seiner Kontrastierung zum Behemoth erscheint der Leviathan als »Symbol schützender und gütiger Gottheiten« (Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 19).
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und Verschleierung. Dieser gesellschaftliche Zwang wird aber zu Selbstzwang und damit zum Mittel der Zivilisierung im Sinne von Norbert Elias.56 Die Maske verschließt den Menschen wie in einer Leibnizschen Monade, ist aber andererseits auch das Fenster, durch das man – gefiltert, also durchaus das Geheimnis der Person wahrend – Botschaften senden kann, die doppeldeutig sind. Da der Mensch nur durch ein Sich-Versetzen in den Anderen, also über eine Hermeneutik der Maske auch zur Selbsterkenntnis gelangt, der große Andere aber – der jenseitige ewige, Jahwe, wie der diesseitige sterbliche Gott, der Leviathan, unbegreifbar und von einem Geheimnis umgeben bleibt,57 bleibt sich auch der Mensch ein ewiges Rätsel. Die Maske ist eine Lebensmetapher und das Leben, so Goethe, nur ein Gleichnis. Es ist aber nicht der im Bild dargestellte Blickwechsel zwischen Menschen und Souverän, der gemäß dem caput-corpus-Schema die Repräsentationsbeziehung her- oder vorstellt und auf deren Mysterium ein scheinbar neutraler Beobachter seinen distanzierten Blick wirft. Realisiert wird die Repräsentationsbeziehung durch den Einbezug aller potenzieller Rezipienten dank der technischen Installation eines optischen Mediums. Der imaginäre Blickwechsel zwischen dem Betrachter (einer durch die Rahmung als Bild gesetzten Rolle) und dem Souverän zieht den Betrachter in die Bedeutungskonstitution des Bildes hinein. Der Betrachter sieht sich nicht nur gezwungen, den scheinbar im Bild manifestierten Sinn nachzuvollziehen, sondern im Akt des Sehens den latenten Sinn des Bildes zu generieren, der darin besteht, ihn als Betrachter zum Souverän sozial zu positionieren und einem Gesinnungswandel zu unterziehen, der Bedingung der Repräsentation ist. Wie die rezeptionsästhetische Analyse zeigt, sind Form und Inhalt des Bildes so gestaltet, dass das Verhältnis von Bild und außerbildlicher Realität zentral zum Bedeutungssinn des Bildes gehört, der seinerseits das im Bild Gezeigte übersteigt. All dies sprengt die Textbedeutung des Leviathan. Denn auf Grund des dargelegten Zusammenspiels von Bildgegenstand und Bildverstehensprozess transzendiert sich die als Huldigung dargestellte Stellvertretungsrepräsentation im Blickkontakt zwischen Betrachter und Souverän auf gleicher Augenhöhe zur Identitätsrepräsentation. Hinter der rationalen Konstruktion der societas, deren Urbild der Souverän ist, scheint die mystische
—————— 56 Norbert Elias, Die Höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983. 57 Skinner, Visions [wie Anm. 7], S. 204.
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universitas durch, die den Souverän zum Stellvertreter Gottes und damit schließlich zu einem von Menschen geschaffenen künstlichen Abbild des wahren Herren macht. Gott als der absolute Referent erscheint aber nur in der durch den Betrachter gestifteten Repräsentationsbeziehung, und die Repräsentation wiederum existiert nur in der Imagination aller Bildbetrachter. So gesehen würde das Auslöschen der Identität des Betrachters – die, kantisch gesprochen, alle meine performativen Akte, zu denen ich als soziales Wesen fähig bin, muss begleiten können – auch Gott und den Souverän zum Verschwinden bringen. Die Repräsentation ist nicht Täuschung oder Verfälschung, sondern Konstitution einer symbolischen Wirklichkeit, einer anderen, künstlichen Welt, in der sich eine höhere Wahrheit offenbart als sie sich in Worte fassen ließe. In ihr allein, nur in diesem über das Medium Bild hergestellten Schwellen- und Schwebezustand, in den sich der Betrachter versetzt, wenn er sich aus seiner Wirklichkeit vor dem Bild in die Bildwirklichkeit begibt, existiert die communitas, wie Victor Turner die Identitätsrepräsentation bezeichnet.58 Das Bild ist das Medium einer rituellen Vergemeinschaftung und diese die imaginäre Reproduktion der politischen Urszene. Die universitas, die im nur von der societas handelnden Text als rätselhafter Grund der rationalen Ordnungskonstruktion, als das »Nichtkontraktuelle des Kontraktes«, ausgespart bleibt, stellt sich zwar auch nicht im Bild dar, aber in der Bildbetrachtung her. Analog den transformierenden, in andere Zustände versetzenden Handlungen eines Rituals führen die im Bild wie durch ein Kaleidoskop oder Perspektivglas59 gebrochenen Blickwechsel in die imaginäre Sphäre der Repräsentation. Die rezeptive Versenkung ins Bild ist die Bildung der die universitas stiftenden Identitätsrepräsentation oder außeralltägliche Erfahrung der communitas.
VI. Das Ende der Repräsentation? Dem Bildnis des Leviathan konnte die Analyse eine politische Medienästhetik ablesen, welche die Notwendigkeit einer Visibilisierung der Macht manifestiert.60 Darüber hinaus konnte sie die vom Text des Leviathan ver-
—————— 58 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M. 2000. 59 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 83ff. u. 95ff. 60 Ein Vergleich von Hobbes’ Leviathan mit Geertz’ Negara wäre reizvoll. Der Hinweis muss genügen, dass trotz aller Unterschiede – auf Bali gilt die Theorie der zwei Körper
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drängte latente Botschaft freilegen, die historisch gesehen geradezu visionär vorwegnimmt, was im modernen Medienzeitalter eine Dominante der sozialen Wirklichkeitskonstruktion werden sollte: die technisch erzeugte Faszination angesichts eines ebenso technisch erzeugten politischen Mythos. Kernstück dieses politischen Mythos ist die von Rousseau in den Vordergrund gerückte Identitätsrepräsentation, deren technische Erzeugung Ernst Cassirer zum ersten Mal am Beispiel der nationalsozialistischen Propaganda beschrieben hat. Hobbes vertrieb dieses Gespenst der Identitätsrepräsentation aus der rationalen Konstruktion des Leviathan als Text, indem er sie in das Abbild des Leviathan verbannte, wo die technisch-mediale Konstruktion das Vexierspiel der Repräsentation nur umso deutlicher sichtbar werden ließ. Im 20. Jahrhundert werden dann immer wieder Versuche unternommen, das vertrackte Problem der Repräsentation endgültig zu lösen oder schlicht abzuschütteln. Zu Beginn des Jahrhunderts ruft Georg Lukács in seiner Theorie des Romans die Krise der Repräsentation aus und erklärt nur noch die Fiktionalisierung und Ironisierung für historisch angemessen.61 Ein halbes Jahrhundert später lässt Michel Foucault, ebenfalls von der Philosophie der Sprache geleitet, abermals den Abgesang erklingen – mit nachhaltiger Wirkung.62 Was zunächst nur für den Roman gelten sollte, wird jetzt zum umfassenden postmodernen Weltbild. In der politikwissenschaftlichen Debatte wird die Krise der Repräsentation spätestens in der Weimarer Republik spürbar, führt aber nicht, wie schließlich in den Kulturwissenschaften, zur Aufgabe des Begriffs, auch dann nicht, als im Zuge der Globalisierung der »natürliche Referent« der Repräsentation, der Staat, an Bedeutung einzubüßen scheint. Eine der einflussreichsten modernen Demokratietheorien geht auf Joseph Schumpeter zurück, für den die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischen geschobene Körperschaft, die ihrer-
—————— des Königs nicht, Königs- und Priesterfunktion sind strikt getrennt etc. – auch Ähnlichkeiten zu finden sind. Das zentrale Heiligtum, der Sitz der göttlichen Macht, ist nicht nur die Weltachse, sondern hat auch die Bedeutung eines Auges im Auge: auf Bali wird das Politische durch ein optisches Medium konstituiert. Ist die vorgeschlagene performanztheoretische Interpretation des Leviathan richtig, dann erscheint die Differenz zwischen der »poetics of power« der Negara und der »mechanics« des Leviathan (Geertz, Negara [wie Anm. 1], S. 123) geringer als Geertz annimmt. 61 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1970 (zuerst 1922). 62 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974 (zuerst 1966); ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M./ Berlin/Wien 1977.
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seits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt: Einzelne erringen im Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes politische Entscheidungsbefugnisse.63 Die liberale Konkurrenzdemokratie scheint ohne die Idee einer Identität von Regierten und Regierenden, die auf einem vorpolitischen Konsensus beruht, auszukommen. Ganz im Sinne Hobbes’ als dem Urvater des Liberalismus, der er ja auch ist, erscheint Repräsentation als ein Prinzip der Künstlichkeit: Nicht ein natürlicher Wille ist vorausgesetzt, sondern Politik wird als die Konstruktion eines Willens durch bestimmte Verfahren begriffen. Wird im US-amerikanischen Verständnis Repräsentation schlicht als Recht der Wahl verstanden, gilt diese verfahrenstechnische Deutung in der deutschen Tradition als Verkennung des Wesens der Repräsentation, die bei Carl Schmitt zur Erscheinung einer Art höheren Seins wird, nämlich der politischen Einheit als Ganzer.64 Der »künstlichen« Stellvertretung als Technik der Herrschaftslegitimation stellt Schmitt die »natürliche« oder »organische« Ganzheit des body politique als eine Wirklichkeit sui generis gegenüber. Schmitts Analyse legt die Widersprüchlichkeit des Begriffs der repräsentativen Demokratie offen, schließt dann aber in seiner eigenwilligen Interpretation der traditionellen Begriffe das Demokratieprinzip, die Stellvertretung, aus seinem politischen »Hauptwiderspruch« zwischen Identität und Repräsentation aus. In der demokratischen Stellvertretung wittert er den anarchistischen Geist des Individualismus, gegen den Hobbes seinen Leviathan errichtete, der, das sieht Schmitt durchaus, in Hobbes’ Liberalismus selbst angelegt ist.65 Schmitts Lösung mag nicht überzeugen, aber seine Analyse hat die politische Wissenschaft auf ein neues Niveau gehoben,66 zeigt sie doch unmissverständ-
—————— 63 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950. 64 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1989. 65 Im Gegensatz zur rechtsgeschäftlichen Vertretung erweise sich politische Repräsentation nach Carl Schmitt »ausschließlich als Reproduktion ideeller Werte«, so dass »der Repräsentant kraft dieses Wertes und daraus emanierender persönlicher Würde allemal Herr, nicht Diener sein [soll] [...], womit [...] der Anspruch der Repräsentation jeder demokratischen Funktionselite entzogen, einer exklusiven bildungsbürgerlichen Wertelite vorbehalten bleibt.« (Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 17). Diese obrigkeitsstaatliche Haltung hat sich bis in das Grundgesetz der Bundesrepublik durchgehalten, das dem Abgeordneten ein »Mandat der Verfassung«, das heißt der »Vertretung im staatlichen Sinne«, kein »Mandat des Wählers« (ebd., S. 20) zuspricht, was Max Webers Verständnis von Repräsentation als Herrschaft entspricht, der deswegen – was Hofmann entgangen ist – für den plebiszitären Präsidenten als Gegengewicht plädierte, der, ganz im Sinne der Identitätsrepräsentation, direktdemokratisch legitimiert ist (vgl. Tänzler, Charme der Macht [wie Anm. 38]). 66 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M.1980.
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lich, dass allein die Idee der »gemischten Verfassung« der Realität moderner politischer Systeme gerecht wird. Die repräsentative Demokratie stellt eine Synthese aus Demokratieprinzip und Amtsprinzip dar, wobei unter der Prämisse der Identitätsrepräsentation das Stellvertretungs- oder Amtsprinzip als die Befugnis angesehen wird, für andere verbindlich zu entscheiden.67 Wie Carl Schmitt hat auch Eric Voegelin das »technische« Prinzip der Stellvertretung – er spricht in seiner Kritik an der positivistischen Politikwissenschaft von deskriptiver Repräsentation – als »begrifflosen Begriff« zurückgewiesen und demgegenüber zwischen expressiver und transzendenter Repräsentation unterschieden. Expressive und transzendente Repräsentation stehen bei Voegelin nicht nur wie die entsprechenden Begriffe der Repräsentation und Identität bei Schmitt in einem unauflöslichen Wechselverhältnis, sondern sind auch hierarchisch geordnet. Als expressive Repräsentation fasst Voegelin den Vorgang der Artikulation der politischen Gesellschaft in einem Repräsentanten, die das Politische wirklich werden lässt. Das so symbolisch konstituierte Politische verweist als universitas auf eine transzendente Repräsentation: die Autorisierung der politischen Wirklichkeit durch eine höhere, eben transzendente Ordnung und einer darauf gegründeten Selbstauslegung des Seinsverständnisses. Die rationale Konstruktion der societas ist – das zeigt schon die Rekonstruktion des Leviathan – immer auch eine verkappte universitas. Voegelin versucht auf diese Weise den in der Moderne verlorengegangenen Zusammenhang zwischen der politischen Theorie und der – insbesondere religiösen – Erfahrung des Menschen und seines darauf gegründeten Seinsverstehens wieder herzustellen. Einem solchen, der abendländischen Metaphysik verpflichteten Ansinnen konträr ist die Proklamation einer Krise der Repräsentation. Die Autorisierung, das Zentrum der Hobbesschen Repräsentationstheorie, hat in den postmodernen Theorien zugunsten der Artikulation abgedankt. Wer spricht? – mit dieser einfachen Frage verabschiedet Foucault den Autor und überlässt dem Diskurs als eigentlichem Akteur die Bühne.68 Dem Souverän wird der Kopf abgeschlagen, personifizierte Herrschaft weicht anonymen Mächten. Auch auf dem Theater (und in den Theaterwissenschaften) wird der Text und der Autor zunehmend durch die Inszenierung
—————— 67 Eckehard Jesse, Typologie Politischer Systeme der Gegenwart, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Grundwissen Politik, Schriftenreihe Bd. 302, o. O. 1993, S. 165-227. 68 Foucault, Ordnung des Diskurses [wie Anm. 62].
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des zum Künstler avancierten Intendanten, dann auch – wie im Film – durch die Verkörperung einer Rolle des zum Star erhöhten Schauspielers verdrängt. In der Performance-Kunst schließlich vereinigt der Selbstdarsteller alle theatralen Funktionen – in autistischer Selbstbezüglichkeit vor der Videokamera gelegentlich sogar den Zuschauer – in Personalunion, offenbart aber die Paradoxie dieses Prozesses: Die Suche nach Authentizität endet im Verlust einer repräsentativen Identität – Repräsentation hier im Sinne der Verinnerlichung der Rollenübernahme, dem sozialen Drama der Anerkennung in der reziproken Spiegelung von Selbst und Anderem. Sahen Georg Simmel, Helmuth Plessner und Erving Goffman in der Dramatologie noch ein »Kleid«, mit dem sich der nackte Mensch vor allzu viel Menschlichkeit schützen konnte, in der Maske ein Mittel, Distanz zu schaffen und die Person mit einem Geheimnis zu umgeben, das ihr Tiefe verlieh,69 so stellt sich in der Postmoderne eine Konsum- und Medienwelt her, aus der jedes Rätsel entschwunden zu sein scheint. Im Simulacrum der Baudrillardschen Art hat der alte Mythos der Präsenz endlich seine Erfüllung gefunden.70 Moral, nach Kant die Idee einer exemplarischen, das heißt verallgemeinerbaren Lebenspraxis, weicht spätestens mit Nietzsche der Ästhetik. Die Lüge, Verstellung, der schöne Schein ist die Wahrheit der jedes Triebaufschubs und Triebverzichts abholden Spaßgesellschaft. Im schroffen Gegensatz zu Hobbes versteht der postmoderne Zeitgenosse Theatralität geradezu als Entwirklichung. Politiktheater, wir sagten es eingangs bereits, ist zur Metapher der Krise politischer Repräsentation geworden. In der politischen Praxis lässt sich eine Spaltung zwischen der erodierenden offiziellen diskursiv-parlamentarischen Stellvertretungsrepräsentation und einer krebsgeschwürartig wachsenden, offiziösen performativen Identitätsrepräsentation – paradoxerweise der politischen Stellvertreter – in den Medien beobachten. Was auf den ersten Blick ausschaut, als würde Repräsentation in toto durch Performanz verdrängt, entpuppt sich – historisch gesehen – als die durchaus in der Rationalität der Entwicklung liegende Dominanz der Identitätsrepräsentation über die Stellvertretungsrepräsentation. Aus deutscher Sicht erscheint das überraschend und problematisch, da die Naziherrschaft den deutschen Staatskörper mit einer totalitären Identitätsrepräsentation besetzt und damit jede Form nationaler
—————— 69 Georg Simmel, Das Problem des Stils, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 8, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 (II), Frankfurt/M. 1993, S. 374-384; Plessner, Anthropologie [wie Anm. 12]; Goffman, Theater [wie Anm. 4]. 70 Jean Baudrillard, Selected Writings, hg. von Mark Poster, Stanford 2001.
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Identität scheinbar desavouiert hatte. Nach dem Krieg tat sich die Bundesrepublik schwer, eine neue Identitätsrepräsentation zu formulieren. Dolf Sternberger prägte die dann von Jürgen Habermas popularisierte Vorstellung vom Verfassungspatriotismus als einer rationalen Zivilreligion, die Identitätsrepräsentation auf den nüchternen Charme von Verfahren reduzieren sollte. Der Mangel an politischer Ästhetik,71 die hier offenbar wird, aber weniger ein Ergebnis der Modernisierung als vielmehr des Rückfalls in die Barbarei geschuldet zu sein scheint, ist es wohl, der Historiker motiviert, sich der Tradition politischer Repräsentation zu vergewissern, um neue Deutungshorizonte für die ungelöste Frage zu öffnen. Die deutschen Reichstage der Frühneuzeit waren, so Barbara Stollberg-Rilinger, nicht so sehr Beschlusskörperschaften, die wie unsere modernen Parlamente kollektiv bindende Entscheidungen generierten, sondern symbolisch-rituelle Inszenierungen eines wohlgeordneten und hierarchisch gegliederten Ganzen, das in dieser Realpräsenz allererst in Erscheinung trat.72 Umgekehrt gilt aber auch, dass die modernen Parlamente und Politiker diese urpolitische Ritual- und Priesterfunktion der Repräsentation erfüllen müssen. Es besteht in der Mediendemokratie sogar die Gefahr, dass diese Seite der Repräsentation allzu sehr in den Vordergrund rückt und den Eindruck von bloßem Politiktheater entstehen lässt. Mit ihrer fast vollständigen Verlagerung auf die Schaubühne des Fernsehens wandelt sich die Identitätsrepräsentation von der rituellen Selbstaffirmation des Volkes als politischer Souverän (die auf Wahlbeteiligung reduziert zu werden droht) zur Imagekonstruktion des politischen Personals. Die symbolische Politik der höfischen Repräsentation hatte ihren Ort im Parlament; die schleichende Reduktion des »Arbeitsparlaments« auf reine Interessenstellvertretung dürfte dagegen, weil als symbolische Politik im eigentlichen Sinne nicht mehr erkennbar, langfristig dessen Legitimität in den Augen der Wähler aushöhlen. Gegenüber dem sich auf das Parlament beziehenden Verfassungspatriotismus stellt sich die »wahre« Identitätsrepräsentation heute also über die mediale Performanz der Politiker her. Nicht in der Fiktion vom herrschaftsfreien Diskurs findet das Volk seine imaginäre Selbstaffirmation,
—————— 71 Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik, in: Merkur Sonderheft 9/10 (1986), S. 719-724. 72 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 19, Berlin 1997, S. 91-132.
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sondern über die Symbiose von Politik und Unterhaltungskultur. Dem Frontispiz des Leviathan analog funktioniert das Fernsehen als Medium zur technisch-vermittelten Identitätsrepräsentation zwischen Politiker und Publikum der Wähler. Politiker bieten sich im Medium als Objekt der Identifikation an, um sich jenseits ihrer verfahrenstechnisch erzeugten Legitimität auch plebiszitärer Autorisierung zu versichern. Im Kontrast zu Hobbes hat der Staatskörper an Autorität eingebüßt, dafür der Körper des Politikers an Attraktivität gewonnen, der aber keine transzendente Ordnung mehr repräsentiert, sondern die nur allzu diesseitige Kultur der Selbstverwirklichung.73
—————— 73 Cornelia Koppetsch, Die Verkörperung des schönen Selbst. Attraktivität als Imagepflege, in: Herbert Wilhelms (Hg.), Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte. Produktion und Rezeption. Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 359382; Dirk Tänzler, Politisches Charisma in der entzauberten Welt, in: Peter-Ulrich MerzBenz und Gerhard Wagner (Hg.), Politische Grundbegriffe, Weilerswist 2006 (in Vorbereitung).
Literarische Repräsentation – Überlegungen zur Doppelungsstruktur des Repräsentativen: Hölderlins Gedicht An eine Fürstin von Dessau Jan Andres
I. Einleitung Der Begriff der »Repräsentation« ist zentral in der Politik- und Rechtswissenschaft, in der Philosophie und der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt auch in der Psychologie. Hier aber sollen im Folgenden Ansätze zu einem Modell von Repräsentation als Präsentation und Performanz entwickelt werden, die ihren Ursprung – und auch ihr primäres Erkenntnisinteresse – in der Literaturwissenschaft haben. Für diese Überlegungen werde ich mich in weiten Teilen an Wolfgang Isers Aufsatz über die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven orientieren.1 Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich mich aber vorher einem recht wenig interpretierten Hölderlin-Gedicht zuwenden; im dritten Teil erste Überlegungen zu einer Repräsentationstheorie des Literarisch-Repräsentativen vorstellen; ein Ausblick beschließt den Aufsatz.
II. Hölderlins Gedicht An eine Fürstin von Dessau Bevor ich also zum theoretischen Konzept selbst komme, beginne ich wie angekündigt mit Hölderlin. Vermutlich um 1800 hat der Dichter das
——————
Wolfgang Braungart, Lothar van Laak und Matthias Schwengelbeck danke ich für Kritik und Anregungen. Eingebunden in einen größeren Zusammenhang von Ästhetik und Literatur des Politischen finden sich diese Überlegungen jetzt in meiner Studie: »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005. 1 Wolfgang Iser, Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, in: Dieter Henrich/ Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), S. 497-510.
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folgende Gedicht geschrieben, das je nach Ausgabe als Aus stillem Hauße senden2 oder An eine Fürstin von Dessau3 betitelt ist: Aus stillem Hauße senden die Götter oft Auf kurze Zeit zu Fremden die Lieblinge Damit, erinnert, sich am edlen Bilde der Sterblichen Herz erfreue. So kommst du aus Luisiums Hainen auch Aus heilger Schwelle dort, wo geräuschlos rings Die Lüfte sind und friedlich um dein Dach die geselligen Bäume spielen, Aus deines Tempels Freuden, o Priesterin! Zu uns, wenn schon die Wolke das Haupt uns beugt Und längst ein göttlich Ungewitter Über dem Haupt uns wandelt. O theuer warst du, Priesterin! Da du dort Im Stillen göttlich Feuer behütetest, Doch theurer heute, da du Zeiten Unter den Zeitlichen seegnend feierst. Denn wo die Reinen wandeln, vernehmlicher ist da der Geist, und offen und heiter blühn Des Lebens dämmernde Gestalten Da, wo ein sicheres Licht erscheinet. Und wie auf dunkler Wolke der schweigende Der schöne Bogen blühet, ein Zeichen ist Er künftger Zeit, ein Angedenken Seeliger Tage, die einst gewesen, So ist dein Leben, heilige Fremdlingin! Wenn du Vergangnes über Italiens Zerbrochnen Säulen, wenn du neues Grünen aus stürmischer Zeit betrachtest.4
—————— 2 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., München 1992, S. 255f. 3 So etwa in Friedrich Hölderlin, Gedichte. Hg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Nachwort von Bernhard Böschenstein, Stuttgart 2000, S. 196.
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Dieses Widmungsgedicht ist aller Wahrscheinlichkeit nach, der eine Titel deutet darauf hin, an Amalie von Anhalt-Dessau, eine Prinzessin von Homburg, gerichtet.5 Die alkäische Ode ist eines der schönsten Widmungs- und Gelegenheitsgedichte, die man in der langen Tradition der Gattung überhaupt finden kann. Es eröffnet das Stuttgarter Foliobuch Hölderlins in der heute vorliegenden Fassung. Zwar ist die Ode unvollendet geblieben, und zudem ist auch die Geschichte ihrer Entstehung nicht klar.6 Trotzdem soll sie wegen ihrer ungewöhnlichen literarischen Qualität hier wenigstens kurz als Beispiel kasuallyrischen, repräsentierenden Herrscherlobs interpretiert werden.7 Daraus werden sich die weiterführenden, theoretischen Überlegungen zum Status von Literatur als Repräsentation ergeben. Dem Titel eines Gedichts wird oftmals nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Er wird in diesen Fällen als bloßes Beiwerk und nicht zum eigentlichen Textkörper gehörend vernachlässigt. Bei Gelegenheitslyrik verbietet sich dieses an sich schon ungenaue Vorgehen um so mehr, als der Titel in der Regel der Ort ist, an dem der Anlass und das Ziel – also Kasus und Adressat – des Gedichts genannt werden. Damit gehört er zu den gattungskonstitutiven Merkmalen dieser anlassgebundenen Lyrik. Hölderlins Gedicht hat leider keinen eigenen, das heißt: von Hölderlin stammenden Titel. Entweder wird, gleichsam als Ersatz, der erste Vers genannt, oder die
—————— 4 Hölderlin, Aus stillem Hauße, in: Hölderlin, Werke, Ed. Knaupp [wie Anm. 2], S. 255f. Zum Gedicht vgl. auch Ulrich Gaier, Hölderlins Gärten, in: Turm-Vorträge : 1987/88: Hölderlin und die Griechen. Tübingen, 1988, S. 54-97. 5 Vgl. auch den Kommentar in der Hölderlin-Ausgabe von Joachim Schmidt, die unübertroffen kommentiert ist: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde., hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1992-1995, hier Bd.1, S. 233f. Schmidt betitelt das Gedicht »Der Prinzessin Amalie von Dessau«. 6 Vgl. dazu die Kommentare von Schmidt und Knaupp. Nach Jochen Schmidt »spricht mehr für die Erbprinzessin Amalie«. (S. 648 im Kommentarteil). Vgl. auch Werner Kirchner, Prinzessin Amalie von Anhalt-Dessau und Hölderlin, in: Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958/60), S. 55-71. 7 Vgl. einführend auch Wulf Segebrecht, Artikel Gelegenheitsgedicht, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, hg. v. Klaus Weimar, Berlin/New York 1997, S. 688-691; ders., Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, sowie Wolfgang Adam, Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens bei »Gelegenheit«, Heidelberg 1988. Zum Herrscherlob als Übersicht: Björn Hambsch, Artikel Herrscherlob, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1377-1392. Auch Andreas Kraß, Artikel Hymne, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 105-107, dort auch der anschließende Artikel zum Hymnus.
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Werk-Herausgeber benennen den Text. Wenn sie so vorgehen und das Gedicht An eine Fürstin von Dessau überschreiben, reflektieren sie damit Textaussagen und Gattung gleich mit. Der Ortsbezug »Dessau« wird aus Luisium, dem Wörlitzer Park bei Dessau, abgeleitet. Der Widmungs charakter aber und die direkte Ansprache »An eine Fürstin« wird aus der Tradition der Ode als bevorzugter Gattung preisenden Sprechens hergeleitet und begründet.8 Dieses Vorgehen begründet sich also durch die kommentierende Arbeit von Herausgebern. Bezeichnend ist es insofern, als diese philologische Praxis vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts sehr nachdrücklich zeigt, wie stark Gattungstraditionen den Umgang und die Rezeption von Texten vor- und mitstrukturieren. Die erste Strophe allerdings scheint diesen Eindruck der direkten Ansprache eines Adressaten durch einen Autor, wie ihn der Titel erweckt, gleich wieder zu verneinen. Sie hat den Sprachgestus einer Art allgemeiner Reflexion und zeichnet sich durch eine Semantik des Offenen und Unbestimmten aus: Die Götter senden ihre Lieblinge zu Fremden, damit sich deren Herz an ihnen erfreue. Weder die Götter noch die Fremden oder die Lieblinge sind damit deutlich benannt. In paradoxer Weise verstärken die bestimmten Artikel die Unbestimmtheit der Bedeutungen noch. Diese Rede lässt sich nur durch die ihr eingeschriebene Raum-Zeit-Struktur genauer bestimmen. In dieser Strophe liegt eine Ordnung der Dinge aus ihrem Abstand voneinander zugrunde. Das »stille Haus« der Götter ist offenkundig der Sphäre der »Sterblichen« unerreichbar weit entrückt. Aber es gibt Vermittler zwischen dem Heiligen, Überzeitlichen und dem Profanen, Vergänglichen, das sonst so klar getrennt ist. Die »Lieblinge« der Götter, die sich nur dadurch auszeichnen, dass sie eben erwählt und geliebt sind,
—————— 8 Zur Geschichte der Ode und ihrer Funktionen vgl. immer noch den klassischen Überblick von Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923, S. 173. Einführend in die neuere Forschung Dieter Burdorf, Artikel Ode, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 735-739; für den englischen Sprachraum John D. Jump, The Ode. Fakenham 1974; zur Odentheorie: Hans-Henrik Krummacher, Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel, in: Franz M. Eybl u.a. (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, Tübingen 1995, S. 255-285; auch Wolfgang Braungart, Hymne, Ode, Elegie. Oder: Von den Schwierigkeiten mit antiken Formen der Lyrik (Mörike, George, George-Kreis), in: Achim Aurnhammer/Thomas Pittroff (Hg.), »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/M. 2002, S. 245-271; schließlich Ulrich Schödlbauer, Odenform und freier Vers. Antike Formmotive in moderner Dichtung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 23 (1982), S. 191-206.
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können, wenngleich nur für kurze Zeit und nie auf Dauer, dem Menschen den Arkan-Bereich des Heiligen und Göttlichen anschaulich machen. Die Lieblinge sind das »edle Bild«, das an das »Herz« der Sterblichen reichen und es »erfreuen« kann. So entsteht die Erinnerung als Form des Wissens und der Gewissheit im Menschen, dass es die Götter gibt und sie ihnen wohlgesonnen sind. Diese stille und bescheiden auftretende Einleitungsstrophe enthält geradezu anthropologische und basale theologische Einsichten. Denn Hölderlin behauptet hier doch nichts anderes, als dass sich das Heilige und damit die Religionen darstellen müssen, um Dauer und Sicherheit gewinnen zu können. Er beteiligt sich so auch an den um 1800 stattfindenden Diskussionen um die Rolle und die Funktion des Mythos.9 Mythos und Poesie, der Mythos in der Poesie werden als Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis verstanden. Der Mythos könne Natur und Kunst vermitteln, er sei weltbildend, erkenntnisleitend. So die Hoffnung um 1800; und das scheint auch die implizite Argumentation dieser Strophe zu sein. Religionen ohne Bildsysteme im weitesten Sinn sind zum Scheitern verurteilt. Von Zeit zu Zeit und wenn auch nur für »kurze Zeit« muss sich das Heilige und Göttliche im »edlen Bilde« dem Sterblichen präsentieren und ihn so affizieren.10 Religion als Praxis des Heiligen ist damit auch strukturell kongruent mit Herrschaft als Praxis der Macht. Beide bedürfen existenziell der Darstellung als Bedingung der Möglichkeit ihrer Wirkmacht. Für den Menschen heißt das, dass er als Sinnenwesen seine je individuell gültige Lebens- und Umwelt konstruktiv durch Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen erstellt. Er braucht diese Erfahrungen, zu denen die großen Epiphanien zumindest gehören können, um Sicherheit und manchmal auch Freude empfinden zu können. Der Gefühlshaushalt, die Psyche, von Menschen wird nicht unwesentlich durch »edle Bilder«, durch sinnliche Eindrücke, durch ästhetische Erfahrungen reguliert.
—————— 9 Aus der umfangreichen Forschung vgl. hier nur Manfred Frank, Der kommende Gott. Frankfurt/M. 1982; ders., Gott im Exil, Frankfurt/M. 1988; Christoph Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos. 2. Bde, Darmstadt 1991 u. 1996; Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987. 10 In religionstheoretischer Hinsicht ist deshalb natürlich das alttestamentliche und jüdische Bilderverbot mindestens problematisch und erklärungsbedürftig. Das Verbot, sich ein Bildnis Gottes machen zu dürfen, rührt an die Grundlagen von Religion überhaupt. Religionen brauchen notwendig Ausdruckssysteme. Die christliche Religion hat das Bilderverbot umgangen, indem es sich den, vor allem katholischen, Ritus geschaffen hat. Der katholische Gottesdienst ist eine Form, sich ein »Bild« im weiteren Sinn der Religion zu machen. Er ist allerdings kein Bild Gottes im engeren Sinn.
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Diese Interpretation geht weit, vielleicht zu weit. Aber angesichts des geschichtsphilosophisch so reichen Werks Hölderlins, das wesentlich in und nach der Zeit um 1800 entsteht, darf man unterstellen, dass solche umfangreichen Implikationen mitgelesen werden dürfen. Hölderlin verlässt dieses grundlegende kulturphilosophische Niveau auch in der zweiten Strophe wieder. Aber diese wird mit einem »So« eingeleitet, das den Anschluss zu den Thesen der ersten Verse herstellt. Allerdings wird jetzt ein »Du« angesprochen, das offensichtlich den zwei großen Bereichen der Götter und der Sterblichen gleichzeitig zugeordnet ist. Konkret kommt es aus »Luisiums Hainen«. Damit nutzt die Ode die kasuallyrische Lizenz, konkrete Bezüge auf Personen, Orte oder Ereignisse ins Gedicht zu integrieren. Vermeintlich autonomen Kunstwerken, und zumal der Lyrik, sind derartige Hinweise poetologisch spätestens mit der Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis heute verwehrt. Sie gelten als kunstlos und der Autor als unkünstlerisch, wenn sie nicht ironisch gebrochen sind. Für Kasuallyrik hingegen sind sie notwendig. Um die Gelegenheit gestalten zu können, muss sie auch identifizierbar sein. Das hier angesprochene Du ist in Luisium zu Haus. Hölderlin – und hier darf man eine kalkulierte Verwechslung oder Identität von Autor und lyrischem Subjekt unterstellen – sagt in der zweiten Strophe ganz offen, wem er den Text zueignet: der Besitzerin der Dessauer Gärten, der Fürstin Amalie. Neben diesem direkten Bezug schließt das Du aber auch an die Konstellation von Göttern, Lieblingen und Menschen beziehungsweise Sterblichen der ersten Strophe an. Offensichtlich gehört die Gepriesene zu jenen Lieblingen, die sich die Götter erwählt haben. Der Ortsname Luisium konkretisiert die lyrische Rede zwar historisch wie topographisch. Aber zugleich ist damit der Ort auch idyllisiert. Schließt schon der »Hain« topisch an die Bild- und Begrifflichkeit der Idyllik an,11 so ist es in diesem Hain auch »geräuschlos« und »friedlich«. Diese Attribute korrespondieren mit dem »stillen Haus« der Götter aus der vorhergehenden Strophe. Bei den Göttern, zumindest bei diesen, ist kein Streit. Für Hölderlin ist das nicht selbstverständlich. Viele seiner Götter sind durchaus nicht still, hier aber stehen sie auch für Harmonie und Ruhe. Durch die Person, die jenes »Du« bezeichnet, wird die Parklandschaft der Wörlitzer Gärten zu einer weitgehenden Entsprechung der Orte des Heiligen umgedeutet. Mensch und Natur können hier noch im Einklang leben, die Bäume sind gesellig, es ist still, der
—————— 11 Vgl. immer noch Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, 2. Aufl. Stuttgart 1978. Auch Helmut Schneider (Hg.), Deutsche Idyllentheorien, Tübingen 1988.
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Hain ist geheiligter Bezirk. Luisium ist wie der Götter-Garten ein locus amoenus. Die Anrede an das »Du« setzt die folgende Strophe fort und treibt dabei die Erhöhung der Angesprochenen weiter fort. Die Adressatin, die Fürstin, wird als Priesterin beschrieben. Damit wird sie erstens direkt auf das Heilige bezogen.12 Als Priesterin ist sie Sachwalterin der Götter. Zweitens wird die Vermittlerrolle der Priesterin klarer. Sie hat ihres »Tempels Freuden« verlassen, um zu »uns« zu kommen. Eine Hierarchisierung, die dem Gedicht zugrunde liegt, wird deutlich. Das Personal des Gedichts gehört drei Gruppen an: Erstens den Göttern oder zweitens den Sterblichen – die Gruppe des »Wir« –, oder es ist drittens von der Priesterin die Rede. In dem Moment, da Ungemach droht und die Sterblichen sich den Zorn der Götter zugezogen haben, tritt die Priesterin auf. Sie ist den beiden Sphären gleichermaßen zugeordnet. Sie kann Leid und Gefahr abwenden. Sie ist die Mittlerin. Dabei handelt sie selbstlos. Schon im Sakralbereich ihres Tempels war sie den Menschen »teuer«. In Anspielung auf den Vesta-Kult war sie Hüterin des Feuers und hätte ihre Aufgabe auch auf den Tempel beschränken können.13 Aber sie wendet sich auch den Sterblichen zu. Die vierte Strophe ist deshalb in sich zweiteilig. Wiederum gibt es den Ort des Überzeitlichen, den Tempel. Er ist, wie das Haus der Götter, ein Ort der Stille. Er ist auch der eigentliche Ort der Priesterin. »Da du dort« warst – die Assonanzen unterstützen diese Verweisung schon rein lautlich. Aber sie wendet sich dem Zeitlichen zu und wird den Sterblichen dadurch »teurer heute«. Denn jetzt gilt nicht mehr nur: »da du dort« behütetest, sondern: »da du Zeiten der Zeitlichen seegnest«. Es hat eine Verschiebung stattgefunden. Die Assonanzen nehmen auf, wie sich die Priesterin über ihren Tempel hinaus den Menschen zuwendet. Weil sie so handelt, kann es in der Sphäre des Sozialen und Zeitlichen zur segnenden Feier, zum praktizierten Gottesdienst kommen. Jetzt hat die Priesterin ihre eigentliche Bestimmung erfüllt. Ihr »edles Bild« erinnert die Sterblichen an die Götter. In diesem Sinne ist die
—————— 12 Vgl. bspw. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Reinbek b. Hamburg 1957. Mit anderen Implikationen, aber ebenfalls ein Standardwerk zum Thema: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 13. Aufl., Gotha 1925. 13 Schmidt weist im Kommentar seiner Ausgabe darauf hin, dass das »göttliche Feuer« auch für die Sphäre eines offenen und humanistischen Geistes stehen kann. Für diese Atmosphäre war der Dessauer Hof berühmt. Vgl. Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm.5], S. 650.
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Fürstin aus Hölderlins Ode eine charismatische Priesterin: sie ist gnadenbegabt. Der Begriff des »Charisma« meint genau das: eine Begabung, die durch die Gnade einer höheren, heiligen Instanz vergeben und legitimiert ist. Aus diesem theologischen Kontext ist der Begriff von Max Weber und anderen in soziologische und politische Zusammenhänge überführt worden. Allerdings blendet Weber meines Erachtens mindestens eine Konsequenz dieses Transfers aus. Wenn der Charismatiker politischer Führer ist und diese Führung nur seiner Gnadenbegabung entspringt, ist die Gefolgschaft in letzter Konsequenz von allen Verantwortungen für ihr Handeln entbunden. Denn dem Gnadenbegabten kann man sich letztlich nicht widersetzen. Seine Legitimation ist nicht anzuzweifeln, denn sie entspringt dem Heiligen. Wendet man diesen Begriff auf politische Verhältnisse und Handlungen an, ist er ethisch ausgesprochen problematisch, weil er jede individuelle Verantwortung schlussendlich negiert. Soweit reichen Hölderlins Verse allerdings nicht. Wie die erwähnte Erinnerung geschieht, führt die fünfte Strophe vor. Hier findet man jenen Ton, der einem so typisch für Hölderlin erscheinen will. Ein Thema wird ganz allgemein, fast gnomisch aufgenommen. Die Strophe gleicht insgesamt einer lyrisch formulierten Lebensweisheit. Solche Formen spruchhafter Dichtung kommen bei Hölderlin immer wieder und oftmals überraschend vor. In den komplexesten Zusammenhängen fallen die einfachsten und grundlegendsten Sätze. Deshalb sind sie oft so anrührend. Die Gedichte Das Gasthaus. An Landauer und Stutgard. An Siegfried Schmidt, zwei weitere Widmungsgedichte aus dem Foliobuch und der Zeit um 1800, enthalten ebenfalls solche Sentenzen.14 Im Gasthaus heißt es zum Schluss der zweiten Strophe: »Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den Spruch thun,/Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.«15 Da bleibt dem Leser nicht viel zu sagen. Man kann nach jedem getanem Werk nur hoffen, dieser Einsicht zustimmen zu können. Die Elegie Stutgard beginnt sogar mit einer solchen, fast lakonischen Feststellung: »Wieder ein Glück ist erlebt.«16 Diese melancholische Ausgangshaltung formuliert und variiert
—————— 14 Vgl. zu den Gedichten Wolfgang Braungart, »Komm! Ins Offene, Freund!« Zum Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Offenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie »Der Gang aufs Land. An Landauer«, in: Iris Denneler (Hg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 96-114. »Der Gang aufs Land« ist ein anderer Titel für »Das Gasthaus«. 15 Hölderlin, Werke, Ed. Knaupp [wie Anm. 2], S. 309. 16 Ebd., S. 310.
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der Text im Folgenden. In der sechsten Strophe von Stutgard schließlich kommt es wieder zu einer Sentenz: »Voll ist das Herz, aber das Leben ist kurz,/Und was uns der himmlische Tag zu sagen geboten,/Das zu nennen, mein Schmidt! reichen wir beide nicht aus.«17 Mitten in die komplexesten kulturphilosophischen Ansichten Hölderlins hinein fällt die konkrete Anrede an den Freund, die in großer Einfachheit formuliert fast schon kalenderblatt-artig erscheinen will. Sie überschreitet aber die Grenze zum Banalen nicht und gewinnt gerade deswegen ihr großes Gewicht. Hier werden Einsicht und Bescheidenheit lyrisch offenbar. Es ist bezeichnend, dass der Büchmann, die Sammlung der geflügelten Worte im deutschen Sprachhaushalt, nur ein Hölderlin-Zitat verzeichnet. Es ist aus dem Anfang von Patmos: »Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.«18 Auch hier findet sich wieder die Verbindung der ganz einfachen Rede mit großem Ernst und intuitiver Gewissheit. Auf dieses Niveau zielt der Büchmann aber eigentlich nicht. In Hölderlins Werk hingegen lassen sich ohne viel Mühe weitere Belege dieser besonderen Rede finden. Die einfachen und zugleich großen Einsichten formuliert auch die fünfte Strophe. Zugleich behält sie die Zweiteilung von Göttern und Menschen bei, die das gesamte Gedicht ordnet. Der Geist wird vernehmlich, fassbar, erfahrbar: Nämlich da, wo die Reinen wandeln. Das ist zugleich ein sozio-kulturelles Phänomen als es auch ein Bezug auf das Verhältnis von Priesterin und Sterblichen ist. In der Strophe wird insgesamt der Rückbezug auf das Erscheinen der Priesterin unter den Menschen mit evoziert. »Des Lebens dämmernde Gestalten«: das sind die Zeitlichen. Sie blühen auf, wenn das »sichere Licht erscheinet«: also das edle Bild aus dem Tempel tritt und Segen spendet. Die Sphäre des Sozialen gewinnt durch den oder die große Einzelne, die Begnadete. Als Anrede an eine Fürstin heißt das aber auch: das Fürstliche realisiert sich nur in der Hinwendung an seine »dämmernden Gestalten«, das Volk. Die Strophe impliziert ethische Konsequenzen. Nicht ohne Grund wird die Fürstin von Hölderlin zur Priesterin erhoben. Sie ist damit auch den religiösen Regeln guten und gerechten Lebens unterworfen. Die Fürstin muss rein sein und rein bleiben, um als Lichtgestalt erscheinen zu können. Nur wenn die Reinen wandeln, dann ist das Leben offen und heiter. Das konsekutive »Denn« vom Versbeginn lässt sich konditional reformulieren. Sicher überwiegt der lobende, preisende Ton. Zugleich aber bleibt ein Rest an Mahnung, denn es droht
—————— 17 Ebd., S. 313. 18 Ebd., S. 447.
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immer die Gefahr, dass die Sterblichen bloß »dämmernde Gestalten« bleiben. Es obliegt der Fürstin, zur Priesterin zu werden, den Tempel zu verlassen und den Segen zu spenden. Die beiden abschließenden Strophen müssen schließlich zusammen gelesen werden. Sie bilden inhaltlich und gedanklich eine Einheit, die auch der Verssprung zwischen den Strophen formal ausdrückt. Die ganze sechste Strophe bereitet einen Vergleich vor, den die siebte dann vollzieht. Die Versanfänge »Und wie« (sechste Strophe) sowie »So ist« (siebte Strophe) spiegeln grammatisch die Verwiesenheit der Strophen aufeinander wider. Das Leben der Priesterin/Fürstin wird mit einem Regenbogen, dem alten Symbol von Frieden und Harmonie, verglichen.19 Er erscheint »auf dunkler Wolke«, also angesichts drohenden Unwetters. Aber er selbst »blühet« und weist sowohl zurück in die Vergangenheit wie voraus in die Zukunft, er verbindet Rückschau, Gegenwart und Ausblick. So wie der Regenbogen ist auch die Fürstin als Mittlerin zwischen Menschen und Göttern. Wie der Bogen Himmel und Erde zu verbinden scheint, »so ist auch dein Leben, heilige Fremdlingin!« Die Verse sind wohl auch ein Verweis auf die Bibel. Im ersten Buch Mose, Vers 13f. ist der Regenbogen Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen.20 Auch die Fürstin kann in ihrem Tempel, nämlich in Luisium, die Vergangenheit betrachten. Sie kann die Ruinenarchitektur ihrer Gärten täglich besuchen. Aber sie sieht in den Parks auch immer »neues Grünen«, zyklisches Blühen der Natur, den stets wiederkehrenden Frühling als Zeichen von Zukunft und Aufbruch. So wie die Fürstin als Priesterin Menschen und Götter zu vereinen vermag, ist sie zugleich lebende Einheit der Zeit. Damit ist sie der Zeit aber zugleich enthoben. Raum und Zeit als Einheiten der Differenz und des Abstands werden in ihrer Person aufgehoben. Deshalb ist sie die »heilige Fremdlingin«. Letztmalig wird die Fürstin attributiv auf die Götter und das Heilige verwiesen. In seinem berühmten Gedicht Brot und Wein. An Heinze beschreibt Hölderlin mit »Fremdlingin unter den Menschen« die aufkommende Nacht.21 Auch in diesem Gedicht benutzt er den Begriff, um etwas zu beschreiben, das Staunen macht, das dem Menschen fern und
—————— 19 Vgl. dazu etwa auch Klopstocks Gedicht »Frühlingsfeier«, in dem der Regenbogen ebenfalls der »Bogen des Friedens« ist. 20 Vgl. auch Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm. 5], S. 652. 21 Vgl. Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in: Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm. 5], S. 285ff.
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doch zugleich eigen ist. So wird auch hier die Fürstin von Dessau in ihrer Position des Sowohl-als-auch bestimmt. Ob die Ode Fragment ist, wie der Kommentar der Münchner Ausgabe vermutet, ist für die Interpretation nicht mehr entscheidend. Denn die grundlegende Konstellation ist auch so ausreichend bestimmt. Die Fürstin, die durch das Gedicht gepriesen wird, wird durchgängig zwei Sphären zugewiesen. Zwischen diesen Bereichen hat sie die Aufgabe der Mittlerin. Wenn sie ihre Aufgabe gut erfüllt, können sich die Menschen an ihr erfreuen. Reduziert man die Ode auf diese Kernaussage, ist es legitim, das repräsentierende Herrscherlob zugleich als Fürstinnenspiegel zu lesen. Denn das Lob beinhaltet eine Aufgabe und ist insofern auch Aufforderung. Auch die Fürstin ist zwei sozialen Bereichen zugeordnet. So wie die Priesterin zwischen Göttern und Menschen vermittelt, ist die Fürstin als Landesherrin die Verbindung von Hof und Volk. Eine Herrschaft, die noch durch das Gottesgnadentum begründet und unhintergehbar ist, kann so ethisch verpflichtend verstanden werden. Sie ist nicht nur ein Recht. Denn weil das Recht von Gott stammt, ist es ein ganz besonderes. Aus ihm leiten sich andere, umfassendere Pflichten ab, als es vordergründig scheint. Weil sich aber die beiden Modelle von Religion und Macht strukturell gleichen, ist Hölderlins Ode implizit eine Aufforderung zu guter Herrschaft. Zumindest kann das Gedicht auch so gelesen werden. Religiöse Praxis und herrschaftliche Praxis werden enggeführt. Die repräsentierende Panegyrik ist zugleich ethisch-soziales Programm.
III. Literarische Repräsentation Aus dieser kleinen Interpretation lassen sich weiterführende Annahmen ableiten. Denn Gedichte sind besondere Weisen, etwas zu verstehen zu geben. So hat Hans-Georg Gadamer in seinem Essay Gedicht und Gespräch eine Eigenart von Lyrik charakterisiert.22 Auch dieses Gedicht an eine Fürstin gibt dem Leser etwas zu verstehen. Neben den Implikationen des
—————— 22 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gedicht und Gespräch. Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters, in: ders., Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt/M. 1990, S. 165-182. Der Band versammelt einige Essays Gadamers zur Dichtung und zu Dichtern wie George, Hölderlin oder Celan, die ihn zeitlebens immer wieder beschäftigt haben.
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Textes als Text, gleichsam seiner Oberfläche, kann man weitere Funktionen und Aussagen des Gedichts ausmachen. Eine Eigenart, die dem Text gleichsam vor- oder übergeordnet ist, liegt im Charakter der Ode, ein Widmungsgedicht zu sein. Die Fürstin von Dessau wird direkt und persönlich durch den Text von seinem Autor angesprochen. Zwar gilt auch hier die obligatorische Trennung von Autorsubjekt und lyrischem Ich.23 Das Gedicht selbst macht aber spätestens in der zweiten Strophe deutlich, dass hier auch der historische Autor Hölderlin etwas sagen will. Die berüchtigte Frage: Was will uns der Autor damit sagen?, hat in einem solchen Fall dann doch einmal ihre Berechtigung. Denn Widmungsgedichte sind in besonderer Weise symbolische Handlungen.24 Durch die Widmung, die hier im – wenngleich nachträglichen – Titel, vor allem aber der zweiten Strophe steckt, gewinnt das Gedicht eine neue Qualität. Es wird über den Kunstwerk-Status hinaus eine Form sozialer Gabe. Überspitzt gesagt, beschenkt Hölderlin die Fürstin mit dem, was er am besten kann und was er selbst am höchsten schätzt – seiner Dichtkunst. Weil das Gedicht so konkret in einen sozialen Zusammenhang eingelassen ist, seinen identifizierbaren »Sitz im Leben« hat, muss man es sogar in dieser Hinsicht autobiographisch lesen, um den sozio-symbolischen Dimensionen auf die Spur zu kommen. Abstrakter gesprochen lässt sich Hölderlins Gedicht als Ansprache an eine adelige Standesperson der größeren Gruppe des Herrscherlobes zurechnen. Es ist vermutlich anlässlich eines Besuches, zumindest aber als Reflex auf diesen, entstanden. Es ist insofern ein preisendes Gelegenheitsgedicht, das als Medium und Ort der Erinnerung zwischen den beiden beteiligten Personen steht. Trotzdem, und das gilt generell für jede Gelegenheitsliteratur, lässt es sich auch als Kunstwerk lesen und verstehen. Diese beiden Eigentümlichkeiten schließen sich nicht aus. Kasualgedichte sind in der literaturwissenschaftlichen und vor allem rhetorischen Forschung immer wieder als Beispiele für das Thema literarisch-ästhetische Repräsentation herangezogen worden: Bei ihnen handele es sich um rhetorische Repräsentationen, Herrscherpanegyrik als »Feiertagsrhetorik« solle repräsentieren und den Besungenen im Sinne der Epi-
—————— 23 Vgl. Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart 1995; Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989. 24 Zum Begriff vgl. Kenneth Burke, Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur, Frankfurt/M. 1966.
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deixis, der sprachlichen Zurschaustellung, glanzvoll darstellen.25 Diese rhetorikgeschichtlichen Thesen bleiben in der Regel unhinterfragt. Was die Rede von der literarischen Repräsentation genau heißen sollen, bleibt offen. Wer aber hier wen repräsentiert, und wie genau das als Text geschieht, wird fast nie erläutert. Mit einigen theoretischen Überlegungen zum ästhetischen Status der Repräsentation möchte ich an dieser Stelle anschließen. Die einschlägigen Lexikon- und Handbuchartikel machen allerdings recht unterschiedliche Angebote. Carlo Ginzburg hat zwar vor einigen Jahren festgestellt, dass Repräsentation seit etwa 1980 geradezu zum Mode- und Schlüsselwort geworden ist.26 Trotzdem bleibt der Begriff je nach Verwendung und Kontext unterschiedlich definiert. Eine allgemeine und die Fächer übergreifende Definition hat sich nie herausgebildet. Der Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen geht nahezu ausschließlich auf die historische Genese der Stellvertreter-Funktion ein, die ein Repräsentierendes einem Repräsentierten gegenüber hat.27 Innerhalb dieses Verwendungskontextes wird der Begriff, so stellt das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte ergänzend fest, zum staatsrechtlichen Terminus, weil er im Zusammenhang mit Herrschaftsbeziehungen steht.28 In Politik und Recht wird mit Repräsentation das Verhältnis der Teile zu ihrem Ganzen dargestellt sowie der Anspruch eines besonderen Teils, dieses Ganze darzustellen. Die beste und mehrfach aufgelegte Studie zur Begriffsgeschichte stammt von Hasso Hofmann, ist verfassungs- bzw. staatsrechtlich angelegt und geht anhand der Wortgeschichte vor allem den Aspekten der Stellvertretung und der Identitätsrepräsentation nach.29 Aber trotz dieser Arbeit bleibt »[e]ine Beg-
—————— 25 Vgl. Stefan Matuschek, Art. Epideiktische Beredsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1258-1267, Zitat Sp. 1265. 26 Siehe Carlo Ginzburg, Repräsentation das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in: Freibeuter 53 (1992), S. 3-23. 27 Vgl. Adalbert Podlech, Art. Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509-547. 28 So I. Reiter, Art. Repräsentation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler/ Ekkehard Kaufmann unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 904-911. 29 Siehe Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 u.ö. Zusammenfassend auch ders., Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S.17-42. Der Band versammelt zahlreiche und instruktive Aufsätze zur Zeremonialgeschichte und -theorie und ist insofern immer auch einschlägig zu
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riffsgeschichte von ›Repräsentation‹ am Leitfaden dieser vier Grundbedeutungen [Vorstellung als mentaler Zustand mit kognitivem Gehalt, Vorstellung als Reproduktion eines mentalen Zustandes, Darstellung von etwas und viertens Stellvertretung] ein Desiderat.«30 Gänzlich konträr ist eine Position, die in den letzten Jahren immer wieder und besonders in der Philosophie und der Literaturwissenschaft diskutiert worden ist. Dort wird im Gefolge des Poststrukturalismus von der »Krise der Repräsentation« gesprochen. Die Behauptung ist dabei, die Repräsentationssysteme – und darunter besonders die Sprache – seien einer zunehmend komplex gewordenen Wirklichkeit längst nicht mehr angemessen und Repräsentation in der modernen Lebenswelt daher nicht möglich.31 Die triadische Sprachzeichenkonzeption von Saussures Ansatz wird kritisch gelesen und besonders der Referent als Ziel der Repräsentation durch Zeichen wird hier zweifelhaft. Anschlussfähiger für diese Überlegungen zur Repräsentation von Herrschaft und Macht durch Literatur ist hingegen der Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Dort wird festgestellt, Repräsentation sei je nach Kontext als Stellvertreterschaft, Vorstellung oder Darstellung zu fassen.32 Als Darstellung sei Repräsentation dann die »strukturerhaltende Abbildung durch Bilder, Symbole und Zeichen aller Art.«33 Schließlich hat auch der Soziologe Martin Fuchs unlängst darauf hingewiesen, dass Repräsentation innerhalb eines jeweils neu zu bestimmenden Handlungskontextes eine Vermittlerrolle einnehme und insofern ein Bedeutungsverhältnis be-
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Fragen der Repräsentation. Vgl. aus soziologischer Sicht bes. den Aufsatz Hans-Georg Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden, in: Ebd., S. 43-64. Wichtig ebenfalls: Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1991), S. 489-515. Eckart Scheerer, Art. Repräsentation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 790-797, hier Sp. 790. Vgl. beispielsweise den DFG-Band zur Krise der Repräsentation: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart u.a. 2001. Die wichtigen Arbeiten, die den Weg in dieser theoretischen Hinsicht bereitet haben, sind: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971 und Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972. In ihrer Nachfolge ist die These vom »Ende der Repräsentation« immer wieder und unterschiedlich überzeugend wiederholt worden. Vgl. Scheerer, Art. Repräsentation [wie Anm. 30]. Ebd., Sp. 790.
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nenne.34 Der aisthetischen, sinn- und sinnenhaften Qualität der Repräsentation, die Horst Wenzel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als »Vergegenwärtigung von Abwesendem« durch »sinnlich erfahrbare Darstellung mittels verbaler und non-verbaler Zeichen« bezeichnet hat,35 werde ich jetzt in Anlehnung an Wolfgang Iser genauer nachgehen. Repräsentation ist nicht primär Fiktion. Bei Repräsentationshandlungen wird nicht gezielt fingiert oder etwas fiktional erstellt. Jedenfalls ist das nicht der Zweck. Das liegt daran, dass man bei Repräsentationen eine vermeintlich hintergründige Wirklichkeit und die angebliche, vordergründige Fiktion einer andersartigen Wirklichkeit zweiter Stufe nicht gegeneinander ausspielen kann. Die Rede von Vorder- und Hintergrund ist ohnehin immer dann problematisch, wenn mit ihr soziale Phänomene metaphorisch gefasst werden. Denn die Metapher ist, willentlich oder nicht, einem platonischen Modell des Sozialen verpflichtet, dessen Implikationen meist gar nicht erwünscht sind. Das Präsentische und Präsentative der Repräsentation hingegen ist zunächst grundsätzlich authentisch.36 Es liegt an der Verfasstheit und Funktion der Repräsentation, dass sie sich eher hermeneutisch als erkenntniskritisch fassen lässt. Damit will ich sagen, dass es bei repräsentativen Akten in erster Linie darum geht, etwas zu verstehen zu geben. Repräsentation als Begriff setzt voraus, dass es durch und in der Darstellung etwas zu präsentieren gilt.37 Die grundlegende Funktion ist es, eine Verstehensleistung überhaupt erst möglich zu machen.38 Und das Ziel ist individuelle Sinnkonstitution, nicht aber Beweis von Wahrheit der Aussage. Repräsentation ist also nicht das Andere der Wirklichkeit. Sie ist vielmehr Teil und Gestaltung von Wirklichkeit. Wenn man so will, ist sie eine Form
—————— 34 Vgl. Martin Fuchs, Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale Bewegungen: das Beispiel Indien, Frankfurt/M. 1999, bes. Kap. 5.5: Politik der Repräsentation, hier S. 393. Fuchs plädiert für einen weiten, sozialwissenschaftlichen Repräsentationsbegriff, der in der Lage ist, soziale Verhältnisse situationsabhängig und trotzdem ausreichend allgemein beschreiben zu können. 35 Horst Wenzel, Art. Repräsentation 2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 268-271, hier S. 268. 36 Zum Begriff vgl. Jutta Schlich, Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002. 37 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1993, S. 481. 38 Diese These gilt meines Erachtens auch über die verschiedenen Verwendungen des Begriffs hinweg. Vermutlich könnten sich alle Wissenschaften mit etwas Wohlwollen auf diese Basis einlassen. Die Ableitungen, die dann gezogen werden müssen, fallen allerdings sicher ganz unterschiedlich aus.
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von Aisthetisierung im nicht-pejorativen, deskriptiven Verständnis: Im repräsentativen Prozess geht es um eine sinn- und sinnenhaften Konstitution von Wirklichkeit. Für Literatur als einer möglichen Form – vermutlich einer der schwierigsten – des sinnlich Seins kann man sagen, dass das Repräsentative eine Funktion oder Komponente, ein Bedeutungsanteil von Texten ist. Sie gehen in dieser Funktion nicht auf, aber diese Eigenart ist ein Hinweis. Sie ist ein Hinweis auf die ästhetische Dimension der Repräsentation insgesamt. Akte der Repräsentation sind Grenzüberschreitungen.39 Das Repräsentierte – also etwa Macht oder Herrschaft – wird im Repräsentierenden – beispielsweise einem Gedicht – zwar evoziert, dabei aber zugleich überschritten. Das Gedicht ist schließlich etwas anderes als Macht, es ist nicht selber Macht. Macht ist ein soziales und interpersonales und vor allem: abstraktes Phänomen. Aber das Gedicht als Repräsentierendes wird nicht überstiegen: das Repräsentierte wird im Re-Präsentierenden lediglich bereitgehalten. Damit wird der Text nicht überfordert, sondern erhält einen medialen Status. Wenn das Repräsentierende dann durch den Betrachter40 aktualisiert wird, ist es sinnlich fassbar. Der Text braucht das Subjekt. In dieser Zweiheit, dem Bereithalten einer Vorstellung in der Darstellung und der gleichzeitigen Überschreitung der Darstellung durch eine realisierte Vorstellung, liegt die Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen.41 Literarische Repräsentation ist in diesem Sinne zweipolig: Im Präsentierten, also dem konkreten Text, ist immer bereits das zu re-präsentierende Abstraktum, etwa Macht und Herrschaft, als Möglichkeit enthalten. Es handelt sich um ein metonymisches Verhältnis. Die Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen ist ein nicht festlegbares, kombinatorisches Spiel, in dem der Rezipient erstens unerlässlich ist und zweitens das Abwesende im sinnlich Anwesenden überhaupt erst realisiert. Insofern ist Repräsentation dann symbolische Potentialität, bei der für das Subjekt das Anwesende, der Text, in den Dienst des Abwesenden tritt, sofern denn der Rezipient verstehend auf das Angebot zugreift. Mit den Worten Wolfgang Isers kann man sagen: »Das Einzeichnen des Abwesenden in das Anwesende [wird] zur Matrix des Ästhetischen im Text.«42 Dabei, das wäre mei-
—————— 39 Vgl. dazu Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 499f. 40 Betrachter verstehe ich hier als medienneutrale Form des historischen Akteurs. Es kann sich also um Leser, Sehende in der Form des Zuschauers, aber auch um Hörer und Fühlende handeln. Die Form der Affizierung hängt von den Eigenarten und der Materialität des repräsentativen Aktes ab. 41 Angelehnt an Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 501f. 42 Ebd., S. 502.
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nes Erachtens zu ergänzen, muss die Einstellung des Rezipienten oder hermeneutisch gesprochen: müssen seine Vorurteile mitgedacht werden. Denn diese Vorurteile, die historisch gesehen aus den langfristig wirkenden sozialen Strukturen erwachsen und internalisiert sind, stellen die Bedingung der Möglichkeit dar, das Einzeichnen hermeneutisch produktiv im jeweiligen Ereignis vollziehen zu können. Im repräsentativen Prozess müssen Struktur und Ereignis notwendig zusammenkommen, wenn das hermeneutische Spiel gelingen soll. Denn die Einstellungen des beobachtenden Dritten bilden die eigentliche Basis des ästhetischen Spiels der Repräsentation. Ein Spiel ist es, weil für den Beobachter Repräsentierendes und Repräsentiertes zugleich mitund gegeneinander stehen, das eine ohne das andere nicht zu denken ist und sich gegenseitig bedingt.43 Nur im jeweiligen »Gespieltwerden« gelangt der repräsentative Prozess zu seiner völligen Gültigkeit.44 Gadamers SpielBegriff, den er in Wahrheit und Methode entwickelt, eignet sich zumindest zu Teilen. Er versteht Spiele als ernste Angelegenheiten, sie sind nur dann ganz Spiel, wenn sie ernst sind.45 Entscheidend aber sind zwei weitere Bestimmungen, die verdeutlichen, wie eng repräsentative Prozesse auf das Spiel bezogen werden können: Spiele sind mit einem Hin und Her verbunden, sind also oszillierend.46 Das Spiel ist immer offen, ohne sicheren Ausgang und auch flexibel zu gestalten. Zugleich ist es reguliert; es ist bei aller Offenheit nicht willkürlich und es bleibt in einem bestimmten Rahmen absehbar, was passiert. Spiele haben Regeln und Grenzen, innerhalb derer gespielt wird.47 Und »Spielen [ist] immer schon ein Darstellen«,48 was Gadamer für eine ontologische Qualität hält. Es ist ein Darstellen für den anderen. So wie der Betrachter auf das Spiel bezogen ist, ist das Spiel auch auf den Betrachter verwiesen, um Spiel sein zu können.49 Stimmen diese
—————— 43 Vgl. dazu Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 426ff. Zum Begriff des Spiels zuletzt Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt/M. 2000; literaturwissenschaftlich wichtig Stefan Matuschek, Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998. Vgl. auch die Ausführungen von Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur. Tübingen 1996, S. 216ff. 44 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erw. Aufl., Tübingen 1972, S. 97ff. zum Spiel, Zitat, S. 101f. 45 Gadamer, Wahrheit und Methode [wie Anm. 44], S. 97. 46 Ebd., S. 99. 47 Siehe Braungart, Ritual und Literatur [wie Anm. 43], S. 217. 48 Gadamer, Wahrheit und Methode [wie Anm. 44], S. 103. 49 Braungart, Ritual und Literatur [wie Anm. 43], S. 218.
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Festlegungen, sind Repräsentationen in ihrer Doppelungsstruktur hermeneutische Spiele. Pointiert kann man sagen, dass der repräsentierende Text eine »Welt in Klammern«50 ist, in der sich das Repräsentierte genau dann versinnlicht und aktualisiert, wenn das Subjekt die Klammer erst erkennt und dann auflöst. Mit diesem hermeneutischen Akt wird die repräsentierende Handlung beziehungsweise der Text in und als Teil der Handlung gleichsam oszillierend.51 Im Aisthetischen, im Sinnlichen der Re-Präsenz, gewinnt das Abwesende seine je individuelle Realität. Im Ästhetischen werden die zwei Welten, die eingeklammerte und die klammerlose, der Text und sein Korrespondent, zu einer zusammengeführt. Oszillierend und sich ausschließlich im Vollzug realisierend ist dieser Akt, weil die Repräsentation wie gesagt doppelt oder zweiteilig ist und der Rezipient zwischen den »Welten« ständig vermittelt. Das heißt aber in letzter Konsequenz auch, dass Repräsentation sich nur und ausschließlich performativ realisiert. Der Akt ist auf seinen Vollzug angewiesen, um seine Existenz überhaupt erst zu gewinnen. Repräsentation ist nicht im ontologischen Sinn »seiend«. Besonders für die Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen hat Performativität eine entscheidende Bedeutung: »Sofern Performanz Erzeugung ist, bezieht sie sich auf die Übersetzung dessen, was ist, so dass sich die Notwendigkeit der Performanz immer dort ergibt, wo es Differenzen zu überbrücken gilt.«52 Da Repräsentationen Grenzen und Grenzüberschreitungen notwendig voraussetzen, »gibt es keine Repräsentation ohne Performanz, die in jedem Fall anderen Ursprungs ist als das zu Repräsentierende.«53 Die Versinnlichung, der Prozess des verstehenden Interpretierens des zu Repräsentierenden, ist mithin eine performative Tätigkeit.54
—————— 50 So formuliert Iser mit Blick auf den Status des Fiktiven im Roman: Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 502. 51 Ebd., S. 502. 52 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 485. 53 Ebd., S. 481. 54 Mit Bezug auf Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 484, der allerdings von Vergegenständlichung des Nachgeahmten spricht. Er hat auch nicht primär Repräsentation im Blick, wenn er diese Begriffe wählt. Sie sind in diesem Kontext problematisch, weil natürlich nicht jede Versinnlichung, die die Repräsentation leisten kann, notwendig eine Vergegenständlichung ist, obwohl sie sich als solche realisieren kann. Besonders aber ahmt die Repräsentation nichts nach. Sie ist gleichwohl mimetisch, wenn man den Begriff poietisch denkt. Wenn Mimesis weniger Nachahmung als Hervorbringung ist –
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Die Doppelheit der Repräsentation ist die Gleichzeitigkeit des Konkreten, des Textes, und des Abstrakten, der Macht, die repräsentiert werden muss, die im hermeneutischen Akt zusammenkommen. Dabei durchdringt sich das Unterschiedene dann gegenseitig. In dieser Strukturformel des literarisch Repräsentativen, und das scheint mir ein wichtiger und integrierender Punkt in der Diskussion, fallen die Aspekte von Darstellung, Vorstellung und – daraus ableitbar – auch von Stellvertreterschaft weitgehend zusammen. Das literarisch Repräsentative ist damit auch als ästhetikspezifische Setzung bestimmt.55 Repräsentation ist nur in der Sinnlichkeit des Gesetzten möglich. Und man muss konstatieren: Das Nicht-Repräsentierbare ist nicht, weil es keine soziale Relevanz gewinnen kann. Aber die Setzung des Repräsentativen ist keine Fiktion oder gar Täuschung, um einen Gedanken vom Anfang wieder aufzunehmen. Ein solcher Charakter des Als-Ob, des sedierenden Placebo, wird in der Forschung gelegentlich symbolisch-repräsentativen Akten unterstellt.56 Diese These verkennt allerdings eine wesentliche Eigenschaft der Repräsentation. Die Setzung der Repräsentation zeigt ihren Status, nämlich Repräsentation zu sein, selbst an. Sie tut das, indem die Setzung in aller Regel inszeniert und also markiert ist.57 Repräsentationen sind generell Inszenierungsformen. Denn auch jede »Inszenierung gilt der Erscheinung dessen, was nicht gegenwärtig zu werden vermag«,58 wenn es nicht inszeniert wird. Die Struktur der Differenz, die für die Repräsentation gilt, kommt bereits bei der Inszenierung zum Tragen. Denn auch der Inszenierung liegt etwas voraus, das durch sie erscheint. Dieses Vorausliegende kann aber nie ganz in der Inszenierung auf-
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was vermutlich näher an den aristotelischen Intentionen ist –, so ist allerdings jede Repräsentation zugleich Mimesis. Zum Begriff der Setzung vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503. Vgl. vor allem die Forschungen von Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992; ders./Rüdiger Ontrup/Christian Schicha (Hg.), Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen, Wiesbaden 2000; ders., Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt/M. 2001; ders., Die Transformation des Politischen, Frankfurt/M.1994. Vgl. jetzt auch Ute Frevert, Politische Kommunikation und ihre Medien, in: dies./Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004. Die Beiträge des Bandes, der aus einer Tagung des Bielefelder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« hervorgegangen ist, widmen sich politischer Kommunikation allerdings wertfrei. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503f. Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 505.
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gehen, weil sie ja sonst selbst das Vorausliegende wäre.59 Aus der Differenz resultiert die Inszenierung »als Form der Doppelung schlechthin, nicht zuletzt, weil in ihr die Bewusstheit herrscht, dass diese Doppelung [aus der Differenz heraus] unaufhebbar ist.«60 Inszenierungen und Repräsentationen schaffen »Simulacra des [sonst] Unverfügbaren.«61 Konkret gesprochen: Die literarischen Repräsentationen in Form von Panegyrik, Herrscherlob und der Kasuallyrik allgemein werden in der Regel als Druck überreicht. Bereits mit der Übergabe und der Materialität des Mediums beginnt die Inszenierung der Repräsentation. Ein Prunkdruck ist rein äußerlich so deutlich von einer Handschrift unterschieden, dass er als »besonders« ausgezeichnet ist. Zudem werden die Texte vorgetragen, auch dann, wenn sie nicht als materiale, sondern symbolische Gabe dienen. Sie haben, etwa bei nahezu allen Inthronisationen des 18. und 19. Jahrhunderts, ihren eigenen Ort im Herrschafts-Zeremoniell. Nicht zuletzt haben Widmungen, wie bei Hölderlin, markierende Funktion. Gerard Genette hat in seiner Untersuchung der Paratexte im Kapitel zu den Widmungen diese noch von der Zueignung unterschieden. Beides seien differierende Handlungen: Die Zueignung sei die Widmung eines einzelnen Werks, die Widmung beziehe sich auf ein Exemplar eines Werkes, also auf die stoffliche Wirklichkeit eines einzelnen Textes.62 Danach schließt er allerdings gerade solche Texte aus seiner Überlegung aus, die hier interessieren. Er redet nicht mehr über Werke, »die vollständig an einen besonderen Adressaten gerichtet sind wie [ …] manche Oden, manche Hymnen [...].«63 Warum er das tut, wird nicht richtig klar. Wichtig ist aber, dass der Unterschied von Zueignung und Widmung bei Gelegenheitslyrik in der Regel gar nicht zum Tragen kommt. Manchmal sind Werk und Exemplar identisch. Immer aber ist die Gelegenheitslyrik sowohl stoffliche Wirklichkeit wie symbolische Handlung. Der Adressat lebt zum Zeitpunkt des Verfassens, und die Widmung ist »nicht nur ein symbolischer, sondern ein tatsächlicher Akt«64 mit einer bestimmten Funktion. Der repräsentierende Akt zeigt sich als solcher an. Schon die Darbringungsform – also der Handlungs-
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Ebd., S. 511. Ebd., S. 511. Ebd., S. 508. Vgl. Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M. 2001, S. 115. 63 Ebd., S. 115. 64 Ebd., S. 137.
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vollzug, die Performanz – literarischer Repräsentation markiert sie als repräsentativen Akt. Die repräsentative Qualität der literarischen Texte resultiert aus dem Bewusstsein der angesprochenen Doppelungsstruktur und dem gleichzeitigen Bestreben, den dabei vorherrschenden Abstand zwischen Repräsentierendem und Repräsentierten zu überbrücken. Dazu nochmals in Anlehnung an Formulierungen Isers: Repräsentation ist eine »dritte Dimension, in der das zur Äquivalenz drängt, was in der Doppelheit auseinandergespannt ist.«65 Die Differenz wird für den Rezipienten zwar niemals völlig aufgehoben, weil sie letztlich gewusst bleibt. Nie kommt es zur vollständigen Identifikation. Identifikatorische Repräsentation, die diesen Namen dann fälschlich trüge, läge höchstens bei der Eucharistie vor.66 Dort aber muss man theologisch im Sinne des »Hoc est corpus« Real-Präsenz unterstellen.67 Im Vollzug der Eucharistie, ihrer Performanz, wird durch die Performanz Identität geschaffen. Insofern handelt es sich um einen Sonderfall, der zudem Glaubens- und Konfessionsfragen berührt, die sich nicht vollständig analytisch einholen lassen. Der oben angesprochene Spiel- und Oszillationscharakter ästhetisch-literarischer Repräsentation wäre zudem plötzlich auf Null gestellt. Es fiele schwer, zumal für einen gläubigen Christen, die Gegenwart Christi im Abendmahl als oszillatorisches, hermeneutisches Spiel zu beschreiben. Die prinzipielle Differenz innerhalb des Repräsentationsprozesses bleibt in den anderen Fällen immer erhalten, wird aber bei der gelingenden Repräsentation überbrückt. Diese basale Struktur von Differenz und Überbrückung während der repräsentierenden Handlungen lässt sich dann noch durch die konkreten historischen Kontexte variieren. Die einzelnen Akte können Kontexthandlungen betont oder gezielt räumlich exponiert werden; sie können aber auch randständig und nebensächlich inszeniert werden.68 Es kommt auf die Inszenierungssituation an. An ihrem generellen Status ändert das nichts.
—————— 65 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 504. 66 Vgl. hier auch Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 29], S. 65ff. 67 Vgl. hier mit einem soziologischen Schwerpunkt auch Hans-Georg Soeffner, Emblematische und symbolische Formen der Orientierung, in: ders., Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989; bes. S. 162. 68 Es ist natürlich ein Unterschied in der Inszenierung, ob ein Text beispielsweise einem Monarchen bei seiner Krönung unter einer Ehrenpforte übergeben wird, oder ob sich der Text zum gleichen Anlass in der Tagespresse zwischen oder vor den Kleinanzeigen
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Literarische Repräsentation ist präsentisch und präsentativ-sinnlich und insgesamt eine Gegebenheit aus einer Struktur der Differenz heraus. Die Differenz von Präsentisch-Repräsentierendem, mithin den Texten selbst, und dem damit Repräsentierten, der Macht und Herrschaft, bedarf des repräsentierenden Aktes. Nur in ihm wird die Gleichzeitigkeit der beiden Pole der Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen durch den Rezipienten überbrückt. Nur in Akt und Rezeption wird das Dargestellte real. Repräsentation ist – wenn überhaupt – nur insofern scheinhaft, »als sie dem [sonst] Unverfügbaren eine Form gibt.«69 Man müsste für diese These also Form und Anschein synonym lesen, was allenfalls umgangssprachlich zu vertreten ist.70 Repräsentation ist sinnlich-ästhetisch, weil sie einem Abstrakten gilt, das ohne sie nicht gegenständlich wird. Erst die Repräsentation ermöglicht dem verstehenden Subjekt, aus erstens der Darstellung zweitens eine Vorstellung zu entwickeln, in der dann drittens der stellvertretende Charakter der Repräsentation auch reflektiert ist. Repräsentation als Überbrückung der Differenz zwischen einem gegenstandsunfähigen Abstraktum und seiner trotzdem vollzogenen sinnlichen und gegenständlichen Realisierung geschieht in einem performativen Akt. Repräsentierende Literatur wird vollzogen und gewinnt erst im Vollzug Gültigkeit. Dieser performative Akt am Präsentischen der Literatur ist poietisch, um aristotelisch zu sprechen. Er bringt etwas hervor, ist produktiv-ästhetisch und weltbildend, wenngleich er im Sinne dieser Argumentation natürlich nicht ab-bildend ist.71 Das Konzept der Ab-Bildung einer ontologischen, aber unsichtbaren Welt im Abbildenden, die Vorstellung von Idee und Realisierung wäre Platonismus und geradezu das Gegenteil dieses hermeneutischen Vorschlags. Hier verstehe ich die Sinnlichkeit der Repräsentation als ein Symptom dafür, dass sich das Abstrakte nur und ausschließlich inszeniert und darstellend fassen lässt, dass das Abstrakte seiner sinnlichen Konkretisierung
—————— findet. Von den medialen Differenzen und den Aspekten unterschiedlicher Öffentlichkeit ganz zu schweigen. 69 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 505. 70 Zum Begriff der Form vgl. jetzt umfassend und mit den ästhetischen Implikationen Dieter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart u.a. 2001. 71 Ohne hier auf die lange Tradition der aristotelischen und platonischen Auslegung von poiesis und der Ur-Bild-Ab-Bild-Dialektik eingehen zu können, ist dieser Vorschlag natürlich einem aristotelischen Verständnis verpflichtet. Platon hätte repräsentative Akte der Literatur, wie sie hier im Zentrum stehen, sicher aus seinem Staat verbannt, weil sie ihm als lügenhaft gegolten hätten. Gerade die entgegengesetzte These von der sinngenerierenden Kraft der Repräsentation wird aber hier vertreten.
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bedarf, um existent zu sein. Nicht wahrnehmbare Macht ist keine Macht! Dass die historischen Akteure und Beobachter zeremonialer Handlungen einem Mächtigen, also etwa einem Fürsten, begegnet sind, ohne ihn als Mächtigen erkannt zu haben, ist praktisch auszuschließen. Es kann aber nur deshalb ausgeschlossen werden, weil jedem Teilnehmer bewusst war, dass die Teilnahme am Zeremoniell und der Repräsentation zugleich Teilhabe an der Macht war. Ganz anders wäre es jedem Fürsten gegangen, hätte er sich incognito in die Öffentlichkeit begeben. Seine Macht, die auf der Anerkennung durch die anderen beruhte, wäre sofort dahin gewesen. Andersens Erzählung von Des Kaisers neuen Kleidern handelt von genau diesem Phänomen.72 Für die modernen Demokratien mit ihrem zunehmend reduzierten Zeremonialaufwand und seltenen großen symbolischen Handlungen stellt sich dieses Problem in besonderer, wenngleich historisch und politikwissenschaftlich anderer Weise. Auch hier gilt natürlich, dass sich der Mächtige als solcher zeigen muss. Die sogenannte Medienkanzlerschaft Gerhard Schröders vor allem in seiner zweiten Amtszeit zeigt, dass auch moderne Amtsinhaber vom Zwang zur Re-Präsentation von Macht wissen. Zwar wird nicht mehr die Kanzlerherrschaft oder die Demokratie als solche in Frage gestellt, wenn die Repräsentation scheitert. Aber wenn es einem Kanzler nicht gelingt, sich der Öffentlichkeit als Mächtiger im Sinne des Machers zu präsentieren, wird sein Mandat angezweifelt. Das Amt bleibt unbeschädigt, der Träger aber wird problematisch, wenn er die Macht zur Veränderung und Reform nicht glaubhaft machen kann. Durch die Repräsentation soll sichergestellt werden, dass jeder zum richtigen Zeitpunkt weiß, mit wem oder was er es zu tun hat. Denn nur dann kann vermieden werden, dass potenzielle Macht verkannt und faktische Macht nicht realisiert werden kann. Um solche Situationen zu vermeiden und den Mächtigen zur Anerkennung ihrer Macht zu verhelfen, ist Repräsentation präsentisch, präsentativ und performativ. Diese drei »P« sind der Grund dafür, dass Repräsentation nicht ab-bildend ist. Literarische Repräsentation als ästhetische Präsenz ist die »Besetzung [des sonst] Unverfügbaren.«73
—————— 72 Vgl. Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, in: Thomas Frank u.a. (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt/M. 2002, S. 15-21; der Band versammelt im zweiten Teil wissenschaftliche Lesarten zu verschiedenen Primärtexten. 73 Vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 506; allerdings mit Bezug auf den ästhetischen Schein.
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Für literarische Repräsentation, ja sogar für jede Repräsentation, gilt, »daß in der Repräsentation eine Überbrückung der Differenz erfolgt, deren Unaufhebbarkeit alle Repräsentation in Inszenierung [und Darstellung] verwandelt [und so] auch die Vielgestaltigkeit der Inszenierung [ermöglicht], da keine – im Gegensatz zur Deutung – sich je als eine Ursprungserklärung verstehen kann.«74 Darin liegt eine grundsätzliche Herausforderung für den historischen Akteur als Rezipienten beschlossen, ebenso, wie es die rekonstruierende und deutende Arbeit zu einer hermeneutischen macht. Ich fasse den bisherigen Vorschlag kurz nochmals zusammen. Ich habe literarische Repräsentation als einen doppelten Akt der Inszenierung eines Darstellenden bei seiner gleichzeitigen Überschreitung beschrieben. Die Bedingung dieser Doppelungsstruktur ist der aisthetische, präsentische Charakter von Literatur in repräsentativer Funktion. Nur wenn solche Literatur vollzogen wird, und zwar produktiv wie rezeptiv, kann der repräsentative Akt gelingen. In den Termini der klassischen Rhetorik, die für solche Texte zuständig ist, als sie sich als Theorie der wirkenden Rede versteht,75 ist literarische Repräsentation wie jede Repräsentation ein Verfahren der enargeia, der sprachlichen Demonstration. Enargeia meint eine Methode, etwas sinnlich wahrnehmbar und intuitiv nachvollziehbar zu machen.76 Evidenz durch enargeia kann durch plastische Gestaltungen, aber auch durch Sprachvollzüge erzielt werden. Hier, aber dies nur als Randbemerkung, wäre an Humboldts Theorie oder Unterscheidung von ergon und energeia, Werk und Sprachvollzug, zu denken.77 Insofern ist Repräsentation in der aristotelischen Tradition, der sich dem Begriff im dritten Buch seiner Rhetorik gewidmet hat, immer enargetisch und zugleich energetisch.78 Denn rhetorische Evidenz ist ein Mittel, um nicht-diskursive, unmittelbare und veran-
—————— 74 Ebd., S. 507. 75 So Wilfried Barner in seiner nach wie vor wichtigen Studie Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. 76 Vgl. dazu Ansgar Kemmann, Art. Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 33-47. Jetzt auch Lothar van Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003, bes. Kap. II. Weiterführend zum Aspekt von Rhythmik und Sinnlichkeit Hans Lösener, Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999. 77 Vgl. dazu Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Hg. v. Donatella Di Cesare, Paderborn u.a. 1998. 78 Vgl. Aristoteles, Rhetorik. München 1980.
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schaulichende Einsicht beim Rezipienten zu erzielen. Sinnliche Evidenz liegt vor, wenn für ein Subjekt eine Gegebenheit A zu B in einer direkt einsehbaren Beziehung steht. Allerdings passieren Evidenzerfahrungen einfach und sind nicht oder nur sehr gering steuerbar. Sie haben »Überfallcharakter« und wecken gleichsam Neugier, die sich als »Anschauungsbegehren«79 äußert. Nichts anderes will der repräsentierende Akt erreichen. Auch ihm geht es um Einsicht und Nachvollzug, ohne dass das Geschehen in eine methodische Vermittlung im engeren Sinn gefasst würde. Die unmittelbare Gewissheit ergibt sich allein durch das anschaulich Eingesehene oder Erlebte. So dient das literarische Herrscherlob, die Panegyrik, seit je her und bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, wo es dann nahezu ganz verschwindet, dazu, Evidenz von Macht und Herrschaft zu schaffen. Auch das Hölderlin-Gedicht kann so gelesen werden. Andere, weniger elaborierte Texte aus der Masse der Panegyrik zeigen noch plakativer, dass ihr Zweck ist, den Gelobten zu überhöhen, ihn glanzvoll darzustellen und damit die Repräsentation zu inszenieren. Gneisenaus berühmter Satz, auf Poesie sei die Macht der Throne begründet,80 erscheint so in einem anderen Licht. Zumindest ist die Macht der Throne und Regenten auch auf Poesie gegründet. Das gilt sogar in zweifacher Weise. Erstens sind Macht, Herrschaft, Politik auf Darstellung – also den aristotelischen poiesis-Begriff – angewiesen. Poietisch wird Macht zum Beispiel zweitens dann, wenn diese Macht durch Lyrik, Poesie im engeren Sinn, repräsentiert wird, indem die Lyrik sich präsentiert. Präsentation als Gegenwärtigkeit eines Inhalts und Repräsentation als nachvollziehende, verdoppelnde Aktualisierung dieses Inhalts sind eine der Bedingungen der Möglichkeit von Macht und Herrschaft.
IV. Ausblick Ich habe Literatur ausgehend von Hölderlins Gedicht als Gestaltung und Vollzug von Macht und Herrschaft zu beschreiben versucht. Der präsentative Zug von Panegyrik disponiert sie dazu, teilzuhaben an der Konstituierung des Politischen, indem die Kernbegriffe Macht und Herrschaft hier
—————— 79 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 509. 80 Gneisenau in einem Brief an den König. Siehe Gneisenau Ein Leben in Briefen. Hg. v. Karl Griewank, Leipzig 1939, S. 175.
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manifest werden. Insofern ist Literatur eine der Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens des Politischen. Insofern ist literarische Repräsentation figurative Politik nach dem Ansatz von Dirk Tänzler und Hans-Georg Soeffner.81 Ich hatte kurz angedeutet, dass Repräsentation und Symbolizität von Literatur zusammenhängen. Repräsentative Akte in der Literatur sind fast immer auch symbolische Handlungen. Sie zeichnen etwas aus und sie geben zugleich im kantischen Sinn wenn schon nicht immer viel, so doch etwas zu denken. Das ist ihr Sinn und ihre Bedeutung. Der Sinn ist Repräsentation, die Bedeutung ist Macht, die sich durch die Performanz ergibt.82 Deswegen ist ein Verlust des Symbolischen und Ästhetischen immer auch ein Verlust an gestalterischen Möglichkeiten. Deswegen kann man Klage führen angesichts eines immer wieder konstatierten Verlustes politischer Ästhetik in diesen Tagen. Je weniger Ästhetik, desto weniger Möglichkeit zur Gestaltung des Politischen.83 Deswegen kann man Walter Benjamins warnender These von einer Ästhetisierung des Politischen im Faschismus und Nationalsozialismus die Überlegung vom Verschwinden des Politischen ohne seine Ästhetisierung entgegensetzen. Benjamins These war, dass der Faschismus die Massen im Führerkult vergewaltige.84 Die Masse werde gelenkt und verführt, indem man ihr die Möglichkeit zum Ausdruck, nicht aber ihr Recht zukommen lasse. Diese Strategie der Nationalsozialisten, eine solche Ästhetisierung des politischen Lebens, münde unweigerlich im Krieg. Historisch hat Benjamin Recht behalten. Systematisch darf man sein Argument, dass letztlich nicht begründet wird, bezweifeln. Zumindest für die nicht-totalitären politischen Systeme des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, egal ob monarchisch oder demokratisch, kann man sehr wohl der Ansicht sein, dass das Politische immer seiner Ästhetisierung im gestalterischen und versinnlichenden Verständnis bedurfte. Denn nur so war und ist es möglich, soziale
—————— 81 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002. 82 Locker angelehnt an Freges berühmte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung; vgl. Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Zeitschrift für philosophische Kritik N.F. 100 (1892), S. 25-50; auch in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. v. Gunther Patzig, 5. Aufl. 1980, S. 40-66. 83 Vgl. auch Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik sowie einige damit zusammenhängende Fragen, in: Merkur 40 (1986), S. 719-724. 84 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 1977, S. 7-44.
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Zusammenhänge, Lebenswelt, und dazu gehört auch das politische Teilsystem, zu kommunizieren und in diesen Prozessen die soziale Umwelt gestaltend zu verändern und zu entwickeln.
Herstellung und Darstellung politischer Einheit: Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert Barbara Stollberg-Rilinger
I. »Repräsentation von Herrschaft« hat auf den ersten Blick zwei unterschiedliche Bedeutungsdimensionen, eine instrumentelle und eine symbolische. Zum einen die technisch-instrumentelle Bedeutung: Repräsentation ist danach ein formales Zurechnungsprinzip, eine Fiktion, die der Herstellung politischer Handlungseinheit dient.1 »A repräsentiert B« heißt danach ganz allgemein: »Was A tut, gilt so, als hätte B es getan«, das heißt das Handeln
—————— 1 Einen Teil der folgenden Überlegungen habe ich entwickelt in: Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt landständische Repräsentation? Überlegungen zur argumentativen Verwendung eines politischen Begriffs, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000), S. 120-135. – Zum Folgenden grundlegend Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1974, 3. Aufl. Berlin 1998; ders., Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, 17-42; ferner Adalbert Podlech, Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509-547; Heinz Rausch (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung (Wege der Forschung, Bd. 184), Darmstadt 1968; anregende Überlegungen zur politischen Repräsentation ferner bei Dolf Sternberger, Zur Kritik der dogmatischen Theorie der Repräsentation, in: ders., Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart 1971, S. 9-39; Edmund S. Morgan, Government by Fiction. The Idea of Representation, in: The Yale Review 72 (1983), S. 321-339; Hannah F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley 1967; zum Verhältnis von politischer und symbolischer Repräsentation: Gerhard Göhler u.a. (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997 (besonders die Beiträge von Göhler, Speth und Berthold); Pierre Bourdieu, Politisches Feld und symbolische Macht, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1991), S. 489-515; ders., Politische Repräsentation, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 67-114.
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von A wird B zugerechnet. Dabei können sowohl A als auch B für einen Einzelnen oder für eine Gruppe stehen. Wie die Zurechnung zustande kommt und worauf sie beruht, kann hier dahingestellt bleiben; die zugrunde liegenden Herrschafts-, Abhängigkeits- oder Auftragsverhältnisse können historisch jedenfalls ganz verschieden sein.2 Wozu dient diese Repräsentationsfiktion? Handeln können streng genommen immer nur Einzelne. Eine Personenmehrheit, ein Gemeinwesen kann als solches im eigentlichen Sinne nicht handeln. Schon bei elementarer politischer Integration wird es aber nötig, dass einzelne für größere Einheiten handeln. Jede, auch die einfachste politische Organisation muss das Problem lösen, wie gewährleistet werden kann, dass das Handeln Einzelner als Handeln aller gilt, das heißt dass das Handeln Einzelner (oder eines Gremiums) allen zugerechnet wird – und das bedeutet vor allem: dass es auch alle verpflichtet. Das bewirkt die Repräsentationsfiktion: Unter bestimmten Voraussetzungen gilt das Handeln Einzelner oder einer Gruppe als Handeln des Ganzen und wird als solches von den Mitgliedern des Ganzen wie auch von Dritten als legitim anerkannt – und zwar auch und gerade dann, wenn es nicht dem Willen der Einzelnen entspricht. Der springende Punkt ist: Erst durch eine solche Fiktion wird das politische Ganze überhaupt zu einem Ganzen, wird es handlungsfähig nach innen und außen und fällt nicht in lauter unzurechenbare Einzelhandlungen auseinander. Diese Problematik ist schon seit dem Mittelalter theoretisch reflektiert worden, und zwar mit Hilfe der Metaphorik des politischen Körpers als einer künstlichen Person, einer persona ficta – zuerst mit Bezug auf die Kirche und die Stadtgemeinde, erst in zweiter Linie auch für Fürstentümer und Königreiche: Das Gemeinwesen wurde als künstlich konstruierte, fiktive Person verstanden, der man einen Willen zuschreiben kann, so als ob es sich um eine natürliche Person handelte. Hervorgebracht wird diese fiktive Willenseinheit durch bestimmte formale Verfahren der Autorisierung, die bewirken, dass das, was Einzelne beschließen, der Gesamtheit zugerechnet wird. Wesentliche Unterschiede bestehen darin, aufgrund welcher formaler Voraussetzungen und welcher normativen Grundlagen das Handeln welcher Akteure als Handeln der Gesamtheit gilt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich vormoderne und moderne politische Ordnungen fundamental. Die fiktive Willenseinheit kann auf ganz verschiedene Arten gewährleistet werden: Zum Beispiel auch
—————— 2 Um von Repräsentation sprechen zu können, ist es beispielsweise keineswegs erforderlich, dass ein Auftragsverhältnis zwischen A und B besteht.
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aufgrund einer als heilig geltenden Hierarchie (beim sakralen Königtum) hier sind die Verfahren, die den Repräsentanten zu einem solchen machen, sakral überhöhte Rituale, und der Repräsentant des Ganzen ist zugleich der Herrscher. Was das Repräsentationsprinzip aber generell leistet ist, dass es das Handeln eines Gremiums oder eines Einzelnen heraushebt und für die Gesamtheit verbindlich macht – nicht etwa, dass es bewirkte, dass dieses Gremium tatsächlich handelt, wie es »alle« wollen. Insofern ist Repräsentation eine Fiktion, die eine Personenmehrheit in eine handlungsfähige Einheit verwandelt. Soweit die eine Seite des Repräsentationsbegriffs, die man die instrumentelle oder prozedurale Seite nennen kann. Eine – zumindest auf den ersten Blick ganz andere Dimension hat der Begriff der symbolischen Repräsentation: Symbolische Repräsentation meint die Darstellung, die Verkörperung, im Extremfall die »magische Identitätssetzung«3 von etwas oder jemand physisch Abwesendem – so etwa, wenn der Herrscher in seinem Porträt symbolisch repräsentiert wird –, oder die Darstellung, die Verkörperung von etwas Nicht-Gegenständlichem, Abstraktem, das überhaupt nur in seiner symbolischen Verkörperung konkret wahrnehmbar und erfahrbar wird. Kategorien wie »Reich«, »Nation«, »Staat« sind solche »Gedankendinge« (Kant), die erst durch Symbole beziehungsweise symbolische Praxis, durch (Re-)Präsentation im letztgenannten Sinne also, hervorgebracht werden.4 Auch Macht und Herrschaft bedürfen in einem elementaren Sinne der symbolischen Repräsentation, weil sie nicht bestehen könnten, wenn sie laufend ihre Sanktionsdrohungen gewaltsam realisieren müssten.5 Nahe liegender Weise hat für die-
—————— 3 Nach Hans Julius Wolff, Organschaft und juristische Person. Untersuchungen zur Rechtstheorie und zum öffentlichen Recht, Berlin 1934. 4 Vgl. Rudolf Speth, Symbol und Fiktion, und ders., Die symbolische Repräsentation, in: Göhler (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation [wie Anm.1], S. 65-142, S. 433-475; Rüdiger Bubner, Über das Symbolische in der Politik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 119-126; Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 3-52; Hans-Georg Soeffner, Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002. 5 In ähnlichem Sinne Luhmanns Begriff der symbolischen Generalisierung von Macht als Medium des Politischen; vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt/M. 2000. – Anregend auch Albrecht Koschorke u.a., Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt/M. 2002.
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sen Begriff der Repräsentation die konstruktivistisch orientierte »Neue« Kulturgeschichte eine besondere Vorliebe, weil sie die soziale Wirklichkeit als relationales Geflecht von handlungsleitenden Bedeutungszuschreibungen begreift, das heißt als etwas, das in fundamentaler Weise durch symbolische Praxis erzeugt, aufrechterhalten und verändert wird.6
II. In der Forschung zur Vormoderne werden allerdings beide Varianten des Begriffs Repräsentation selten in Zusammenhang gebracht. Sie stammen aus unterschiedlichen Theorietraditionen, und sie betreffen separate Forschungsfelder, die kaum Berührungspunkte aufweisen. Unter dem Etikett »symbolische Repräsentation von Herrschaft« beschäftigen sich Historiker, aber vor allem auch Kunst- und Literaturwissenschaftler mit Phänomenen wie Herrschaftsinsignien und Investiturritualen, Chroniken und Monumenten, Zeremonien und Feiern. Wer hingegen über »politische Repräsentation« arbeitet, der befasst sich in der Regel mit Ständeversammlungen und Parlamenten als instrumentellen Organen der politischen Partizipation und Beschlussfassung. Beide Dimensionen des Repräsentationsbegriffs werden entweder gar nicht miteinander in Zusammenhang gebracht oder sogar einander explizit als Oppositionspaar gegenübergestellt.7 Danach scheint symbolische Repräsentation von Herrschaft etwas tendenziell Vormodernes zu sein, politische Repräsentation als instrumentelles Verfahren etwas tendenziell Modernes. Auch die Habermas’sche Gegenüberstellung von vormoderner repräsenta-
—————— 6 Vgl. etwa den Repräsentationsbegriff bei Roger Chartier, Die Welt als Repräsentation, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 320-347; statt vieler sei hier nur zitiert: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte, Frankfurt/M. 2001; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-607; Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (=ZHF, Beih. 35), Berlin 2005. 7 Explizit zum Beispiel bei Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928, der Integration durch Personen, durch Verfahren und durch Symbole unterschieden, aber immerhin als einer der ersten bereits symbolisches Handeln als politischen Integrationsfaktor ernst genommen hat.
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tiver und moderner bürgerlich-diskursiver Öffentlichkeit legt solche Assoziationen nahe.8 Zwar lässt sich die fortgesetzte Wirkmächtigkeit von symbolischer Repräsentation auch für die Moderne nicht bestreiten.9 Aber es kennzeichnet doch das Selbstbewusstsein der Moderne, für sich in Anspruch zu nehmen, dass bei der Begründung und Legitimierung von normativen Geltungsansprüchen rationale »Prozeduren und gute Gründe« (Habermas) an die Stelle von Inszenierung und emotionalem Appell getreten seien. Wie auch immer – festzuhalten ist jedenfalls, dass aus dieser Perspektive das symbolisch-expressive und das instrumentell-technische, prozedurale Verständnis von Repräsentation als Gegensatzpaar erscheinen. Meine erste These ist nun: Für die europäische Vormoderne, genauer gesagt: für die ständisch verfasste Monarchie der frühen Neuzeit ist es unangemessen, die beiden Bedeutungen des Repräsentationsbegriffs als Gegensatz aufzufassen. Frühneuzeitliche Ständeversammlungen, die schon von den Zeitgenossen als corpora repraesentativa bezeichnet wurden, waren nämlich stets – in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße – sowohl politische Entscheidungsorgane als auch symbolische Inszenierungen. Sie lassen sich immer zugleich instrumentell als Mittel zur Herstellung und symbolisch als Mittel zur Darstellung von politischer Einheit verstehen.10 Die traditionelle verfassungsgeschichtliche Ständeforschung war einer konstitutionalistischen und rechtspositivistischen Begrifflichkeit verpflichtet. Deshalb hat sie die symbolische Dimension immer mehr oder weniger ignoriert, nicht zuletzt weil es ihr darum ging, die vormodernen Repräsen-
—————— 8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 1962; ders., Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie Anm.4], S. 53-67. – Zahlreiche theoriegeschichtliche Nachweise bei Göhler, Institution [wie Anm.1], dort Beiträge zum Repräsentationsbegriff bei Carl Schmitt, Gerhard Leibholz, Hans Julius Wolff , Hannah Pitkin, Pierre Bourdieu u.a. 9 Vgl. etwa Rüdiger Voigt (Hg.), Symbole der Politik – Politik der Symbole, Opladen 1989; Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213-230. 10 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001 (ZHF, Beih. 25), S. 9-24. André Kieserling, Herstellung und Darstellung politischer Entscheidungen, in: Ottfried Jarren (Hg)., Rundfunk im politischen Kommunikationsprozeß, Münster 1995, S. 125-143, geht für die Moderne hingegen von der Ausdifferenzierung zwischen Herstellung und Darstellung aus und analysiert deren Funktion für die Komplexitätssteigerung des politischen Systems; so knapp schon Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1993, S. 195ff. – Zum Vergleich mit der Moderne s. unten Seite 91f.
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tativkörperschaften als Vorläufer moderner Parlamente zu reklamieren.11 Bei der Konzentration auf das vermeintlich »Eigentliche«, nämlich die politische Beratung und Beschlussfassung, geriet aber gerade die vormoderne Eigentümlichkeit dieser Institutionen aus dem Blick. Diese Eigentümlichkeit erschließt sich vielmehr erst, wenn man Ständetage nicht allein als technische Instrumente zentraler politischer Willensbildung begreift, sondern zugleich als symbolische Verkörperungen komplexer Ordnungsstrukturen. Schon die spätmittelalterliche Korporationstheorie hat das in der Bezeichnung repraesentatio identitatis auf den Begriff gebracht. Hier fallen, so meine ich, beide Dimensionen von »Repräsentation« zusammen. Repraesentatio identitatis heißt nämlich, dass das, was eine herausgehobene Gruppe im Namen der Gesamtheit in bestimmten Formen tut und beschließt, so angesehen wird, als hätte die Gesamtheit es getan und beschlossen. Ein herausgehobener Teil des Ganzen steht also symbolisch, pars pro toto, für das Ganze.12 Der springende Punkt ist dabei (und das unterscheidet dieses ältere Repräsentationsverständnis fundamental von dem modernen), dass das Ganze keine größere Rechtsmacht hat als der herausgehobene Teil, das heißt dass das Ganze überhaupt nur in diesem herausgehobenen Teil als handlungsfähige Einheit zur Existenz gelangt. Das repräsentative Gremium – hier: eine Ständeversammlung – handelt also nicht nur Verbindlichkeit stiftend für die ganze politische Einheit, sondern es verkörpert diese politische Einheit in einem fundamentalen Sinne und bringt sie gewissermaßen in Realpräsenz zur Erscheinung.13 Zugleich hat es symbolischen Charakter in dem Sinne, dass es über sich selbst hinausweist und den umfassenden Ordnungszusammenhang evoziert, dem es seine herausgehobene Stellung erst verdankt. Denn immer schon vorausgesetzt werden ja
—————— 11 Zur Forschungsgeschichte ausführlich Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999, S. 1-21. 12 Hofmann, Repräsentation [wie Anm.1], S. 191-285; ders., Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff [wie Anm.1]; Podlech, Repräsentation [wie Anm.1]. 13 Vgl. den Begriff des Präsenzsymbols etwa bei Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung [wie Anm. 4], und Hans-Ulrich Gumbrecht, Ten Brief Reflections on Institutions and Re/Presentation, in: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie Anm.4], S. 69-76; das gleiche wird als »Realsymbol« bezeichnet bei Speth, Symbol und Fiktion [wie Anm. 1], S. 71ff.: Im Gegensatz zu einem arbiträren Zeichen, das auf ein Referenzobjekt außerhalb seiner selbst bloß verweist, kennzeichnet es ein solches Präsenzsymbol, dass es bewirkt, was es bezeichnet, dass es an dem Anteil hat oder geradezu ist, was es bezeichnet.
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bestimmte Regeln, nach denen das repräsentative Gremium sich zusammensetzt, und bestimmte Verfahrensformen, nach denen es handelt. Einerseits liegt also die Gesamtordnung – hier das »Land« in seiner jeweiligen komplexen Verfasstheit – der einzelnen Ständeversammlung immer schon voraus. Andererseits tritt es allein in einer solchen Versammlung handelnd in Erscheinung.14
III. Konkretisieren möchte ich das bisher Gesagte jetzt anhand einer exemplarischen frühneuzeitlichen Ständeversammlung, nämlich am Beispiel der Landtage des Kurfürstentums Köln im 18. Jahrhundert. Dabei soll die spezifisch vormoderne Eigenart des Symbolcharakters politischer Repräsentation herausgearbeitet und abschließend gefragt werden, inwiefern er sich von dem der Moderne grundsätzlich unterscheidet. Die landständische Verfassung des Erzstifts Köln war in vieler Hinsicht typisch für die landständischen Verfassungen im Reich im Allgemeinen und die der geistlichen Reichsterritorien im Besonderen.15 Wie anderswo,
—————— 14 In diesem Sinne ist das viel zitierte Diktum von Otto Brunner, »Die Stände sind das Land«, zu präzisieren (Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien, 5. Aufl. 1965 [ND Darmstadt 1984], S. 413f.). Vgl. auch André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart 1991, der den sehr hilfreichen Begriff der »Verfassung in actu« geprägt hat. 15 Karsten Ruppert, Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit. Verfassung und Geschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 174 (1972), S. 47-111; Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688-1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung »absolutistischer« Hofhaltung, Bonn 1986; Ulf Brüning, Wege landständischer Entscheidungsfindung. Das Verfahren auf den Landtagen des rheinischen Erzstifts zur Zeit Clemens Augusts, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jhs. in Kurköln (= Der Riß im Himmel. Kurfürst Clemens Augustund seine Epoche, Bd.11), Köln 1999, S. 160-184; André Krischer, Symbolisches Handeln als politische Praxis des Kurfürsten Clemens August von Köln, ungedr. Staatsexamensarbeit Köln 2001, S. 22ff.; vgl. auch die alte landesgeschichtliche Forschung: Ferdinand Walter, Das alte Erzstift und die Reichsstadt Cöln. Entwicklung ihrer Verfassung vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu ihrem Untergang, Bonn 1866; Günther Tücking, Der Streit zwischen dem Kurfürsten Josef Clemens von Köln und seinen Landständen in den Jahren 1688-1701, Würzburg 1934; Dietrich Dehnen, Kurfürst Josef Clemens von Köln und die Landstände des Erzstifts in den Jahren 1715-1723, Diss. Bonn 1952; Anton Schulte, Die kurkölnischen Landstände unter
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so war auch hier die Institutionalisierung der ständischen Mitwirkung seit dem Spätmittelalter ein Faktor der territorialen Integration gewesen. Im 15. Jahrhundert hatte der gestiegene Geldbedarf des Landesherrn infolge einer Reihe von Konflikten dazu geführt, dass die Stände sich zusammenschlossen, um ihre Privilegien und Freiheiten, Eigentums- und Herrschaftsrechte korporativ zu verteidigen, indem sie sich ihre zentrale Partizipation schriftlich garantieren ließen. In der Erblandesvereinigung von 1463 war das wechselseitige, bedingungsweise Verpflichtungsverhältnis zwischen dem Kurfürsten und den korporativ vereinten Ständen vertraglich festgeschrieben worden. Dies wurde später zur Grundlage für ein ständisches Steuerbewilligungs-, -erhebungs- und -verwaltungssystem, das alle Krisen des Verhältnisses zwischen Landesherrn und Ständen (auf die hier nicht einzugehen ist) überdauerte und bis zum Ende des Erzstifts erhalten blieb. Zum letzten Konflikt zwischen Landesherrn und Ständen um das Steuerbewilligungsrecht kam es unter dem Kurfürsten Josef Clemens aus dem Haus Wittelsbach (1688-1701). Es handelte sich um eine für diese Zeit absolut typische Auseinandersetzung: Der Versuch des Landesherrn, Steuern zur Unterhaltung seiner Milizen auch ohne Konsens der Stände mit Gewalt einzutreiben, weckte deren Widerstand. Sie beriefen eigenständig einen Landtag ein und wandten sich um Unterstützung an Kaiser und Reich. Der Konflikt wurde allerdings nie grundsätzlich entschieden, weil der Landesherr wenig später wegen seines Bündnisses mit Frankreich gegen den Kaiser ins Exil gehen und dem Domkapitel die Regierung überlassen musste. Unter den folgenden Kurfürsten wiederholten sich solche Konflikte nicht mehr. Erst nach Ausbruch der Revolution in Frankreich, 1790, kam das Verfahren erneut in Bewegung. Die Kurkölner Landtage fanden im 18. Jahrhundert in der Regel einmal im Jahr statt. Es ging stets um zweierlei: erstens um die ständischen Gravamina, das heißt im Wesentlichen immer die gleichen Beschwerden über landesherrliche Eingriffe in die ständischen Rechte, und zweitens um das »Hauptgeschäft«, die Bewilligung der Steuern. Der Landesherr lud nach Rücksprache mit dem Domkapitel vier ständische Korporationen zu den Beratungen ein: Erstens das Domkapitel selbst, das aus landfremden, reichsunmittelbaren Domgrafen und aus bürgerlichen Priesterherren bestand und auf
—————— der Administration des Domkapitels (1702-1714), Diss. Bonn 1949; Karl Essers, Zur Geschichte der kurkölnischen Landtage im Zeitalter der Französischen Revolution, 1790-1797, Gotha 1909.
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die Landtage vier Deputierte entsandte. Es war das mit Abstand mächtigste Kollegium, das aufgrund seines Wahlrechts in der Lage war, jeden neu zu wählenden Landesherrn auf eine Wahlkapitulation zu verpflichten. Das Domkapitel verstand sich selbst als eigentlichen Inhaber der Hoheitsrechte des Landes, nicht als ständisches Kollegium im strengen Sinne.16 Zweitens (und das war eine Kölner Besonderheit) die Grafen, das heißt Mitglieder eigentlich reichsunmittelbarer hochadeliger Geschlechter, die zugleich ein Rittergut im Erzstift besaßen, die allerdings nur selten in Person auf dem Landtag erschienen. Drittens die Ritterschaft, das heißt sämtliche niederadelige männliche Besitzer eines oder mehrerer im Land gelegener Herrschaftssitze. Ein Ritter konnte sich auf dem Landtag nicht vertreten lassen, sondern musste entweder in Person erscheinen oder fernbleiben. Schließlich viertens die landsässigen Städte, vertreten in der Regel durch ihre Bürgermeister oder andere hohe Magistrate. Der Clerus secundarius, das heißt die Klöster und Stifte, die in anderen geistlichen Territorien meist eine eigene Kurie auf Landtagen bildeten, wurden in Kurköln nicht zum Landtag geladen. Ob der Klerus sich die Landtagsbeschlüsse trotzdem zurechnen lassen müsse oder nicht, war deshalb immer umstritten. Die anderen Stände beanspruchten stets, in ihrer gemeinsam beschlossenen Bewilligungssumme sei das quotum cleri mit enthalten, und überließen es dem Landesherrn, es beim Klerus einzutreiben oder auch nicht. Der Klerus hingegen bestritt das Recht des Landtags, für ihn mitzusprechen, und leistete stattdessen dem Landesherrn in unregelmäßigen Abständen ein separates donum charitativum, ein vorgeblich völlig freiwillig und unabhängig vom Landtagsbeschluss gewährtes »Geschenk«.17 Betrachtet man nur die letztlich gezahlte Geldsumme, so scheint das auf dasselbe hinauszulaufen. Im Hinblick auf die wechselseitig erhobenen Geltungsansprüche der Beteiligten war der Unterschied allerdings erheblich: Indem er die Fiktion einer freiwilligen und unabhängigen Zahlung aufrecht erhielt, bestritt der Klerus demonstrativ-symbolisch den umfas-
—————— 16 Vgl. die neuere Literatur zu geistlichen Territorien und der Rolle der Domkapitel bei Barbara Stollberg-Rilinger, Die Wahlkapitulation als Landesgrundgesetz? Zur Umdeutung altständischer Verfassungsstrukturen in Kurmainz am Vorabend der Revolution, in: Helmut Neuhaus u.a. (Hg.), Menschen und Strukturen Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zum 65. Geburtstag (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, S. 379-404. 17 Ruppert, Landstände [wie Anm. 15], S. 89.
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senden Repräsentationsanspruch des Landtags und die allgemeine Verbindlichkeit seiner Beschlüsse. Wie in vielen frühneuzeitlichen Territorien, so gab es auch im Kurfürstentum Köln verschiedene Landesteile mit je eigenen ständischen Korporationen. Das Herzogtum Westfalen, das ebenfalls unter der Herrschaft des Kurfürsten stand, hatte eigene Stände. In Westfalen gab es jährliche Landtage, die stets unmittelbar nach den kurkölnischen und auf der Grundlage derselben Proposition stattfanden und de facto auch zu dem gleichen Ergebnis führten.18 Das Vest Recklinghausen hingegen, ebenfalls unter kurkölner Herrschaft, hatte keine eigene Ständeversammlung, sondern war auf den Kurkölner Landtagen nur durch einige Deputierte ohne Stimmrecht vertreten, galt aber trotzdem als an die dort gefassten Beschlüsse gebunden. Das komplizierte Verfahren der Steuerbewilligung und die abgestuften Teilnahmemodi der verschiedenen ständischen Korporationen der verschiedenen Landesteile spiegelten insgesamt in einer für die Vormoderne charakteristischen Weise die Entstehungsgeschichte des Landes. In instrumenteller Hinsicht waren die Landtage also – zwar nicht unangefochten, aber jedenfalls ihrem eigenen und dem landesherrlichen Anspruch nach repräsentative Korporationen in dem Sinne, dass ihre korporativ gefassten Beschlüsse das ganze »Land« zu Steuern verpflichteten, das heißt auch die abwesenden und die möglicherweise dissentierenden Stände, die landesherrlichen Domänenuntertanen und so weiter. Insofern repräsentierte der formal korrekt zusammengetretene und verabschiedete Landtag das »ganze Land« und integrierte die heterogenen ständischen Gruppen zu einer handlungs- und zurechnungsfähigen Einheit. Die Stände wurden Jahr für Jahr einberufen und bewilligten Jahr für Jahr die gewünschten Steuern, obwohl der Landesherr umgekehrt ihre Gravamina Jahr für Jahr dilatorisch behandelte. Es wäre ihnen wohl auch nicht sehr viel anderes übrig geblieben, denn reichsrechtlich war ihr Bewilligungsrecht längst ausgehöhlt; eine realistische Chance, es als politisches Druckmittel einzusetzen, gab es kaum noch.19
—————— 18 Elisabeth Schumacher, Das kölnische Herzogtum Westfalen im Zeitalter der Aufklärung unter besonderer Berücksichtigung der Reformen des letzten Kurfürsten von Köln, Olpe 1967. 19 Zur reichsrechtlichen Lage der Landstände nach dem Westfälischen Frieden Volker Press, Vom »Ständestaat« zum Absolutismus. 50 Thesen zur Entwicklung des Ständewesens in Deutschland, in: Peter Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, Berlin 1983, S. 319-327; zusammenfassend Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm. 11], S. 22-27.
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So verhandelte man etwa 1745, um nur ein Beispiel zu nennen, lange über die notorisch hohen Hofausgaben, über anstehende Repräsentationskosten zur Königswahl und über die Folgelasten früherer Truppeneinquartierungen, und die Stände stellten fest, dass die landesfürstlichen Zusicherungen des vergangenen Jahres, Missstände abzustellen, »die anverhofften würckungen« bisher keineswegs gezeigt hätten. Obwohl sich der Kurfürst davon zu keiner Minderung seiner Finanzwünsche bewegen ließ, kam es trotzdem wie immer zu einem feierlichen Landtagsabschied. Die Stände leisteten nicht nur »freiwillig und mit patriotischem Eifer« ihr übliches subsidium charitativum, sondern bewilligten sogar noch 8000 Reichstaler extra für das überaus aufwendige marmorne Treppenhaus, das der berühmte Balthasar Neumann in Schloss Brühl baute. Mit anderen Worten: Die Freiwilligkeit der Stände, die Lasten als donum charitativum zu übernehmen, war ebenso eine Fiktion wie die Bereitschaft des Landesherrn, die stets gleichen Gravamina herzhaft zu bekämpfen. Die ältere Forschung hat sich stets gefragt, warum die Stände sich zu diesem Verfahren überhaupt noch hergaben, zumal die Landtage selbst die Steuern erheblich in die Höhe trieben (die Landtagsdiäten betrugen jeweils rund 8 Prozent der bewilligten Summe). Eine Antwort auf diese Frage findet man nur, wenn man die komplexen symbolisch-expressiven Funktionen des Verfahrens in Rechnung stellt. Meine zweite These ist also: Es ging bei den Kurkölner Landtagen des 18. Jahrhunderts nicht mehr so sehr um die Herstellung von Konsens als vielmehr um die Darstellung von Konsens. Insofern hier die symbolische Dimension die instrumentelle weitgehend verdrängte, ist der Kurkölner Fall zweifellos ein extremes, aber kein vereinzeltes Beispiel. Ich wähle es deshalb, weil sich daran die symbolische Funktion besonders deutlich zeigen lässt. Für andere Reichsterritorien, deren Stände ihre Mitgestaltungsrolle besser hatten erhalten können, gilt aber gleichfalls, dass sich das Landtagsgeschehen nur als Zusammenwirken instrumenteller und symbolischer Funktionen angemessen verstehen lässt. Die Konsensfassade, die man auf den Kurkölner Landtagen Jahr für Jahr aufrichtete, war kein sinnentleertes »politisches Theater«, an das die Beteiligten selbst nicht glaubten.20 Es lag vielmehr im Interesse aller
—————— 20 Also keine »bloß« symbolische Politik im Sinne der politikwissenschaftlichen Forschung etwa von Murray J. Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt/M. u.a. 1976; Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommu-
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Beteiligten, auf Landtagen die Leitwerte und Ordnungskategorien der ständischen Verfassung in Szene zu setzen. Um das zu veranschaulichen, möchte ich die Formalitäten eines solchen Landtags etwas genauer beleuchten.21 Der Landtag war ein »solenner Akt«; das heißt eine feierliche, formgebundene Veranstaltung »nach altem löblichen Herkommen«. Er verwies auf eine übergeordnete Rechtsordnung, die teils vertraglich festgeschrieben, teils gewohnheitsrechtlich hergebracht war. »Solenn« bedeutete, dass jedem Element dieses Aktes ein symbolischer und rechtswirksamer Charakter zukam. Jede unwidersprochen vorgenommene Veränderung eines signifikanten Details begründete eine neue possessio, einen neuen gewohnheitsrechtlichen Anspruch, auf den man sich später als Rechtstitel berufen konnte. Deshalb konnte jedes Detail dieses Aktes potenziell konfliktträchtig werden.22 Um eine Verbindlichkeit stiftende Wirkung zu entfalten, musste eine solche Solennität zunächst einmal überhaupt als solche symbolisch markiert und aus dem höfischen Alltag zeitlich und räumlich herausgehoben
—————— nikation der Bundesrepublik (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 72), Opladen 1987; Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992. 21 Zum Verfahren in Kurköln ausführlich Brüning, Wege [wie Anm. 15]; vgl. etwa die Darstellung des kurfürstlichen Hoffouriers Schiller in: Das Hofreisejournal des Kurfürsten Clemens August von Köln 1719-1745, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, bearb. von André Krischer (= Ortstermine, Bd. 12), Siegburg 2000, S. 125, 179f., 196f. Zum Landtagsverfahren allgemein Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 13, Frankfurt/Leipzig 1769, ND Osnabrück 1967; danach Kersten Krüger, Landständische Verfassung (= EdG, Bd. 67), S. 13-17; zu einzelnen Beispielen vgl. Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Politische Kultur und symbolische Praxis der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum (= Westfälische Forschungen, Bd. 53), Münster 2003 (dort insbes. der Beitrag von Johannes Arndt, Der lippische Landtag – Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur im 18. Jahrhundert, S. 159-182); Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 7), Berlin, New York 1998; Andreas Denk, Josef Matzerath, Die drei Dresdner Parlamente. Die sächsischen Landtage und ihre Bauten: Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft, Wolfratshausen 2000, S. 32-51. 22 Zahlreiche Beispiele dafür bei Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 173ff. – Die ältere Forschung hat das stets als »Kleinigkeitskrämerei« missverstanden (vgl. etwa Tücking, Streit [wie Anm. 15], 19), so etwa, als während des Konflikts mit dem Kurfürsten Josef Clemens der ständische Syndikus sich über mangelnden zeremoniellen Aufwand beim Empfang in Bonn beschwerte, weil die Bürgerwache nicht das Gewehr präsentiert hatte.
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werden. Das geschah zunächst durch die formal korrekte Ausschreibung: Zuerst musste der Hoffourier die Zustimmung des Domkapitels einholen, erst dann wurde das Ausschreiben an alle einzelnen Mitglieder übersandt. Der besondere Status des Domkapitels als Inhaber der stiftischen Hoheitsrechte wurde unter anderem dadurch veranschaulicht, dass der Hoffourier die Deputierten in Köln in kurfürstlichen Kutschen abholen ließ: vierspännig die Priesterherren, sechsspännig – Zeichen souveräner Herrschaft – die hochadeligen Domgrafen.23 Die Stände versammelten sich zuerst in ihrem Beratungslokal, dem Kapuzinerkloster in Bonn, um von dort aus gemeinsam in Prozession unter den Augen einer städtischen und höfischen Öffentlichkeit zur Residenz zu ziehen, wo die feierliche Eröffnung stattfand. Durch Kanonendonner, Glockengeläut, Spaliere der städtischen Miliz und die Ausschmückung des Raums wurden Zeit und Ort symbolisch markiert. Eine Messe zum Heiligen Geist in der Hofkapelle sorgte für die sakrale Überhöhung des Ganzen.24 Im Turmzimmer der Residenz platzierten sich die Teilnehmer nach ausgeklügelter Choreographie gemäß ihrem ständischen Rang. Wenn der Kurfürst sich in Bonn aufhielt, nahm er an der Eröffnung in Person unter einem Baldachin sitzend teil, wenn er abwesend war, vertrat ihn sein Statthalter vor dem Baldachin stehend. Von einer Galerie aus konnte das Publikum der Zeremonie beiwohnen. Ein kurfürstlicher Rat hielt die Anrede an die Stände und eröffnete die Proposition. In stereotypem Wortlaut wurden immer wieder die »mildväterlichste Gnade« des Landesherrn und sein Bedauern über die »Zumutung beschwerlichen Geldbeitrags« einerseits, der »patriotische Eifer« der Stände und ihr willfährigstes Bemühen um das Landeswohl bekundet. Es handelte sich dabei um formalisierte Sprechakte, mit denen beide Seiten ihre normgemäßen Rollen als Landtagsteilnehmer übernahmen.25 Die internen Beratungen der Stände fanden dann in strenger Abgeschiedenheit und nach Kurien getrennt wiederum im Kapuzinerkloster, also jenseits der landesherrlichen Sphäre statt. Jeder einzelne Teilnehmer
—————— 23 Brüning, Wege [wie Anm. 15], S. 163f.; vgl. Hofreisejournal [wie Anm. 21], S. 196f. 24 Nach dem Vorbild des Reichstages, vgl. Winfried Dotzauer, Anrufung und Messe vom Heiligen Geist bei Königswahl und Reichstagen in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 33 (1981), S. 11-44. 25 Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988; Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1990.
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war durch einen Eid zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das Beratungsgeheimnis organisierte mithin die ständischen Grenzen.26 Innerhalb jeder Kurie verfuhr man nach dem Prinzip der Umfrage; d.h. die Teilnehmer hatten nach festgelegter Rangfolge ihr inhaltliches Votum abzugeben, und man fragte so lange um, bis sich eine Mehrheitsmeinung herauskristallisiert hatte. Es handelte sich also nicht um eine technische Mehrheitsabstimmung im modernen Sinne, sondern um ein Verfahren mit hohem symbolischem Mehrwert, das immer zugleich die Rangverhältnisse unter den Akteuren abbildete.27 Zwischen den Kurien war Einhelligkeit Ziel des Verfahrens. Eine hochkomplexe Verständigungsprozedur zwischen den vier Kurien sorgte im Normalfall dafür, dass eine gemeinsame Entscheidung zustande kam. War das nicht der Fall, mussten also dem Landesherrn disparia vota vorgetragen werden,28 so stellte das den korporativen ständischen Repräsentationsanspruch in Frage. Dieser setzte ja voraus, dass »das Land« mit einer Stimme sprach, nicht aber einzelne Stände ihre je eigenen, partikularen Rechte geltend machten.29 Noch gravierender war die Abreise eines Teils der Teilnehmer oder gar eines ganzen Kollegiums; die Drohung damit war daher im Konfliktfall – so im Jahre 1790 seitens der Städte eine wirksame Waffe.30 Das Verständigungsverfahren zwischen den Kurien, die so genannte Re- und Correlation, war hoch zeremonialisiert und bildete die hierarchischen Verhältnisse auf vielerlei subtile Weise ab. Den anderen in seinem
—————— 26 Vgl. Alois Hahn, Geheim, in: Gisela Engel u.a. (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 6), Frankfurt/M. 2002, S. 21-42. 27 Zumindest in der Städtekurie scheint ein späteres Votieren als Zeichen höheren Rangs aufgefasst worden zu sein, anders als bei ständischen Umfragen sonst üblich; vgl. Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 170f. Zum symbolischen Charakter des Umfrageverfahrens allgemein Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997 (= ZHF, Beih. 19), S. 91-132. 28 In diesem Fall war umstritten, wie zu verfahren sei: Ob die disparia vota in getrennten Resolutionen oder in einer einzigen vorzutragen seien. Vgl. Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 176. 29 Vgl. ausführlich zur zeitgenössischen Theorie Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11], S. 92-103. 30 Zum Konflikt von 1790 Essers, Kurkölnische Landtage [wie Anm.15], S. 46; vgl. auch das Fernbleiben der Deputierten des Domkapitels vom Landtag des Herzogtums Westfalen 1698, was die Gültigkeit der dortigen Beschlüsse strittig erscheinen ließ; vgl. Tücking, Streit [wie Anm.15], S. 66.
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Quartier aufsuchen zu müssen und nicht umgekehrt aufgesucht zu werden, war ein eindeutiges Zeichen geringeren Ranges; ebenso die Verpflichtung, dabei in corpore, das heißt vollzählig zu erscheinen und sich nicht durch Deputierte vertreten lassen zu können.31 Von unten nach oben fortschreitend verständigte sich jeweils eine Kurie mit der nächsten, dann wurde das gemeinsame Votum der nächst höheren Kurie kommuniziert und so fort, bis ein gemeinsames ständisches Votum dem Landesherrn vorgetragen wurde. Den Städten als rangniedrigster Kurie verschaffte das eigentlich einen gewissen technischen Verfahrensvorteil, denn sie hätten ja mit ihrem ersten Vorschlag – etwa über die Höhe der zu leistenden Steuersumme den Fortgang der Verhandlungen maßgeblich beeinflussen können. Bemerkenswerterweise machten sie sich das aber nicht zunutze, sondern fragten vorab in »vertraulicher Communication« beim Direktor der Ritterkurie an, »was er vermeine das einzuwilligen wäre«, um dann genau dies als ihr eigenes Votum wiederum der Ritterschaft offiziell vorzutragen.32 Erst 1790, als ein ganz neues Selbstbewusstsein die Städtevertreter erfasst hatte, wichen sie von dieser vorauseilenden Unterordnung unter die höheren Stände ab und nutzten ihren Verfahrensvorteil offensiv, um ein Steuerreformprojekt in Gang zu bringen.33 Das Verfahren hatte zwei Phasen: Zuerst wurde über die Gravamina beraten und beschlossen, dem Landesherrn das Ergebnis mitgeteilt und die Antwort entgegengenommen. Auch wenn dieser die Erledigung der Beschwerden nur formelhaft in Aussicht stellte oder gar ausdrücklich ablehnte, schloss sich dann die Beratung und Beschlussfassung über die Steuersumme an. Der feierliche Abschied spielte sich schließlich wiederum als solenner Akt in der Residenz ab: Die Stände übergaben ihre korporative Resolution und erklärten in formelhaft-feierlicher Rede ihre Bereitschaft, die gewünschten Steuern aufzubringen. Damit wurden sie verabschiedet, der Landtag war förmlich beendet und seine Beschlüsse, die von den Ständen selbst zu exekutieren waren, galten als verbindlich. Nun noch einmal zurück zu der Frage: Was lag sowohl dem Landesherrn als auch den Ständen an diesem Verfahren, wenn doch im 18. Jahrhundert an der Regelmäßigkeit der Steuer nicht mehr zu rütteln war und die Gravamina nie ernsthaft abgestellt wurden? Warum zog man sich zur
—————— 31 Um diesen Punkt gab es 1729 langwierige Auseinandersetzungen zwischen Ritter- und Grafenkurie; vgl. ausführlich Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 171ff. 32 Ebd., S. 178f. 33 Vgl. unten bei Anm. 41.
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Festlegung der Steuersumme nicht, wie in einigen anderen Reichsterritorien, auf die viel effizientere Arbeit in kleinen Ausschüssen zurück? Meine These ist: Die Landtage blieben erhalten, weil ihnen ein hoher symbolischer Mehrwert zukam. Sie dienten zum einen dazu, die politischen Leitwerte zu bekräftigen, auf die alle Beteiligten sich ihrem Selbstverständnis nach verpflichteten und von denen sie – allerdings in unterschiedlichem Maße34 – profitierten, weil ihr Status davon abhing: nämlich eben Reziprozität und Konsens. Die Konsensbindung von Herrschaft war ein schlechthin zentraler Wert, denn auf ihr beruhte ja die landständische Verfassung im Kern.35 Auch wenn der Landesherr auf den Konsens im Konfliktfall tatsächlich möglicherweise gar nicht mehr angewiesen war, weil er über genügend Gewaltmittel und zudem über reichsrechtliche Rückendeckung verfügte, so bescherten ihm die Landtage doch einen nicht zu unterschätzenden Legitimationsgewinn – beispielsweise für seine gigantisch teuren Bauprojekte. Allerdings war gerade der Kurfürst auf diese symbolische Inszenierung seiner Herrschaft verhältnismäßig wenig angewiesen, denn er verfügte mit dem Hof über eine effektvolle Bühne zur Inszenierung seiner Majestät, wo er freier über das Zeremoniell disponieren konnte und weniger an die Spielregeln der Reziprozität gebunden war als anlässlich eines Landtags.36 Aber es war ja nicht der Landesherr allein, der Herrschaft innehatte, die es symbolisch zu repräsentieren galt, sondern das gleiche galt auch für die einzelnen Stände. Kennzeichen der vormodernen societas civilis war ja, dass auf allen Ebenen Herrschaftsrechte beansprucht und ausgeübt wurden – nicht nur auf der Ebene der zentralen Staatlichkeit. Landtage waren also
—————— 34 Das geringste Interesse, am Landtag teilzunehmen, hatten nahe liegender Weise die Deputierten des Vests Recklinghausen, die ja nur ad audiendum et referendum geladen wurden und denen kein eigenes Stimmrecht zukam, denen also in dem ganzen Verfahren ständig ihr inferiorer Status vor Augen geführt wurde. Sie suchten sich deshalb zu entziehen, worüber sich dann die anderen Teilnehmer beim Landesherrn beklagten und wofür sie ihn um Sanktionierung baten. Vgl. Brüning, Wege [wie Anm. 15], S. 167f. 35 Vgl. allg. zur vormodernen Konsensorientierung Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig u.a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000, S. 53-88. Grundsätzliche Überlegungen zum höheren Konsensbedarf bei persönlicher Interaktion (im Gegensatz zu medial vermittelter Kommunikation) bei André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/M. 1999. 36 Grundlegend Winterling, Hof [wie Anm. 15]; ferner Hofreisejournal [wie Anm. 21], Einleitung.
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nur die Spitze eines ganzen Herrschaftsgeflechts, das sie ihrerseits erst als Ganzes symbolisch zur Erscheinung brachten. Das scheint mir ein wesentlicher Punkt: Anders als moderne parlamentarische Entscheidungsverfahren besaßen die Landtage keine strukturelle Autonomie gegenüber ihrer herrschaftsständischen Umwelt. Das heißt: die Rollen, die die Akteure im Verfahren spielten, waren nicht vom Verfahrenszweck her definiert und folgten nicht einer verfahrenseigenen Logik, sondern sie wurden von außen, von der ständischen Herrschafts- und Sozialordnung immer schon vorgegeben und im Verfahren symbolisch verkörpert.37 Umgekehrt hing die Aufrechterhaltung des politisch-sozialen Status der Mitglieder des Landes (mit entsprechenden Rechten und Pflichten) aber auch in gewisser Weise von der Landtagsteilnahme ab.38 Das galt insbesondere für die Ritterschaft. Der Landtag war für jeden einzelnen Ritter nämlich der Ort der feierlichen Aufschwörung: Wer zum ersten Mal auf einem Landtag erschien, weil er einen Rittersitz durch Erbschaft, Heirat oder auch Kauf erworben hatte, musste in der ersten Sitzung der Ritterkurie seinen Stammbaum auf adelige Reinheit in väterlicher und mütterlicher Linie, das heißt auf 16 adelige Ahnen prüfen lassen. In einer feierlichen Zeremonie beschworen und unterzeichneten zwei Zeugen die Ahnentafel des Bewerbers, was die ganze Korporation überprüfte und bestätigte. Der Initiand selbst leistete ebenfalls einen Eid und wurde schließlich unter Gratulation der Standesgenossen in die Ritterkurie aufgenommen. Es handelte sich also um ein zentrales ständisches Initiationsritual. Mit diesem Ritual wurden die Ritter von anderen Besitzern landtagsfähiger Rittergüter geschieden – nämlich von Bürgern und von Frauen. Zum Landtag aufgeschworen zu sein war das Konstitutivum für die persönliche Zugehörigkeit eines Ritters zum Land mit allen daran hängenden symbolischen und materiellen Chancen, die bürgerlichen und weiblichen Rittergutsbesitzern eben
—————— 37 Man könnte das auch systemtheoretisch beschreiben und sagen, die Landtage waren nicht als politische Systeme gegenüber ihrer Umwelt ausdifferenziert, sie waren nicht operativ geschlossen, wurden nicht über systemeigene rekursive Operationen als System stabilisiert; vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000; zum Begriff der Verfahrensautonomie vgl. Stollberg-Rilinger, Vormoderne Verfahren [wie Anm. 10], S. 15ff.; in Anlehnung an Luhmann, Legitimation durch Verfahren [wie Anm. 10]. 38 Vgl. die Definition bei Moser, Neues Teutsches Staatsrecht [wie Anm. 21], Bd.13, 322ff.: Bei der Bestimmung der Landstandschaft komme es »einig und allein auf das Sitz- und Stimm-Recht auf Land-Tägen an [...]. Wer dieses hat, ist ein Land-Stand; und wer es nicht hat, ist keiner.« Vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11], S. 77f.
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nicht zukamen.39 Die Teilnahme am Landtag diente also dazu, den politisch-sozialen Status aufrecht zu erhalten: als im Land angesessene Herrschaftsträger, als privilegierte Stände mit einer Fülle von Rechten und Freiheiten, als Anwärter auf exklusive Pfründen und Ämter, nicht zuletzt als Mitglieder eines exklusiven Heiratskreises. Den Landtagsteilnehmern lag um so mehr am symbolischen Mehrwert des Landtags, als ihnen am Hof des Kurfürsten von ausländischem Adel zunehmend Konkurrenz gemacht wurde.40
IV. Das Kurkölner Beispiel zeigt in pointierter Weise, was auch für andere Ständeversammlungen dieser Zeit gilt: Sie waren nicht nur ein Verfahren zur politischen Entscheidungsfindung, Mittel zur Herstellung des »Landes« als handlungsfähige Einheit, indem sie rechtsverbindliche Beschlüsse für das Ganze herbeiführten, sondern auch (und im späten 18. Jahrhundert in diesem Fall sogar in erster Linie) symbolische Verkörperungen des »Landes« in seiner hierarchisch-herrschaftsständischen Verfasstheit. Das Land wurde hier, in der solennen, das heißt rechtsförmlichen, feierlichen Praxis konkret und sinnlich erfahrbar. Landtage dienten dazu, die politisch-sozialen Ordnungskategorien des Landes in die Praxis zu überführen und dauerhaft aufrecht zu erhalten, die einzelnen Mitglieder als solche jeweils neu zu instituieren, Harmonie zwischen Herrn und Ständen zu demonstrieren und auf diese Weise die Herrschaft nicht nur des Landesherrn gegenüber den Ständen, sondern auch jedes einzelnen Standes gegenüber seinen eigenen Untertanen zu legitimieren. Den verschiedenen ständischen Akteuren musste in dem Maße an dieser symbolischen Repräsentation gelegen sein, wie sie von ihrem jeweiligen Ort in der ständischen Hierarchie profitierten. Erst im Jahr 1790 wurde die kollektive Handlungsfähigkeit des Kurkölner Landtags auf die Probe und sein herkömmliches Procedere in Frage gestellt – auch hierin ist das Beispiel verallgemeinerbar. Die Städte waren nicht mehr bereit, die ungleiche Besteuerung der Güter länger hinzunehmen. Durch das französische Vorbild ermutigt, scherten sie sich nicht län-
—————— 39 In den Hofkalendern wurden die Ritter (und zwar erst nach dem gesamten Hofpersonal) mit dem Datum und nach der Reihenfolge ihrer Aufschwörung aufgeführt. 40 Vgl. Winterling, Hof [wie Anm. 15], S. 107ff.
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ger um die traditionelle Konsensfassade und bedienten sich aller instrumentellen Verfahrensmöglichkeiten, um eine grundlegende Steuerreform in Gang zu bringen. Wenn auch sie sich jetzt auf das Repräsentationsprinzip beriefen, so meinten sie doch nun etwas völlig anderes damit: Sie verstanden sich als Sachwalter des »Bürger- und Bauernstandes« schlechthin, nicht mehr als Deputierte einzelner privilegierter Stadtkommunen, und sie nahmen ein stillschweigendes Mandat aller Untertanen für sich in Anspruch.41 Von der kollektiven Inszenierung hierarchischer Harmonie versprachen sie sich zu Recht nichts mehr. Die Repräsentationsfiktion diente damit nicht mehr nur als Rechtsgrund für die kollektive Zurechenbarkeit des Landtagshandelns, sondern zugleich als Rechtsgrund für die Infragestellung der ständisch-korporativen Ordnung. Der Landtag war nicht nur Instrument, sondern auch selbst Gegenstand der Reformforderungen. Das moderne Konzept politischer Repräsentation, wie es sich – idealtypisch – in Folge der Französischen Revolution schrittweise durchsetzte, trennte das Verfahren der kollektiv bindenden Entscheidungsbildung von der symbolischen Repräsentation der sozialen Ordnung. Ein modernes Parlament repräsentiert zwar nach wie vor – im technisch-prozeduralen wie im symbolischen Sinne das politische Gemeinwesen als Ganzes, es verkörpert aber nicht mehr dessen soziale Gliederung, ja es bildet sie nicht einmal mehr ab. Indem die Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten auf allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl und auf freiem Mandat gründet, abstrahiert sie völlig von der sozialen Zugehörigkeit der Wähler und Gewählten. Die politische Repräsentation koppelt sich ab von dem System der gesellschaftlichen Ungleichheit; mit anderen Worten: das politische System gewinnt Autonomie gegenüber der sozialen Ordnung.42 Das heißt zwar keineswegs, dass moderne Parlamente keine symbolische
—————— 41 So die anonyme Flugschrift: Juristisch-philosophische Betrachtungen über die landesherrlichen Steuerrechte und die Rechte des gemeinen Volkes zur allgemeinen Wohlfahrt und zum Besten des K.Kölnischen Bürger- und Bauern-Standes, o.O. 1790. – Die Städte forderten einen modus per totum, d.h. einheitliche Besteuerung aller Güter. Der Clerus secundarius parierte mit der Forderung, selbst auf Landtage geladen zu werden, andernfalls aber überhaupt nicht von dessen Beschlüssen zu Steuern verbunden zu sein; vgl. die ebenfalls anonyme Flugschrift: An die Churkölnischen Landstände über die Frage des modi contribuendi bey bevorstehendem Landtag 1793, o.O. 1793. Vgl. dazu Essers, Geschichte [wie Anm. 15]; Ruppert, Landstände [wie Anm.15], S. 104ff. – Allgemein zu den Landtagsreformbewegungen in verschiedenen Reichsterritorien im Anschluss an die Französische Revolution Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm. 11], S. 152ff.; dies., Was heißt landständische Repräsentation [wie Anm. 1], S. 130ff. 42 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren [wie Anm. 10], bes. S. 155ff., 195ff.
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Dimension mehr hätten43 man denke nur an die symbolisch-expressive Inszenierung demokratischer Streitkultur in Bundestagsdebatten oder an die Symbolisierung politischer Transparenz in der Fosterschen Reichstagskuppel. Es heißt aber, dass eine moderne Repräsentativversammlung nicht mehr wie eine vormoderne Ständeversammlung das Gemeinwesen in seinen Ungleichheitsstrukturen symbolisch darstellt und reproduziert.
—————— 43 Vgl. etwa Werner J. Patzelt, Symbolizität und Stabilität. Vier Repräsentationsinstitutionen im Vergleich, in: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie Anm. 4], S. 603-638; Heinrich Oberreuter, Institution und Inszenierung. Parlamente im Symbolgebrauch der Mediengesellschaft, in: ebd., S. 65-70.
Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft: Das deutsche und das englische Beispiel Martin Kohlrausch
»Die heutigen Souveräne haben, auch wenn sie mit ihrer Persönlichkeit tagtäglich ins grelle Rampenlicht der Presse treten, immer etwas Unpersönliches. Was sie immer tun mögen, es wirkt als Repräsentation, wie persönlich auch die Gebärde sein mag. Ein heutiger Fürst ist immer offiziell, er kann sich nicht die Nase schneuzen, ohne daß es in alle Welt hinaustelegraphiert wird; – und wenn einer es darauf anlegt, nicht offiziell zu scheinen (denn es bleibt immer bloß Schein), so ärgert sich das Publikum und zischt (man sagt jetzt Publikum statt Volk – alles Öffentliche hat etwas Theaterhaftes bekommen)«.1
Der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow stellte 1893 fest, gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe eine »Zeit schrankenloser Publizität« eingesetzt, die sowohl für wie gegen den Bestand der Monarchie arbeiten könne.2 Bülow sprach in scharfsinniger Weise ein Phänomen an, das der Soziologe John B. Thompson als »Transformation of Visibility« charakterisiert hat. Thompson bezeichnet hiermit einen Prozess der Entstehung einer nicht mehr ortsgebundenen Öffentlichkeit, die eine einschneidend erhöhte Sichtbarkeit herausgehobener Politiker bewirkte.3 Diese Transformation bedingte, dass die ohnehin bereits fragile Darstellung des Monarchen noch schwerer als bisher zu kontrollieren war. Allerdings – hierauf verweist Bülow – eröffneten sie der Monarchie auch erhebliche Chancen, indem der Monarch ein bisher unerreichbares Publikum mit seiner Persönlichkeit und seiner Programmatik konfrontieren konnte. Damit veränderten sich auch die Bedingungen monarchischer Repräsentation radikal.
—————— 1 Diese hellsichtige Analyse legte Otto Bierbaum seiner Romanfigur Hermann Honrader in den Mund: Otto Bierbaum, Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings, München 1907, S. 590. 2 Zit. nach: John C.G. Röhl, Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm II., in: ders. (Hg.), Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 41995, S. 78- 1 16, hier S. 113. 3 John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000, S. 33.
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Der hier skizzierte Zusammenhang ist offenbar so selbstverständlich, dass seine systematische Untersuchung bisher ausblieb. Zwar hat das historische Interesse an den Massenmedien, zumal in deren formativer Phase um 1900,4 merklich zugenommen und auch die Institution Monarchie führt keineswegs mehr ein Schattendasein in der Forschung.5 Eine Zusammenschau von Medien und Monarchie, deren Bedeutung füreinander heute – man blicke nach England, Spanien, Holland oder Norwegen – so offenkundig ist, erfolgte allerdings selten. Dabei erscheint diese Zusammenschau sowohl aus der Perspektive der Medien wie auch der Monarchie erkenntnisreich. Dies hängt insbesondere mit zwei Grundtatsachen zusammen, auf die noch näher einzugehen sein wird. Zum einen ist dies die so genannte »Medienrevolution« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zum anderen die – im Gegensatz zur heutigen Situation in Europa – anhaltende hohe
—————— 4 Vgl. Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-33; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206; Andreas Schulz, Der Aufstieg der »vierten Gewalt«. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65-97; Bernd Weisbrod, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270–283. Zu den Medien des 20. Jahrhunderts vgl. Karl Christian Führer, Neue Literatur zur Geschichte der modernen Massenmedien Film, Hörfunk und Fernsehen, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 216-243. Zur Entwicklung der Massenmedien in Großbritannien: Aled Jones, Powers of the Press. Power and the Public in Nineteenth-century England, London 1996. Zur Entwicklung im 19. Jahrhundert: Bernd Sösemann (Hg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002. 5 Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der Königin, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 76-104; Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; Jost Rebentisch, Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur, Berlin 2000; Lothar Reinermann, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und die britische Öffentlichkeit, London 2000; John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie, München 2001; Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993; William M. Kuhn, Democratic Royalism. The Transformation of the British Monarchy. 1861-1914, London 1996; Richard Williams, The Contentious Crown. Public Discussion of the British Monarchy in the Reign of Queen Victoria, Adlershot 1997; Antony Taylor, »Down with the Crown«: British anti-monarchism and debates about royalty since 1790, London 1999; Martin Kohlrausch, Die höfische Gesellschaft und ihre Feinde. Monarchie und Massenöffentlichkeit in England und Deutschland um 1900, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 450-466.
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Bedeutung der Monarchie als Institution im Regierungsgefüge der weit überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten.6 Für die Frage, was monarchische Herrschaftsrepräsentation im Zeitalter der Massenmedien noch – oder gerade erst – leisten konnte, ist die skizzierte Zusammenschau sogar unabdingbar. Das neue Interesse an politischer Repräsentation hat sich immer auch auf die Institution Monarchie gerichtet. In den Blick geriet so ein relativ überschaubarer Kommunikationsraum, der besonders gut in Versammlungsöffentlichkeiten anlässlich von Huldigungen und verwandten Anlässen und dem damit einhergehenden Schrifttum fassbar war.7 Im Prozess der massenmedialen Mobilisierung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts wurde der Monarchie – wenn sie überhaupt als nennenswerter Faktor betrachtet wurde – der Part des passiven Verlierers zugeschrieben.8 Ein nicht unwesentlicher Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit für die Medienmonarchie mag schließlich im ephemeren Charakter ihrer Erscheinungsformen liegen. Der schwer greifbare Zusammenhang soll hier in einer mehrfach begrenzten Perspektive beleuchtet werden. Das Hauptaugenmerk gilt der Zeitphase, in der sich die Massenmedien auch in Deutschland durchsetzten, das heißt ab den 1880er Jahren, die aber noch durch starke Monarchien geprägt ist, das heißt bis zum Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus werden aus einer Vielzahl möglicher Fälle zwei Beispiele, nämlich das deutsche und englische, gewählt. Um die mediale Repräsentation in beiden Ländern in ihren Spezifika sichtbar zu machen und somit
—————— 6 Vgl. Mark Hewitson, The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Germany before the First World War, in: The Journal of Modern History 73 (2001), S. 725-780; Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918), Frankfurt/M. 1997; Marcus Kreuzer, Parliamentarization and the Question of German Exceptionalism: 1867-1918, in: Central European History 36 (2003), S. 327-357. 7 Vgl. Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den König in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bonn 2000; Monika Wienfort, Zurschaustellung der Monarchie. Huldigungen und Thronjubiläen in Preußen-Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. Verfassungskultur als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005 (im Druck). 8 In der immer noch maßgeblichen Studie zur öffentlichen Wahrnehmung Wilhelms II., Elisabeth Fehrenbachs Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1871-1918), München/Wien 1969, kommen die Medien als Untersuchungskategorie nicht vor. Eine Untersuchung wie die von Andreas Schulz, die sich dem Verhältnis von Politik und Medien um 1900 widmet, geht wiederum auf die Monarchie nicht ein. Vgl. Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4].
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miteinander kontrastieren zu können, soll besonders auf die mediale Ausnahmesituation des Skandals geblickt werden. Der Auswahl zweier Beispiele aus einer großen Zahl potenzieller Fälle haftet immer etwas Willkürliches an. Für die Konzentration auf Deutschland und England sprechen allerdings gute Gründe. Die Durchsetzung der Massenmedien erfolgte in jeweils hervorstechender Weise. Während sich in Großbritannien die Massenmedien früher und in stärker differenzierter Form als in allen anderen Industriestaaten etablierten und hier die wesentlichen medialen Innovationen des 19. Jahrhunderts stattfanden, setzte die Entwicklung in Deutschland zwar später ein, entfaltete dann aber eine Dynamik, die selbst das Vorbild Großbritannien übertraf. Der Nexus zwischen technischen Neuerungen und deren Widerspiegelung in Veränderungen der Medienlandschaft war in Deutschland zudem besonders intensiv. Typen hoher Eigenart waren auch die monarchischen Systeme beider Länder. Der Begriff konstitutionelle Monarchie führt, da außerordentlich unscharf gebraucht, nur bedingt weiter.9 Auch die Rede von der parlamentarischen Monarchie für England beschreibt die Verfassungswirklichkeit nur ungenügend. Davon abgesehen kann die viktorianische Ausgestaltung der Monarchie gewissermaßen als Idealtypus und oft kopiertes Vorbild von der Hofhaltung bis zur Einordnung in das politische Kräftespiel gelten. Die Monarchie wilhelminischer Ausprägung – wiewohl keine Autokratie russischen Musters – trug hingegen deutlich cäsaristische Züge, die auf einem keineswegs gänzlich fiktiven persönlichen Regiment fußten.10 Neben den bedeutsamen Prärogativen in der Ernennung der leitenden Regierungsbeamten war es vor allem die oberste Kommandogewalt, die den deutschen Kaiser vom englischen Monarchen unterschied. Hinzu kam, dass Wilhelm II., wie auch immer seine politische Rolle gewertet wird, zweifelsohne ein Monarch war, der gewillt war, seine politischen Spielräume auszunutzen. Bis 1918 existierte der monarchische Selbstherrscher keineswegs nur als Phantom, ein Faktor, der in seiner Konsequenz für die Medien bisher kaum Berücksichtigung gefunden hat. Trotz dieser Unterschiede gilt für England wie für Deutschland, dass kein anderes politisches Thema über 30 Jahre hinweg in Zeitungen, Zeit-
—————— 9 Vgl. Kirsch, Monarch [wie Anm. 5], S. 69ff. Vgl. etwa die in Großbritannien gebräuchliche Rede von Edward VII. als erstem konstitutionellem Monarchen und die gänzlich andere zeitgenössische Verwendung des Begriffs bei Otto Hintze, Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten, in: ders., Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 390-423. 10 Vgl. Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, Berlin 1970, S. 119-142.
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schriften und Pamphleten aller Formen und politischen Richtungen eine solche Präsenz hatte wie die Monarchie bzw. die Träger der Krone.11 Im »alphabet of culture« (Aled Jones), den geteilten Geschichten und kulturellen Referenzpunkten, die das Konzept von Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts überhaupt erst ermöglichten, nahm sowohl in der deutschen als auch der englischen Gesellschaft die Monarchie einen herausragenden Platz ein. Die mediale Repräsentation der Monarchie wies allerdings erhebliche Unterschiede auf, die, so soll hier argumentiert werden, direkt und indirekt aus der unterschiedlichen politischen Funktion der Monarchie und ihrer Interpretation durch den Herrscher folgten.12 Zunächst soll das deutsche Beispiel in den Blick genommen werden. Hier wird bereits eine erste Klärung einiger genereller Charakteristika des Verhältnisses von Monarchie und Medien erfolgen, die anschließend mit den englischen Spezifika abzugleichen sind. Anschließend sollen, wiederum für beide Beispiele, Skandale als Fehlfunktionen und Störung monarchischer medialer Repräsentation analysiert werden.
I. Die mediale Repräsentation der wilhelminischen Monarchie Die Herausbildung von Massenmedien, vor allem die Frage einer Medienrevolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beschäftigen die Geschichtswissenschaft derzeit intensiv.13 Die Faszination mit den alten
—————— 11 Die ungeheure Präsenz des Monarchen in den Zeitungen weit jenseits bloßer Hofberichterstattung oder Illustriertenbilder scheint bisher nicht adäquat bewertet worden zu sein. Noch anschaulicher wird das Phänomen mit Blick auf die Zeitschriften. Intellektuelle, teils avantgardistische Neugründungen wie die Süddeutschen Monatshefte (1904), März (1907) und die Tat (1909) brachten in ihren frühen Nummern an prominenter Stelle das Kaiserthema. Die Tat begann ihr zweites Heft mit einer auf dem Titel platzierten Serie zum Thema »Der Kaiser und die Nation«. Im Jubiläumsjahr 1913 füllte eine Kaiserumfrage ein ganzes Heft. Naumanns Hilfe widmete sich regelmäßig dem Thema, Hardens Zukunft lebte davon. Selbst Hans Ostwalds Zeitschrift Das Kulturparlament widmete ihr erstes Heft (März 1909) unter der Überschrift »Die deutsche Verfassungskrise« ausschließlich der Monarchie als politisches Problem. 12 Das heißt, der »popular monarchism« wird weitgehend ausgeblendet. Vgl. hierzu: Alexa Geisthövel, Den Monarchen im Blick. Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse, in: Habbo Knoch/Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 59-80 und generell: Johannes Paulmann, Pomp und Politik: Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000. 13 Vgl. Anm. 4.
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neuen Medien spiegelt die generelle Erfahrung eines beschleunigten Wandels der Medien, bzw. Befürchtungen einer Manipulation der Medien durch die spin-doctors der Politik und einem Bedeutungsverlust politischer gegenüber medialen Foren.14 Konsequenterweise interessieren sich neuere Publikationen weniger für die bloße Beschreibung einer entstehenden Massenpresse um 1900 als vielmehr für die Deutung dieses Prozesses.15 Dieser Trend, beeinflusst durch die kulturalistische Wende, hat in letzter Zeit verschiedene Arbeiten zum Dreiecksverhältnis Politik – Medien – Öffentlichkeit für den Zeitraum des Kaiserreichs angeregt.16 Bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ist all diesen Arbeiten gemeinsam, dass sie eine einschneidende qualitative Veränderung der Medien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstatieren. Diese Veränderung, deren signifikanteste Ausprägung das Aufkommen der Massenmedien darstellt, wird als »zweiter Strukturwandel der Öffentlichkeit«, »massenmediale Sattelzeit«, »erste Stufe des massenmedialen Ensembles«, »Aufstieg der vierten Gewalt« und »Medienrevolution« charakterisiert.17 Der Begriff Massenmedien ist allerdings schillernd, verfügt über wenig Trennschärfe und trägt die Gefahr anachronistischer Sichtweisen in sich. Hier soll der Begriff deshalb verwendet werden, weil er immerhin recht klar das Ergebnis einer Veränderung der Medien – das heißt in diesem Kontext vor allem Zeitungen, aber auch eine neue Form von Massenbro-
—————— 14 Zum Begriff spin-doctor: Jenny Simon, Und ewig lockt der Spin Doctor… Zur Genealogie eines neuen Berufszweigs, in: vorgänge 41 (2002), S. 48-54. 15 Vgl. Kaspar Maase, Des Kanzlers Scorpions sind des Kaisers weiße Rößl, in: Merkur 55 (2001), S. 1138-1143. Einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion der Wechselwirkung zwischen Politik und Medien vermittelt das Heft der vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 158 (2002) zum Thema »Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft« und der sowi 3 (2002) zum Thema »Mediendemokratie – Mediokratie«. 16 Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995; Ders., Öffentlichkeit [wie Anm. 4] und insbesondere Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4]. 17 Weisbrod, Medien [wie Anm. 4], S. 271; Habbo Knoch/Daniel Morat, Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit, in: dies. (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 9-33; Schildt, Jahrhundert [wie Anm. 4], S. 195; Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4], Titel und S. 69. Vgl. auch die zeitlich deckungsgleiche Periodisierung der Durchsetzung der Populärkultur bei Kaspar Maase, Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900, in: ders./Wolfgang Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001, S. 928, hier S. 28.
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schüren beziehungsweise Pamphleten – bezeichnet, die sich – in England früher, in Deutschland später – im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog. In Deutschland, wo der Prozess besonders gut greifbar ist, äußerte er sich in einer Verdreifachung der Zahl der Zeitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei massiver Steigerung der Gesamtauflage. Technische Innovationen wie die Rotationspresse und die Falzmaschine erlaubten es ab etwa 1870, immer größere Auflagen immer kostengünstiger immer schneller zu produzieren. Hinzu trat ein stark verbesserter Vertrieb und hierdurch bedingt schärfere Konkurrenz. Was die Veränderung der Medienlandschaft hin zu massenmedialen Strukturen so bemerkenswert macht, ist eine regionale, soziale und politische Entgrenzung, die durch den Bedeutungsverlust der Pressezensur noch unterstrichen wird. Dieser Prozess wiederum bedingte, dass sogar Presseerzeugnisse, die kaum den Massenmedien zugerechnet werden können, durch deren Konkurrenz der massenmedialen Logik unterworfen waren. Hinzu kam, dass die Presse ein spezifisch großstädtisches Bedürfnis nach Orientierung und Verbindung der lokalen Lebenswelt mit universalen Entwicklungen befriedigte.18 Durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum bestimmten Zeitungen nun auch weit stärker als zuvor Gesprächsthemen.19 Zwei Trends betrafen die Kommentierung der Monarchie besonders: Die Verschärfung und Ausweitung kritischer Kommentierung und die Differenzierung bei parallelem Bedeutungsverlust parteipolitischer Festlegungen der Zeitungen. Veränderungen in der Berichterstattung resultierten aus einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Entwicklung. Die Zeitungslandschaft wurde gleichzeitig immer differenzierter – mit zahlreichen neuen Formaten – und uniformer. Die Marktorientierung der Zeitungen führte dazu, dass die traditionell vorhandene Affinität vieler Blätter zu einer Partei an Bedeutung verlor. In einer Marktsituation konnte es sich keine Zeitung leisten, die Informationsinteressen ihrer Leser zu negieren. Die Zeitungen waren darüber hinaus auf Parteimittel nicht mehr im früheren Maße angewiesen, konnten es sich aber nicht leisten, manifeste Stim-
—————— 18 Schildt, Jahrhundert [wie Anm. 4], S. 189; Requate, Öffentlichkeit [wie Anm. 4], S. 16. 19 Hierzu: Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass. 1996, S. 51ff.; Burkhard Asmuss, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin/New York 1994, S. 33 und jetzt: Frank Bösch, Zeitungsgespräche im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319-336.
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mungen in ihren Kommentaren zu negieren, nur weil dies die Parteilinie forderte.20 Dieser Trend galt nicht nur für die Massenpresse im engeren Sinne, sondern für alle Zeitungen, was seinen Grund nicht zuletzt in deren hoher Interaktivität hatte. Veröffentlichte eine Zeitung einen besonders originellen Artikel, fanden sich sofort andere Zeitungen, die diesen reproduzierten. In den großen Pressedebatten mit der Monarchie im Zentrum brachten Zeitungen zum Teil mehrere Seiten mit den Stimmen der jeweils anderen Blätter. Die Tatsache, dass ein bestimmter Artikel zum Kaiser in einem bestimmten Blatt erschien, war die Neuigkeit – nicht mehr primär die Kaiserrede, auf die dieser sich bezog. Gleichzeitig verfolgten Kommentare wachsam die politischen Urteile der Konkurrenz. Dieses Verfahren erhöhte einerseits die Intensität politischer Debatten und sicherte andererseits vielen Zeitungen, insbesondere denen, die als repräsentativ galten – wie zum Beispiel der Kreuzzeitung – eine Bedeutung, die weit über ihren Leserkreis hinausging. In diesem Prozess kam der Monarchie zunächst nur eine reaktive Rolle zu. Walther Rathenaus auf den wilhelminischen Regierungsstil gemünztes Diktum vom »elektro-journalistischen Cäsaropapismus« verweist aber bildhaft auch auf eine Monarchie, die sich unter dem Druck neuer massenmedialer Herausforderungen umzuformen begann.21 Mit der Medienexpansion ist das Thema der Personalisierung des Monarchiediskurses eng venüpft. Als »Signalperson« konnte Wilhelm II. zur willkommenen Antwort auf die viel kritisierte Massengesellschaft stilisiert werden.22 Der Kaiser veröffentlichte in einem bisher ungekannten Ausmaß seine Person. Er wurde – ein neues Phänomen – in der Karikatur personifiziert, tauchte als erste lebende Person in Deutschland auf einer Bildpostkarte auf, sein Geschmack, sein Aussehen, seine Meinung wurden zum Thema, seine Interpretation des Kaisertums ebenso wie sein einprägsames Äußeres gewissermaßen zum Markenprodukt.23
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Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 80. Walther Rathenau, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1919, S. 30. Friedrich Naumann, Das Königtum, in: Die Hilfe 4 (1909), S. 48-50, hier S. 46. Ein Berliner Photogeschäft warb beispielsweise mit 267 heroischen Posen des Kaisers und »Alle verschieden«. Robert G. L. Waite, Leadership Pathologies: The Kaiser and the Führer and the Decisions of War in 1914 and 1939, in: Betty Glad (Hg.), Psychological Dimensions of war, London 1990, S. 143-168, hier S. 145. Zur Darstellung des Monarchen auf Postkarten vgl. Otto May, Deutsch sein heißt treu sein. Ansichtskarten als Spiegel von Mentalität und Untertanenerziehung in der wilhelminischen Ära (18881918), Hildesheim 1998, S. 119ff.; Karin Walter, Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba, Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001, S. 46-61, hier S. 54ff. Zum Kaiser im Film: Klaus-D.
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Mit der notwendigen Umformung der Monarchie, ihrer Repräsentation und Darstellung durch die Massenmedien ist allerdings nur eine Seite der Medaille bezeichnet. Sowohl als Projektionsfläche existierender wie als »Anreger« entstehender Diskurse konnte der Monarch, zumindest in Deutschland, eine eminente Rolle spielen. Insofern wurden auch die Massenmedien durch die Existenz monarchischer Herrschaft beeinflusst. Monarchieberichterstattung ging wesentlich über die sentimentale Wiedergabe kaiserlicher Kutschfahrten oder die kritische Reportage eines Lapsus des Monarchen hinaus. Das Schreiben über den Herrscher war vielmehr ein entscheidendes Verständigungsmittel über politische Probleme. Die Kanalisierung des politischen Diskurses konnte nur ein herausragendes und übergreifend als bedeutsam akzeptiertes Thema wie die Monarchie garantieren. Der hervorgehobene Monarch im Stil Wilhelms II. erfüllte für die Medien zwei wesentliche Funktionen: Erstens erlaubte die herausgehobene, extraparteiische Figur des Monarchen der Presse, eine die Parteigrenzen überwindende Einheit in der Kommentierung herzustellen. Zweitens bot der Monarch einen dauerhaften und kontroversen Referenzpunkt. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich anhand der so genannten »Kaiserreden«. Diese Reden, die heute nurmehr als Beispiele kurioser Auffassungen Wilhelms II. bekannt sind, dienten der Presse des Kaiserreichs als willkommener Aufhänger für eine hier verdichtete politische Diskussion. Paradoxerweise entsprach damit gerade die traditionelle Institution Monarchie den Erfordernissen der modernen Medien nach griffigen Klischees.24 Mindestens ebenso überzeugend lässt sich die stetige Ernüchterung über die imperialen Formulierungsversuche der Reichsbefindlichkeit als Enttäuschung einer hohen Erwartung lesen. Ein deutliches Symptom die-
—————— Pohl, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders./Hans Wilderotter, (Hg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh/München 1991, S. 9-18; Martin Loiperdinger, Kaiser Wilhelm II.: Der erste deutsche Filmstar, in: Thomas Koebner (Hg.), Idole des deutschen Films, München 1997, S. 41ff. 24 Die Literatur zu den Kaiserreden ist nach wie vor unbefriedigend. Vgl. Sonja Reinhardt, »Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.« Formen der Herrschaftslegitimation in ausgewählten Reden von Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler, phil. diss., Hannover 1994; Ernst Johann (Hg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 1966 und als Fallbeispiel: Bernd Sösemann, Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 342-358.
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ser Überschätzung der Möglichkeiten des Monarchen ist, dass Kritiker wie Apologeten den Inhalt der Kaiserreden nahezu immer verabsolutierten, das heißt als Programm begriffen.25 Unbestritten waren die Reden das schillernde Markenzeichen Wilhelms II. Hierfür aber nur seine persönlichen Vorlieben als Grund zu veranschlagen, hieße ein strukturelles Bedürfnis zu verkennen. In nachgerade idealer Weise entsprachen die kaiserlichen Meinungsäußerungen den Bedürfnissen moderner Massenmedien nach komprimiert-bündiger, radikaler, schlagwortartiger Formulierung politischer Probleme. Sie füllten eine Leerstelle im politischen Kommunikationsprozess des Kaiserreichs. Die Reichstagsreden der einzelnen Parteipolitiker wurden zwar in der Presse oft abgedruckt, waren aber als Angelpunkte für öffentliche Diskussionen zu komplex und nicht ausreichend gegenüber konkurrierenden Verlautbarungen hervorgehoben. Die Kaiserreden hingegen, fast immer ohne Manuskript gehalten und daher durch den Reichskanzler kaum kontrollierbar, entsprachen zunächst den besonderen Bedingungen von Versammlungen, die eine »fiery language« forderten. Gerade dieses Charakteristikum verlieh ihnen, neben der Prominenz des Sprechers, mediale Relevanz.26 Eine intime, farbige Sprache traf nicht nur die Bedürfnisse der jeweiligen Versammlung, sondern gerade der Massenpresse, die mit ausführlich redigierten Thronreden weit weniger anzufangen wusste als mit kräftigen Politbildern – wie schief diese auch immer sein mochten.27
—————— 25 Beispielhaft für Verabsolutierung der Kaiserreden: Conrad Valentin, Der Kaiser hat gesprochen; wie haben wir Konservativen uns jetzt zu verhalten, Berlin 1889. Zur Verbindlichkeit der Kaiserreden für die protestantische Kirche: Bastiaan Schot, Wilhelm II., die Evangelische Kirche und die Polenpolitik, in: Stefan Samerski (Hg.), Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds, Berlin 2001, S. 133-170, hier S. 166. 26 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 40. 27 Für die Deutung der Kaiserreden als eines nicht notwendigen, strukturell aber naheliegenden Phänomens spricht zudem, dass ähnliche Erscheinungen international auftraten. William Gladstone war der erste Politiker, der in den 1880er Jahren, also kurz vor der Thronbesteigung Wilhelms II., erfolgreich die neuen medialen Möglichkeiten zur Multiplizierung politischer Willensäußerungen ausnutzte. Gladstone verband universale und spezifische Aussagen in seinen Reden dergestalt, dass er ein lokales Auditorium erreichte und die jeweilige Rede als Ereignis wiederum den Aufhänger bot, um eine Aussage medial zu verbreiten. Vgl. Joseph S. Meisel, Public Speech and the Culture of Public Life in the Age of Gladstone, New York 2001, S. 223ff. Der zeitgleich mit Wilhelm II. amtierende amerikanische Präsident Theodore Roosevelt machte sich dieses Phänomen dann ebenso zunutze wie der deutsche Kaiser. Ragnhild Fiebig-von Hase, The uses of »friendship«. The »personal regime« of Wilhelm II and Theodore Roosevelt, 1901–1909,
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Für die massenmedial vermittelte monarchische Repräsentation waren die Reden insofern besonders bedeutsam, als sie Hoffnungen auf eine direkte Kommunikation weckten. Dies illustrieren die Reaktionen auf zwei Kaiserreden und ein veröffentlichtes Gespräch aus den Jahren 1906 und 1907. Angefangen mit der bald so genannten »Schwarzseherrede« vom 8. September 1906 in Breslau, bilden alle drei kaiserlichen Wortmeldungen Beispiele einer eigentümlichen Mischung aus der Einforderung einer positiven Haltung gegenüber der Reichsentwicklung und einer selbst für wilhelminische Verhältnisse ungewöhnlichen Herausstellung monarchischer Subjektivität.28 Während in der »Schwarzseherrede« das erste Motiv bestimmend und die Reaktionen überwiegend ablehnend waren, zeigte sich im Gespräch Wilhelms II. mit dem Schriftsteller Ludwig Ganghofer im November 1906 und in der Münsteraner Rede vom August 1907 ein Herrscher, der öffentlich und mit viel Zustimmung über sein Innenleben reflektierte und dabei Ansätze einer selbstkritischen Haltung erkennen ließ.29 Im Gespräch mit Ganghofer erklärte Wilhelm II., man müsse »immer wieder mit neuem Vertrauen an die Menschheit und an das Leben herantreten«, und wandte sich gegen die »Reichsverdrossenheit.« Anschließend fuhr der Kaiser fort, im Stile einer Homestory die »Art und Weise, wie er täglich arbeite«, zu schildern, zu erläutern, »wie ihn oft die Fülle und Schwere der Pflichten und Arbeiten, die auf ihn herabstürmten, schwer ermüden«, sowie Details aus seinem Familienleben wiederzugeben.30 Selbst gegenüber dem Monarchen distanzierte Zeitungen wie das Berliner Tageblatt hoben den individuellen Charakter des Gesprächs lobend hervor. Aller-
—————— in: Annika Mombauer/Wilhelm Deist (Hg.), The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s Role in Imperial Germany, Cambridge 2003, S. 143-175. 28 Anlässlich eines Festmahls für die Provinz Schlesien erklärte Wilhelm II.: »Den Lebenden gehört die Welt, und der Lebende hat recht. Schwarzseher dulde ich nicht, und wer sich zur Arbeit nicht eignet, der scheide aus, und wenn er will, suche er sich ein besseres Land.« Vgl. Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 113ff. Zum Echo der Rede: ebd., S. 148f. und Friedrich Zipfel, Kritik der Öffentlichkeit an der Person und an der Monarchie Wilhelms II. bis zum Ausbruch des Weltkrieges, Masch. Diss., Berlin 1952, S. 114. Vgl. zu den Topoi der Rede auch schon die Rede »Das deutsche Volk in Waffen« (26. Oktober 1905), Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 113. 29 Eine Erläuterung des Ganghofer-Gespräches findet sich bei Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 117ff. Das Gespräch wurde zunächst durch die Münchener Neuesten Nachrichten, anschließend durch fast alle großen Zeitungen zumindest in Ausschnitten reproduziert. Die Münsteraner Rede hielt Wilhelm II. anlässlich eines Festmahls für die Provinz Westfalen. 30 Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 116ff.
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dings beharrte der Kommentator des Tageblatts darauf, dass Skepsis und Misstrauen die in der Politik angebrachten Geisteshaltungen seien.31 Derartige Bedenken fehlten vollständig im enormen Presseecho auf die Münsteraner Rede.32 In der Mitte der Rede, nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass vor allem durch die Religion die »Einigung aller unserer Mitbürger« möglich sei, erklärte Wilhelm II.: »Ich habe in Meiner langen Regierungszeit – es ist jetzt das zwanzigste Jahr, das ich angetreten habe – mit vielen Menschen zu tun gehabt und habe vieles von ihnen erdulden müssen, oft unbewußt und leider auch bewußt haben sie Mir bitter weh getan.«33 Diese Äußerung, an deren »tiefgehende[r] Wirkung«34 und Signifikanz für alle Kommentatoren kein Zweifel bestand, galten als Einladung, die Persönlichkeit des Kaisers, der schließlich »seinen monarchischen Beruf ganz persönlich« interpretiere, ohne Zurückhaltung zu diskutieren.35 Nach den Enthüllungen des Eulenburg-Skandals über die kaiserliche Umgebung drei Monate zuvor konnte die Münsteraner Beichte als Eingeständnis eines überforderten Monarchen gelesen werden. Dieser suchte nun, so die idealisierte Version, den Kontakt zu seinem Volk, von dem er nicht nur bisher durch unbefugte Kräfte getrennt gewesen war, sondern dessen Hilfe es ihm erst ermöglicht hatte, den Charakter dieser Kräfte zu durchschauen. Offensichtlich war es gerade dieses Thema, das dem emotionalen Ausbruch des Monarchen Bedeutung zukommen ließ. Man habe »zum ersten Male den Eindruck gewinnen dürfen, daß der Kaiser, der unter dem freimütigen, früher undenkbaren Eingeständnis begangener Fehler jetzt nur noch eine unbefangenere, gerechtere Beurteilung fordert, sich auf der eisigen Höhe des Thrones einsam fühlte, daß er aus dem schwülen Dunstkreise höfischer Schmeichler eine Art Flucht in die Öffentlichkeit unternahm, um sich dem Herzen der Nation wieder zu nähern, und daß er jetzt auch den Wert loyalen Widerstandes, die Berechtigung einer unabhängigen öffentlichen Meinung erkennt und um ihre Anerkennung wirbt.« Seitdem sei die öffentliche Meinung langsam zugunsten des Kai-
—————— 31 Paul Michaelis, Politische Wochenschau, Berliner Tageblatt, 25. November 1906, (Nr. 599). 32 Die Ausschnittssammlung des Reichslandbundes enthält mehr als 100 Artikel zum Thema. BAL R 8034 II (RLB-Archiv), Bd. 4009, Blatt 98ff. 33 Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 120ff. 34 Die Kaiserrede in Westfalen, in: Deutsches Adelsblatt 25 (1907), S. 465-466. 35 Die Kaiserrede in Münster, in: Die Grenzboten 66 (1907), S. 541-544.
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sers umgeschwenkt, hieß es in der Deutung, die die Tägliche Rundschau ihren Lesern anbot.36 Über die neue Qualität der kaiserlichen Äußerungen waren sich alle Zeitungen einig. Neu sei ein »Selbstbekenntnis, welches den auf höchster Warte stehenden Monarchen uns menschlich so nahe bringt, [ …] daß wir alle uns über solche ergreifende Offenheit nicht genug freuen können«, hieß es im Tag.37 Dieses Bekenntnis sei »ergreifend, [...] weil es gerade hier in so eigenartigem Gegensatz steht zu der Auffassung, die sonst wohl aus den Kaiserreden zu uns drang«.38 Die Bedeutung der Rede liege vor allem darin, dass »Kaiser Wilhelm in ihr ein fesselndes Bekenntnis ablegt über die Art wie er seinen Herrscherberuf auffaßt«. Man könne sich des »Eindrucks nicht erwehren, als sei im Wesen unseres Kaisers eine tiefgründige Wandlung« vor sich gegangen. So habe er noch nie zu seinem Volke gesprochen: »Er bittet förmlich, daß man ihm und seinem ehrlichen Wollen Vertrauen entgegenbringe, daß man seiner rastlosen Mitarbeit am Wohle des Vaterlandes keine Hindernisse in den Weg lege.« Durch die überschwänglich positive Deutung eines Einzelfalls wurde auf ein generell empfundenes Problem aufmerksam gemacht. Das Diskussionsfeld verengte sich immer mehr auf die Person des Monarchen. Ganghofer-Gespräch und Münsteraner Rede bieten markante Beispiele für die Personalisierung und Individualisierung des Monarchiediskurses.39 Die Reaktionen auf diese monarchischen Wortmeldungen belegen zudem die zentrale Vorstellung, der Monarch müsse sich der öffentlichen Meinung unterordnen. Dies geschah in der Reduktion des Monarchen auf das Individuelle und die damit verbundenen Verstehensmöglichkeiten, aber auch in regelrechten Demutsgesten, wie sie vom Monarchen etwa nach der DailyTelegraph-Affäre erfolgreich eingefordert, in der Münsteraner Rede aber bereits vorweggenommen wurden.40
—————— 36 F. St. V., Der Kaiser nach zwanzigjähriger Regierung, Tägliche Rundschau, Berlin, 14. Juni 1908, (Nr. 275). Ebendies behauptete auch der Artikel Zu Kaisers Geburtstag, Deutsche Tageszeitung, 26. Januar 1908, (Nr. 43). 37 Militäroberpfarrer R. Falke, Der religiöse Standpunkt unseres Kaisers, Der Tag, 6. September 1907. 38 Spectator, Alle sind Menschen wie Du, Der Tag, 31. September 1907. 39 Vgl. Martin Kohlrausch, Der unmännliche Kaiser. Wilhelm II. und die Zerbrechlichkeit des königlichen Individuums, in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin, Frankfurt/M. 2002, S. 254-275. 40 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Dirk Tänzler, Zur Geschmacksdiktatur in der Mediendemokratie. Ein Traktat über politische Ästhetik, in: Merkur 57 (2003), H. 655, S. 1025-1033.
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Die Beobachtungen aus den Jahren 1906 und 1907 reflektieren den Erfahrungsprozess mit einem neuen Phänomen, das spätestens zu diesem Zeitpunkt als krisenhaft empfunden wird. Es ist nicht ohne Relevanz, dass sensible Beobachter wie Thomas Mann, Rudolf Borchardt und Otto Julius Bierbaum in ihren mehr oder weniger verschlüsselten Auseinandersetzungen mit der wilhelminischen Monarchie zu diesem Zeitpunkt das »Volk« bewusst durch ein »Publikum« ersetzten.41 Dem Publikum, das sich als solches begreift, steht hier der Repräsentant gegenüber.42 Das »reale« Publikum wusste sehr genau um die Regeln der Darbietung, die der Monarch bot, und die Zwänge, unter denen er handelte. Die Massenmedien brachten eine riesige Zahl informierter Kaiserdiskutanten hervor, die über ein gemeinsames, oft intimes Wissen verfügten und mit einem geteilten Set von Kriterien und Maßstäben urteilten. Es existierten genaue Vorstellungen über das, was vom Monarchen erwartet werden konnte.43 Der Monarch wiederum stand diesen strukturellen Veränderungen nahezu machtlos gegenüber. Seine Positionierung in der Öffentlichkeit steuerte zwischen der Scylla einer nicht mehr länger akzeptierten Zurückgezogenheit und der Charybdis einer Trivialisierung der »öffentlichen Monarchie«.44 Die Spielregeln des medialen Massenmarktes forderten eine sichtbare und vernehmbare politische Führungsfigur, die dann wiederum bevorzugtes Objekt der Kritik wurde.45 Im Phänomen des Redekaisers zeigt sich anschaulich diese Ambivalenz.
—————— 41 Vgl. Bierbaum, Kuckuck [wie Anm. 1], S. 590 und 595 und die auffallend ähnliche Sicht in Thomas Mann, Königliche Hoheit, Berlin 1909, S. 258 sowie die Verwendung des Begriffs »Publikum« bei Rudolf Borchardt, Der Kaiser, in: Süddeutsche Monatshefte 5 (1908), S. 237-250, hier S. 240, 247. 42 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur frühneuzeitlichen Monarchie. Vgl. Engels, Königsbilder [wie Anm. 7], S. 258. 43 Dieses Problem klingt im Konzept der Theatralität an, scheint hierin in seiner politischen Relevanz aber nur ungenügend erfasst. Auf den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der Massenmedien und der Theatralisierung der Monarchie ist zuletzt immer wieder verwiesen worden. Zum Konzept der Theatralität: David Blackbourn, Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 249ff. Zum Zusammenhang von Theatralität und Benutzung von Symbolen durch Wilhelm II. Thomas A. Kohut, Wilhelm II and the Germans: A Study in Leadership, New York/Oxford 1991, S. 143. Zum Begriff des Publikums jetzt Paulmann, Pomp [wie Anm. 12], S. 21, 379. 44 Carl Techet urteilte: »Zerstört haben den Glauben die Fürsten selbst, denn er bedürfe der Distanz, und diese ist trotz aller Unnahbarkeit, womit sich ein Fürstenhof umgibt, verloren gegangen [...]. Das Mysterium ist zerstört worden durch die illustrierten Blätter und den Kinematographen.« Carl Techet, Völker, Vaterländer und Fürsten. Ein Beitrag zur Entwicklung Europas, München 1913, S. 413ff. 45 Noch 1913, nach unzähligen desillusionierenden Vorstößen Wilhelms II. in die Öffentlichkeit, kritisierte der Anthropologe Eugen Fischer diejenigen, die glauben, man müsse
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Die einschlägige Forschung hat immer wieder hervorgehoben, dass die offensive Selbstdarstellung im Naturell Wilhelms II. lag oder sogar zu seinem Programm einer »persönlichen Monarchie« gehörte. Es liegt aber nahe, die strukturellen Gründe hierfür zu betonen. Öffentlich formulierte Erwartungen an den Kaiser als Angelpunkt des politischen Diskurses und das Ideal eines Monarchen, der den politischen Konsens und politische Ziele formulierte, drängten nach einer aktiveren Interpretation der Monarchie. Das deutsche Beispiel des Zusammenspiels von Monarchie und Medien zeigt also, dass nicht nur die veränderten Medien auf die Monarchie einwirkten, sondern dass die spezifisch wilhelminische Ausprägung einer politisch relevanten und durch die Person des Monarchen geprägten Monarchie bedeutsam für ihre Repräsentation in den Medien war. Überspitzt formuliert ließe sich vom Versuch einer »aktiven Repräsentation« sprechen. Am Beispiel der gänzlich anders verfassten englischen Monarchie soll dieser Befund überprüft werden.
II. Das englische Beispiel Bekanntlich war monarchische Macht seit 1688 in England faktisch nicht ausgeschaltet, aber doch außerordentlich wirksam beschränkt. Zwar verdeckt die Rede von der parlamentarischen Monarchie, dass auch in England Machtresiduen des Monarchen überdauerten und die persönliche Interpretation des Herrscheramts durch den Träger der Krone relevant blieb. Dies ändert aber zunächst nichts am grundlegenden Unterschied zum nicht nur herrschenden, sondern eben potenziell auch regierenden deutschen Monarchen.46 David Cannadines mittlerweile klassische Studie zu den erfundenen Traditionen der englischen Monarchie hat aus dieser Tatsache auf die Spezifizität der Repräsentation der englischen Monarchie geschlossen:
—————— die Macht des Kaisers beschränken, um sie zu erhalten. Solche Ideen entsprächen nicht den Anforderungen an moderne Herrschaft. Des Kaisers Aussagen über seine Verachtung der öffentlichen Meinung seien daher tatsächlich »ein Appell an die öffentliche Meinung«. Erst die Popularität der Monarchie sei deren Rechtfertigung: Eugen Fischer, Des Kaisers Glaube an seinen göttlichen Beruf, in: Die Tat 5 (1913), S. 574. 46 Zum Zusammenhang zwischen Vorhandensein einer Monarchie und dem typisch englischen evolutionären Wandel: Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995, S. 2.
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»And so, as the real power of the monarchy waned, the way was open for it to become the centre of grand ceremonial ritual once more. In other countries, such as Germany, Austria and Russia, ritualistic aggrandizement was employed as of old, to exalt royal influence. In Britain, by contrast, similar ritual was made possible because of growing royal weakness.«47
Cannadines suggestive Deutung hat in der Zwischenzeit viele weitere Studien zu monarchischen Ritualen angeregt, aber auch Kritik auf sich gezogen. Dies galt insbesondere für den manipulativen Charakter, den Cannadine den neuen oder nicht so neuen monarchischen Ritualen unterstellte.48 Für die hier interessierende Frage nach der medialen Bedingtheit von Herrschaftsrepräsentation stellt sich jedoch ein weiteres Problem. Nach Cannadines Deutung ging die Monarchie sukzessive im Ritual auf, in einer bloßen einseitigen Verkörperung von Tradition und Empire. Eine Funktion als Diskursanker, wie oben für die wilhelminische Monarchie skizziert, bliebe damit ausgeschlossen. Cannadine berichtet zwar, dass die Monarchie lange Zeit das beliebteste Objekt von Zeitungskritik war.49 Außerdem bestand bis weit in die 1870er Jahre keineswegs ein Konsens darüber, dass der Einfluss der Monarchie abnahm.50 Dies sind für ihn aber Phänomene vor der Einhegung der Monarchie im Ritual, die sich während der Herrschaft Victorias in den 1870er Jahren endgültig vollzog. Gemäß Cannadines Interpretation verschwand die Monarchin als kontroverses Thema aus den Medien. Die Königin hingegen sei zu einem neutralisierten Staatsoberhaupt jenseits auch der medialen politischen Bühne geworden. Für diesen säkularen Trend sieht Cannadine eine zweite Bedingung als konstitutiv an, nämlich die bereits skizzierte Medienrevolution. Mit dem Aufkommen der Boulevardpresse seien Nachrichten zunehmend sensationell aufbereitet worden, während die überkommene, vernunftgeleitete, intellektuelle liberale und regionale Presse von den großen nationalen Tageszeitungen überflügelt worden sei. Diese Zeitungen waren in der Tendenz konservativ, vulgär und auf die Arbeiterklasse ausgerichtet. Zumindest in der Mainstream-Presse wurde die Monarchie nun sakrosankt. Kritik an der Institution und der Trägerin der Krone findet
—————— 47 David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British Monarchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820-1977, in: Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164, hier S. 121. 48 Kuhn, Royalism [wie Anm. 5], S 1-9. 49 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 111. 50 Williams, Royalism [wie Anm. 5], S. 146.
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sich fast ausschließlich in der ausländischen Presse.51 Diese Zangenbewegung aus veränderter Verfassungswirklichkeit und einer der Monarchie günstigen Neuformierung der Medienlandschaft bewirkte, dass die Ausprägungen eines auch in Deutschland vorhandenen popular monarchism weitaus seltener durch politische Diskussionen über Handlungen der Monarchin überlagert wurden. Vielmehr wurden Fragen der Ausgestaltung von Jubiläen selbst zu in der Presse reflektierten Problemen. Allenfalls Organisations- und Kostenaspekte der Festveranstaltungen erregten noch Kritik. Hier kommt nun ein Phänomen ins Spiel, das sich so in Deutschland nicht feststellen lässt. William Kuhn konnte nachweisen, wie »democratic royalists«, das heißt der Monarchie ebenso wie dem Parlament verpflichtete Männer wie Walter Bagehot oder Lord Esher, konsequent die Monarchie den Erfordernissen einer Mediengesellschaft anpassten. In England existierte eine als Berater nur unzureichend gekennzeichnete Gruppe, die sowohl die Person des Monarchen als auch die Institution Monarchie strategisch umzuformen wusste und mit ihren Vorschlägen durchdrang.52 Dies gewann für die Darstellung der Monarchie in den Massenmedien entscheidende Bedeutung. Handlungen der Monarchin beeinflussten selten die Tagespolitik. Entsprechend weniger auffällig war daher in England die Personalisierung politischer Fragen in der Herrscherperson. Allerdings lässt sich hier eine umfangreiche und tief greifende Diskussion der Institution Monarchie feststellen. Erst die jüngere Forschung hat die Stärke der republikanischen Bewegung in England hervorgehoben. Die umfangreiche Publizistik dieser politischen Strömung kritisierte unter dem Stichwort »Old Corruption« vor allem die Kosten der Monarchie. Es erwies sich, dass im Parlament diskutierte und in der Presse breit kommentierte Mitgiften und Anweisungen für zweitrangige Royals medial Gewinn bringend verwertbar waren. Die in der Zivilliste illustrierten Kosten der Monarchie ließen sich anschaulich deren Leistungen gegenüberstellen und in Kritik an Privilegien der Geburt – unter dem Stichwort »lottery« – sowie Forderungen nach einer vollständig meritokratischen Gesellschaft einbinden. Insbesondere der Rückzug der Queen aus dem öffentlichen Leben nach dem Tod Alberts führte zur Behauptung, sie erfülle keine der Pflichten, für die sie »bezahlt« werde. Das Beispiel Victorias zeigt, wie bestimmte Bilder der Herrscherperson als twin representations nebeneinander existieren konnten. In einer Art dual
—————— 51 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 122f. 52 Kuhn, Royalism [wie Anm. 5], S. 142.
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identity wurde Victoria gleichzeitig als vorbildliche Mutter und Witwe, aber auch problematische Königin präsentiert, die ihren Pflichten nicht nachkam und ein Verhältnis mit ihrem Kammerdiener John Brown unterhielt.53 Die Geburt neuer Kinder wurde sentimental begrüßt, zu viele Nachkommen boten aber Anlass für heftige Kritik der Kosten der königlichen Familie. Besonders der Fall des Kronprinzen, des notorisch skandalträchtigen Edward, zeigt, dass Kritik sehr fein abwägen und differenzieren konnte. Die im Rückblick – und im Vergleich mit Wilhelm II. – so auffällige milde Bewertung Victorias in der veröffentlichten Meinung hat schließlich ihre Ursache auch in einer frühen und erfolgreichen Feminisierung der Monarchie, die die Zurückdrängung der Monarchin aus dem politischen Raum unterstütze.54 Hier zeigt sich, dass keineswegs die englische Monarchie kongenial auf die Massenmedien reagierte, sondern auch in England, freilich anders als in Deutschland geartete, Defizite registriert wurden. Walter Bagehots theoretischer Entwurf einer zurückgezogenen Monarchie bot erst im Rückblick eine konsensuale Blaupause für die praktische Politik. Als Prominentester – keineswegs als Einziger – forderte Benjamin Disraeli einen persönlicheren Charakter der Monarchie. Der Premier schwärmte von einer direkten Verbindung zwischen öffentlicher Meinung und Monarchie und behauptete: »The proper leader of the people is the individual who sits upon the throne.«55 Ganz ähnlich wie selbst liberale Kommentatoren im wilhelminischen Deutschland sah Disraeli in einer direkten Kommunikation von Medien, die die Anliegen der bisher nicht repräsentierten Gruppen übernahmen, und der Monarchie eine gegenüber hergebrachten Repräsentationsmechanismen fortschrittlichere und überlegene Variante. Dass in diesem Schema die Monarchie keine zurückgezogene bleiben konnte, verstand sich von selbst. Die Pläne und Visionen Disraelis, die so gut in eine neue Welt der Massenmedien zu passen schienen, blieben allerdings im Ansatz stecken. Die Advokaten einer begrenzten Monarchie schafften es, die Pläne als etwas genuin Unenglisches und gegen die englische politische Tradition Verstoßendes zu entlarven. Konfrontiert mit leicht abrufbaren Ressenti-
—————— 53 Taylor, Crown [wie Anm. 5], S. 46f. 54 Dorothy Thompson, Queen Victoria: Gender and Power, London 1990; Bernd Weisbrod, Die theatralische Monarchie. Victoria als Family Queen, in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin, Frankfurt/M. 2002, S. 236-253. 55 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 125. Vgl. jetzt auch: Andreas Rödder, Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846-1868), München 2002.
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ments gegen die deutsche Dynastie auf dem Thron verfing sich Disraeli in einer massenmedialen Logik, die er eigentlich für seine Zwecke nutzen wollte. Selbst Bagehot musste feststellen: »To be invisible is to be forgotten. [...] To be a symbol, and an effective symbol, you must be vividly and often seen.«56
III. Medienskandale – Monarchieskandale Nach dem bisher Gesagten überwiegt der Eindruck einer Erfolgsgeschichte der zwei Wege zur Medienmonarchie. Während sich in Deutschland der politische Monarch offenbar erfolgreich als Diskursanker und Projektionsfläche etablieren konnte, gelang es der englischen Monarchie durch Selbstaufgabe, zum Hauptlieferanten der Sentimentalitäten fordernden Massenmedien aufzusteigen. Durch den Blick auf Medienskandale, also Skandale, die Anlass und Verlauf medialer Logik verdanken und nicht per se existieren und die wiederum auf den Monarchen fokussierten, soll nun der Blick auf die andere Seite der Medaille monarchischer Repräsentation im Medienzeitalter gelenkt werden, auf die Risiken und auch Aporien der Medienmonarchie. Skandale sollen hier als Störung gelingender Repräsentation verstanden werden. Als erster reiner Medienskandal der wilhelminischen Monarchie – und der Monarchie in Deutschland überhaupt – kann die so genannte »CaligulaAffäre« gelten. Hierbei handelt es sich um den Skandal, den eine Broschüre des Historikers Ludwig Quidde, formal über den römischen Kaiser, tatsächlich und leicht identifizierbar allerdings über Wilhelm II., verursachte. Das Pamphlet verkaufte sich in einer Auflage von 200 000 so gut wie keine andere politische Schrift des Kaiserreichs, charakteristischerweise allerdings erst, als es die konservative Kreuzzeitung übernommen hatte, durch eine nur vordergründig gehässige Besprechung auf die Schrift aufmerksam zu machen und en passant die diskreditierenden Stellen des Inhalts zu referieren.57
—————— 56 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 119. 57 Zur Affäre vgl. die Einleitung von Hans-Ulrich Wehler in: ders. (Hg.), Ludwig Quidde, Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, Frankfurt/M. 1977, S. 7-18; Gisela Brude-Firnau, Die literarische Deutung Kaiser Wilhelms II. zwischen 1889 und 1989, Heidelberg 1997, S. 32ff. sowie die Schilderungen zum »Tathergang« in Utz-Friedbert Taube, Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland, München 1963, S. 3ff. Weiterführende Informationen zu Hintergrund und
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Die merkwürdige Affäre war in der Tat von Anfang bis Ende ein reines Medienereignis, das allerdings ohne den Monarchen im Hintergrund undenkbar war. Der Skandal entstand ohne konkreten Anlass in der Presse und entfaltete seine eigentümliche, neuartige Wirkung gerade aus der Thematisierung dieser Tatsache. Es gehört zu den generellen Eigenarten des Medienskandals, dass dieser einen hohen Grad an Homogenität in der Behandlung des fraglichen Themas bewirkt. Was eine Zeitung brachte, nahmen andere Blätter umgehend auf. Durch die Wiedergabe in der Presse erhöhte sich wiederum die Bedeutung des Falls und dieser erschien in noch höherem Maße berichtens- und kommentierenswert. Dieser Spiegelungseffekt hob den Caligula nicht nur erst ins öffentliche Bewusstsein und machte ihn zum Ereignis; er garantierte auch die qualitative Veränderung der Kommentierung. Dies galt insofern, als sich die einschlägige Diskussion für kurze Zeit extrem verdichtete und intensivierte und hierdurch erst gemeinsam geteilte Referenzpunkte schuf. Die bisher eher als kuriose Marginalie behandelte Caligula-Affäre führte zum ersten Mal die Dynamik des monarchischen Medienskandals beziehungsweise medialen Monarchieskandals vor. Innerhalb kürzester Zeit erschienen mindestens 15 Pamphlete. In der Affäre wurde offensichtlich die Diskrepanz zwischen Wissen um die offensichtliche Überforderung des Monarchen und deren gleichzeitiger Akzeptanz zum ersten Mal öffentlich verhandelt – also im Kern ein Versagen des Monarchen als Repräsentationsinstanz. Sprachregelungen, die auf die Individualität und charakterliche Eigenart des Monarchen abstellten, indizierten das Problem einer gewussten Kalamität eher als dass sie es verdeckten. Sie verwiesen zudem auf ein gesteigertes Interesse am Individuum Monarch. Sehr deutlich demonstrierte bereits die Caligula-Affäre die Ambivalenz von Skandalen für die Monarchie. Zwar bestätigte auch die entgrenzte Diskussion die grundlegenden Konventionen des Sprechens über den Monarchen. Allerdings zeigt der Skandal auch, dass diese zwar noch beachtet wurden, aber zunehmend der Monarch selbst in den Mittelpunkt rückte. Die Institution Monarchie selbst blieb allerdings außerhalb der Kritik. Noch schärfer offenbart sich dieser Zusammenhang im EulenburgSkandal von 1907/08, zumal wenn man diesen als Teil eines Doppelskandals unter Einschluss der Daily-Telegraph-Affäre betrachtet. Auch dieser
—————— Rezeption des Caligula bieten jetzt: Karl Holl/Hans Kloft/Gerd Fesser (Hg.), Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des »Caligula« von Ludwig Quidde, Bremen 2001.
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Skandal um den vermeintlich homosexuellen Freund und Berater Willhelms II. Philipp Eulenburg und den ebenfalls vermeintlichen Aufklärer Maximilian Harden folgte ausschließlich der Logik der Medien. Begünstigt durch 1907 stark gelockerte, darüber hinaus in der praktischen Anwendung obsolet werdende Majestätsbeleidigungsgesetze boten die einschlägigen Gerichtsprozesse um Verleumdung und Meineid Rahmen und Aufhänger für eine dauerhafte, begrifflich konsistente, immer radikalere und fokussierte Diskussion des Monarchen. Allein das Berliner Tageblatt brachte mindestens 150 kommentierende Artikel, die sich mit dem Skandal befassten. Selbst wenn man den sensationellen Aspekt in Rechnung stellt, bleibt als ausschlaggebendes, Interesse sicherndes und Kommentatoren unterschiedlicher Formate und unterschiedlicher politischer Richtungen verbindendes Element der politische Gehalt des monarchischen Skandals.58 Eine mediale Öffentlichkeit, die sich gegenüber dem Monarchen konstituierte, gehörte zu den wesentlichen Erfahrungen der Presse aus den Medienskandalen mit dem Monarchen im Zentrum. Bei Fortdauer »naturgegebener« Unterschiede, bedingt durch die politische Position, lässt sich insbesondere in den Kategorien der Argumentation eine inhaltliche Angleichung des Sprechens über den Monarchen konstatieren. Wenn es 1894 die Kreuzzeitung übernahm, den Caligula-Skandal vom Zaun zu brechen, und ein Jahr später Heinrich Pudor, einer der Aktivisten der Nudistenbewegung, für den Kaiser in die Bresche zu springen, wird dieses Phänomen offensichtlich. Während in der Caligula-Affäre die parteipolitische Verortung, trotz offensichtlicher Erosionserscheinungen, die Kommentare noch bestimmte, gilt dies für die Eulenburg-Affäre bereits nicht mehr. Die Daily-Telegraph-Affäre brachte einen weiteren Angleichungsschub. Diese Transformation war nur durch ein verbindendes politisches Top-Thema möglich, das in der politischen Landschaft des Kaiserreichs nur der Monarch sein konnte. In der Verdichtung des Monarchiediskurses im Skandal, in der sich die Presse und die Pamphletisten als einheitlich handelnde Gruppe erfuhren, bildete sich das oben skizzierte Publikum heraus.59
—————— 58 Die solideste und ausführlichste Darstellung des Skandals liefert: Karsten Hecht, Die Harden-Prozesse – Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, Jur. Diss., München 1997, die überzeugendste Interpretation: Isabel V. Hull, The Entourage of Kaiser Wilhelm II 1888-1918, Cambridge 1982, S. 109ff. 59 Vgl. die Studien zum Thema von Terence F. Cole, The Daily-Telegraph affair, in: John C. G. Röhl/Nicolaus Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, London/New York 1982, S. 249-268 und jetzt vor allem: Peter Winzen, Das Kaiserreich am
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Die Skandale bezeugen aber auch den angesprochenen, massenmedial bedingten Trend hin zu immer größerer Intimität in der Darstellung von Politikern. Politiker wurden zunehmend aufgrund persönlicher Qualitäten anstelle politischer Leistungen beurteilt. Ein Kennzeichen dieser Verschiebung war die Präsentation politischer Führer als Menschen, die Aspekte ihres Charakters bewusst in die Öffentlichkeit stellten. Bezeichnenderweise lassen sich Belege hierfür in den indirekten Reaktionen Wilhelms II. auf den Eulenburg-Skandal deutlich ausmachen. In den außerordentlich wohlwollenden Reaktionen auf die Münsteraner Rede, die das integre Individuum anstelle des schweigend übergangenen politischen Versagers hervorhoben, findet diese Beobachtung eine Bestätigung. Die Vermenschlichung, die »mediated intimacy« (Thompson) des Monarchen bot erhebliche Chancen und Risiken für Letzteren. Auf der Habenseite stand die Möglichkeit, das Volk direkt anzusprechen und als ein Individuum zu erscheinen, das Empathie oder Sympathie hervorrufen konnte. Auf der Sollseite stand hingegen das, was in den Skandalen thematisiert wurde – die persönlichen Qualitäten Wilhelms II. Wie ein Negativ veranschaulichen die Skandale das Scheitern der extremen Erwartungen in den Monarchen. Dies gilt weniger, wie immer wieder zu lesen, für die Einsicht in die politische Inkompetenz des Herrschers als vielmehr für das Scheitern des Modells der aktiven Repräsentation. Die Skandale der Regierung Wilhelms II. können als unmittelbare Folge der nicht erbrachten Kommunikationsleistungen des Monarchen gesehen werden. Ein Skandal wie der um Eulenburg, in dem es im Kern um die Information des Monarchen ging, unterstreicht dies deutlich. Während die Beispiele skandalöser Ereignisse für die wilhelminische Monarchie leicht fortgeschrieben werden könnten – man denke an die Kladderadatsch-Affäre, die Kotze-Affäre oder an die unzähligen öffentlichen Ärgernisse, die durch allzu markante Reden Wilhelms II. ausgelöst wurden, stellt sich dies für die englische Monarchie ungleich schwieriger dar – zumindest für die viktorianische Zeit. Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, zumal während der hartnäckigen Queen-Caroline-Affäre, war die englische Monarchie außerordentlich skandalanfällig. Allerdings handelte es sich hier nicht um Medienskandale des beschriebenen Typs. In der viktorianischen Epoche sorgten einzelne Royals immer wieder für skandalöses Aufsehen. Insbesondere Prinz Albert Victor, der Sohn des Kronprinzen, brachte die Herrscherfamilie diverse Male in delikaten Kon-
—————— Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation, Stuttgart 2002.
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texten in die Nachrichten. Bezeichnend ist die Rolle der Royals in den »Westend scandals« des Jahres 1889. Den eigentlichen Skandal konstituierte weniger die Aufdeckung eines Homosexuellenbordells im Londoner Westend als die Tatsache, dass prominente Kunden der Anklage entgehen konnten. Dies hatte, so die Anklage der North London Press, seine Ursache darin, dass auch Albert Victor in dem fraglichen Etablissement in der Cleveland Street verkehrt habe und daher Ermittlungen unterbunden wurden.60 Zudem stand mit Lord Arthur Somerset der Inhaber eines Hofamtes des Kronprinzen im Zentrum der Verdächtigungen. Hier zeigte sich allerdings, dass die Kombination aus strengen gesetzlichen Vorkehrungen gegen Beleidigungen und der Druck einflussreicher Personen die Presse dazu brachte, die Angelegenheit fallen zu lassen, bevor eine Eskalation wie im Eulenburg-Skandal eintrat.61 Dies gilt auch für das Zusammenspiel von Krone und hohen Regierungsbeamten im »Mordaunt-Case«, jenem Scheidungsprozess, der den Kronprinzen in den Zeugenstand führte.62 Wie Michael Foldy jüngst gezeigt hat, muss auch der Jahrhundertskandal um Oscar Wilde als ein Beispiel für geschickte Lenkungsstrategien der Krone und ihrer Berater gelten.63 Weniger dramatisch als die seines Sohnes, dafür aber bis in Gerichtsprotokolle hinein aktenkundig, waren die vielfältigen unstandesgemäßen Aktivitäten des Vaters von Albert Victor. Der spätere Edward VII. sorgte durch eine Reihe von Affären, daraus resultierenden Auftritten in Scheidungsprozessen, eine stark ausgeprägte Spielleidenschaft und notorische Geldsorgen für kontinuierliche Aufmerksamkeit.64 Besonders delikat war die Tranby-Croft-Affäre, auch bekannt als Baccarat-Scandal.65 In dem
—————— 60 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 55f.; Stanley Weintraub, The Importance of Being Edward. King in Waiting 1841-1901, London 2000, S. 314f. Generell: H. Montgomery Hyde, The Cleveland Street Scandal, New York 1976. Bereits ein Jahr zuvor war der als psychisch labil geltende Prinz gerüchteweise als einer der möglichen Täter im Jack-theRipper-Fall im Gespräch. 61 Diese Interpretation wird bestätigt durch die Tatsache, dass die Presse in den USA wesentlich offener und polemischer auf die Affären einging. Vgl. Weintraub, Edward [wie Anm. 60], S. 315. 62 Zum Mordaunt-Fall und dem sensationellen Auftritt des zukünftigen Edward VII. vor Gericht vgl. H. Montgomery Hyde, A Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and Society, London 1986, S. 97f. 63 Michael S. Foldy, The Trials of Oscar Wilde. Deviance, Morality, and Late-Victorian Society, New Haven/London 1997, S. 21ff. 64 Vgl. Hyde, Web [wie Anm. 52], 97f. Generell: Raymond Lamont-Brown, Edward VII’s Last Loves: Alice Keppel and Agnes Keyser, Phoenix Mill 2001. 65 Die wichtigste Darstellung zum Tranby-Croft-Skandal ist: Michael Havers/Edward Grayson/Peter Shankland, The Royal Baccarat Scandal, London 1977.
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nordenglischen Ort hatte sich der Thronfolger erneut an dem verbotenen Kartenspiel beteiligt. Als die Spielabende aus anderen Gründen gerichtsnotorisch wurden, konnte sich auch der Kronprinz nicht entziehen. Im Zuge der öffentlich viel beachteten Verhandlungen wurde sogar der Verzicht Edwards auf die Thronfolge gefordert.66 Zwar trugen derartige Eskapaden deutlich skandalöse Züge, die nicht zuletzt daraus resultierten, dass ein wichtiges Mitglied der Royals involviert war. In deutlichem Kontrast zum deutschen Beispiel fand hier allerdings kaum eine politische Aufladung statt. Dies lag nicht nur im per se unpolitischen Charakter von Spiel- und Sexaffären begründet, sondern auch in der allseits bekannten Tatsache, dass der Kronprinz von den Regierungsgeschäften weitgehend ferngehalten wurde. Aber auch die Queen war seit den 1870er Jahren für die Öffentlichkeit kein im engeren Sinne politischer Faktor mehr. Allenfalls an die in England nahezu dauerpräsente Debatte um die Kosten der Monarchie ließ sich die Erregung um die Fehltritte der hochgestellten »Drohnen« anschließen. Als politischer Skandal mit direkter Beteiligung der Monarchie kann im fraglichen Zeitraum lediglich ein Ereignis gleich zu Beginn der Herrschaft Victorias gelten. Seit ihrer Thronbesteigung verschärften sich die Auseinandersetzungen um die Gunst der Krone zwischen Tories und Whigs deutlich. Die Irritationen resultierten vor allem aus der Tatsache, dass die neue Königin ganz offensichtlich zunächst Letztere bevorzugte und so die angestammten Lordsiegelbewahrer der Monarchie, die Tories, in argumentative Schwierigkeiten brachte. Die »Bedchamber-crisis« brachte 1839 den schwelenden Konflikt, der nicht nur die Interessen der beiden Parteiströmungen, sondern das Selbstverständnis der Monarchie generell betraf, zum Ausbruch.67 Während es vordergründig nur um die politische Bestätigung des potenziellen neuen Premierministers Robert Peel ging, der zur Stärkung seiner Position eine konservative Umbesetzung des Haushalts der Königin anstrebte, deutet das enorme Presseecho auf eine grundsätzliche Problematik. Auch in England stellte sich die Frage, wer die Krone beeinflusste und informierte angesichts einer medial mobilisierten Öffentlichkeit verschärft, als gleichzeitig eine der Hofdamen, Lady Flora Hastings, wegen einer vermeintlichen Schwangerschaft zum Skandalopfer wurde.68 Dass
—————— 66 Weintraub, Edward [wie Anm. 60], S. 322f. 67 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 83ff. 68 Zur Lady-Flora-Affäre vgl. Elizabeth Longford, Victoria R.I, London 1983, S. 117-131 u. S. 150ff.
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derartige höfische Alltagsgeschichten ins Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit gerieten, zeigt, dass hier mehr verhandelt wurde als die privaten Fährnisse der Frauen um die Königin. Der Skandal berührte die Krone insofern direkt, als die Queen sich als äußerst hartherzig und letztendlich ungerecht präsentierte. Wichtiger aber war, dass die Tory-Presse den Skandal zum Anlass nahm, den Whig-Einfluss auf die Umgebung der Königin zu kritisieren. In Unterstützung Peels insistierten die konservativen Zeitungen, dass die Umgebung einer regierenden Königin anders als bei einer »queen consort« durchaus eine öffentliche und staatliche Institution und keinesfalls eine private darstelle. Die konservative Presse evozierte das Schreckgespenst einer »petticoat camarilla«69 und verwies damit nicht nur auf notorische Präzedenzfälle in Spanien und Portugal, sondern vor allem auf die politische Sprengkraft, die die Institution Monarchie auch in Großbritannien noch besaß. Bedchamber-crisis und Lady-Flora-Skandal veranschaulichen, dass drei Kernaspekte der öffentlichen Bewertung der Monarchie in England generell so sehr ein Thema waren wie in Deutschland: Erstens: Das Dogma des unparteiischen Monarchen blieb zumindest als rhetorische Figur immer intakt. Zweitens: Die den Hofdamen zugeschriebene Bedeutung unterstreicht zudem die Wichtigkeit, die auch in England der Information der Königin zugeschrieben wurde. Drittens: Insofern als im Hintergrund des Skandals die Verhinderung der Machtübernahme einer konservativen Regierung stand, ging es auch um die Frage, ob Parlament oder Monarchin über die entscheidende Machtposition verfügten. Dieser Befund relativiert die – zweifellos gegebene – Bedeutung verfassungsrechtlicher Unterschiede für die monarchische Repräsentation. Als ausschlaggebend erscheint vielmehr die spezifisch persönliche Interpretation der Monarchie. Hier ist sicherlich zu berücksichtigen, dass Wilhelm II. einen wesentlich größeren Spielraum für persönliche Akzentsetzungen besaß. Ein Blick auf den formal nicht minder mächtigen, als Angelpunkt von Mediendiskussionen aber kaum präsenten Wilhelm I. unterstreicht diese Annahme.70 Im Fall Victorias hingegen fällt auf, dass die Queen nach ihrem Rückzug in Folge des frühen Todes Alberts als öffentlich reflektierter politischer Faktor nahezu keine Rolle mehr spielte. Die Diskussion verlagerte sich von der persönlichen Ebene auf die institutionelle. Die Monarchie geriet nun zunehmend in eine fiskalpoliti-
—————— 69 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 86. 70 Geisthövel, Monarchen [wie Anm. 12], S. 59-80.
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sche Diskussion angesichts der immer neuen Bewilligungen für die unzähligen Nachkommen der Queen im Rahmen der Zivilliste. Victorias Unsichtbarkeit wurde zum Politikum. Allerdings gingen diese Attacken gegen eine Lücke buchstäblich ins Leere und eigneten sich keineswegs für eine Skandalisierung.71 Im Kontext eines antiverschwenderischen publizistischen Dauerfeuers konnten sich selbst anhaltende Gerüchte über die intime Beziehung der Königin zu ihrem Kammerdiener John Brown nie zu einem öffentlichen Skandal entfalten. Die teilweise durchaus scharfen Angriffe auf »Mrs. Brown« blieben im Wesentlichen auf das offen republikanische Spektrum der Presse beschränkt. Eine personalisierte, zugespitzte Debatte nach deutschem Muster, die ein genuines Produkt der Massenmedien gewesen wäre, war dies nicht. In dieser Hinsicht entsprach die mediale Repräsentation der englischen Monarchie eher den Standards des 18. denn denen des 19. Jahrhunderts.
IV. Zusammenfassung Für die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die herrschende Meinung unter den Historikern galt und gilt die Monarchie viktorianischer Ausprägung gewissermaßen als benchmark, an der sich die Konkurrenz auf dem Kontinent messen lassen muss. Im Fall der wilhelminischen Monarchie scheint ausgemacht, dass das Ziel verfehlt wurde. Blickt man allerdings, wie hier geschehen, auf die mediale Repräsentation der Monarchie und die Funktion derselben, dann zeigt sich, dass Fortund Rückschrittlichkeit keineswegs so eindeutig zuzuweisen sind, wie dies für die verfassungstheoretische Einordnung der beiden Monarchiemodelle der Fall ist. Will man ein Fazit aus der Betrachtung des äußerst komplexen Verhältnisses von Monarchie und Massenmedien unter deutschem und englischem Blickwinkel ziehen, ist zunächst generell festzustellen, dass die Monarchie durch die Massenmedien keineswegs an Bedeutung verlor. Im Gegenteil ließe sich von einer Renaissance der Monarchie unter massenmedialen Bedingungen sprechen. Zumal in Deutschland war die Diskus-
—————— 71 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 32. Zur Schwierigkeit für die republikanische Bewegung, die abwesende Königin politisch zu instrumentalisieren, vgl. Taylor, Crown [wie Anm. 5], 82f.
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sion des Monarchen umfangreicher, dichter und variantenreicher, als zunächst vermutet werden könnte. Weit besser als dies für die unübersichtlichen demokratischen Institutionen der Fall war, entsprach der Monarch als »konkrete Abstraktion« (Siegfried Kaehler) den originären Bedürfnissen der Massenmedien nach personalisierter und klischeehafter Darstellung komplexer politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Eine medial mobilisierte Gesellschaft suchte eine komplexitätsreduzierende Projektionsfläche und fand diese im Monarchen. Sogar für das linke Pressespektrum besaß das Thema eine hohe Verbindlichkeit. Die Faszination personaler Integration verband sich unmittelbar mit medial bedingten Plakativitätsanforderungen. Dieser Wirkungszusammenhang ermöglichte ein mediales Comeback der Monarchie, das allerdings weder die strukturelle Ausformung politischer Berichterstattung in den Massenmedien unberührt ließ noch die Institution Monarchie selbst. Eine effizientere Diskussion, ausgelöst durch Stichworte, die der Monarch in den medialen Raum warf, darf jedoch nicht mit einer rationaleren Diskussion verwechselt werden. Wilhelm II. war nicht nur deshalb für die Medien ein äußerst interessantes Phänomen, weil er ein vermeintlicher Medienkaiser war, sondern gerade weil er, ganz anders als sein englisches Pendant, als politischer Monarch auftrat. Seine provozierenden politischen Verlautbarungen, farbig und zugespitzt präsentiert, entsprachen den massenmedialen Anforderungen. Dagegen traf die traditionell stärkere Betonung des verfassungsrechtlichen Platzes des Monarchen gegenüber dessen Charakter in England weniger gut massenmediale Bedürfnisse. Die Reduktion der Angriffsfläche, die ihre Ursachen in den Verfassungskämpfen des 17. und der Regierungspraxis des 18. Jahrhunderts hatte, zahlte sich zwar langfristig auch im 19. Jahrhundert aus. Eine Personalisierung politischer Fragen existierte in England lediglich in schwach ausgeprägten Ansätzen. Aber auch für Großbritannien gilt, dass die Bedeutung der persönlichen Qualifikationen des Kronenträgers eher zu- als abnahm. Mit ihrem breiten Spektrum von Anknüpfungspunkten für ähnliche, aber immer wieder modifizierte human interest stories kam die traditionelle Institution dem modernen massenmedialen Bedürfnis nach Emotionalisierung und Personalisierung von politischen Themen entgegen. Einem popular monarchism genügte die Tatsache, dass die Königin eine solche war, als Grundlage einer umfangreichen und regelmäßigen Darstellung. Dieser Sentimentalmonarchismus scheint in England weitaus professioneller als in Deutschland funktioniert zu haben.
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Die Asymmetrien im Verhältnis von Monarchie und Massenmedien spiegeln sich in monarchischen Skandalen. In England dominierten Beispiele für Skandale und Affären, die direkt die Person des Monarchen betrafen und ausschließlich in den Bereich des Persönlichen gehörten. Vergleichbares lässt sich in dieser Form in Deutschland, zumindest in Preußen, nicht feststellen. Hier finden sich hingegen zahlreiche im engeren Sinne politische Skandale. Diese Tatsache reflektiert nicht nur den prominenteren Platz der Monarchie im Verfassungsgefüge, sondern auch und gerade die Spezifika der Herrschaftsauffassung Wilhelms II. Ein Grundtrend, den die Skandale aufnahmen, auf dem sie gewissermaßen beruhten und den sie gleichzeitig verstärkten, war die Personalisierung politischer Fragen in der Person des Monarchen.72 In Deutschland wurde Kritik eher an der Person, weniger an der Institution geübt, in England war es umgekehrt. Skandale ließen aber auch das offensichtlich faszinierende Modell eines direkten Austausches zwischen Monarch und Öffentlichkeit als genuin modernes Kommunikationsmodell durchsetzbar erscheinen bzw. thematisierten Defizite in diesem Bereich.73 Die deutsche monarchische Repräsentation wurde durch die zunehmend mediale Verfasstheit des Kommunikationsraums einschneidender verändert als ihr englisches Pendant. Die herausragenden Monarchieskandale in Deutschland lassen sich auch als ein erfolgreicher kommunikativer Austausch über die monarchische Repräsentation lesen. Hierfür stehen die Versöhnungsgesten des Monarchen im Anschluss an die Affären um Eulenburg und um das Daily-Telegraph-Interview ebenso wie die kontinuierliche Forderung nach einer vertieften Kommunikation zwischen der medial verfassten öffentlichen Meinung und dem Monarchen. Die Skandale thematisieren und belegen die extreme Wichtigkeit der
—————— 72 Dies deckt sich mit dem generellen Befund von Hall: »A feature of the general development of the German press in the 1890s was its central importance in the making and breaking of the reputations of public men. Very often it was a newspaper article which brought to public consciousness details of a personal failing, and a general technique employed by socialist and non-socialist journals alike was the sustained campaign of attack on an individual and on the organisation or set of principles with which he was publicly identified.« Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890-1914, Cambridge 1977, S. 144. Vgl. auch generell: Frank Bösch, Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 781-801. 73 Zur Prägekraft des politischen Systems für die Ausformung der Medienlandschaft vgl. Requate, Öffentlichkeit [wie Anm. 4], S. 16.
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kommunikativen Offenheit der Monarchie. Dies reflektiert eine spezifisch deutsche Funktionalisierung monarchischer Repräsentation im Sinne eines Kommunikationsankers. Es würde allerdings in die Irre führen, für diese Tradition Gründe lediglich in der besonderen Verfassungsposition des deutschen Monarchen zu suchen.74 Die öffentlich als stark und politisch präsentierte Monarchie war auch das Produkt einer Wechselbeziehung mit den Medien. In England waren die Foren politischer Meinungsbildung seit langem jenseits der Monarchie etabliert.75 Forderungen nach vertiefter Kommunikation zwischen Monarch und Volk scheinen in England keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Ebenso wurde die Beraterfrage nur in Ausnahmefällen diskutiert. Wohl am deutlichsten scheinen Unterschiede in der medialen monarchischen Repräsentation in der Verschiedenheit monarchischer Öffentlichkeitsarbeit auf. Deren Etablierung glückte wie die verfassungspolitische Integration des Monarchen auf der Insel besser. Drei Faktoren kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Massenmedien etablierten sich in England weniger abrupt als in Deutschland, Victoria war, da passiv, ein wesentlich einfacher zu handhabendes Objekt monarchischer Öffentlichkeitsarbeit als Wilhelm II. und schließlich existierte eine einflussreiche und kompetente Gruppe praxisorientierter Vordenker, die in der Lage waren, notwendige Transformationsleistungen zu konzipieren und durchzusetzen. Während das erste Phänomen in seinem Einfluss schwer zu gewichten und das zweite weitgehend zufällig ist, verdient der dritte Aspekt auch unter strukturellen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit. Trotz der herausragenden Bedeutung des monarchischen Faktors in Deutschland etablierte sich hier keine Gruppe analog zu Männern wie Bagehot oder Lord Esher in England, die zwischen der Monarchie und den neuen medialen Anforderungen zu vermitteln in der Lage waren. Effektive und professionelle Pressepolitik wurde für den Reichskanzler und das Auswärtige Amt und vor allem für das Reichsmarineamt gemacht, niemals direkt für den Monarchen. Akademische Vordenker und Analytiker der Monarchie wilhelminischen Stils wie Paul Laband oder Otto Hintze hatten nahezu keinen Zugang zu Hofkreisen. Für die einflussreichen Akteure aus der unmittelbaren Umgebung des Monarchen hingegen scheint die Monarchie so selbstverständlich gewesen zu sein, dass deren Zukunftsfähigkeit nicht überdacht
—————— 74 Zur verfassungsrechtlichen Stellung des deutschen Kaisers im europäischen Vergleich vgl. Kirsch, Monarch [wie Anm. 5], S. 386f. 75 Vgl. Wienfort, Monarchie [wie Anm. 5], S. 207f.
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werden musste. Monarchische Repräsentation unter massenmedialen Bedingungen stand für beide Gruppen nicht im Zentrum ihrer Überlegungen. Das faktische Ausbleiben einer skandalösen Thematisierung der Monarchie in England lässt sich insofern auch als Ausdruck einer höheren Sensibilität der britischen Eliten und eines offenbar vorhandenen Konsens über deren Repräsentationsaufgaben lesen, der so in Deutschland fehlte.76 Versuche, diesen über die Skandale herzustellen, erwiesen sich als zum Scheitern verurteilt.
—————— 76 Es passt in dieses Bild einer gut funktionierenden informellen Pressesteuerung in England, dass, während Wilhelm II. Großbritannien besuchte, er grundsätzlich nicht negativ karikiert wurde. Vgl. Reinermann, Kaiser [wie Anm. 5], S. 384ff.; Rebentisch, Gesichter [wie Anm. 5], S. 234. Ebenso passt in dieses Bild, dass die wirklich aggressiven Karikaturen zum Baccarat-Skandal erst in den 1920er Jahren publiziert wurden. Weintraub, Edward [wie Anm. 60], S. 325.
Monarchische Herrschaftsrepräsentationen zwischen Konsens und Konflikt: Zum Wandel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells im 19. Jahrhundert Matthias Schwengelbeck Untersuchungen zur Rolle der Monarchie in der Moderne haben seit einiger Zeit wieder Konjunktur. War die Monarchie für die klassische Sozialgeschichte höchstens als retardierendes Moment des Modernisierungsprozesses von Belang, wird sie nun als Bestandteil der Moderne selbst betrachtet.1 Methodisch ist das Interesse vor allem auf den gewachsenen Einfluss sozial- und kulturanthropologischer Ansätze zurückzuführen. Im Zentrum der meisten Studien stehen die Fürsten nicht mehr als souveräne Staatenlenker, sondern als Akteure umfangreicher Rituale und Zeremonien. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei weniger auf die Monarchen selbst, sondern auf die sie umgebenden Gesellschaften. Während sich die verschiedenen Arbeiten in den Interpretationen und genauen Periodisierungen unterscheiden, eint sie der Befund einer Wiederbelebung monarchischer Repräsentationen im 19. Jahrhundert: Die gekrönten Häupter Europas griffen zunehmend wieder auf prunkendes höfisches Zeremoniell zurück, um sich und ihre Herrschaft zu repräsentieren. In einem gewandelten gesellschaftlichen und politischen Umfeld richteten sich diese Inszenierungen an eine jenseits des höfischen Verkehrs liegende Öffentlichkeit.2
—————— 1 Vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640–1848, Göttingen 1993; Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000. 2 Vgl. David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British Monarchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820–1977, in: Eric Hobsbawm/ Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164; kritisch zu Cannadines Konzentration auf das ausgehende 19. Jahrhundert dagegen Linda Colley, The Apotheosis of George III: Loyalty, Royalty and the British Nation 17601820, in: Past and Present 102 (1984), S. 94-129; David E. Barclay, Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995; Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Volume II:
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Monarchische Herrschaft, so viel dürfte unstrittig sein, blieb auch im 19. Jahrhundert auf Repräsentation angewiesen. Herrschaftslegitimation bestand hier wesentlich in einer spezifischen Darstellungsleistung. Auch die konservative Lehre vom »monarchischen Prinzip«, die an die Stelle des alten Gottesgnadentums getreten war, bedurfte der sinnlichen Konkretion, um über den Status eines theoretischen Konstrukts hinauszugelangen.3 Berücksichtigt man neuere Studien zum symbolischen Gehalt des Politischen, so kann diese Erkenntnis kaum überraschen. Aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven wird in jüngster Zeit betont, dass Politik grundsätzlich auf Repräsentation angewiesen ist. Politik und politische Akteure müssen sich darstellen, um den gesellschaftlichen Regelungsanspruch politischen Handelns durchsetzen zu können und zu legitimieren.4 Als eine »nichtalltägliche (Sub)Sinnwelt«, so Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler, bedarf das Politische grundsätzlich, »um faßbar werden zu können, der Übersetzung, Vergegenwärtigung und Repräsentation«.5 Repräsentation signalisiert danach nicht nur eine Beziehung zwischen Repräsentant und Repräsentiertem, sondern verweist auch auf das diese Beziehung legitimierende Weltbild. Der politische Repräsentant eines Kollektivs muss sich nicht nur in Relation zu den Repräsentierten setzen, sondern diese Relation zugleich mit Bezug auf den legitimierenden politischen Ordnungsentwurf darstellen.6 Die darstellende Komponente der Repräsentation bildet die Grundlage dafür, dass der Akt des repräsentativen Handelns als dem gesamten Verband zugerechnetes Tun im Sinne Max Webers von den Repräsentierten »gegen sich als legitim geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird«.7
—————— 3
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From Alexander II. to the Abdication of Nicholas II., Princeton 2000; Paulmann, Pomp [wie Anm. 1]. Vgl. Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 160-186. Vgl. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152-164; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Hans-Georg Soeffner / Dirk Tänzler, Figurative Politik. Prolegomena zu einer Kultursoziologie politischen Handelns, in: dies. (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in modernen Gesellschaften, Opladen 2002, S. 17-33. Soeffner/Tänzler, Politik, [wie Anm. 4], S. 21. Ebd., S. 22. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, S. 171.
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Repräsentationen im Raum des Politischen leisten so einen Beitrag zum Prozess der Selbstvergewisserung über die Legitimität politischer Ordnung.8 Grundlegend dafür ist, dass sie von einem Publikum wahrgenommen werden. Repräsentation ist daher auf Öffentlichkeit angewiesen. Angesprochen ist damit jedoch kein kommunikationsloser Bereich, wie ihn Jürgen Habermas mit dem Begriff der »repräsentativen Öffentlichkeit« konzipiert hat.9 Legt man einen weiten Kommunikationsbegriff zugrunde, der nicht nur den historisch ohnehin kaum auffindbaren Fall herrschaftsfreier Diskurse berücksichtigt, offenbart sich dabei gerade das Zeremoniell als eine eminente Sphäre politischer Kommunikation.10 Verstanden als Sonderfall des politischen Rituals richtet sich das Zeremoniell mit seiner theatralen, darstellenden Qualität stets an eine Öffentlichkeit.11 Sowohl politische Repräsentationsformen im Allgemeinen als auch politische Zeremonielle im Besonderen unterliegen jedoch historischem Wandel. Am Beispiel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells soll hier der Funktions- und Bedeutungswandel monarchischer Repräsentationen im 19. Jahrhundert fokussiert werden. Während die vormoderne Funktion der Huldigung als eines rechtskonstitutiven Aktes verloren ging, erlebte das Zeremoniell in diesem Zeitraum eine Renaissance, die als Antwort auf den Legitimationsdruck der Monarchie in der Moderne gelesen werden kann. Eine solche Wiedergeburt wurde auch von Rotteck und Welckers Staats-Lexikon registriert. 1847 schrieb Wilhelm Schulz dort zum Stichwort »Huldigung«: »In der neueren Zeit haben sich zwar die Grundsätze des Erbrechts der Fürsten bestimmter ausgebildet; allein die französische Revolution und die Ansichten, die sie in Umlauf setzte, haben in einem allgemeinen Sinne die herkömmlichen anerkannten Machtbefugnisse in Frage gestellt und hier und da die Fürstenkrone zur unwillkürlich errungenen Märtyrerkrone gemacht. Diesen Geist der Zeit erwägend scheint man in den letzten Jahren um so mehr darauf bedacht zu sein, den wankenden Glauben der Völker an das wankende Alte auch durch solche äußer-
—————— 8 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Erzwungene Ästhetik. Repräsentation, Zeremoniell und Ritual in der Politik, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000, S. 288ff. 9 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerliche Gesellschaft, Neuauflage Frankfurt/M. 1990, S. 58ff. 10 Vgl. hierzu vor allem Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 11 Vgl. Georg Braungart, Die höfische Rede im zeremoniellen Ablauf: Fremdkörper oder Kern? in: Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hg.), Zeremoniell und Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 198-208.
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liche Mittel, wie die Entfaltung eines besonderen Pomps bei Krönungen und Huldigungen ist, von Neuem zu befestigen.«12
Neben der Krönung der englischen Königin Victoria aus dem Jahr 1837 dürften vor allem die 1840 abgehaltenen preußischen Huldigungsfeiern für Friedrich Wilhelm IV. als Erfahrungshintergrund für diese Einschätzung gedient haben. Diese hatten weit über Preußen hinaus ein vielstimmiges Echo provoziert.13 Es ließen sich aber auch andere Beispiele nennen, die von den Huldigungen für den sächsischen König Anton aus dem Jahre 1827, über die Huldigungs- und Einzugsfeierlichkeiten für den badischen Großherzog Leopold im Jahre 1830 bis zu den 1837 abgehaltenen Einzugsfeierlichkeiten für Ernst August von Hannover reichen. In allen Fällen wurden traditionelle zeremonielle Formen verwendet, um den Regierungsantritt des neuen Monarchen in Szene zu setzen. Und selbst im revolutionären Sommer 1848 schöpften die Parlamentarier der Paulskirche aus dem zeremoniellen Fundus der Monarchie, um den Reichsverweser in sein neues Amt einzuführen. Immer mehr verloren diese traditionellen Formen jedoch ihren Wert als rechtskonstitutive Zeremonielle. Besonders deutlich zeigte sich das im Fall der Thronbesteigung des preußischen Königs Wilhelms I. im Jahr 1861. Während Wilhelm auf eine Huldigung drängte, ließ die verfassungsrechtliche Struktur des konstitutionellen Preußens keine solche Feier mehr zu. Auf Intervention seiner Minister und durch den Druck einer politisierten Öffentlichkeit ließ sich der Nachfolger Friedrich Wilhelms IV. schließlich darauf ein, mit einer feierlichen Krönung ein zeremonielles Äquivalent durchführen zu lassen, das allerdings keinerlei rechtsgültige Qualität mehr besaß. Um den damit angedeuteten politischen Funktions- uns Bedeutungswandel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells herauszuarbeiten, soll zunächst knapp die Bedeutung und die Veränderungen der Huldigung bis zum beginnenden 19. Jahrhundert skizziert werden (II). Dann sollen die Besonderheiten und Entwicklungen des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells im 19. Jahrhundert anhand zweier Beispiele
—————— 12 Wilhelm Schulz, Huldigung, in: Carl Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 7, Altona 1847, S. 265-272. 13 Als einer der ersten Historiker hat bereits Heinrich von Treitschke auf die unterschiedliche Aufnahme der Huldigungsfeierlichkeiten hingewiesen. Vgl. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Fünfter Teil: Bis zur Märzrevolution, Leipzig 1894, S. 51ff.
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aufgezeigt werden. Während sich bei der Huldigung für Friedrich Wilhelm IV. noch Überlagerungen von herrschaftskonstitutiven und herrschaftslegitimierenden Momenten offenbarten (III), lässt die Krönung Wilhelms I. den neuen Stellenwert des Inthronisationszeremoniells im Verfassungsstaat hervortreten (IV). Abschließend werden die Überlegungen kurz zusammengefasst (V).
II. Die longue durée der Huldigung: Kontinuitäten und Entwicklungen Monarchie und Inthronisation sind zwei Seiten einer Medaille. Monarchische Regentschaftswechsel bedürfen und bedurften stets ritueller Formen, um die Legitimität des neuen Fürsten sicherzustellen. In den Territorien des Alten Reiches wurden Regentschaftswechsel mit und durch das Ritual der Huldigung vollzogen. Dessen Kern bestand in einem wechselseitigen Verpflichtungsakt zwischen Fürst und Untertanen. Während die Untertanen ihrem Landesherrn eidlich versicherten, treu, hold und gewärtig zu sein, musste jener ihnen im Gegenzug die herkömmlichen Rechte und Privilegien zusichern. Es handelte sich bei der Huldigung mithin um eine Art vormodernes Verfassungsäquivalent, um eine »Verfassung in actu«.14 Der Stellenwert des Rituals resultierte daraus, dass sich rechtlich-politische Ordnung in der vorkonstitutionellen Zeit überhaupt erst im symbolischen Handlungsvollzug konstituierte; rechtlich-politisches und symbolisches Handeln waren identisch.15 Repräsentation monarchischer Herrschaft war hier mithin kein bloßes
—————— 14 Vgl. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart/New York 1991. 15 Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997; Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.), Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22.3.-24.3.1999, Berlin 2003, S. 749; dies., Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte, in: Matthias Schnettger (Hg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233-246.
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Akzidens, sondern brachte Herrschaftsverhältnisse im symbolischen Vollzug hervor.16 Trotz der strukturellen Stabilität der rituellen Formen blieb der rechtlich-politische Gehalt der Huldigung zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit nicht unverändert. So hat André Holenstein argumentiert, dass der wechselseitige Verpflichtungscharakter der Huldigung im Absolutismus zugunsten der fürstlichen potestas legislatoria zurückgetreten sei. Dem habe eine Umformung der Huldigung von einem Rechtsakt in ein entpolitisiertes barockes Fest entsprochen.17 In Abgrenzung zu Holenstein hat Andreas Gestrich hingegen eine andere Sichtweise profiliert. Auch der barocke Prunk des absolutistischen Huldigungszeremoniells, so Gestrichs These, habe den verfassungsrechtlichen Gehalt des wechselseitigen Verpflichtungsaktes nicht gänzlich zuzudecken vermochte, auch die Huldigung im absolutistischen Fürstenstaat sei noch als »reziproker kommunikativer Akt« zu verstehen.18 Gestrichs Argumentation scheint zunächst aus zwei Gründen plausibel. Erstens fügt sie sich gut in neuere Forschungen zum Absolutismusparadigma ein, die die These eines Siegeszuges des absolutistischen Modells im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend widerlegt haben. Zweitens betont Gestrich stärker als Holenstein die kommunikative Funktion symbolischer Handlungen. Damit wird er der Vielschichtigkeit des Phänomens in größerem Maße gerecht. Auch empirisch zeigt sich, dass die Huldigung ihre herrschaftskonstitutive Funktion trotz vieler Veränderungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht gänzlich verloren hatte.
—————— 16 Aus diesem Grund ist die Huldigung auch nicht lediglich als Rechtshandlung, sondern als umfangreiches Ritual zu charakterisieren, das sich aus festgelegten symbolischen Handlungsketten zusammensetzte. Legt man das von Victor Turner in Anlehnung an Arnold van Gennep entwickelte dreiphasige Schema der Übergangsriten zugrunde, stellt sich das folgendermaßen dar: In der Trennungsphase wurde mit dem Umritt des Fürsten, seiner Einholung und seinem Einzug der rituelle vom alltäglichen Kontext in räumlicher und zeitlicher Hinsicht separiert. Zur liminalen Phase gehörten dann Gottesdienst, Austausch von Reden, die Eidesleistung sowie dessen religiöse Bekräftigung durch das Absingen des Te Deums. Schließlich wurden in der Angliederungsphase Geschenke ausgetauscht, ein gemeinsames Mahl vollzogen und in neuerer Zeit auch Feuerwerk und Illuminationen veranstaltet. Vgl. Victor Turner, Das Liminale und das Liminoide in Spiel, »Fluß« und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie, in: ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M./New York 1989, S. 2894; eine übersichtliche Zusammenstellung der einzelnen Bestandteile der Huldigung findet sich bei André Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Aufklärung 6 (1991), S. 24-29. 17 Vgl. Holenstein, Huldigung [wie Anm. 14], S. 434ff. 18 Gestrich, Absolutismus [wie Anm. 10], S. 120.
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Noch in den 1790er Jahren war die traditionelle Einnahme der Erbhuldigung ein weit verbreitetes Phänomen. Friedrich Wilhelm III. von Preußen etwa ließ anlässlich seines Regierungsantritts 1798 zentrale Huldigungen in Königsberg und Berlin durchführen. Der Huldigungseid war hier durch die Ständevertreter sowie durch eigens gewählte Deputierte aus den Provinzen zu leisten. Von der Tradition eines frühneuzeitlichen wechselseitigen Verpflichtungsaktes zwischen Herrschaft und Untertanen, der stets vor Ort aktualisiert werden musste, hatten sich diese zentralisierten Huldigungsfeiern bereits weit entfernt. Die durch Aufklärung und Französische Revolution an Attraktivität gewinnende Nutzung des monarchischen Zeremoniells für patriotisch-nationale Zwecke schlug sich bereits ansatzweise in den Huldigungsfeiern nieder. Auf der Ebene der Herrscherwahrnehmung zeigten sich zudem Bewegungen hin zu einem verbürgerlichten Nationalsymbol.19 Trotzdem war der rechtlichpolitische Charakter des Ereignisses nicht gänzlich verschwunden. Darauf lassen etwa die Verhandlungen der Stände auf dem Huldigungslandtag schließen, die auch durch den Ansturm des absolutistischen Zentralisierungsanspruchs nicht gänzlich hinweggefegt worden waren.20 Noch klarer treten solche Kontinuitäten in Staaten mit starken ständischen Traditionen hervor. So waren in Württemberg die Zusicherungen der Rechte und Privilegien an die Stände bis zum Endes des Alten Reiches die Grundbedingung für das Gelingen der Huldigung. Und auch in Kleinstaaten, wie zum Beispiel Lippe, verliefen die Huldigungen noch traditionell.21 Obsolet wurde die herkömmliche Huldigung in vielen Staaten erst mit der Entstehung des modernen Konstitutionalismus. Denn die Einführung geschriebener Verfassungen stellte die Herrschaftsverhältnisse zwischen Monarch und Untertanen auf eine neue Basis. An die Stelle der »Verfassung in actu« rückte ein herrschaftsbegründendes, umfassend wirkendes und mit universalem Anspruch auftretendes Regelungswerk.22 Als Symbol repräsentierte die geschriebene Verfassung nun das »für die politische Kultur konstitutive symbolische Ensemble«.23 Auch wenn sich konstitutionelle Reformen
—————— 19 Vgl. Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1], S. 131ff. 20 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992. 21 Vgl. STA Detmold, L77 B, Fach 4 Nr. 6. 22 Vgl. zur epochalen Bedeutung moderner Verfassungen Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt/M. 1988. 23 Jürgen Gebhardt, Verfassung und Symbolizität, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 585-602, hier 588.
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zunächst nur in wenigen Staaten des deutschen Bundes durchsetzten, war die Verfassungsfrage spätestens seit dem Wiener Kongress nachdrücklich auf die Agenda politischen Handelns getreten; selbst dort, wo sich der monarchische Staat mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Die eingeführten, in Aussicht gestellten oder erwünschten Verfassungen transportierten neue politische Ordnungsvorstellungen. Mit diesen war die vormoderne Praxis der symbolischen Konstitution von Herrschaftsverhältnissen im Huldigungsritual nicht mehr zu vereinbaren. Zwar wurde die Huldigung in einigen Staaten ausdrücklich in der Verfassungsurkunde erwähnt und an einen vorhergehenden Verfassungsschwur des Monarchen gekoppelt. In fast allen Fällen wurde sie dann jedoch nicht mehr durchgeführt.24 Neben dem konstitutionellen Argument lässt sich noch ein weiterer Grund für das Ausbleiben der Huldigungen in der Zeit nach 1815 ausmachen. Bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dann verstärkt in der nachnapoleonischen Zeit waren die meisten Dynastien bestrebt, sich in ihrer Selbstdarstellung von der opulenten Praxis des barocken Prunks abzusetzen. Der Verzicht auf ein ausgefeiltes Huldigungszeremoniell ist daher im Kontext insgesamt verringerter Aufwendungen für monarchische Repräsentationen zu sehen.25 Die aufklärerische Projektion eines schlichten, familienorientierten »Bürgerkönigs« schien gewissermaßen in der zeremoniellen Zurückhaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Bestätigung gefunden zu haben.26
—————— 24 In Württemberg etwa regelte das zweite Kapitel der 1819 erlassenen Verfassungsurkunde: »Der Huldigungs-Eid wird dem Thronfolger erst dann abgelegt, wann Er in einer den Ständen des Königreichs auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche Festhaltung der Landes-Verfassung bei Seinem Königlichen Worte zugesichert hat.« (Die Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, hrsg. v. C. B. Fricker, Tübingen 1865, S. 508). Trotz des Verlangens der Stuttgarter Bürgerschaft verzichtete König Wilhelm im gleichen Jahr auf die Einnahme der Huldigung. Seinem Innenminister von Otto folgend, dass es sich bei der Huldigung nur um eine »res merae facultatis« handele, entschied sich Wilhelm gegen eine Huldigung, da sie zum einen nicht notwendig und zum anderen mit Umständen und erheblichen Kosten verbunden wäre. (HSTA Stuttgart, E 31, 5, Vortrag des Ministers des Innern, 19.11.1819; vgl. ebd. Wilhelm an den Minister des Innern, 19.11.1819.) 25 Vgl. Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Tübingen 1993; Paulmann, Pomp [wie Anm. 1], S. 249ff. 26 Vgl. zum Konzept des Bürgerkönigtums Heinz Dollinger, Das Leitbild des Bürgerkönigtums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Werner (Hg.), Hof, S. 325-364; kritisch dazu Thomas Stamm-Kuhlmann, War Friedrich Wilhelm III. von Preußen ein Bürgerkönig? In: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), S. 441-
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Allerdings hielt weder der Verzicht auf dynastische Prachtentfaltung an, noch verschwand das Huldigungszeremoniell gänzlich aus dem Handlungsrepertoire der Akteure. Zwar wurde die Huldigung als rechtskonstitutiver Akt tatsächlich dysfunktional. An deren Stelle traten im jedoch neue, heterogenere Formen des Zeremoniells, die gerade in kultur- und mediengeschichtlicher Perspektive an die Huldigung anknüpften. Auf der Basis ihres grundsätzlich akzessorischen Charakters, das heißt ihrer tendenziellen Verfügbarkeit, gewannen sie eine neue politische Bedeutung, die sie bis zum Ende der Monarchie behielten.
III. Die Huldigungsfeiern für Friedrich Wilhelm IV. zwischen Herrschaftskonstitution und Herrschaftslegitimation Die Huldigungen anlässlich des Regierungsantritts Friedrich Wilhelms IV. im Jahr 1840 standen noch im Spannungsfeld zwischen traditioneller herrschaftskonstitutiver und der neuen herrschaftslegitimierenden Funktion des Zeremoniells. Kurz nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1840 auf den preußischen Thron gelangt war, hatte er zentrale Huldigungsfeiern in Königsberg und Berlin angeordnet. Formal orientierten sie sich an dem Modell, das bereits 1798 zur Anwendung gekommen war. Der neue König zog am 29. August 1840 feierlich in Königsberg ein und ließ dort zwischen dem 5. und 11. September den herkömmlichen Huldigungslandtag abhalten. Deren Teilnehmer leisteten am 10. September zusammen mit ständischen Deputierten und der Königsberger Bürgerschaft den Huldigungseid vor dem Königsberger Schloss. Darauf reiste Friedrich Wilhelm IV. zurück nach Berlin, hielt dort am 21. September seinen Einzug und nahm am 15. Oktober die Huldigung der Berliner Bürgerschaft und der Vertreter der sechs westlichen preußischen Provinzen ein.27
—————— 460; zum argumentativen Vorgriff des Konzepts Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1], S. 205ff. 27 Vgl. die Beschreibungen bei Karl Streckfuß, Der Preußen Huldigungsfest, Berlin 1840.
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1. Der Königsberger »Gegenschwur« – ein Verfassungsversprechen? Symbolische Praxis und öffentliche Deutung Hier soll zunächst die Königsberger Eidesleistung näher betrachtet werden, weil sich dort in signifikanter Weise die Spannungen zwischen der rechtskonstitutiven Tradition der Huldigung und ihrem neuen Stellenwert als herrschaftslegitimierendem Fest niederschlugen. Am Huldigungstag begann bereits morgens um 7 Uhr der Einlass in den Schlosshof für die Zuschauer, die zuvor in den Besitz von Einlasskarten gekommen waren. Auf dem Schlosshof hatte man zuvor reich verzierte Tribünen aufgestellt, und unmittelbar vor dem Schloss war ein kunstvoller Huldigungsbalkon errichtet worden. Nachdem die Glocken von allen Kirchtürmen der Stadt zum Gottesdienst geläutet hatten, versammelten sich die Huldigungsdeputieren nach ihrer Konfession geschieden in der Schlosskirche und der katholischen Kirche, wo um 9 Uhr der Gottesdienst beziehungsweise das Hochamt abgehalten wurde. Während darauf die Vertreter der Geistlichkeit und der Universitäten gesondert im Thronzimmer empfangen wurden, nahmen die Huldigungsdeputierten im Schlosshof in ihren Schranken nach Ständen geordnet Aufstellung. Nachdem alle Anwesenden ihren Platz eingenommen hatten, betrat Friedrich Wilhelm unter Begleitung seiner höfischen Entourage und hoher Minister den Balkon und nahm auf dem Thron Platz. Nacheinander richtete der Kanzler des Königreichs von Wegnern eine Anrede an die Stände, die für die Stände des Königreichs Preußen durch den Huldigungs-Hauptmarschall von Brandt und für die Stände des Großherzogtums Posen durch den Huldigungs-Hauptmarschall von Posinski beantwortet wurde. Darauf las der Regierungsrat Zander die Eidesvorhaltung und den Huldigungseid vor, der von den Deputierten wörtlich und mit gehobenen Fingern nachgesprochen wurde.28 Bis dorthin bewegte sich die Huldigung in den bekannten Bahnen. Nun aber folgte eine Innovation des Zeremoniells, die den herkömmlichen Sinn der Huldigung transformierte. Nachdem der Eid geleistet worden war, erhob sich Friedrich Wilhelm vom Thron, trat vor die Deputierten und richtete, das offizielle Zeremoniellprogramm durchbrechend, seinerseits
—————— 28 Vgl. August Witt, Die feierliche Erbhuldigung der Stände des Königreiches Preußen und des Großherzogthumes Posen am 10. September 1840, der Huldigungs-Landtag des Königreiches Preußen, und die aus Veranlassung der Anwesenheit Ihrer Majestäten in Königsberg stattgefundenen Festlichkeiten, Königsberg 1840, S. 90-112.
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eine Ansprache an die versammelten Deputierten. Mit gehobener rechter Hand versprach der König: »Und Ich gelobe hier vor Gottes Angesicht und vor diesen lieben Zeugen Allen, daß Ich ein gerechter Richter, ein treuer, sorgfältiger, barmherziger Fürst, ein christlicher König sein will, wie Mein unvergessener Vater einer war! (...) Bei uns ist Einheit an Haupt und Gliedern, an Fürst und Volk, im Großen und ganzen herrlicher Einheit des Strebens aller Stände nach einem schönen Ziele – nach dem allgemeinen Wohle in heiliger Treue und wahrer Ehre.«29
Nachdem der König seine Ansprache beendet hatte, brach ein allgemeiner Jubel unter den Anwesenden aus. Die Rede war dabei weniger wegen ihres Inhalts von Interesse, sondern als neuartige symbolische Handlung. »Die Kraft der Stimme, der Schwung der Worte, die Poesie der Bilder, vor allem Das Neue und Ungewöhnliche der Kundgebung«, erinnerte sich der seinerzeit in Königsberg als Student eingeschriebene Liberale Ferdinand Falkson, »machten in diesem Momente einen gewaltigen Eindruck, der noch lange nachwirkte.«30 Bemerkenswert war die Ansprache Friedrich Wilhelms vor allem, weil sie den traditionellen Sinn der Huldigung gleichsam umkehrte. Denn während die traditionelle wechselseitige Verpflichtung zugleich eine Hierarchie geschaffen und bestätigt hatte, weil die Untertanen einen feierlichen, religiös gebundenen Eid zu leisten hatten, dem lediglich eine Privilegienbestätigung durch den Fürsten gegenübergestellt war, hatte der preußische König die Eidesleistung nun praktisch mit einem Gegenschwur beantwortet. Damit hatte er sich symbolisch auf die gleiche Stufe wie die Deputierten gestellt. Auch wenn das keineswegs der Intention Friedrich Wilhelms entsprach, wurde es doch so interpretiert. »Was war es denn«, fragte Robert Prutz in seinem Bericht, »was die Menge in diese Trunkenheit versetzte?« Es sei weniger der Inhalt der Rede gewesen, sondern »es war der unerhörte Anblick eines Königs, der in Person vor sein Volk trat, und, unaufgefordert, unverpflichtet, den Eid der Treue, den er empfangen, mit einem gleichen Eide erwiederte; (...) Dazu kam die Erinnerung an die Worte des Landtagsabschieds. Nicht wenige von den Zuhörern gestanden hinterdrein, sie hätten, als der König zu reden an-
—————— 29 Ebd., S. 113f. 30 Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königberg (1840-1848), Breslau 1888, S. 39.
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hub, nichts Geringeres erwartet, als es werde nun sofort die Verfassung verkündet werden.«31 Prutz bezog sich hier auf die Verhandlungen des zuvor abgehaltenen Huldigungslandtags. Die ständischen Deputierten hatten diesen traditionellen Rahmen genutzt, um vorsichtig auf die Gründung einer »verfassungsmäßigen Vertretung des Landes« zu drängen.32 Der königliche Landtagsabschied vom 9. September hatte darauf nicht eindeutig geantwortet. Friedrich Wilhelm IV. hatte hier lediglich verkünden lassen, dass er den Ständen »in einer in hergebrachter Form auszufertigenden Assekurationsurkunde, die feste und unverbrüchliche Aufrechterhaltung der bestehenden ständischen Verfassung der Provinz, wie sie durch die erlassenen Gesetze begründet ist, bei Unserem Königlichen Wort zusichern wollen«. Hinsichtlich der Bitte des Landtags um die Erweiterung der ständischen Verfassung mit »Bezugnahme auf die Verordnung vom 22. Mai 1815« wolle er jedoch »den naturgemäßen auf geschichtlicher Entwickelung beruhenden und der Deutschen Volksthümlichkeit entsprechenden Weg« seines Vaters weitergehen, dessen Ergebnis die bereits »verliehene provinzial- und kreisständische Verfassung« sei.33 Daraus sprach zunächst eine klare Ablehnung konstitutioneller Reformen. Die Annahme einer Übereinstimmung der ständischen Propositionen mit den Vorstellungen des Königs wurde jedoch dadurch genährt, dass der Landtagsabschied in das zeremonielle Geschehen der Huldigung eingebunden war. Hier waren es weniger die inhaltlichen Einzelheiten der Verhandlungen, die im Vordergrund standen, sondern der Eindruck des Ereignisses in seiner Gesamtgestalt. Die Rede des Königs bei der Huldigung wurde dabei von vielen Seiten als Beleg gewertet, dass der Erlass einer Verfassung nun unmittelbar bevorstehen würde. »Aufgeregt, voll Vertrauen, voll Erwartung und voll Hoffnung«, berichtet Fanny Lewald, wären die Menschen nach dem Huldigungsakt zu gemeinsamen Tafeln zusammengekommen. »Man wollte
—————— 31 Robert Prutz, Zehn Jahre. Geschichte der neuesten Zeit. 1840-1850, Erster Band, Leipzig 1850, S. 244; von einem »Gegenschwur« des Königs sprechen viele Aufzeichnungen, die auf die Königsberger Huldigung Bezug nehmen. Vgl. etwa Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, Erster Band, Leipzig 1861, S. 216; Ferdinand Raabe, Königsbergs Jubeltage während der Huldigungsfeier Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm IV. Eine Erinnerungsgabe, Königsberg 1840, S. 78. 32 Denkschrift der Stände, in: Alfred von Auerswald, Der Preußische Huldigungs-Landtag im Jahre 1840, Königsberg 1843, S. 48f. 33 Landtagsabschied, in: Auerswald, Huldigungs-Landtag [wie Anm. 32], S. 57f.
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von den Andern hören, daß man dies Alles wirklich erlebt, daß ein König von Preußen aus freiem Antrieb also zu seinem Volke geredet habe, man wollte sich aussprechen.« Dabei hätten sich viele Stimmen darin geeinigt, »die Rede des Königs als ein Versprechen, als die Zusage anzunehmen, mit welcher er die Verfassung zur Ausführung zu bringen verhieß, welche sein Vater dem Lande noch schuldig geblieben war.« Es sei in dem »Eidschwur« des Königs davon nicht direkt die Rede gewesen, »aber man hatte mit voreingenommener Seele zugehört, und das Orakel auf seine Weise gedeutet.«34 In seiner kurzen Skizze der Königsberger Ereignisse hat Heinrich von Treitschke dabei ein »verhängnisvolles wechselseitiges Mißverständnis« zwischen Monarch und Ständen ausgemacht. Während Friedrich Wilhelm die ständischen Verhältnisse habe bewahren wollen, hätten die Deputierten des Huldigungslandtags an »mindestens eine halbe Gewährung« ihrer Konstitutionsforderung geglaubt. Der Grund für dieses »Mißverständnis« lag jedoch weniger in einer naiven Leichgläubigkeit der huldigenden Stände, wie es Treitschke darstellte. Niemand habe »nüchtern« gefragt, so die Kritik des Nestors der borussischen Geschichtsschreibung, ob denn die »schwungvollen Beteuerungen« des Königs »irgendeinen greifbaren politischen Inhalt« gehabt hätten.35 Vielmehr lässt sich ein unterschiedliches Verständnis der Huldigung diagnostizieren, das den Grund für die divergierenden Interpretationen legte. Diejenigen, die meinten, dass hier eine Verfassung in Aussicht gestellt oder sogar schon bewilligt worden war, gingen paradoxerweise von einem traditionellen Verständnis der Huldigung aus. Danach besaß die symbolische Praxis eine herrschaftskonstitutive Qualität und konnte der Auftritt des Monarchen als Ausdruck dafür gewertet werden, dass die Verfassung schon verbindlich gewährt worden war. Demgegenüber zielte Friedrich Wilhelm IV. auf eine Revitalisierung ständischer Strukturen, nutzte das Ereignis der Huldigung aber in einem modernen Sinn. Es ging ihm darum, so David Barclays gelungene Formulierung, »mittels ideologischer Appelle an Verstand und Emotion das monarchische Empfinden zu festigen«. Damit, so Barclay weiter, habe sich der preußische König zum »Neugestalter der Tradition« aufgeschwungen, der vormoderne zeremonielle Versatzstücke wie die Eidesleistung in einen modernen, ideologischen Kontext transformierte.36
—————— 34 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, Zweite Abtheilung: Leidensjahre, Zweiter Theil, Berlin 1862, S. 249. 35 Treitschke, Geschichte [wie Anm. 13], S. 46. 36 Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94, 161.
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Die Diskussionen darum, ob mit der Huldigung eine Verfassung gewährt worden war oder nicht, blieben nicht auf Königsberg beschränkt. Dadurch, dass die Frage in den großen preußischen und außerpreußischen Zeitungen aufgegriffen wurde, erzielte sie einen beträchtlichen Multiplikatoreneffekt. Welches Gewicht dieser sich immer mehr zum Leitmedium politischer Kommunikation aufschwingenden Verbreitungsform zukam, lässt sich daran ablesen, wie intensiv sich gerade der preußische Staat um eine effektive Zensur bemühte.37 Das zeigte sich auch im Falle der Königsberger Ereignisse. Am 14. September 1840, fünf Tage nach dem Landtagsabschied, erschien in der Königsberger Zeitung ein Artikel, der sich mit dem königlichen Landtagsabschied beschäftigte. Aus den königlichen Worten, hieß es dort, könne die »vollkommene und beglückende Übereinstimmung der ehrerbietigst vorgetragenen Wünsche der Stände mit der Willensmeinung unseres erhabenen Monarchen« abgelesen werden.38 Innenminister von Rochow reagierte auf diese Zeitungsmeldung mit Schärfe. In einem Brief an den zuständigen Zensor, den Königsberger Polizeipräsidenten Abegg, gab er diesem seine »Überraschung« darüber zu verstehen, dass der Artikel das Imprimatur erhalten habe. Es sei absolut unzweifelhaft, dass eine »vollkommene Übereinstimmung jener Petition mit der im Landtags-Abschied ausgedrückten Königs Willensmeinung« keineswegs bestehe. Vielmehr enthalte der Abschied eine klare Ablehnung der ständischen Wünsche. Es sei dem Polizeipräsidenten auch durchaus bekannt, dass sich eine Reihe von Landtagsmitgliedern in einem »Separat-Veto« gegen die ständische Petition gewendet hätte und jene sich durch den Zeitungsartikel vielleicht zu einer Entgegnung herausgefordert fühlen könnten. Dadurch aber würde »diese zur Be-
—————— 37 Mit dem Bundespressegesetz von 1819 waren die zuvor heterogenen Zensurbestimmungen in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes vereinheitlicht worden. Der Kern des Gesetzes bestand in einer Bestimmung, die alle Schriften mit weniger als 20 Bögen der Zensur unterwarf. Jenseits der normativen Ebene war die Rechtspraxis jedoch stark von der Handhabung in den verschiedenen Staaten einerseits und dort vom Verhalten des jeweiligen Zensors andererseits abhängig. Vgl. Wolfram Siemann, Ideenschmuggel. Probleme der Meinungskontrolle und das Los deutscher Zensoren im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 71-106; Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 244ff.; zur Rolle der Zeitung als Leitmedium politischer Kommunikation im 19. Jahrhundert Jörg Requate, Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation, in: Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 139-167. 38 Königlich Preußische Staats- Kriegs- und Friedens-Zeitung, Nr. 215, 14.9.1840.
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sprechung in Zeitungen ganz ungeeignete Sache auf eine ungesunde und ärgerliche Weise zur öffentlichen Discussion gezogen werden.«39 Nachdem Abegg in einem Bericht zu der Sache Stellung genommen und darin darauf hingewiesen hatte, dass die von ihm zunächst durchaus monierte Passage des Artikels durch die Intervention des Oberpräsidenten von Schön doch noch in den Druck gelangt sei, wandte sich der konservative von Rochow an seinen liberalen Intimfeind von Schön. Seines Wissens, dozierte Rochow in einem Schreiben, gestatte das Zensurgesetz nirgends, dass »durch Zeitungs-Artikel der Sinn- und Wortlaut Allerhöchster Entscheidungen entstellt« würde. Er könne den Polizeipräsidenten Abegg daher vom »Vorwurf eines Fehlgriffs nicht freisprechen« und Schön möge ihn deshalb nachdrücklich rügen. Er glaube des Weiteren nicht verhehlen zu dürfen, dass es wünschenswert gewesen wäre, wenn Schön »durch eine bestimmtere Entscheidung dieser Tactlosigkeit des Abegg zuvorgekommen wäre.« Schön habe es nämlich nicht entgehen können, dass der fragliche Artikel eine »Entstellung der Allerhöchsten Willensmeinung« enthalte. Diese »Tendenz« gehe klar aus der Beschwerde der Königsberger Zeitung hervor, die diese nach der anfänglichen Intervention des Zensors bei ihm, Schön, eingereicht habe. Denn dort sei ausdrücklich erwähnt, dass man mit dem Artikel den »Eindruck des Artikel[s] vom 10ten September, welcher ›nach der Meinung vieler Wohlunterrichteten‹ eine falsche Ansicht enthalte, zu verwischen« versucht habe.40 Der Druck des erwähnten Artikels vom 10. September war von Rochow selbst veranlasst worden. Er wollte damit, wie er sich in einem Brief an Friedrich Wilhelm IV. äußerte, der sich in Königsberg schnell verbreitenden Interpretation entgegentreten, dass der Landtagsabschied eine Bestätigung der ständischen Wünsche nach einer »verfassungsmäßigen Vertretung des Landes« enthalte.41 Daher war in dem Artikel ausdrücklich auf den »Enthusiasmus« der Landtagsmitglieder hingewiesen worden, der durch den Landtagsabschied des Königs ausgebrochen sei, obwohl dieser die Anträge des Landtags abgelehnt habe.42 Dass die Königsberger Zeitung
—————— 39 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36 A, Rochow an Abegg, 15.9.1840. 40 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Schön, 24.9.1840. 41 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV., 28.9.1840. 42 Vgl. Königlich Preußische Staats- Kriegs und Friedens-Zeitung, Nr. 214, 12.10.1840; dazu auch die Bemerkungen von Rochows gegenüber Friedrich Wilhelm IV. in: GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV., 28.9.1840.
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darauf mit einem Artikel reagierte, der dieser Lesart widersprach, spiegelte deren Selbstverständnis. Trotz der rigiden preußischen Pressezensur genoss die Königsberger Zeitung den Ruf eines freisinnigen, liberalen Blattes, in dem vor allem außerredaktionelle Mitarbeiter mit mutigeren Beiträgen auftraten.43 Der Konflikt um den Artikel in der Königsberger Zeitung verweist allerdings auch darauf, wie schwer es war, die preußischen Zensurhürden zu umgehen. In größerem Umfang wurde daher der Weg über Staaten gewählt, die über eine liberalere Pressegesetzgebung verfügten. Im Falle der Königsberger Huldigung waren es vor allem die Leipziger Allgemeine Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung, die als Sprachrohr der konstitutionellen Kräfte dienten. In einem Brief an seinen Bruder berichtete Theodor von Rochow, dass die »Redaktion in Augsburg« mit Aufsätzen »überflutet« werde, die sich so »heftig und einseitig« mit den Königsberger Ereignissen beschäftigten, dass man sie zurückweise, andere würden aus »Rücksicht« auf die empfehlenden Personen leider gedruckt.44 Zu letzterer Kategorie gehörte auch eine am 23. September erscheinende Beschreibung der Königsberger Huldigung. Die Eidesleistung der Stände begründete deren Verfasser damit, dass ein Jeder Ursache gehabt habe, »einem König aufrichtige Treue und Liebe zu schwören, der, wie es am Huldigungstage als allgemein bekannt freudig von Munde zu Munde ging, die Petition seiner preußischen Landstände, das Gesetz vom 22. Mai 1815 in Kraft treten zu lassen, nicht nur freundlich aufgenommen, sondern auch geäußert haben sollte, daß er sich’s zur Ehre schätze, ein Werk, an dessen Entwerfung er mitgearbeitet, bald ganz in Leben treten zu lassen«. Die Stimmung sei dann noch dadurch gesteigert worden, dass Friedrich Wilhelm IV. »gegen den Treueschwur seiner Unterthanen freiwillig sein eigenes königliches Wort verpfändete!« Der großartige Eindruck der ganzen Huldigung habe dabei aus dem »königlichen Wort« resultiert, welches »von Tausenden gehört eine That geworden« sei und von dem nun »eine neue Epoche der Geschichte Preußens und Deutschlands« datiere.45 Diesen und verschiedene in der Leipziger Allgemeinen erschiene Artikel, die auch von einer Bewilligung der ständischen Anträge auf eine Verfassung sprachen, hervorhebend verwies von Rochow in dem schon angesprochenen Brief an Friedrich Wilhelm IV.
—————— 43 Vgl. Requate, Journalismus [wie Anm. 37], S. 247. 44 GStAPK, VI. HA., Nl. von Rochow B 25, Theodor von Rochow an seinen Bruder Gustav, 2.10.1840. 45 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 267, 23.9.1840.
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auf die nun eingetretenen Schwierigkeiten. Der »Hauptzwist«, der in den Zeitungen ausgetragen würde, sei leider »nicht ohne Wirkung« geblieben. Die »Meinung über die Bedeutung des Landtagsabschiedes« werde trotz dessen eigentlicher Klarheit verdreht und man beginne, »was eine Ablehnung ist, im Sinne einer Zusage zu betrachten.«46 Die öffentlichen Debatten um die Verfassungsfrage verstummten auch in der Folgezeit nicht. Mit dem Pressekampf um die Bedeutung des Landtagsabschiedes war die Verfassungsfrage nachdrücklich auf die öffentliche Agenda getreten und entfaltete hier eine »mobilisierende Langzeitwirkung«.47 Dabei war es nicht mehr entscheidend, ob die versammelten Stände tatsächlich auf eine Verfassung in einem modernen Sinn gedrängt hatten; es genügte, dass es so interpretiert werden konnte.
2. Das Berliner Zeremoniell als Ausdruck des »monarchischen Projektes« Friedrich Wilhelms IV. Dass der preußische König jedoch ein gänzlich anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft besaß, offenbarte sich in der Gestaltung der Berliner Huldigung. Ähnlich wie in Königsberg nutzten jedoch auch hier zunächst die städtischen Behörden und Gewerke den Einzug am 21. September 1840, um das eigene Gewicht im monarchischen Staat in Szene zu setzen. Dessen Organisation und Vorbereitung hatte die Berliner Stadtverordnetenversammlung in die Hand genommen und ein umfangreiches Programm entworfen. Darin war genau festgelegt, welche baulichen Einrichtungen in welcher Weise ausgeführt werden sollten, wo sich die Repräsentanten der städtischen Behörden und die Gewerke aufzustellen hatten sowie welche Gebäude seitens der Stadt am Abend zu illuminieren waren.48 Anders als im Königsberger Fall waren die Inszenierungen eher ein Ergebnis zentraler Planungen als ein Produkt allgemeiner Beteiligung. Dennoch besaß auch der Berliner Einzug durchaus einen »rein bürgerlichen und städtischen Charakter«, wie die Kölnische Zeitung am 26. September erfreut
—————— 46 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV., 28.9.1840. 47 Vgl. Neugebauer, Politischer Wandel [wie Anm. 20], S. 449ff. 48 Programm der Empfangs-Feierlichkeiten, welche bei Gelegenheit der beglückenden Rückkehr Sr. Majestät des Königs und Ihrer Majestät der Königin in die Haupt- und Residenzstadt Berlin am 21. September 1840 stattfinden, in: Streckfuß, Huldigung [wie Anm. 27], Beilagen S. 20-34.
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zu melden wusste.49 Von Kanonenschüssen angekündigt war Friedrich Wilhelm IV. am Frankfurter Tor vom Oberbürgermeister Krausnick und Repräsentanten des Magistrats und der Stadtverordneten begrüßt worden. In der Antwort auf eine Ansprache Krausnicks hatte Friedrich Wilhelm IV. dort erklärt, dass er anders als sein Vater das Recht auf Bescheidenheit noch nicht erworben habe und er daher der Stadt einen Festtag nicht verweigert haben könne. Er wolle aber das Abkommen mit den Berliner Einwohnern schließen, dass, wenn er einmal viel für das Land getan haben werde, er dann ganz still in die Mauern der Stadt einziehen könne. »In unseren Herzen«, lautete darauf die Antwort Krausnicks, »werden Ew. Königliche Majestät stets mit lautem Jubel einziehen und immer darin weilen!«50 Die Begebenheit unterstreicht den städtischen Charakter des Einzugs. Der zeremonielle Empfang des Königs war ein Privileg der Stadt, dem sich der Monarch nicht entziehen konnte. Erst nach einer verdienstvollen Regentschaft schien es dem König möglich, dieses Privileg nicht mehr zu gewähren. Auch der weitere Verlauf des Einzugs besaß einen bürgerlichen, städtischen Charakter. Auf dem Weg über den Alexanderplatz bis zum Berliner Schloss hatten sich die Gewerke entsprechend der festgelegten Ordnung aufgestellt, waren Ehrenpforten und Tribünen für geladene Zuschauer errichtet worden. Das Monarchenpaar wurde an den Ehrenpforten durch Ehrenjungfrauen begrüßt und zog dann weiter am Spalier der Gewerke entlang bis zum Schloss. »Alle kamen und wollten sich ihrem Fürsten zeigen«, hieß es in einem Bericht, »und Alle trennten sich glücklich in dem Gefühl, von ihm gesehen und bemerkt zu sein.«51 Im Huldigungsakt selbst verschob sich die Inszenierungshoheit jedoch zugunsten des monarchischen Staates. Das Zeremoniell wurde hier durch ein vom Oberhofmarschallamt entworfenes und vom Innenminister von Rochow unterzeichnetes Programm strukturiert. In insgesamt 40 Paragraphen regelte dieses den zeremoniellen Ablauf vom Aufmarsch der Bürgerschaft über die Ordnung des Gottesdienstes bis hin zu den Eidesleistungen, Standeserhöhungen und Festtafeln. Im Ergebnis stand ein Zeremoniell, das als symbolischer Ausdruck des »monarchischen Projektes« Friedrich Wilhelms IV.
—————— 49 Kölnische Zeitung, Nr. 271, 26.9.1840. 50 Vgl. A.T. Hachtmann/J. Scheu (Hg.), Chronik von Berlin’s denkwürdigsten Tagen, oder Beschreibung aller in Berlin am 21. September und 15. October 1840 bei dem Einzuge und der Huldigung stattgehabten Aufzüge und Feierlichkeiten, nebst vollständigem Namensverzeichniß aller Zunft- und Gewerks-Genossen, die daran Theil genommen, Berlin 1841, S. 9f., Zitat S. 10. 51 Ebd., S. 70.
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gelesen werden kann. Dabei sind vor allem zwei Charakteristika von Bedeutung: die ständische Ordnung und Hierarchisierung des huldigenden Volkes einerseits und die Selbstinszenierung Friedrich Wilhelms IV. andererseits.52 Nach Ständen geordnet zogen die städtischen und landgemeindlichen Deputierten sowie Ritterschaft und Standesherren am Morgen des Huldigungstages zunächst zum evangelischen Gottesdienst und zum katholischen Hochamt. Danach begaben sich die Deputierten der Städte und Landgemeinde zur Berliner Bürgerschaft in die im Lustgarten aufgestellten Schranken. Standesherren, Ritterschaft und die Geistlichkeit folgten hingegen dem Zug des Königs in das Schloss, wo im Rittersaal die Standesherren und die Geistlichkeit und im Weißen Saal die Ritterschaft huldigen sollten. Besonders auffällig an dieser Aufteilung war die Privilegierung der Ritterschaft, wie sie schon von den Städtedeputierten bemängelt worden war. In der räumlichen Anordnung wurde diese Privilegierung nun für alle Beteiligten erfahrbar. Nachdem die Ritterschaft im Weißen Saal gehuldigt hatte, stellte sie sich gemeinsam mit den Standesherren und der Geistlichkeit auf die Tribünen, die seitlich an den Huldigungsbalkon vor dem Schloss errichtet worden waren. Darauf begab sich auch Friedrich Wilhelm IV. auf den für ihn auf dem Huldigungsbalkon angebrachten Thron, und die »Haupthandlung« des Tages wurde eröffnet. Auf die Ansprache des Innenministers von Rochow antwortete der Berliner Oberbürgermeister Krausnick für die Deputierten der Städte und Landgemeinden sowie die Berliner Bürgerschaft. Jenseits des Inhalts der Reden fiel hier vor allem die Ordnung des symbolischen Raums auf. Während sich die Ritterschaft auf den Tribünen befand, musste Krausnick seine Rede von den unteren Stufen einer langen Treppe aus halten, die vom Huldigungsbalkon hinunter zum Lustgarten führte. Der von einer dem Huldigungsbalkon gegenüberliegenden Tribüne aus zusehende Schriftsteller Varnhagen von Ense kommentierte die Situation so: »Einfallender Regen störte weniger, als daß man den Bürgermeister von Berlin ganz unten auf den Stufen der ungeheuern Treppe entblößten Hauptes seine Rede halten sah; die Ritterschaft hatte oben gehuldigt, er durfte nicht hinauf; ich dachte an den tiers état in Frankreich, der seine Anträge dem Könige kniend vorbringen mußte.«53 Die Botschaft des Zeremoniells war eindeutig. Im Gegensatz zum Einzug, der noch als Fest mit einem »rein bürgerlichen und städtischen Cha-
—————— 52 Vgl. zum Folgenden die detaillierten Schilderung bei Streckfuß, Huldigung [wie Anm. 27], S. 84ff.; Vossische Zeitung, Nr. 243, 16.10.1840; Spenersche Zeitung, Nr. 243, 16.10.1840. 53 Varnhagen, Tagebücher [wie Anm. 31], S. 228f.
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rakter« gefeiert worden war, trat hier ein monarchischer Staat auf, der auf einer ständischen Hierarchie gründete. Der Monarch präsentierte sich nicht als »Bürger« unter »Bürgern«, wie es den Königsbergern bei ihrem Einzug noch erschienen war, sondern als abgehobener Herrschaftsträger, dem die Angehörigen des »dritten Standes« nur als treue Untertanen entgegentreten durften. Bei der Huldigung der Ritterschaft im Weißen Saal hatte Friedrich Wilhelm IV. in einigen Worten bereits sein Selbstverständnis als König von Gottes Gnaden zum Ausdruck gebracht. Nach dem Ende der Ansprache Krausnicks und vor der nun im Programm vorgesehenen Eidesleistung erhob sich der König jedoch erneut wie in Königsberg und richtete eine Ansprache an die im Lustgarten versammelten Menschen. Er gelobe sein Regiment in der »Furcht Gottes und in der Liebe der Menschen zu führen« und richte nun an die Anwesenden »in dieser ernsten Stunde eine ernste Frage! Können Sie, wie ich hoffe, so antworten Sie mir, im eigenen Namen, im Namen derer, die Sie entsendet haben! Ritter! Bürger! Landleute! Und von denen hier unzählig Geschaarten Alle! Die meine Stimme vernehmen können – Ich frage Sie: wollen Sie mit Herz und Geist, mit Wort und That und ganzem Streben, in der heiligen Treue der Teutschen, in der heiligeren Liebe der Christen mir helfen und beistehen, Preußen zu erhalten, wie es ist, wie ich es so eben, der Wahrheit entsprechend, bezeichnete, wie es bleiben muß, wenn es nicht untergehen soll? Wollen Sie in diesem Streben Mich nicht lassen noch versäumen, sondern treu mit mir ausharren durch gute wie durch böse Tage – O! dann antworten Sie Mir mit dem klaren, schönsten Laute der Muttersprache, antworten Sie Mir ein ehrenfestes Ja!«54 Es erscholl ein lautes »Ja« unter den Anwesenden, woraufhin die Eidesleistung vollzogen und die Feier abgeschlossen wurde. Aus Sicht Friedrich Wilhelms IV. war dies der Beweis für ein inniges Verhältnis zwischen ihm und seinen Untertanen, das sowohl den frühneuzeitlichen wechselseitig verpflichtenden Charakter der Huldigung übertraf, als auch den disziplinierenden Anspruch der absolutistischen Zeremonialwissenschaft hinter sich ließ. Aufgrund des sprachlichen Pathos ist die Rede als »weltliche Hochzeitspredigt« bezeichnet worden, die »über den herkömmlichen Ritus hinaus, das Sakrament der Ehe zwischen Fürst und Volk« stiften haben wolle.55 Ihr politischer Sinn bestand dabei darin, dass sie auf
—————— 54 Zwei Reden des Königs Friedrich Wilhelm IV. Vom Throne aus gesprochen am 15. October 1840 bei der Huldigung in Berlin, Berlin 1840, S. 12f. 55 So die Charakterisierung von Ernst Lewalter. Friedrich Wilhelms Ansprache sei keine politische Rede gewesen, sondern den religiösen Empfindungen des emotional überwäl-
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die Herausforderung des Verfassungsstaates mit der Erfindung einer fiktiven Vergangenheit reagierte, die als dem Konstitutionalismus überlegenes Modell präsentiert wurde. Darin offenbarte sich die Neigung des Königs, sich sein eigenes »kleines Mittelalter zu bilden«.56 Dirk Blasius hat Friedrich Wilhelm IV. in einem biographischen Psychogramm treffend als »selbstunsicheren Gewissensmenschen« charakterisiert, dessen psychopathisches Seelenleben in der Berliner Huldigungsrede zum Vorschein gekommen sei.57 Die Unsicherheit des Monarchen äußerte sich hier im Lavieren zwischen den politischen Polen und stabilisierte sich in dem vermeintlich persönlichen Bund, den er mit seinen Untertanen geschlossen zu haben glaubte. Mit seiner Ansprache an das Volk, die in die Form eines monarchischen Gelöbnisses gegossen war, so Blasius weiter, habe Friedrich Wilhelms IV. eine Modifikation des Huldigungsrituals vorgenommen, die »die monarchische Autorität plebiszitär verfremdete«.58 Ähnlich wie im Fall der Königsberger Rede war auch dieser Auftritt darauf gerichtet, »mittels ideologischer Appelle an Verstand und Emotion das monarchische Empfinden zu festigen«.59 Mit der Huldigungsrede, resümierte ein früherer Biograph Friedrich Wilhelms IV., habe der »Romantiker auf dem Thron« ein »Element der Revolution in den preußischen Staat eingeführt«, einer defensiven Revolution, wie man hinzufügen kann, die auf eine emotionale Wiederbelebung einer fiktiven Vergangenheit gerichtet war.60
IV. Inthronisationszeremoniell im Verfassungsstaat: Die Krönung Wilhelms I. im Jahr 1861 Nach der Revolution von 1848/49 war es auch der preußischen Monarchie nicht mehr möglich gewesen, sich gegen einen konstitutionellen Umbau des Staates zu sperren. Im Januar 1850 hatte Friedrich Wilhelm IV. eine
—————— 56
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tigten Monarchen entsprungen. Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal eines Geistes, Berlin 1938, S. 358. Brünneck an seinen Sohn Siegfried, in: Paul Herre, Von Preußens Befreiungs- und Verfassungskampf. Aus den Papieren des Oberburggrafen Magnus von Brünneck, Berlin 1914, S. 346. Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992, S. 103. Ebd., S. 101. Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94. Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. [wie Anm. 55], S. 360.
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Verfassung oktroyiert, die zwar das Modell monarchischer Herrschaft zementierte, nun aber zumindest den Vertretungsanspruch des Volkes durch die Gewährung einer Repräsentativkörperschaft anerkannte. Die in den Schlussbestimmungen des ersten Verfassungsentwurfs angekündigte Revision fiel hinsichtlich liberaler Auspizien jedoch eher ungünstig aus. Die am 31. Januar 1851 in Kraft tretende Verfassung legte die Souveränität in die Hand eines Königs »von Gottes Gnaden«. Ferner wurden die drei Pfeiler des preußischen Staates – Heer, Bürokratie und Außenpolitik – dem Einfluss des Parlaments entzogen, die Regierung lediglich vom königlichen Vertrauen abhängig gemacht, die ständische Zusammensetzung des Herrenhauses restauriert und die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses über ein Dreiklassenwahlrecht reguliert. Jedoch enthielt die Verfassung durchaus auch progressive Elemente. Dem Prinzip monarchischer Allzuständigkeit entgegengesetzt wurden die Rechte des Königs sorgfältig niedergelegt und diesen mit den »Rechten der Preußen« vormals verweigerte Freiheits- und Gleichheitsrechte gegenübergestellt. Das ständische Repräsentationsprinzip wurde für das neu gegründete Abgeordnetenhaus zugunsten einer auf Wahl beruhenden Repräsentation abgeschafft. Der Landtag erhielt das Recht der Gesetzesinitiative sowie der Etatbewilligung, und schließlich wurde die Rechtsprechung grundlegend reformiert. Mit ihren weitreichenden königlichen Prärogativen orientierte sich die Verfassung zwar noch an den Traditionen des monarchischen Prinzips, ergänzte diese aber um moderne liberale und rechtstaatliche Elemente.61 Dass man sich trotz der in den 1850er Jahren obwaltenden reaktionären Grundstimmung des politischen Alltags staatsrechtlich in einer neuen Epoche befand, offenbarte sich bei der Thronbesteigung Wilhelms I. Der bereits 1858 für seinen geisteskranken Bruder in die Regierungsverantwortung eingetretene Thronfolger hatte zunächst allgemeine Hoffnungen auf liberale Reformen ausgelöst. Obwohl er von Friedrich Wilhelm IV. ausdrücklich zur Eidesverweigerung aufgerufen worden war, hatte Wilhelm anlässlich seines Regierungsantritts den konstitutionell vorgeschriebenen Schwur auf die Verfassung geleistet und schon bald die konservative Regierung seines Bruders gegen ein mehrheitlich liberales Ministerium ausgetauscht. Dass der neue preußische Regent jedoch keineswegs ein überzeugter Verfechter des liberalen Konstitutionalismus war, zeigte sich spätestens in der Position, die er
—————— 61 Vgl. Grimm, Verfassungsgeschichte [wie Anm. 22], S. 208-211 u. 214-217; Hans Boldt, Die preußische Verfassung vom 31.1.1850, in: Hans Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 224-246.
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dann 1861 nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. in der Diskussion um die »Huldigungsfrage« einnahm. Denn nur widerwillig und unter inneradministrativem sowie öffentlichem Druck beugte er sich hier den veränderten staatsrechtlichen Verhältnissen und gab die Huldigungspläne zugunsten einer feierlichen Krönung auf. An der Krönung selbst lässt sich besonders anschaulich die Bedeutungs- und Funktionsverschiebung des monarchischen Zeremoniells im 19. Jahrhundert aufzeigen. An die Stelle der rechtlichen Verbindlichkeit der Huldigung rückte eine juristisch folgenlose Inszenierung, die gleichwohl ein großes staatspolitisches Gewicht besaß. Ganz wesentlich als Mittel zur Gewinnung politischer Mehrheiten für den monarchischen Herrschaftsanspruch eingesetzt, konnten die politischen Kommunikationsprozesse jedoch zugleich von außen beeinflusst werden. Was in diesem Zusammenhang besonders ins Auge fällt, ist die gewachsene Deutungsmacht der Presse. Jenseits der zeremoniellen Handlungen wurde hier über die politische Bedeutung der Krönung und die Legitimität des daran gekoppelten Ordnungsmodells gestritten. Auf diese Zusammenhänge wird nun näher einzugehen sein.
1. Die »Huldigungsfrage« Bereits vier Tage nachdem Friedrich Wilhelm IV. am 2. Januar 1861 gestorben war, legte der preußische Innenminister Schwerin ein umfangreiches Votum vor, in dem er sich zu der »durch den jetzt eingetretenen Thronwechsel in den Vordergrund gerückten Frage« äußerte, »ob es nach Emanation der Verfassungs-Urkunde der Erbhuldigung noch bedarf und ob sie nach deren Bestimmungen und der späteren Gesetzgebung überhaupt noch geläufig ist«.62 Als liberale Stütze des Ministeriums der »Neuen Ära«, das Wilhelm I. nach der krankheitsbedingten Niederlegung der Regierungsgeschäfte durch Friedrich Wilhelm IV. schon im November 1858 berufen hatte, nahm Schwerin einen dezidiert konstitutionellen Standpunkt ein.63
—————— 62 GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Votum des Ministers des Innern v. 6. Januar 1861 betreffend die allgemeine Landeshuldigung mit Rücksicht auf die Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850. 63 Vgl. allgemein zum Ministerium der »Neuen Ära« Leo Haupts, Die liberale Regierung in Preußen in der Zeit der »Neuen Ära«. Zur Geschichte des preußischen Konstitutionalismus, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 45-85.
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Drei Argumentationsstränge lassen sich aus Schwerins Votum herausfiltern, die gegen eine Huldigung sprachen. Zum einen verwies der Innenminister auf die Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Institutionen und Verfahren, welche an die Stelle der Huldigung getreten waren. Zweitens rekurrierte er auf die zu erwartenden Schwierigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen Repräsentationsmodi des Landtags und der Huldigungsdeputierten ergeben würden. Drittens wies Schwerin darauf hin, dass die Huldigung als herrschaftslegitimierendes und integrierendes Fest durch die zu befürchtenden politischen Differenzen entwertet werden könnte. Der Minister betonte damit zum einen den Funktionsverlust der Huldigung als eines herrschaftskonstitutiven Ereignisses und strich zugleich heraus, dass eine formale Beibehaltung des Huldigungszeremoniells dessen Bedeutung als herrschaftslegitimierendem Fest untergraben könnte. Es schien ihm notwendig, eine neue zeremonielle Form zu entwickeln, die man etwa in der Reise des Monarchen durch die Provinzen und damit in der Renaissance vormoderner peripatetischer Herrschaftspraktiken finden könnte.64 Trotz dieser Einwände hielt Wilhelm I. jedoch zunächst an seinen Huldigungsplänen fest. Während der Innenminister und mit ihm die Mehrheit des Staatsministeriums auf die Widersprüche zwischen dem herkömmlichen Huldigungseid und der Verfassung hinwies und damit einen dezidiert konstitutionellen Standpunkt einnahm, begriff der preußische König die Huldigung als Institution, die jenseits der konstitutionellen Grundlagen des Staates lag.65 Wilhelm I. konnte sich mit seinen Forderungen jedoch nicht durchsetzen und das vornehmlich aus zwei Gründen. Zum einen wollten die Minister dem Monarchen in seinem Kurs nicht folgen. In letzter Konsequenz stellten sie den König vor die Alternative, entweder im Sinne der Mehrheit des Staatsministeriums von einer traditionellen Huldigung mit Eidesleistung Abstand zu nehmen oder das Ministerium unmittelbar und noch vor den im Herbst anstehenden Landtagswahlen auszutauschen.66 Zum anderen griff auch die Presse das Thema auf. Bereits einige Tage, nachdem Wilhelm I. dem Staatsministerium angekündigt hatte, an der
—————— 64 Zar Alexander II. praktizierte diese Form moderner Reiseherrschaft zur gleichen Zeit mit großem Erfolg in Russland. Vgl. Wortman, Scenarios [ wie Anm. 2]. 65 Vgl. dazu GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 78, Wilhelm an Staatsministerium, 5.6.1861. 66 In einem Schreiben an den König vom 13. Juni bot das Staatsministerium dem König den sofortigen »Ministerwechsel« an, falls er sich für eine Huldigung und damit gegen die Mehrheitsmeinung des Staatsministeriums entscheiden wolle. Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Staatsministerium an den König, 17.6.1861.
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Huldigung festhalten zu wollen, berichteten die großen Zeitungen des Landes über Gerüchte um die Huldigungsfrage. Bereits am 11. Juni wiesen verschiedene Blätter darauf hin, dass schon bald eine Huldigungsfeier zu erwarten sei.67 In der Folgezeit entfaltete sich eine ausführliche Kontroverse um die Frage, was eine solche Huldigung zu bedeuten habe und in welchem Verhältnis diese zur konstitutionellen Grundlage des preußischen Staates stehe. Unterstützung für seine Huldigungspläne bekam Wilhelm I. nur von der Kreuzzeitung. Für das erzkonservative Blatt stand es außer Zweifel, dass dem Monarchen das Recht zukomme, sich huldigen zu lassen. Die Huldigung habe »für das Preußische Königthum selbst die Bedeutung, seinen eigentlichen Charakter in das rechte Licht zu stellen, und in symbolischer Form zu erhärten, daß das Preußische Königthum trotz Verfassungs-Urkunde in seinem innersten Wesen und seiner tiefsten Begründung dasselbe geblieben«.68 Das vermeintliche Recht der Krone wurde hier an die erste Stelle gesetzt, während der Verfassung nur ein nachgeordneter Rang zugesprochen wurde. Mit dieser Sichtweise stand die Kreuzzeitung hingegen alleine. Die liberal, konstitutionell oder demokratisch gesonnene Presse problematisierte gerade diese mit der Huldigung verbundene Hierarchisierung von Königtum und Verfassung. Die liberale Spenersche Zeitung fand den Aufhänger in der von der offiziösen Preußischen Allgemeinen (Stern)Zeitung gewählten Formulierung von »Huldigungsfeierlichkeiten«. Man wisse zwar nicht, ob der Begriff in einem traditionellen Sinne verwendet worden sei. Zweifellos habe der »Akt der Huldigung in jenem eminenten Sinne« jedoch bereits bei dem Regierungsantritt Wilhelms I. stattgefunden, »als er den Landtag das erste Mal um sich versammelt sah.« Dennoch wolle man eine mögliche Feierlichkeit in Königsberg keineswegs zum Gegenstand eines »Partei- oder Wortstreites« machen. Sicherlich würden dem König dort alle Stände »mit gleicher Liebe und Begeisterung« zujubeln. Die »monarchischen Traditionen« hätten schließlich »durch die constitutionellen Einrichtungen jedenfalls keine Abschwächung erfahren, wenn sie sich auch jetzt in deren gesetzlichen Formen bewegen.«69
—————— 67 Vgl. etwa Kreuzzeitung, Nr. 133, 11.6.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 133, 11.6.1861; Preußische Zeitung, Nr. 134, 12.6.1861. 68 Kreuzzeitung, Nr. 148, 28.6.1861. 69 Spenersche Zeitung, Nr. 135, 13.6.1861.
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Entschiedener in ihrem Urteil über zu erwartende »Huldigungsfeierlichkeiten« präsentierte sich dagegen die demokratische Volks-Zeitung. Sämtliche Staatsrechtslehrer stimmten darin überein, dass »eine ›Huldigung‹ als Staatsakt nach der Verfassung nicht mehr stattfindet, sondern an deren Stelle der Eid der Volksvertretung und der Staatsbeamten tritt, der ›dem Könige Treue und gehorsam und der Verfassung gewissenhafte Beobachtung‹ gelobt.« Alle Feiern und Festlichkeiten anlässlich des monarchischen Regierungsantritts könnten nur »ein freiwilliger Akt der städtischen Behörden und der sich hierbei beteiligenden Staatsbürger« sein. In dieser Freiwilligkeit und im »allgemeinen Charakter der Beteiligung« liege deren spezifischer Wert. Wenn die Preußische Zeitung kein solches »Organ der Waschlappigkeit« wäre, hätte sie das Drängen der Kreuzzeitung auf eine »befohlenen Huldigung« entschieden zurückgewiesen. An die Stelle einer nur »befohlenen Zeremonie«, die »in ihrem Wesen unkonstitutionell« wäre, könne sinnvollerweise nur eine »freiwillige Festlichkeit« im »volksthümlichen Sinne« treten, die eben durch die freiwillige Beteiligung einen »wahren vaterländischen Charakter« bekommen hätte.70 Ein in der Magdeburgischen Zeitung erschienener Artikel setzte sich ausdrücklich mit der Frage nach dem Verhältnis von Verfassungseid und Huldigung auseinander. Nach den Artikeln 54 und 108 der Verfassung, hieß es dort, würden die »Eide des Königs und der Landesvertreter dem ganzen Volke« gelten. Daher wäre es »mindestens überflüssig, dasselbe feierlich und öffentlich noch einmal schwören zu lassen, und daß die Stände etwas andres oder gar gegen die Verfassung schwören sollen, ist ein gar nicht zu statuirender Gedanke.« Ideen, wie sie die Kreuzzeitung hinsichtlich einer Huldigung hege, könnten dagegen »nur in Köpfen entstehen, denen das monarchische Prinzip so weit abhanden gekommen ist, daß sie nur noch ein demonstratives Königthum kennen, in Köpfen, die nicht mehr im Stande sind einen König anders als im Purpur mit Scepter und Krone zu begreifen.« Es müsse sich aber jener »gesunde Sinn des Volkes« gegen eine solche »Verrückung des Königthums« wenden, »dem der König deshalb nicht weniger König ist, weil er nicht den Beirath der Stände hört, sondern die Gesetze in Gemeinschaft mit Volksvertretern macht.«71 Unter dem Eindruck der Skepsis des Staatsministeriums und der öffentlichen Kritik an einer Huldigung lenkte Wilhelm I. schließlich ein. In einer für den 3. Juli 1861 zusammen berufenen Beratung mit dem Staats-
—————— 70 Volks-Zeitung, Nr. 136, 14.6.1861. 71 Magdeburgische Zeitung, Nr. 137, 15.6.1861.
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ministerium trug Wilhelm I. seinen Ministern vor, dass er in der betreffenden Frage zwar auf seiner Position bestehen müsse. Da die Verfassung keine Bestimmung hinsichtlich der Huldigung enthalte, sei der König nach wie vor berechtigt, eine »Versammlung von Vertretern des Volks« einzuberufen, die den schuldigen Huldigungseid zu leisten hätten. Jedoch habe sich das Staatsministerium gegen einen Huldigung und für eine Krönung als des wichtigeren und bedeutungsvolleren Aktes ausgesprochen. Es lasse sich rechtfertigen, führte Wilhelm I. weiter aus, die Krönung zu erneuern, da das Königtum in Form der Verfassung mit neuen Institutionen umgeben worden und damit in eine »neue Phase« eingetreten sei. Dennoch müsse seinen Nachfolgern ausdrücklich freigestellt bleiben, ob sie sich für eine Huldigung oder eine Krönung entscheiden wollten.72 Noch am gleichen Tag kamen König und Staatsministerium hinsichtlich einer zu veröffentlichende Proklamation überein, die in den folgenden Tagen in den Zeitungen veröffentlicht wurde. Darin reklamierte der König für sich und seine Nachfolger das grundsätzliche Recht auf die Erbhuldigung. In Anbetracht der Veränderungen aber, »welche in der Verfassung der Monarchie unter der reich gesegneten Regierung Unseres vielgeliebten Bruders Königs Friedrich Wilhelms IV. Majestät hochseligen Eingedenks eingetreten sind«, habe er beschlossen, »statt der Erbhuldigung die feierliche Krönung zu erneuern, durch welche von Unserem erhabenen Ahnherrn König Friedrich dem Ersten die erbliche Königswürde in Unserem Hause begründet worden«.73 Mit der Proklamation war die Huldigungsfrage entschieden. Wilhelm I. hatte sich den konstitutionellen Rahmenbedingungen beugen müssen, deren verbindliche Geltung in der öffentlichen Diskussion nachdrücklich betont worden war. Dass diese Diskussion mit solcher Intensität geführt worden war, resultierte keineswegs aus der Übertreibung einer eigentlich vernachlässigenswerten Nebensächlichkeit. Vielmehr stand hinter dem Streit um die Huldigungsfeier ein »Verfassungsproblem von erheblichem Rang« (Ernst-Rudolf Huber). Denn wäre die Erbhuldigung in der herkömmlichen Form durchgeführt worden, so hätte sich der Monarch in einem möglichen Verfassungskonflikt mit den Kammern leicht auf das sich in der Erbhuldigung aktualisierende provinzialständische Verfassungsrecht berufen können. Das dahinter stehende ständische Ordnungsmodell war aber durch die 1850 erlassene Verfassung ersetzt worden. Es war diese
—————— 72 GStAPK, I.HA, Rep. 77, Tit. 859, Nr. 37a, Kronratsprotokoll, 3.7.1861. 73 Spenersche Zeitung, Nr. 155, 6.7.1861.
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Konstellation, die der Huldigungsfrage ihre Brisanz verlieh. Während die Krönung als ein »Staatsakt praeter legem« wegen ihrer Traditionslosigkeit mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen war, wäre die Erbhuldigung ein »Staatsakt contra legem« und daher verfassungsrechtlich unzulässig gewesen.74 Auch wenn sich die Kommentare nach den parteipolitischen Standpunkten unterschieden, goutierte die Presse die Proklamation mit Ausnahme der Kreuzzeitung als richtige, weil verfassungsgemäße Entscheidung. Es bestand Konsens, dass die traditionelle Form der Erbhuldigung nicht mehr mit den Prinzipien des Verfassungsstaates in Einklang zu bringen war. Auch Wilhelm I. konnte sich nicht mehr gegen diesen öffentlichen Druck entscheiden. Insofern markiert sein Regierungsantritt den Endpunkt der langen Geschichte des Huldigungseides. Jenseits des Funktionsverlustes des Eides ist hingegen zugleich eine Renaissance des Zeremoniells zu beobachten. Vor dem Hintergrund eines sich medial verändernden öffentlichen Raums gewannen die zeremoniellen Handlungsformen eine neue Bedeutung, die daraus resultierte, dass die monarchische Staatsform politische Mehrheiten für sich gewinnen musste, um dem eigenen Herrschaftsanspruch aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund wurde die Huldigung nicht ersatzlos gestrichen, sondern mit der Krönung durch eine Form des Zeremoniells ersetzt, die nicht mit den Prinzipien des Verfassungsstaats konfligierte.
2. Das Krönungszeremoniell zwischen Tradition und Innovation Einige Tage nachdem Wilhelm I. sich in der Kronratssitzung vom 3. Juli 1861 für eine Krönung entschieden und deren Durchführung auf den 18. Oktober in Königsberg festgesetzt hatte, ließ er unter Führung des Innenministers Schwerin eine Immediat-Kommission zusammenkommen, die sich mit allen relevanten Planungsfragen auseinandersetzten sollte. Als Kern dieser Kommission sollten Oberzeremonienmeister von Stillfried-Alcántara und Oberhofmarschall von Pückler für ein gelungenes zeremonielles Gesamtarrangement Sorge tragen, Domprediger Snethlage die geistlichen Belange vertreten und der Oberbaurat Stüler die erforderlichen Baumaßnahmen ins Auge fassen. Als Grundlage für die Arbeit der Kommission diente ein von Stillfried zuvor entworfenes Programm, mit dessen
—————— 74 Vgl. Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck und sein Reich, Stuttgart 1971, S. 288-290, Zitate S. 289, 290.
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Überarbeitung der preußische König die Kommission betraute.75 Im Ergebnis stand ein umfangreiches Programm, das von der Hinfahrt des Königs nach Königsberg über den dortigen Aufenthalt mit seinen zeremoniellen Kern- und Rahmenhandlungen bis zur Rückkehr nach Berlin alle beachtenswerten Punkte berücksichtigte.76 Am 14. Oktober 1861 zog Wilhelm I. feierlich in Königsberg ein und vier Tage später brach der Krönungstag an. Der Ablauf des Zeremoniells orientierte sich an dem veröffentlichten Programm. Um 7 Uhr morgens markierte Glockengeläut den Beginn des Krönungstages. Zu diesem Zeitpunkt herrschte schon ein reger Betrieb in den Straßen. Das Militär war bereits auf dem Schlosshof angetreten und hatte sich zum Spalier für den Krönungszug formiert. In Zügen geordnet trafen in der Folgezeit auch die Delegationen der Zünfte ein. Als sich dann der Krönungszug um 10 Uhr vom Schloss aus in Richtung Kirche in Bewegung setzte, war der Schlosshof vollständig gefüllt und die Plätze in der Kirche dicht besetzt. Der Krönungszug wurde durch allgemeines Glockengeläut eröffnet und bewegte sich unter musikalischer Begleitung vom Schloss zur Kirche. Unter der Regie des Zeremonienmeisters Stillfried wurden die einzelnen Gruppen – neben dem König und der Königin sowie den Prinzen und Prinzessinnen befanden sich Teile der höfischen Entourage, die Leiter der Zivilbehörden, die Inhaber der Erbämter, hochrangige Militärs sowie die Minister in dem Krönungszug – durch Marschälle angeführt. Nachdem der Zug in der Kirche angelangt war, begann der eigentliche Akt der Krönung. Auf die Liturgie und das Krönungsgebet folgend ließ sich Wilhelm den Krönungsmantel anlegen, schritt zum Altar und setzte sich dort die Krone selbst aufs Haupt. Danach ergriff er Reichsapfel, Reichsschwert und Zepter, um schließlich auch Königin Augusta zu krönen. Hofprediger Snethlage sprach das Weihegebet. Das nun einsetzende Glockengeläut und die abgefeuerten Kanonenschüssen zeigten dem auf dem Schlosshof befindlichen Publikum an, dass der Akt der Krönung vollzogen worden war. Als der kirchliche Teil der Zeremonie beendet war, bewegte sich der Krönungszug unter Jubelrufen und dem Absingen des »Heil dir im Siegerkranz« zurück zur Throntribüne. Äußerlich schlug sich der kirchliche Krönungsakt darin nieder, dass König und Königin nun mit Krönungsmantel und den Herr-
—————— 75 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Wilhelm an den Minister des Innern, 6.7.1861. 76 Vgl. GStAPK, BPH, Rep. 113, Nr. 1603, Programm zur Feier der Krönung Sr. Majestät des Königs Wilhelm; das Programm ist sofort in den Zeitungen abgedruckt und auch von den offiziellen Beschreibungen der Krönung reproduziert worden.
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schaftsinsignien ausgestattet waren. Oben auf der Throntribüne stehend neigte der König sein Zepter dreimal gegen das anwesende Publikum, um sich dann mit den hohen Würdenträgern, seinem Staatsministerium und der Generalität in den Thronsaal des Schlosses zu begeben. Dort fand ein Empfang für die Krönungsbotschafter, die katholische Geistlichkeit und die ehemaligen Reichsstände statt. Zuvor hatten sich König und Königin jedoch noch einmal von einem Fenster aus im Krönungsornat dem auf dem Schlossplatz wartenden Volk gezeigt.77 Nach dem vormodernen Verständnis der Krönung wäre damit der Vollzug der wesentlichen symbolischen Handlungen abgeschlossen gewesen. 1701 hatte Friedrich I. im Schlafgemach den Krönungsornat angelegt, sich im Audienzsaal vor dem anwesenden Hofstaat selbst die Krone aufgesetzt und dann seine Frau gekrönt. Darauf hatte er mit ihr auf dem königlichen Thron Platz genommen und die Huldigung der höheren Stände entgegengenommen. Erst dann war Friedrich I. im Krönungszug in die Schlosskirche geschritten, wo die Salbung stattfand. Nachdem der Zug in das Schloss zurückgekehrt war, wurde das rote Samttuch zerschnitten und unter das Volk verteilt, fanden im Schlossinneren die höfischen Tafeln statt, während das Volk mit einem gebratenen Ochsen und Wein verköstigt wurde.78 Mit der zeremoniellen Anordnung hatte der preußische König seinem absolutistischen Herrschaftsverständnis Ausdruck verliehen, das sich auch über die Stellung der Kirche erhob. Dabei hatte die zeremonielle Gestaltung ihre Bedeutung darin besessen, dass hervorgebracht worden war, was man symbolisch dargestellt hatte. Der Rang eines absolutistischen Königs hatte sich im symbolischen Vollzug der Krönung vor einer europäischen Hochadelsgesellschaft realisiert. Auch wenn sich durchaus noch andere bedeutsamen Momente herausarbeiten ließen, hatte hier doch die Kernbotschaft des Zeremoniells gelegen.79
—————— 77 Vgl. den ausführlichen Bericht bei Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara, Die Krönung zu Königsberg am 18. October 1861, Berlin 1873, S. 67-115. 78 Vgl. Jörg Meiner, »Diese so ungemein als rühmliche Weise König zu werden«. Ein Diarium der Krönungsfeierlichkeiten in Königsberg, in: Deutsches Historisches Museum (Hg.), Preußen 1701, Eine europäische Geschichte, Bd. II: Essays, Berlin 2001, S. 191-204. 79 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 7 (1997), S. 145-176; Dies., Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, Berlin 2002, S. 1-26; Heinz Duchhardt, Die preußische Königskrönung
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Wilhelm I. dagegen musste weder die Königswürde im zeremoniellen Handeln vor einer europäischen Hochadelsgesellschaft erst erlangen, noch seine Position gegen die Kirche behaupten. Letzterer Umstand fand seinen Ausdruck darin, dass der Akt der Krönung anders als 1701 in der Schlosskirche stattfand. Der König nahm hier die Krone vom Altar, um sie sich dann allerdings wiederum selbst aufzusetzen. Der Hofprediger Snethlage hatte nur die eher dekorative Aufgabe, das Weihegebet zu sprechen. Neben der Selbstkrönung verdient es der Beachtung, dass auf eine Salbung als der wichtigsten religiösen Handlungssequenz des traditionellen Krönungszeremoniells gänzlich verzichtet wurde.80 Die Kirche war hier zwar noch der würdevolle Ort des zeremoniellen Geschehens, aber nicht mehr der zentrale Legitimationsspender monarchischer Herrschaft. Auch wenn sich Wilhelm I. noch in der Tradition des Gottesgnadentums sah, zeigte sich in dessen protestantischer Ausprägung ein sehr viel stärker säkularisiertes Herrschaftsverständnis als etwas im katholischen Österreich oder im orthodoxen Russland.81 Darüber hinaus fand in der Königsberger Schlosskirche keine Statusveränderung mehr statt. Wilhelm I. war bereits König mit allen verfassungsrechtlich festgeschriebenen Rechten und Pflichten. Das Glockengeläut und die Kanonenschüsse, die 160 Jahre zuvor noch eine Transformation symbolisch in Szene gesetzt hatten, dienten nur noch als Signal dafür, dass sich der Krönungszug bald wieder aus der Kirche heraus, vor dem auf dem Schlosshof versammelte Publikum entlang, die Freitreppe hinauf und in das Schloss hinein entfalten würde. Woraus der monarchische Herrschaftsanspruch nun aber seine wesentliche Legitimation zog, wird an einem anderen Programmpunkt deutlich, der im Vergleich zum Zeremoniell von 1701 neu war. Nachdem katholische Geistlichkeit, Krönungsbotschafter und ehemalige Reichsstände im Inneren des Schlosses empfangen worden waren, begab sich der König zu-
—————— von 1701. Ein europäisches Modell? in: ders. (Hg.), Herrscherweihe und Königskrönung im Frühneuzeitlichen Europa, Wiesbaden 1983, 82-95; Peter Baumgart, Die preußische Königskrönung von 1701. Das Reich und die europäische Politik, in: Otto Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich, Köln, Wien 1987, S. 65-86. 80 Vgl. zu vormodernen Krönungsritualen die Beispiele in Marion Steinicke (Hg.), Investitur und Krönungsrituale: Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln 2004. 81 Vgl. Jürgen Kocka/Jakob Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Mario Kramp (Hg.), Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, Mainz 2000, S. 785-794, hier 788ff.; zu den russischen Krönungen des 19. Jahrhunderts Wortman, Scenarios [wie Anm. 2], S. 29ff.; zum österreichischen Zeremoniell unter Kaiser Franz Joseph Daniel Unowsky, Creating Patriotism. Imperial Celebrations in the Cult of Franz Joseph, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 280-293.
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rück auf die Throntribüne vor das Schloss, um dort die Ansprachen der Vertreter der beiden Häuser des Landtags sowie der provinzialständischen Krönungszeugen entgegenzunehmen. Anders als im Jahr 1701 wurde mit diesem Auftritt vor einem großen, heterogenen Publikum ein zweiter Hauptakt kreiert, der das kirchliche Zeremoniell der Krönung geradezu überstrahlte. Zwar bildete die Krönung in der Schlosskirche im Programm nach wie vor das Zentrum des Zeremoniells. Gemessen an dessen veränderten funktionalen Stellenwert kam es aber vor allem auf die »feierliche Ceremonie auf dem Krönungsbalkon im Angesicht des Volkes« an.82 Der Berichterstatter der Augsburger Allgemeinen Zeitung sah hierin sogar den »rein politische[n] (...) Theil« des Zeremoniells.83 Da die Krönung keinen statuskonstitutiven Charakter mehr besaß, ging es wesentlich darum, mit dem »äußeren Glanze«, wie es Schleinitz formuliert hatte, auf die Öffentlichkeit zu wirken. Durch den zeremoniellen Auftritt sollte in größeren Bevölkerungskreisen Zustimmung zur Monarchie gewonnen werden. In der zeremoniellen Sequenz auf der Throntribüne wurde so das Szenario des monarchischen Herrschaftsentwurfs präsentiert, zugleich zeigten sich aber auch dessen Grenzen. An zwei Aspekte soll das näher erläutert werden: zum einen an der symbolischen Ordnung des Raumes, zum anderen an den Sprechhandlungen des Zeremoniells. Die räumliche Ordnung vermittelte das Bild traditioneller Hierarchien. In der Mitte der Throntribüne und auf dem höchsten Punkt, der durch den herabhängenden Thronhimmel noch zusätzlich hervorgehoben wurde, stand der Monarch im vollen Krönungsornat. In seiner direkten Umgebung hatten sich der Kronprinz und die Prinzen des königlichen Hauses positioniert. Reichsinsignien und Reichspanier wurden von ihren Trägern präsentiert. Neben dem Thron auf der linken Seitentribüne gruppierten sich die Staatsminister und die Krönungsbotschafter, während sich die Hofstaaten und die Generalität auf der rechten Seitentribüne aufgestellt hatten. In unmittelbarer Nähe zum König, besonders abgehoben durch die prachtvollen Tribünenaufbauten und durch eine lange Freitreppe von dem übrigen Publikum getrennt, präsentierte sich hier die höfisch-militärische Elite. Demgegenüber war für die Abgeordneten des Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses nur ein Platz unterhalb der Tribüne rechts dem Thron gegenüber eingerichtet, den sie mit den Krönungszeugen aus den Provinzen teilen mussten. Auch dieser Platz war
—————— 82 Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861. 83 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 296, 23.10.1861.
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wiederum mit Schranken separiert und erst dann öffnete sich der Raum für das allgemeine Publikum. Diese Anordnung brachte das Herrschaftsverständnis Wilhelms I. klar zum Ausdruck. Er verstand sich weiterhin als König von Gottes Gnaden, dessen Position sich nicht aus einer in der Verfassung umschriebenen Stellung bestimmte und der von einer höfisch-militärischen Elite umgeben war, die ihren Führungsanspruch im Staat behaupten wollte. Allerdings mussten sowohl die Verfassung als auch die konstitutionell vorgeschriebenen Organe berücksichtigt werden. Auch wenn Wilhelm I. ausdrücklich darauf bestanden hatte, Krönungszeugen zu benennen, die an die ehemaligen provinzialständischen Huldigungsdeputierten erinnern sollten, waren die Mitglieder der Landtage als die verfassungsmäßigen Repräsentationskörperschaften im Zeremoniell nicht zu umgehen. Die Widersprüche zwischen Wilhelms Souveränitätsanspruch und der Verfassungsgebundenheit des Königsamtes, die nur noch in der staatsrechtlichen Theorie des monarchischen Prinzips problemlos harmonierten, fanden ihren Ausdruck in den Ansprachen, die nun gehalten wurden. Da auch die Krönung in der Tradition vormoderner Konsensrituale stand, wurden die Konflikte zwar nicht offen ausgetragen, lassen sich aber aus den fein ziselierten Nuancen der Ansprachen herauslesen. Auf das Podest der Freitreppe und vor den Thron tretend legte zunächst Prinz zu Hohenlohe-Ingelfingen »zu der so eben vollzogenen Krönung die ehrfurchtsvollen Wünsche« der Mitglieder des Herrenhauses nieder. Die kurz gehaltene Ansprache an den König hob die »Liebe und Treue der Preußen für ihren angestammten Herrscher« hervor und wies in einer traditionellen Form auf den »Glanz der Krone« hin, der seit 160 Jahren zugenommen habe und sich auch in Zukunft »immer strahlender« gestalten würde.84 Darauf sprach von gleicher Stelle der dem Lager der altliberalen »Fraktion Vincke« zuzuschlagende Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduard Simson, zum König. In dem Akt der Krönung trete die »unmittelbare, die persönliche Beziehung des Herrschers zu seinem treuen und freien Volke« in ihrer »unzerstörlichen Bedeutung« hervor. Diese sei durch »die Veränderung der Verfassung nicht nur nicht beeinträchtigt, vielmehr in Reinheit und Energie gesteigert« worden. Diese persönliche Beziehung mache das »Königshaus zu einem Vaterhause«. Möge daher »Eure Majestät den Zuruf treuer Liebe und bewußter hingebender Verehrung, wie er Allerhöchstdenselben
—————— 84 Stillfried, Krönung [wie Anm. 77], S. 116.
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in diesen festlichen Tagen tausendstimmig mit unwiderstehlicher Gewalt entgegengedrungen ist, auch von uns mit gewohnter Huld annehmen.« Nie sei man gewisser gewesen, schloss Simson, »damit dem tiefsten Sinne des Preußischen Volkes Ausdruck zu verleihen«, worauf er, Wilhelm, zählen könne »in guten wie in bösen Tagen«. Simson betonte hier eine »persönliche Beziehung« des Monarchen mit einem »freien Volke«, die sich gerade in der Verfassung nochmals gesteigert habe. Die konstitutionelle Ordnung des Staates präsentierte er als Garant der Übereinstimmung zwischen König und Volk. Auf dieser Grundlage hob Simson den Wert »bewußter hingebender Verehrung« hervor, die man dem König eben nicht aus Zwang, sondern aus freiwilliger Anerkennung entgegenbringe.85 Demgegenüber nahm Graf zu Dohna-Lauck als Vertreter der provinzialständischen Krönungszeugen einen dezidiert konservativen und auf die ständische Vergangenheit gerichteten Standpunkt ein. In seiner Ansprache unterstrich er, dass man im Anschluss an den »erhabenen Akte der Krönung« nicht nur die »ehrfurchtsvollsten Glück- und Segenswünsche« übermittle, sondern zugleich noch die »allerunterthänigste Huldigung« unter Versicherung der »unverbrüchlichen Unterthanentreue« gegen einen »Könige von Gottes Gnaden« darbringe. Ganz entgegen der Ansprache Simsons rekurrierte Dohna-Lauck auf die Traditionen ständischer Untertanentreue und stellte die Krönung als Beweis für die Höherwertigkeit einer göttlich abgesicherten monarchischen Tradition gegenüber »menschliche[n] Gesetze[n] und Ordnungen« dar.86 Auf diese Ansprachen, in denen die unterschiedlichen Sichtweisen der Krönung als eines Sieges des Verfassungsstaates oder als eines Beweises für den Vorrang monarchischer Souveränität zum Ausdruck kamen, antwortete der König vor dem Thron stehend. Von »Gottes Gnaden« trügen Preußens König die Krone nun seit 160 Jahren. Er selbst besteige als erster Monarch den Thron, »nachdem durch zeitgemäße Einrichtungen der Thron umgeben« sei. Soweit lag in den Worten des Königs durchaus eine Anerkennung der konstitutionellen Reformen. »Aber eingedenk«, fuhr er fort, »daß die Krone nur von Gott kommt, habe Ich durch die Krönung an geheiligter Stätte bekundet, daß Ich sie in Demuth aus seinen Händen empfangen habe.« In letzter Konsequenz war es danach eben nicht die Verfassung, welche die Position des Königs bestimmte, sondern die Tradition des Gottesgnadentums. Ein weiterer Beleg für Wilhelms Geringschätzung der Verfassung folgte im
—————— 85 Ebd., S. 116f. 86 Ebd., S. 118.
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nächsten Satz. Hier hob er die »Liebe und Anhänglichkeit« hervor, die ihm seit seinem Regierungsantritt entgegengebracht worden sei. Im »Vertrauen darauf«, überging der König souverän die eigentlichen Gründe für das Zustandekommen der Krönung, »habe Ich den althergebrachten Erbhuldigungs- und Unterthanen-Eid Meinem treuen Volke erlassen können«.87 Nur widerwillig fand sich Wilhelm mit den »zeitgemäße[n] Einrichtungen« ab, die den Thron nun umgaben. Grundsätzlich verstand er sich noch als unumschränkter König von Gottes Gnaden. Allerdings hatte sich in der zeremoniellen Präsenz der Vertreter des Abgeordnetenhauses und in der Rede ihres Präsidenten Simson gezeigt, dass die verfassungsmäßigen Einrichtungen nicht mehr übergangen werden konnten. 3. Printmedialer Deutungskampf: Demonstration des Gottesgnadentums oder Sieg der konstitutionellen Monarchie? Jenseits des Zeremoniells, das stark durch die staatliche Inszenierungshoheit geprägt war, entwickelte sich jedoch ein printmedialer Deutungskampf um den politischen Sinn der Krönung, der aus Sicht des monarchischen Staates nicht mehr zu kontrollieren war. Da symbolisches Handeln grundsätzlich deutungsbedürftig ist, insofern Ereignisse oder Gegenstände erst durch ihre spezifische Deutung einen symbolischen Charakter annehmen, wurde in der Presse letztlich um die Deutungshoheit über das Krönungszeremoniell gestritten.88 Dabei wurden die Krönungsfeierlichkeiten vor allem in Relation zur Verfassungsfrage gesetzt. Hatte die Krönung den historischen Sieg des Konstitutionalismus symbolisch bewiesen oder hatte sich das Gottesgnadentum in seiner alten Stärke zurückgemeldet? Bereits am Krönungstag wurden die ersten Interpretationen des Königsberger Zeremoniells publiziert. Hatte die Kreuzzeitung einige Monate zuvor noch vehement für eine Huldigung Partei ergriffen, konnte sich das konservative Blatt mittlerweile auch mit der Krönung abfinden. Diese, fand man nun, sei »weit davon entfernt eine leere Ceremonie zu sein«. Wenngleich »räumlich fern«, spielte der Artikel einleitend auf die Rezeptionssituation einer Öffentlichkeit der Abwesenden an, stehe man doch »im Geiste mit vor dem Altar, von welchem heute Se. Majestät unser König die Preußische Königskrone nimmt«. Und diese Krone sei dieselbe, »von wel-
—————— 87 Ebd., S. 118f. 88 Vgl. zum Symbolbegriff Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 4. Aufl., Göttingen 1997, S. 80ff.
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cher bisher jeder Preußische König bekannt, sie von Gott allein zu Lehn zu tragen«. Dementsprechend offenbare sich im Königsberger Zeremoniell die »symbolische Darstellung des Altpreußischen Staatsrechts und der Investitur von Gottes Gnaden« sowie der »unzweideutigste und vernichtendste Protest« gegen alle jene, die »das Preußische Königthum in ein Afterlehn des allgemeinen Stimmrechts zu verwandeln und das unveräußerliche Anrecht auf die Krone aus dem Bewußtsein des Preußischen Volkes zu escamotieren gedachten.« Mit der Krönung, bei der »das gesammte Preußische Volk« als Zeuge auftrete, hätte man »den unschätzbaren Beweis geführt, daß in Preußen das Königthum von Gottes Gnaden noch in dem Glauben eines ganzen Volkes festgewurzelt ist.«89 In den liberalen Zeitungen sah man das freilich anders. Ebenfalls am 18. Oktober veröffentlichte die Magdeburgische Zeitung auf der ersten Seite einen großen Artikel über die Krönung. Darin erinnerte der Autor zunächst an den Umstand, dass die Krönung »kein Act des geschriebenen Staatsrechts« sei und »gegen das Herkommen im Preußischen Königshause« stattfinde. Trotzdem könne sie aber als »etwas sehr Positives« gefeiert werden. Mit dem heutigen Tage, an dem es »zum erste Male der unumschränkte Willen eines constitutionellen Königs ist, mit seinem Volke ein monarchisches Fest zu begehen«, werden nämlich gezeigt, dass »der monarchische Sinn im Volke die tiefsten Wurzeln« habe. Daher auch könne sich die »liberale Partei« dieses Tages »besonders freuen«, sehe sie doch »nach langen Drangsalen« nun endlich »die Richtigkeit ihrer Grundsätze auf dem Throne wieder anerkannt« und sich zugleich einer Regierung gegenüber, mit der zusammen sie »vertrauensvoll an dem Wohle des Landes« arbeiten könne.90 Auch die Kölnische Zeitung unterstrich nachdrücklich, dass die Krönung ihre »mittelalterliche« Bedeutung als eines Beweises für die »Rechtmäßigkeit des Köngthums« längst abgelegt habe. Da sie aber »immer ein ehrwürdiges Symbol des echten Königthums« bleibe, ergreife »das preußische Volk gern die Gelegenheit, zu zeigen, wie tiefverwurzelt seine Anhänglichkeit an das Königthum ist und wie sehr unser König durch sein verfassungsmäßiges Regiment, durch die weisen und gerechten Grundsätze seiner Regierung sich die Liebe und das Vertrauen seiner Unterthanen erworben hat«. Man dürfe aber vor allem nicht vergessen, dass die Krönung diesmal noch eine besondere Bedeutung habe; nämlich zu beweisen, »daß dieses alte Königthum durch die Verfassung nichts von seinem Glanz
—————— 89 Kreuzzeitung, Nr. 244, 18.10.1861. 90 Magdeburgische Zeitung, Nr. 214, 18.10.1861.
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verloren habe«. Und damit könnten »wir, die Freunde des verfassungsmäßigen Königthums«, ganz besonders einverstanden sein. Das »Junkerthum« dagegen täusche sich gewaltig, wenn es aus »dem mittelalterlichen Prunke der Krönung, aus den Herolden, Erb- und Erzämtern, den Standeserhöhungen u.s.w. u.s.w.« den Schluss ziehe, dass damit auch »mittelalterliche Ideen wieder hochkommen.« Preußens Könige seien »zu aufgeklärt, um nicht einzusehen, daß das Königthum nicht in den toten Formen einer längst überlebten Vergangenheit gedeihen kann«. Dieses könne sich dagegen nur »jung und frisch« erhalten, wenn es sich mit den »Ideen und Bedürfnissen der Zeit in Übereinstimmung« befinde.91 Dass die Krönung als symbolischer Ausdruck des konstitutionellen Zeitalters zu werten sei, darin waren sich die liberalen Zeitungen durchweg einig. Da die Bedeutung des symbolischen Handelns in einer Presselandschaft verhandelt wurde, die nicht mehr über zensorische Maßnahmen zu kontrollieren war, musste sich der monarchische Staat auf eine aktive Pressepolitik besinnen, um auf die vielschichtigen, politisch motivierten Interpretationen zu reagieren. Hierzu ließ das Staatsministerium am Tage der Krönung einen Artikel in der Sternzeitung veröffentlichen, der zunächst den historischen Ursprung der Krönung in Erinnerung rief. Die Krönung sei jedoch nicht zu einer »bei jedem Regierungsantritt wiederkehrenden Gewohnheit« geworden. Ihre erstmalige Wiederholung entspringe der Einsicht Wilhelms I., dass »der Staat auf seinen äußeren und inneren Bahnen, daß das erhabene Königshaus und sein treues Volk neuen Geschicken entgegenreisen, zu denen beide sich würdig vorbereiten wenn sie in hoher, ernster Feier das unvergleichliche Band, welches sie verknüpft, und die eigenthümlichen Grundlagen welche diesem Staate seine wunderbare Geschichte geben, und die daraus stammenden Pflichten sich dem Herzen und dem Willen tief einprägen.« In der »Epoche der politischen Freiheit« sei der preußische Staat »die lebendige, sich täglich vollziehende That des preußischen Volks und seines Herrscherhauses.« Vor diesem Hintergrund nehme Wilhelm I. nun am heutigen Tage »die Königskrone vom Tische des Herrn«, und zwar »zum Zeichen daß er mit königlichen Gedanken, mit der Kraft eines eigenen hohen Willens die Geschicke eines freien Volkes in einer Zeit tiefer Bewegungen und neuer Gestaltungen, zur herrlichen Mehrung des unvergleichlichen Ruhms seiner Ahnen, einer glücklichen und glanzvollen Zukunft entgegenführen will«.92
—————— 91 Kölnische Zeitung, Nr. 289, 18.10.1861. 92 Allgemeine Preußische Zeitung, Nr. 244, 18.10.1861.
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In der politischen Bewertung der Krönung blieb der Artikel eher vage. Einerseits wurden die Neuerungen der »Epoche der politischen Freiheit« anerkannt, wurde auf die »neuen Geschicke« eines »freien Volks« und das notwendige Zusammenwirken von Monarch und Volk als Grundlage des preußischen Staates verwiesen. Anderseits wurde zugleich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der König die Krone aus eigenem Recht »vom Tische des Herrn« nehme und es seine Tatkraft sei, die »zur herrlichen Mehrung des unvergleichlichen Ruhm seiner Ahnen« den preußischen Staat in die Zukunft führe. Grundlage dafür sollte schließlich das nicht näher erläuterte »unvergleichliche Band« sein, das Monarch und Volk verbinde. Eine solche offene Darstellung entsprach der gesamten Strategie des Staatsministeriums in der Frage der printmedialen Popularisierung der Krönung. Man versuchte durch politisch unverfängliche, aber eindrucksvolle Berichte ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Da die Sternzeitung aber nur einen vergleichsweise kleinen Leserkreis erreichen konnte, kam es vor allem darauf an, dass die Artikel auch in anderen Zeitungen abgedruckt wurden. Das konnte man jedoch nur erreichen, wenn man politisch moderat blieb. Dass diese Strategie durchaus verfing, kann man an der Publikation des oben angeführten und anderer Artikel zur Krönung ablesen, die in verschiedenen großen Zeitungen abgedruckt wurden.93 Aus Sicht des Staatsministerium musste es das Ziel der aktiven Pressepolitik sein, den Glanz des Krönungszeremoniells möglichst weit zu verbreiteten. Jedoch zeigten die unterschiedlichen politischen Interpretationen in den übrigen Zeitungen, dass eine effektive Deutungskontrolle in einer ausdifferenzierten Presselandschaft nicht mehr zu leisten war.
V. Zusammenfassung Das Huldigungs- und Inthronisationszeremoniell blieb als Phänomen der longue durée über das 18. Jahrhundert hinaus erhalten. Zwar ging der rechtliche Gehalt der Huldigung, ihr Charakter als »Verfassung in actu« allmählich seit der Aufklärung und dann vor allem mit dem Aufkommen des Konstitutionalismus verloren. Darüber hinaus wurde zu Beginn des 19. Jahr-
—————— 93 Vgl. zu dem angesprochenen Artikel Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 293, 22.10.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861; sowie viele unterschiedliche Meldungen über die Krönung auch in der Spenerschen Zeitung.
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hunderts an vielen Höfen auf dynastische Prachtentfaltung verzichtet. Jedoch kamen ausführliche monarchische Repräsentationen seit den 1830er und 1840er Jahren wieder in Mode. Auch die Regierungsantritte der Monarchen wurden wieder expliziter gefeiert. Die Huldigungsfeiern, die im Jahr 1840 anlässlich der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. gefeiert wurden, zeigten noch eine Überlagerung von traditionellen Bedeutungsebenen der Huldigung als eines herrschaftskonstitutiven Aktes und dem neuen Stellenwert der Zeremoniells als herrschaftslegitimierendem Ereignis. Dabei ist hier argumentiert worden, dass der von Heinrich von Treitschke als Missverständnis gedeutete Widerspruch zwischen den Verfassungshoffnungen, die sowohl in Königsberg als auch in der preußischen Öffentlichkeit geäußert wurden, und dem konservativen »monarchischen Projekt« Friedrich Wilhelms IV. auf eine entgegen gesetzten, paradoxen Lesart der Huldigung zurückzuführen ist, die ihren Grund in der Überlagerung dieser beiden Ebenen hatte: Diejenigen, die sich eine Verfassung erhofften, interpretierten die Huldigung traditionell, während der konservative König die Huldigung in einem modernen Sinne verstand. In den Königsberger und Berliner Ereignissen des Jahres 1840 bewegten sich die Herrschaftsrepräsentationen in einem sich öffnenden Spannungsfeld zwischen Herrschaftskonstitution und Herrschaftslegitimation, was in den unterschiedlichen Auffassungen der Akteure einen beredten Ausdruck fand. Bei der Krönung im konstitutionellen Preußen des Jahres 1861 war diese Ambivalenz verschwunden. In der Diskussion der »Huldigungsfrage« zeigte sich, dass die rechtverbindliche Herkunft des Huldigungsaktes ein solches Zeremoniell im Verfassungsstaat nicht mehr zuließ. In der Krönung offenbarte sich dann eine Form der Herrschaftsrepräsentation, die juristisch folgenlos war, aber eine eminente staatspolitische Funktion zur Legitimation des monarchischen Herrschaftsanspruchs besaß. Vor dem Hintergrund einer politisch ausdifferenzierten Presselandschaft war jedoch nicht mehr sichergestellt, dass die gewünschte Wirkung auch durch das Zeremoniell erzielt wurde. Die Deutungskontrolle des symbolischen Handelns war hier aufgrund der medialen Struktur des öffentlichen Raums zum Scheitern verurteilt. In der Vormoderne hatte die Huldigung ein typisches Konsensritual dargestellt. In der Aufführung der Huldigung war symbolisch die prinzipielle Einigkeit über die Struktur der Herrschaft zum Ausdruck gebracht worden. In dieser Hinsicht zeigte bereits die Huldigung für Friedrich
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Wilhelm IV., dann aber vor allem die Krönung für seinen Nachfolger auf dem preußischen Thron, dass ein solcher Konsens über die politische Ordnung nicht mehr bestand. An die Stelle der Aufführung eines Konsenses trat immer stärker die Abbildung eines Konflikts, auch wenn das gerade nicht im Interesse des monarchischen Staats lag. Diente das Zeremoniell einerseits der Legitimation monarchischer Herrschaft, entwickelte sich andererseits ein komplexer Kommunikationsprozess, in dem die Inszenierungshoheit des monarchischen Staates unterlaufen werden konnte. Symbolgeschichtlich lag der Grund dafür in einer langfristigen Verschiebung von den traditionellen Realsymboliken, die unmittelbar bewirken, was sie symbolisieren, zu einem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzenden deutungsoffenen Symbolgebrauch.94 Peter Burke hat darauf hingewiesen, dass sich mit dem Aufstieg des »buchstabengetreuen Denkens« ein Übergang zur »modernen Weltanschauung« diagnostizieren ließe, in der »die Einstellung gegenüber Symbolen viel zwiespältiger« geworden sei.95 Für die hier untersuchten Formen des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells ist dieser Einschätzung ausdrücklich zu folgen. Denn die prinzipielle Deutbarkeit symbolischen Handelns ermöglichte nun die politisch-reflexive Vereinnahmung des zeremoniellen Geschehens. Nach dem Verlust ihrer rechtskonstitutiven Verbindlichkeit wurden Herrschaftsrepräsentationen – verstanden als Darstellungen von Herrschaftsverhältnissen – zu einem politisch umkämpften Terrain.
—————— 94 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Emblematische und symbolische Formen der Orientierung, in: ders. (Hg.), Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989, S. 158-184. 95 Peter Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole, in: Rebekka Habermas/Niels Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992, S. 21-41, hier 30f.
Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«: Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Alexa Geisthövel »Aufrecht am Eckfenster« hat der Schriftsteller Günter de Bruyn ein Kapitel seines 2002 erschienenen Buches Unter den Linden überschrieben, in dem er die berühmte Berliner Straße entlang spaziert und historische Orte mit historischen Persönlichkeiten belebt. Beim »Alten Palais« an der westlichen Seite des Opernplatzes, gegenüber der Reiterstatue Friedrichs II., schräg gegenüber von Humboldt-Universität und Staatsbibliothek, sind es Kaiserin Augusta und Kaiser Wilhelm I., die ihm Stoff für Anekdotisches liefern. Seitenweise kolportiert er die Prüderie der Kaiserin, bevor er auf jene Szene zusteuert, nach der das Kapitel benannt ist: Das Arbeitszimmer des Kaisers »war, des sogenannten Historischen Eckfensters wegen, allen Berlinern und Berlin-Besuchern vertraut. Jeden Mittag um zwölf, wenn die Marschmusik über die Linden schallte und die Garde zur Wachablösung vorbeimarschierte, erhob sich der Kaiser von seinem Schreibtisch, knöpfte den Uniformrock zu, rückte am Hals den Pour le mérite genau in die Mitte und zeigte sich in strammer Haltung am Fenster, noch mit Neunzig kein bißchen vom Alter gebeugt.«1 Dass sich die Berliner Republik mit ein wenig Kaiserfolklore verträgt, verweist auf ein nach wie vor gültiges Ideal des menschlichen, zugänglichen Herrschers,2 das mit dem »historischen Eckfenster« zu Lebzeiten Wilhelms I. eine prägnante und in Versatzstücken offenbar langlebige Ausformung erfuhr. Schon damals wurde das Fenster als Gegenstand touristischer Schaulust beschrieben. In einem Baedeker-Reiseführer von 1878 heißt es im Abschnitt »Unter den Linden« zum Eintrag »Palais des Kaisers Wilhelm«: »Das Parterre-Zimmer nach dem Opernhause zu bewohnt der
—————— 1 Günter de Bruyn, Unter den Linden, München 2002, S. 104. Der vorliegende Beitrag geht hervor aus dem Projekt »Inszenierung der Macht vor wechselndem Publikum: Hochadelige Selbstdarstellung in Kurorten als Form politischer Kommunikation«, das Teil der ersten Förderungsphase des Bielefelder SFBs 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« war. 2 Vgl. verschiedene Beiträge in: Kursbuch 150 »König und Königin«, Dezember 2002.
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Kaiser; eine aufgezogene Fahne deutete seine Anwesenheit im Palais an; von dem Eckfenster existirt eine bekannte Photographie.«3 Die drei lapidaren Sätze liefern eine Gebrauchsanleitung für die Besichtigung des Monarchen in der an Sehenswürdigkeiten reichen Hauptstadt. Die beiden ersten Sätze grenzen den Aufenthalt des Kaisers räumlich und zeitlich ein; sie helfen dem Betrachter vor Ort auf die Sprünge. Der dritte Satz erwähnt eine »bekannte Photographie« eines Eckfensters, das noch so viel bekannter als sein Abbild sein muss, dass dem Touristen seine Bedeutsamkeit nicht weiter erläutert wird. Wichtig erscheint dagegen die Information, dass dieses Detail der kaiserlichen Behausung auch in einem Medium verfügbar ist, das massenhaft zirkuliert und es erlaubt, den Anblick des Fensters raumzeitlich verschoben zu reproduzieren. Keiner der drei Hinweise bezieht sich auf die leibhaftige Erscheinung des Kaisers, und doch kreisen sie um genau dieses Desiderat seiner Gegenwart. Die indirekte Annäherung an das politische Führungspersonal, so der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags, ist eine im Übergang zur Hochmoderne typische Haltung. Herrschaftsrepräsentation bedient sich in dieser Zeit der Figur des nahbaren Herrschers, dem das Publikum in zutraulicher Distanz begegnen kann. Im ersten Teil des Beitrags werden einige allgemeine Annahmen über die Öffentlichkeit der Monarchie im 19. Jahrhundert vorgestellt. Im zweiten und dritten Teil wird am Beispiel des »historischen Eckfensters« konkretisiert, wie sich die Annäherung an Wilhelm I. von Preußen-Deutschland in seiner häuslichen Umgebung gestaltete und wie diese in Printmedien repräsentiert wurde. Abschließend soll die Nahbarkeit des Monarchen in den 1860er bis 1880er Jahren in Beziehung zur Medienmonarchie nach 1890 gesetzt werden.
I. Monarchische Zeigepflichten und öffentliche Interaktionen im 19. Jahrhundert Der Beitrag schließt an Diskussionen zum Verhältnis von Monarchie und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert an. Lange Zeit ist dieses Verhältnis als Opposition verhandelt worden, als Machtverlust und Beharrungsvermögen
—————— 3 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Separat-Abdruck aus Bædeker’s Nord-Deutschland, Leipzig 1878, S. 19.
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der europäischen Monarchien gegenüber der Kritik und den Partizipationsbestrebungen bis dato herrschaftsferner Gruppen. Versteht man das Politische als Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, so stellte sich damit die Frage, wie »die Öffentlichkeit« als vorgestellter kollektiver Akteur Entscheidungsfindungsprozesse beeinflusste oder welche »öffentliche Meinung« die Beherrschten hatten. Eine andere Perspektive nehmen repräsentationshistorische Arbeiten ein, die sich mit der Verbindlichkeitserzeugung für hergestellte oder herzustellende Entscheidungen beschäftigen und die Darstellung von Herrschaft daher als elementaren Bestandteil des Politischen verstehen. Hier meint »Öffentlichkeit« eine Sphäre symbolischer Politik, in der Einzelne und Gruppen von Akteuren als Organisatoren, Protagonisten und Publikum an der Herrschaftsdarstellung mitwirken. Untersuchungen zur absolutistischen Hofkultur interessieren sich schon seit längerem für nonverbale und nichtdiskursive Kommunikationsformen, die Herrschaft für die von ihr Betroffenen sinnlich und daraufhin sinnhaft erfahrbar machen.4 Die Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert hat sich solch entscheidungsfernen Herrschaftsdarstellungen nicht zufällig von den Rändern her genähert und sich auf die Figuren von Monarchinnen oder jener männlichen Fürsten konzentriert, deren Repräsentationsgebaren Zeitgenossen und Nachwelt als Ausdruck einer devianten »Persönlichkeit« erschien.5 Ein weiterer Untersuchungsstrang geht nicht von monarchischen Individuen aus, sondern von Ereignissen expressiver Verdichtung, etwa militärischen Feiern, Monarchenbegegnungen und Huldigungen.6 Die Forschung hat das Außeralltägliche bisher aus nahe liegenden Gründen bevorzugt, weil bei diesen
—————— 4 Vgl. etwa Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 5 Dorothy Thompson, Queen Victoria. Gender and Power, London 1990; Adrienne Munich, Queen Victoria’s Secrets, New York 1996; Margaret Homans, Royal Representations. Queen Victoria and British Culture (1837-1876), Chicago 1998; Juliane Vogel, Elisabeth von Österreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, Frankfurt/M. 1998; John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4. Aufl. München 1995; Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996; Katharina Sykora (Hg.), »Ein Bild von einem Mann« – Ludwig II. von Bayern. Konstruktion und Rezeption eines Mythos, Frankfurt/M. 2004. 6 Vgl. neben dem Beitrag von Matthias Schwengelbeck in diesem Band Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt: der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871-1914, Göttingen 1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
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Gelegenheiten dicht gesäte, bedeutungssatte Quellen entstanden sind, aus denen die Verbindlichkeit einer monarchisch zentrierten »Nation«, eines »Reiches« oder »Staates« gewissermaßen hervorspringt. Demgegenüber nimmt sich das Eckfenster einer fürstlichen Behausung informationsarm und banal aus. Jedoch erlaubt diese Marginalie zu zeigen, wie sich das Profane und Alltägliche im 19. Jahrhundert in das Erscheinungsbild der Monarchie einfügte.7 Dazu gehören die hinlänglich bekannten Attribute der Bürgerlichkeit, die bürgerliche Sprecher an Adel und Fürsten herantrugen und in bestimmten Praktiken derselben wiedererkannten.8 Die »elitäre Askese« gerade des preußischen Adels beispielsweise stimmte der Form nach mit bürgerlichen Maximen von Bescheidenheit und Selbstbeherrschung überein, ohne dass deshalb von einem bürgerlichen Selbstbewusstsein der Betreffenden die Rede sein könnte.9 Neben Zuschreibungen, die die Lebensführung betreffen, finden sich immer wieder auch Aussagen über »Herablassung« und »Leutseligkeit«, die Fürsten in beiläufigen oder gesuchten Begegnungen mit Personen aus dem »Volk« an den Tag legen. Auch beim Eckfenster geht es um die Frage, wie der Monarch mit jenen Anwesenden interagierte, die zeitgenössische Beobachter als Repräsentanten des »Volks«, der Beherrschten insgesamt, beschrieben. Von Interaktion ist die Rede, wenn mehrere Personen füreinander wahrnehmbar werden und daraufhin zu kommunizieren beginnen.10 Diese einfache, instabile Form angesichtiger Kommunikation mit ihren kurzen Reaktionszeiten steht in dem Ruf, eine »menschliche« Nähe zwischen den Beteiligten herzustellen, die sich auf diese Weise wie »von selbst« verständigen. Wie Ansätze aus unterschiedlichen soziologischen Schulen nahe legen, sind Interaktionen aber alles andere als voraussetzungslos und selbstläufig. Den Effekt spontaner, unvermittelter Kommunikation können sie paradoxer-
—————— 7 Dies ist auch das Argument der noch nicht publizierten Dissertation von Eva Giloi Bremner zur kommerziellen Repräsentation der Hohenzollern-Monarchie im 19. Jahrhundert. Vgl. dies., »Ich kaufe mir den Kaiser!« Royal Relics and the Culture of Display in Nineteenth-Century Prussia, in: GHI Bulletin Nr. 30 (Frühjahr 2002), S. 87-97. 8 Vgl. Ute Daniel, Hoftheater: zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 123-125. 9 Diese Diagnose Stephan Malinowskis für die Zeit nach 1918 lässt sich auf das 19. Jahrhundert übertragen, vgl. Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Frankfurt/ M. 2004, S. 94. 10 André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/M. 1999, S. 15.
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weise gerade deshalb hervorrufen, weil sie auf wechselseitiger Beobachtung beruhen, sich häufig an standardisierte und daher erwartbare Verhaltensmuster halten, die der Situation angepasst sind und nicht etwa ein vermutetes »invariantes Selbst« der jeweils Beteiligten zum Vorschein bringen.11 Dies wird historisch bedeutsam, wenn man davon ausgeht, dass sich im 19. Jahrhundert die Kommunikationsverhältnisse fundamental wandelten. Als ein Signum dieser Epoche gilt der Bedeutungsverlust präsentischer gegenüber absentischen Kommunikationsformen. Während raumzeitlich gedehnte, mediale Kommunikation unter Abwesenden immer weitere Lebensbereiche durchdrang, verlor die lebensweltlich eingebettete Interaktion, bei der die Kommunikanten füreinander sinnlich wahrnehmbar sind, ihre Selbstverständlichkeit. Das heißt jedoch nicht, dass die eine Kommunikationsform die andere einfach ersetzte.12 Unter den Bedingungen eines medialen Regimes konnte unvermittelte Kommunikation, die auf unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung der Beteiligten beruhte, vielmehr erst in den Ruf gelangen, besonders für die Kommunikation zwischen Menschen geeignet zu sein.13 Vor diesem Hintergrund waren auch die »monarchische[n] Zeigepflichten«14 in der zweiten Hälfte des kurzen 19. Jahrhunderts angesiedelt. In der Tagespresse, in neuen Medien wie den illustrierten Familienzeitschriften, in Büchern und Fotografien zirkulierten Bilder und Texte, in denen zunehmend professionelle Beobachter allerhöchste Personen einem immer größeren Publikum von Abwesenden zunehmend kontinuierlich vergegenwärtigten. Die mediale Berichterstattung machte sich dabei zum Instrument einer der grundlegenden Paradoxien »bürgerlicher Öffentlichkeit«, indem sie die konstitutive Unterscheidung von privat und öffentlich ständig unterlief. So erörterten schon die Aufklärer gerade jene Lebensbereiche von Fürsten und Hochadel in öffentlichen Foren, die sie selbst als
—————— 11 Hans Peter Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Eine Pathologie des Alltagslebens. 3., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1980, S. 51; vgl. vor allem Erving Goffman, Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior, New York 1967; Kieserling, Kommunikation [wie Anm. 10]. 12 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1996, S. 30-31; Moritz Föllmer, Interpersonale Kommunikation und Moderne in Deutschland, in: ders. (Hg.), Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 9-44. 13 In dieser Tradition steht noch Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1991. 14 Vogel, Elisabeth von Österreich [wie Anm. 5], S. 161.
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privat deklarierten, wie etwa die Sexualität. Auch als mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. und seine Frau Luise Herrscher auftraten, die nicht in das Narrativ des ausschweifenden Hoflebens passten, sondern modellhaft bürgerliche Lebensführung auf dem Thron verkörperten, wurde gerade die Intimität ihres Familienlebens ein publizistisches Thema. Zugleich stand der vervielfältigten medialen Verfügbarkeit der Monarchen die Erwartung zur Seite, dass sie auch leibhaftig präsent sein sollten. Königin Victoria von England, Kaiserin Elisabeth von Österreich und König Ludwig II. von Bayern sind nur die prominentesten Beispiele, bei denen schon in den 1860er und 1870er Jahren dauerhafte Abwesenheit von der Hauptstadt, die Weigerung sich zu zeigen, als Verstoß gegen ihre monarchischen Pflichten kritisiert wurden.15 Gelegenheit, sich bei alltäglichen Anlässen höchstpersönlich vor einem kopräsenten Publikum von Beherrschten sehen zu lassen und dabei mit diesem zu interagieren, boten beispielsweise militärische Inspektionen, Besuche in karitativen Einrichtungen, das Erscheinen in der königlichen Theaterloge und auf dem Balkon des Schlosses oder die Spazierfahrt im offenen Wagen. Solche Auftritte und Begegnungen waren wiederum ein bevorzugtes Sujet der Berichterstattung. Die im Folgenden herangezogenen Quellen, in erster Linie Texte und Abbildungen aus illustrierten Familienzeitschriften,16 sollen in diesem Sinne vor allem daraufhin untersucht werden, wie sie die wechselseitige Wahrnehmung von Monarch und Publikum sowie daraus folgende Interaktionen thematisieren. Die Kommunikationen am Eckfenster detailliert zu untersuchen, läuft daher nicht auf eine »dichte Beschreibung« hinaus, die sich an ihrer Anschaulichkeit erfreut. Vielmehr wird versucht, durch Abs-
—————— 15 Thompson, Queen Victoria [wie Anm. 5], S. 55-57; Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, Wien 1983, passim.; Christof Botzenhart, »Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein«. Die Regierungstätigkeit König Ludwigs II. von Bayern, München 2004, S. 24-25. 16 Zu dieser besonderen Quellengattung vgl. Dieter Barth, Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974; Hartwig Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung, in: Buchhandelsgeschichte 2 (1983), Nr. 48, S. B41-B65; Bernd Weise, Pressefotografie. II. Fortschritte der Fotografie- und Drucktechnik und Veränderungen des Pressemarktes im Deutschen Kaiserreich, in: Fotogeschichte 9 (1989), S. 27-62; Joachim Schöberl, »Verzierende und erklärende Abbildungen«. Wort und Bild in der illustrierten Familienzeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens: zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München 1996, S. 207-234.
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traktion und Distanznahme einem impliziten Kommunikationsideal der Sinnlichkeit und der Nähe auf die Spur zu kommen, das für die Vor- und Darstellung der Beziehung von Herrschern und Beherrschten im Übergang zur Hochmoderne bedeutsam gewesen zu sein scheint.
II. Einblicke: Der Monarch in seiner Wohnung Damit eine Interaktion stattfindet, müssen die Beteiligten zunächst füreinander wahrnehmbar werden. Die »Sichtbarkeit« der Monarchie beginnt mit konkreten Wahrnehmungsvorgängen, mit unterschiedlichen Formaten des Sehens und Gesehen-Werdens. Dass deren Schauplatz das Wohnhaus Wilhelms I. war, verlieh den Blicken des Publikums von vornherein etwas Durch- und Eindringendes, ein Element der Grenzüberschreitung. Denn die Behausung der öffentlichen Person Wilhelm I. enthielt zwar amtliche und öffentliche Räume, zugleich galt sie aber als Behältnis seiner Privatsphäre. Wilhelm I., 1797 als zweiter Sohn Friedrich Wilhelms III. geboren, bezog das Palais nach seiner Eheschließung 1829 zunächst als Dienstwohnung und erwarb es einige Jahre später als Eigentum. Da die Ehe seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. kinderlos blieb, stand bald fest, dass Wilhelm oder sein 1831 geborener Sohn irgendwann dessen Erbe antreten würden. Es dauerte aber noch rund drei Jahrzehnte, bis er 1858 als Regent für seinen regierungsunfähigen Bruder die Geschäfte übernahm und ihm 1861 auf dem Thron folgte. Der neue Herrscher zog nicht in das Schloss um, sondern blieb zeitlebens in einem Gebäude wohnen, das nicht nur weniger repräsentativ, sondern auch stärker in ein städtisches Umfeld hineingebaut war. Das Haus des Königspaares lag an der Straße Unter den Linden, die gesamte Gebäudefront grenzte unmittelbar an das Trottoir, die freistehende linke Seite zum Opernplatz schirmte eine begrünte Pergola ab.17 Von Januar bis Mai – Sommer und Herbst waren Kuren, Manövern, Jagden, Besuchen auswärtiger Höfe und anderen offiziellen Terminen vorbehalten – lebte Wilhelm I. auf dieser linken Seite des Hochparterres, seine Frau Au-
—————— 17 Vgl. Helmut Börsch-Supan, Wohnungen preußischer Könige im 19. Jahrhundert, in: Karl Ferdinand Werner (Hg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1982, S. 99-120, hier S. 110-113.
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gusta in den Räumen darüber im ersten Stock. Rückwärtig schloss sich die damalige königliche Bibliothek an, rechts Unter den Linden das niederländische Palais. Bei Umbauten in den 1830er Jahren waren an der rechten Rückseite weitläufige Räumlichkeiten entstanden, die über den ganzen Block bis zur Behrenstraße reichten; dort lag die Zufahrt für die Wagen, es folgten Remisen und Wirtschaftsräume, im ersten Stock befanden sich Tanzsaal, Wintergarten und Speisezimmer.18 Vor der Reichsgründung waren die Linden eine Mischung aus repräsentativer Prachtstraße und vornehmer Flaniermeile, bis sich in den Gründerjahren ihr westlicher Teil in die »führende Geschäftsstraße« Berlins verwandelte, in der auch das kommerzielle Amüsement seinen Platz hatte.19 Dass das Publikum der Linden zur »Straße« wurde und sie für eine politische »plebejische Öffentlichkeit« beanspruchte, war nur 1848 der Fall, als Prinz Wilhelm im März aus Berlin fliehen musste und Revolutionäre sein Palais besetzten.20 Mit der Wandlung des »Kartätschenprinzen« zum »Heldengreis« wurde auch sein Haus zum Schauplatz von Ovationen und Triumphen. Als ein Element der Herrschaftsarchitektur waren seine Öffnungen in den Raum des potenziellen Publikums hineinmodelliert: Die Rampen beiderseits des Hauptportals führten unmittelbar vor dem Eingang zu einer leicht erhöhten Bühne, die dem Straßenterrain zugewandt war; noch ausgeprägter verschränkte der Altan des Palais als Zeige- und Verlautbarungsplattform Innen und Außen des Gebäudes. Anders als Portal und Altan war das äußerste linke Eckfenster im Hochparterre zwar eine Öffnung, aber keine architektonisch privilegierte, bewusst gestaltete Schnittstelle mit dem Straßenraum. Das Fenster mit seinen besonderen Ein- und Ausblicken muss man sich als optischen Trampelpfad vorstellen, den gewohnheitsmäßige Benutzung bahnte. Ein Fenster hat die materielle Eigenschaft, eine Wand durchlässig, und zwar in erster Linie durchsichtig, zu machen. Bildet es eine Schleuse zwischen Haus und Straße, verbindet es einzelne, die sich dauerhaft im Inneren aufhalten, und eine fluktuierende, potenziell unbegrenzt Vielzahl auf der
—————— 18 Vgl. Grundriss in Eduard Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim. Darstellungen aus dem Palais Weiland Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm I. und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Augusta, Berlin 1890, Tafel 46. 19 Werner Knopp, Kulisse der Macht im Kaiserreich, in: Helmut Engel / Wolfgang Ribbe (Hg.), Via triumphalis. Geschichtslandschaft »Unter den Linden« zwischen FriedrichDenkmal und Schlossbrücke, Berlin 1997, S. 47-60; Winfried Löschburg, Unter den Linden. Geschichten einer berühmten Straße, Berlin 1991, S. 178-188. 20 Die Linden. Vom kurfürstlichen Reitweg zur hauptstädtischen Allee (Ausstellungskatalog), Berlin 1997, S. 70-71.
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Straßenseite. Die Personen auf beiden Seiten können Sender und Empfänger von Blicken sein, die sich im Sonderfall treffen und in Gesten und Zurufe münden, also die Möglichkeit der Reziprozität beinhalten. Die vom Fenster organisierten Wahrnehmungsverhältnisse sind jedoch asymmetrisch: Von innen gesehen liegt draußen ein unfokussiertes, weites Blickfeld, von innen werden die Sichtbedingungen reguliert, wird das Fenster geöffnet und geschlossen, verdeckt, erleuchtet und verdunkelt. Umgekehrt konzentriert sich der Blick nach innen auf einen kleinen, informationsreichen Ausschnitt, den unterschiedlich gestaltete Barrieren weiter einschränken können. Das Eckfenster zog Interesse auf sich, weil dahinter das Arbeitszimmer des Herrschers lag. Die hier geleistete Schreibtischarbeit wurde spätestens nach der Thronbesteigung bedeutsam, und die Möglichkeit des Einblicks floss schon wenige Jahre später in die Berichterstattung ein. Ein Artikel in der Zeitschrift Daheim gab 1865 den Hinweis, im Winter könne man ab sechs Uhr morgens »den hohen Herrn in bequemer Uniform an dem Fenster jenes Eckzimmers des Palais unter den Linden am Pulte stehen und arbeiten sehen. Besagtes Eckzimmer ist das königliche Arbeits- und Vortragszimmer; von da aus wird Preußen regiert.«21 In dieser Passage fungiert das Fenster als Guckloch in das dahinter liegende Zimmer, die Betrachtung ist einseitig. Die Information: »Von da aus wird Preußen regiert«, lokalisiert das überschaubare Ensemble des Königs am Schreibpult als handelndes Zentrum des Staates. Abgerundet wird diese Sichtbarkeit und vermeintliche Transparenz von Herrschaft durch den Hinweis, dass jeder beliebige Anwesende sich mit einem Blick durch das Fenster selbst vom Tätigsein des Monarchen überzeugen kann.22 Den Herrscher als fleißigen Frühaufsteher darzustellen, war kein Novum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Motiv des arbeitsamen Monarchen gehörte einem repräsentativen Gestus an, der seit dem späten 18. Jahrhundert aus vielen Schriften, aber auch aus zahlreichen Herrscherporträts von hochoffiziellen Gemälden bekannt ist.23 Auf diesen bot sich der Fürst meist an den Schreibtisch gelehnt oder von der Arbeit aufsehend dem Betrachter dar, so auch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf dem bekannten Gemälde Franz Krügers.24 Die im Bild Dargestellten konzentrieren sich momentan
—————— 21 Der Preußische Hof, Daheim, Nr. 45, August 1865, S. 658. 22 Ähnlich EK, Kaiser Wilhelm’s Umgebung, Illustrirte Zeitung, Nr. 1801, 5. Januar 1878, S. 7; Zu Kaisers Geburtstag Daheim, Nr. 24, 18. März 1882, S. 375. 23 Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975, S. 105-107. 24 Ebd., Abb. 110-113.
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nicht auf die Arbeit, sondern auf den Blickkontakt mit dem Betrachter, sie scheinen mit dem Betrachter zu kommunizieren und die Situation somit zu kontrollieren. Anders sind die durch das Eckfenster gesehenen Schreibtischszenen angelegt: Hier wird jemand in Augenschein genommen, der in seine Arbeit vertieft ist und nichts davon weiß oder sich nicht darum kümmert, dass er gerade beobachtet wird. Frei vom Gegenblick des Betrachteten kann der potenzielle Passant, den ein längerer Artikel von 1868 über das »Arbeitscabinet« des preußischen Königs evoziert, zu einer Ansicht kommen, die sich nicht den Einschränkungen einer (fingierten) Interaktion zu unterwerfen hat: »Das Urtheil der Geschichte steht über König Wilhelm noch aus; wir, die Zeitgenossen, vermögen über ihn nur nach dem Augenschein und nach unserm persönlichen Empfinden zu urtheilen. Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, den Monarchen einmal in der Nähe, und seis auch nur hinter den Scheiben seines Arbeitszimmers, zu beobachten, wird den Eindruck dieser hohen und gebietenden und dabei doch so ernstlich freundlichen Erscheinung empfunden haben. Dieser halb unbewußte Eindruck aber kann durch den Einblick in sein Zimmer und auf seine tägliche unmittelbare Umgebung nur noch gesteigert werden«.25
Die zugehörige Illustration (vgl. Abbildung 1) begibt sich wie das klassische Schreibtisch-Gemälde in den Innenraum, doch auch hier besteht die überlegene Zuschauerposition darin, ein unbemerkter Beobachter zu sein. Das gezeigte Motiv ist seit dem Ende der 1860er Jahre nicht nur in anderen Massenbilder anzutreffen – wie der Illustration in einem Kinderbuch von 1877 (vgl. Abbildung 2) –, Abbildung 1: »König Wilhelm I. von Preußen in seinem sondern wird 1885 auch zum Arbeitscabinet. Originalzeichnung von H. Scherenberg«, Gegenstand eines repräsentatiIllustrirte Zeitung, Nr. 1286, 22. Februar 1868, S. 132 ven Ölgemäldes des Hofmalers Carl Johann Arnold:26 Das Arbeitszimmer konzentriert sich in einem Ausschnitt auf den mit Bildern, Karten und Büchern überhäuften Schreibtisch
—————— 25 König Wilhelm’s Arbeitscabinet, Illustrirte Zeitung, Nr. 1286, 22. Februar 1868, S. 132. 26 Abgebildet in: de Bruyn, Unter den Linden [wie Anm. 1], S. 101.
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am Eckfenster, vor dem der Monarch allein sinnierend durch das Fenster blickt oder einem Mitarbeiter im Gespräch zugewandt ist. Diese Visionen verdoppeln nicht den realen Blick von draußen, den die korrespondierenden Texte thematisieren sondern ergänzen ihn um eine fiktive omnipotente Perspektive von innen. Der Betrachter scheint nun auf eine Weise im
Abbildung 2: Das Kaiser-Bilderbuch. Zweite verbesserte Auflage mit Reimversen von Dr. Hermann Hoffmeister [...]. Leipzig: ADVA 1877, S. 51
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Arbeitszimmer anwesend zu sein, die den realen Verhältnissen im Palais nicht entspricht, weil ein so großer Abstand zur Gruppe am Schreibtisch in dem voll gestopften, an der Straßenseite relativ schmalen Zimmer nicht möglich gewesen wäre. Im permissiven Raum der Abbildung bietet sich das Ensemble hinter dem Eckfenster unverstellt, aber in gemessener Distanz wie auf einer Bühne dar. Einen Betrachter in die kaiserlichen Interieurs hineinzuversetzen, bewegte sich nicht gänzlich im Bereich der Fiktion, denn die Räumlichkeiten waren für Besucher durchaus zugänglich: Das Palais ebenso wie die Wohnungen anderer Mitglieder der herrschenden Familie konnten in deren Abwesenheit auf Anfrage beim jeweiligen Haushofmeister besichtigt werden.27 Dieses galt auch für die kaiserliche Sommerresidenz Babelsberg, deren Park nach 10 Uhr morgens sogar geöffnet war, wenn Willhelm I. sich im Schloss aufhielt. Von dieser Möglichkeit machten viele Berliner mit den sonntäglichen Extrazügen nach Potsdam Gebrauch.28 In den 1880er Jahren stand das Berliner Palais im Frühsommer dem Publikum regulär für einige Tage offen, bevor nach der Abreise des Kaiserpaars Reinigungs- und Renovierungsarbeiten begannen.29 Allzu viele Besucher dürften die hochherrschaftlichen Räume dennoch nicht besichtigt haben. Stellvertretend für die anderen Untertanen inspizierten vor allem in den Jahren nach der Reichsgründung Journalisten die Arbeits-, Wohn- und Erholungsräume Wilhelms I., damit die Zeitungsleser den Kriegsherrn nun auch als Lenker der Staatsgeschäfte und als »Privatmann« kennen lernen sollten.30 Was gab es hier zu sehen? Bereits die im frühen 19. Jahrhundert kursierenden Stiche von den Räumlichkeiten des Herrschers galten als indirekte Porträts ihrer Bewohner, sofern Architektur, Einrichtung und Ausstattung deren Herrschaftsauffassung widerspiegelten.31 Dass sich in der häuslichen Umgebung der »Charakter« des Herrschers abbilde, nahmen auch noch die Reportagen und Feuilletons der siebziger Jahre an. 1871 schilderte die Schriftstellerin Elise Polko in der Familienzeitschrift Ueber Land und Meer ihren Rundgang durch das Interieur der kaiserlichen Wohnung folgendermaßen:
—————— 27 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Illustrirter Wegweiser für 1871, 23. Aufl. vollständig umgearbeitet und ergänzt von C. Jacob, Berlin 1871, S. 91-93. 28 Georg Horn, Des Kaisers Tusculum, Gartenlaube, Nr. 15, 1872, S. 247. 29 Verschiedenes, Badeblatt, Nr. 47, 20. Juni 1884, S. 286. 30 Horn, Des Kaisers Tusculum [wie Anm. 28], S. 246. 31 Schoch, Herrscherbild [wie Anm. 23], S. 108.
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»Das eigentliche Arbeitszimmer des Kaisers mit dem mächtigen Schreibtisch, nach dessen Anblick ich mich so gesehnt, ist zwar kaum weniger [als das Wohnzimmer] gefüllt mit Kostbarkeiten verschiedenster Art, aber man fühlt es doch sofort der ganzen Anordnung an, daß hier, in seiner unmittelbaren Umgebung, nur Gegenstände ihren Platz gefunden, die ihm ganz besonders werth, Andenken aus der Welt seines Herzens und Hauses [...] ›Unser Fritz‹ in allen Gestalten tauchte auf, ebenso die Großherzogin von Baden, die Kronprinzessin, [...] und liebliche Kinderköpfchen begegneten den Augen des zärtlichen Großvaters bei jedem Blick [...]. Vor dem Tische ein einfacher Sessel mit einem verblichenen gestickten Kissen. Hier sitzt der Kaiser schon in frühster Morgenstunde wenn halb Berlin noch schläft – von diesem Plätzchen aus zittert der Schein seiner Lampe noch hinaus in die Nacht – er arbeitet mit seinem Volke und für sein Volk.«32
Der kaiserliche Arbeitsplatz ist in dieser Schilderung in seiner eigentlichen Funktion erkennbar. Ebenso stark akzentuiert Polko jedoch andere Aspekte: Als Interpretin der kaiserlichen Sachkultur präsentiert sie wie die Stücke einer Ausstellung Familiäres und persönliche Erinnerungen. Die Bilder von Sohn, Tochter, Schwiegertochter und Enkeln, Porträts der Vorfahren und die zahlreichen Geschenke von Bekannten und aus dem »Volk« verwandeln das, was hinter dem Eckfenster liegt, in eine Sphäre des Menschlichen und Intimen.33 Ähnlich verfuhr der Hofberichterstatter Georg Horn, als er 1872 in einem Artikel über den »Tag des Kaisers« die Leser der Gartenlaube – sie hatte zu dieser Zeit eine Auflage von über 300 00034 – am Alltag des Herrschers teilhaben ließ. Genau schilderte er Lage, Einrichtung und Funktion der einzelnen Räume, bis hin zu den Details des abgenutzten Schlafzimmerteppichs, der eigenhändig beschrifteten Sammlung von Säbeln und Spazierstöcken und jener zahllosen Geschenke und Erinnerungsstücke, mit denen das Arbeitszimmer »fast ein kleines Museum bildet, in welchem sich die Lebensgeschichte« des Kaisers verkörpere.35 Horn wechselt zwischen der Perspektive eines aufmerksamen Augenzeugen und der Perspektive eines informierten, distanzierten Erzählers. Er begleitet den Kaiser Stunde um Stunde durch den Tag, lässt ihn Vorträge hören und Butterbrote verzehren. Die In-
—————— 32 Elise Polko, Aus den Einzugstagen. II., Ueber Land und Meer, Nr. 44, 26 (1870/71), S. 17-18. 33 Vgl. auch Giloi Bremner zum Hohenzollern-Museum, Ich kaufe [wie Anm. 7], S. 91. 34 Kirsten Belgum, Popularizing the nation. Audience, representation, and the production of identity in Die Gartenlaube, 1853-1900, Lincoln u. a. 1998, S. 200, Anm. 57. 35 Georg Horn, Ein Tag des Kaisers, Gartenlaube, Nr. 30, 1872, S. 492.
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formation, der Kaiser kleide sich nach dem Aufstehen unverzüglich an, wird jedoch nicht so dargeboten, als beruhe sie auf eigener Anschauung. Anders als Horn kann Polko herausstreichen, dass sie unter nicht näher erläuterten Umständen Zugang zu den Räumen des Kaisers erhielt, als er zwar nicht zur Stelle, aber in Berlin anwesend war und das Palais bewohnte. Die privilegierte Augenzeugin schildert, wie erwartungsvolle Gedankenbilder mit wirklich Gesehenem konfrontiert werden: »Wie oft hatte ich mir schon dieses ›home‹ des Kaisers ausgemalt und wie anders fand ich es doch nun!« Um ihre Darstellung zu beglaubigen, beruft sie sich sowohl auf moderne Bildtechnik wie auf emotionale Wahrhaftigkeit: Mit »fast photographischer Treue haben meine Augen jeden Gegenstand daselbst aufgenommen und dem Herzen überliefert.« Ihren größten Trumpf spielt sie aus, wenn sie fortfährt: »Eine kleine Mappe war etwas zur Seite geschoben nach dem Fenster zu, und neben ihr lag die blaue Stahlbrille des Kaisers, [...] ein Kästchen mit Zündhölzern war wohl auch eben gebraucht worden«.36 Der Kaiser ist beinahe anwesend, denn Gegenstände seines Arbeitsalltags und Spuren ihres leibhaftigen Gebrauchs zeugen von seiner Nähe.
III. Ausblicke: Das Eckfenster als Interaktionsapparat In den frühen 1870er Jahren scheint das »historische Eckfenster« als Interaktionsapparat des deutschen Kaiserreichs noch unbekannt gewesen zu sein. Polko besucht die »historischen Wohnzimmer« und das »liebe Arbeitszimmer, an dessen Fenstern das Volk seinen Kaiser so oft zu sehen gewohnt ist«, Horn spricht in einem Nebensatz von der »bekannten Tischecke«, auf der sich die Arbeit stapelt.37 In dieser Zeit ist von Blicken hinein und Blicken hinaus die Rede, aber diese treffen sich, zumindest in der Berichterstattung, vorerst nicht, wie in folgendem Artikel über das Straßenleben in der neuen Reichshauptstadt: »Jenes schöne stattliche Haus mit den hohen Spiegelscheiben, an dem kein Berliner so leicht vorübergeht, ohne hineinzusehen, ist die Privatwohnung des Kaisers Wilhelm, der von seinem Fenster auf das Denkmal des großen Friedrich blickt.«38
—————— 36 Polko, Einzugstage [wie Anm. 32], S. 17, 18. 37 Ebd.; Horn, Tag [wie Anm. 35], S. 489. 38 Max Ring, Berliner Straßenbilder, Gartenlaube, Nr. 41, 1873, S. 664.
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Den kleinen Schritt von der wechselseitig möglichen Wahrnehmung zum Beginn der Kommunikation schildert dagegen 1877 ein Reim für die jüngsten Untertanen aus dem oben erwähnten Kinderbuch. Der Text zu Abbildung 2 lautet: »Und solltest am Palais du einst/ Des Kaisers Wilhelm stehen,/ Und am Eckfenster die Gestalt/ des greisen Helden sehen:/ Dann – wisse sicher – pflegt er Rath/ Und läßt sich Vortrag halten,/ Und grüßt die Leute auf dem Platz,/ die jungen, wie die alten.«39 Im Unterschied zu den repräsentativen Schreibtischporträts seit dem Ende des 18. Jahrhunderts thematisiert diese Innenansicht die Außenwelt eines potenziellen realen Publikums, das dem Monarchen beim Arbeiten zuschaut. Sie nutzt dazu unter anderem staatsmännische, majestätische Gesten und Haltungen aus dem ikonographischen Repertoire der Herrscherdarstellungen – die aufgestützte Hand, der in die Ferne gerichtete Weitblick –, die hier gleichzeitig das Eckfenster in der Bildkomposition betonen. Wilhelm I. war der neugierig-ehrfürchtigen Beobachtung durch ein Publikum vor dem Fenster ausgesetzt, zugleich nahm er die Beobachtung als Erwartung einer Kontaktaufnahme an und kam seiner monarchischen Zeigepflicht nach, indem er zu den Erwartungsvollen hinausschaute und grüßte, mit ihnen interagierte. Er war bereit, die alltägliche Beobachtung seiner Person kommunikativ zu wenden, allerdings schränkte er seine Sichtbarkeit auch ein. Einem Bedürfnis nach Rückzug, nach 1878 aber möglicherweise auch der Furcht vor Attentaten mag der Sichtschutz geschuldet sein, der das untere Drittel des Fensters verdeckte. Bei Dunkelheit blieb der Kaiser aber weiterhin als Silhouette am Schreibtisch sichtbar.40 Er schützte sich nicht nur vor Einblicken, sondern steuerte sein Sichtbarwerden, indem er es an das militärische Ritual der Wachablösung koppelte. Damit gab er ihm einen vorhersehbaren und täglich wiederkehrenden Zeitpunkt. Wenn der ablösende Wachtrupp gegen 12.45 Uhr am Palais vorbeizog, inspizierte der Kaiser von seinem Eckfenster aus die Soldaten und zeigte sich bei dieser Gelegenheit zuverlässig dem Publikum, so die Information des Baedeker von 1887.41 Diese Sequenz ist in zahlreichen Memoiren enthalten, und noch die Kaiserliteratur der Gegenwart greift
—————— 39 Das Kaiser-Bilderbuch. Zweite verbesserte Auflage mit Reimversen von Dr. Hermann Hoffmeister, Leipzig 1877, S. 52. 40 Jules Laforgue, Berlin. Der Hof und die Stadt, 1887, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1981, S. 29. 41 Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende von Karl Bædeker, 5 Aufl. Leipzig 1887, S. 45.
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mehr oder weniger variierend auf sie zurück.42 Zu besonderen Gelegenheiten präsentierte er sich gemeinsam mit seinem Enkel, später mit seinem ältesten Urenkel Prinz Wilhelm bei offenen Fenstern, manchmal auch an den Fenstern des neben dem Arbeitszimmer gelegenen Wohnzimmers.43
Abbildung 3: Das historische Eckfenster. Originalzeichnung von H. Lüders, Gartenlaube, Nr. 16, 1888, S. 268
—————— 42 Franz Herre, Kaiser Wilhelm I. Der letzte Preuße, Köln 1980 , z. B. S. 487-488; Günter Richter, Kaiser Wilhelm I., in: Wilhelm Treue (Hg.), Drei deutsche Kaiser. Wilhelm I. – Friedrich III. – Wilhelm II. Ihr Leben und ihre Zeit 1858-1918, Würzburg 1987, S. 14-75, hier S. 72-73. 43 Wilhelm Oncken, Unser Heldenkaiser. Festschrift zum hundertjährigen Geburtstage Kaiser Wilhelms des Ersten, Berlin [1897], S. 256; Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Leben 1859-1888, 6. Aufl. Berlin/Leipzig 1927, S. 102; Der Tod des Kaisers Wilhelm, Illustrirte Zeitung, Nr. 2333, 17. März 1888, S. 251.
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Dass der Hohenzollernfürst damit wieder einmal seiner überragenden Wertschätzung des Militärs Ausdruck verlieh, ist offensichtlich. Zwischen ihn und sein Publikum schob sich ein Trupp, denn der Bereich unmittelbar vor dem Fenster war zu diesem Zweck abgesperrt. Die Berichterstattung nutzte diese Gelegenheiten gleichwohl, um vor allem die Zuschauer des Spektakels zu thematisieren. Abbildung 3 aus der Nachrufnummer der Gartenlaube klammert 1888 das Straßenpublikum scheinbar aus: Der Ausschnitt zeigt nur den Wachtrupp, der am Fenster vorbeimarschiert. Die realistisch wiedergegebenen räumlichen Verhältnisse erlauben dafür eine relativ nahsichtige Perspektive auf das Fenster.
Abbildung 4: Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin. Nach einer MomentPhotographie von M. Ziesler in Berlin, Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 97
Abbildung 4, die distanziert, nahezu aus Vogelperspektive das Abbringen der Fahnen zeigt, stellt die Zuschauer dagegen nicht nur dar. Der begleitende kurze Text in der vermischten Rubrik »Blätter und Blüthen« rückt diese sogar in den Mittelpunkt, wogegen der eigentliche Anlass der Zeremonie peripher bleibt: »Der greise Monarch ist ans Fenster getreten. Freundlich lächelnd und huldvoll grüßend erwidert er die enthusiastischen Zurufe der Menge. Hier entfaltet sich
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ein schönes Bild, hier zeigt sich so recht die Liebe und Verehrung, die dem Heldenkaiser aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen getragen wird. Nicht genug, daß Erwachsene die Freude haben sollen, den allverehrten Herrscher von Angesicht zu Angesicht zu schauen, nein, Väter und Mütter heben ihre Kinder hoch empor, damit auch sie des Kaisers Antlitz sehen und in die Händchen klatschen können.«44
Den Kaiser zu sehen, als Teil einer Menge seine Aufmerksamkeit zu erlangen, erscheint als Erlebnis für Jung und Alt. Nicht umsonst verweist die Bildunterschrift der Illustration darauf, dass sie nach einer »MomentPhotographie« angefertigt wurde, also nicht nur hochgradig realitätshaltig ist, sondern sich auch dem besonderen Augenblick verdankt. Entsprechend entfalten andere Darstellungen des Jubelrituals eine Rhetorik der gespannten Erwartung, die in einem beglückenden Moment erfüllt wird. In seinem Buch vom Kaiser etwa schilderte Friedrich Adami 1884, dass sich regelmäßig ab 11 Uhr der »Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen zu füllen [beginnt].« »Da ertönt plötzlich Militärmusik – die neue Wache naht! Das ist der Augenblick, auf den alles gewartet hat. [...] Hinter den Spiegelscheiben des Eckfensters seines Arbeitszimmers erscheint das ehrwürdige Antlitz des Kaisers – mit prüfendem Auge blickt er nach jedem Gliede der Sektions-Kolonne, bis das letzte am Palais vorübermarschirt ist. Solange wartet die Menge stumm – dann aber bricht plötzlich ein dreifach donnerndes Hoch aus hunderten Kehlen, und immer wieder, wenn der Kaiser mit freundlichem Gruß [...] das Haupt neigt, wiederholt sich der Hurraruf.«45
In dieser stimmungsvoll verdichteten, über mehrere Spannungsknoten entwickelten Passage ist die fotografische Qualität des plötzlichen Sichtbarwerdens präsent, eingebettet in eine überschaubare Genreszene. Kaisertreue artikuliert sich hier als Erlebnis des Publikums. Dessen Vorrecht ist es, laut zu sein, die erwartungsfrohe Spannung in einem akustischen Ausbruch zu entladen, sobald das Zeichen zum Einsatz kommt. Der Kaiser zeigt sich, grüßt, nickt, winkt, bleibt aber stumm, während die »stürmischen Huldigungen der Volksliebe« für den Beobachter selbst zu einem Ereignis wurden, das trotz »regelmäßiger Wiederkehr bei ähnlichen Anläs-
—————— 44 H[ermann] Heiberg, Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin, Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 112. 45 Das Buch vom Kaiser Wilhelm (1884), zit. nach Herre, Kaiser Wilhelm I. [wie Anm. 42], S. 487.
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sen auf jeden, der einmal Zeuge derselben gewesen, einen unauslöschlichen Eindruck« machte.46 Das Eckfenster des kaiserlichen Palais verselbständigte sich nach der Reichsgründung gleichsam zu einem Interaktionsapparat, der die unspezifische Funktion des Fensters zugunsten einer beiderseits hochselektiven Nutzung verengte. In den 1880er Jahren stellte es ein Arrangement dar, in dem auf Seiten des Publikums Erwartbares und Ungewissheit zusammengingen. Zeit und Verlauf des kaiserlichen Auftritts hatten sich mit den Jahren eingespielt, als Ausdruck seines Pflichtbewusstseins wurde ihm der Ausspruch in den Mund gelegt, er müsse sich pünktlich am Fenster präsentieren, weil es so im Baedeker stehe.47 Eine unsichere Variable war dagegen die gesundheitliche Verfassung des betagten Monarchen, die dem Publikum jederzeit ein Nichterscheinen bescheren konnten. Das oft wiederholte Geschehen verlor seinen Ereignischarakter daher nicht, denn ein leeres Fenster konnte Unpässlichkeit, Krankheit oder sogar Tod bedeuten: »Wer jemals unter seinem Fenster weilte, wenn die Wachparade vorüberzog, dem ist die Erinnerung unvergeßlich. Wie bangte da jedes Herz, ob er auch nur erscheinen würde! Und wenn endlich das milde Greisenantlitz im historischen Eckfenster sichtbar wurde, wie jubelte man ihm dann aus voller Seele zu!«48 Ob mit diesen wohl häufig ausgeschmückten und beschönigten, aber nicht gehaltlosen Schilderungen die »Popularität« des Monarchen bewiesen ist, steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion. Festzuhalten bleibt: Über den Auftritt des Kaisers am Eckfenster zu berichteten bedeutete in der Regel, auch über sein Publikum zu schreiben und es abzubilden, zu thematisieren, was anwesende Zuschauer erwarteten, was sie von der Darbietung wahrnehmen konnten und wie sie reagierten. Die Berichterstatter boten Lesern und Betrachtern Perspektiven an, die das Großartige und das Subjektive kombinierten, die es nahe legten, sich sowohl in der privilegierten Position eines überlegenen Beobachters als auch in der Menge vor Ort wiederzufinden.49
—————— 46 Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I., Gartenlaube, Nr. 16, 1888, S. 268. 47 Oncken, Unser Heldenkaiser [wie Anm. 43], S. 256; F[riederike] Bornhak, Das Palais Kaiser Wilhelms I. Unter den Linden in Berlin. Aufzeichnungen zum Gedächtnis des Hauses, Berlin [1900], S. 21; ähnlich Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], S. 5. 48 Kaiser Wilhelm. Gedächtnisnummer des Daheim. 24. März 1888, S. 400; vgl. auch H[ermann] H[eiberg], Der Kaiser »Unter den Linden«, Gartenlaube, Nr. 12, 1886, S. 215. 49 Zu dieser generellen Berichterstattungstechnik der Familienpresse vgl. Belgum, Popularizing [wie Anm. 34], S. 100.
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IV. Nahbarkeit auf dem Weg in die Medienmonarchie Seit dem frühen Kaiserreich waren in der Presse zahlreiche Informationen über höchstpersönliche Gewohnheiten, Vorlieben und Erlebnisse des Herrschers im Umlauf. Zeitungs- und Zeitschriftenleser erfuhren, was seine Lieblingsspeise war (Hummer), was er gewöhnlich frühstückte (Butterbrot mit kaltem Fleisch), wie er seinen Sohn nannte (Fritz), kannten schließlich seine Lieblingsblume (Kornblume), seine Lieblingsfarbe (Kornblumenblau), die Farbe seiner Bettdecke (grün) und die Geschichte seiner unerfüllten Jugendliebe (zu Eliza Radziwill). Daneben zirkulierten Darstellungen von Situationen, die in unterschiedlichen Formaten räumliche Nähe zum Monarchen herstellten, wobei in der offerierten Annäherung ein Rückhalt an auratischer Distanz immer erhalten blieb. Man besichtigte das Arbeitszimmer im Palais, aber der Monarch war nicht da; er war da, aber man stand nur vor dem Fenster; man befand sich mit ihm in einem Raum, doch der war aus Papier. Charakteristischerweise verschränkten sich am historischen Eckfenster verschiedene Formen von medialer und Face-to-face-Kommunikation. In Pressetexten und -bildern präsentierten Beobachter, die selbst vor Ort gewesen waren und mit eigenen Augen gesehen hatten, die hinter dem Fenster sichtbare Privatsphäre des Monarchen; die Tatsache, dass man den Monarchen durch sein Arbeitszimmerfenster selbst beobachten konnte, ging als bemerkenswertes Faktum in die Berichterstattung ein; die wiederholte Thematisierung des Fensters in der medialen Kommunikation verstärkte den Andrang vor dem Fenster. Das Eckfenster war ein Markenzeichen Wilhelms I., das er von seiner Residenz auf die mit jährlicher Regelmäßigkeit besuchten Kurorte Ems und Wildbad Gastein übertrug.50 Es fügte sich in ein Öffentlichkeitsgebaren, das in hohem Maße seiner Person zugerechnet werden muss. Der Kaiser hatte offenbar ein Talent zur Leutseligkeit, er exponierte sich im Unterschied zu manch anderen Monarchen seiner Zeit bereitwillig und absolvierte öffentliche Auftritte, die Interaktionen mit dem »Volk« beinhalteten, souverän. Andererseits ist seine Politik des geöffneten Hauses auch bei anderen fürstlichen Zeitgenossen zu beobachten. Der bayerische
—————— 50 Vgl. beispielsweise: Ems, 5. Juli. ʈ, Lahnbote, Nr. 155, 6. Juli 1887; ʈ Ems, 21. Juni, Rheinischer Kurier, 1876, in: Sammlung Wilhelm Eberling, Stadtarchiv Bad Ems, Bü 10189 1/206, 35; Die Kaiser-Zusammenkunft in Gastein, Salzburger Volksblatt, Nr. 180, 10. August 1886.
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Prinzregent Luitpold beispielsweise ließ sich beim Abendessen seiner Herrenrunde auf der Terrasse der Münchner Residenz zuschauen.51 Häusliche Nahbarkeit kann daher als eine Disziplin unter den monarchischen Zeigepraktiken gelten, die in den baulichen Gegebenheiten des Kaiserpalais besonders günstige Voraussetzungen fand. Das Attribut »historisch« scheint sich dabei von den Wohnräumen auf das Fenster übertragen zu haben. In der Zuspitzung zum »bekannten« und dann »berühmten Eckfenster« steckte neben der Glorifizierung des Herrschers zugleich eine Aussage über sein Publikum. Sie zeugt von der massemedialen Verselbständigung einer zuerst an Gegenwart gebundenen Praxis: Das Eckfenster wurde unter Berlinern und Berlin-Besuchern bekannt, weil die Art seines Gebrauchs bedeutsam erschien; irgendwann wurde es auch oder sogar vorwiegend gebraucht, weil es aus der Presse als »bekannt« bekannt war. Als celebrity geht Wilhelm I. deshalb nicht durch. Unter anderem fehlte noch jene Beobachtungshaltung, die bei Prominenten nicht nur das Vorteilhafte, sondern vor allem Fehltritte und Abgründe registriert. Wilhelm I. wurde – zumindest in der hier untersuchten bürgerlichen Presse – nie anders als respektvoll dargestellt, niemand trat dem Monarchen zu nahe.52 Inwieweit auch sein Alter an dieser Schonung beteiligt war, ist bei der derzeitigen Forschungslage unklar. Deutlich ausgeprägt ist in dieser Zeit dagegen bereits eine auf das Persönliche abhebende Berichterstattung. Die Presse gewöhnte sich daran, mit zwei Mustern der thematischen Verdichtung zu arbeiten, dem sensationell Unwahrscheinlichen und dem nachvollziehbar Menschlichen. Beides hatte die Monarchie als personenzentriertes System zu bieten. An ihrer Spitze standen unwahrscheinliche Menschen, denen Sichtbarkeit inkorporiert war. Dem allgemeinen Thematisierungstrend entsprechend ging es am Eckfenster daher zunehmend um Menschliches. Zugleich fungierte es aber auch als gleichsam offizielles Schlüsselloch zum Arbeitszimmer des Monarchen. Wilhelm I. arbeitete noch als alter Mann viel und regelmäßig; eigenständige Entscheidungen traf er kaum, er wurde vor allem als Unterschreiber benötigt. Die Durchsichtigkeit der Glasscheibe, hinter der er bei
—————— 51 Karl Möckl, Hof und Hofgesellschaft in Bayern während der Prinzregentenzeit, in: Werner (Hg.), Hof, Kultur und Politik, S. 183-233, hier S. 208-209. 52 Vgl. dagegen die vermutlich unintendierte Bloßstellung Wilhelms I. auf einer Aufnahme der Hoffotografen Reichard & Lindner von 1884, die ihn untätig am Schreibtisch sitzend von schräg hinten festhielt, abgebildet in: Kaiser Friedrich III. (1831-1888) (Ausstellungskatalog), Berlin 1988, S. 129, Erläuterung S. 131.
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der Arbeit zu sehen war, machte die Regierung nicht transparent. Wenn es trotzdem ein dankbares Publikum für genau diese Suggestion gab – immer wieder wurde die Möglichkeit angesprochen, vor dem Fenster dem Entscheidungszentrum nahe zu sein –, legt das die Vermutung nahe, der Bedarf nach Sinnlichkeit der Herrschaft sei umso größer geworden, je abstrakter sich Regierung mit dem wachsenden Eigengewicht von exekutiver und legislativer Bürokratie gestaltete. Nach dem Tod der Kaiserin-Witwe Augusta 1890 wurde das Palais vollends musealisiert. Im selben Jahr erschien ein monumentaler Prachtband mit Fotografien, die im Auftrag der Kaisertochter Großherzogin Luise von Baden aufgenommen worden waren und alle vom verstorbenen Kaiserpaar bewohnten Räume in Originaleinrichtung zeigten.53 Wilhelm II. wies das Palais seinem Bruder Heinrich und dessen Frau zu, allerdings weigerte sich seine Tante Luise, die Möbel auszuräumen und auf ihr Wohnrecht zu verzichten.54 Das Palais blieb daher unbewohnt und wurde – ähnlich wie bereits zwischen 1840 und 1856 das Palais Friedrich Wilhelms III. – zu einer Sehenswürdigkeit, die beispielsweise im Jahr 1899 mehr als 30 000 Besucher anzog.55 Der neue Kaiser lebte wieder im Schloss. Um 1890 brach das Zeitalter schneller, rücksichtloser, immer nahsichtigerer Dauerbeobachtung des politischen Führungspersonals an. In dieser Zeit entstanden die rechtlichen, technischen und diskursiven Voraussetzungen, die es ermöglichten, die monarchische »Persönlichkeit« in fotografisch bebilderten homestories einzufangen, sie offen zu kritisieren und zum Gegenstand von Medienskandalen zu machen.56 Die Bedingungen der politischen Massenkommunikation und damit auch die Öffentlichkeit der Monarchie veränderten sich nach 1890 qualitativ stark – Wilhelm II. war auf radikal andere Weise als sein Großvater dazu gezwungen und daran interessiert, ein Medienkaiser zu sein. Insofern ist es auch monarchiehistorisch berechtigt, an der Schwelle zur me-
—————— 53 Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], Vorwort. 54 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001, S. 703. 55 Börsch-Supan, Wohnungen [wie Anm. 17], S. 111; Bornhak, Das Palais [wie Anm. 47], S. 1, Anm. 56 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Kohlrausch in diesem Band, ferner ders., Der unmännliche Kaiser. Wilhelm II. und die Zerbrechlichkeit des königlichen Individuums, in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt, Frankfurt/M. 2002, S. 254-275; Frank Bösch, Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 781-801.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER«
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dialen Modernität ein kurzes 19. Jahrhundert zu verabschieden. Dies wird jedoch der Vorgeschichte dieser Symbiose nicht gerecht, deren starke Kontinuitäten bisher zu wenig zur Kenntnis genommen wurden. Seit den 1850er Jahren entstanden mit den illustrierten Zeitschriften frühe Massenmedien, die sich aus dem breiten Themenspektrum des Gegenwärtigen bedienten und ein großes überregionales Publikum adressierten, das sie ausdrücklich als zusammengehörige, gleichzeitige Leserschaft ansprachen.57 Aus der Kombination von Texten und Bildern ergaben sich neue Präsentationsformen, mit denen sich Abwesendes nun regelmäßig auch visuell vergegenwärtigen ließ. Hofberichterstatter versahen den Monarchen, der zeitgemäß mit seinem neugierig-affirmativen Publikum interagierte, mit einer Aura des Persönlichen. Zu Zeiten des biederen Wilhelm I. entstanden die Grundlagen für das kommende massenmediale Spektakel der Monarchie.
—————— 57 Belgum, Popularizing [wie Anm. 34], passim.
Das ambivalente Angebot der Macht: Der Einsatz der SS-Männer in der NS-Herrschaftsinszenierung Paula Diehl
I. Politische Repräsentation und Inszenierung Politik ist auf Repräsentation angewiesen. Sie wird nicht nur von der Durchsetzung von Macht, sondern auch von ihrer symbolischen Vergegenwärtigung getragen. Die Politikwissenschaft unterscheidet zwei Hauptdimensionen der Repräsentation: Die erste betrifft die Vertretung, das heißt der Politiker oder der Souverän handelt stellvertretend für die Bürger beziehungsweise für das Volk, sie sprechen und treten auf im Namen von. Die zweite Dimension der politischen Repräsentation beinhaltet die Verfahren der Symbolisierung und Darstellung von Politik.1 Beide sind eng miteinander verbunden. Der folgende Beitrag beschäftigt sich vor allem mit der symbolischen Dimension der politischen Repräsentation und untersucht die Rolle der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung des Nationalsozialismus. Um wirksam zu sein, muss die symbolische Repräsentation von Politik ein »Anerkennungssystem« schaffen, das den Glauben an die Politik und an die Macht aufrechterhält.2 Denn Macht beruht nicht nur auf dem Handeln von Machtinhabern und Machtunterworfenen, sondern zum größten Teil auf den Vorstellungen über die Macht und auf ihrer kollektiven Akkreditierung. Machtbeziehungen sind auch Anerkennungsbeziehungen –
—————— 1 Die Unterscheidung der politischen Repräsentation in Vertretung und symbolisches Verfahren ist nur eine allgemeine und dient hier als Orientierung für die Analyse von Gewalt in der Herrschaftsinszenierung. Allein das Kleine Lexikon der Politik von Dieter Nohlen unterscheidet in einer Feintypologie sechs Definitionen der politischen Repräsentation, die von der phänomenologischen Betrachtung über eine pragmatische kritische Vertretungstheorie bis hin zum Konzept der repräsentativen Demokratie gehen. Vgl. Ulrich von Alemann, Repräsentation, in: Dieter Nohlen (Hg.), Kleines Lexikon der Politik, München 2001, S. 437-440. 2 Albrecht Koschorke, Macht und Fiktion, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/ Susanne Lüdemann/Ethel Mathala da Mazza (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 73-84, hier S. 75.
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und das selbst dann, wenn sich die Anerkennung nur auf die Stärke der Macht beschränkt. Inszenierung, Ästhetisierung und Symbolisierung sind somit grundlegende Verfahren der politischen Repräsentation. Sie dienen der Vergegenwärtigung von politischen Institutionen und politischer Autorität und verschaffen ihnen Legitimität.3 Politische Inszenierungen sind nicht immer eindeutig. Als Elemente einer Machtstrategie können sie verwendet werden, um Machtansprüche zu markieren, die politische Ordnung zu verändern oder politische Intentionen und auch Institutionen zu modifizieren. Sie können auch für etwas anderes stehen als für die politischen Institutionen, die sie zu repräsentieren vorgeben, und dadurch eine symbolische Verschiebung der politischen Repräsentation bewirken. Vor allem unter dem letzten Aspekt ist die NS-Herrschaftsinszenierung zu lesen. Symbolische Politik hat hier einen strategischen Wert und verkündet Macht und Machtansprüche der Nationalsozialisten, die besonders in den ersten Jahren nach der so genannten »Machtergreifung« der symbolischen Umdeutung der politischen Ordnung dienten. Machtinszenierungen sind an sich ambivalent. Um die Ordnung zu markieren, stützen sie sich einerseits auf die Zurschaustellung von Gewalt und Drohung, anderseits auf eine positive Identifikation mit der Macht.4 Die Macht, selbst wenn sie nicht auf Gewalt rekurriert, darf keinen Zweifel daran lassen, dass sie auf Gewalt zurückgreifen könnte, um die Ordnung zu bewahren. Gleichzeitig muss die Inszenierung einen Zugang zur Macht ermöglichen, der den Rezipienten unter anderem verspricht, vor Gewalt geschützt zu werden und an ihrer Stärke teilnehmen zu können. Diese Doppelbindung an die Macht produziert Ambivalenzen, die im Fall des Nationalsozialismus besonders deutlich hervortreten. Gerade weil die NSMachtansprüche nicht von politischer Legitimität gestützt waren, rekurrierten die Nationalsozialisten verstärkt auf Symbole der Gewalt und Gewaltästhetisierung in ihrer Herrschaftsinszenierung.
—————— 3 Gerhard Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: ders. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation, Baden-Baden 1997, S. 11-62, hier S. 13. 4 Der vorliegende Beitrag verzichtet auf eine Definition von Gewalt als anthropologisches Phänomen und betrachtet stattdessen ihre kulturellen Manifestationen, die in der Machtinszenierung des Nationalsozialismus erscheinen. Für die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gewalt hier stellvertretend: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München/Zürich 1994; Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner, Gewalt, Frankfurt/M. 2004; Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1999; Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 37), Opladen/Wiesbaden 1997.
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Der vorliegende Beitrag reflektiert die Ambivalenzen der NS-Machtinszenierung und berücksichtigt ihren ästhetischen und symbolischen Gebrauch von Gewalt. In den Vordergrund der Analyse tritt nicht die Gewalt selbst, sondern ihre symbolische Dimension und Vergegenwärtigung. Dabei wird der Fokus auf ein besonderes Element der NS-Machtinszenierung gerichtet: die medial verbreiteten SS-Körperbilder und den performativen Einsatz der SS-Männer in NS-Veranstaltungen. Hierfür wird die Phase der Machtetablierung berücksichtigt, vor allem die Jahre 1933 und 1934. Die dabei produzierten Ambivalenzen sollen durch eine politisch-kulturwissenschaftliche Lektüre der ästhetischen Elemente, Zeichen und Symbole, die mit der NS-Herrschaft verbunden waren, verdeutlicht werden.
II. Machtinszenierung und Gewalt: Die Suche nach Form Die NS-Propaganda war in der Form flexibel, dennoch wurden in der Zeit zwischen 1933 und 1936 grundlegende Maßstäbe gesetzt. Inszenierungsformen wurden geprüft, weiterentwickelt und neu konzipiert. Mit staatlichen Mitteln und mit dem privilegierten Zugang zu den Massenmedien ab 1933 ließen sich neue Inszenierungsformate entwickeln, ästhetische Verfahren und technische Innovationen in den Dienst der Machtinszenierung stellen. Die Suche nach den geeigneten Inszenierungsformen der Macht kann besonders gut an den filmischen Arbeiten von Leni Riefenstahl beobachtet werden. 1933 suchte die Regisseurin noch nach den filmischen Möglichkeiten für die Inszenierung der Nürnberger Parteitage. Ihrem ersten Parteitagsfilm Sieg des Glaubens von 1933 gelang es noch nicht, eine Ästhetik der Überhöhung oder gar eine mythische Kraft zu entfalten. Der Film- und Kulturwissenschaftlicher Martin Loiperdinger sieht diesen Film als »Vorstudie« für Triumph des Willens,5 der ein Jahr später sowohl ästhetische Maßstäbe für NS-Propagandafilme und damit eine Art Drehbuch für die Inszenierung der Reichsparteitage lieferte als auch das mythische Bild des »Dritten Reiches« verfestigte. In Triumph des Willens verwendete Riefenstahl die Bilder der uniformierten SS-Männer für die Darstellung der NS-Macht und erreichte damit eine symbolische Verdichtung der SS-Männerbilder in der NS-Herrschaftsinszenierung, die in diesem Beitrag eingehender analysiert wird.
—————— 5 Vgl. Martin Loiperdinger, Rituale der Mobilmachung. Der Parteitagsfilm »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl, Opladen 1987, S. 44, Fußnote 3.
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Die Jahre 1933 und 1934 waren von Expansion und Verfestigung des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs einerseits und von politischem Taktieren und Labilität andererseits gekennzeichnet. Das Verhältnis zur Staatsordnung war ambivalent. Hitler kam zwar legal an die Macht, doch die Nationalsozialisten verkündeten eine Revolution und demonstrierten damit ihren Bruch mit bestehenden Regeln. Im politischen Alltagsgeschäft nutzte die NS-Regierung die Lücken der Weimarer Gesetze aus, um ihre Macht zu erweitern und brach Stück für Stück mit dem alten politischen System. Auch aus der Perspektive der symbolischen Politik konkurrierte die NS-Ordnung mit der politischen Struktur des Weimarer Staates in der Auslegung von zwei verschiedenen Modellen, die unterschiedliche Legitimierungslinien verfolgten: Für den Staat galten die Verfassung und die politischen Institutionen, für die Nationalsozialisten der »Führer« und die NS-Ideologie als oberste Instanz. Dieses mehrdeutige Verhältnis der Nationalsozialisten zur Staatsordnung kam auch im Einsatz der SS-Männer zum Ausdruck, deren Status in Bezug auf den Staat in der neuen Machtsituation noch ungeklärt war. Bis 1934 begleiteten die SS-Männer die SA in ihren Propaganda- und TerrorAktionen, sie prägten, wenn auch hintergründig, das Bild des Nationalsozialismus nach außen.6 In den Jahren 1933 und 1934 kann beobachtet werden, wie die SS verschiedene polizeilich-staatliche Funktionen und Repräsentationsaufgaben übernahm und somit immer mehr das Bild des Nationalsozialismus zu prägen begann. In der kurzen Zeit der Jahre 1933 und 1934 wurden die SS-Männer zusammen mit Mitgliedern der SA und des Stahlhelm sogar als Hilfspolizei eingesetzt.7
—————— 6 Die SS war bis zur so genannten »Röhm-Affäre« der SA unterstellt. Vgl. Peter Longerich, Nationalsozialistische Propaganda, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/ Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 291-314. 7 1933 und 1934 wurde die so genannten »politischen Bereitschaften« der SS bewaffnet. Sie waren als Hilfspolizei im Einsatz und markierten damit den öffentlichen Raum mit der Präsenz der SS. Vgl. Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn u.a. 1982, S. 82. Dies war nur möglich, weil die neue Regierung verschiedene Posten von Polizeichefs in ganz Deutschland mit Nationalsozialisten besetzt hatte, die SA und SS hilfspolizeiliche Befugnisse einräumten. Wichtig für die Verschmelzung von SS- und staatlichen Strukturen war die zunehmende Kontrolle der Polizei durch Heinrich Himmler, der die Posten des Reichsführer-SS und Polizeichefs in verschiedenen Regionen Deutschlands akkumulierte. Dazu Martin Broszat, Anatomie des SS-Staates, Olten/Freiburg/Br. 1965, Bd. II, S. 16.
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Als paramilitärische Truppe war die SS keine staatliche, sondern ausschließlich eine nationalsozialistische Organisation. Ihre Vergangenheit als gewalttätige paramilitärische Gruppe vor 1933 gehörte zur nationalsozialistischen Strategie der Delegitimierung des Weimarer Staates und ging in das Erscheinungsbild der SS-Männer nach der »Machtergreifung« ein. Da SS und SA polizeiliche Aufgaben übernahmen, repräsentierten sie nun staatliche Ordnung, zugleich aber agierten sie weiterhin als Elemente der Unordnung, indem sie Terror-Aktionen vor allem gegen Juden und Oppositionelle am Rande und außerhalb der Legalität betrieben und ihre Funktion als Hilfspolizei für Akte der Willkür missbrauchten. Die gegensätzliche Symbolik der Anwendung von Gewalt – als Staatsordnung einerseits und als NS-Kraft gegen staatliche Institutionen und Prinzipien andererseits – verschärfte die Ambivalenzen der Macht und floss in die NS-Herrschaftsinszenierung ein. NS-Veranstaltungen und propagandistische Appelle wurden in den Jahren 1933 und 1934 als Inszenierungen staatlicher Ordnung einerseits und als revolutionäre beziehungsweise Gegenordnung zum Staat andererseits präsentiert. In den repräsentativen Aufgaben des Staates, im Bereich der expliziten Herrschaftsinszenierung, traten die SS-Männer immer mehr an die Stelle des Militärs bei offiziellen Anlässen wie Paraden bei Staatsfeiern, Spalierbildung vor der Reichskanzlei und Repräsentationsgebäuden oder als Sargträger bei staatlichen Beerdigungszeremonien.8 Damit überdeckte die NS-Inszenierung die symbolische Repräsentation des Staates mit nationalsozialistischen Symbolen. Allerdings war die SS formell nicht dem Staat, sondern nur Adolf Hitler zugeordnet. Der »Führer« galt als einzige gültige Legitimationsquelle für die Existenz und für den Einsatz der SS-Männer. Der Leitsatz: »SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue«, war die symbolische Markierung dieses privilegierten Verhältnisses.9 Die SS-Eliteeinheit »Leibstandarte Adolf Hitler« (LSSAH) machte deutlich, wie die Überlagerung funktionierte. Die Männer der LSSAH waren auf die Person Hitlers vereidigt und bildeten seine persönliche Leibgarde.10 Nach der Kanzlerernennung Hitlers wurde sie nicht von einer staatlichen Kanzler-Leibgarde ersetzt. Die Leibgarde Hitlers existierte weiterhin als Organisation außerhalb des Staates und seiner Institutionen. Dies markierte Hitlers Status als nati-
—————— 8 Vgl. Andrew Mollo, Uniforms of the SS, London 1991, Bd. 3, S. 8 9 Das SS-Leitwort entstand im April 1931, als die Berliner SS den Putsch-Versuch der SA, die so genannte »Stennes-Revolte«, unterdrückte. 10 Vgl. Wegner, Hitlers politische Soldaten [wie Anm. 7], S. 82.
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onalsozialistischer »Führer« neben seiner politischen Funktion als Kanzler im Staatsapparat. Die These von Gewalt als Grenzfall von Herrschaft kann auch für die Grenzen der Repräsentation Geltungsanspruch erheben, und zwar insofern, als Gewalt ein symbolisches Verfahren benötigt, um Herrschaftsmacht zu repräsentieren. Wenn Gewalt für sich allein steht, hört sie auf, Element der Repräsentation und vor allem der politischen Repräsentation zu sein. Dies liegt sowohl am instrumentellen Charakter der Gewalt in Bezug auf die Macht (Hannah Arendt) als auch am Wesen der Repräsentation selbst. Denn repräsentieren heißt, etwas darstellen oder gegenwärtig machen, was nicht da ist.11 Insofern kann die Macht auch durch die Ausübung von physischer Gewalt dargestellt werden. Gewalt wird dann als Erniedrigung, Abschreckung beziehungsweise Bestrafung verwendet, um symbolische Unterwerfungsakte und Machtdemonstrationen einer Herrschaft zu bestätigen. In diesem Zusammenhang repräsentiert physische Gewalt Macht oder Machtanspruch. Gewalt ist nicht mit der Macht identisch, sondern dient als ihr »Werkzeug«, wie Hannah Arendt bemerkt, und dies, obwohl Arends Machtbegriff ein positiver ist.12 Als letzter Ausweg des Handelns bleibt Gewalt immer latent vorhanden, auch wenn sie »nur« durch Zeichen präsent gemacht wird. In der Machtinszenierung erscheint sie in ihrer symbolischen Form und wird in der Verwendung von Zeichen und Symbolen in performativen und ästhetischen Verfahren vergegenwärtigt. In Marschparaden und politischen Massenveranstaltungen wird Gewalt nicht physisch ausgeübt, sondern symbolisiert und durch »ikonische Zeichen«13 dargestellt. Jeder einzelne Marschierende ist eine kleine mobilisierte Einheit von potenzieller physischer Gewalt und trägt diese Potenzialität zur Schau. Die Marschierenden erinnern daran, dass Gewalt die letzte Konsequenz sein kann, wenn Macht nicht akzeptiert wird. Wie die Macht trägt auch die Gewalt Ambivalenzen in sich, denn »Gewalt ist, unabhängig von ihrer Legitimität, sowohl Ordnung zerstörendes als auch Ordnung begründendes Element sozialer und politischer Strukturierung«.14 Sie kann Faszination hervorrufen und spricht verdrängte Ag-
—————— 11 Hannah F. Pitkin, The Concept of the Representation, Berkeley 1967, hier S. 37. 12 Arendt, Macht und Gewalt [wie Anm. 4], München/Zürich 1994, S. 47. 13 Zum Begriff des ikonischen Zeichen vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1997, S. 82 und 243. 14 Gunter Mai, Zeichen der Gewalt. Europa in der Zwischenkriegszeit 1919-1939, in: Michael Klein (Hg.), Gewalt – Interdisziplinär, Münster/Hamburg/London 2002, S. 7-31, hier S. 9.
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gressionen an. Daneben kann Gewalt die Identifikation mit dem Starken motivieren.15 Die Anwendung von Gewalt und von Gewaltsymbolen in der Machtinszenierung ist performativ. Gewalt etabliert in der Machtinszenierung einen Machtdiskurs – um mit Louis Marin zu sprechen: »Le discours de la force, discours d’auto-institution et d’auto-légitimation, discours qui est pouvoir«.16 Ein performativer Diskurs, der selbst Macht ist. Wie konstituiert sich der Machtdiskurs? Und wie artikuliert er sich mit der Symbolisierung von Gewalt? Für Herfried Münkler ist politische Macht immer auf sichtbare und unsichtbare Vorgänge angewiesen, die die Macht repräsentieren. Münkler unterscheidet dabei zwei Typen der Visibilität: Der eine tritt in Demokratien, der andere in autoritären Herrschaftssystemen auf. Demokratische Systeme legen Wert darauf, Entscheidungsprozesse sichtbar zu machen und gehen mit Machtdarstellung sparsam um. Im Falle der autoritären Herrschaft dagegen liegt die Unsichtbarkeit der Macht in der Instanz des Entscheidungsprozesses, während die demonstrative Visualisierung der Macht als Darstellung politischer Ordnung fungiert.17 Auf der Ebene der Entscheidungsfindung, so Münkler, optiere der autoritäre Machtgebrauch für Invisibilität, auf der Ebene der Ordnungsstiftung hingegen zum Zwecke einer freiwillig-unfreiwilligen Akzeptanz der Ordnung für Visibilität der Macht.18 Die Unsichtbarkeit der politischen Entscheidung hat quasi den Zwang zur Sichtbarkeit der Macht als Ordnung zur Folge, denn sie zieht den »Zwang zu Visualisierungsstrategien auf der Ebene der Ordnungsstiftung nach sich.«19 Dies erfolgt mit Pomp als Visualisierung von Potenz und in der symbolischen Erwähnung von Gewalt, oder – wenn es
—————— 15 Paul Hugger, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: Paul Hugger/Ulrich Stadler (Hg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995, S. 17-27, hier S. 25. 16 Louis Marin, Le portrait du roi, Paris 1981, S. 30. 17 Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, BadenBaden 1995, S. 213-230, hier S. 215. 18 Die bürgerlichen Demokratien dagegen folgen, so Münkler, der umgekehrten Tendenz, das heißt Sichtbarkeit der Entscheidungsprozesse und Unsichtbarkeit der Repressionsmittel. Da es in der Praxis jedoch keine pure Demokratie und keinen absoluten Totalitarismus geben kann, treten beide Formen der Macht-Visualisierung meistens gemeinsam auf, denn »die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolisch-expressiver Visualisierung von Macht ist eine begrifflich-analytische Unterscheidung, die in dieser idealtypischen Form in der politisch-sozialen Wirklichkeit kaum angetroffen werden dürfte«. Ebd., S. 218. 19 Ebd.
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nötig ist – in der Anwendung von physischer Gewalt als Realisierung der Macht. Die Beschreibung dieses dualen Mechanismus gilt auch für die Visualisierung der politischen Macht in den Bildern und im Auftritt der SS-Männer. Hier diente Inszenierung der politischen Strategie: Ziel war die Durchsetzung einer nationalsozialistischen Ordnung, die sich im Bereich des Symbolischen artikulierte und als performativer Machtdiskurs etablieren sollte. Dafür war die symbolische Vergegenwärtigung von Gewalt durch die SS-Männer von zentraler Bedeutung. Denn die Körper und die Körperbilder der SSMänner gehörten zu einer politischen Ästhetik, die stark auf Gewalt rekurrierte und die die totalitäre Macht permanent aktualisierte. Die NS-Herrschaft musste, da sie die eigentlichen Entscheidungsprozesse verschleierte, ihre Macht mit Pomp und Gewaltzeichen immer wieder darstellen und potestas mit violentia verschmelzen. In diesem Zusammenhang sind die Körper der SS-Männer als performative Einheiten zu verstehen, die nicht nur physische Gewalt ausübten, sondern selbst Gewalt und Macht repräsentierten.
III. Die SS-Männer in politischen Inszenierungen Die Visualisierung der Macht durch die SS-Männer geschah hauptsächlich auf zwei Ebenen: durch das Tragen von nationalsozialistischen Gewaltund Machtsymbolen auf dem uniformierten Körper einerseits und durch den performativen Einsatz der SS-Männer, ihre Bewegung und Verteilung im Raum beziehungsweise ihre Darstellung im Bild andererseits. Der Einsatz der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung schloss Elemente ein, die Gewalt und Macht signalisierten, wie Waffen, Uniformen, Stiefel, Marschmusik, synchronisierte Körperbewegungen und militärische Körperhaltung. Vor allem die Waffen stellten die Verbindung zur Gewalt explizit her. Dies folgte einer langen Tradition der Machtinszenierung in der Politik, die schon vor dem Nationalsozialismus existierte, von ihm aber aktualisiert und politisch kanalisiert wurde. Die schwarzen Uniformen waren das Hauptkennzeichen der SS-Männer, sie hatten einen emblematischen Charakter und symbolisierten nicht nur die SS, sondern auch die in Gewalt verankerte NS-Macht.20 Die SS-
—————— 20 Vgl.: Paula Diehl, Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin 2005, S. 181-199.
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Uniformen wurden mit Zeichen versehen, die im kollektiven Gedächtnis eine Bedeutungstradition hatten, wie etwa der Totenkopf als Symbol für den Tod. Außerdem hatten sie eine eigene ästhetische Qualität, die die Inszenierung begünstigte: Die SS-Uniformen homogenisierten die individuellen Körper der SS-Männer und gaben ihnen eine abstrakte Bedeutung. Es ist wichtig festzuhalten, dass die semiotischen und die performativen Ebenen ineinander verwoben waren und aufeinander verwiesen. Sie banden die Körper der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung zusammen und dienten der Visualisierung der NS-Macht. Die SS-Uniform weckte Assoziationen mit Macht und Gewalt, aber auch mit Ordnung, asketischen Idealen und Elitebewusstsein. Diesen Effekt konnte die SS-Uniform ausüben, weil sie das sozio-kulturelle Zeichenrepertoire ihrer Zeit ansprach. Symbole sind polysemische Zeichen, sie wirken auf unterschiedlichen Deutungsebenen gleichzeitig und haben die Eigenschaft, je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden zu können, ohne dabei ihre schon tradierten Bedeutungsinhalte vollkommen zu verlieren. Bei jeder Wiederverwendung werden sie neu inszeniert und müssen neu gedeutet werden. Für die symbolische Politik ist dies eine wertvolle Eigenschaft, denn dadurch wird es möglich, an bekannte Bedeutungen anzuknüpfen, um dabei neue Botschaften zu vermitteln. Die schwarze Farbe, das Totenkopf-Abzeichen der Mützen, die schwarzen Lederstiefel und ab 1934 der Stahlhelm waren Zeichen, die unterschiedliche Bedeutungen aus dem kollektiven sozialen Gedächtnis abrufen konnten. Die SS-Uniformen waren ein Gesamtbild aus Stoff, verschiedenen Abzeichen, Schmuck, Farbkomposition und Schnitt. Eine Analyse ihrer semiotischen Bedeutung und ihrer performativen Wirkung in der NS-Herrschaftsinszenierung muss diese Zeichenkombination berücksichtigen. Zuerst gilt es, die symbolische Tradition zu berücksichtigen, auf die sich die SS explizit bezog. Vorbild waren die preußischen Husaren aus dem 5. Regiment, die im Kaiserreich schwarz gekleidet waren und den Totenkopf auf der Mütze trugen. Am 2. Dezember 1937 brachte die SS-Zeitung Das Schwarze Korps eine ganze Seite mit Bildvergleichen von Fotos uniformierter SS-Männer und Zeichnungen von schwarz uniformierten preußischen Husaren. Der Text machte den Vorbildcharakter fest: »Jedenfalls ist der Zweck des Totenkopfs, auf die Feinde furchterregend einzuwirken und dem eigenen Träger stets ein mahnendes Zeichen der Treue und des todbereiten Opfers zu sein, wie die Geschichte beweist, erreicht worden.«21 Es
—————— 21 Vgl.: Das Schwarze Korps vom 02. Dezember 1937.
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wurde eine phänomenologische Begründung für die schwarze Farbe und für den Totenkopf angeboten, die als Teil einer kriegerischen Symbolik dargestellt wurde. Außerdem hatte die symbolische Anlehnung an die Husaren den Effekt, dass »preußische Eigenschaften« wie Disziplin, Tapferkeit, Männlichkeit und Ehre als nationalsozialistische Opferbereitschaft und Elitetugend der SS übersetzt werden konnten. Außer den preußischen Husaren dienten auch die »Camicie nere« (schwarze Hemden) der italienischen Faschisten als Vorbilder für die paramilitärischen Truppen im Nationalsozialismus und für die schwarze SS-Uniform. Neben den direkt angesprochenen Vorbildern waren die schwarze Farbe und der Totenkopf der SS-Uniformen mit einem multiplen Assoziationskomplex verbunden. Die Farbe schwarz ist ohnehin hoch polysemisch: Schwarz ist, »je nach dem, wie es eingesetzt wird, ein sehr reichhaltiger und mehrdeutiger Code, der Macht ausdrücken kann und Demut, Zurücknahme der eigenen Person und prunkenden Auftritt, Individualität und Uniform, Melancholie und Aggressivität, Unnahbarkeit und erotische Offensive«.22 Für die Wirkung der SS-Uniform sind vor allem drei wichtige Deutungskomplexe zu beachten: Die Verbindung der schwarzen Farbe mit a) Tod und Erneuerung, b) einer Dunkel-Hell-Metaphorik und c) ihre Tradition als klerikale Farbe. Außerdem muss die ästhetische Wirkung der schwarzen Farbe berücksichtigt werden. a) Tod und Erneuerung: Die NS-Ideologie und vor allem Himmlers pseudoreligiöse Konzeption eines SS-Ordens waren vom Todeskult und von apokalyptischen Vorstellungen geprägt.23 Dort nahm die schwarze Farbe eine zentrale Stelle ein. Berücksichtigt man die Bedeutung von Schwarz in der abendländischen und vor allem in der alttestamentlichen Kultur, wird die Anknüpfung der SS-Uniform an den traditionellen Symbolgehalt deutlich. In der Bibel erscheint Schwarz als Vorzustand der Welterschaffung,24 als Symbol des Nichts, des Chaos und des Todes, »il [Schwarz] est associé aux ténèbres primordiales«, ist aber auch mit der Apokalypse, Verurteilung und
—————— 22 Vgl. Jochen Schimmang, Schwarz, in: Du 14 (1998), S. 32-33. 23 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998; Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1995; Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution und das »Dritte Reich«, in: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt/M. 1992, S. 178-206. 24 Das erste Buch Mose: Genesis, in: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments, Stuttgart 1980 (Lutherische Übersetzung), Vers 1.
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Erneuerung assoziiert.25 Auf der Ebene der Alltagspraxis ist die schwarze Farbe seit der Antike Beerdigungsfarbe, sie symbolisiert Zurückhaltung, Trauer, das Versinken im Dunkeln und die Finsternis. In den SS-Uniformen wurde die Assoziation mit Tod und Erneuerung vor allem durch die Kombination der schwarzen Farbe mit dem Totenkopf erzeugt. b) Dunkel-Hell-Metaphorik: Eine zweite symbolische Dimension der schwarzen Farbe liegt in der Verbindung zum Bösen, zur Finsternis und im Kennzeichen des »Unterweltherrschers«. Im christlichen Volksglauben,26 in den nordischen und germanischen Mythen, auf die sich die SS bezog, bekommt Schwarz eine negative Bedeutung, während Weiß positiv konnotiert wird.27 Die Dichotomie schwarz/weiß, die schon die germanische Mythologie prägte, wurde im 19. Jahrhundert populär und oft als Metapher für den Kampf zwischen Gut und Böse herangezogen. Interessant ist, dass die Selbstinszenierung der SS nicht unbedingt das Böse für sich beanspruchte, sondern vielmehr mit der Dichotomie Schwarz/Weiß arbeitete, um die asketischen Eigenschaften und die Nähe zum Tod als Erlösungsmoment zu betonen. Dadurch gewannen die SS-Männer die schicksalhafte Bedeutung einer Mission, die sich in Himmlers und Hitlers ideologischen Schriften wieder fand. c) Das klerikale Schwarz: Schwarz eignet sich auch für die Darstellung von religiöser Transzendenz und ist oft die Farbe des Habits von christlichen Priestern und Mönchen. Als matte Farbe versinnbildlicht Schwarz Zurücknahme und Einfachheit. Schwarz gekleidet sollen Priester und Mönche Bescheidenheit verkörpern und die Negation von irdischer Eitelkeit und Prunk demonstrieren.28 Der Ursprung dieser im klerikalen Schwarz symbolisierten Haltung gehörte ebenfalls zum Symbolkomplex der SSUniformen. Doch während in der christlichen Deutung der Farbe Schwarz eher die Distanzierung von irdischen Bedürfnissen im Vordergrund steht, verlagert die SS ihren symbolischen Gehalt und ihren asketischen Inhalt auf die Lebensverachtung. Diese symbolische Verschiebung ist vor allem
—————— 25 In der Genesis steht die schwarze Farbe für Verurteilung. Adam und Eva kleideten sich in Schwarz, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden, ebd.; Jean Chevalier/Alain Gheerbrant, Dictionnaire des Symboles, Paris 1982, S. 671. 26 Vgl. Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989, S. 393-394. 27 Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbole, Stuttgart 1985, S. 608. 28 Vgl. Biedermann, Knaurs Lexikon [wie Anm. 26], S. 393-394.
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deshalb möglich, weil das Zeichen Schwarz nicht allein stand, sondern in Kombination mit anderen Gewalt- oder Machtsymbolen wie der militärischen Ausrüstung samt Lederstiefeln und vor allem mit dem Totenkopf kombiniert wurde. Der Totenkopf war die visuelle Erwähnung, eine Evokation des Todes schlechthin, die traditionell als Warnzeichen für Bedrohung und Todesgefahr verwendet wurde. Schon in der christlichen Kunst gehörte der Totenkopf zu den Symbolen des Todes – allerdings mit dem Verweis auf die Buße und auf die Vergänglichkeit alles Irdischen.29 Auch dieser Aspekt des Totenkopfes erlebte eine Bedeutungsverschiebung in der SS-Symbolik. Die Mahnung gegen die Überbewertung des Irdischen angesichts des Todes wurde zum Todeskult und von der Ästhetisierung und von der Sehnsucht nach dem schicksalhaften Tod verdrängt. Der Tod erhielt sowohl auf der verbalen als auch auf den bildlichen Ebenen des SS-Diskurses eine kultische Bedeutung.30 Die Zeichenkomposition und die diskursive Darstellung der SS-Uniform ist ein typisches Beispiel von Symbolrecycling, das die Selbstinszenierung der SS und die Inszenierung der NS-Macht mitgestaltet. Berücksichtigt man die bewusste Anlehnung der SS an die preußischen Husaren, ihre Anknüpfung an die kriegerische Symbolik sowie deren Kombination mit der schwarzen Farbe und mit den Lederstiefeln der SS-Uniformen, entfaltet sich die Todessymbolik in der NS-Machtinszenierung als Darstellung von Gewalt beziehungsweise ihrer Androhung. Bereits die Husarenuniform setzte die Todessymbolik so explizit ein, dass die Husaren im Volksmund »der Tod« genannt wurden.31 Bei der Übernahme dieser Symbolik durch die SS ist eine Verschiebung zu beobachten: Die Toten-
—————— 29 Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, Berlin 1971, S. 292. 30 Hier ist vor allem der Totenkopfring hervorzuheben. Noch vor 1937 ließ Himmler vom SS-Brigadenführer Karl Maria Wiligut (Rasse- und Siedlungshauptamt) einen Totenkopfring entwerfen, den ausgewählte SS-Männer als Symbol der SS-Orden tragen sollten. Die Symbolisierung des Todes gewann im Totenkopfring einen religiösen Akzent: Die Ringe der gefallenen SS-Angehörigen sollten zur Wewelsburg zurückkommen und am Ort ihrer Einweihung gelagert werden. Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke, The occult roots of Nazism, New York 1992, S. 187; Karl Hüser (Hg.), Wewelsburg 1933 bis 1945, Kult und Terrorstätte der SS: eine Dokumentation, Paderborn 1987, S. 70. 31 Vgl. Richard Knötel/Herbert Sieg, Farbiges Handbuch der Uniformkunde, Augsburg 1996, Bd. I, S. 33.
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kopf-Uniform fungierte hier nicht nur als Symbol des Todes, sondern ihr Träger verkörperte den Tod. Er war fähig, den Tod selbst zu bringen. Die Bedeutung des Todes in der SS-Symbolik bekam durch das Auftreten als paramilitärische Truppe – in der Weimarer Republik sowie in den ersten Jahren nach 1933 – und durch die prominente Rolle der SS im NSTerror eine Pointierung in Bezug auf die Gewalt, die bedrohlich erscheinen konnte. Eine Episode aus den Erinnerungen von Christoph Graf von Schwerin veranschaulicht diese Deutung: »Meine Mutter erzählt eine andere Geschichte von einer Zugfahrt mit mir zwischen Berlin und Prenzlau. Wir hätten in einem Abteil gesessen, das nur einen Ausgang nach draußen hatte. Uns gegenüber habe ein SS-Mann gesessen, dessen Mütze mit einem Totenkopf geziert war. Zum Entsetzen aller im Abteil hätte ich den SSMann gefragt, was der Totenkopf denn bedeute, und der habe geantwortet: ›Mein Junge, das bedeutet, daß wir unserem Führer treu sein wollen bis in den Tod.‹ Meine Mutter habe darauf zusammen mit mir das Abteil verlassen, um einer Fortsetzung dieses unangenehmen Gesprächs zu entgehen. Ich kann mich an diesen Vorgang aus dem August 1939 nicht erinnern. Das allgemeine Entsetzen zeigt jedoch, daß alle Abteilinsassen dem Totenkopf eine andere Deutung gaben als die, die der SS-Mann genannt hatte«.32 Das von Graf Schwerin beschriebene Unbehagen angesichts des Totenkopfes entstand aus der Mischung einer symbolischen Tradition und der aktuellen Bedeutung der SS-Männer für die Gewaltausübung im Nationalsozialismus. Hier konvergierten und potenzierten sich die verschiedenen symbolischen Gehalte des Totenkopfs in eine Todessymbolik, die mit Gewaltandrohung konnotiert wurde. Wie Inszenierungen im Allgemeinen sind politische Inszenierungen nicht bloß die Summe der semiotischen Bedeutungen ihrer Symbole. Ihre Entstehung und Wirkung sind vor allem das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen semiotischer Bedeutung einerseits und performativ-ästhetischer Wirkung andererseits. Für die Analyse der Rolle der SS-Männer in der NSMachtinszenierung muss daher auch die ästhetische Wirkung der schwarzen Farbe in der Uniform mitberücksichtigt werden. »In seiner Kompaktheit und seiner Zurücknahme der Person eignet sich Schwarz hervorragend als Farbe für Uniformierungen [...]. Ohnehin ist schwarze Kleidung, in welchem Material und welchem Schnitt sie auch erscheint, immer eine Inszenierung, die den Körper schützt, weil sie ihn zurücknimmt und tenden-
—————— 32 Christoph Graf von Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 11.
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ziell verbirgt.«33 Die schwarze Farbe vermittelt den optischen Eindruck des Schweren. »Le Noir donne une impression d’opacité, d’épaissement, de lourdeur. C’est ainsi qu’un fardeau peint un noir paraîtra plus lourd qu’un fardeau peint en blanc.«34 Mit der schwarzen Uniform wird dem Körper ein optischer Schutz-Effekt verliehen, der Intensität und Geschlossenheit suggeriert. Bis 1934 bestanden die fast vollständig schwarzen SS-Uniformen aus einem Dienstrock mit Schulterriemen, Tellermütze mit Sturmriemen und silbernem Totenkopf, braunem Hemd und Lederknöpfen und Binden. Dazu trugen die SS-Männer Stiefelhosen und Marschstiefel.35 Durch die Hakenkreuzbinde und die braune Farbe des SS-Hemdes wurde die visuelle Verbindung zur NSDAP hergestellt. Der Schnitt betonte die als männlich kodierten Körperproportionen – breite Schultern, enge Taille und große Statur. Er diente einer optischen Veränderung des Körpers; die SS-Uniform ließ die SS-Männer größer erscheinen und akzentuierte ihre ästhetische Wirkung und den performativen Einsatz bei den Aufzügen und Zeremoniellen – auch hier ist das Aufeinanderwirken von Performanz und Semiotik zu beobachten. Der schwer aussehende schwarze Stoff und der Uniformschnitt verwandelten den Körper in eine »gepanzerte« Einheit. Anders als schwarz gewandete Priester oder Mönche verloren die schwarz uniformierten SS-Männer keineswegs an Präsenz. Der Uniformschnitt, das Tragen von Waffen und Fahnen und der paramilitärische Auftritt der SSMänner unterstrichen ihre körperliche Materialität. In dieser körperlichen Präsenz fehlte jedes Zeichen von Individualität. Uniformen entpersonalisieren den Körper ihrer Träger und binden ihn in den Status der Gruppe ein. Die einzelnen Körper wurden einander optisch angeglichen und fügten sich in einen geschlossenen Block. Die marschierenden SS-Männer waren anonymisiert und ihre Körper vom symbolischen Schutz der Uniform bedeckt. In ihrem Auftritt erschienen sie als Abstraktion, die die Machtinszenierung unterstrich. Dazu kamen die schwarzen Lederstiefel und die Waffen als eindeutige Zeichen von Macht und Gewalt sowie NS-Symbole, Fahnen und Standarten, die sowohl von den SS-Männern getragen wurden als auch den Raum schmückten.
—————— 33 Auch bei zivilen Festlichkeiten hat schwarze Kleidung die Eigenschaft, zu imponieren und zu inszenieren. Vgl. Erika Thiel, Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1997, S. 409. 34 Chevalier/Gheerbrant, Dictionnaire [wie Anm. 25], S. 671-674. 35 Ab 1938 wurden einige SS-Truppen mit grauen Uniformen ausgestattet. Für die Repräsentationstruppen und für die »Allgemeine SS« blieb jedoch die schwarze Uniform bestehend.
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Lederstiefel stehen durch die kulturelle Tradierung und durch eine soziale Praxis in einer engen Verbindung mit Macht, Gewalt und sozialer Hierarchie. Aufgrund ihrer Schutzfunktion etablierten sich die Lederstiefel als Fußbekleidung bei der Jagd, beim Reiten und beim Militär; ab dem 19. Jahrhundert bekamen sie zunehmend eine militärische Konnotation. Die schwarzen Stiefel sind in zweierlei Hinsicht Elemente der NS-Machtinszenierung: Sie sind semiotisch aufgrund ihrer tradierten symbolischen Bedeutung, und sie sind performativ aufgrund ihres Einflusses auf die Körpersprache der Stiefelträger. Stiefelträger haben mehr Bewegungsautonomie als Träger losen Schuhwerks. Der physische Schutz der Stiefel ermöglicht es, entschlossener zu marschieren und beeinflusst damit nicht nur den Gang, sondern auch sämtliche Körperbewegungen sowie das gesamte Erscheinungsbild des Körpers. Die SS-Männer und vor allem die paradierenden Truppen der »Leibstandarte Adolf Hitler« übten beim Marschexerzieren zackige und kräftige Schritte. Das Tempo der Marschparade wurde vom Takt reglementiert und band die Bewegungen der Einzelnen an die kollektive Bewegung der Gruppe. Marschierende Truppen verhalten sich als Einheit, sie absorbieren die einzelnen Schritte in einem Gesamtbild sowie im Takt und verdeutlichen dadurch die summierten Kräfte der Gruppe. Dies ist einer der Gründe, warum die Stiefeltritte in Marschparaden sich als wirksames Element der Machtdarstellung eignen. Ihre akustischen Signale kündigen die Ankunft der marschierenden Truppe an, die, wie eine einzige »Körper-Maschine«, die Macht sinnlich vermittelt und verdeutlicht, dass ihre Mitglieder jederzeit Gewalt ausüben können. Die SS-Übungsvorschrift vom ersten Juli 1933 betonte die Bedeutung der Präzision der synchronen Körperbewegungen beim Paradieren. Sie zählte drei unterschiedliche Marschschritte: Erstens »ohne Tritt«, zweitens »im Gleichschritt« und drittens der Paradenmarsch »fester Tritt«. Führte die Dienstvorschrift für die SA der NSDAP von 1932 nur die beiden ersten Schritte auf,36 wurden in der SS-Übungsvorschrift die genaue Bewegungen beschrieben, die zum Parademarsch notwendig seien: »Das linke Bein wird leicht gekrümmt, der Unterschenkel mit heruntergedrückter, etwas auswärts zeigender Fußspitze leicht durchgezogen und vorgestreckt, dass er mit dem Oberschenkel eine gerade Linie bildet. Gleichzeitig verschiebt sich das Körpergewicht nach vorne, der Fuß wird flach und leicht, mit der Fußspitze zuerst, in der Entfernung von etwa 80 cm vom rechten Fuß auf
—————— 36 Vgl.: Dienstvorschrift für die SA der NSDAP, Diessen vor München 1932, S. 293-295; Dokument in: Bundesarchiv-Berlin, NSD40/27- 1932/4.
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dem Boden gesetzt.« Die Übung zum »festen Schritt wurde besonders kräftig und langsam vorgenommen, während der normale Schritttempo (»Gleichschritt«) 114 Schritte in der Minute ausmachte, war der langsame Schritt mit 25 Schritt in der Minute präzis aufzuführen.37 Der »feste Schritt« der SS-Paradenmärsche sollte besonders akribisch choreographiert werden, er gehörte nur bei Parademärschen und galt als besonders anstrengend. Die Wirkung der synchron marschierenden SS-Körper wurde besonders durch das gleichzeitig Drehen der Köpfe beim Salutieren hervorgehoben. Durch die Reglementierung ihrer Bewegungen wirkten die SS-Männer wie anonyme Teile einer Maschine, die akustisch den Takt und den Rhythmus der Inszenierung prägte. Ähnlich verhält es sich mit der visuellen Wahrnehmung der Stahlhelme. Der SS-Stahlhelm wurde 1934 eingeführt und gehörte bis auf die späteren SS-Militäreinheiten ausschließlich zu den Repräsentationsuniformen.38 Der Stahlhelm eignet sich besonders für die Kodierung von Macht durch den Körper in Herrschaftsinszenierungen. Seit der Antike fungiert der Helm als Potenzzeichen, das in Verbindung mit Kampf und Krieg steht. Wie die Lederstiefel schützt er seinen Träger vor Angriffen und – was für die Machtinszenierung von Bedeutung ist – vor den Blicken der Betrachter. Der Stahlhelm entpersonalisiert das Gesicht, indem er es optisch in zwei Partien teilt: Die Unterkieferknochen erscheinen hervorgehoben, während die Augen für den Betrachter kaum erkennbar sind. Damit unterstützte der SS-Stahlhelm die homogenisierende Wirkung der Uniformen, die mit der eingeübten militärischen Mimik und Gestik verbunden war und beim Paradieren oder beim Spalier zum Vorschein kam. Ins Blickfeld rückte die visuelle Reduktion des Gesichts auf schematische Züge, die zum abstrakten Herrschaftszeichen wurden. Dieser homogenisierende Effekt unterstützte zusammen mit der symbolischen Tradierung des Helms als Kriegsausrüstung die Visualisierung von Anonymität, Macht und Gewalt. In der Visualisierung von Schutz und Potenz des eigenen Körpers durch das Tragen von Helm, Stiefeln und schwarzer Uniform, in der Ankündigung der drohenden Gewalt durch die lauten Marschschritte der Lederstiefel, in der Darstellung von Disziplin durch die eingeübten synchronen Bewegungen und uniformierten Körper sowie in den diversen symbolischen Assoziationen der schwarzen Farbe und des Totenkopfs mit
—————— 37 SS-Übungsvorschrift, Wiebach 1933, S. 24-26; Dokument in: Militärarchiv-Freiburg: M 1301/A13. 38 Vgl. Mollo, Uniforms [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 15.
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Askese, Tod, Erneuerung, Gewalt und dem Bösen trugen die marschierenden SS-Männer die NS-Macht zu Schau. Als szenisches Element wirkten die SS-Männer ambivalent: negativ und einschüchternd als Verkörperung des Todes und potenzielle Quelle von Gewalt, aber zugleich positiv und vielleicht sogar anziehend als Darstellung von militärischen Tugend, Selbstkontrolle und Macht.
IV. Der Auftritt der SS-Männer und die Ambivalenzen der Macht Bis hier her wurden die Symbole und die ästhetischen Elemente dargestellt, die das emblematische Bild der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung prägten. Diese Symbole waren mehrdeutig und implizierten ein ambivalentes Verhältnis des Betrachters zu den Uniformierten und zur Macht, die sie verkörperten. Damit verbunden war der performative Einsatz der SSMänner nicht nur in NS-Veranstaltungen, sondern auch in ihrer massenmedialen Verbreitung in Film und Foto. Zu klären bleibt, wie der Auftritt der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung eingebunden war und auf welche Bindungsstrukturen beziehungsweise Angebote an das Publikum sie rekurrierte, um die Macht symbolisch zu fixieren. Ausgehend von Herfried Münklers These zur Visibilität der Macht erscheint die Verlagerung auf die Darstellung von Macht und Gewalt im Nationalsozialismus als Kompensation für die mangelnde Transparenz der Entscheidungsprozesse, für die Unmöglichkeit der Teil- oder Einflussnahme der Unterworfenen in und auf die politischen Entscheidungsprozesse. Machtvisualisierung funktioniert somit als Ersatz für ein nicht mehr mögliches Handeln der Beherrschten und ist zugleich eine Drohung für den Fall, dass sich die Beherrschten an die oktroyierte Ordnung nicht halten und eigenes Handeln für sich beanspruchen. In diesem Sinne ist Macht auf den Doppelmechanismus der Produktion von Furcht und Sicherheit, von Unterwerfung und Stärkegefühl angewiesen. Um diesen Mechanismen näher zu kommen, ist es erforderlich, die Produktion von Ambivalenzen in den Vordergrund der Betrachtung treten zu lassen. Die Ambivalenzen, die aus den Paarungen Wille zur Macht/Unterwerfung, Machtteilnahme/Angst vor der Macht und Anziehung/Abschre-
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ckung entstehen, erscheinen in der nationalsozialistischen Herrschaftsinszenierung und insbesondere im Einsatz der SS-Männer verschärft und bekommen angesichts der sozio-politischen Lage und des ideologischen Hintergrunds im Nationalsozialismus zusätzliche Bedeutungen. Im Folgenden wird die Aufmerksamkeit auf drei Stufen von Ambivalenzen der NS-Machtinszenierung gelenkt: Erstens das Schwanken zwischen Angst und Sicherheitsversprechen; zweitens das Verhältnis zwischen Ordnung und Unordnung und drittens das Angebot einer Identifikation mit der Macht, die zwischen Machtunterwerfung und Machtteilnahme oszilliert.
1. Angst und Sicherheitsversprechen Eines der wichtigsten Instrumente der Macht ist die Drohung. Drohung setzt Glaubwürdigkeit voraus und basiert auf der Vorstellungskraft derer, die ihr ausgesetzt sind. Für Heinrich Popitz ist »die Wirkungskraft der Drohung [...] eine Bedingung der Möglichkeit aller dauerhaften Machtverhältnisse«.39 Dabei müssen Drohungen nicht unbedingt direkt ausgesprochen werden. Es reicht, dass sie angedeutet oder durch Symbole, Gesten oder Mimik erwähnt werden. Sie können auch »mit Pomp und Pathos inszeniert werden«. Als Instrumente der Macht steuern die Drohungen das Verhalten der Bedrohten. Und das tun sie, »weil sie Furcht, Versprechungen, weil sie Hoffnung erzeugen«.40 Ziel ist, dass der Adressat der Drohung zwischen Angst und Sicherheitsgefühl schwanke. In diesem Sinne wirkt die erfolgreiche Drohung als Erzeuger von Ambivalenzen. In den nationalsozialistischen Marschparaden und Massenveranstaltungen sowie in vielen der propagandistischen Bilder und Filmaufnahmen gehörte die implizite und explizite Drohung zur Ästhetik der Machtinszenierung. Die Gestaltung des Raumes durch die NS-Regie wie die Okkupierung von Straßen, Plätzen und Hallen durch die Dekoration, die strikte physische Trennung zwischen Zuschauern und Machtdarstellern fixierte die Hierarchie zwischen Machtinhabern und Unterworfenen und gab den Rahmen vor, in dem die SS-Männer auftraten. In Filmen, auf Plakaten und in Zeitungsillustrationen war die Perspektive von unten nach oben ein weiteres Inszenierungsmittel, das die Hierarchie der Macht visuell markierte. Die Drohung wurde von Macht-, Gewalt- und Todessymbolen und
—————— 39 Vgl. Popitz, Phänomene [wie Anm. 4], S. 79. 40 Vgl. ebd., S. 88.
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vom performativen Einsatz der SS-Männerkörper erfahrbar gemacht. Diese ästhetischen, symbolischen und performativen Elemente der NSMachtinszenierung waren nicht Gewalt an sich, doch sie symbolisierten und vergegenwärtigten physische Gewalt. Im Film arbeitete die NS-Propaganda gezielt mit dem performativen Effekt der marschierenden SS-Männer. Die berühmte Treppen-Szene in Triumph des Willens bildet eines der besten Beispiele für die filmische Inszenierung der NS-Macht. Leni Riefenstahl betonte die Vertikale, indem sie die schwarz uniformierten SS-Männer nicht nur von unten aufnahm, sondern sie zudem eine Treppe heruntergehen ließ. Der Zuschauer sieht den schwarzen Block der Marschierenden aus der Leinwand, aus der Tiefe des virtuellen Raums auf sich zu kommen. Durch die Kameraperspektive richtet sich der Blick des Kinozuschauers auf die schwarzen Lederstiefel. Hier entfaltet sich die ästhetische Wirkung der uniformierten SS-Männer, die schon im Zusammenhang mit den Marschparaden beschrieben wurde. Die synchronen Bewegungen der Beine, die den optischen Eindruck einer koordinierten Maschine erzeugen, werden vom Filmton unterstrichen, die Marschschritte klingen entschlossen, werden zunehmend lauter und unterstützen so den Eindruck des Zuschauers, dass die SS-Männer immer näher kommen. Betrachtet man Triumph des Willens mit Heinrich Popitz’ These der Drohung, gewinnt die ästhetische Dimension dieser Szene in Hinblick auf die Gewaltsymbolisierung an politischer Relevanz. Riefenstahl nutzt die filmischen Möglichkeiten, um die assoziative Wirkung der SS-Marschparaden zu betonen: In den Blockformationen signalisierten die koordinierten Schritte, die Kopf- und Armsynchronisation der SS-Männer, dass sie nicht mehr als einzelne Individuen agieren, sondern Teile einer »Maschine« geworden sind; Teile der Machtmaschine also, die sich gegen jeden möglichen Ungehorsam wenden kann und wird. Die SS-Männerkörper waren von den Uniformen homogenisiert, symbolisch umhüllt und vor Blicken des Publikums paradoxerweise geschützt. Sie erschienen als unverletzliche Panzer, die im Takt und in der Präzision ihrer Schritte »nach mehr klingen«, um Elias Canettis Formulierung aufzugreifen.41 Nach Canetti übt das synchrone Marschieren einer Gruppe eine Anziehungskraft auf ihre Umgebung aus und wirkt für das Publikum wie eine Einladung zur Teilnahme. Im Kontext des vorliegenden Beitrages ist der synchrone Marsch der SSMänner als Angebot einer symbolischen Teilnahme der Zuschauer an der
—————— 41 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996, S. 33.
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Macht zu sehen. Doch diese Botschaft war höchst ambivalent, denn neben der Anziehungskraft des marschierenden Blocks und der symbolischen Einladung zur Machtteilnahme wurde auch Gefahr signalisiert. Der Preis, den das Publikum für die Integration in die Macht zahlen sollte, war die Unterwerfung. Dies galt sowohl in seiner physischen wie in seiner symbolischen Dimension. Die Zeichen von Gewalt und die damit verbundene Drohung beim Einsatz der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung bekommen eine tief greifende Dimension, wenn man bedenkt, dass die SS-Männer nicht nur als performative Einheiten in den Marschparaden oder in den Repräsentationsaufgaben fungierten, sondern eine wichtige Rolle in der Verbreitung des Terrors übernahmen, wenn sie Gewalt ausübten. Das bedeutet, dass die Zeichen der Gewalt als Kodierung von Macht im Einsatz der SS-Männer in der NS-Herrschaftsinszenierung immer einen Rückgriff auf die Rolle der SS in ihrer gewalttätigen Alltagspraxis beinhalteten. Die Relevanz dieser Gewaltzeichen für die Herrschaftsrepräsentation kann ohne die Bedeutung des Terrors für die Produktion von kollektiven Phantasien und Vorstellungen nicht vollständig entschlüsselt werden. Sowohl der Auftritt der SSMänner auf Marschparaden und Massenveranstaltungen als auch ihre Körperbilder fungierten als Erinnerung an eine Drohungsstruktur, die die Maße, die Popitz anbietet, deutlich übersteigt und zu Terror wird. Der Gewalt, die die SS-Männer ausübten, haftete ein Element der Willkür an, das die Labilität der Ordnung brisant machte. Als Hilfspolizei erhielt die SS gemeinsam mit der SA zwar 1933 die formale Aufgabe die staatliche Ordnung zu garantieren, doch in der Praxis wurden ihre »polizeilichen« Aktionen zu einem Faktor der Unruhe und Angst innerhalb der Bevölkerung. Vor allem nach dem »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März 1933, das die Grundrechte der Bürger suspendierte, konnten SS- und SAMänner ohne Befehl Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verhöre durchführen. Sie misshandelten Oppositionelle und Juden in der Öffentlichkeit und prägten damit die Vorstellungen von Terror und Gewalt. Mit dem Ausbau des Sicherheitsdienstes durch Heinrich Himmler und mit der zunehmenden Kontrolle der Polizei durch die SS gewannen Terror und Willkür einen institutionellen Charakter. Dieser politische Kontext verschärfte die Ambivalenzen der Macht. Das Schwanken zwischen Drohung und Sicherheitsversprechen, zwischen Angst und Sicherheitsgefühl bekam angesichts der SS- und SA-Gewaltpraktiken, der NS-Gewaltpropaganda und des Ausbaus des Polizeiapparates eine neue Qualität.
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Der Terror ist unberechenbar und »richtet sich gegen jedermann«, schreibt Hannah Arendt.42 Darin liegen Wirkung und Potenzialität der Ambivalenzen der NS-Macht. Der Terror produziert kollektive und individuelle Träume, wie Reinhart Koselleck Charlotte Beradt zustimmend betont hat, »sein Echo hallt aus allen Träumen wieder. Entscheidend ist aber, dass es weniger der offene Terror war, der hier zur Sprache gebracht wird, als vielmehr der schleichende Terror, der zunächst über die Propaganda wirkte, hinter deren Werbung sich die Drohung versteckte«.43 Die Träume gehörten zur Strukturierung und zur Wirkung der Macht in der nationalsozialistischen Herrschaft. »Terror wird nicht nur geträumt«, schreibt Koselleck, »sondern die Träume sind selber Bestandteil des Terrors«.44 Sie bildeten ein bewusstunbewusstes Repertoire, auf das die NS-Machtinszenierung zurückgreifen konnte und das den Einsatz der SS-Männer in der Darstellung von Macht und Gewalt ansprach.
2. Ordnung und Chaos in der Politik Die zweite Ambivalenz der NS-Machtinszenierung ist mit dem Schwanken zwischen Ordnung und Chaos verbunden. Wie oben erläutert, erlebte die symbolische Deutung der SS-Männer nach der »Machtergreifung« einen Wandel, der insbesondere in der Übergangsphase ein ambivalentes Verhältnis zur Staatsordnung kennzeichnete. Der Machtwechsel war legal verlaufen, er war also keine NS-Revolution, wie die NS-Propaganda behauptete, und brach nicht mit den Staatsinstitutionen.45 Es handelte sich außerdem um einen sehr begrenzten Machttransfer an den neuen Kanzler, fast alle Regierungsposten waren mit Konservativen und nicht mit Nationalsozialisten besetzt worden.46 In dieser Konstellation versuchte die NS-
—————— 42 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2003, S. 725. 43 Die hier zitierte Passage entstammt aus dem Nachwort Kosellecks zum Buch von Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt/M. 1994, S. 115-132, hier S. 127; vgl. auch: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1984, S. 278ff. 44 Vgl. Koselleck, Nachwort [wie Anm. 43], S. 127. 45 Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war gemäß der Weimarer Verfassung (Art. 48) ein legaler Schritt im Einklang mit den gesetzlichen Möglichkeiten und alles andere als eine Revolution. Es war die NS-Propaganda, die von »Machtergreifung«, »nationaler Erhebung« und sogar »Revolution« sprach. 46 Vgl. Heinz Höhne, Machtergreifung, Hamburg 1983, S. 261f.
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Politik sowohl die Lücken der Weimarer Verfassung zu nutzen, als auch durch Terror, Gewalt und Propaganda ihre Macht zu erweitern. Die NSHerrschaftsinszenierung knüpfte einerseits an die republikanische Symbolik an – Hitler selbst erschien am 30. Januar 1933 im Frack und nicht in Parteiuniform –, andererseits markierte sie die Machtansprüche gegenüber der Weimarer Republik – hierfür ist der Fackelzug aus SS, SA und Stahlhelm am selben Abend das beste Beispiel. Der Einsatz der SS-Männer war an diese beiden Strategien gekoppelt: Auf einer Seite war der paramilitärische und der gewalttätige Einsatz der SS-Männer im Alltag als Chaoselement zu verstehen und wendete sich gegen die republikanische Ordnung.47 Auf der anderen Seite traten die SSMänner immer häufiger auf der Seite der staatlichen Institutionen auf und repräsentierten zunehmend die Staatsordnung. Sie wurden immer mehr an die Staatssymbolik gekoppelt und in die Staatsrepräsentation eingegliedert wie bei Staatsbegräbnissen, Wachen, Leibgarde des Kanzlers oder militärischen Marschparaden. Mit der Institutionalisierung der NSDAP als Staatspartei, der sukzessiven Unterstellung der Polizei unter Himmler ab Juli 1933 und spätestens mit der Bekämpfung der SA in der so genannten »Röhm-Affäre« avancierten die SS-Männer zu Hauptrepräsentanten des internen Gewaltmonopols. Das Oszillieren zwischen Ordnung und Chaos markierte in den beiden ersten Jahren nach der »Machtergreifung« das Verhältnis der SS in der symbolischen Politik des Nationalsozialismus gegenüber dem Staat. »Unordentliche« Gewaltausbrüche und »ordentliches« Paradieren oder Wachen bildeten einen komplementären Zusammenhang, der die Ambivalenzen der Macht verstärkte.
3. Machtteilnahme und Machtunterwerfung: Identifikation und Präsenz Macht unterdrückt nicht nur, sondern übt auch Anziehungskraft auf den Unterworfenen aus. Denn wer Macht besitzt und ausübt, prägt seine Umwelt und steuert das Verhalten der Unterworfenen, wie Popitz schreibt. Die Machtinszenierung drückt dieses ambivalente Verhältnis aus, sie ist Markierung der Machtunterwerfung einerseits und Versprechung der
—————— 47 Zu Gewaltausbrüchen als Machtdarstellung der SA vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 103ff., 125ff.
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Machtteilnahme andererseits. Sie fungiert als demonstrative Potenz des Machtinhabers, aber sie bietet dem Publikum ästhetische Erfahrungen an, durch die Macht zugänglich gemacht wird. Dieser Mechanismus findet seine Entsprechung in Münklers These der Betonung von Machtvisualisierung in autoritären und totalitären Herrschaftsformen, bei denen die Beherrschten wenig oder gar keinen Zugang zu Entscheidungsprozessen haben und dafür eine Kompensation durch Machtvisualisierung erhalten. Die ästhetische Erfahrbarkeit von Machtteilnahme funktioniert als symbolische Verteilung von Macht, die allerdings keine Entsprechung in den politischen Entscheidungen finden muss. Inszenierung dient hier zur Identifikation mit der Macht, die auf der symbolischen Ebene arbeitet. In der Identifikation beziehungsweise der Identifizierung, so Freud, ahmt der Mensch ein Ideal nach und wünscht sich, wie »Es« zu sein. Für Freud ist die Identifizierung von Anfang an ambivalent. Sie »strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere zum ›Vorbild‹ genommene.«48 Dies kann sowohl zur Verehrung als auch zur Zerstörung des Objekts führen, das als Vorbild dient, es kann zur Unterwerfung oder zur Bekämpfung animieren. Die Identifikation ist eine Form der Gefühlsbindung, und Freud entdeckt daran eine »libidinöse Konstitution«, die für den Kontext der Machtinszenierung als wichtiges Bindungsmittel zur Macht fungiert.49 Die Inszenierung vermittelt ein Identifikationsangebot mit der Macht, das im Fall des Nationalsozialismus nach 1933 verstärkt durch den Auftritt und durch die Bilder der SS-Männer verbreitet werden konnte.50 An dieser Stelle müssen die schon dargestellten semiotischen und die performativen Dimensionen des Auftritts der SS-Männer mit der Frage nach der Bindung zur Macht verknüpft werden. Wichtig dafür erscheint die Erzeugung von Präsenz, die der Macht sinnliche Erfahrbarkeit verleiht. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hat in ihrem Buch Ästhetik des Performativen einige Merkmale angegeben, die die sinnliche Erfahrung von Anwesenheit in Inszenierungen vermitteln. Sie werden in Theateraufführungen durch technische Verfahren und Körpertechniken erzeugt und sorgen dafür, dass der Zuschauer sich von der Aufführung
—————— 48 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt/M. 1999, S.71-161, hier S. 116. 49 Ebd., S. 128. 50 Nach wie vor lieferte Hitler die Hauptfigur für eine Identifikation mit dem Nationalsozialismus. Die SS-Männer sind in dem Kontext als anonymisierte Elemente der Macht, als Abstraktionsfiguren und als Darstellung des »Ariers« zu verstehen.
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»mitreißen« lässt. Fischer-Lichte arbeitet mit der Kategorie der Präsenz und versteht darunter eine »performative Qualität«, die in der Lage ist, eine intensive »Gegenwartserfahrung« zu vermitteln. Der Zuschauer »spürt die Kraft, die vom Darsteller ausgeht und ihn zwingt, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf ihn zu fokussieren«, er erlebt den Darsteller »auf eine ungewöhnlich intensive Weise gegenwärtig«, »die ihm das Vermögen verleiht, sich selbst auf besonders intensive Weise gegenwärtig zu fühlen«.51 Dieser sinnliche Prozess ist eine ästhetische Erfahrung, die in der Theaterwissenschaft, aber auch bei Freud mit der Metapher der »Ansteckung« beschrieben wird. Für Fischer-Lichte ist dieses Phänomen vor allem ein leibliches. Der Körper fungiert als primärer Ort, in dem die affektiven Veränderungen stattfinden, die eine Verbindung zwischen Zuschauer und Darsteller ermöglichen. Für die Machtinszenierung bedeutet das, dass Macht vom Publikum körperlich erfahren werden kann und zwar nicht nur als physische Gewalt, sondern als ästhetische Erfahrung. Fischer-Lichte zeigt, dass es Techniken gibt, mit denen der Darsteller arbeiten kann, um Präsenz hervorzubringen: Die Lenkung der Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den Körper des Schauspielers durch bestimmten Bewegungsabläufe; die Erzeugung von Rhythmus, der ebenso den Körper des Zuschauers affiziert; die Gestaltung des Raumes, die eine Ordnung der Körper stiftet, und das Zusammenspiel zwischen den Dekorationselementen, Körperbewegungen und Raumverteilung wirken auf die Körper der Zuschauer sowohl in der körperlichen Ko-Präsenz als auch in der medialen Inszenierung.52 Diese Techniken lassen sich beim Auftritt der SS-Männer exemplarisch beobachten. Ihre synchronisierten Bewegungen, der Rhythmus marschierender Stiefel, die Gestaltung des Raums mit nationalsozialistischer Dekoration sowie Fahnen und Standarten, die die Uniformierten hielten, trugen zum Gesamteffekt der Inszenierung bei. Sie zielte darauf, die Aufmerksamkeit des Publikums zu lenken sowie Raum und Zeit zu besetzen, um die ästhetischen Erfahrungen von Präsenz zu bewirken. Und gerade diese Erfahrung von Präsenz war in der NS-Machtinszenierung von Bedeutung, weil sie sich den Zuschauern als Erfahrung von Machtteilnahme und Machtunterwerfung anbot. Sie stützte sich auf den Einsatz der SS-Männer und trug zur Identifikation mit der Macht bei.
—————— 51 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 166. 52 Ebd., S. 174-175.
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V. Machtinszenierung und Ambivalenzen: eine Bilanz Die Erfahrungen von Machtteilnahme und Machtunterwerfung konnten erst in der Einordnung in den politisch-kulturellen Kontext ideologisch wirksam werden. Wie die semiotische Analyse gezeigt hat, ermöglichten die SS-Symbole und der Auftritt der SS-Männer die Anknüpfung an verschiedene symbolische Traditionen. Die SS-Männer waren performative Einheiten der Machtinszenierung und Gewaltdarstellung, sie verkörperten die NS-Macht und hatten die Funktion, sie zu visualisieren. Es waren die Artikulationen und Wechselwirkungen zwischen den Zeichen und Symbolen in der Herrschaftsinszenierung, ihre Rückkoppelung an die NS-Propaganda und Alltagspraxis und vor allem die Bindung an die Gewalterfahrung im Terror, die die spezifische Einbindung von Gewalt in die NS-Machtinszenierung kennzeichneten. Die ambivalente Präsenz der SS-Männer ließ die Zuschauer zwischen Angst und Sicherheitsversprechen, Ordnung und Chaos, Machtteilnahme und Machtunterwerfung schwanken. Diese Verbindung mit Gewaltpraxis und Propaganda außerhalb der Inszenierung und die Ästhetisierung von Gewaltzeichen machten die Besonderheit der SS-Männer in der politischen Repräsentation des Nationalsozialismus aus. Gerade daran liegt die Radikalisierung der Machtambivalenzen. Die SS-Männer stellten in der Herrschaftsinszenierung einerseits die Gewalt der NS-Macht dar, eine Gewalt, die im totalitären Staat ubiquitär gedacht wurde und die zerstörerisch und willkürlich ausbrechen konnte. Andererseits konnten sie auf Grund des ideologischen Kontextes als Identifikationselemente der Macht dienen.53 Das Beispiel der SS-Männer zeigt, wie Herrschaftsrepräsentationen mit der Wechselbeziehung zwischen positiver und negativer Identifikation, zwischen Nähe und Distanz und nicht zuletzt zwischen Wunsch und Angst aufgebaut werden können. Es waren ambivalente Angebote der Macht, die auf ästhetischen und auf Gewalterfahrungen basierten und auf die Vorstellungsproduktion des Publikums angewiesen waren.
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Zur identifikatorischen Rolle der SS-Männer in der NS-Propaganda siehe: Paula Diehl, Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin 2005.
Gewalt als Grenzphänomen von Herrschaftsrepräsentation – exemplarisch dargestellt an Gewalthandlungen der 1960er und 1970er Jahre1 Gisela Diewald-Kerkmann Dass sich jegliche Form von Herrschaftsrepräsentation mit der spezifischen Problematik der Gewalt2 konfrontiert sieht, belegen die gewaltsamen Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Gerade diese Zeit dokumentiert, in welchem Maße staatliche Gewalt mit der Repräsentation von Herrschaft in Widerspruch treten beziehungsweise der Einsatz von Gewaltmitteln durch staatliche Institutionen der intendierten Darstellung von Herrschaftsbeziehungen widersprechen kann.3 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Geschichte des bundesrepublikanischen Staates der sechziger und siebziger Jahre ein »Provisorium« war; determiniert durch die deutsche Teilung, den wirtschaftlichen Wiederaufbau und »eine anfangs implantierte, dann aber auch angenommene und ausgebaute liberale Demokratie«.4 Umso stärker war der junge Staat darauf angewiesen, eine »stabile Verankerung des demokratischen Rechtsstaates nach innen«5 zu erreichen und sich als legitimes und demokratisches Herrschaftsgefüge zu präsentieren. Das setzte nicht zuletzt
—————— 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um Teilaspekte meines Forschungsprojektes »Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Frauen wegen politisch motivierter Straftaten 19701990«. Primär handelt es sich um Frauen, die mit der »Roten Armee Fraktion« und der »Bewegung 2. Juni« in Verbindung stehen. 2 Zu Recht weist Dirk Schumann darauf hin, in welchem Maße Gewaltgeschichte »wenn auch nicht ausschließlich als Geschichte von Grenzüberschreitungen definiert« werden kann, vgl. ders., Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366386, hier S. 373. 3 Auffallend ist, dass zu diesem Themenkomplex bislang umfassende Untersuchungen für die sechziger und siebziger Jahre fehlen. 4 Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994: Ereignisse, Themen, Akteure, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/M. 2001, S. 27-70, hier S. 27. 5 Richard von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 154.
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eine Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols in der Bevölkerung und eine breite Legitimationsgrundlage für die physische Gewaltanwendung durch staatliche Instanzen voraus. Das Gewaltmonopol6 bedeutet in einem Rechtsstaat, in dem die Bevölkerung nicht selbst die staatliche Gewalt ausübt, dass die private Gewalt als ein legitimes Mittel zur Lösung sozialer Konflikte ausgeschlossen wird.7 Der Anspruch auf dieses Monopol ist eine zentrale Voraussetzung moderner Staatlichkeit. »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.«8 Aber nicht allein der staatliche Anspruch auf das Gewaltmonopol ist eine Voraussetzung der staatlichen Ordnung, sondern vor allem die symbolische Vergegenwärtigung des Gewaltmonopols. Die Drohung mit ihr soll demonstrieren, dass die Legitimation zur physischen Gewaltanwendung ausschließlich dem Staat und seinen Instanzen – zum Beispiel Justiz und Polizei – und Funktionsträgern zusteht. Das setzt Gewaltverzicht der Staatsbürger voraus, die auf die Inanspruchnahme staatlicher Instanzen verwiesen werden. Denn »statt dem ursprünglichen Trieb zu folgen und sich sein Recht mit der Faust zu verschaffen, soll man ›an sich halten‹ und sich der Entscheidung anderer unterwerfen«.9 Rose Langer-Stein macht deutlich, dass die Forderung nach Gewaltverzicht und die Einrichtung eines Gewaltmonopols konstituierende Elemente der Genese eines Staates seien.10 In der Tat besteht die Macht des Rechtsstaates nicht zuletzt in der Selbstverpflichtung der Bürger, auf Gewalt zu verzichten. »Der ›schutzlose Zivilist‹ ist die Folge, aber auch die mentale Voraussetzung des Leviathans. Angriffe auf ihn entwerten das Sicherheitsversprechen und die Glaubwürdigkeit des staatlichen Gewaltmonopols.«11 Dass das Gewaltmonopol des Staates wesentlich älter ist
—————— 6 Zum Aufstieg des staatlichen Gewaltmonopols im 19. Jahrhundert vgl. Albrecht Funk, Polizei- und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848-1918, Frankfurt/M. 1986. Aufschlussreich wäre eine Studie, die sich mit den Veränderungen des staatlichen Gewaltmonopols im 20. Jahrhundert auseinandersetzt. 7 Vgl. hierzu Analysen zum Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Opladen 1983, Bd. 4/1: Ulrich Matz/Gerhard Schmidtchen, Gewalt und Legitimität. 8 Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 21966, S. 43. 9 Rose Langer-Stein, Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a StGB), Berlin 1987, S. 106. 10 Ebd., S. 104. 11 Thomas Scheffler, Vom Königsmord zum Attentat. Zur Kulturmorphologie des politischen Mordes, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 (1997)
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als die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung des Staates, soll in diesem Kontext nicht erörtert werden. Vielmehr gilt es, zwei Aspekte herauszustellen. So ist erstens zu berücksichtigen, dass mit der ausschließlichen Übertragung von Gewalt auf den Staat dieser auch die notwendigen Einrichtungen und Rechtsinstanzen schaffen muss, um private Gewalt entbehrlich zu machen. Die an den Staat delegierte Gewalt impliziert, dass die Träger der Staatsgewalt in der Lage sind, den Rechtsfrieden zu garantieren und den Einzelnen vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen.12 Insoweit dürfen die friedensstiftende und friedenssichernde Funktion des staatlichen Gewaltmonopols respektive die »Schutzpflichten des Rechtsstaates«13 nicht unterschätzt werden. Der zweite Aspekt ist, dass trotz der Zurückdrängung der Gewalt mittels des staatlichen Monopols gewaltsame Konflikte nicht verhindert werden können. Zu Recht weist Heinrich Popitz auf diesen Punkt hin: Der »Mensch muß nie, aber er kann immer gewaltsam handeln [...] in allen Situationen [...] für alle denkbaren Zwecke«.14 Normbrüche und Regelverletzungen, gewalttätige Konflikte bis hin zur offenen Gewalt sind Bestandteile des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft. Tatsächlich hat das staatliche Monopol die Gesellschaft nicht »von Gewalt befreit«.15 Aber genauso wenig bedeutet – wie die unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt im Jahre 1990 konstatiert – der durch das Gewaltmonopol des Staates garantierte Rechtsfrieden per se Freiheit und Gerechtigkeit. Vielmehr müsse das Gewaltmo-
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Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen/Wiesbaden 1997, S. 183-199, hier S. 197. Jürgen Kocka und Ralph Jessen sprechen von dem »Verhältnis der Reziprozität [...] zwischen Staat und Untertanen: der Pflicht zu Gehorsam und Unterordnung auf Seiten des Volkes entsprach die Pflicht zur ›Guten Policey’, zur Erhaltung der allgemeinen Wohlfahrt und zur aktiven Hilfe in Notlagen auf Seiten der Obrigkeit«, dies., Die abnehmende Gewaltsamkeit sozialer Proteste vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Peter Alexis Albrecht/Otto Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt. Plädoyers für eine »Innere Abrüstung«, Frankfurt/M. 1990, S. 33-57, hier S. 40. Hans-Dieter Schwind (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I. Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen, Berlin 1990, S. 410. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübingen 1986, S. 76. Wolf-Dieter Narr, Staatsgewalt und friedsame Gesellschaft. Einige Notizen zu ihrem Verhältnis in der Bundesrepublik, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 58-73, hier S. 67f.
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nopol mit Rechtsstaat und Demokratie verzahnt werden und »durch das Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit vor willkürlicher Inanspruchnahme gesichert«16 werden. Die Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Verfassung und durch die Freiheitsrechte der Staatsbürger ist unabdingbar; die staatliche Gewalt muss an das Recht gebunden sein. Offensichtlich ist die Einschränkung beziehungsweise »Einhegung«17 des staatlichen Gewaltmonopols erforderlich, erst recht, wenn man das historische, oft ambivalente Verhältnis zwischen friedsamer Gesellschaft und staatlichem Gewaltmonopol betrachtet. Einerseits hatte die Einrichtung des staatlichen Monopols eine Begrenzung von staatlicher und privater Gewalt und einen Zuwachs an Sicherheit für die Bevölkerung zur Folge, andererseits gingen damit ein Ausbau der Strafverfolgungsinstanzen und eine Zunahme des staatlichen Repressionspotenzials einher. Überzeugend weisen Jürgen Kocka und Ralph Jessen auf das Problem der Legitimität von Gewalt hin: Auch »wenn man das hohe Gut des rechtlich eingehegten staatlichen Gewaltmonopols vernünftigerweise nicht in Frage stellen wird, bleibt doch die historische Erfahrung [...], in [der] Gewaltanwendung zwar illegal war, aber doch von vielen als legitim angesehen wurde [...], während eine legale, aber ihre Legitimitätsgrenze eindeutig überschreitende Staatsmacht Verbitterung, Widerstand oder Aufruhr provozierte.«18 Dass die Frage nach den Legitimationsgrundlagen staatlicher Gewalt »ein[en] Streit um ein hoch aufgeladenes Symbol«19 darstellt, wird sichtbar, wenn man den Rechtfertigungszwang staatlicher Gewalt für die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen berücksichtigt. Die physische Gewaltanwendung durch staatliche Institutionen ist in einem hohen Maße legitimationsbedürftig. Nach Trutz von Trotha könne vielleicht ein Volk ohne Rechtfertigungsglauben überfallen, aber nicht auf Dauer regiert werden.20 Die Rechtfertigungen für Gewalt stabilisieren Herrschaftsverhält-
—————— 16 Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 49f. 17 Jörg Calließ, Das zivilisatorische Hexagon. Die Ursachen der Gewalt und die Bedingungen von Frieden, in: Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft, hg. von der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Hannover 2001, S. 26-33, hier S. 29. 18 Kocka/Jessen, Gewaltsamkeit [wie Anm. 12], S. 35. 19 Stefan Reinecke, Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003, S. 231. 20 Vgl. Trutz von Trotha, »Streng, aber gerecht« – »hart, aber tüchtig«. Über Formen von Basislegitimität und ihre Ausprägungen am Beginn staatlicher Herrschaft, in: Wilhelm J.G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hg.), Legitimation von Herrschaft und Recht, Köln 1994, S. 69-90, hier S. 70.
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nisse, wobei – wie später zu zeigen sein wird – der Glaube an die Legitimität einer Herrschaft erschüttert werden kann. Aber angesichts des »Monopolcharakters der staatlichen Gewaltherrschaft«21 und der damit einhergehenden Zurückdrängung privater Gewalt müssen Gewalttätigkeiten verbannt und tabuisiert werden. Peter Alexis Albrecht und Otto Backes konstatieren, dass die gesellschaftliche und staatliche Grundierung der Gewalt ausgeblendet und tabuisiert werde.22 Vor allem in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen taucht die Frage nach den staatlichen Gewaltpotenzialen auf, wobei gewaltsame Handlungen durch staatliche Institutionen vielfach nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern prinzipiell als legitim angesehen werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum diese Form von Gewalt oft verdeckt bleibt. Die Rechtmäßigkeit einer Staatsgewalt setzt voraus, dass in der Gesellschaft ein Konsens vorherrscht. Der demokratische Rechtsstaat und seine Repräsentanten sind darauf angewiesen, eine Akzeptanz des von ihnen beanspruchten Gewaltmonopols in der Bevölkerung zu finden. Letztlich geht es um die Sicherung von Loyalitäten gegenüber dem Staat, wobei die »Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder Mehrere [...] den Glauben an eine in irgendeinem Sinn legitime Herrschaftsgewalt«23 voraussetzt. Dass dieser Legitimationsglaube erschüttert werden kann, vor allem wenn staatliche Gewalt Legitimitätsgrenzen überschreitet, soll im Folgenden dargelegt werden.
I. Infragestellung der staatlichen Legitimität Die sechziger und siebziger Jahre dokumentieren, dass der politische Konsens bei einem Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft – auch wenn es sich um eine Minderheit handelte – nicht mehr gegeben war. Die Auflehnung von Studenten gegen verkrustete Strukturen in der Hoch-
—————— 21 Weber, Grundbegriffe [wie Anm. 8], S. 45. 22 Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 12f. Auch Trutz von Trotha spricht davon, dass »auf seiten der Inhaber staatlicher Machtpositionen ein vergleichsweise hoher Grad an Tabuisierung der öffentlichen Debatte über staatliche Gewalt« charakteristisch ist, vgl. ders., Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwischen Selbsthilfe und Gewaltmonopol, Tübingen 1987, S. 30. 23 Weber, Grundbegriffe [wie Anm. 8], S. 30f.
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schule und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Autoritäten, verbunden mit Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, spiegelten sich in einer abnehmenden Normakzeptanz wider. In der Tat sahen sich viele Akteure »nicht angemessen repräsentiert und von ›den Herrschenden‹ nicht hinreichend berücksichtigt«.24 Der studentische Protest, der mit hochschulpolitischen Forderungen nach demokratischen Strukturen und kritischen Inhalten (»Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren«) begonnen hatte, war »kein isoliertes Ereignis [...], sondern die Fortsetzung und Kristallisation von vielerlei Veränderungen, Stimmungen und Einsichten, die auch schon vorher, wenn auch auf anderen Gebieten, wichtig gewesen waren«.25 In diesem Kontext sind exemplarisch die Bereitschaft der Bundesregierung zu nennen (Erklärung vom 7. Januar 1966), den Krieg der Vereinigten Staaten von Amerika in Vietnam zu unterstützen und die Kampagne »Notstand der Demokratie« im Jahre 1966, die sich gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze richtete. Weiter zählen dazu die Anfang der sechziger Jahre eskalierenden Kämpfe der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, etwa im Kongo, Algerien, Angola, Mocambique, Kenia, Nigeria beziehungsweise seit 1964 Vietnam und nicht zuletzt die Verkündung der Urteile des AuschwitzProzesses in Frankfurt 1965, die wegen der milden Strafen zu Protesten im In- und Ausland führten. Vor dem Hintergrund dieses Strafprozesses erklärt sich, warum die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik vielfach als Kontinuität staatlicher Macht- und Herrschaftsausübung interpretiert wurde. Die Konfrontation mit tradierten Wertvorstellungen und der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen Gleichheitsversprechen und tatsächlicher Ungleichheit in der eigenen Gesellschaft korrelierten mit einer neuen politischen Sensibilität für Unterdrückungsmechanismen in anderen Staaten. Oder wie es Willy Brandt im November 1968 vor der Unesco in Paris beschrieb: »Gar so verwunderlich ist es wohl nicht, wenn junge Menschen aufbegehren gegen das Missverhältnis zwischen veralteten Strukturen und neuen Möglichkeiten. Wenn sie protestieren gegen den Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit«.26
—————— 24 Neidhardt/Rucht, Protestgeschichte [wie Anm. 4], S. 29. 25 Heinz Steinert, Erinnerung an den »linken Terrorismus«, in: Henner Hess u.a. (Hg.), Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, Frankfurt/M. 1988, Bd. I, S. 15-54, hier S. 20. 26 Willy Brandt, Erinnerungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 274.
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Zu Recht hebt Peter Waldmann hervor, dass die Studentenbewegung der sechziger Jahre sich thematisch mehr und mehr ausgeweitet habe und in den Ruf nach einer radikalen Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse gemündet sei.27 Der Protest und die damit einhergehende Verschiebung des politischen Koordinatensystems hörten nicht bei der Infragestellung von Autoritäten auf; das »Althergebrachte [...] bekommt einen eher negativen als positiven Wert: es wird Symbol für das Überholte«.28 Vielmehr implizierte der antiautoritäre Inhalt der Bewegung, dass die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und die Legitimationsgrundlagen des Staates hinterfragt wurden. Das Werfen von Farbeiern gegen Symbole der USA, die Fahnenverbrennungen bei Anti-Vietnam-Demonstrationen, die spontanen sit-ins und teach-ins in den Universitäten und die sorgfältig inszenierten Auftritte der »Kommune I« mit Rainer Langhans, Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, »wie widersprüchlich, atemlos und verunsichernd ein unter diesen Konstellationen verlaufender Politisierungsprozess tatsächlich war«.29 Ungeachtet dessen hatten die Konfrontationen zwischen Anhängern der Protestbewegung und Repräsentanten und Institutionen des Staates zur Folge, dass um die Legitimität von Gewaltanwendung gestritten wurde. Dass es sich hierbei um einen komplexen, medial vermittelten Kommunikationsprozess zwischen Teilen der Studentenbewegung und der Öffentlichkeit handelte, belegt auch die folgende Aussage: »Die Bild-Zeitung insbesondere legte uns auf die Revolution fest, als diese für uns noch ein historischer Begriff war; sie stellte das Chaos dar, als wir noch das formelle Recht auf Demonstration zu einem wirklichen machen wollten; sie beschwor den Umsturz der Verhältnisse, als wir in diesen Verhältnissen noch nach einer Chance für politische Selbsttätigkeit suchten.«30 Die studentischen Aktionen wurden als Aufruf zur Gewalt und zur Zerstörung der staatlichen Ordnung bewertet. Demgegenüber sahen etliche Stu-
—————— 27 Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 77. 28 André Gorz, Revolutionäre Lehren aus dem Mai, in: André Glucksmann, Revolution Frankreich 1968: Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1969, S. 106f. 29 Klaus Hartung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, in: Kursbuch 48. Zehn Jahre danach, Juni 1977, S. 14-43, hier 21. Vgl. grundsätzlich hierzu Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; dies., Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001. 30 Hartung, Versuch [wie Anm. 29], S. 20.
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denten Gewalt als legitimes politisches Mittel der Gegengewalt und Notwehr an. Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht weisen darauf hin, dass diese Auseinandersetzungen einen Einschnitt in die Normalität der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte markieren und der Protestgipfel in der Geschichte der Bundesrepublik in den Jahren 1968 und 1969 gelegen habe.31 In der Tat ging es um das Verhältnis der Akteure zum Staat und zu seinem Gewaltmonopol, wobei in den sechziger Jahren noch zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen unterschieden wurde. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass ähnliche Debatten über die Legitimierung der Gewalt beziehungsweise Delegitimierung der staatlichen Gewalt auch in anderen westlichen Industriestaaten stattfanden. Bevor im nächsten Schritt Gewalt als Ergebnis von Interaktionsprozessen32 entwickelt werden soll, um zu verdeutlichen, dass gewaltsame Konfrontationen keine zwangsläufigen Prozesse sind, sondern Ergebnisse eines komplizierten Wechselverhältnisses zwischen Akteuren und Staatsmacht, muss der Gewaltbegriff definiert werden.
II. Physische Gewalt als Kristallisationspunkt Gewalt wurde in den sechziger und siebziger Jahren in Anlehnung an Johan Galtung vielfach unter den Begriff der »strukturellen Gewalt« diskutiert und als direkt erfahrbare, personale und indirekt wirksame Gewalt der sozialen Ungerechtigkeit definiert.33 Die weite Ausdehnung des Gewaltbegriffs ist problematisch, denn »wo überall Gewalt ist, geht der Gegenstand [...] verloren, Gewaltanalyse wird zu einer anderen Form allgemeiner Gesellschaftsanalyse«.34 Die teilweise kontrovers geführte Debatte um den Gewaltbegriff kann in diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden. Aber festzuhalten ist, dass im vorliegenden Beitrag von einem engeren Gewaltbegriff ausgegangen wird. Heinrich Popitz interpretiert Gewalt als eine Machtaktion, die die physische Integrität anderer verletzt und deren Intention darin besteht, »dauerhafte Machtgefälle zu schaffen oder zu verstärken«.35
—————— 31 Vgl. Neidhardt/Rucht, Protestgeschichte [wie Anm. 4], S. 35. 32 Vgl. hierzu Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 194ff. 33 Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek b. Hamburg 1975. 34 Schumann, Gewalt [wie Anm. 2], S. 374. 35 Popitz, Macht [wie Anm. 14], S. 46. Vgl. ferner Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/M. 1995.
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Obwohl bereits Popitz den Machtaspekt betont, wird im Folgenden die Begriffsbestimmung von Dirk Schumann zugrunde gelegt. Demnach wird politische Gewalt verstanden »als Ausübung physischen Zwangs, die prinzipiell kollektiv geschieht, sich sowohl auf Sachen wie auch auf einzelne Menschen oder auf Gruppen richten kann und deren Akteure in dem Objekt, auf das sie zielen, zugleich das politische System als ganzes oder ein als gegnerisch verstandenes politisches Konzept zu treffen versuchen.«36 Mit Hilfe dieser Definition können spontane oder geplante Zusammenstöße etwa bei Demonstrationen ebenso erfasst werden wie terroristische Anschläge auf symbolische Ziele oder Repräsentanten des Herrschaftssystems.
III. Symbolische Protestformen versus gewaltsame Konfrontationen Bei den Inszenierungen des studentischen Protestes handelte es sich vor allem bis 1968 um symbolische Aktionsformen und begrenzte Regelverletzungen. Die vielfach phantasievollen sit-ins und go-ins, Happenings, Hearings und Demonstrationen sollten auf Widersprüche aufmerksam machen und Autoritäten provozieren. Nach Ingeborg Villinger sind durch diese Störungen von öffentlichen Ritualen und Veranstaltungen gesellschaftlich normierte Verhaltensregeln durchbrochen und provokativ Vorstellungen zum Ausdruck gebracht worden, die denen der bestehenden sozialen Ordnung diametral widersprachen.37 Das Werfen von Tomaten – Wurfgeschosse, die sich auch symbolisch verstehen ließen –, das »Abschießen« von Flugblättern auf das Gelände der amerikanischen Soldaten, in denen diese aufgefordert wurden, sich nicht nach Vietnam schicken zu lassen, sondern zu desertieren oder das Verbrennen von Weihnachtsbäumen als Zeichen für das »brennende Vietnam« wa-
—————— 36 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 16. Vgl. ferner Helmut Janssen, Sind »die Terroristen« politisch motivierte Straftäter oder Terroristen? Probleme mit der Begriffsdefinition, in: Kriminalistik 1 (84), S. 17-19. 37 Vgl. Ingeborg Villinger, »Stelle sich jemand vor, wir hätten gesiegt«. Das Symbolische der 68er Bewegung und die Folgen, in: Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 [wie Anm. 29], S. 239-255, hier S. 239.
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ren Versuche, Gewalthandlungen öffentlich zu thematisieren. Ohne Zweifel handelte es sich bei den Aktionen gegen Personen (zum Beispiel gegen den Schah von Persien) um Handlungen gegen »Symbolfiguren von Imperialismus und Kolonialismus« respektive bei der Beschädigung von Gebäuden (beispielsweise des Springerhauses oder des Amerikahauses) und Gegenständen um »symbolische Handlungen gegen Symbolgestalten von Herrschaftsstrukturen, welche als illegitim angesehen wurden«.38 Die symbolische Inszenierung des studentischen Protestes gegen den Vietnamkrieg demonstriert das Puddingbombenattentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey im April 1967 durch die Kommune I in Berlin. Elf Mitglieder der Kommune wurden am 5. April 1967 unter dem Verdacht festgenommen, einen Anschlag auf Humphrey geplant zu haben, der am 6. April in Berlin erwartet wurde. Obwohl die Ermittlungen ergaben, dass der »Sprengstoff« aus Pudding und Mehl bestand, wurde in der Presse von einem versuchten Bombenattentat gesprochen. Die Journalistin Ulrike Meinhof, die Jahre später die Rote Armee Fraktion mitgründen wird, formulierte: »Nicht Napalmbomben auf Frauen, Kinder und Greise abzuwerfen, ist demnach kriminell, sondern dagegen zu protestieren [...]. Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren.«39 Angesichts der Reaktion des Staates auf die Studentenproteste rückte die Gewaltfrage in den Mittelpunkt, »und zwar sowohl im Hinblick auf die Legitimität staatlicher Gewalt als auch in Bezug auf defensive Formen [...] von Gegengewalt«.40 Zweifellos war diese Diskussion für die antiautoritäre Bewegung von zentraler Bedeutung. Eine Zäsur und ein Schlüsselereignis in der Durchbrechung der Gewaltschwelle gegen Personen, die es bisher trotz der Eskalation noch gab, war die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras. Der Theologiestudent wurde zur Symbolfigur in der Gewaltdebatte mit der Konsequenz, dass eine öffentliche Diskussion um die Legitimation von Gewalt (»Für uns hatte [...] die
—————— 38 Analysen zum Terrorismus, hg. vom Bundesministerium des Innern, Opladen 1982, Bd. 3: Wanda von Baeyer-Katte/Dieter Claessens/Hubert Feger/Friedhelm Neidhardt, Gruppenprozesse, S. 336. 39 Konkret Nr. 5, 1967, in: Ulrike Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1980, S. 93. 40 Sebastian Scheerer, Deutschland: Die ausgebürgerte Linke, in: Hess u.a. (Hg.), Angriff [wie Anm. 25], S. 193-429, S. 302.
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Staatsgewalt geschossen«41) unabdingbar schien. Bei der Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Resa Pahlevi in Berlin war es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Studenten und Polizei gekommen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete, dass die Polizei nicht im Affekt, sondern mit einer geplanten Brutalität gehandelt habe, und in der Zeit wurde die Reaktion des Staates als »Härte aus Schwäche« bezeichnet.42 In Berlin und in der Bundesrepublik fanden nach dem Tod von Ohnesorg spontane Protestmärsche und teach-ins statt, die nicht selten verboten wurden. Die Polizeieinsätze, oft verbunden mit Tränengas, sowie das vielfach unangemessene Vorgehen einzelner Polizisten bei Demonstrationen und vor allem die unmittelbare Erfahrung mit den Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols führten zu einer Radikalisierung der Opposition. So wollte beispielsweise Rudi Dutschke als Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) »mit den Studenten einen kritischen Dialog über die Notwendigkeit der Durchbrechung der etablierten Spielregeln der unvernünftigen Herrschaft« beginnen, denn »organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz«.43 Hierbei darf nicht unterschätzt werden, dass die häufig unverhältnismäßig hohe Polizeipräsenz und das Auftreten der Polizeikräfte in geschlossenen Einheiten als Machtdemonstration von Herrschaftsverhältnissen wahrgenommen wurde. Dass Gewalt in Interaktionsprozessen entsteht und »die Endphase eskalierender Konflikte und wachsender Kommunikationsbarrieren«44 markiert, belegen die weiteren Konfrontationen zwischen Protestbewegung und Instanzen der Staatsgewalt.45 Die Härte von Polizeikräften (»Repräsentanten des Gewaltträgers Staat«46) und die Übergriffe von einzelnen Polizeibeamten ließen bei Demonstrationsteilnehmern Zweifel aufkommen an der Rechtmäßigkeit der staatlichen Gewaltanwendung. Angesichts dieser Entwicklung schienen für viele eigene Abwehr-
—————— 41 So Fritz Teufel 30 Jahre später über den 2. Juni 1967; weiter führt er aus: »Wir haben das falsch interpretiert. Heute glaube ich nicht, dass Kurras die Staatsgewalt repräsentiert hat.« Zit. nach: Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19], S. 81. 42 Vgl. Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19], S. 79. 43 Rudi Dutschke, Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979, hg. von Gretchen Dutschke, Köln 2003, S. 48 und S. 45. 44 Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 77. 45 Im Zusammenhang mit diesen Unruhen trat der Regierende Bürgermeister von Berlin Heinrich Albertz am 26. September 1967 zurück. 46 Friedhelm Neidhardt, Aggressivität und Gewalt in der modernen Gesellschaft, in: ders. u.a., Aggressivität und Gewalt in unserer Gesellschaft, 2. Aufl., München 1974, S. 15-37, hier S. 33.
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maßnahmen notwendig. In der Tat waren die gewalteskalierenden Erfahrungen und die – wie Fritz Sack formuliert – »amtlich dokumentierten und bestätigten Rechtsverletzungen, Gewaltanwendungen staatlicher Institutionen und Funktionsträger«47 entscheidend. Gerade durch die Demonstration physischen Zwangs und Inszenierung politischer Herrschaft sahen zahlreiche Akteure ihre Befürchtung bestätigt, dass der Staat »seine demokratische Maske fallen lasse« und sich »in eine reine Repressionsmaschinerie verwandele«48. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Recherchen des AStA-Ermittlungsausschusses, der von einzelnen Anwälten wie Otto Schily mit der Intention »Die Studenten müssen nun den Rechtsstaat gegen die Polizei verteidigen«49 und Horst Mahler unterstützt wurde. Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die offizielle Notwehrversion der Polizei nicht zutraf, sondern laut Zeugenaussagen Polizeibeamte auf Ohnesorg eingeschlagen hätten und dabei ein Schuss gefallen sei. Während der Kriminalobermeister Kurras strafrechtlich nicht belangt wurde – das Berliner Landgericht sprach ihn am 21. November 1967 von der Anklage der fahrlässigen Tötung frei –, saß Fritz Teufel mehrere Monate in Untersuchungshaft. Er sollte angeblich am 2. Juni einen Stein geworfen haben.50 Die weiteren Ereignisse, so der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 durch Josef Bachmann, die folgenden Straßenschlachten zwischen Protestbewegung und Staatsgewalt und die »Springer-Kampagne«, mit der die Auslieferung der Springer-Presse (»BILD hat mitgeschossen«) verhindert werden sollte, spiegeln den weiteren Eskalationsprozess wider.51 Darüber hinaus war entscheidend, dass trotz heftiger Proteste in der Öffentlichkeit die Notstandsverfassung am 30. Juni 1968 durch den
—————— 47 Fritz Sack, Die Eskalation von Gewalt: Die Transformation politischer in gewaltbesetzte Konflikte, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm.12], S. 111-137, hier S. 131. 48 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 134. 49 Otto Schily im Juni 1967 nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg, zit. nach Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19] S. 77. 50 Es stellte sich heraus, dass Fritz Teufel den fraglichen Stein nicht geworfen hatte. Er wurde am 22. Dezember 1967 von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen, vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003, S. 87. 51 Nicht nur in Berlin, Paris oder in den USA kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Protestbewegung, sondern auch in Spanien, in Belgien, in den Niederlanden, in Österreich, in der Schweiz, in Jugoslawien, in Polen, in der Türkei, in Griechenland, in Mexiko und in Japan.
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Bundestag verabschiedet wurde, mit der zeitweise bestimmte Artikel des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt werden können. Dass sich die Grenzen zwischen symbolischen Formen des Protestes, begrenzten Regelverletzungen und gewaltsamen Konfrontationen auflösten, macht folgende Darstellung deutlich: »Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Ostertagen erstmalig [...] tatsächlich, nicht nur symbolisch überschritten worden«, wobei die Repräsentanten des Staates bezeichnet wurden als »Repräsentanten der Gewalt des Systems, das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg, ihnen fehlte beides: die politische und moralische Legitimation, gegen den Widerstandswillen der Studenten Einspruch zu erheben.«52 Bei der »Schlacht am Tegeler Weg« im November 1968, die sich gegen das Ehrengerichtsverfahren gegen den SDS-Anwalt Horst Mahler richtete, kam es zu blutigen Szenen zwischen Demonstranten und Polizisten. Diese Ausschreitungen markieren aus studentischer Sicht eine Wende: »[W]ir waren dabei, uns aus einer radikalen Bewegung in eine militante Minderheit zu verwandeln.«53 Zwar hatten die Anhänger der Protestbewegung »gesiegt«, aber faktisch ist diese Aktion – wie Ingrid Gilcher-Holtey hervorhebt – einem Rückzugsgefecht gleichgekommen.54 Die bisherige Aktionsstrategie, die auf symbolische Protestformen und Provokationen setzte, wich physischen Konfrontationen zwischen Akteuren und Instanzen des staatlichen Gewaltmonopols. Obwohl die grundsätzlichen gewaltbegünstigenden Konstellationen wie Konflikte über einen längeren Zeitraum oder Kommunikationsbarrieren nicht unterschätzt werden dürfen, waren die situativen Gewaltbedingungen relevant. So zeigen die sechziger und siebziger Jahre, dass Gewalt in den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften eine Eigendynamik entwickelte, die vielfach weder beabsichtigt war noch
—————— 52 Ulrike Meinhof, Vom Protest zum Widerstand, konkret 5 (1968), in: Meinhof, Würde [wie Anm. 39], S. 138f. 53 Hartung, Versuch [wie Anm. 29], S. 36. Allein in West-Berlin kommt es vom 31.12.1967 bis 6.2.1971 zu ca. 70 Brand-, Sprengstoff- und Knallkörperanschlägen von kleinen militanten Gruppen (beispielsweise »Tupamaros West-Berlin«, »Haschrebellen«, »Schwarze Ratten«, »Schwarze Front«) auf amerikanische Einrichtungen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Justizinstanzen, Banken, Rathäuser, Bezirksämter, Konsulate und Presseeinrichtungen sind ebenfalls Ziele der Anschläge, vgl. Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast, 3. Aufl., Berlin 1999, S. 165. 54 Vgl. Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung [wie Anm. 29], S. 107.
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gesteuert werden konnte. Mehr und mehr kam es zu einer Entgrenzung von Gewalt.55 Zu Recht hebt die Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt hervor, dass dem Einsatz von Gewalt zum einen rationale Kosten-Nutzen-Überlegungen der beteiligten Gruppen zugrunde liegen und zum anderen Gewalt sich kurzfristig und akut in Aufschaukelungsprozessen entwickele, in denen das Verhalten der Polizei eine zentrale Rolle spiele.56
IV. Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates Eine Eskalation der physischen Gewalt und des Angriffs auf die Legitimationsgrundlage des Staates erlebte die Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre durch die Bildung der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni. Jetzt ging es nicht mehr um symbolische Protestformen gegen das staatliche Gewaltmonopol oder um die Infragestellung der Herrschaftsstruktur, sondern um die prinzipielle Negierung des Systems. Zu Recht macht Friedhelm Neidhardt deutlich, dass der Anspruch der RAF auf legitime Gegengewalt und die politische Symbolik ihrer Kriminalität das eigentliche Faktum gewesen seien.57 Tatsächlich lag die Herausforderung der staatlichen Legitimität in der unmittelbaren Anwendung gewaltsamer Mittel, wobei die RAF »ihre Aktionen als eine über die strafrechtliche Kriminalität hinausgehende Manifestation politischer Fundamentalopposition«58 verstand. Im April 1971 begründete Ulrike Meinhof den bewaffneten Kampf der RAF mit den Worten: »Stadtguerilla ist [...] die Konsequenz aus der längst vollzogenen Negation der parlamentarischen Demokratie durch ihre Repräsentanten selbst, die unvermeidliche Antwort auf Notstandsgesetze und Handgranatengesetz, die Bereitschaft, mit den Mitteln zu kämpfen, die das System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten«. Und weiter schrieb sie: »Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer
—————— 55 Aber zu Recht weist Dirk Schumann darauf hin, dass »hier nicht eine Art von Automatismus am Werk« war; Schumann, Gewalt [wie Anm. 2], S. 378. 56 Vgl. Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 106. 57 Vgl. Analysen zum Terrorismus [wie Anm. 38], S. 318. 58 Michael Horn, Sozialpsychologie des Terrorismus, Frankfurt/M. 1982, S. 78.
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Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören.«59 Mit dieser Intention griffen die RAF und die Bewegung 2. Juni Symbole staatlicher Herrschaft an, etwa 1972 in der »Mai-Offensive« militärische Einrichtungen der US-Armee oder Justiz- und Polizeiorgane als Instanzen des staatlichen Gewaltmonopols. Sie ermordeten Repräsentanten des Systems, so 1974 den Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenckmann, 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Bankier Jürgen Ponto und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer oder entführten Repräsentanten des Staates, etwa 1975 den Berliner Landesvorsitzenden der CDU Peter Lorenz. Betrachtet man den Eskalationsprozess der sechziger und siebziger Jahre, bestätigt sich die These von Peter Waldmann, wonach terroristische Gruppen »in aller Regel nicht isoliert auf[treten], sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen, von denen sich nicht mehr behaupten lässt, sie seien isolierte, gewissermaßen zufallsbedingte sozio-politische Phänomene.«60 Nach dem Auseinanderbrechen der Studentenbewegung hatten sich viele Akteure SPD-Nachwuchsorganisationen und anderen linken Gruppen und Parteien angeschlossen oder sich ganz aus der Politik zurückgezogen, während einige wenige in den Untergrund gingen.61 Insoweit lässt sich die partiell anzutreffende Auffassung nicht aufrechterhalten, der Terrorismus der siebziger Jahre sei eine zwangsläufige Konsequenz der studentischen Protestbewegung gewesen. Vielmehr war es der Weg einer kleinen Minderheit in die Illegalität, um den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass der Kern der RAF vielfach nicht mehr als 25 bis 35 Personen umfasste, ist die Reaktion des Staates zu bewerten. Die staatlichen Gewaltmittel wurden »präventiv ausgestreckt und in ihrer Legaldefinition entgrenzt«,62 der Sicher-
—————— 59 Das Konzept Stadtguerilla, in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, hg. von ID-Verlag Berlin 1997, S. 27-48, hier S. 41f. 60 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 120. So weist Waldmann auf die Verbindung zwischen der civil-rights-Bewegung in den USA der sechziger Jahre und dem anschließenden Auftreten der militanten Organisation »The Weathermen« hin. Auch die meisten palästinensischen Gewaltorganisationen, vor allem die Hamas, haben ihren Ursprung in der Intifada, vgl. ebd., S. 121. 61 Ebd., S. 132. 62 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 63.
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heitsapparat der Polizei von 149 782 Beamten im Jahre 1960 auf über 220 000 im Jahre 1980 ausgebaut, die Zahl der Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes in der Zeit von 1969 bis 1980 von 933 auf über 2 600 erhöht63 und der Etat des BKA von 20 Millionen (1970) auf 920 Millionen DM (1977)64 gesteigert. Darüber hinaus wurden relevante Strafrechtsänderungen, etwa die Etablierung der so genannten Antiterrorismusgesetze, vorgenommen. Die Terrorismus-Debatte führte zu polarisierten Kontroversen über den Zustand der Bundesrepublik und über den Bestand der freiheitlichdemokratischen Grundordnung. Folglich ging es in der Terrorismusbekämpfung um »das Ganze«, um die staatliche Ordnung beziehungsweise um Chaos und Anarchie. Der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling formulierte es folgendermaßen: »Wir hatten uns so lange mit dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats abgerackert, das wir niemandem erlauben wollten, diesen Staat kaputtzumachen.«65 Über die Massenmedien wurde ein Szenario der terroristischen Bedrohung vermittelt, so dass der Verfolgungsdruck der Ermittlungsbehörden berechtigt, die Verstärkung polizeilicher Präsenz und der größte Einsatz der Fahndungsapparate in der Geschichte der Bundesrepublik notwendig erschienen. In der Tat wird – wie Jürgen Habermas im Jahre 1990 schrieb – »der staatliche Handlungsbedarf dramatisch beschworen«, ohne zu berücksichtigen, dass sich »im Lichte internationaler Vergleiche [...] die objektive Sicherheitslage erst recht nicht bedrohlich [aus]nimmt«. Politisch motivierte Gewalttaten seien quantitativ als »Randphänomen« einzustufen.66 Die Inszenierung der politischen Gewalt als Bedrohung der gegebenen Gesellschaftsordnung legitimierte die Gewaltanwendung durch staatliche Instanzen und sollte nicht zuletzt den Konsens in der Gesellschaft sicherstellen beziehungsweise die Loyalität der Bevölkerung einfordern. Aber gerade der Ausbau des staatlichen Repressionspotenzials kam der Überzeugung der RAF nahe, dass der Staat durch gezielte Provokationen »seine heuchlerische rechtsstaatlich-demokratische Fassade« abstreife und »sein
—————— 63 Vgl. Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 395. 64 Vgl. Horn, Sozialpsychologie [wie Anm. 58], S. 80. 65 Zit. nach Dorothea Hauser, Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt/M. 1998, S. 205. 66 Jürgen Habermas, Gewaltmonopol, Rechtsbewusstsein und demokratischer Prozeß. Erste Eindrücke bei der Lektüre des »Endgutachtens« der Gewaltkommission, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 180-188, hier S. 181.
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wahres faschistisch-repressives Gesicht« zeige.67 Bewusst sollte der Rechtsstaat zu Überreaktionen herausgefordert werden; durch seine Reaktion sollte sich das Staatssystem »kenntlich« machen »und so, durch seinen eigenen Terror die Massen gegen sich aufbring[en], die Widersprüche verschärf[en], den revolutionären Kampf zwingend«68 machen.
V. Schlussbemerkungen In Umbruchsituationen und Legitimationskrisen staatlicher Macht – hier exemplarisch dargestellt für die sechziger und siebziger Jahre – gewinnt die Gewaltfrage eine signifikante Bedeutung. Unter solchen Konstellationen wird die Legitimität physischen Zwangs durch staatliche Instanzen hinterfragt und in einem komplexen Prozess ausgehandelt, der für die symbolische Inszenierung von Herrschaftsverhältnissen entscheidend ist. Zweifellos setzten die Rote Armee Fraktion und die Bewegung 2. Juni mit ihrem Anspruch legitimer Gegengewalt und der damit zusammenhängende »symbolische Belagerungszustand«69 die Staatsgewalt unter Handlungsdruck. Dass die Reaktion eines Staates kontraproduktiv sein kann, ist vor dem Hintergrund der Eskalation physischer Gewalt in den sechziger und siebziger Jahren zu prüfen; sie kann »nicht nur über die staatlichen Stränge schlagen«, sondern auch »dazu beitragen, dass das, was bekämpft wird, staatlich nicht legitimierte private Gewalt und Abweichung von den Normen, erst richtig erzeugt wird.«70 In der Tat braucht politisches Handeln die Bestimmung von Grenzen, um berechenbar zu sein. Staatliche Gewalt muss eingeschränkt werden, wenn der Legitimationsglaube an ihre Rechtmäßigkeit respektive die Aufrechterhaltung von Herrschaft nicht erschüt-
—————— 67 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 78. Auch Richard Blath und Konrad Hobe machen deutlich, dass terroristische Aktionen darauf zielen, »den Staat zu Überschreitungen oder sogar zur Aufgabe der geltenden rechtlichen Prinzipien zu veranlassen und damit größere Teile der Bevölkerung für einen Umsturz zu mobilisieren«; dies., Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, hg. vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1982, S. 2. 68 Rede von Ulrike Meinhof zu der Befreiung von Andreas Baader, in: texte: der RAF, Malmö 1977, S. 62-74, hier S. 72. 69 Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 397. 70 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 62.
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tert werden sollen. Gerade die gewaltsamen Konfrontationen zwischen Anhängern der Protestbewegung und Instanzen des staatlichen Gewaltmonopols verweisen auf die Gefahr, dass die Begrenzungen von Gewalt bedeutungslos beziehungsweise Gewaltakte zunehmend entgrenzt werden. Vor diesem Hintergrund der »Entgrenzung menschlicher Verhältnisse«71 zeigt sich, in welchem Maße die Gewaltanwendung durch staatliche Instanzen zugleich die Grenze von Herrschaft markiert, wenn diese nicht in Gewaltherrschaft münden soll.
—————— 71 Popitz, Macht [wie Anm. 14], S. 48ff.