Scan by Schlaflos Zu diesem Buch
Nun wird die letzte Schlacht um die Drachenkrone geschlagen: Die zivilisierten Reiche...
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Nun wird die letzte Schlacht um die Drachenkrone geschlagen: Die zivilisierten Reiche versuchen verzweifelt, die übermächtigen Barbarenheere der Nordlandhexe Kytrin zurückzudrängen. Doch die grausame Kytrin ist ihrem Ziel, die Drachenkrone wieder zusammenzusetzen und damit zur mächtigsten Herrscherin aller Zeiten aufzusteigen, so nahe wie nie. Die Gefährten des für tot erklärten prophezeiten Retters Will Norderstett geben jedoch nicht auf: Sie ziehen in einen letzten Kampf gegen die Mächte der Finsternis - und machen eine unglaubliche Entdeckung, die im letzten Augenblick das Schicksal der Welt entscheiden wird... Dieser Band ist der spannungsgeladene und überraschende Abschluss des großen Epos »Düsterer Ruhm«. Michael A. Stackpole, geboren 1957 in Wausau/Wisconsin, studierte Geschichte an der Universität von Vermont. Der bekannte Fantasy- und Science Fiction-Autor schrieb neben seinem Aufsehen erregenden Zyklus »Düsterer Ruhm« zahlreiche Romane zu Serien wie »Shadowrun« und »Star Wars«. Überdies entwickelt er erfolgreich Computerspiele. Stackpole lebt und arbeitet heute in Arizona.
Michael A. Stackpole
Die Macht der Drachenkrone DÜSTERER RUHM 7 Aus dem Amerikanischen von Reinhold H. Mai Piper München Zürich Von Michael A. Stackpole liegen in der Reihe Piper Boulevard vor: Zu den Waffen! Düsterer Ruhm 1 (9121) Der große Kreuzzug. Düsterer Ruhm 6 (9126) Die Macht der Drachenkrone. Düsterer Ruhm 7 (9127) Deutsche Erstausgabe Januar 2005 © 2003 Michael A. Stackpole Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Grand Crusade 2«, Bantam Spectra/Random House, Inc., New York 2003 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2005 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: Zero, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Ciruelo via Agentur Schluck GmbH Karte: Erhard Ringer Gesamtherstellung: Clausen und Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-29127-9 www.piper.de
4 Für Stephen King Autoren lernen schreiben, indem sie lesen - und seine Arbeit ist eine unübertroffene Schatzkammer an Charakteren, Dramen und Dialogen. Und er verfasst dazu noch Bücher über das Schreiben, die mir schon geholfen haben, noch bevor ich zum ersten Mal etwas veröffentlicht habe. Danke. WAS BISHER GESCHAH ... Die Pläne des Südens, Kytrin aufzuhalten, erleiden einen Rückschlag nach dem anderen. Nach dem Tod des prophezeiten Retters Will Norderstett droht die Allianz der südlichen Monarchen zu zerfallen. Doch es gelingt den Gefährten um Kräh und Entschlossen noch einmal, die Lage zu retten und Prinzessin Alexia eine Koalitionsstreitmacht für ihren Kampf zu sichern. Da enttarnt der Magiker Kjarrigan die Großherzogin Tatjana, die bei allen Besprechungen des Kriegsrates anwesend war, als Kytrin selbst. Die Strategie des Südens ist verraten. Schlimmer noch, Kytrin nimmt die Murosoner Prinzessin Sayce gefangen, die das einzige Kind von Will Norderstett unter dem Herzen trägt, und verschleppt sie nach Aurolan. Das droht, auch die Hoffnung auf einen neuen Norderstett zu zerschlagen, der eine kommende Generation noch zum Sieg führen könnte.
Doch dann wendet sich das Blatt offenbar wieder. Die Elfenseherin Orakel erscheint und verkündet, der Norderstett warte auf Vorquellyn, der vor einem Jahrhundert von den Aurolanen überrannten Heimat von Entschlossen. Während Prinzessin Alexia und Kräh den Kampf gegen die Horden Kytrins aufnehmen, macht sich Entschlossen mit einer kleinen Gruppe auf den Weg, den Norderstett zu befreien und Kytrin zu töten. Aber weder er noch seine Freunde ahnen, dass Kytrin König Swindger von Oriosa zu einem ihrer Dunklen Lanzenreiter gemacht hat. Und nicht einmal die Drachen wissen, dass hinter Kytrin die Oromisen, die Jahrzehntausende zuvor von ihnen in den Tiefen der Erde eingeschlossen worden waren, die Fäden ziehen, um aus ihrem Kerker auszubrechen und sich furchtbar zu rächen. 7 KAPITEL EINS Die westlichste Siedlung Norivas trug den Namen Nirgendwo. Duranlaun berichtete, dass sie aus mehreren Häusern innerhalb einer Palisadenwand bestand. Trampelpfade verliefen zwischen Langhäusern zur Unterbringung der Holzfäller, und kleinere Gebäude dienten als Tavernen, Speisehäuser und Bordelle. Vom höchsten Dach wehte eine Fahne, doch General Markus Adrogans kannte weder ein Reich, das dieses blau-weiße Banner benutzte, noch eine Einheit. Es hätte ihn überrascht, sollte sich die Gesamtbevölkerung des Dorfes auf mehr als tausend Seelen belaufen. Ein Kinderspiel für seine Armee, den Ort zu überrennen und dem Erdboden gleichzumachen. Eine Salve der Draconellen hätte genügt, die Holzwände einzureißen und die Bewohner schutzlos dem Angriff auszuliefern. Was dort unten als Miliz durchging, war eine halbe Legion Männer, offenbar mehr dazu ausgebildet, Betrunkene um ihre Barschaft zu erleichtern, als wenigstens ansatzweise so etwas wie Sicherheit zu gewährleisten. Aber sie trugen eine Uniform in den Farben der Fahne, was darauf hindeutete, dass sie einer höheren Autorität Rechenschaft schuldeten. Und dass es sich um Menschen handelte, nicht um Schnatterer, machte ihm Mut. Adrogans beobachtete das Dorf aus dem Wald einer nahen Bergkuppe heraus. Seine Armee war herangerückt und lagerte ganz in der Nähe. Trotzdem war es ihnen gelungen, unbemerkt zu bleiben, da die Miliz von Nirgendwo die Palisadenumzäunung nicht verließ. Adrogans hatte sich ernsthaft überlegt, Nirgendwo mit den Draconellen dem Erdboden gleichzumachen. Der Angriff hätte 8 den Mannschaften Gelegenheit gegeben, Zielen und schnelles Nachladen zu üben. Und es hätte dem Rest der Truppen eine Vorstellung davon vermittelt, wie schlagkräftig die Waffen waren. Sie wussten zwar alle, dass Festung Draconis mit Draconellen erobert worden war, aber selbst diejenigen unter ihnen, die bereits auf der nördlichen Festung gewesen waren, konnten sich kaum vorstellen, welche Gewalt dafür erforderlich gewesen war. Doch obwohl eine derartige Vorgehensweise ohne Zweifel von Erfolg gekrönt gewesen wäre, blieb sie problematisch. In erster und wichtigster Linie wollte er seinen Feuerdreck nicht auf Ziele verschwenden, die auch ohne Draconelleneinsatz zu besiegen waren. Zweitens: Sollte jemand entkommen, wären Kytrins Truppen vorgewarnt, dass er mit den Draconellen anrückte. Sicherlich hatte die Nordlandherrscherin Verteidigungsmethoden gegen ihre eigenen Waffen entwickelt, und er legte keinen Wert darauf, dass seine Leute auf derartige Gegenmaßnahmen und das damit gewiss verbundene abscheuliche Gemetzel trafen. Drittens schließlich hätte eine Vernichtung des Dorfes eine Nachrichtenquelle zerstört und die Bevölkerung verängstigt. Adrogans wollte die Dorfbewohner auf seine Seite ziehen und dazu bringen, für ihn zu arbeiten. Natürlich, ohne dass Kytrin davon erfuhr. Dazu hatte er in Zusammenarbeit mit General Caro und anderen einen Plan geschmiedet. Er schaute hinunter zu Caro, der an der Spitze einer zerlumpten Reiterkolonne wartete, und nickte. Caro hob die Hand und ließ sie wieder fallen. Seine Aleider Reitergarde setzte sich den Hang hinunter in Marsch. Hinter den dreihundert Gardisten folgten vierhundert Bewaffnete zu Fuß, die Swojiner und die übrigen okranschen Freiwilligen. Zahlenmäßig war es eine beeindruckende Truppe, was aber keineswegs für ihr Aussehen galt. Die Soldaten hatten die Uniformen gegen eine krude Mischung aus nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken vertauschen müssen, die sie gefunden hatten. Auf jeden Außenstehenden wirkten sie wohl wie 9 Flüchtlinge, oder schlimmer noch: wie eine zu Banditen verkommene Soldateska. Caro sollte mit seinen Truppen ins Tal reiten und fordern, dass die Siedlung die Tore öffnete und ihn als Herrscher anerkannte. »Wenn sich dieser Bastard Adrogans ein Imperium erobern kann», würde er erklären, »dann kann ich das auch.« Als Caros Kavallerie die Palisaden erreichte, waren die Tore geschlossen und derjenige, der in Nirgendwo eine Art Bürgermeisterposten bekleidete, stieg auf die Wand und redete mit ihm. Adrogans konnte zwar nicht hören, was gesagt wurde, erkannte aber die Gesten. Nach einer ganz bestimmten stürzte sich ein Kriegsfalke hinab und schleuderte einen Flammhahn auf einen Wandabschnitt. Der Feuerschein beleuchtete dem Bürgermeister die Lage in einem ganz neuen Licht. Die Tore öffneten sich, Caro wurde jubelnd willkommen geheißen. Die Fahne wurde eingeholt und eine neue gehisst. Nirgendwo war ab jetzt König Caro I. Untertan. Die Krönungsfeierlichkeiten dauerten bis tief in die Nacht.
Während dieser Nacht zog der Großteil von Adrogans' Armee im Schutze einer Bergkette um die Stadt herum. Sie marschierten einige Stunden und schlugen auf einer von den Kundschaftern entdeckten riesigen Talebene ihr Lager auf. Ein steter Kundschafterstrom hielt Adrogans in stündlichem Abstand über die Ereignisse in Nirgendwo auf dem Laufenden, doch Turpus Caro erschien erst am nächsten Vormittag im Lager und erzählte ihm, was genau vorgefallen war. Caros sonst auch schon immer rote Wangen waren noch kräftiger gefärbt - zur Hälfte vom Alkohol, zur anderen Hälfte von der Kälte, vermutete Adrogans - und er grinste breit. »Der anfängliche Widerstand war halbherzig. Dalanous, der Gouverneur des Nirgendwodistrikts, war ein niederer Höfling, bis die norivesische Kronprinzessin Nachforschungen darüber anstellte, wo er schlief und mit wem, und er auf diesen Posten abgeschoben wurde.« Adrogans zog die linke Augenbraue erstaunt hoch, während 10 er einen Laib Brot in zwei Teile zerbrach, dann ein kleines Stück abriss und in heiße Brühe tunkte, um es aufzuweichen. »Dann hat Noriva eine Regierung und ein Königshaus?« »Nur eine Königin, aber keinen König. Zumindest, soweit ich das herausbekommen konnte. Kytrin ist es gleichgültig, wer in Noriva was anstellt, solange das Getreide geerntet wird, das Vieh gehütet und auch sonst für alles gesorgt ist, was sie braucht. Es gibt verschiedene Provinzen, aber die Königin hat ihren Sitz in Logbai. Die Frauen haben die Gemeinden rund um Schwesternschaften aufgebaut, da es Kytrin bei den Sklavenexpeditionen nur auf Männer abgesehen hat. Die Hälfte der Männer in Nirgendwo sind hier gelandet, um zu verhindern, dass sie nach Aurolan verschleppt werden.« »Und der Rest?« Caro zuckte die Achseln. »Sie holzen den Wald ab. Niemand weiß genau, was mit all dem Holz geschieht, da es in ein Gebiet östlich von Logbai geschafft wird, das die Aurolanen selbst kontrollieren. Aber alle gehen davon aus, es sei zum Bau einer Flotte bestimmt. Zweifel daran sind kaum möglich. Kytrin hat sämtliche Schiffsbauer und Matrosen zusammentreiben lassen.« Adrogans nickte. »Das jetzt geschlagene Holz müsste trocknen, bevor es verarbeitet werden kann. Wenn sie es jetzt erst beschafft, wäre die Flotte frühestens nächstes Jahr fertig.« Der Aleider Reitergeneral schüttelte den Kopf. »Falls sie die Flotte eher braucht, kann sie das Holz von ihren Magikern trocknen lassen. Es wäre zwar von schlechterer Qualität als nach der nötigen Lagerzeit, und man könnte die ganze Flotte versenken, indem man den Zauber bricht. Solange es ihr aber nur um einen Überraschungsangriff irgendwo geht, wäre so eine hastig zusammen gezimmerte Flotte völlig ausreichend.« »An die Möglichkeit, Magik in so großem Maßstab einzusetzen, hatte ich nicht gedacht. Aber da du es ansprichst, kommt mir ein anderer Gedanke. Ich möchte einen Splitter von jedem Balken. Dann können unsere Magiker feststellen, 11 wo das Holz am Ende landet. Möglicherweise können sie uns sogar sagen, wofür es benutzt wird.« »Gute Idee.« Caro nahm die Schale Suppe auf, die vor ihm stand, und trank. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Dalanous war hauptsächlich bereit, mich als neuen Herren anzuerkennen, weil ich ihm gesagt habe, ich wolle weiter nach Logbai. Er ist froh, mich wieder loszuwerden, und falls es mir gelingt, den Thron zu übernehmen, wird er mich nach Kräften unterstützen. Falls nicht, hisst er einfach wieder die alte Fahne.« »Wie weit entfernt liegt Logbai?« »Anderthalb Wochen.« Caro stopfte sich ein kleines Stück Brotkruste in die linke Backe, um es aufzuweichen. »Auf dem Weg liegen noch andere Siedlungen. Unsere kleine Finte dürfte bei den meisten glücken. Laut Dalanous besitzt kaum eine Befestigungen, weil die Aurolanen das nicht gerne sehen, und andere Gefahren gibt es nicht.« »Wir werden ein paar davon umgehen. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Nachricht von deinem >Imperium< ausbreitet, und es wäre nicht gut, wenn man vorhersagen kann, wo du als Nächstes auftauchst.« Adrogans stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir müssen uns auf zwei Dinge vorbereiten. Dass die Königin ...« »Sie heißt Winalia.« Adrogans dachte kurz nach. »Königin Winalia entschließt sich, dir Truppen entgegenzuschicken, um dich aufzuhalten. Da die Norivesen offenbar über keine geordnete Verteidigung verfügen, gehe ich davon aus, dass man ihre so genannte Miliz problemlos zerschlagen kann.« »Ich neige zu derselben Ansicht.« »Dann ist die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere. Jemand am Hofe wird den Aurolanen berichten, und die schicken dann Truppen. Bei der ersten Begegnung können wir sie vielleicht noch durch die Mangel drehen, danach werden wir uns jeden Schritt zu den Werften, dem Borealpass und weiter nach Aurolan freikämpfen müssen.« 12 »Dann sollten wir versuchen, diese Begegnung bis irgendwo weit hinter Logbai hinauszuschieben, damit wir die Stadt als Rückzugsstellung nutzen können.« Der jeranische Feldherr schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Es wird sicher eine unbefestigte Stadt sein, also gäbe es nur ein Gemetzel unter unschuldigen Einheimischen, wenn wir uns dorthin zurückziehen. Sobald die
Aurolanen wissen, dass wir Draconellen haben, werden sie ihre eigenen in Stellung bringen.« »Falls sie Draconellen in Noriva haben.« »Ein guter Einwand, aber darauf können wir uns nicht verlassen. Wenn nötig, könnten sie welche übers Meer aus Muroso oder Saporitia holen.« »Wenigstens würde das den Druck auf die Truppen im Süden verringern.« Adrogans nickte zustimmend. »Richtig, das würde es, wir können aber dasselbe auch erreichen, indem wir vorwärts drängen, hart zuschlagen und keine Zeit verlieren. Wir haben Swarskija eingenommen, weil wir uns keinen Deut um anerkannte Militärtheorie geschert haben. Wir haben mit Finten und Verschlagenheit einen Winterkrieg geschlagen. Genauso müssen wir weitermachen. Solange sie nicht wissen, wo wir sind, müssen sie Zeit und Kraft darauf verschwenden, nach uns zu suchen. Das ermüdet ihre Truppen, zieht ihre Linien auseinander und macht es uns leichter, eine Schwachstelle zu finden, die wir ausnutzen können.« »Von mir wirst du keine Widerworte hören.« Caro stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. Er senkte leicht die Stimme. »Ich weiß, wir haben gute Truppen, und die Draconellen machen sie noch besser, aber wir sind nicht einmal sechstausend Mann. Wie viele Gegner erwarten uns, deiner Schätzung nach? Denk daran, wir gehen davon aus, dass sie eine Angriffsflotte in den Süden schicken will. Dazu muss sie ein Heer zusammenziehen, das sich darauf einschiffen soll.« Adrogans stand auf und ging hinüber zur Rückwand des Zeltes, wo auf einer Tafel eine Weltkarte hing. Er betrachtete 13 sie eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, mein Freund. Wir können uns darauf verlassen, dass Alexia bestimmt fünfzehntausend Mann befehligt. Ich würde die Stärke der Aurolanen in derselben Größe oder noch höher ansetzen - maximal das Doppelte. Und genau wie wir in Okrannel auf die Kryalniri getroffen sind, wäre ich sogar bereit zu wetten, dass ihre Truppen von anderen Kreaturen verstärkt werden, von denen wir noch überhaupt nichts wissen. Was das Heer betrifft, das sich zur Einschiffung versammelt, können wir nur raten. Wie viele Mann würdest du wollen, um Narriz oder Yslin zu erobern?« Caro schüttelte den Kopf. »Narriz kenne ich nicht besonders gut. Aber für Yslin würde ich zehntausend haben wollen.« »Und falls der Angriff von der See käme, mit Schiffen, die mit Draconellen bestückt sind und die Hafenanlagen in Trümmer legen? Was, wenn du deine Truppen dort ungehindert an Land setzen könntest? Wie viele wären dann nötig? Du brauchst sie nur, um die Verteidiger in ihren Türmen einzuschließen und dann die Draconellen zu holen, damit sie die Türme zum Einsturz bringen.« Der Aleider wurde blass. »Vielleicht fünftausend.« »Du bist konservativer als ich. Mir würden schon dreitausend genügen, und selbst das nur, weil ich auch mit dem Widerstand der Bevölkerung rechne. Für Narriz würden zweitausend reichen.« »Zweitausend?« »Es wäre völlig ausreichend, die Stadt vom Meer aus zu beschießen, damit sie sich ergibt. Vielleicht brauchte man eine Garnisonstruppe von einigen hundert Mann, aber die Stadt würde schnell fallen, besonders, wenn die Kämpfe im Norden hart genug toben.« Caro dachte kurz nach, dann nickte er. »Diese Draconellen sind wirklich eine furchtbare Waffe, nicht wahr?« »Allerdings. Der Markgraf Draconis hatte ganz Recht, das Wissen darum geheim zu halten.« Adrogans tippte dort auf die Karte, wo der Borealpass Noriva mit Aurolan verband. »Wir 14 werden von deiner Schätzung ausgehen. Fünftausend. Darauf müssen wir gefasst sein.« »Ein ausgewogener Kampf. Das wird schrecklich.« »Falls wir es zu einem ausgewogenen Kampf kommen lassen.« Auf Adrogans Zügen breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Deine Ruhmestaten, König Caro, sind nur der Anfang. Wir werden dafür sorgen, dass uns Kytrin unterschätzt. Solange sie uns ihre Truppen häppchenweise serviert, werden wir sie zum Frühstück verspeisen und rechtzeitig in ihrer Heimat sein, um die Knochen auszuspucken.« KAPITEL ZWEI Eirmenbrechts Armee kam auf dem Marsch durch Oriosa aus verschiedenen Gründen recht zügig voran, was ihm einerseits gut passte, ihn jedoch andererseits beunruhigte. Der Hauptgrund für ihr schnelles Fortkommen war der ausgezeichnete Zustand der Straßen. Die Königsstraße verlief von Meredo nach Norden, an Bokagul vorbei und erreichte bei Tolsin die Grenze von Muroso. Auf dem festen Pflaster zogen Soldaten und Tross schnell dahin. Und Schnelligkeit war wichtig, falls er zu Prinzessin Alexias Einheiten stoßen wollte - was er so bald wie möglich wollte. Außerdem freute ihn das schnelle Fortkommen, weil er wusste: Je tiefer er ins Land vorstieß, desto näher kam die Schlacht gegen die Aurolanen. Zwischen dem Mittland und dem Norrvestgau lag die kleine Region der Auen, ein ausgezeichnetes Schlachtfeld. Die hügelige Landschaft bot nur wenige mögliche Schauplätze für eine Feldschlacht. Da er beinahe sicher davon ausging, dass Kytrin einen Drachen einsetzen würde, um seine Armee zu vernichten, und er auf diese Bedrohung in Dranse eine geziemende Antwort wusste, wollte er die Aurolanen in eines dieser Täler locken. Dann konnte er seine Reserven an den Flanken aufstellen und eingreifen lassen, wenn sie benötigt wurden, um die Aurolanenformation zu zerschlagen, bevor seine Truppen die Nordlandhorden
vom Feld jagten. Natürlich war sich Ermenbrecht bewusst, wie wenig gesichert diese Erwartungen waren, trotzdem wollte er schnellstens die Auen erreichen. Selbst wenn er dort nicht auf den Feind traf, eigneten sich die bewaldeten Berghänge ausgezeichnet für kurze Überraschungsangriffe. Und falls er es mit 16 einer überlegenen Streitmacht zu tun bekam, waren sie zu genau dieser Taktik gezwungen. Außerdem war es beruhigend, Bokagul im Rücken zu wissen. Er war sich nicht sicher, was er von seinen Landsleuten erwarten konnte. Er hoffte auf Unterstützung, würde aber bereits mit Neutralität zufrieden sein und befürchtete Verrat. Dass sie bisher noch nicht auf Widerstand gestoßen waren, verblüffte ihn. Es machte ihm auch Sorgen. Sein Vater hatte ihn ungehindert an Meredo vorbeigelassen. Die Adligen von Mittland und Mittelmark hatten schon immer engere Beziehungen zu Meredo gepflegt als die in Norrvestgau, Valkenritt und dem Ostland. Also marschierte er geradewegs auf das Zentrum von König Swindgers Macht zu. Sytara, die Grafschaft mit der längsten Grenze zu Aleida, neigte innenpolitisch zur Neutralität. Ihre Einwohner verbanden enge Verwandtschaftsbeziehungen mit den Aleiden. Am sechsten Tag näherten sie sich der Kreuzung dreier Hauptstraßen. Die Sytarastraße führte südwärts nach Aleida, die Tolosostraße ostsüdostwärts zur Hauptstadt des Ostlands, und durchquerte auf dem Weg die Grafschaft Valkenritt. Sie war vor allem für die Ruinen von Atval bekannt, die innerhalb ihrer Grenzen lagen. Die Stadt war von Drachen zerstört worden, vor ihrem Untergang allerdings eine berühmte Metropole gewesen. Die Königsfamilie konnte ihre Abstammung zwar nicht zu den Herrschern von Atval zurückverfolgen, aber viele Seitenlinien hatten in die Familien der Valkenritter eingeheiratet. Statt Loyalität hatten sie allerdings nur Verachtung geerntet. Daher überraschte es Ermenbrecht nicht, als die Vorausreiter meldeten, ein Heer von rund eintausend Valkenrittkriegern riegele die Straße ab. Er war jedoch ein wenig überrascht, dass sie die Königsstraße nach Norden sperrten und nicht die Tolosostraße. Doch das passte zu ihrem Stolz. Sie können den Gedanken nicht ertragen, ich könnte sie nicht beachten und einfach links liegen lassen. Die Kundschafter berichteten auch, dass zwanzig Adlige und Krieger an der Kreuzung in einem Zelt warteten, vor dem die Parlamentärsfahne wehte. 17 Ermenbrecht rief seine Heerführer zusammen und ließ sie die Truppen auf breiter Front aufstellen. Während er und eine kleine Schar zu den Verhandlungen ritten, sollte die Armee über die Kuppen der Berge kommen, die auf die Kreuzung hinabschauten. Seine Leute waren den Valkenrittern zahlenmäßig etwa drei zu eins überlegen. Mit dieser Machtdemonstration im Rücken hoffte er, seine Widersacher einschüchtern zu können, auch wenn ihm nichts von dem, was er über den Charakter der Valkenritter wusste, dabei Erfolg versprach. Er wählte seine Begleiter mit Bedacht und machte sich mit nur sechs Gefährten auf den Weg. Net, Borghelm, Dranae, Rumbelo und Rutfried flankierten Generalin Quantusa von der Jeranser Krongarde. Sie war Ermenbrechts erfahrenste Kommandeurin. Den Befehl über die Einheiten hinter ihnen übernahm General Percurs von der Alcidischen Throngarde. Falls es Schwierigkeiten gab, würde sich Percurs darum kümmern. Ermenbrechts Gefolge erreichte das Zelt, doch er stieg nicht ab. Er lehnte sich nur im Sattel vor und stützte die Hände auf den Schaft des Vierschüssers, der an seinem rechten Knie in einem Sattelholster steckte. Der Prinz schaute auf die beiden Adligen hinab, die sich unter dem Vorzelt auf Lehnstühlen lümmelten und aus grob geformten Kelchen Wein schlürften. Er glaubte einen von ihnen zu erkennen, aber da sie beide noch recht jung wirken, war er sich nicht sicher. »Man hat mir gesagt, meine Fürsten, dass Ihr ein Heer auf der Straße habt Aufstellung nehmen lassen, die ich zu benutzen gedenke.« Einer der beiden, der verhärmtere, mit fahler Gesichtsfarbe und Haupthaar, das noch spärlicher war als sein gerade erst sprießender Bart, stand langsam auf. Über einem Kettenhemd trug er einen Wappenrock, und beide hingen ihm bis zu den Knien. Die Mitte des Wappenrocks war Oriosagrün, wenn auch näher an Frühlingsfarben als am üblichen Immergrün, mit weißen Seitenstücken und Ärmeln. Ein Schwertgurt hielt den Rock an der Taille, und auf der Brust prangte ein Falke im 18 Flug. Wie bei Valkenrittern allgemein üblich, hing ihm eine Falkenfeder von der linken Seite der ebenfalls grünen, weiß umrandeten Maske. Sie trug Markierungen, denen zufolge sein Vater tot war und er den Titel >Graf< führte. Noch erstaunlicher allerdings war eine Markierung unter dem rechten Auge, die ihn als Thronanwärter kennzeichnete. Fast hätte Ermenbrecht die Hand an seine eigene Maske gehoben, um nach der entsprechenden Markierung zu tasten. Doch er beherrschte sich. Diese Markierung befand sich nur auf seiner Lebensmaske, die er in den letzten Tagen der Festung Draconis aufgegeben hatte. Seine Gefährtin hatte sie und ihren gemeinsamen Sohn mit nach Süden genommen. Und vermutlich befinden sie sich in diesem Augenblick alle irgendwo in Meredo. Die Maske, die er zur Zeit trug, war einfarbig schwarz, so wie die, die seine Streitmacht auf grünem Feld als Banner führte. Der Graf von Valkenritt schob das Kinn vor und betrachtete Ermenbrecht abschätzig. »Meine Truppen sind hier, um unsere Heimat zu verteidigen. Er ist vogelfrei. Er wird mein Land auf der Stelle verlassen.« Ermenbrecht war sich nicht sicher, was ihn mehr überraschte. Valkenritter gaben an sich nur ungern zu, überhaupt zu Oriosa zu gehören, geschweige denn, dass sie das Reich als ihre Heimat bezeichneten. Der offene
Widerstand des Grafen ließ ihn eine Falle vermuten, konnte sich aber auch nur darin begründen, dass der Graf auf Lügen König Swindgers über die nahe Unterstützung hereingefallen war. Er hatte zwar seine Zweifel daran, dass der Graf ernsthaft glaubte, Swindger wolle ihm tatsächlich den Thron vererben, doch diese Markierung auf der Maske mochte ihm die Unterstützung anderer Adliger eintragen, die zumindest auf den Anschein von Legitimität Wert legten, falls ein neuer Herrscher an die Stelle des Königs trat. Ermenbrecht antwortete gelassen. »Ich verspüre kein Verlangen, Oriosen zu töten.« Er verkniff sich die Bemerkung »oder Valkenritter«. Er atmete tief ein, dann ließ er die Luft 19 langsam wieder entweichen. »Ich habe drängende Aufgaben im Norden, in Muroso und darüber hinaus. Haltet mich nicht auf.« »Eine versteckte Drohung, Ermenbrecht?« Der hagere Graf lachte, und der Klang dieses Lachens gab Ermenbrecht genug Anhaltspunkte, um ihn zu erkennen. »Wenn Er kein Gefallen daran hat, Oriosen zu töten, schlage ich vor, Er drehe um und marschiere zurück nach Saporitia.« »Das kann ich nicht, Graf Wichterich.« »Dann scheint es wenig zu geben, was wir noch tun könnten.« Ermenbrecht richtete sich wieder auf. »Wir könnten einen Weg finden, dieses Patt zu beenden. Statt unsere Heere kämpfen zu lassen, wäre es vielleicht möglich, diese Sache unter uns auszutragen, Mann gegen Mann.« Wichterich wurde bleich. »Du verlangst Genugtuung von mir?« »Natürlich nicht, mein Fürst. Ihr habt mich nicht beleidigt. Falls jeder von uns einen Recken wählt und wir deren Zweikampf entscheiden lassen, hättet Ihr Pflicht und Ehre Genüge getan. Besiegt mein Mann den Euren, können wir unbehindert weiterziehen.« »Und falls er unterliegt?« Ermenbrecht breitete die Hände aus. »Dann muss ich wohl nach Saporitia zurückkehren.« »Nun gut.« Wichterich drehte sich um und deutete auf einen riesigen Kerl in Kettenhemd und Valkenritteruniform. »Drescher, du wirst mein Recke. Berald, du bist sein Sekundant.« Er vollendete die Drehung und wandte sich wieder an Ermenbrecht. »Ein Schlagabtausch?« »Bis der Erste sich nicht wieder erheben kann? Ja.« Ermenbrecht schaute sich um und nickte Dranae zu. »Wärest du so freundlich?« Der Hüne lächelte. »Es wird mir ein Vergnügen sein.« Dranas glitt aus dem Sattel, und die Valkenritter legten den Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzublicken. Ein paar von 20 ihnen lachten, aber die meisten wurden bei seinem Anblick ein wenig bleich. Das gefiel Ermenbrecht, doch er bemerkte, dass sich ihr Anführer von Dranaes Körpergröße wenig beeindruckt zeigte. Auch Borghelm saß ab. »Hoheit, er wird einen Sekundanten brauchen.« Ermenbrecht nickte. »Natürlich.« Der Valkenritter Recke trat aus dem Schatten des Zeltdachs auf ein Wiesenstück, auf dem sich gerade die ersten grünen Halme durch das vom Winter niedergedrückte Goldgras vom vorigen Jahr reckten. Er musterte Dranae von oben bis unten, dann verzog er abfällig das Gesicht. Drescher setzte einen Vollhelm mit einem einzelnen schmalen Sichtschlitz auf, dann zog er Handschuhe über. Er zog ein Breitschwert, das unverwüstlich wirkte, sich allerdings hauptsächlich durch eine Reihe geheimnisvoller Runen auszeichnete, die sich über die Klinge zogen. Wichterich lächelte. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass er ein magisches Schwert führt.« Ah. Das erklärt den Mangel an Furcht. »Tatsächlich?« »Ja, es ist das neu geschmiedete Temmer. Seine Bruchstücke wurden aus Festung Draconis geborgen und man hat es neu erschaffen. Es macht ihn unbesiegbar.« »Bestimmt.« Angesichts der gewaltigen Körpergröße Dreschers war sich der Prinz sicher, dass er alle anderen Krieger im Valkenritt besiegen konnte. »Dranae, ist das Schwert gefährlich?« »Nein, Hoheit.« Dranae setzte einen Helm mit Sichtschutz in Form eines Stahlgitters auf. »Ich nehme an, er hat den ersten Schlag, weil wir die Eindringlinge sind?« »Ja.« »In Ordnung.« Dranae ging seinem Gegner entgegen. Gras knirschte unter seinen Schritten, und hinter ihm hob es sich langsam wieder. Seine einzige Waffe war eine wuchtige, am vorderen Ende mit eisernen Ringen beschlagene Keule, so dick wie Ermenbrechts Oberarm. 21 Der Valkenrittkrieger hob das Schwert zum Gruß, dann verkündete er mit lauter Stimme: »Ich bin Ritter Falk Drescher, Recke des Grafen Wichterich, wie es schon mein Vater vor mir war, und der seine vor ihm. Du bist ein Eindringling und ich schwöre: du wirst keinen Schritt weiter in mein Heimatland setzen.« Dranae neigte den Kopf. »Ich bin Dranae. Ich habe auf Vilwan und Wruona gekämpft, in Festung Draconis und selbst in Sarengul. Ich habe keine berühmten Vorfahren und ich bin kein Eindringling in Oriosa, sondern bin hier, es zu retten. Ihr, mein Herr, habt den ersten Schlag.« Drescher schaute sich um, von Graf Wichterich zu dem Halbkreis Valkenritter hinter ihm. Er hob das Schwert über den Kopf und sagte: »Möge dich Turic freudig aufnehmen.«
Das Schwert sauste in einem funkelnden Bogen herab und traf Dranae an der linken Schulter. Das Kettenhemd klirrte und gab nach, dann brach die Klinge durch. Blut spritzte auf die Schneide und tropfte herab. Der schwere Hieb ging nicht tief genug, um den Knochen zu brechen, war aber durch Haut und Muskeln gedrungen und hatte ohne Zweifel eine einige Metallringe tiefe Wunde geschnitten. Was noch unschöner war: er ließ Dranae wanken. Der Hüne verlor die Keule und fiel auf ein Knie. Aber nicht tiefer. Er keuchte und beugte die Schulter vor, stürzte jedoch nicht. Die Masken der Valkenritter verbargen den Ausdruck ihrer Gesichter, aber ihr lautes Aufkeuchen und die Art, wie sie ihn mit offenem Mund anstarrten, zeigte deutlich, wie überrascht sie waren, dass Dranae noch lebte. Drescher wich zurück. Blut tropfte von seinem Schwert auf den Boden. Dranae stand wieder auf und wankte ein, zwei Herzschläge, bevor er das Gleichgewicht wieder fand. Borghelm trat heran und reichte ihm den Griff der Keule, berührte ihn jedoch nicht. Dranae nickte. Dann bewegte er vorsichtig die Schultern und krächzte: »Ich bin dran.« Drescher nickte. Dranae zog die Keule mit rechts zurück, dann peitschte sie 22 mit einem waagerechten Hieb nach vorne, dem Valkenritter mitten auf die Brust. Das Kettenhemd barst unter lautem Klirren, und Drescher keuchte, als ihn die Wucht des Schlages von den Füßen hob und rückwärts in die Reihe seiner Mitstreiter schleuderte. Mehrere von ihnen verloren unter dem Aufprall den Halt, und auch Dreschers Helm flog davon. >Temmer< lag neben ihm im Gras, und keiner der Männer, die sich unter ihm hervorwälzten, konnte ihn wiederbeleben. Berald, ein blonder Bursche von mittelgroßer Statur, hob >Temmer< auf und stürzte sich auf Dranae, der wieder auf ein Knie gesunken war. Doch bevor er ihn erreicht hatte, zog Borghelm Aug und stellte sich vor den Hünen. Der Valkenritter griff den von keiner Rüstung geschützten Gegner mit einem niedrig geführten Hieb an, doch Borghelm schlug den Angriff mit Leichtigkeit beiseite. Wieder hieb Berald zu, aber Borghelm parierte erneut. Bei seiner Riposte prallte das Schwert klirrend vom Kettenhemd seines Gegenübers ab und beschädigte nur dessen Wappenrock. Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Ruf deinen Mann zurück.« »Nein. Erstes Blut, diese beiden, für die Entscheidung.« »Das war so nicht abgemacht.« »Jetzt ist es das aber.« »Erstes Blut, Borghelm.« Ermenbrecht sah Net näher reiten. »Dein Sohn ist nicht schlecht.« »Ja. Die anderen haben in der Schmiede die schwere Arbeit geleistet. Es schien besser, er lernt zu benutzen, was wir herstellen.« Und wie er es gelernt hat. Berald gefiel es augenscheinlich nicht, dass seine Angriffe pariert wurden, schon gar nicht von einem Gegner, dessen Maske keinerlei Hinweis auf adlige Abstammung oder militärische Ausbildung trug. Er täuschte hoch an, dann zuckte seine Waffe zu einem tiefen Seithieb herab, Borghelm aber hüpfte gelenkig über den Schlag hinweg. Er duckte sich unter dem nächsten Hieb hindurch, dann sprang er vor und stieß Aug in Beralds rechtes Knie. 23 Da sein Angriff Blut gefordert hatte, zog sich Borghelm zurück, doch Berald hechtete ihm nach und rammte ihm die rechte Faust unters Kinn. Der Kopf des Schmiedesohns flog nach hinten, sein Körper folgte, und er brach zusammen. Berald hob das Schwert, um zu beenden, was Drescher begonnen hatte. Ein Donnerschlag. Berald flog nach hinten und krümmte sich auf dem Boden. Eine Blutfontäne schlug ihm aus der Brust. >Temmer< segelte gemächlich in hohem Bogen davon und bohrte sich mit der Spitze voraus in den Wiesengrund. Wichterich starrte Ermenbrecht an und zuckte zurück. »Was hast du getan?« »Dein Mann hat die Regeln gebrochen.« Der Prinz betätigte den Ladehebel des Vierschüssers. Die Läufe drehten sich und ein frisch geladener schnappte feuerbereit ein. »Übrigens, das ist nicht Temmer. Dräns, kümmerst du dich darum?« Der Hüne nickte und stand langsam auf. Er zog das Schwert aus dem Boden und fasste es an Heft und Spitze. Seine Muskeln spannten sich und wieder klirrte das Kettenhemd, einige Ringe lösten sich über den Muskelbergen und flogen davon. Als Dranae das Schwert verbog, verwandelte sich sein Körper und wurde größer. Kopf und Gesicht blieben unverändert, doch seine Hände wurden schuppig und die Fingernägel verwandelten sich in Krallen. Das Schwert bog sich, dann brach es. Net schnaubte verächtlich. »Nicht mal gut gehärtet.« Dranae warf die Bruchstücke beiseite, dann kniete er neben Borghelm nieder. »Er wird es überleben, bis auf ein schmerzendes Kinn.« Wichterichs Nasenflügel bebten. »Das war von Anfang an ein unfairer Kampf. Ich weiß nicht, was er ist, aber er ist kein Mensch!« »Nein, das ist er nicht. Aber er ist mein Recke.« Ermenbrecht legte sich den Vierschüsser auf die Oberschenkel.
»Ich könnte ihm befehlen, seine wahre Gestalt anzunehmen, und 24 dein kleines Heer würde sich in alle Winde zerstreuen. Ich glaube kaum, dass du darauf Wert legst. Ebenso wenig wie es dir passen würde, wenn ich mit meinem Heer nach Valkenritt marschiere.« »Nein. Nein, das würde mir nicht gefallen.« Der Prinz deutete auf Wichterichs Maske. »Ich weiß nicht, was mein Vater dir versprochen hat, als er dich zum Thronerben ernannte, aber du bist nicht so dumm, ihm zu vertrauen. Ganz abgesehen davon, was immer du geglaubt hast, gewinnen zu können, du hast schon wieder verloren, weil es dir nicht gelungen ist, mich aufzuhalten. Also lasse ich dir jetzt die Wahl.« Der Graf schaute auf. »Welche?« »Du kannst nach Hause zurückkehren, und ich werde alle Welt wissen lassen, dass ich jede Art von Beziehung zu dir als Hochverrat betrachte. Ich werde mir diejenigen, die diese Warnung missachten, vornehmen, nachdem ich mit dir abgerechnet habe, und das Beste, was dir noch passieren kann, ist, dass Kytrin mich tötet. Denn das wäre das Einzige, was mich daran hindern könnte, zurückzukehren und dich zu vernichten.« Der schlanke Adlige zitterte. »Oder?« »Oder du und deine Leute schließt euch mir an. Du weißt, die Aurolanen sind bereits hier, die meisten im Mittland und den Auen. Falls sie mich besiegen, wird deine Armee sie nicht aufhalten. Zusammen haben wir vielleicht Glück und ich die Gelegenheit, mein Urteil über dich zu mildern.« »Ihr würdet mich wirklich abziehen lassen?« Ermenbrecht nickte. »Dich, ja. Deine Leute, nein. Dazu brauche ich sie zu sehr. Ich vermute, wenn ich ihnen zeige, dass wir einen Drachen an unserer Seite haben und zudem an ihr Pflichtgefühl einem Land gegenüber erinnere, in dem wir auf Grund unserer gemeinsamen Geschichte alle Masken tragen, wird es mir nicht schwer fallen, sie auf meine Seite zu ziehen. Was meinst du?« Wichterich schluckte. Dann zog er das Schwert, kniete vor Ermenbrecht nieder und hob es mit beiden Händen hoch. »Ich 25 glaube, Hoheit, es ist meine Pflicht, mich zum Wohle Valkenritts, Oriosas und der Welt Eurer hehren Sache anzuschließen.« »Die Reihenfolge deiner Prioritäten verlangt eine Korrektur, aber dafür haben wir noch genug Zeit.« Ermenbrecht hob die Stimme, damit ihn auch die schärferen Ohren in der Valkenritter Armee hören konnten. »Ich nehme hiermit Seine Gefolgschaft an, Graf Wichterich. Die Vereinigung Seiner Kräfte mit den meinen wird unseren Sieg garantieren. Gen Norden, dem Schicksal entgegen.« Wichterichs Berater sanken ebenfalls auf ein Knie, und der Anblick ließ aus beiden Heeren Jubelrufe aufsteigen. Wichterich schaute hoch, als die Hurrarufe der Soldaten durch das Tal schallten. »Wie wahrscheinlich ist es, dass wir das überleben?« Ermenbrecht zuckte die Achseln. »Das spielt eigentlich keine Rolle, oder? Wir sind auf dem Weg, unsere Pflicht der Welt gegenüber zu erfüllen. Falls wir scheitern, gibt es keinen Grund mehr weiterzuleben.« 26 KAPITEL DREI IJS war Nacht geworden, aber das Gefühl des Unbehagens, das Kjarrigan begleitete, seit sie Loquellyn betreten hatten, ließ ihn nicht einschlafen. Ihr Weg hierher war voller Widersprüche und Irrungen gewesen, und sie waren weit langsamer vorangekommen, als Entschlossen es sich gewünscht hatte. Er hatte die Berge schnell überqueren und dann ins Flusstal der Assariennia hinabsteigen wollen, um ihr bis Rellaence zu folgen. Er war davon ausgegangen, dass sie dort in der Hauptstadt eine Transportmöglichkeit finden würden, die ihr Fortkommen beschleunigte. Selbst Kjarrigan war von Anfang an klar gewesen, dass Entschlossenes Planung mit dem Auftauchen des Grauen Nebels hinfällig war. Und dann hatte sich Kjarrigan in der ganz und gar ungewohnten Lage befunden, weit besser für einen langen Marsch durch Wald, Moor und Gebirge gerüstet zu sein als seine Begleiter. Die Reise hatte mit einem Tagesmarsch durch stinkendes Sumpfland begonnen, wo sich die Gruppe zum Nachtlager in mehrere kleinere Gruppen hatte aufteilen müssen. Kjarrigan hatte von einem Lager zum nächsten gehen und mit Hilfe seiner Magik die Feuer entzünden müssen, weil die Graunebler keinen Schimmer hatten, wie sie das anstellen sollten. Er hatte ihnen gezeigt, wie man sich Moos in die Stiefel packte, um den Schmerz der wundgelaufenen Füße zu lindern, und noch ein halbes Dutzend anderer Tricks, die er selbst von Lombo und Entschlossen gelernt hatte. Für ihn war das ein enormer Widerspruch, dass ihn diese Vorqaelfen ebenso staunend betrachteten wie es jüngere Schüler auf Vilwan getan hätten. Sie alle waren über hundert Jahre älter als er, aber in der Wildnis wussten sie sich nicht zu helfen. 27 Mehr als einer beschwerte sich über die Strapazen der Reise. Schon vom Rudern schmerzende Muskeln konnten sich nicht erholen, sondern wurden frisch beansprucht, um Stiefel aus dem klebrigen Morast zu ziehen, und die knapp vor ihnen aufragenden Berge ließen keinen Zweifel daran: der Weg würde eher noch härter als leichter werden.
Qwc kümmerte sich wie schon früher um die Moral der Gruppe. Er machte sich im Wald auf die Suche nach Kleinigkeiten, von Blumen über Knochen, Zähne, Krallen und Federn, und bedachte jeden der Graunebler mit einem dieser Fundstücke. Mit großer Würde verlieh er jedem von ihnen einen Kriegernamen wie Biss, Kratz oder Stich. Sein Vokabular bestand vor allem aus kurzen Wörtern, in die er aber so viel Gewalt legte wie möglich, was den Vorqaelfen außerordentlich gefiel. Gleichzeitig half es ihnen, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen bevorstand. Und sie taten ihr Bestes, sich mit extravaganten Prahlereien darüber Mut zu machen, wie sie sich ihren Namen verdienen wollten. Nachts teilte der Sprijt das Zelt mit Kjarrigan. Die kleine Kreatur stieß den Speer in den Boden und ließ sich fallen, zu erschöpft, auch nur mit den Flügeln zu schlagen. »Worte finden ist schwerer als Dinge.« Kjarrigan musste jedes Mal lachen. »Für mich hast du noch keinen Kriegsnamen gefunden, Qwc.« Und jedes Mal schaute ihn der Sprijt an und lächelte, während ihm die Augen zufielen. »Dein Name findet dich selbst.« Es war schwer genug gewesen, Saporitia zu verlassen, aber sowie sie in Loquellyn eintrafen, wurde es noch schlimmer. Irgendetwas stimmte hier nicht. Tagsüber schien zwar die Sonne, aber über den Farben lag ein Grauschleier. Fast hatte Kjarrigan den Eindruck, dass der Frühling die Elfenheimstatt noch nicht erreicht hatte. Er sah keine Knospen an den Bäumen, keine Blumen kämpften sich durch den Boden. Was er an frischem Grün sah, war kletternder Giftwurz, der sich um die Bäume rankte oder die Sorte früh blühender Pflanzen, die innerhalb eines Sommers ein ganzes Tal überwuchern konn28 ten. Nichts davon schien ihm hierher zu passen, und je tiefer sie ins Gebirge kamen, desto stärker wurde dieser Eindruck. Die Graunebler blieben ebenfalls unberechenbar. Es fehlte ihnen an Disziplin, und Entschlossens Anweisungen, wie sie sich im Lager verhalten sollten, stießen ihnen sauer auf. Wäre es nach ihm gegangen, sie hätten keine Feuer gemacht und rund um die Uhr Wachen aufgestellt. Sie wären still gewesen und mit der Umgebung verschmolzen. Aber die Graunebler konnten ebenso wenig wie Kjarrigan auf dem Grund des Kreszentmeers atmen. Also schlug Entschlossen ein zweites, kleineres Lager abseits des Hauptlagers auf. Dort versammelten sich die Mitglieder seiner ursprünglichen Reisegruppe, und Entschlossen selbst, Mechanisch, Bok und Kjarrigan teilten sich die Wache. Kjarrigan übernahm in der Regel die Morgenwache und konnte durchschlafen. Aus demselben Grund übernahm Bok meist die Abendwache - damit die beiden Magiker der Gruppe ausgeruht waren, falls ihr Können benötigt wurde. Doch jetzt hatte irgendetwas Kjarrigan aufgeschreckt. Wirklich eingeschlafen war er ohnehin nicht, doch war er gerade im Begriff gewesen, in stetig düsterer werdende Träume abzudriften. Er hatte das Gefühl, durch eine riesige und dunkle Höhle zu wandern, in der er absolut nichts sah. Als er schließlich Licht machte, stellte er fest, dass er in das Maul eines riesigen Monsters geklettert war, das sich jetzt daran machte, ihn zu zerkauen und hinunterzuschlucken. Er setzte sich auf und warf die Decken zurück. Dann schüttelte er sich, als die kalte Nachtluft auf seine schweißnasse Haut traf. Hastig zog er ein paar Kleidungsstücke über und verließ das Zelt, wo Qwc ruhig weiterschlummerte. Draußen bewegte er sich hinüber zum Wachposten, wo er Entschlossen fand, der angestrengt in die Dunkelheit starrte. Der Vorqself hob die Hand und Kjarrigan blieb stehen. Er folgte Entschlossens Blick, sah aber nur Schwärze. Es wäre einfach für ihn gewesen, einen Zauber zu sprechen, der ihm erlaubte, bei Nacht zu sehen. Falls dort draußen aber etwas war 29 - etwas, das für Kytrin arbeitete —, so konnte es seine Magik wahrscheinlich entdecken. Kjarrigan schlich sich zu einem kleinen Felsen und drückte sich mit dem Leib auf den Stein. Er starrte weiter in dieselbe Richtung wie Entschlossen, bemerkte aber noch immer nichts. Sie hatten das Lager auf einer kleinen bewaldeten Anhöhe aufgeschlagen, von der aus man etwa den halben Abhang beobachten konnte. Am Tag war ein kleiner Bach zu sehen und jetzt bei Nacht konnte er ihn plätschern hören. Aber er hörte nichts, was darauf hindeutete, dass sich jemand durch das Wasser bewegte. Dann hörte er es, rechts von sich. Er hob die linke Hand, um Entschlossens Aufmerksamkeit zu erregen, und deutete mit der rechten in Richtung des Geräuschs. Er hörte ein zweites Geräusch und drehte sich um, um am ausgestreckten Arm entlang zu schauen. Das Geräusch hatte so nahe geklungen, dass er überzeugt war, etwas sehen zu können. Er sah tatsächlich etwas, als es auf den Fels hechtete und ihn ansprang, seinen rechten Arm bis zum Ellbogen verschlang. Die Kiefer schnappten zu, drei Reihen nadelscharfer Zähne zerrissen den Ärmel und knallten hart auf Drachenbeinpanzer. Die dunklen Augen der Kreatur weiteten sich, dann schüttelte sie den Kopf, um Kjarrigans Arm abzureißen. Als auch das scheiterte, spannte das Geschöpf die Hinterbeine und sprang davon, riss Kjarrigan von den Füßen und zerrte ihn mit in den Wald. Der Drachenbeinpanzer verhinderte, dass die Felskante den Magiker aufschlitzte, half aber nicht gegen die Dornen und Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, als ihn die Kreatur davon zerrte. Dornenranken peitschten ihm über Gesicht und Hände, rissen an seiner Kleidung. Das Geschöpf peitschte den Kopf erneut von einer Seite
zur anderen, und ein stechender Schmerz zuckte durch Kjarrigans Schultergelenk. Sein linkes Knie krachte gegen einen Baumstamm. Er rollte auf den Rücken, was den Druck auf die Schulter erhöhte, und wälzte sich gerade rechtzeitig wieder zurück, um von einer anderen 30 Dornenranke knapp über dem linken Auge erwischt zu werden. Einen Augenblick lang geriet der Magiker in Panik und war völlig in seiner Angst verloren, als eine absurde Wahrnehmung ihn irgendwie zurückholte. Während die Kreatur ihn hinter sich herzog, pflügte seine Gürtelschnalle durch die Erde und riss reichlich Dreck auf, der sich in Kjarrigans Hose sammelte. Das war mehr als würdelos. Für den Adepten, der Sauberkeit und Kleinlichkeit auf Vilwan zur Vollendung gesteigert hatte, war es eine Ungeheuerlichkeit, die seine Schmerzen lange genug überdeckte, um ihm Gelegenheit zum Handeln zu geben. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre Kjarrigans Wahl reflexartig auf den Telekinesezauber gefallen, der ihm so ausgezeichnete Dienste geleistet hatte. Aber in letzter Zeit hatte er einen anderen Zauber so oft benutzt, dass er ihm zur zweiten Natur geworden war. In dem feuchten Tiermaul ballte er die Hand zur Faust. Dann öffnete er die Hand wieder, seine Fingerspitzen kitzelten den weichen Gaumen des Geschöpfs, und er schleuderte den Zauber. Mit Nachdruck. Einige Tage schon hatte er kaum etwas anderes getan, als Feuer zu machen. Die Flammenzunge, die jetzt aus seiner Hand schlug, schoss geradewegs den Rachen der Kreatur hinab und loderte als goldene Fontäne aus deren Hinterteil, wo sie ihren dicken Schwanz komplett wegbrannte. Der ganze Körper des Tieres versteifte sich und zerrte noch einmal hart an Kjarrigans Arm, dann fiel er ab. Das Maul der Kreatur blieb offen stehen, zwischen den Zähnen loderten Flammen. Kjarrigan zog die Beine unter den Leib und stand langsam auf, ungeachtet der Schmerzen in den Knien. Er hüpfte zweimal auf und ab, um den Dreck aus der Hose zu schütteln, dann wischte er sich mit dem linken Ärmel über die Stirn. Als er den Arm senkte, sah er, dass der Stoff mit Blut befleckt war. Das überraschte ihn, aber die Knie wurden ihm nicht weich, wie es früher geschehen wäre. 31 Das war der alte Kjarrigan. Der alte, fette, langsame, verängstigte Kjarrigan. Er zeichnete mit dem rechten Arm einen weiten Kreis in die Luft und spürte eine zunehmende Steifheit, doch es war nichts gebrochen oder gerissen. Aus der Richtung, aus der er gekommen war, vom Lager der Graunebler her, hörte er Rufe, Schreie und Kampfgeräusche. Nein! Keine Toten mehr. Nicht, solange ich es verhindern kann. Da die Aurolanen die Gruppe bereits gefunden hatten, brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, er könnte sie mit seiner Magik verraten. Und selbst wenn, das geröstete Viech hätte das längst erledigt. Er strich sich mit der rechten Hand über die Augen und sprach einen Nachtsichtzauber. Als er sich umschaute, sah er, wie sich Schatten und Formen bewegten. Weiter oben an seinem Lager sprang eine missgestaltete, stachelige Gestalt in einen Pulk von Schatten und trieb sie auseinander. Entschlossens Silhouette erschien auf dem Felsen, und seine Hände zuckten, als er die urSreiöi-Klingensterne in die Nacht schleuderte. Kjarrigan huschte nach links: um den Fuß des Hügels herum und geradewegs zum Graunebellager. Der Kampflärm dröhnte durch die Nacht, und so hörte ihn der Feind nicht kommen. Als er sich dem Lager näherte, begegnete er einer zweiten Kreatur wie der, die ihn angegriffen hatte. Sie erinnerte ihn an einen Gvakra, allerdings schien ihr Leib gedrungener, mit dicker Haut und einem Schwanz, die ihn an eine Echse erinnerten. Statt einer Mähne hatte sie einen fleischigen Kamm um den Nacken. Das Geschöpf wirbelte herum, aber der dicke Schwanz schlug gegen einen Baum und behinderte es. Kjarrigan schnippte mit einem Finger in die Richtung des Tieres und benutzte den Telekinesezauber, um ihm den niedrigen Schädel einzudrücken. Der Körper schüttelte sich einmal wild, bis hinunter zur Schwanzspitze, dann blieb er reglos liegen, und Kjarrigan ging weiter. Dabei dachte er angestrengt nach. Auf Vilwan hatte er keine erwähnenswerte Ausbildung als Kampfmagiker erhalten. 32 Seine Meister hatten befürchtet, und das durchaus mit Recht, dass er in seiner Unschuld jemanden verletzen würde, einfach weil seine Magik so stark war. Und das war noch, bevor ich gelernt habe, ihre wahre Quelle anzuzapfen. Doch trotz ihrer Bedenken beherrschte er ein paar wenige Kampfzauber. Weiterhin ging er davon aus, dass auch einige der Angreifer Zugang zu Zaubern hatten, also plante er entsprechend. Auf seinen Zügen breitete sich ein Lächeln aus. Als er sich dem Lager näherte, wirkte er einen Zauber, den Neskartu einmal gegen die Magiker von Nawal benutzt hatte. Es war im Grunde nur ein unbedeutender Störzauber, aber für Magiker war er die Entsprechung der laut über eine Schiefertafel kratzenden Klauen. Die wenigen Magiker unter den Angreifern wehrten sich sofort, indem sie Gegenzauber schleuderten. Mit dieser Reflexhandlung gaben sie sich zu erkennen, und noch bevor er das eigentliche Kampfgeschehen erreichte, setzte er einen einfachen Kampfzauber ein. Blaue Funken schössen aus seinen gespreizten Fingerspitzen. Die Funken flogen vor ihm her wie ein Schwärm verzauberter Mücken. Dann, als er von Norden her das Grauneblerlager betrat, sausten sie auf ihre Ziele zu. Kytrins Kryalniri waren schlank und elegant gewesen. Diese Kreaturen ähnelten eher Entschlossen als den
schlanken /Elfen Loquellyns. Sie hatten ein Fell wie Schnatterer, das aber nicht so wild gefleckt war wie das der Nordlandkreaturen. Diese hier waren von großen, dunklen Flecken überzogen, deren Form von einem scharf abgrenzten Netzwerk aus hellbraunem Fell bestimmt wurde, das sich über dicken Muskelbergen spannte. Ihre Köpfe waren tierisch, mit einem deutlich wölfischen Einschlag und riesigen Reißzähnen, die im ersterbenden Licht der Lagerfeuer gelblich glänzten. Manche trugen Kettenhemden, andere hatten einzelne Stücke von Plattenrüstungen angelegt, jedoch augenscheinlich mehr zur Zierde als zum Schutz. Sie benutzten gekrümmte Schwerter, länger als die Langmesser der Schnatterfratzen, und die Elfen gingen mit tiefen, klaffenden Wunden zu Boden. 33 Die Magiker unter ihnen unterschieden sich kaum von den anderen, nur dadurch, dass sie kein Metall am Körper trugen und statt Schwertern Zauberstäbe und Stöcke benutzten. Einer drehte sich um und schlug nach dem blauen Funken, der auf ihn zuflog. Aber der Funke brannte sich durch seine Hand und in seine Brust. Ein anderer atmete den Funken ein. Flammen schlugen ihm aus Augen und Ohren, als er in Krämpfen zuckend zu Boden stürzte. Die Funken verwandelten noch zwei andere zu lebenden Fackeln. Der Letzte schaffte es, einen Abwehrzauber zu errichten, und der Funke umkreiste ihn auf der Suche nach einer Schwachstelle, die er ausnutzen konnte. Die Schreie und der Tod der Magiker blieben nicht unbemerkt. Die Aurolanenkrieger drehten sich um und griffen Kjarrigan an. Sie schleuderten Messer und andere Wurfgeschosse nach ihm, alles, was gerade zur Hand war. Viele davon flogen vorbei, und diejenigen, die trafen, prallten vom Drachenbeinpanzer ab. Einen Pulsschlag lang stellte sich Kjarrigan vor, einfach nur stehen zu bleiben und sie sinnlos auf sich einschlagen zu lassen. Doch er wusste, irgendwann würde seine Kraft versiegen, und sie würden ihn töten. Also handelte er. Er stieß die linke Faust in die Höhe und löste einen Zauber aus, der einen blendend grellen Lichtschein erzeugte. Kreaturen und Elfen gleichermaßen kreischten auf und rissen die Hände vors Gesicht. Alle Kämpfer blieben, plötzlich blind, stehen, wo sie sich gerade befanden. Das nahm dem feindlichen Angriff jeden Schwung und verschaffte dem Grauen Nebel die Gelegenheit, sich zu fangen. Auch Kjarrigan nutzte die Kampfpause. Genauso, wie er es auf Vael getan hatte, sprach er einen Diagnosezauber und erhielt augenblicklich einen Eindruck der ihm am nächsten stehenden Kreatur. Er hatte gehofft, dadurch genug über sie in Erfahrung zu bringen, um sie alle einschläfern zu können, doch die dafür notwendigen Kenntnisse fand er nicht. Stattdessen gelang es ihm jedoch, die Schmerzzentren ihres Nervensystems zu lokalisieren. Er kehrte schnell einen aelfischen Heilzauber um und setzte ihn ein. 34 Die erste damit getroffene Kreatur schrie auf. Sie bog sich nach hinten, als sich sämtliche Muskeln des Körpers verkrampften. Das Nordlandgeschöpf krachte zu Boden und wand sich. Andere fielen vor Schmerz in Ohnmacht. Der Spruch lief wie eine Welle durch die Ansammlung der Feinde, schüttelte einige in Krämpfen, während andere kraftlos zusammensackten. Der verbliebene Magiker verlor die Gewalt über seinen Abwehrzauber. Der Funke schoss auf ihn zu, bohrte sich ihm in die Brust - und er kippte um. Aus den Nüstern stieg Qualm auf. Der Graue Nebel stürzte sich auf die Feinde und schlachtete sie ab. Kjarrigan scheuchte sie mit einem Zauber von der ihm am nächsten liegenden Kreatur fort. »Den hier will ich lebend. Die anderen sind mir gleichgültig.« Die Vorqaelfen schlichen sich davon und zerfetzten die übrigen Kreaturen. Normalerweise hätte sich Kjarrigan von dem Blutbad abgewandt, doch er zwang sich zuzusehen. Er verstand die Wut und den Zorn der angegriffenen Graunebler. Er gab sich der Illusion hin, sie lebten hier all den Hass aus, den sie seit der Vertreibung von Vorquellyn aufgestaut hatten. Aber diese Selbsttäuschung verflog schnell. Er schauderte, als er ihren bestialischen Blutrausch beobachtete. Ich könnte genauso werden wie sie, falls ich die Beherrschung verliere. Und angesichts meiner Macht wäre das hier im Vergleich gar nichts. Wieder schüttelte er sich, dann hob er seinen Gefangenen mit einer Geste aus dem Gemetzel. 35 KAPITEL VIER Llie Wut auf dem Gesicht der Gefangenen überraschte Isaura. Nackter Hass loderte in ihren blauen Augen, und ihre Finger krümmten sich zu Krallen. Sie erhob sich nicht von der Holzbank, obwohl die Ketten an ihren Handschellen dafür lang genug waren. Die Spuren auf dem Boden zeigten deutlich, wie weit sie sich bewegen konnte, und Isaura achtete darauf, außer Reichweite zu bleiben. Sie stellte das Tablett mit Essen auf ein kleines Steinsims, dann hob sie beide Hände, um die Gefangene zu beruhigen. »Ich habe dir zu essen gebracht. Mehr, als du bis jetzt bekommen hast. Ich weiß, die Wachen bestehlen dich.« Die Frau starrte sie aus schmalen Augen an. »Was treibt ihr für ein Spiel? Erst werde ich ausgehungert, dann bringt ihr mir Essen und erwartet, dass ich euch aus Dankbarkeit alles sage, was ich weiß?« »Nein, nichts dergleichen.« Der Blick der Frau zuckte zur Tür, als Hlucri hereinschlurfte. »Lombo? Bei den Göttern, was haben sie dir angetan?« Der Sullanciri kauerte sich in die Türöffnung und schnaufte. »Prinzessin Sayce. Lombo tot.« Die Frau wirkte niedergeschlagen. Ihre Hände wurden schlaff und sie sackte nach hinten gegen die grob behauene Wand ihres unterirdischen Kerkers. »Lombo tot. Will tot. Muroso tot.« Sie hob unter dem Rasseln der
Ketten die Hände vors Gesicht und schluchzte. Isauras Eingeweide verkrampften sich. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemanden weinen sehen. Sie hatte selbst geweint, aber niemand sonst, weder ihre Mutter noch irgend36 ein Sullanciri, hatte in ihrer Gegenwart je geweint. Und ich habe noch nie solche Verzweiflung in einer Stimme gehört. Isaura streckte die Hand aus und wäre zu ihr gegangen, doch Hlucri hielt sie auf. Sayce hob den Kopf. Ihr Blick war scharf. Sie schnaubte: »Warum hast du sie angehalten?« Der Sullanciri zuckte die Achseln. »Hlucri passt auf sie auf.« »Das hast du früher für mich getan. Du warst mein Freund. Ein Freund, der mir geholfen hätte, von hier zu fliehen.« Isaura trat einen Schritt zurück. »Fliehen? Von hier kannst du nicht entkommen. Du würdest es nie zurück in den Süden schaffen.« »Besser erfrieren als hier verhungern.« Sayce rieb sich unter dem schmutzigen Kleid mit einer Hand über den Bauch. »Ich bin schwanger. Ich brauche zu essen.» »Ich weiß, dass du Essen brauchst. Und ich weiß, dass die Wachen es stehlen.« Isaura drehte sich um und nahm das Tablett wieder auf. »Hlucri hat es mir erzählt, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass ich dir dein Essen bringe. Dass du schwanger bist, wusste ich allerdings nicht.« Sayce stand auf, aber nur zögernd. »Ich bin es. Fast im dritten Monat. Ich trage Will Norderstetts Kind.« »Ich verstehe.« Isaura streckte ihr das Tablett entgegen. »Willst du das? Ich verspreche, nichts davon kann dir schaden. Oder dem Kind. In der Schüssel ist Suppe. Das Brot und der Käse sind gut.« Die rothaarige Gefangene trat einen Schritt näher. Isaura hätte nicht sagen können, ob Sayce sie angreifen wollte, doch Hlucri sorgte dafür, dass entsprechende Überlegungen sich erübrigten, indem er das Tablett in eine Pranke nahm und Sayce hinhielt. Die Prinzessin nahm es und stellte es auf ihre Bank, dann setzte sie sich. »So. Du hast deine gute Tat getan. Jetzt kannst du gehen.« Isaura schaute zurück zur Tür. »Ich wollte mit dir reden. Außerdem weißt du, dass ich dir das Tablett und die Schüssel nicht dalassen kann.« Sayce verzog das Gesicht, dann hob sie den Deckel von der 37 Schüssel. Etwas Dampf stieg daraus auf. Sie schnupperte, dann hob sie die Schüssel mit beiden Händen auf und trank. Einen Augenblick lang würgte sie, dann kaute sie und schluckte. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Kinn und brummte. »Ich hatte kein Fleisch erwartet. Will ich aber wissen, was es war, als es noch gelebt hat?« »Frostkralle. Gelegentlich essen wir sie.« »Besser als umgekehrt.« Sayce brach ein Stück Brot ab und aß. »Worüber wolltest du reden?« Isaura verschränkte die Hände in Hüfthöhe. »Über den Norderstett.« Die Prinzessin erstarrte. »Ich weiß nicht, ob ich über ihn reden will. Das ist äußerst persönlich.« »Ich bin ihm begegnet. Ich habe ihm das Leben gerettet.« Sayce starrte sie misstrauisch an. »Wie?« Hlucri grunzte. »Schneeflockendame.« »Aber wie?« Sayce spielte mit dem Anhänger um ihren Hals. »Wer bist du? Ich habe dich auf die Nordlandhexe warten sehen, als sie mich hergebracht hat. Warum solltest du Will retten?« Isaura hob den Kopf. »In Aurolan habe ich denselben Rang wie du. Ich bin Kytrins Tochter - nicht von Geburt, aber durch Adoption. Ich bin ihre Erbin. Ich bin Isaura.« Sayce zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ah, du hast Will gerettet, damit er deine Mutter umbringt und du diese Eiswüste erbst?« »Nein, so war es ganz und gar nicht.« Isaura versuchte, locker zu klingen, aber sie wusste, dass die Prinzessin ihr die Erschütterung ob dieser Anschuldigung ansehen konnte. »Ich habe Will gerettet, weil er von einer der Kreaturen meiner Mutter angefallen worden war. Ich wusste, dass sie das nicht gewollt hatte. Zumindest war ich damals davon überzeugt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, aber das spielt keine Rolle. Ich habe ihn gerettet.« »Du hast nur hinter dem Monster deiner Mutter aufgeräumt?« Sayce riss ein weiteres Stück Brot ab und klemmte 38 etwas Käse darin ein. »Das glaube ich dir nicht. Du musst noch einen anderen Grund gehabt haben.« Isaura zögerte. Die Gefangene hatte Recht. Sie hatte sich dem Fluss der Magik überantwortet und ihren Weg von seiner Strömung bestimmen lassen. Sie hatte sich am Bett eines sterbenden Knaben wieder gefunden und hätte ihn auf jeden Fall geheilt. Dass ihn ein Sullanciri verletzt hatte, hatte in ihr den Wunsch geweckt, diesen Fehler zu beheben, aber es war nicht der einzige Grund für ihr Handeln gewesen. »Ich weiß nicht, warum ich getan habe, was ich tat.« Kurz verließ sie der Mut, dann sprach sie leiser weiter. »Ich würde es wieder tun.« »Warum?« »Es war richtig.« Sayce lachte, dann kaute sie am Brot und Käse. »Den Todfeind deiner Mutter zu retten, war richtig? Deine
Mutter war der Todfeind meiner Familie, und ich hätte sie getötet, ohne einen Gedanken zu verlieren. Ich hätte sie sterben lassen, hätte sie wie Will im Sterben gelegen. Und mit Freuden.« »Nein. Du kennst sie nicht. Sie ist nicht böse.« »Nicht?« Die Prinzessin trank wieder von der Suppe und kaute das Fleisch. »Deine Mutter hat die Welt in den Krieg gestürzt. Sie verfügt über Drachen, die Städte in Trümmer legen. Ihre Truppen schlachten Tausende ab, wenn sie unsere Städte überrennen.« Isaura riss die Augen auf. »Ich war vor Porjal. Ich habe gesehen, wie die Bewohner der Stadt die Grychoöka angriffen. Sie haben Fallen aufgestellt, die darauf ausgelegt waren, versehrende Verletzungen zu verursachen und so schmerzhaft wie nur möglich zu sein. Das haben sie getan, damit die Schreie der Verwundeten Furcht säen, und weil Verwundete Pflege benötigen. Sie waren absichtlich grausam!« »Weil aurolanische Truppen in ihre Heimat eingefallen sind, ihre Familien ermordet und ihnen alles geraubt haben, einschließlich ihrer Träume und Hoffnungen.« Sayces Augen loderten unter der Maske. »Du solltest dich einmal fragen, 39 warum sie das taten. Hatten wir ein Stück der Drachenkrone in Muroso? Hat deine Mutter gefragt, ob wir eines haben, ob wir es ihr übergeben würden? Nein. Ihre blutrünstigen Horden sind im schlimmsten Winter seit Menschengedenken über uns hergefallen, sind geradewegs durch Sebtia gestürmt und weiter nach Muroso. Ohne den geringsten Grund.« Die Heftigkeit der Gefangenen erschreckte Isaura. »Der Süden ist eine Bedrohung für Aurolan. Vor einem Vierteljahrhundert ist der Süden bei uns eingefallen.« »Ja, nachdem deine Mutter Festung Draconis belagerte. Aber aurolanische Heere haben ohne jeden vorangegangenen Angriff Noriva und Vorquellyn erobert.« »Der Süden ist korrupt», brach es aus Isaura hervor, doch noch bevor Sayces Gelächter sie erreichte, erkannte sie selbst, wie hohl diese Worte klangen. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, wie korrupt der Süden war, und sie hatte es selbst gesehen. Der Unrat, der Schmutz ihrer Städte - im Vergleich mit der kargen Reinheit Aurolans - widerte es sie an. Der Süden war verglichen mit ihrer Heimat ein schwärender Misthaufen. Aber ich habe dort Lachen gehört. Vollmundiges Lachen, aus den unterschiedlichsten Kehlen. Sie hatte es in der Taverne gehört, in der sie Will geheilt hatte, auf den Straßen, in den Schatten und im Licht. Es hatte voll und warm geklungen, ganz ähnlich wie das Lachen von Sayce. Dass die Prinzessin so weit von daheim, in einer so schlimmen Lage, lachen konnte, überraschte Isaura. Sayce wischte sich eine Träne ab, die unter der Maske hervor geflossen war. »Das ist wirklich komisch. Der Süden ist korrupt. Besonders von Kytrins Erbin. Ich will dich nicht beleidigen, aber du hast sicher ein sehr behütetes Leben geführt. Nicht wahr?« Isaura runzelte die Stirn. »Du machst dich über mich lustig.« »Stimmt, aber geh jetzt nicht. Es tut mir Leid.« Sayce drehte sich wieder zu dem Tablett um und trank hastig den Rest der Suppe. »Ich möchte nur, dass du verstehst, dass meine Heimat 40 nicht mehr existiert, und es war deine Mutter, die sie zerstört hat. Mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern, Neffen, Nichten, Vettern und Cousinen, sie sind alle tot. Ich habe keine Familie mehr, außer dem Kind unter meinem Herzen, und das ist das Werk deiner Mutter und ihrer Leute. Deine Mutter hat mir alles genommen außer dem Willen zu Überleben, und wenn sie könnte, würde sie mir auch den noch rauben.« »Das stimmt nicht.« Sayce schaute zu ihr hoch. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?« »Nein, aber das ist ihrer Aufmerksamkeit auch nicht wert. Sie muss sich um wichtigere Dinge kümmern.« Sayce wandte sich an Hlucri. »Du hast nur Isaura hier erzählt, dass man mein Essen stiehlt?« Der Sullanciri zuckte die Achseln. »Am besten so.« Die Murosonin drehte sich wieder zu Isaura um. »Warum wolltest du mit mir reden? Wirklich?« Isaura schaute auf ihre Hände. »Ich habe im Süden vielerlei gesehen. Manches, das seltsame Gefühle ausgelöst hat. Ich liebe meine Mutter, aber was in ihrem Namen dort geschah, war entsetzlich. Ich weiß nicht. Ich bin verwirrt. Ich weiß, sie ist nicht böse. Sie liebt mich und ihr Volk, aber ich verstehe das nicht.« Noch während sie das sagte, erinnerte sie sich an den Ort, an den ihre Mutter sie geführt hatte. Die Oromisen drängten ihre Mutter, so zu handeln. Ihre Mutter hatte ihr von den Drachen erzählt und davon, wie sie die Oromisen verraten hatten. Doch ihre Mutter hatte ihr auch vieles andere erzählt, das im Widerspruch zu ihren Beobachtungen im Süden stand. Nichts davon ergab einen Sinn. Sayces Mund war nur noch ein Strich. »Du bist nicht die Einzige, die es nicht versteht. Hast du Freunde im Krieg verloren?« Isaura erinnerte sich an den Kryalnir Gelt. »Einen. Ich habe hier nicht viele Freunde. Entweder sie hassen mich, so wie du, oder sie fürchten mich.« Sayce lächelte. »Angst und Hass kenne ich. Mein Vater war 41 der König, deshalb haben mir die Leute geschmeichelt, um sich Macht oder Gefallen zu verschaffen, oder sie haben mich ängstlich gemieden. Ich war keine Person für sie, nur ein Gegenstand. Ich bin ein Mittel zur Macht
gewesen - oder eine Möglichkeit, sie zu lenken. Zumindest war ich das, bis ich Will traf. Er hat mich nicht so gesehen. Für ihn war ich ein ganz gewöhnlicher Mensch, und er hat sein Leben gewagt, mich zu retten.« Die Murosonin nickte. »Und vorher hast du ihn gerettet, also gäbe es mich ohne dich nicht mehr. Mein Kind gäbe es nicht. Ich schätze, ich schulde dir mehr als nur eine Schüssel Suppe.« Isaura schüttelte den Kopf. »Ich habe Will nicht für dich oder dein Kind gerettet.« »Aber das Essen.« »Gut. Ja.« Isaura lächelte, als sie in Sayces Augen ehrliche Dankbarkeit aufblühen sah. »Ich werde dafür sorgen, dass du gutes Essen bekommst. Für dich. Für das Kind.« »Du kommst auch selbst?« Sayces Schultern sackten ein wenig herab. »Ich habe all meine Flüche verbraucht für die Schnatterer, die mir Essen gebracht haben. Sie sind ohnehin keine gute Unterhaltung.« Isaura nickte. »Ich weiß. Ich komme wieder. Oft, wenn ich kann.« »Bringst du mir Nachrichten vom Krieg?« »Ich weiß nur selten Neues.« »Wenn du etwas erfährst, möchte ich es wissen.« Sayce nahm das Brot und den Käse vom Tablett und legte es auf ihre Bank. Dann reichte sie das Tablett Hlucri. »Das ist für später.« »Natürlich.« »Isaura.« »Ja?« »Du weißt, ich werde versuchen zu fliehen. Wenn es sein muss, benutze ich dich als Geisel.« Die Stimme der Prinzessin blieb beherrscht. »Ich habe nichts gegen dich, aber ich kann mein Kind nicht hier zur Welt bringen. Das werde ich nicht zulassen.« 42 Kytrins Tochter nickte. »Dir ist klar, dass ich dir nicht bei der Flucht helfen werde.« »Aber wirst du mich aufhalten?« Wieder zögerte Isaura. »Nur, um dein Leben zu retten.« »Nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, aber es muss genügen.« Die murosonische Prinzessin lehnte sich zurück an die Wand. »Ich würde gerne ein Bad nehmen und saubere Sachen anziehen. Geht das?« »Gibst du mir dein Wort, dass du dabei keinen Fluchtversuch unternimmst, wenn ich es arrangiere?« Sayce dachte kurz nach, dann nickte sie. »Du hast mein Ehrenwort.« »Ich glaube dir.« Sie nahm das Tablett, das Hlucri ihr reichte, und wandte sich zur Tür. »Alles Gute, Sayce. Ich freue mich auf unser nächstes Gespräch.« »Du weißt, wo du mich findest.« »Das weiß ich.« 43 KAPITEL FÜNF Ller Nebel hob sich über dem Schlachtfeld, und Alyx entschied, dass ihr nicht gefiel, was sie da sah. Dass die aurolanischen Truppen die höhere Position haben würden, hatte sie bereits gewusst, da die Nordländer das Schlachtfeld einen Tag vor ihrer Armee erreicht hatten. Die weite Ebene, auf der sie sich begegnen würden, stieg sanft nach Nordosten an und wurde von der Straße zwischen Bacirro und Fronosa in zwei Hälften geteilt. Der Boden am Fuß des Hangs war sumpfig. Das bedeutete, ihre Soldaten würden zunächst nur langsam vorankommen, und die Aurolanen brauchten nur zu warten, bis sie sichereren Boden erreichten, um einen vernichtenden Sturmangriff zu starten. Sie hätte die Verzögerung verfluchen können, die sie daran gehindert hatte, weiter zu marschieren und das Schlachtfeld ihrer Wahl zu erreichen. Das hätte jedoch auch nichts genutzt. Generalin Pandiculia hätte Bacirro am Neunzehnten des Monats erreichen sollen, und am Zweiundzwanzigsten hatte sich Alyx schließlich eingestanden, dass sie nicht länger warten konnte. Sie hatte Der Königin Leichte Reiterei aus Aleida ausgeschickt, um die aurolanischen Horden auszukundschaften und zu behindern. Aber zu viel mehr, als feindliche Kundschafter zu töten, war sie eigentlich nicht ausgerüstet gewesen. Als Tyhtsais Truppen die Ebene erreichten, hatten sie den Vormarsch abgebrochen, und die Leichte Reiterei hatte ihre Stärke und Aufstellung zurückgemeldet. Aber sie konnten nicht alles sehen. Die Kundschafter hatten die Aurolanen als die übliche Mischung aus Schnatterern, Vylaenz, Horgun beschrieben, durchsetzt mit vereinzelten menschlichen Renegaten und Kryalniri. Sie hatten keine Dra44 conellen gesehen, wohl aber viele Nachschubwagen mit Feuerdreck. Also musste Alyx davon ausgehen, dass die Waffen, für die diese Munition bestimmt war, bereits auf dem Weg und nur noch nicht eingetroffen waren. Die aurolanische Truppenstärke belief sich auf etwa sechstausend Mann, davon ein Viertel Reiterei. Das bescherte ihren eigenen Truppen eine Zwei-zu-eins-Überlegenheit, genug für einen sicheren Sieg, wären da nicht noch zwei weitere Faktoren gewesen. Einer davon war das Gelände. Der andere war die Präsenz von zwei Bataillonen Draconettieren. Die waren mit kleineren Versionen einer Draconelle bewaffnet, die eine weintraubengroße Kugel verschossen. Auf kurze Entfernung konnte diese Kugel eine Rüstung durchschlagen, und selbst wenn ihr das nicht gelang, konnte die
Wucht des Aufpralls ausreichen, einen Krieger von den Beinen zu reißen. Draconettiere waren weder so schnell noch so treffsicher wie ein Bogenschütze, aber sie brauchten auch nicht annähernd eine so lange Ausbildung. Alyx vermutete zudem stark, dass die Anwesenheit der Draconettiere allein nicht die Notwendigkeit von so viel Feuerdreck erklären konnte. Sie nahm an, dass die Aurolanen irgendwo hinter der Hügelkuppe mehrere Batterien Steilschleudern aufgestellt hatten. Diese kurzen, gedrungenen Waffen benutzten ebenfalls Feuerdreck, um ein Geschoss in einem hohen, steilen Flugbogen abzufeuern. Ihre Geschosse enthielten ebenfalls Feuerdreck und eine Lunte, so dass sie in der Luft über dem Schlachtfeld explodierten. Der dabei erzeugte Hagel scharfer Eisensplitter zerfetzte Haut und Knochen und zerriss ganze Einheiten. Die Aufstellung der Aurolanen war recht einfach. Zwei Kavalleriebataillone stellten die Flügel, mit einem zusätzlichen Bataillon als Reserve etwas weiter hinten. Drei Bataillone Infanterie standen ebenso abseits. Ein Regiment schwere Fußtruppen, darunter ein Bataillon Draconettiere, bildete das Zentrum der Formation, während die beiden anderen, leichteren Regimenter zwischen dem Zentrum und den Flügeln aufgestellt waren und sich mit beiden teilweise überschnitten. Zwi45 sehen den leichteren Regimentern befand sich eine Lücke, in der Alyx die Steilschleudern vermutete. Sobald sich der Nebel verzogen hatte, würde sie einen Gyrkyme-Kundschafter ausschicken, um nachzusehen. Sie stellte ihre Einheiten sorgfältig auf. Zwei Regimenter, eines hinter dem anderen, formten das Zentrum. An beiden Flügeln platzierte sie ein Regiment schwere Infanterie. Hinter der schweren Infanterie wurden die Seiten durch zwei Bataillone schwere Reiterei verstärkt. Dann zog sie drei Bataillone leichte Kavallerie an die äußerste rechte Flanke. Sie behielt einen Teil schwere Reiterei und etwa die Hälfte der Infanterie in Reserve. Diese Fußtruppen bestanden größtenteils aus Söldnern und unerfahrenen Freiwilligen, auf die sie sich nicht verlassen wollte, bis sie Gelegenheit gehabt hatte, sie im Kampf zu beobachten. Sie versuchte, sich in ihren Gegner zu versetzen, aber da dieser Gegner eine untote Sullanciri war, war das alles andere als leicht. Dennoch, obwohl die Aurolanen aus der besseren Position heraus kämpften, sollte allein das zahlenmäßige Übergewicht ausreichen, sie zurückzutreiben und zu zerschlagen. Sie würde sich den Sieg mit großen Blutopfern erkämpfen müssen, aber siegen würde sie trotzdem. Für die Aurolanen ist eine Niederlage recht gut zu verkraften. Sie können sich darauf beschränken, uns auszubluten. Die Nordlandhorden schienen in der Lage, schier unglaubliche Verluste einzustecken. Möglicherweise war das alles nur ein Bluff Kytrins, um den Süden zu entmutigen. Doch weiter vorzurücken, selbst nach dem Verlust einer kompletten Armee in Muroso, das war mehr, als der Süden geschafft hätte. Die Aurolanen stießen scheinbar unaufhaltsam immer weiter vor und Alyx konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in der Falle zu sitzen. Hinzu kam noch etwas: Die Formationen waren zwar nicht exakt so wie in ihrem angeblichen Traum aufgestellt, aber die Ähnlichkeit war doch groß genug, dass sie sich fragte, was Kytrin vorhatte. Nur war es noch weitaus schwieriger, die 46 Gedanken der Nordlandhexe nachzuvollziehen, als Tyhtsai zu verstehen. Wie auch immer, aus Alyx' Sicht stellte sich die Lage recht einfach dar. Ließ sie ihre Truppen vorrücken, würden das Steilschleuderbombardement und die Draconettiere ihre Formation weit genug schwächen, um der aurolanischen Reiterei einen Durchbruch zu ermöglichen, und danach würde die Infanterie abschlachten, was übrig war. Damit war ihre Strategie klar: Sie durfte nicht vorrücken, wie die Aurolanen es von ihr erwarteten. Im goldenen Kettenhemd, an der Hüfte vom Schwertgurt gehalten, das Zauberschwert Herz in der Scheide, stieg Alyx in den Sattel. Sie trabte nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, dorthin, wo die leichte Kavallerie wartete. Sie zügelte ihr Ross am hinteren Ende der Formation, dann nickte sie einem Trompeter zu. Er blies Alarm, gefolgt von den Batail-lonskennungen und dem Befehl, vorzurücken. Er wiederholte die Notenfolge und andere Trompeter in der Truppe nahmen sie auf. Da sie es sich nicht leisten konnte, ihre Infanterie vorrücken zu lassen, musste sie die Aurolanen anlocken. Der einzige echte Vorteil, den sie gegenüber den Einheiten der Nordlandhexe besaß, war die Disziplin ihrer Soldaten. Ohne Befehl würden sie weder ausbrechen noch fliehen oder handeln. Alle waren über den Plan in Kenntnis gesetzt worden. Sie kannten ihre Rolle und waren bereit sie zu spielen. Ganz besonders, wenn sie dabei außer Reichweite der Steilschleudern blieben. Die leichte Kavallerie, angeführt von Der aleidischen Königin Leichten Reiterei, stürmte in einem Bogen von Osten nach Norden. Sie platschten schnell durch den feuchten Torf, dann ging es die Steigung hinauf auf den linken Flügel der Aurolanen zu. Die Morgensonne glänzte hell auf polierten Helmen. Wappenröcke und Wimpel in Rot, Grün und Weiß knallten und flatterten. Die drei Bataillone galoppierten als Formation vorwärts. Die aurolanische Reitereieinheit, auf die sie zuhielten, hatte nur sechshundert Mann. Sie drehte sich, um einen Gegenan47 griff zu ermöglichen. Die Reiter, in der Hauptsache Schnatterer, aber auch ein paar Kryalniri und noch mehr menschliche Renegaten, hatten Mühe, die Frostkrallen, auf denen sie ritten, geordnet zu führen. Die gefiederten Bestien schnappten mit zähnestarrenden Mäulern nach den heranpreschenden Reitern und ihre riesigen, sichelförmigen Krallen zuckten vor Erwartung, deren Fleisch zu zerfetzen.
Alyx' Truppen kannten die effektive Reichweite ihrer Gegner. Frostkrallen hielten einen Sturmangriff nur über kaum mehr als hundert Schritt durch. Diese Entfernung überbrückten die Kreaturen zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit, als Rudeljäger hatten sie jedoch keine große Ausdauer. Gewöhnlich übernahm ein anderer Temeryx die Jagd, sobald sein Vorgänger abbrach, und solange sie sich nicht in einem Galopp verausgaben musste, konnte eine Frostkralle ihre Beute endlos verfolgen. Aber nach einem erfolglosen Sturmangriff ließ ihre Kraft nach und sie hielten Ausschau nach leichterer Beute. Sobald die Aleider Reiter diese Entfernung erreicht hatten, schwenkten sie nach Nordosten und präsentierten den Aurolanen die Flanke. Die Soldaten feuerten mit den kurzen Reiterbogen einen Schwärm Pfeile ab. Die Geschosse flogen in hohem Bogen über die Distanz zum Gegner und landeten zum Großteil im Ziel. Obwohl die Schüsse nicht gezielt waren, fanden viele ungeschützte Haut. Andere prallten von Rüstungen ab. Ein paar Aurolanen fielen und mehr als ein Temeryx schnappte nach einem Pfeilschaft, der ihm aus dem Fleisch ragte, doch die Salve war wenig mehr als ein Ärgernis. Dann vollführte die Jeranser Königskavallerie dasselbe Manöver und setzte weitere Pfeile in die Formation des Gegners. Hinter dessen Linien dröhnten Trommeln, und Banner veränderten die Stellung. Alyx sah vor ihrem geistigen Auge, wie die Steilschleudern neu ausgerichtet wurden, um die linke Flanke abzudecken. Als die jeranischen Reiter ihren Schwenk vollendet hatten und zurück zu den eigenen Linien zogen, griff die aurolanische Reiterei an. Doch es war ein planloser Sturm. 48 Ein paar Frostkrallen machten den Anfang, und andere setzten ihnen nach, bis alle sechshundert in mehreren Wellen vorpreschten. Die dritte leichte Reitereieinheit in Alyx' Abteilung wurde langsamer, als die Aurolanen angriffen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Einheiten war die Murosonische Erste Vergeltung nicht mit Reiterbogen bewaffnet. Sie besaßen Armbrüste. Deren Salve sauste genau gezielt durch eine beinahe schnurgerade Flugbahn und schnitt wie eine Sense durch die erste Angriffswelle der aurolanischen Reiter. Temeryxe kreischten gellend, als sich die mit Stahlspitzen bestückten Bolzen in ihre Leiber bohrten oder ihre Reiter aus dem Sattel hoben. Manche Reiter wurden von ihren Tieren mitgeschleift, andere hatten weniger Glück, als sich ihre Frostkrallen umdrehten und mit Zähnen und Krallen von der störenden Last befreiten. Stürzende Frostkrallen schleuderten ihre Reiter zu Boden. Andere Tiere sprangen über die toten und sterbenden Artgenossen und griffen weiter an. Aber sie waren in der Minderheit. Häufiger kam es zum Zusammenstoß zwischen einem heranstürmenden Biest und einem in Todesqualen um sich schlagenden Vorgänger. In Alyx' Nähe ertönte eine Trompete, ihr Signal ließ die aleidischen und jeranischen Einheiten wieder nach Osten schwenken und den Angriff erneut aufnehmen. Diesmal legten sie die Bogen etwas weiter an, so dass der aurolanische Gegenangriff zwischen ihnen und ihren eigenen Reihen hindurchstoßen würde. Sie deckten die Nordländer mit einer weiteren Salve ein, dann suchten die Schützen sich jeder ein bestimmtes Ziel. Wieder töteten die Pfeile wenige, trafen aber viele, und sie brachten die Flanke dazu, sich zur Mitte des Schlachtfelds zu drehen und zusätzliche Verwirrung auszulösen. Die vordersten Aurolanen erreichten die leichte murosonische Reiterei, und der Angriff traf die Reiter hart. Rösser bäumten sich auf und stürzten mit Eingeweiden, die aus den zerfetzten Leibern hingen. Schwerter blitzten silbern auf und 49 glänzten rot, als sie sich wieder hoben. Blut spritzte aus abgehackten Gliedmaßen, Soldaten griffen sich ins gespaltene Gesicht oder umklammerten aus ihrem Leib ragende Lanzen. Frostkrallen zermalmten Pferdeschädel zwischen ihren Kiefern, doch gelegentlich zertrümmerte auch ein stahlbeschlagener Huf einen Temeryxkopf. Die Trompete, die der leichten Reiterei das Zeichen zur Wende gegeben hatte, hatte auch noch andere Feldbewegungen entlang der Südlandlinien ausgelöst. Beide leichte Infanterieregimenter in deren Zentrum zogen sich zurück, die vorderen Ränge drehten um und rannten davon, durch die eigenen Reihen zurück. Von ihrem Standort aus sah Alyx sie im Rücken der Formation anhalten und sich neu zusammenfinden, aber die Aurolanen - und insbesondere die Temeryxe -sahen sie nur weglaufen. Den Frostkrallen, die sich dem Zentrum zugewandt hatten, war das als Beuteverhalten eingeprägt, und instinktiv preschten sie auf die Öffnung in Alyx' Formation zu. Schlamm und Grasbüschel wurden hochgeschleudert und verdreckten das weiße Gefieder der Tiere. Der weiche Boden bremste sie, aber das spielte keine Rolle. Die Reiter hatten ihre Tiere nicht mehr in der Gewalt - die Tiere waren auf der Jagd. Die durch den Rückzug der Infanterie entstandene Lücke ermöglichte jedoch den beiden schweren Reitereibataillonen, den Aleider Eisenreitern, das Zentrum anzugreifen. Als die Frostkrallen das Sumpfgelände verließen, donnerte die schwere Kavallerie, gepanzerte Ritter mit schweren Schilden und dicken Lanzen im Anschlag, geradewegs in sie hinein. Temeryxkadaver flogen durch die Luft. Blutige Federn segelten entlang ihrer Flugbahn herab. Lanzen blieben in den Kreaturen stecken. Ihre Besitzer zogen den Säbel, hieben und schlitzten. Ein mutiger Aurolanenkrieger hob die Standarte seiner Einheit, um seine Kameraden anzuspornen, doch zwei Aleider Eisenreiter ritten ihn nieder und brachten das Banner mit den neun Schädeln unter dem Jubel der restlichen Armee mit zurück. 50 Die Eisenreiter setzten ihren Angriff fort und gaben dem Rückzug der Murosonen Deckung. Einzelne
Draconettiere im Zentrum der Nordlandreihen feuerten, auf diese Entfernung hatten ihre Schüsse allerdings kaum mehr Wirkung als die langen Bogenschüsse der leichten Reiterei. Alyx' leichte Infanterie stürmte hinter den Pferden ebenfalls vor und machte nieder, was von der aurolanischen Kavallerie noch überlebt hatte. Rechts formierte sich die leichte Reiterei vor dem Sumpf neu, bereit, die Störangriffe wiederaufzunehmen, während die Eisenreiter um sie herum zurück in Position trabten. Nach nicht einmal einer Stunde Kampf hatten die Aurolanen einen Kavallerieflügel verloren, Alyx hatte weniger als ein Zwanzigstel ihrer Reiterei eingebüßt und die Steilschleudern waren nicht zum Einsatz gekommen. Durch ihren Mangel an Disziplin hatten die Nordlandtruppen an Zahl eingebüßt. Sie nickte dem Trompeter zu, der das Signal zum Halten der Stellung gab. Nun fing das Warten an. Tyhtsai konnte deutlich sehen, dass Alyx nicht daran dachte, vorzurücken und in ihre Falle zu gehen. Gegen langsam anrückende Truppen wären die Steilschleudern wirkungsvoll gewesen, gegen Kavallerie waren sie jedoch nutzlos. Zumindest solange der Gegner sich nicht in eine vorausberechnete Position kanalisieren ließ, auf die man die Geschütze im Vorhinein ausrichten konnte. Alyx' Studium der Karten Saporitias hatte nur ein paar wenige Stellen gezeigt, die sich für eine derartige Taktik eigneten. Die nächstgelegene war der Pass bei Fronosa. Falls Tyhtsai vorrückte, musste sie fürchten, dass Alyx' Einheiten ihre Truppen zermalmten. Die Armee des Südens war größer und disziplinierter. Alyx verfügte über genug Leute, um das Aurolanenheer einzukesseln. Ein solch überwältigender Sieg würde verlustreich werden, da keine der beiden Seiten Gnade erwarten oder gewähren würde. Allerdings hätte Tyhtsai dabei auch mit dem Verlust der Steilschleudern rechnen müssen, und ganz gleich, was aus den Draconellen in Okrannel wurde, Alyx war sich sicher, dass die Sullanciri diese Waffen nicht in der Hand des Feindes sehen wollte. 51 Der Klang der Trommeln auf der anderen Seite veränderte sich und die leichten Infanterieeinheiten zogen sich zurück. Alyx wandte sich ihrem Trompeter zu. »Er rufe unsere Reiterei zurück.« Der Soldat tat wie befohlen, und ihre leichte Kavallerie zog sich durch das Sumpfland zurück. Die Murosonen verließen das Feld zuletzt und die Armee begrüßte sie mit lautem Jubel. Auch wenn diese Schlacht in Saporitia ausgetragen worden war, fühlten doch alle hier, dass es die Murosonen verdient hatten, den Feind zu verletzen, und sie freuten sich, dass es ihnen gelungen war. Auch sie hatten Tote auf dem Schlachtfeld gelassen. Man würde ihre Leichen bergen, Lebensmasken sorgsam verstauen, um sie den Angehörigen zu überbringen, Freunde betrauern, dann würden die Krieger weitermarschieren, weiter zum nächsten Schlachtfeld. Alyx ritt zurück ins Zentrum der Linien und zu ihrem Zelt. Arimtara nahm die Zügel ihres Pferdes, als sie abstieg. Die Drachin betrachtete sie kurz, dann schloss sie halb die Augen. »Du hättest mich meine wahre Gestalt annehmen und große Teile dieser Armee einäschern lassen können.« »Hätte ich. Ich habe es aber nicht getan.« »Warum nicht?« Alyx deutete auf die Truppen hinter ihnen. »Aus zwei Gründen. Erstens will ich dich zu unserem größtmöglichen Vorteil einsetzen, und der Augenblick dafür ist noch nicht gekommen. Ich weiß nicht, wann es so weit sein wird, aber du hast die Fähigkeit, den Ausgang einer Schlacht zu wenden. Mehr noch, du kannst einen Drachen abwehren, und ich will Kytrin nicht dazu bringen, einen solchen vor der Zeit gegen uns einzusetzen. Ich möchte, dass du eine Überraschung für sie bist. Doch der Hauptgrund ist ein anderer. Diese Armee muss lernen, sich als Einheit zu begreifen. Das heute war keine besondere Schlacht, aber alle haben getan, was sie tun sollten. Sie alle haben die Angst gespürt, jetzt fühlen sie alle auch den Triumph des Siegers. Und sie alle haben Freunde verloren. 52 Hättest du das Aurolanenheer vernichtet, wäre es nicht ihr Sieg gewesen, sondern deiner, und das hätte sie nicht so zusammengeschweißt, wie wir es brauchen, wenn wir die Entscheidungsschlacht gewinnen wollen.« Arimtara nickte, dann legte sie den Kopf auf die Seite. »Du warst schlau genug, eine Schlacht zu planen, die sie teuer bezahlen mussten. Hättest du nicht noch weiter planen und sie noch teurer bezahlen lassen können?« »Durchaus, aber das wäre für mich auch teuer geworden.« Die Prinzessin schaute über das Schlachtfeld, auf dem Tyhtsais Banner kleiner wurde. »Im Augenblick hält sie mich für verschlagen und feige, da man nichts, was ich heute getan habe, als besonders mutig bezeichnen könnte. Ich hätte die leichte Kavallerie immer wieder gegen ihre Flanken hetzen können, aber ich war es zufrieden, sie abziehen zu lassen. Jetzt wird sie erwarten, dass ich auch in Zukunft so handeln werde. Und das ist gut, denn in dem Augenblick, da ich das nicht tue, das eine Mal, dass ich vorrücke, wird diese Armee schneller durch ihre Truppen jagen als der Wurm durch die Amsel. Falls ich ihre Armee vernichten will, brauche ich an deren Spitze eine Generalin, die mir genau das nicht zutraut. Sobald sie davon überzeugt ist, werden wir sie noch einmal töten.« 53 KAPITEL SECHS Entschlossen hob die Hand - zum Zeichen für die anderen hinter ihm, anzuhalten. Langsam ging er auf dem Waldpfad in die Hocke und starrte ins Unterholz. Die Graunebler, die ihn begleiteten, waren vielleicht leise genug, um durch Yslin zu schleichen, in den Wäldern Loquellyns machten sie jedoch so viel Lärm wie eine Viehherde - teilweise einschließlich blökender Beschwerden über Durst und Blasen. Ein paar waren sogar bei
der Begegnung mit aurolanischen Truppen ein paar Nächte zuvor verwundet worden, doch diese Vorqaelfen ertrugen ihre Schmerzen stoisch und beschwerten sich weniger als die anderen. Entschlossen wandte den Kopf leicht nach links und sah Qwc an, der mit wurfbereitem Speer auf seiner Schulter saß. Der silberäugige Krieger deutete nach Nordnordost, dann nickte er und der Sprijt flog davon. Er huschte scharfwinklig und präzise wie eine Libelle zwischen den Bäumen hindurch. Kurz darauf kehrte er zurück und zeigte mit den Fingern an, dass fast zwanzig Personen im Gebüsch lauerten. Entschlossen nickte antwortend, aber der Sprijt war noch nicht fertig. Er wechselte den Speer in das untere Paar Hände und deutete mit den oberen an, sich eine Krone aufzusetzen. Entschlossen zog die rechte Braue hoch. Qwc nickte eifrig und der Vorqeelf brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. Er stand auf und legte die Hände trichterförmig um den Mund. »Trawyn, Prinzessin von Loquellyn, Ihr braucht Euch nicht länger zu verstecken. Diejenigen, die Ihr jagt, sind tot.« Auf seinen Ruf erhielt er keine Antwort, was er aber auch nicht erwartet hatte. »Wir sind uns begegnet, Hoheit, als Ihr eine Gyrkymsu im Palast von Rellaence begrüßt habt, noch 54 kein Jahr ist es her.« Entschlossen bemühte sich, im besten Äilvisch mit ihr zu sprechen, doch unter den Vorqaslfen war ihre Muttersprache verkümmert. Er erinnerte sich dunkel an Zeiten, in denen er Gefallen daran gefunden hatte, Worte zu Mustern und förmlichen Floskeln zu weben. Aber seit jener Zeit war viel Blut geflossen. Er bewegte sich durch den Wald in die Richtung, in die Qwc geflogen war. »Ich komme zu Euch. Ihr werdet mich sehen, bevor ich Euch sehen kann, und Ihr könnt selbst entscheiden, was Ihr tut.« Als er den von Nadeln und Blättern bedeckten Hang hinabstieg, suchte er nach Spuren der Loqaelfen. Er erwartete, feuchte Blätter unter einer Lage trockener zu finden oder einen zertretenen Pflanzenstängel. Er hielt sogar Ausschau nach Fäden, die an Dornen hängen geblieben waren - doch bis sie vor ihm aus dem Unterholz trat und zwei Bogenschützen mit angelegten Pfeilen links und rechts neben ihm auftauchten, entdeckte er nichts. »Du bist Entschlossen, aber du könntest eine ihrer Kreaturen sein.« Trawyn hatte sich stark verändert. Sie hatte das kastanienbraune Haar lang und offen getragen, doch jetzt war es abgeschnitten und nicht einmal fingerlang. Ihr linkes Auge strahlte noch immer von reinstem Blau, aber ein blutiger Stofffetzen bedeckte die rechte Augenhöhle. In Rellaence hatte sie fließende Gewänder getragen und bezaubernd ausgesehen, jetzt erinnerte ihre Kleidung eher an Lumpen, wie sie Bauern an Bettler verschenken. Dreck und Blut bedeckten ihre Wangen und Hände, und ihr verbliebenes Auge war dunkel gerändert. Entschlossen sank augenblicklich auf ein Knie. »Ich bin Entschlossen, und solange ich lebe werde ich niemals eine ihrer Kreaturen werden.« Trawyn hob eine Hand und senkte sie wieder, und die Bogenschützen entspannten die Bogen, ohne jedoch die Hand von der Sehne zu nehmen. »Du hast gesagt, die Kreaturen, die wir jagen, seien tot?« 55 »Übergroße Schnatterfratzen und ein paar Echsenhunde?« Entschlossen wechselte in die Menschensprache, als Qwc auf seiner Schulter landete. »Sie überfielen uns vor einigen Nächten. Sie fanden heraus, dass wir gefährlichere Beute sind, als sie erwartet hatten.« Die /Elfenprinzessin schüttelte den Kopf. »Bist du nur überheblich, Vorqalf, oder willst du mich damit verhöhnen, dass du - ein Kind - mehr Erfolg hattest als wir?« Der Schmerz in der matten Stimme, mit der sie diese Anschuldigung vorbrachte, zeigte ihm, wie dicht sie vor einem Zusammenbruch stand. Unter anderen Umständen hätte er sich möglicherweise reizen lassen, aber hier und jetzt beherrschte er sich. »Ich bezog mich auf Kjarrigan, nicht auf mich selbst. Leistet uns mit Eurer Gruppe Gesellschaft und berichtet mir, was geschah. Wir wurden hierher nach Loquellyn geschickt, um Euch um Unterstützung im Kampf gegen Kytrin zu bitten. Ich nehme an, Ihr werdet ablehnen, und ich möchte erfahren, warum.« Trawyns Einheit bestand aus siebzehn /Elfen, alle verwundet, zwei von ihnen sehr schwer. Bei der Flucht aus der Hauptstadt waren sie dem Lauf der Assariennia gefolgt. Die Verfolger hatten nicht locker gelassen, und der Weg war noch gefährlicher geworden, sowie sie die Berge erreichten. Ihre Leute hatten seit Tagen nichts als hastig gepflückte Winterbeeren gegessen und getrunken, wo sie Wasser mit der Hand schöpfen konnten, sei es aus Bächen oder Pfützen. Entschlossen führte die Gruppe zurück ins Graunebellager, wo die Heiler und Kjarrigan taten, was sie konnten. Der menschliche Magiker schaute sich Trawyns rechtes Auge an und sprach ein paar Zauber, dann konnte er aber nur den Kopf schütteln. »Ich würde es heilen, wenn ich könnte, Prinzessin, aber da ist gar nichts mehr, was heilen könnte.« Sie nickte. »Einer der Turekadein hat es aus der Höhle gerissen, und ich musste das Auge abschneiden, weil es mir auf die Wange herabhing und mich ablenkte.« 56 Entschlossen erlaubte, Feuer zu machen, sehr zur Freude der Graunebler. Man holte Wasser und brachte es zum Kochen, erst für Tee, dann für eine Suppe aus Wurzeln, Beeren und Dörrfleisch für die Flüchtlinge. Der Vorqaelf stellte paarweise Wachen auf und die Graunebler nahmen die Aufgabe sehr ernst. Diejenigen, die nicht auf Posten standen, unterhielten sich mit den Loqaslfen und fanden so viel wie möglich über die Ereignisse in
Loquellyn heraus. Trawyn kauerte sich bei Einbruch der Nacht unter eine Decke. Das knisternde Feuer warf tanzende Schatten über ihr Gesicht. Sie umklammerte mit beiden Händen eine Schale Brühe, schenkte der Suppe aber gar keine Aufmerksamkeit, sondern starrte in die Flammen. »Sie kamen ohne Vorwarnung, Entschlossen. Es war anders als bei dem Überfall auf Vorquellyn. Sie hatten weniger Schiffe, und unsere Flotte stand bereit, sie aufzuhalten. Nein, sie schlichen sich an und waren mitten unter uns, bevor wir eine Chance zur Gegenwehr hatten.« Ein Schauder lief Entschlossen den Rücken hinab, als sie sprach. Zum Teil, weil die Erinnerung daran zurückkehrte, wie die Aurolanen seine Heimstatt überrannt hatten. Bilderfetzen von einem Massaker bei Feuerschein; blutüberströmte Gesichter; abgehackte Gliedmaßen; Schreie, die plötzlich abbrachen. All das prasselte auf ihn ein. Die Erinnerungen drohten ihn zu übermannen, doch es gelang ihnen nicht, denn für jeden Vorqaslfenschrei hatte er Dutzende aus den Kehlen von Schnatterern hervorgelockt. Für jeden abgehackten Arm und jedes Bein hatte er Legionen Aurolanenglieder geerntet. Was die Nordländer den Vorqaelfen in ein paar Nächten angetan hatten, hatte er über ein Jahrhundert lang gerächt. Was ihm wirklich zusetzte, war die Verzweiflung in Trawyns Stimme. Sie war erheblich älter als er und an eine Heimstatt gebunden, und doch klang sie so verloren und fern. Er kannte diesen Tonfall bei Menschenstimmen, aber noch nie hatte er sie bei einem erwachsenen Hilfen gehört. Er hatte geglaubt, solche Hoffnungslosigkeit sei kurzlebigeren Arten 57 vorbehalten. Sie jetzt in ihrer Stimme zu hören, verunsicherte ihn, denn es untergrub eine der Säulen seines Weltbilds. Dass eine Unsterbliche verzweifeln konnte, warf in ihm die Frage auf, ob er bei seinem Kampf um Vorquellyns Freiheit Erfolg haben könne. Trawyn schloss das Auge zur Hälfte und beugte sich vor. »Zuerst holten sie unsere Schiffe. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber einer aus unserer Gruppe war ein Seemann. Er überlebte die Vernichtung seines Schiffes, nur um dann auf der Flucht zu sterben. Er hat uns erzählt, dass sich ein gewaltiges Loch im Meer öffnete, und sein Schiff wurde in einen von Zähnen starrenden Schlund gerissen. Die Bestie zermalmte das Schiff und er wäre verschluckt worden, aber irgendwie wurde er durch die Kiemenschlitze ausgestoßen und schaffte es an die Oberfläche. Dann kamen dieselben Bestien oder ganz ähnliche in alle Häfen Loquellyns. Sie warfen sich aufs Land, zerschmetterten Kais und Schiffe. Sie öffneten das Maul und Horden von Nyressanii sprangen heraus. In der Menschensprache würdest du sie vermutlich Froschdämonen oder Schreckkröten nennen. Sie hatten glatte, ledrige Haut, zum größten Teil schwarz, aber mit leuchtend roten, grünen und gelben Streifen. Der Schleim darauf verätzte alles, was er berührte. Ihre Schwimmpfoten hatten Krallen und sie waren zu gewaltigen Sprüngen fähig. Trotzdem konnten sie sich lautlos bewegen und schnell in unsere Städte eindringen, wo sie die Wachen töteten.« Müde schüttelte sie den Kopf. »Danach kamen langsame alte Kähne, halbvermoderte Schaluppen, mehr nicht, beladen mit Turekadein und ihren Jagdbestien, den Slurriks. Sie stürzten sich auf uns wie damals auf Vorquellyn. Du hast gegen sie gekämpft, du weißt, sie sind größer und stärker als Schnatterer. Wir wehrten uns, so gut wir konnten, doch die Nyressanii hatten uns schon viele Krieger gekostet.« Kjarrigan sank neben dem Feuer auf die Knie und streckte die Hände aus, um sie zu wärmen. »Dann ist Loquellyn gefallen, so wie Vorquellyn?« 58 »Nein.« Trawyn blinzelte und schaute den menschlichen Magiker an. »Nein. Ich erinnere mich an die Erwachsenen von Vorquellyn und den Schmerz, den sie spürten, weil ihre Heimstatt erobert war. Wir haben für sie getan, was wir konnten, haben ihnen sogar Traumschwingetinkturen gegeben. Doch es half nichts. Die Aurolanen hatten nicht vor, Loquellyn zu erobern. Manche ihrer Truppen sind bereits wieder abgezogen. Über die Küstenstraßen nach Muroso.« Entschlossen nickte. »Sie sind wegen des Drachenkronenfragments gekommen, das wir bei Euch ließen. Haben Sie es bekommen?« Trawyn schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wo ist es?« »Ich weiß es nicht.« »Das glaube ich Euch nicht, Hoheit.« Sie schnaubte. »Sehr freundlich von dir, meinen Titel anzuhängen. Das mildert den Schlag, wenn du mich eine Lügnerin nennst.« »Sagt mir, was Ihr wisst. Befindet es sich noch in Loquellyn?« Trawyn zuckte die Achseln. Es war deutlich, wie ermüdend es für sie war. »Wir hatten das Saphirfragment in der Schatzkammer des Palastes verstaut. Es war der sicherste Ort, den wir finden konnten.« Entschlossen zog die rechte Braue hoch. »Der Corijes von Rellaence hätte alle fern gehalten.« »Außer denen, die an Loquellyn gebunden sind.« Sie fletschte die Zähne. »Wir konnten nicht sicher sein, ob es Kytrin gelingen würde, irgendjemanden zu zwingen oder zu überreden, den Corijes zu betreten. Außerdem wäre die Gegenwart eines Fragments dort störend gewesen. Der Corijes ist ein Ort friedlicher Kontemplation und Abgeschiedenheit von der Außenwelt. Das Fragment dort zu lagern, hätte seinen Frieden zerstört, also legten wir es in die Schatzkammer.« Die Stimme der Prinzessin wurde leiser. »Sie hatten meine Mutter und meine
Schwester gefangen. Ich sah zu, wie die Aurolanen sie folterten. Ich habe ihre Schreie gehört, und irgendwann 59 konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich führte die Aurolanen zur Schatzkammer und öffnete sie. Doch das Fragment war nicht mehr dort. Dann sind sie vor lauter Wut über mich hergefallen. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich wieder aufwachte, war ich allein, umgeben von toten Turekadein. Ich schlich mich aus dem Palast, fand andere und ergriff die Flucht. Aber sie machten Jagd auf uns.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Dann ist das Fragment noch irgendwo da draußen?« »Ich weiß es nicht.« Der Vilwaner Magiker sah Entschlossen an. »Falls die Aurolanen danach suchen, müssen wir es zuerst finden.« Der Vorqaelf schüttelte den Kopf. »Nein, müssen wir nicht. Unser Auftrag ist klar. Wir sind unterwegs nach Norden, an die Küste, und von dort mit dem Schiff nach Vorquellyn.« »Aber wir können nicht zulassen, dass Kytrin noch ein Fragment der Krone bekommt.« »Die Norderstett-Prophezeiung erwähnt die Krone mit keinem Wort, Kjarrigan. Wir müssen Will holen, nach Norden ziehen und die Nordlandhexe töten.« Kjarrigan schaute sich zu einem der anderen Feuer um. »Äh, möchtest du das vielleicht mit Orakel besprechen?« »Nein.« »Nein?« Entschlossen seufzte. »Du weißt sehr gut: Falls wir uns darum kümmern müssen, wird sie es uns von sich aus sagen. Wir brauchen sie nicht zu fragen.« »Lass mich wenigstens den Suchzauber einsetzen.« Kjarrigan lächelte. Das hatte Entschlossen seit der Nacht des Angriffs auf das Lager nicht mehr gesehen. »Ich habe den Zauber überarbeitet. Er ist schneller, feiner und nur noch mit großer Mühe zu entdecken. Dann wissen wir zumindest, wo es sich befindet. Falls sie danach suchen, wollen wir das Gebiet vielleicht lieber meiden.« Kjarrigans Schlussfolgerung war nicht von der Hand zu weisen, doch der Knabe wusste natürlich genau, dass Ent60 schlössen Kytrin kein weiteres Kronenfragment überlassen wollte. Wenn ich weiß, wo es ist, müssen wir es bergen. Er wollte Kjarrigans Bitte ablehnen, andererseits wollte er auch nicht blindlings in einen Pulk Turekadein stolpern. Eine leise innere Stimme fragte ihn sogar, ob das Fragment nicht der Schlüssel zu Wills Befreiung sein konnte. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Allein die bloße Möglichkeit ließ ihn erneut schaudern. »Na schön, Kjarrigan, sprich deinen Zauber, aber sieh dich vor. Du willst ja bestimmt nicht, dass er Kytrins Geschöpfe hierher führt.« Kjarrigans Lächeln verblasste. »Ich sehe mich wirklich vor. Das wird nicht geschehen.« »Ich weiß, Kjarrigan. Entschuldige. Bitte, wirke deinen Zauber.« Kjarrigan konzentrierte sich, und dann wandte sich Entschlossen wieder zu Trawyn um. »Ihr solltet etwas essen, Hoheit. Morgen früh werde ich einige meiner Leute abstellen, damit sie Eure Gruppe nach Süden, nach Saporitia begleitet. Ihr könnt Prinzessin Alexia berichten, was hier geschehen ist. Sie muss wissen, dass diese Flanke gefährdet ist, und auch, dass weitere aurolanische Truppen - andere Truppen als bisher - in die Schlacht eingreifen werden.« Trawyn stellte die Suppenschale ab. »Ein Teil meiner Leute wird diese Nachricht überbringen, ich gehe indessen nicht zurück. Ich begleite euch.« »Das könnt Ihr nicht. Ihr seid verwundet.« Sie starrte ihn mit ihrem einen himmelblauen Auge an, und dieser Blick durchbohrte ihn fast. »Was, wenn es jemandem gelungen ist, das Fragment im Corijes zu verstecken? Ihr werdet mich brauchen, und wenn nicht dafür, dann als Führerin auf dem Weg nach Norden.« Entschlossen stöhnte. Er hatte gehofft, die Gruppe zu verkleinern: um die Nahrungssuche zu erleichtern, um schneller voranzukommen und einfach nur, um leichter Ordnung halten zu können. Gleichwohl kam er genau wie bei Kjarrigan nicht gegen ihre Einwände an. 61 Er rieb sich das Gesicht. »Jene unter euch, die nichts mit der Sache zu tun haben, gehen nach Süden.« »Zusammen mit deinen Schwerstverwundeten?« Sie lächelte ihn schief an. »Es wird schwierig werden, mit über fünfzig Leuten unbemerkt zu bleiben.« Entschlossen grinste. Offenbar liefen ihre Gedanken in denselben Gleisen wie seine. Die Aurolanen hatten ein Drittel des Grauen Nebels getötet oder verwundet. Er konnte gut die Hälfte seiner Gruppe zurückschicken, einschließlich der am schwersten Verwundeten beider Gruppen, und die Gruppe so auf eine halbe Legion reduzieren. Die fünfzig, die blieben, wären dann diejenigen, die am besten für die Gefahren gerüstet waren, die vor ihnen lagen. »Fünfzig ist gut. Schickt sieben Eurer Leute.« »So wird es geschehen.« »Ich hab es!« Kjarrigan strahlte. »Das ging besser, als ich erwartet hatte. »Er starrte auf einen Punkt im Nordwesten, ungefähr in Richtung von Rellaence. »Augenblick, das ist seltsam.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Was ist, Kjarrigan?«
Auf dem Gesicht des jungen Magikers spiegelte sich Verwirrung. »Wisst Ihr etwas über ein Fragment der Drachenkrone mit einem Diamanten?« Orakel legte Entschlossen die Hand auf die Schulter und kniete sich ans Feuer. »Das ist das Fragment, das wir in Vorquellyn hatten. Ich habe es vor langer Zeit einmal gesehen, vor der Eroberung.« »Das ist ja sehr aufschlussreich.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Erinnert ihr euch an das Fragment, das wir Vionna abnahmen? Das Stück aus Lakaslin?« »Ich erinnere mich sehr gut daran, Kjarrigan.« »Gut. Das befindet sich in der Richtung, in die ich gezeigt habe.« »Und was hat das Vorquellyn-Fragment damit zu tun?« »Tja, das ist es ja gerade.« Kjarrigan zuckte die Achseln. »Die beiden reisen zusammen. Wer auch immer das Lakaslin62 *" Fragment aus dem Palast geholt hat, besaß das Vorquellyn-Fragment schon. Falls Kytrin eines davon findet, findet sie beide. Sie liegen nicht ganz genau auf unserer Marschroute, Entschlossen, aber ...« Der Vorqaelf nickte. »Keine Sorge, Kjarrigan. Jetzt schon.« KAPITEL SIEBEN Llie anderthalb Wochen bis zur norivesischen Hauptstadt Logbai verliefen weit besser, als Markus Adrogans erwartet hatte. Die ursprüngliche Strategie, manche Siedlungen zu umgehen und andere so zu erobern, wie sie es in Nirgendwo erprobt hatten, veränderte sich im Verlauf der Expedition ein wenig. Adrogans nutzte die Kavallerie zu Vorstößen tief ins Hinterland, bei denen sie in Caros Namen kleine Dörfer und Siedlungen an Straßenkreuzungen einnahmen. Die langsamere Infanterie sicherte die Eroberungen und nahm die Kapitulation der größeren Orte entgegen - von denen man keinen als Stadt hätte bezeichnen können. Und durch das Hin und Her der Truppen kam der Nachschubtross mit den Draconellen unbemerkt voran. Die Eroberungen erforderten kaum Gewalt und erzeugten wenig Unruhe. Einzelne Einheimische, hauptsächlich Barden und Händler, durften in noch nicht eingenommene Dörfer weiterziehen, wo sie Caros Geschichte verbreiteten und berichteten, wie gesittet sich die Eroberer aufführten. Zudem waren ihre Berichte dergestalt, dass sie den Aurolanen gefallen mussten, falls sie bis dahin durchdrangen. Caros Geschichte wurde in Noriva gerne gehört. Er verkündete, Adrogans habe in Swarskija tatsächlich Draconellen erobert und sich daraufhin entschlossen, ein eigenes Imperium zu errichten. Caro gab vor, sich mit einigen loyalen Gefolgsleuten nach Norden abgesetzt zu haben, weil Adrogans nach Süden aufgebrochen sei, um Valitia und Gurol zu überfallen. Die Norivesen waren hocherfreut, dass keine Draconellen ihre Ortschaften in Trümmer legten. Und was ihnen noch besser gefiel: Weil Adrogans nicht hier war, waren Strafmaßnahmen 64 der Aurolanen, die in ihrem Land gegen ihn gekämpft hätten, unwahrscheinlich. Welche Folgen es haben könnte, sollten diese Gerüchte aus der Geistermark bis zum Rat der Könige getragen werden, kümmerte Adrogans wenig. Die meisten Herrscher hielten sie bestimmt für gezielte Fälschungen der Aurolanen, um Angst und Schrecken zu säen, und beachteten sie gar nicht. Und diejenigen, die sie glaubten, sollten daraufhin eher zusätzliche Truppen ausheben, was für den Fall eines aurolanischen Sieges nur gut sein konnte. Aber größtenteils ging er davon aus, dass man im Süden von all dem nichts erfuhr, was ihm sehr recht war. Als die Truppen Logbai erreichten, ritt Caro an der Spitze einer Tausendschaft Reiter, zusammengestellt aus der Aleider Reitergarde, Matraves Reitern, der Jeranser Throngarde und den Savaresser Rittern. Allesamt waren sie bestens verkleidet, und man sah nicht einmal die Andeutung ihrer ursprünglichen Uniformen - auch wenn sie zum größten Teil nur unter mehreren Schichten anderer Kleidung versteckt waren. Sie wirkten wie eine Horde Freibeuter, die zwar noch einen Rest Disziplin bewahrten, wenn es in den Kampf ging, in Benehmen und Sprache jedoch alle Spuren der Zivilisation abgeschüttelt hatten. Adrogans selbst trug eine Augenklappe, hatte sich den Schädel rasiert, einen Bart wachsen lassen, und folgte Caro neben Ph'fas in der Kleidung eines shuskischen Schamanen. Ein Trupp Reiter hatte sich unter der Parlamentärsfahne Logbai genähert und gefordert, mit Königin Winalia zu sprechen: »Um den Preis einer Audienz wird er ihr zurückgeben, was ihr gehört - und anbieten, was sie noch nicht besitzt.« Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht überbracht wurde, was Adrogans Gelegenheit gab, die Stadt aus der Nähe anzuschauen. Logbai war weitgehend aus Holz erbaut, nur ein paar größere Bauwerke und einzelne Verteidigungstürme waren aus Stein und Mörtel aufgemauert. Die meisten Bewohner lebten in Langhäusern, die sich auf den Terrassen der fünf Hügel erhoben, umgeben von den Holzbefestigungen der Stadtgrenze. 65 Diese Befestigungen umfassten zudem Gräben und Dämme, damit es für Angreifer auch wirklich mühsam und blutig wurde, Rammböcke und andere Belagerungsmaschinen nahe genug an die Stadt zu schaffen. Die Hauptstraße kam von Westen, aber das Stadttor, zu dem sie führte, lag in Richtung Süden. Ein Rammbock hätte, um es zu zerstören, erst nach Süden einbiegen und sich dann nach Norden drehen müssen, und auf dem gesamten Weg wäre er von den Katapulten und Bogenschützen der Verteidiger unter Beschuss genommen worden. Gegen Draconellen half dieses ausgeklügelte System natürlich nicht. Sie konnten die Stadtmauern selbst
bombardieren, bis nur noch Holzspäne von ihnen übrig waren. Da Caros Horde keine Belagerungsmaschinerie besaß, sollten sich die Bewohner Logbals sicher fühlen. Nur war ohne die Siedlungen im Westen des Landes und deren Steuereinnahmen die Versorgung der Stadt nicht mehr gesichert. Nach einer Stunde erschien ein Gesandter der Königin am Stadttor. Er begrüßte Caro und dessen engste Ratgeber in der Stadt. Eine Delegation Bürger wurde für die Dauer der Gespräche als Geiseln gestellt. Unter diesen Geiseln befand sich auch die Kronprinzessin Tisdessa, so dass sich Adrogans vor Verrat sicher fühlte. Ph'fas betrachtete die Prinzessin, als sie vorbeiritten, dann schnaufte er. »Eine feine Frau. Der Nirgendwo-Mann hatte eine gute Wahl getroffen.« Adrogans konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Dalanous war nicht größer als du, Onkel. Mit Schenkeln wie diesen hätte sie ihm im Rausch der Vereinigung das Genick gebrochen.« Ph'fas schaute der Prinzessin noch einmal nach, dann zuckte er die Achseln. »Die Krieger, die sie gebären würde, wären das Wagnis wert.« Logbals Hauptstraße hatte sich schon vor langer Zeit in einen schlammigen Trampelpfad verwandelt, der sich von den übrigen Straßen der Stadt nur durch die Menge Kies unterschied, den der Schlamm enthielt. Die Einwohner standen an 66 den Straßen, schauten aus den Türen oder standen auf den Dächern, als sie vorbeiritten. Viele trugen Kleidung aus Tierfellen, obwohl niemand hier die gelassene Würde der Shusken besaß. Die allgemeine Farblosigkeit der Kleidung und Häuser verschmolz mit dem allgegenwärtigen Schmutz auf Wänden, Tieren und ganz besonders auf den Kindern. Der Anblick erinnerte Adrogans an die schlimmsten Elendsviertel von Yslin oder Lakaslin, aber die Menschen hier wirkten im Vergleich zu ihren wilderen Großstadtvettern wie Vieh. Auch das Gebäude, das in Logbai als Palast bezeichnet wurde, war bestenfalls eine Nachahmung seiner Entsprechungen in anderen Hauptstädten. Eine prachtvolle Steinfassade, die sich sogar zu beiden Seiten knappe vier Schritt nach hinten erstreckte. Von da an jedoch verwandelte es sich in ein hölzernes Langhaus mit dickem Strohdach. Sie saßen ab und wurden durch hohe Holzportale in ein kühles Steinfoyer geführt. Auch der restliche Boden des Gebäudes war mit Steinen ausgelegt, die aber nicht wie in der Eingangshalle mit Mörtel verbunden waren. Stattdessen hatte man Stroh darüber verteilt. Die Schicht war jedoch so dünn, dass Adrogans nicht erkennen konnte, ob es sich verschob oder nur dem Geiz gehorchte. Am hintersten Ende des Langhauses, im schummrigen Licht kaum zu sehen, saß Königin Winalia auf einem Thron, der sie winzig erscheinen ließ. Auf dem Weg durch den >Palast< begriff Adrogans, dass der Thron riesig sein musste, denn die Königin war wirklich nicht klein. Die Gerüchte, die sie als groß und fett beschrieben hatten, erwiesen sich als zutreffend, allerdings schien sie sauber, ebenso wie die Felle, in die sie gehüllt war, und ihr Lächeln zeigte mehr Zähne als Lücken. Caro blieb vier Schritt vor dem Thron stehen und verneigte sich tief. »Ich grüße Euch, Königin Winalia. Ich bin gekommen, Euch mitzuteilen, dass der westliche Teil Eures Reiches sicher ist.« Die Königin verlagerte das Gewicht und rutschte etwas nach links. »Sicher in Seiner Hand, Caro. Er ist weit entfernt von Aleida. Sichert Er ihn für mich oder für Augustus?« 67 »Hätte mein Fürst den Wunsch, die Geistermark zu regieren, hätte er sie behalten, als er sie vor einer Generation durchquerte.« »Vielleicht hat er seine Meinung inzwischen geändert.« Ihre braunen Augen wanderten träge über Ph'fas, Adrogans und die drei Soldaten in deren Begleitung. »Ich habe ihn damals gesehen. Er hat meinen Großvater erschlagen.« »Mein Beileid, Hoheit.« »Dazu besteht kein Anlass. Er war eine habsüchtige Ratte. Mein Großvater, nicht Augustus. Er hat einen qualvollen Tod verdient.« Sie seufzte. »Leider war Augustus gnädig und tötete ihn schnell.« Caros weiße Augenbrauen trafen sich. »Ihr scheint wenig auf Familienbande zu geben.« Winalia lächelte und setzte sich auf. Plötzlich erinnerte sie ganz und gar nicht mehr an eine träge Kuh. »Und dies lässt Ihn vermuten, dass selbst die Anwesenheit meiner Tochter unter den Geiseln keine Garantie für Seine Sicherheit sein könnte?« »Der Gedanke ist mir gekommen, ja.« Sie lachte laut, doch ihre Heiterkeit brach mit einem keuchenden Hustenanfall schnell ab. Sie spuckte zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Der war gut. Etwas mehr wert als meine Tochter.« Ph'fas warf Adrogans einen kurzen Blick zu, in dem ein Hauch von Besorgnis lag. Caro jedoch blieb gelassen. »Bringt Ihr uns um, bringen wir sie um - und Ihr verliert den Westen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verliere den Westen und die Aurolanen verlieren ihre Quelle für Holz und anderes. Sie werden mir den Westen zurückholen.« »Sie werden den Westen zurückholen, doch nicht für Euch. Deshalb habe ich den Handel ungehindert weitergehen lassen. Ich wollte sie nicht beunruhigen.« Winalia dachte kurz nach, dann nickte sie widerwillig. »Was willst du?« Der alcidische General atmete langsam aus. »Ich vermute, 68
die Aurolanen bauen im Osten eine Flotte. Seit ich vor Adrogans auf der Flucht bin, habe ich mich gezwungenermaßen zu einem Straßenräuber gewandelt, ich bleibe aber immer noch ein loyaler Sohn Alcidas. Ich möchte die aurolanische Flotte zerstören, bevor sie in See stechen kann. Falls das nicht möglich ist, brauche ich Schiffe, mit denen wir nach Süden segeln und den Kampf fortsetzen können.« »Ebenso ehrenhafte wie unmögliche Ziele.« Sie machte eine träge Handbewegung in Richtung Osten. »Ich habe ihre Werft besucht, weil sie keinen Zweifel bei mir aufkommen lassen wollten, wie wichtig diese Anstrengung ist. Deine Leute mögen tapfer sein, aber du hast nicht einmal ein Regiment. Man würde euch abschlachten.« »Vielleicht könntet Ihr zu unserer Hilfe Truppen aus Eurem Volk ausheben, Königin Winalia.« Wieder lachte sie und schlug sich auf einen der fetten Schenkel, der unter der Berührung heftig wogte. »Schlimm genug, dass die Aurolanen von meiner Existenz wissen. Ich werde bestimmt keine Truppen gegen sie in Marsch setzen, um sie daran zu erinnern. Außerdem könnte ich dir vielleicht ein Regiment anbieten, aber damit wärt ihr immer noch weit unterlegen, und gegen ihre Verteidigungsanlagen ist das, was ich hier habe, gar nichts.« Caro verschränkte die Arme. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu bleiben?« Sie schnaubte. »Ich würde euch Zuflucht gewähren, aber das könnte die Aurolanen verärgern. Und Adrogans ebenso.« Der alcidische Heerführer runzelte die Stirn. »Warum sollte Euch Adrogans bekümmern?« »Du bist vor ihm geflohen, was bedeutet, dass er ein mächtiger Gegner ist. Gleichzeitig hast du verkündet, dass er dich nicht verfolgt. Trotzdem fliehst du weiter. Ich halte es für denkbar, dass ich in einem Monat aufwache und ihn mit seinen Draconellen vor der Stadt finde, falls ich dir helfe.« »Nein, Hoheit, davor braucht Ihr keine Angst zu haben. Das versichere ich Euch.« 69 »Wie ehrlich du klingst, Caro.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du sicherst mir Dinge zu, für die du nicht bürgen kannst.« Adrogans trat einen Schritt vor. »Verzeiht mir, Hoheit, aber General Caro spricht die Wahrheit. Helft ihm, und Adrogans wird im nächsten Monat nicht erscheinen und Eure Stadt zerstören. Das schwöre ich Euch.« Ihre dunklen Augen musterten ihn. »Und wer bist du, dass ich dir glauben sollte?« Er nahm die Augenklappe ab. »Markus Adrogans, zu Euren Diensten. Helft uns, und Ihr braucht niemals Angst vor uns zu haben. Weigert Euch, und meine Draconellen werden Eure Stadt noch heute Abend vernichten.« »Oh. Das macht die Angelegenheit etwas schwierig.« Adrogans schüttelte den Kopf. »Ich hätte gedacht, das ist sehr einfach.« »Nein, ganz und gar nicht. Jetzt muss ich mir überlegen, wo ich all eure Leute unterbringe.« »Ah, ja. Ich verstehe, Hoheit. Aber macht Euch deswegen kein zu großes Kopfzerbrechen.« Adrogans lächelte und hörte Ph'fas neben sich kichern. »Schließlich bleiben wir nicht lange.« 70 KAPITEL ACHT Her Pulverdampf des ersten Schusses trieb Ermenbrecht wieder ins Gesicht. Seine Augen tränten, sodass er nichts mehr sah, aber das spielte keine Rolle. Er wusste, der Vierschüsser hatte den heranstürmenden Temeryx verfehlt. Nicht nur war das Tier im letzten Augenblick noch ausgewichen, er hatte es nach dem Donnern der Waffe auch nicht aufkreischen gehört. Blind wie er war, fuhrwerkte der Prinz mit dem Ladehebel und drehte einen neuen Lauf in Position. Sobald der eingerastet war, machte er ihn scharf. Jetzt hatte sich der Qualm weit genug verzogen, um die Frostkralle zu sehen: Deutlich näher, als er erwartet hatte. Außer in einem Albtraum. Schlimmer noch, sein Pferd sah sie auch und raste von Furcht ergriffen davon. Nicht nur, dass diese wilde Flucht das Raubtier erst recht zum Angriff anstachelte, Ermenbrecht konnte einen gezielten Schuss getrost vergessen. Jetzt oder nie! Die Frostkralle sprang. Ihre winzigen Vorderpfoten peitschten durch die Luft. Ihr Kopf hob sich, das Maul klaffte weit auf, zeigte ein scharfes Raubtiergebiss. Die geballte Kraft der mächtigen Hinterbeine entlud sich in einem gewaltigen Sprung. Die rautenförmigen Pupillen öffneten sich. Ein Zischen stieg aus dem gefiederten Hals. Eines der Beine hob sich. Die sichelförmige Kralle neigte sich, bereit, Ross und Reiter zu zerfetzen. Auf dem Scheitelpunkt des Sprungs schoss ein brauner Schemen durch die Luft und riss die Frostkralle mit einem flüsternden Windzug davon. Einen Pulsschlag später verschwand das schneeweiße Biest hinter braunen Schwingen, 71 dann konnte Ermenbrecht es wieder sehen. Die Muskeln des Temeryx erschlafften bereits und weiße Federn trieben zu Boden. Eine rote Schnittwunde zierte seine Kehle und hatte den Kopf beinahe vom Rumpf getrennt. Das tote Tier drehte sich in der Luft und traf das Pferd an der Schulter, immerhin nur seitlich. Die Kralle zuckte im Todeskrampf abwärts, verfing sich jedoch in Ermenbrechts Kettenhemd. Metallringe brachen klirrend auf, doch die Haut blieb unter dem Metall und Leder unverletzt. Das tote Raubtier prallte auf den Boden und schlug um sich, doch ein wilder Satz trug das Pferd aus der Gefahrenzone. Der Prinz stieß den Vierschüsser ins Maul einer Schnatterfratze und drückte ab. Das Mündungsfeuer versengte das Fell und die Bleikugel zertrümmerte den Schädel. Der Aurolane kippte kraftlos zurück. Andere Schnatterer klappten zusammen, als Pfeile sie in Bauch und Brust trafen.
Ermenbrecht hob die Waffe zum Gruß an Preiknosery Eisenschwinge, und der Gyrkymekrieger kreischte antwortend, bevor er die Schwingen anlegte, um auf ein neues Opfer hinabzustoßen. Während andere Gyrkyme leichte Speere und Lanzen benutzten, bevorzugte Preiknosery lange, gekrümmte Messer, mit denen er seine Gegner aufschlitzte. Diese Waffen beherrschen zu lernen, kostete viel Zeit, so hatten die anderen Gyrkyme Ermenbrecht erzählt, und nur die wenigsten Krieger wurden alt genug, Preiknoserys Geschick zu erreichen. Dranaes Draconette bellte und rotes Blut spritzte auf das weiße Feld eines Kryalnirs. Wieder lud der Prinz den Vierschüsser nach, doch bevor er den Lauf scharf machen, zielen und abdrücken konnte, schlugen drei Pfeile in die Brust des Aurolanen. Die letzten Worte des Kryalnirs gingen in einem Blutsturz unter, dann brach er zusammen. Ermenbrecht befehligte die Orioser Prinzengarde, eine schwere Kavallerieeinheit aus Exiloriosen, die ihm Gefolgschaft geschworen hatten, und stieß mit ihnen in ein Tal vor, an dessen beiden Seiten er seine Fußtruppen aufgestellt hatte. Die Einheimischen dieser Gegend hatten sie auf das dicht 72 bewaldete Gebiet als Unterschlupf von Nordlandtruppen hingewiesen, nur hatten sie bei ihren Berichten die Stärke des Gegners stark unterschätzt. Zum Glück hielt sich der Prinz bei der Vorbereitung einer militärischen Operation grundsätzlich an die >CavarrWipfeltanzen< erhielt. Nur bei einem Vorqaelf waren zwei Tanzeinlagen nötig. Doch auch wenn Kjarrigans deutliche Machtbeweise einschüchternd wirkten, spürte er doch die zunehmende Feindseligkeit. Qwcs Verschwinden machte Kjarrigans Aufgabe noch schwerer. Der Sprijt hatte die Gabe gehabt, selbst in der schwierigsten Lage die Stimmung zu heben. Der Marsch nach Norden war eigentlich viel leichter als der Weg nach Loquellyn, da das Gebirge zum Meer hin abfiel und der üppige Regenwald Schatten spendete, ebenso wie Wasser und sogar essbare Blumen sowie erste Samen und Beeren. Trotzdem konnte nichts von alledem dem Murren der Graunebler Einhalt gebieten und an der Küste des Kreszentmeeres kam es schließlich zur Auseinandersetzung. Kjarrigan war bester Hoffnung, als sie eine Bucht erreichten, in der ein aurolanisches Schiff ankerte. Ein schneller Zauber ließ alle an Bord in Schlaf fallen. Der Graue Nebel schwärmte über den Einmaster, tötete die Crew und warf sie dann über Bord. Kjarrigan, Orakel, Bok, Rym, Trawyn und der Schläfer blieben während der Übernahme des Schiffes an Land. Nach dem erfolgreichen Angriff gingen sie ebenfalls an Bord. Ein paar Vorqaelfen holten den Laufsteg ein, andere schlössen die kleine Gruppe ein, während Raubtier vom Ruderdeck auf sie herabschaute. »Es gibt eine Planänderung. Wir segeln nach Süden.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich werde es nicht zulassen.« »Was willst du tun, Kjarrigan? Wirst du das Schiff leckschlagen? Nein, natürlich nicht.« Raubtier stolzierte über ihnen auf und ab. »Ich habe dich ertragen, weil es meinen Plänen entgegenkam, nach Norden zu ziehen. Wären wir nach Süden marschiert, so wären wir in größerer Gefahr gewesen. Aber jetzt haben wir ein Schiff und können mit den Fragmenten nach Yslin. Und du wirst uns nicht daran hindern, denn allein kannst du dieses Schiff nicht segeln.« 137 Kjarrigan starrte ihn an. »Du kannst jetzt nicht umdrehen, Raubtier.« Er deutete nach Norden. »Wir sind schon so nahe an Vorquellyn.« »Zu nahe.« Der Vorqaelf schüttelte den Kopf. »Als ihr das Lakaslin-Fragment nach Loquellyn brachten, haben euch die Loqaelfen nicht erlaubt, es nach Festung Draconis mitzunehmen, weil die Gefahr bestand, dass Kytrin es euch dort stehlen könnte. Und jetzt willst du zwei Fragmente auf eine Insel bringen, die ihr seit mehr als einem Jahrhundert gehört? Das ist doch offensichtlich völlig verrückt. Die Loqaelfen würden es dir nicht gestatten, und ich werde es auch nicht.«
Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Das einzige Ziel, auf das dieses Schiff zusegelt, ist Vorquellyn. Verlass dich darauf.« »Leere Drohungen, Kjarrigan.« Raubtier verschränkte die Arme. »Der einzige Weg, uns an der Übernahme zu hindern, ist, uns umzubringen. Und das tust du nicht. Töten ist nicht deine Berufung.« »Seine vielleicht nicht, aber meine.« Raubtier wirbelte zu dem Sprecher herum. »Du bist tot.« »Nein, ich fühle mich nur so.« Entschlossen erwischte Raubtier mit einer Geraden an der Schläfe. Der Hieb schleuderte den kleineren Vorqeelfen gegen das Steuerrad des Schiffes. Er sank zu Boden, blieb jedoch mit den Armen hängen und dann ohnmächtig in halb sitzender Haltung liegen. Entschlossen schüttelte die Hand aus und rieb sich die Fingerknöchel. Er war völlig durchnässt, nachdem er zum Schiff herausgeschwommen und an der Ruderpinne hochgeklettert war. Nach einem kurzen Moment des Schweigens glitt sein Blick über die Graunebler. »Wir segeln nach Vorquellyn. Bewegung.« »Wartet.« Orakel trat vor. »Bevor wir ablegen, müssen wir Tagostscha Opfer bringen, damit er uns eine sichere Überfahrt gewährt.« Entschlossen nickte. »Ich werf ihm Raubtier zu.« »Opfer, Entschlossen. Nicht etwas, das du sowieso loswerden willst.« Der silberäugige Vorqaelf zuckte die Achseln. »Die Schnat138 terer haben mir außer Syverce kaum etwas gelassen. Ich habe nichts, was ich ihm anbieten kann.« »Aber ich.« Kjarrigan zog den Tornister vom Rücken und wühlte darin herum. Er zog einen schlanken, in Tuch gewickelten Zylinder heraus. Er löste die Schnüre, dann schälte er den Stoff von einem langen, schlanken Kristall mit Goldfassungen an beiden Enden. Die Fassungen waren mit Edelsteinen besetzt. Einige Graunebler keuchten auf, als sie ihn sahen, und Habgier leuchtete ihnen aus den Augen. »Ich werde ihm das hier geben.« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Das ist zu wertvoll.« »Was es um so geeigneter macht. Ich habe dieses Ding von den urSreiöi erhalten, als Dank für meine Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit. Genau das wünschen wir von Tagostscha: Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit, also passt das Opfer.« Den Kristallstab in der ausgestreckten Hand, ging er zum Bug des Schiffes. Tagostscha, der Weirun des Kreszentmeeres, war von allbekannter Unzuverlässigkeit und gelegentlich sogar bösartig. Fischer und Kauffahrer machten ihm regelmäßig Wein oder Gold zum Geschenk, bevor sie zu einer Seereise aufbrachen, in der Hoffnung, ihn gnädig zu stimmen. Selbst die Magiker Vilwans, die Götter eher verachteten, besänftigten Tagostscha mit Geschenken, bevor sie die Insel verließen. Kjarrigan lächelte. »Tagostscha, diesen Schatz habe ich aus den Tiefen Bokaguls hergebracht. Bitte gewähre uns eine sichere Reise.« Er zog dem Arm zurück, dann schleuderte er den Stab hinaus in die Dunkelheit, wo er mit einem lauten Platschen versank. Nach ihm brachten die Graunebler einer nach dem anderen ihre Opfer. Keiner von ihnen besaß etwas von ähnlichem Wert, wie ihn der Kristallstab hatte, aber Münzen, ein paar Ringe, mehrere Messer und ein Dutzend Schnattererfelle versanken in den Wellen. Entschlossen schnitzte einige aelvische Worte auf ein Stück Holz, das er von unter Deck geholt hatte, und warf es in die Nacht. Kjarrigan blickte mit hochgezogener Augenbraue zu ihm auf. »Was hast du ihm angeboten?« 139 »Dutzende von Schnatterern, die ich ihm in die Arme zu treiben gedenke.« Auch Trawyn schrieb auf ein Stück Holz und warf es in die Nacht. »Es liegen Schutzzauber über der Bucht von Rellaence, die ihn zurückhalten. Ich werde sie entfernen lassen.« Qwc, der erst auf das Schiff geflogen war, nachdem Entschlossen Raubtier ausgeschaltet hatte, landete auf dem Masttopp und hob seinen Speer über den Kopf. »Deins. Qwc fertig damit.« Der silberne Speer wirbelte durch die Luft und versank beinahe lautlos im Wasser. Bei weitem das ungewöhnlichste Geschenk bot Orakel dem Weirun an. Sie ließ einen Eimer an einem Seil ins Meer und holte ihn mit Wasser gefüllt zurück. Sie tauchte den Kopf hinein und sprach - oder zumindest nahm Kjarrigan das an, denn es blubberte gewaltig -, dann schüttete sie das Wasser zurück. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab, weigerte sich aber, etwas anderes über ihr Geschenk zu verraten als: »Eine Zukunftsvision, mehr nicht.« Entschlossen schaute kurz aufs Meer hinaus, dann nickte er. »Dann sind wir jetzt wohl bereit. Auf die Ruderbänke.« Die Graunebler gehorchten und setzten sich an die Riemen. Entschlossen, Bok und Kjarrigan holten den Anker ein, während Trawyn über Raubtier stieg und das Ruder nahm. Entschlossen deutete auf einen Stern, der über dem Horizont funkelte. »Haltet auf Plenariath zu, dann sind wir bald genug zu Hause.« 140 KAPITEL FÜNFZEHN Ich habe nicht mehr geglaubt, dich je wiederzusehen.« Sayce sagte es kaum lauter als mit einem Flüstern, aber die Bemerkung traf Isaura wie ein Dolch ins Herz. Sie hatte sich keine zwei Wochen zuvor zum ersten Mal mit
der Südländerin unterhalten, und Isaura hatte ihr jeden Tag das Essen gebracht. Sie hatten ein wenig geredet und Sayce war allmählich mutiger und sogar aufdringlich geworden. Das war eine ganz neue Erfahrung für Isaura, und es hatte ihr gefallen. Dann, vor knapp einer halben Woche, hatte ihre Mutter plötzlich einen furchtbaren Wutanfall bekommen. Isaura hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Ferxigo hatte sie aufgefordert, sich der Imperatrix ständig zur Verfügung zu halten, während die Sullanciri nach Süden aufbrach, um Aurolans Verteidigung zu befehligen. Weiter erfuhr Isaura nichts, aber ein Rückschlag im Süden war die einzig denkbare Erklärung. Ihre Mutter war nicht annähernd so wütend gewesen, als Okrannel verloren ging, also handelte es sich hier mit Sicherheit um eine unerwartete Wendung. Isaura hatte Sayce nicht mehr besuchen können. Hlucri hatte dafür gesorgt, dass die Murosonin ihr Essen bekam und genug Decken hatte, um sich warm zu halten, aber in den letzten sechs Tagen waren Sayces Ketten nicht gelöst worden und sie hatte ihre Zelle auch nicht mehr verlassen dürfen, nicht einmal gefesselt. Isaura legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fühlte, wie die Frau unter dem Reifreißermantel zitterte. »Ich wollte eher kommen, aber meine Mutter hat mich gebraucht.« Sayce sprach leise, während sie neben Isaura durch die 141 Gänge der Burg wanderte. »Es ist etwas geschehen, nicht wahr?« Isaura nickte. Sie hatte sich die Sache aus dem Gemurmel ihrer Mutter, von dem sie in jüngster Zeit viel zu viel hörte, zusammengereimt. Kytrin verbrachte die meiste Zeit in den obersten Geschossen des Palasts, wo sie an Zaubern arbeitete, oder tief in den Eingeweiden der Erde, wo sie die Oromisen besuchte. Isaura hatte sie auf einem dieser Besuche begleitet und Stunden damit zugebracht, ihrer Mutter im Arkanorium zuzuhören. Weder das Erstere noch das Letztere hatten zu ihrem Wohlbefinden beigetragen, und beides hatte Zweifel an der geistigen Gesundheit ihrer Mutter geweckt. Isaura war klar, dass sie Sayce besser nichts über den Krieg erzählte, und ganz besonders nichts, was auf die Schwierigkeiten der Aurolanen hindeutete. Es wäre grausam gewesen, der Frau falsche Hoffnungen zu machen. Ein zeitweiliger Rückschlag konnte den Siegeszug ihrer Mutter nicht ernsthaft gefährden. Am Ausgang des Krieges hatte Isaura keinen Zweifel, doch sie brachte es nicht über sich, Sayce die Hoffnung auf ein anderes Ende zu nehmen, erst recht jetzt nicht, wo sich die Prinzessin ohnehin schon einsam und verlassen fühlte. So ähnlich wie ich. Isaura senkte die Stimme, obwohl sie wusste, dass Hlucri sie trotz des Höflichkeitsabstands hören würde. »Eine Sullanciri meiner Mutter ist gefallen. Ungefähr zur selben Zeit ist das Heer einer anderen in Saporitia aufgerieben worden. Es musste sich zurückziehen und wird zu Nefrai-keshs Truppen in Muroso stoßen.« Sayce erstarrte bei der Erwähnung ihrer Heimat. »Es tut mir Leid.« »Das tut es eigentlich nicht, Isaura, das weiß ich. Es ist schon gut.« Die kleinere Frau wandte den Kopf und lächelte Isaura aus der Pelzkapuze dünn an. »Ich würde dir gern antworten, dass mir der Verlust einer Sullanciri für deine Mutter Leid tut, 142 aber das wäre gelogen. War die Dunkle Lanzenreiterin eine Freundin von dir?« Was war sie für mich? Myral'mara hatte sich immer abgesondert, noch mehr als die anderen Sullanciri, vielleicht mit Ausnahme der untoten. Die pflegten überhaupt keine Gespräche oder geistreiche Mitteilungen. Doch Myral'mara war in Isauras Gegenwart immer melancholisch gewesen und ihr - so weit irgend möglich - aus dem Weg gegangen. Isaura hatte dieses Verhalten erwidert, und obwohl sie erwartet hätte, der Sullanciri damit einen Gefallen zu tun, schien sie Myral'maras Schmerz so nicht zu lindern, sondern noch zu steigern. »Ich kannte Myral'mara, doch nicht sehr gut. Mit Ausnahme Hlucris ist keiner der Sullanciri meiner Mutter das, was du als freundlich bezeichnen würdest. Nefrai-kesh ist immer nett zu mir und bringt mir Geschenke.« Isaura zog einen Handschuh aus und zeigte ihr den Saphirring, den er aus Oriosa mitgebracht hatte. »Den habe ich von ihm bekommen. Er sagte, die Königin von Oriosa wollte, dass ich ihn bekäme.« Sayce schüttelte sich. »Du weißt, dass er sie umgebracht hat?« »Umgebracht?« »Er hat ihr den Kopf von den Schultern gedreht und ihn ihrem Sohn Swindger in die Hände gelegt.« Die Murosonin deutete mit einer Kopfbewegung auf den Ring. »Den muss er ihrem Leichnam abgenommen haben, um ihn dir zu schenken. Aber vorher hat er ihn gesäubert.« Isaura starrte den Ring an und sah einen winzigen Blutfleck. Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, fühlte sie beinahe, wie unter dem Stein Blut hervorfloss und ihre Hand mit einem warmen, klebrigen Film überzog. Das kann nicht sein. Oder doch? »Du musst dich irren. Er hat ganz klar gesagt, dass sie es so wollte.« Sayce seufzte. »Du überraschst mich.« »Wie das?« »Du bist Kytrins Erbin. Du befehligst hier so viele Untergebene und trotzdem bist du erstaunlich einfältig. Warum sollte 143 sie dir den Ring zum Geschenk machen, wenn niemand auch nur etwas von deiner Existenz ahnt? Hätte
irgendjemand gewusst, dass Kytrin eine Erbin hat und dass Geschenke dein Wohlwollen kaufen könnten, hättest du hier einen Karawanenstau, weil dich alle mit Reichtümern überhäufen wollten, wie sie kein Auge je geschaut hat. Und warum sollte er sie ermorden, wenn sie dir doch den Ring angeboten hat?« »Woher weißt du, dass er das getan hat?« »Es gab Zeugen, und er ist ein Sullanciri. Beides reicht als Erklärung aus.« Die tonlose Endgültigkeit dieser Antwort ließ Isaura einen Schauder den Rücken hinabgleiten. Sie betrachtete den Ring noch eingehender und überlegte, ob sie einen Zauber sprechen sollte, um festzustellen, ob der Tod der Königin Spuren an dem Ring hinterlassen hatte. Sie hätte ihn einsetzen und ein für alle Mal herausfinden können, ob Sayce die Wahrheit sprach, aber sie wusste bereits, welches Ergebnis der Zauber haben würde. Hastig zog sie den blutbesudelten Ring vom Finger und warf ihn zurück zu Hlucri. Der Sullanciri fing ihn auf, schnupperte daran und ließ ihn von einer Kralle baumeln. »Wenn wir draußen sind, wirf ihn fort, so weit du kannst.« Hlucri nickte stumm. »Wir gehen hinaus?« »Ja. Hlucri kannst du nicht entkommen.« Isaura bog links ab und ging schnellen Schritts auf eine Tür zu, die zum Eisgarten führte. Als Neskartu noch Schüler aus dem Süden in die Geheimnisse der aurolanischen Magik eingeführt hatte, waren sie regelmäßig in den Garten gekommen und hatten ihr Können verfeinert, indem sie aus einem verzauberten Eissamen wundervolle Kunstwerke wachsen ließen. Jetzt war Neskartu tot - und die meisten seiner Schüler ebenfalls. Die Überlebenden standen im Süden im Kampf. Ohne Isauras Bemühungen und Droldas sorgfältige Pflege wäre der Garten bereits untergegangen. Sayce keuchte auf, als sie den Garten sah. Pflanzen - kom144 plett mit Blüten - und Kreaturen von unfassbarer Zartgliedrigkeit waren aus dem Eis entstanden. Gläserne Bäume trugen Laub, das sich in magischem Wind bewegte, und Vögel hatten Gefieder aus einzeln geformten Federn. Ängstliche Kaninchen schauten unter Eisbüschen hervor und Eisblumen drehten ihre kristallenen Kelche der Sonne entgegen. Sie brauchten sich in einem so nördlichen Gefilde nicht weit zu bewegen. »Isaura, das ist wundervoll.« Sayce streckte eine behandschuhte Hand nach einer Blume aus, berührte sie aber nicht. »Ich möchte nichts zerstören.« Isaura packte die Blume, nach der die Prinzessin gegriffen hatte, und brach sie ab, um sie ihr zu reichen. »Du siehst, es gibt Schönheit - hier in meinem Land.« Sayce nahm die angebotene Blume und nickte langsam. »Das habe ich nie bezweifelt.« »Du hasst Aurolan.« »Nein, das tue ich nicht. Ich hasse, was Aurolan meiner Heimat antut. Ich weiß, dass deine Mutter dafür verantwortlich ist. Ich kann verstehen, dass man ihr folgt. Das bedeutet nicht, dass ich nicht gleichzeitig glauben kann, hier gäbe es Schönheit.« Sayce hob die Blume ans Gesicht und schnupperte. »Du hast mir die Schönheit von Aurolan gezeigt.« Isaura runzelte die Stirn. »Das ist nur ein kleiner Teil von ihr.« Die Murosonin schüttelte den Kopf. »Nicht das. Nicht die Landschaft. Die wahre Schönheit. Isaura, du hättest mich in den Verliesen verhungern lassen können. Du hättest mir kein Essen bringen müssen. Du hättest dich nicht mit mir anfreunden müssen. Das hast du getan, weil dich etwas in dir dazu veranlasst hat. Kytrin mag auf die eine oder andere Weise deine Mutter sein, aber du hast nicht ihr Herz. Du hast ein liebendes Herz, ein gutes Herz. Du wärest überall willkommen, überall geachtet und überall geliebt.« Die rothaarige Prinzessin hob den Kopf. »Warst du je verliebt?« Isaura schüttelte schnell den Kopf. »Nein.« »O Isaura.« Sayce ließ die Blume sinken und wanderte tiefer 145 in den Garten. »Ich schon. Es ist wundervoll. Ich war verliebt ... ich liebe Will Norderstett.« »Warum?« »Warum?« Sayce kicherte. »Schwer zu sagen. Er war gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich bin aufgewachsen mit der Norderstett-Prophezeiung und erwartete einen Hünen von einem Mann mit Muskelbergen, der einen Hörgun übers Knie brechen könnte. Das habe ich erwartet, als ich ihm begegnet bin, aber... Na, du hast ihn ja gesehen, als du ihn heiltest.« »Er war ganz und gar nicht so, wie du ihn beschrieben hast.« »Nein, das war er nicht. Ich glaube, dadurch hat er sich in mein Herz geschlichen, dieser schmächtige Dieb. Aber er konnte sanft und freundlich sein. Er hat mich zum Lachen gebracht. Er hat mich daran erinnert, dass auch Könige und Prinzen, Fürsten und hohe Damen nur Menschen sind, und nicht immer gute. Er war von einem Edelmut, etwas seltsam, aber trotzdem edel, wie man es bei geborenen Adligen selten findet.« Sayces Augen leuchteten. »Du hättest ihn mit den Freischärlern sehen sollen, Isaura. Männer Oriosas, die gekommen waren, ihm die Gefolgschaft zu schwören. Sie haben sich angeboten, für seinen Schutz und seine Sache ihr Leben zu geben. Er hat sie angenommen und erkannt, dass er von da an verantwortlich für sie war. Er hat sie belohnt und ermutigt. Er hat jedem Einzelnen von ihnen das Gefühl gegeben, dass sein eigenes Leben noch wertvoller war als das von Will, und dass sie ein fester Teil der Norderstett-Prophezeiung waren.«
Isaura lauschte dem, was Sayce sagte, doch mehr noch als auf die Worte achtete sie auf den Ton. Will Norderstett war tot, aber wenn die Prinzessin von ihm sprach, war Sayce glücklich. Die Erinnerung erfüllte sie mit Stolz. So wie Will Norderstett den Freischärlern etwas von sich mitgegeben hatte, hatte er sichtlich auch Sayce von sich gegeben. Ihre Liebe zu ihm schenkte ihr Kraft über seinen Tod hinaus. Dieses Gefühl war ihr ganz und gar fremd. Sie hatte andere Gefühle von ähnlicher Stärke erlebt, aber woran sie sich am 146 ehesten erinnerte, war Angst. Angst vor dem Zorn ihrer Mutter. Angst vor den Oromisen. Beides war sehr stark, und es gab kein gutartiges Gegengewicht dazu. Selbst die Freundlichkeit, die Nefrai-kesh ihr gezeigt hatte, verschwand aus ihren Gedanken, als Hlucri den Ring fortwarf. Das Schmuckstück verschwand, und mit ihm auch Isauras Gleichmut. Aurolan war ihr immer als der Ort erschienen, an den sie gehörte, doch das lag nur daran, dass sie nie einen anderen gekannt hatte. Es war vertraut, passte aber nicht mehr so nahtlos zu ihrem Leben wie früher. Sie war dann im Süden gewesen. Sie hatte in ihrer Mutter Namen Furchtbares geschehen sehen. Sie hatte einmal geglaubt, ihre Mutter zu Änderungen bewegen zu können, Kytrin wand sich jedoch so unterwürfig vor den Oromisen im Staub, dass sich Isaura ernsthaft fragte, ob ihre Mutter jemals von sich aus gehandelt hatte oder schon immer nur eine Sklavin dieser tief unter der Erde versteckten Kreaturen gewesen war. Isaura fasste Sayce an den Schultern und drehte die kleinere Frau aus dem Süden herum, um ihr ins Gesicht zu blicken. »Ich muss dich etwas fragen. Belüge mich nicht.« »Das würde ich niemals tun.« »Doch, das würdest du. Du betrachtest es als deine Pflicht. Du willst für dich und dein Kind von hier fliehen.« Sayce nickte. »Ich würde lügen, ja, aber nicht jetzt, nicht hier und jetzt dir gegenüber.« »Ist Liebe der Grund, warum man im Süden lacht?« Die Murosonin lächelte und strich Isaura mit dem Handrücken über die Wange. »Ach, die Liebe kann dich lachen machen, und sie kann dich zum Weinen bringen, und wütend machen, begeistert, leise und laut, ernst und fröhlich. Liebe ist zu fast allem fähig.« »Kennen alle im Süden die Liebe?« »Nein, Isaura, nicht alle.« Sayces Stimme wurde sanft. »Aber alle suchen nach ihr. Wir schreiben Lieder und Gedichte über sie, Theaterstücke und Bücher. Wir schmieden große Pläne, um die Aufmerksamkeit derer zu erregen, die uns gefal147 len. Wir arrangieren Geselligkeiten, Feste und Feiertage - alles als Entschuldigung dafür, Zeit mit denen zu verbringen, die wir lieben. Aber vor allem teilen wir unser Leben mit dem einen, ganz besonderen Jemand, wenn wir ihn gefunden haben. Wir bauen eine Zukunft auf und füllen sie mit Kindern und mit noch mehr Liebe.« Isaura presste die Lippen aufeinander. Eine Träne sammelte sich im linken Auge und brannte sich eine Spur die Wange hinab. »Isaura, was ist?« Kytrins Tochter schluckte mühsam. »Ich liebe meine Mutter. Ich liebe Aurolan. Aber niemand liebt mich.« »Es gibt bestimmt jemanden, der dich liebt, Isaura. Das weiß ich.« »Ich weiß es auch.« Isaura nahm die Schultern zurück und atmete langsam aus. »Und dieser jemand lebt ihm Süden. Das weiß ich sicher. Sayce, es wird Zeit, dass wir aufbrechen und ihn finden.« 148 KAPITEL SECHZEHN Im langsam heller werdenden Morgenlicht machte das Schlachtfeld einen anderen Eindruck als am Abend. Am Tag zuvor, als die Nacht hereinbrach, hatten noch Soldaten hier gestanden und Banner trotzig geweht. Schwerter hatten geklirrt, Trommeln gedonnert und Verletzte endlos geschrien. Die Geräuschkulisse war geblieben, als die blutige Szenerie von der Nacht eingehüllt wurde und die Kämpfe sich zurück in Richtung Merysval verlagerten. Erst jetzt sah Alyx, was zurückgeblieben war. Die Schlacht selbst war beinahe zu leicht gewesen. Sehr ähnlich dem, was sie ihrer Großtante als Traum erzählt hatte. Tyhtsai war nach Muroso zurückgewichen und hatte die Truppen um das Dorf Merysval aufgestellt, dann war sie zum Kampf in brach liegende Felder vorgerückt. Die Aurolanen hatten sich auf einem Hang aufgebaut, doch waren sie nur noch knapp viertausend Mann stark gewesen, mit nicht mehr als neunhundert Reitern. Die Felder um Merysval waren bestmögliches Gelände für Kavallerie, und sobald die aurolanischen Frostkrallen aus dem Weg waren, konnte Alyx den Rest der Armee auseinander nehmen. Die Parteien trafen in einer offenen Feldschlacht aufeinander. Infanterie traf auf Infanterie und die Kavallerie preschte außen entlang, um die Linien aufzurollen. Die Aleider Eisenreiter drängten tatsächlich den rechten Flügel der Aurolanen zurück, also befahl Tyhtsai den Rückzug zum Dorf. Alyx' gesamte Armee schwenkte den linken Flügel und das Zentrum vorwärts, konnte die Aurolanen jedoch nicht mehr einkesseln, bevor sie die Häuser erreichten. Aber sie schloss das Dorf ein. Niemand konnte Merysval mehr verlassen. 149 Und niemand hatte das Dorf verlassen, mit Ausnahme einer Reiterlegion, die sich um Tyhtsai scharte. Knapp die Hälfte der Temeryxreiter brach durch den Kavalleriekordon und floh nach Nordosten, die Zamsinastraße hinab.
Alyx hätte vorgezogen, wenn die Sullanciri hier gefallen wäre, aber ihre Flucht bedeutete den noch schnelleren Zusammenbruch der zurückgebliebenen Streitmacht. Nicht, dass deren Vernichtung je in Zweifel gestanden hätte. Die Straßenkämpfe waren vom Feuerschein der brennenden Häuser erhellt worden. Alyx' Truppen hatten das erste Feuer nicht gelegt, und als die größeren Gebäude aufloderten, verband sich der Gestank von Öl und verbrennendem Fleisch zu einem schwarzen Nebel, der durch die Straßen trieb. Alyx hatte keine Hilferufe aus den Häusern gehört, einige Soldaten aber schon. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich geirrt hatten. Die Aurolanen versteckten sich, wo immer sie eine Möglichkeit dazu fanden, und zwangen Alyx' Leute, sich von einem Haus zum nächsten vorzuarbeiten. Die Kämpfe auf so beengtem Raum überließ sie der Ysliner Garde und der Jeranischen Palastwache. Sobald sie die Straßenzüge Merysvals gesäubert hatten, rückten leichtere Fußtruppen nach, um das eroberte Gelände zu sichern. Arimtara kämpfte zusammen mit der Ysliner Garde und zeigte sich als erstaunliche Kriegerin. Sie roch Hinterhalte und tötete die Angreifer, noch bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Sie stürzte sich - bloß mit den krallenbewehrten Händen bewaffnet - in ein Gebäude und kehrte kurz darauf blutbesudelt zurück, bereit für die nächste Auseinandersetzung. Von den Draconettieren wurden die Truppen des Südens am schwersten getroffen. Sie zogen sich in Häuser zurück, von denen aus sie breite Straßenzüge im Auge behalten und sich nähernde Soldaten beschießen konnten. Weil sie immer bis zum letzten Augenblick warteten, fällten ihre Salven jedes Mal sechs, sieben Mann, und danach feuerten sie auf 150 jeden, der versuchte, den am Boden liegenden Kameraden zu Hilfe zu kommen. Ein Dutzend von ihnen konnte eine ganze Legion binden. Ihr Pech war, dass Perrine oder andere Gyrkyme die Häuser, in denen sie sich versteckt hielten, mit einem Flammhahn in Brand setzen konnten, sobald sie entdeckt waren. Wie die Brandsätze, die vor Fronosa gegen die Aurolanen zum Einsatz gekommen waren, explodierten auch diese mit Öl gefüllten Tonbehälter als flüssiger Feuerregen, wenn die Gyrkyme sie fallen ließen. Sobald ein Draconettiernest brannte, konnten die Soldaten auf der Straße die flüchtenden Feinde zur Strecke bringen, falls sie nicht schon im Gebäude starben. Es hatte fast bis zum Morgen gedauert, den Ort zu säubern. Alyx' Augen brannten vor Müdigkeit und Qualm. Jetzt ritt sie langsam von Merysval zurück ins Heerlager und kam an müden, blutbefleckten Soldaten vorbei, die in dieselbe Richtung zogen. Hinter ihnen lag das Schlachtfeld. Sie wollte nicht hinsehen, aber sie musste es tun, denn dieses Feld zeigte, wie sie die Schlacht gestaltet hatte. Dass weit mehr aurolanische Tote zu sehen waren als Südlandtruppen, war auf jeden Fall ein gutes Zeichen. In kleinen Senken und auf Bodenwellen über der ganzen Ebene türmten sich tote Kreaturen. Ein kleiner Hügel erhob sich um eine aurolanische Standarte, die schief an den Toten lehnte. Alyx sah vor sich, wie die Schnatterer versucht hatten, sie wieder aufzurichten, und ihre Leute sich auf sie gestürzt hatten, in einem tödlichen Hin und Her, wo sich die Opfer am Ende um einen zerbrochen Stock türmten. Die weiß bepelzten Kryalniri waren leicht auszumachen. Die meisten schienen aus der Entfernung von Pfeilen getötet worden zu sein, nur eine Minderheit war durch Magik oder alltäglichere Nahkampfangriffe gestorben. Aber alle Kadaver waren geköpft. Die Kryalniri hatten sich in der Vergangenheit als ausgesprochen zäh erwiesen, und unter den Soldaten hatte sich das Gerücht verbreitet, dass man sie nicht richtig töten konnte. Und so hatten sich die Männer angewöhnt, ihnen sys151 tematisch den Kopf abzuschlagen. Die Köpfe wurden später an einer Wegkreuzung vergraben und die kopflosen Kadaver verbrannt. Der Rest der Aurolanen blieb zum größten Teil für Aasvögel und verwilderte Hunde liegen. Auf der Nase eines Horgun hatten sich bereits Geier versammelt und hackten nach Augen und Lippen. Sie beobachtete die Vögel, fasziniert und abgestoßen zugleich, und fragte sich, ob sie die Knochen des Frostriesen auf dem Rückweg nach Saporitia abgenagt und von der Sonne gebleicht hier wieder finden würde. Soldaten wanderten über das Schlachtfeld und suchten nach Überlebenden, brachten verletzten Kameraden Wasser und töteten verwundete Feinde. Sie töteten die Aurolanen nicht aus Leidenschaft, sondern nur, um sie endgültig los zu sein und zum Schweigen zu bringen. Alle wussten, dass sie den Südländern im umgekehrten Fall keine Gnade gewährt hätten, also zeigte man auch ihnen keine. Andere Männer und Frauen zogen über das Schlachtfeld und durchsuchten die Toten nach Wertsachen. Es waren keine Merysvaler, sondern Marketender aus Bacirro. Die Soldaten verscheuchten sie aus der Nähe der eigenen Kameraden, aber viele der Söldnerkompanien besaßen kein solches Gefühl der Verbundenheit. In der Hoffnung auf eine Belohnung machten die Marketender ihrerseits die Soldaten auf alle Überlebenden, die sie fanden, aufmerksam. Kräh kam aus Merysval geritten und zügelte das Pferd, als er auf ihrer Höhe war. Sein Gesicht war schmutzig vom Qualm und eine Wange schien blutig. Der Silberholzbogen ragte aus dem Sattelköcher, der dazugehörige Pfeilköcher jedoch war leer. Sein Schwert Alarien war in der Dunkelheit nur begrenzt zum Einsatz gekommen. »Dein anfänglicher Verdacht scheint sich bewahrheitet zu haben«, sagte er. »In den angezündeten Häusern waren viele Menschen eingeschlossen. Im Nordosten, in einer Senke, in die sie ihre Abfälle geworfen haben,
liegen noch weit mehr Leichen.« 152 Alyx nickte matt. »Irgendein Hinweis darauf, ob sie noch am Leben waren, als das Feuer gelegt wurde?« Er schüttelte den Kopf. »Wohl nicht. Die Knochen in der Abfallgrube sind angenagt. In einigen der größeren Häuser hingen Suppenkessel über dem Feuer und Fleischstücke lagen in den Öfen. Es besteht kaum ein Zweifel darüber, was aus den Einwohnern von Merysval wurde.« »Wir haben auf dem ganzen Weg die Überreste aufgefressener Flüchtlinge gefunden. Warum sollte es den Merysvalern anders ergangen sein?« »Wir mussten zumindest darauf hoffen, oder?« »Mehr bleibt uns nicht.« Alyx' Magen verkrampfte sich. Die Aurolanen ernährten sich von dem, was das Land bot. Sie wusste nicht, ob sie eine Schwäche für Menschenfleisch hatten oder es nur verspeisten, nachdem Pferde, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine ausgegangen waren. Und Katzen, was das betraf. Hunde schienen sie allerdings nicht zu essen. Möglicherweise fühlten sich Schnatterer Hunden enger verwandt als Menschen. Es war unmöglich gewesen, vor den Soldaten geheim zu halten, dass ihre Gegner Menschenfresser waren, aber sie hatten es sehr unterschiedlich aufgenommen. Die Aleiden taten entsprechend ihrer Tradition der Ahnenverehrung alles, um ihre Toten so schnell wie möglich vom Schlachtfeld zu holen und begruben sie gut genug, um sie vor Aasfressern zu schützen. Andere, darunter einige der nybalesischen Söldner, zahlten es ihnen heim, indem sie Schnatterer oder Vylaen rösteten. Sie boten das Fleisch jedem an, der vorbeikam, aber nur die wenigsten wollten es auch. Viele andere nahmen tote Frostkrallen aus und verspeisten sie, aber die häufigste Reaktion war, sicherzugehen, dass man die Überreste der Verspeisten verbrannte, in der Hoffnung, die Flammen würden sie von der Besudelung durch die Aurolanen reinigen. Allein der Gedanke, gefressen zu werden, ließ Alyx frösteln. Es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen den Möglichkeiten, im Kampf gebissen oder leibhaftig verschlungen zu 153 werden. Beißen im Kampf verstand sie. Es war ein verzweifelter und zugleich mutiger Akt, ein wilder, persönlicher Angriff. Den Feind zu fressen jedoch schien noch persönlicher und gleichzeitig respektlos. Sie hatte nybalesische Schamanen davon reden hören, wie sie sich die Essenz des Feindes einverleibten, doch diese Vorstellung war ihr zuwider. In ihren Augen war es die schlimmste Beleidigung: Nachdem man den Gegner getötet hatte, wurde er zwischen den eigenen Zähnen zermalmt und schließlich blieb nur ein stinkender Kothaufen. An ihrem Zelt angekommen saß Alyx ab und warf die Zügel einem Knappen zu. Der Mann übernahm auch Krähs Pferd und führte beide Tiere fort. Am Zelteingang nahmen Wache stehende Krieger Haltung an. Sie grüßte kurz, dann trat sie ein. Hinter Kräh fiel die Zeltklappe herab, und es dauerte einen Moment, bis sich Alyx' Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Sie zuckte zusammen. In der hinteren linken Ecke schien Maroth aus den Schatten Gestalt anzunehmen. Er stand reglos und völlig leblos einfach nur da. Kräh legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, wie er das macht.« Alyx verzog das Gesicht. »Ich auch nicht, aber ich will mich nicht beschweren.« Maroth hatte sie eigentlich nicht von Fronosa bis hierher begleitet. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er in der Ecke des Zimmers gestanden, in dem er auf Befehl ihres Vaters erschienen war. Seine Brust hatte sich wieder geschlossen und der Kratzer, den Myral'mara verursacht hatte, war verschwunden. Alyx hatte Wachen vor dem Zimmer aufgestellt und Befehl gegeben, niemand solle ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis eingelassen werden. Doch noch am selben Abend, als sie auf dem Marsch ihr Zelt aufgestellt hatten, hatte Maroth in seiner Ecke gestanden. So war es die ganze Zeit gewesen, und als sie während der Kämpfe Merysval betreten hatte, war er auch dort in den Schatten gegenwärtig gewesen. Maroth hatte einen Kryalnir getötet, bevor dieser einen Zauber gegen sie wirken konnte, und einen Draconettenschuss in die Brust abgefangen. Sie war nicht 154 sicher, wie viele andere aurolanische Kreaturen er getötet hatte, aber die unter Meuchelmördern verbreitete Neigung, sich im Schatten zu halten, erschien in seiner Gegenwart als ein deutlicher Nachteil. Alyx drehte sich um und zog Kräh wild an sich. Dann trat sie zurück und löste den Schwertgurt. »War die Schlacht zu leicht?« »Ein Spötter würde jetzt antworten: nicht für die Aurolanen. Sie haben mehr als drei Regimenter verloren.« Kräh legte ebenfalls den Schwertgurt ab, dann zog er Dolche aus den Stiefelschäften. »Du vermutest, Kytrin hat diese Schlacht dirigiert, und diese Niederlage, so wie sie den Verlust Okrannels orchestriert hat. Sie will uns leichtsinnig machen und dich verführen zu glauben, dass sich alles genauso entwickeln wird wie in deinen Träumen.« »Genau, in den Träumen, die ich nie hatte.« »Möglicherweise hat sie das beabsichtigt, aber in deinem >Traum< kamen keine Straßenkämpfe vor, oder?« Alyx schüttelte den Kopf. Sie schüttelte das Kettenhemd über den Kopf, das klirrend vor ihren Füße zu Boden fiel. »Nein, in meinem Traum haben wir den Ort befreit und die Einwohner waren begeistert. Das ist mehr so ein Sieg, wie ihn Adrogans aus Swojin gemeldet hat.« »Derselbe Gedanke ist mir auch gekommen. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass Nefrai-kesh den Befehl über
die Verteidigung übernommen hat und uns ein Zeichen schickt. Möglicherweise wollte er uns wissen lassen, dass es, ganz gleich, wie schlimm es bisher war, von jetzt an noch schlimmer wird.« Alyx dachte eine Weile darüber nach, dann schnitt sie eine Grimasse. »Ich werde nicht schlau aus ihm. Deine Memoiren lassen an Baron Norderstetts taktischer Brillanz keinen Zweifel. Drei Regimenter einfach preiszugeben, ist dumm.« »Das stimmt, und es kann nur bedeuten, dass neue Truppen im Anmarsch sind. Das würde zu deiner Vermutung passen, Kytrin benutze deine Träume gegen dich, um dir irgendwann aufzulauern.« 155 Sie zog die rechte Augenbraue hoch. »Aber falls wir das weiterdenken, hätte er uns keinen Hinweis darauf geben dürfen, dass er zusätzliche Truppen erwartet. Und er hätte nicht von den Vorgaben des Traums abweichen dürfen, denn jetzt bin ich gewarnt, dass nicht alles so kommen wird wie vorhergesagt. Also werde ich auf der Hut sein.« Kräh nickte. »Aber Nefrai-kesh würde wissen, dass du seine Nachricht richtig verstehst, also muss er etwas anderes im Sinn haben.« Alyx lachte, setzte sich auf eine Truhe und zog die Stiefel aus. »Es ist mir gleich, was er tut, solange nur ein Schatten auf ihn fällt, wenn wir uns endlich begegnen. Maroth kann ihn erledigen.« Krähs Miene wurde hart. »Nein. Nefrai-kesh gehört mir.« »Liebster, du brauchst mir nichts zu beweisen.« »Es geht nicht darum, irgendetwas zu beweisen. Ich schulde es dem Mann, der er einmal gewesen ist. Ich werde mich nicht zu Dummheiten hinreißen lassen, aber ich weiß, dass es so kommen wird. Es muss so kommen. Ich habe ihn nicht getötet, als er mich darum bat, also werde ich es jetzt tun, da er es auf keinen Fall will.« Alyx nickte ernst. »Diese Gelegenheit werde ich dir nicht nehmen. Wann, glaubst du, werden wir ihm gegenüberstehen?« Kräh runzelte die Stirn. »In der nächsten Schlacht töten wir Tyhtsai. In der danach.« »Das ist die letzte Schlacht meiner Träume.« »Natürlich.« Kräh legte die Linke auf Alariens Heft. »In einem Monat könnte das alles vorbei sein.« 156 KAPITEL SIEBZEHN Einschlossen zog beim Betreten der aurolanischen Schiffskabine den Kopf ein. Die Decke war zu niedrig, um sich ganz aufzurichten, und der Gestank überlagerte innerhalb von Augenblicken den Geruch von Salz und nassem Leder, der ihm in der Kleidung hing. Die Kabine schien zu winzig, einen verwesenden Schnatterer zu verbergen, aber seine Nase sagte ihm, dass hier einer zerstückelt und in sämtlichen Ecken und Winkeln versteckt worden war. Kjarrigan schaute von einem Hocker am Fußende der Koje auf. Er hatte die kleine Truhe dort mit sauberen Tüchern ausgelegt und ein kleines Bett für Qwc zurechtgemacht. Der Sprijt hatte sich darauf ausgestreckt und mit einem Schal zugedeckt. »Wie geht es ihm, Kjarrigan?« Der junge Magiker schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Diagnosezauber gesprochen, um zu sehen, ob er verletzt ist. Ich kenne mich mit dem Sprijsakörperbau nicht richtig aus, aber ich würde sagen, er ist unverletzt. Doch er hat nichts gesagt, kein Wort. Was ist geschehen?« Entschlossen stützte sich an einen Querbalken. »Die Aurolanen hatten mich gefangen. Qwc hat mich gerettet.« »Er hat dich in Sicherheit geführt?« »Nein, er hat mich befreit.« Der Vorqeelf nickte hinunter zu dem schlafenden Sprijt. »Er hat seinen Speer hervorragend eingesetzt. Tagostscha sollte ihn hoch einschätzen.« Kjarrigan blinzelte. »Qwc hat jemanden getötet?« »Viele Jemande. Alle.« Der Magiker schaute zu Qwc hinab, dann zog er den Schal etwas höher und stopfte ihn an den Seiten behutsam unter den Schlafenden. »Keine Sorge, Qwc. Du wirst schon wieder.« 157 Entschlossen beobachtete, wie sanft Kjarrigan mit dem Sprijt umging, und spürte, wie ein Lächeln auf sein Gesicht trat. Er hatte auf der Reise zum Meer sein Bestes getan, für Qwc zu sorgen, aber sie hatten sich beeilen müssen. Qwc hatte möglicherweise den Drang verspürt, über das Erlebte zu reden, und es hätte ihm vielleicht geholfen, doch sie hatten ruhig sein müssen. So hatte der Sprijt stattdessen immer mehr geschlafen, und Entschlossen hatte eine Trageschlinge für ihn gebunden und ihn wie ein Kind eine Puppe mitgenommen. Kjarrigan stand auf, dann runzelte er die Stirn. »Warum setzt du dich nicht? Das ist eine böse Wunde da am Kopf.« »Nicht der Rede wert.« »Entschlossen, sie ist offen und sie nässt. Ich kümmere mich darum. Bitte!« Der Vorqaelf nickte und setzte sich auf Kjarrigans Platz. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Gestalt in der Koje. »Wer ist das?« Kjarrigan zuckte die Achseln, während er die Kopfwunde abtastete. »Das ist der /Elf, der die Fragmente hatte. Orakel sagt, er ist der letzte erwachsene Vorqaelf auf der Welt. Trawyn sagt, er ist ein Traumschwinge-Esser. Sie
meinte auch, bis er eine Weile frei von Traumschwinge ist, ist er eine Gefahr für seine ganze Umgebung. Deshalb habe ich den Zauber auf ihn gelegt, den Kytrin gegen mich eingesetzt hat. Natürlich habe ich ihn etwas verändert. Sobald er bei Verstand ist, kann er sich befreien.« »Das war eine gute Vorsichtsmaßnahme.« Entschlossen zuckte zusammen, als ein Stück Kruste aufbrach. »Raubtier auf dem Ruderdeck. Das war nicht das erste Mal, dass er umkehren wollte, habe ich Recht?« »Allerdings nicht.« »Du hast es ihm ausgeredet?« »Mir blieb nichts anderes übrig.« Im Widerschein des Zaubers, den der Knabe sprach, konnte Entschlossen Kjarrigans Gesichtsausdruck nicht gut genug erkennen, um ihn zu deuten. Mit einem goldenen Feuerschein stach glühende Hitze in 158 die Wunde. Es fühlte sich an, als wäre alles bisherige und zukünftige Jucken der Wunde in einen Augenblick zusammengefasst worden. Der Schmerz wurde immer stärker. Entschlossen wollte sich unbedingt kratzen, stattdessen packte er mit beiden Händen die Kante des Hockers und hielt sich fest. Das Licht verblasste und langsam ließ das Jucken nach. Der Vorqself nickte, hielt den Hocker aber weiter fest. »Danke. Möchtest du über Raubtier reden?« »Da gibt es nicht viel zu reden. Du hast mir das Kommando übertragen. Raubtier gefiel das nicht.« Kjarrigan zuckte noch einmal die Achseln. »Ich habe mich gefragt, was du in dieser Lage tun würdest, und dann habe ich es getan.« »Wohl kaum. Er lebt noch.« »Du hast ihn auch nicht umgebracht.« »Er kann immer noch rudern.« »Er konnte immer noch eine Bahre tragen.« Der Magiker grinste Entschlossen schräg an. »Ich habe mich so ziemlich jedes Mal, wenn ich eine Entscheidung treffen musste, gefragt, was du tun würdest. Na ja, nur dass ich niemanden umgebracht habe. Es ist gelungen. Jedenfalls bis wir hier ankamen. Ich bin froh, dass du aufgetaucht bist, denn ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.« »Dir wäre schon etwas eingefallen. Du bist auf dem Marsch nach Norden gut vorangekommen.« Kjarrigans Grinsen wurde breiter. »Ich habe ihnen gesagt, du würdest sie weiter und schneller marschieren lassen, und ich könnte das auch, falls sie mich dazu zwingen.» »Schlau.« Das Jucken hatte sich gelegt und Entschlossen stand auf. »Wenn sie weiter tüchtig pullen, sollten wir Saslynnae in anderthalb Tagen erreichen.« »Wir fahren geradewegs in den Hafen? Ist das nicht gefährlich?« »Was ist an einer Fahrt nach Vorquellyn nicht gefährlich?« Entschlossen seufzte. »Wir legen an, gehen schnurstracks zum Corijes und hoffen, dass unser schlafender Freund uns hineinbringt. Dann holen wir Will und gehen wieder.« 159 Kjarrigan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Klingt das für dich genauso wenig durchführbar wie für mich?« Entschlossen setzte zu einer scharfen Entgegnung an, doch dann zögerte er. Der Knabe war über sich hinausgewachsen und hatte die Führung übernommen, als die Gruppe aller Voraussicht nach hätte auseinander brechen müssen. Entschlossen war fest davon überzeugt, dass Will der Schlüssel zu Kytrins Vernichtung und schließlich auch zu der Erlösung Vorquellyns war. Kjarrigan sei Dank hatten sie die Möglichkeit, Will zu befreien. Allein dafür, wenn schon für nichts sonst, hatte er etwas Besseres als Sarkasmus verdient. »Ja, es hört sich tatsächlich unmöglich an, nicht wahr?« Entschlossen lächelte. »Aber wenn Will von den Toten zurückgekommen ist, scheint unsere Aufgabe im Vergleich dazu ein Kinderspiel.« »Das stimmt allerdings, Entschlossen. Ich bin froh, dass du zurück bist.« »Und ich erst. Pass gut auf die beiden auf, ja? Sag mir Bescheid, wenn sich etwas tut.« »Das werde ich.« Entschlossen kehrte aufs Ruderdeck zurück und atmete die frische Luft tief in die Lungenflügel ein. Unter ihm arbeitete der Graue Nebel an den Rudern. Gischt schlug an den Bug, wo Orakel stand und nach Norden schaute. Entschlossen hatte keinen Zweifel daran, dass sie Vorquellyn sehen würde, lange bevor die Insel am Horizont auftauchte. Obwohl sie blind war. Trawyn schaute sich zu ihm um. »Du solltest wissen, dass jeder, der hier steht, die Gespräche in der Kabine mithören kann.« »Danke. Habt Ihr was Spannendes gehört?« Sie nickte zögernd. »Raubtier war nicht der Einzige, der umdrehen wollte. Ich war bereit, ihm zu helfen, damit die Fragmente Kytrin nicht in die Hände fallen. Ich halte es für einen Fehler, sie nach Vorquellyn mitzunehmen.« Entschlossen schmunzelte. »Kjarrigan hat Euch ebenfalls eingeschüchtert?« 160 Ihr gesundes Auge wurde schmal. »Das hat er.« »Tatsächlich? Und als wir vorher in Rellaence waren, ist es Will gewesen, der euch Loqaelfen dazu gebracht hat, die Vorurteile gegen die Gyrkyme zurückzustecken.«
»Das stimmt.« »Das finde ich wirklich bemerkenswert.« »Tatsächlich? Wie das?« »Ihr seid eine Prinzessin von Loquellyn und habt Angst vor Menschenkindern.« Sie lachte bellend. »Und vor Vorqaelfkindern noch mehr.« »Der Graue Nebel ist kein Gegner für Euch, also meint Ihr Orakel.« Trawyn blickte nach vorne zum Bug des Schiffes. »Ja. Ich muss zugeben, ihre ruhige Überzeugtheit von der Prophezeiung und von dem, was wir tun müssen, regt mich auf. Es war vernünftig und richtig für uns, in den Süden zurückzukehren. Du warst fort, wir hatten zwei Fragmente der Drachenkrone und einen äußerst gefährlichen /Elf bei uns. Doch sie erklärte, er sei der Schlüssel zum Corijes. Sie hatte nie den Hauch eines Zweifels daran, dass wir es nach Vorquellyn schaffen und den Norderstett finden würden.« »So ist sie halt.« »Oh, das verstehe ich durchaus. Ich bewundere ihre Gabe.« Die Loqaelfe bewegte unbehaglich die Schultern. »Es ist bei Kindern eine seltene Gabe, aber sie kommt vor. Dennoch, keine Seherin war je unfehlbar. Was, wenn sie sich irrt?« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Es gibt mehr Möglichkeiten für sie, sich zu irren, als Sterne am Himmel stehen. Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, an sie zu glauben. Alle Zeichen stimmen.« »Was kannst du schon darüber wissen, Entschlossen? Du bist ein Kind. Du führst Syverce, aber du bist nicht an eine Heimstatt gebunden. Du kannst die Pflicht nicht kennen, die diese Waffe dir überträgt.« Sie drehte sich um und deutete zurück nach Loquellyn. »Ich bin an meine Heimstatt gebunden und sie sagt mir, was ich zu tun habe.« 161 Er hob eine schlohweiße Augenbraue. »Und sie sagt Euch, dass Ihr das Falsche tut?« Trawyn stockte. »Nein.« Entschlossen legte die linke Hand auf den Schwertgriff. »Ihr wisst: Wäre es mir nicht bestimmt, dieses Schwert zu führen, könnte ich es nicht ohne Schmerzen berühren.« »Und ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass man dir die Schmerzen nicht unbedingt ansieht.« »Das mag stimmen, aber ich habe keine Schmerzen. Orakel hat mir vorhergesagt, dass ich aus der Hand des Norderstett ein Schwert erhalte. Will hat mir Syverce gegeben. Das war nur ein weiteres Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Will ist der Norderstett, und der Norderstett ist die Erlösung Vorquellyns.« Die Meeresbrise spielte mit ihren kurzen Locken. »Du bist so überzeugt von der Prophezeiung, Entschlossen, dass ich beinahe selbst daran glauben möchte.« »Warum tut Ihr es nicht? Irgendetwas geht hier vor, das ich nicht verstehe.« Sie schüttelte einmal kurz den Kopf, dann musterte sie ihn mit dem verbliebenen Auge. »Hast du dich nie gefragt, warum wir den Aurolanen Vorquellyn nicht wieder abgenommen haben?« »Natürlich. Ich bin davon ausgegangen, dass es Euch nicht eilig war. Was sind Jahre und Jahrhunderte für Unsterbliche?« »Das war nicht der Grund. Unser Passagier dort unten... Im Schlaf wirkt er friedlich, aber warte ab, bis er aufwacht. Du wirst die nackte Qual in seinen Augen sehen.« Sie rieb sich die Stirn. »Vielleicht warst du zu jung, es zu verstehen. Ich erinnere mich. Wir haben die Kinder versteckt, weil wir Angst vor dem hatten, was geschehen würde. Du hast es nicht gesehen. Als sie Vorquellyn eroberten, waren eure Erwachsenen verletzt und trostlos, ähnlich wie es mir jetzt ergeht. Aber als Kytrin Vorquellyn schändete... Der Schmerz in ihren Augen, die Schreie. Sie wurden von einer Heimstatt im Todeskampf in den Wahnsinn getrieben. Verstehst du nicht, Entschlossen? 162 Wir haben Vorquellyn niemals zurückerobert, weil es tot ist. Es gibt keine Erlösung für Vorquellyn. Es kann keine geben.« Diese Worte bohrten sich ihm wie Armbrustbolzen in den Leib. Er dachte zurück. Hatte er das Mitleid, das er jetzt in ihrem Auge sah, auch bei anderen gesehen? Hatte er sich von dem herablassenden Auftreten der meisten Elfen einlullen lassen? Hatte er irgendwie übersehen, wie sehr sie sich wünschten, sich zu irren, und doch wussten, dass sie Recht hatten? Wie sehr es ihnen Leid tat, dass es für die verlorenen Kinder Vorquellyns keine Erlösung geben konnte? Entschlossen ballte die Hände zu Fäusten, der Mund verkniff sich zu einem dünnen, wütenden Strich. Zorn stieg in ihm hoch, glühende, brodelnde Wut, aber ebenso rasch zwang er seine Hände wieder zur Öffnung. Er ließ den Zorn verklingen. »Ich verstehe, was Ihr meint, Prinzessin. Danke.« »Wie kannst du mir dafür danken? Ich habe dir gerade gesagt, dass die Aufgabe, der du dein Leben gewidmet hast, sinnlos ist.« »Ja, das habt Ihr. Ihr habt mir auch gerade erklärt, warum Ihr nie einen Versuch unternommen habt, meine Heimstatt zu befreien. Es ist nachvollziehbar, und das bedeutet: Ich kann all die Kraft freisetzen, die ich durch meinen Zorn auf Loqaelfen, Croqaelfen und Harqaelfen aufgestaut habe. Das Ihr Euch irrt, spielt dabei keine Rolle.« »Uns irren? Glaubst du denn, wir wären zu diesem Schluss gekommen, ohne darüber nachzudenken? Ich war bei
den Beratungen anwesend. Unsere größten Denker, Militärs, Politiker und Magiker sind sich einig, dass Vorquellyn nicht erlöst werden kann. Selbst Adrogans hat es in Swojin erkannt und die Stadt niedergebrannt. Es gibt keine Möglichkeit, einen Ort von der Aurolanenpest zu befreien.« Entschlossens silberne Augen wurden schmal. »Nur, weil Ihr nicht wisst, wie, heißt das nicht, dass es unmöglich ist. Kytrin konnte Vorquellyn verpesten, und es muss auch einen Weg geben, diesen Makel zu entfernen.« »Und falls es den nicht gibt? Was machst du dann?« 163 »Spielt das eine Rolle? Zumindest wird sich erweisen, ob Eure Überzeugung zutrifft oder nicht. Falls Ihr Recht habt, hilft es mir nicht, der Welt aber schon, denn Kytrin wird tot sein. Falls Ihr Euch irrt, habe ich ein Zuhause und eine Zukunft. Sinnlos oder nicht, das ist die Mühe wert.« »Entschlossen, ich weiß nicht, ob du ein Kind bist oder ein Narr, oder beides.« »Wahrscheinlich beides, doch wenn Vorquellyn erst erlöst ist, werde ich keins davon mehr sein.« Er lächelte schief. »Haltet Kurs nach Norden. Umso schneller werden wir alle die Wahrheit erfahren.« KAPITEL ACHTZEHN Markus Adrogans war nicht ganz darauf gefasst gewesen, wie sich die Aurolanen auf die Vernichtung ihres Regiments hin verhielten. Er hatte mit einer von drei Möglichkeiten gerechnet. Die erste war ein massiver Vorstoß ins Grenzgebiet, in dem das Regiment verschwunden war, und möglicherweise noch weiter in Winalias Reich hinein. Die zweite bestand in einer allgemeinen Verstärkung der Grenzanlagen. Die dritte, die er für am wenigsten wahrscheinlich hielt, war eine Zunahme der Patrouillen innerhalb des aurolanischen Bereichs gewesen. Es geschah - überhaupt nichts. Er konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass es sich bei dem Regiment um eine unabhängige Einheit gehandelt hatte, die die ihr erteilte Aufgabe selbsttätig durchführen sollte. Dass es aber so gar keine Erwähnung - selbst in den oberflächlichsten Meldungen von der Grenze - gab, hätte Grund zur Beunruhigung sein müssen. Wäre er an der Stelle des aurolanischen Befehlshabers gewesen, hätte er die Grenztruppen angewiesen, nach dem Regiment Ausschau zu halten und seinen Zustand zu melden. Das Ausbleiben einer Suche überraschte ihn, doch er fand einen Grund dafür: Die Holzlieferungen gingen weiter. Seine Kundschafter meldeten die Lieferung immer neuer Wagenladungen Holz, und es dauerte keine Woche, bis seine Truppen die Werft gefunden hatten. Obwohl er an der Richtigkeit der ersten Meldungen keinen Zweifel hatte, begleitete er zusammen mit Ph'fas die Scouts, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Schiffsbauoperation war noch weit gewaltiger, als er es sich hatte träumen lassen. Auf den alten Karten Norivas hieß die Stadt, die hier einst gestanden hatte, Alcytlin. Als Noriva 165 noch ein unabhängiges Reich gewesen war, hatte die Stadt als ein wichtiger Handelshafen gegolten, und es hieß, sie besäße den besten Tiefwasserhafen der Welt. Mit den Borabergen im Hintergrund und weißen Klippen zu beiden Seiten der Hafeneinfahrt musste die natürliche Schönheit ihrer Lage den Seefahrern wie ein Paradies erschienen sein. Adrogans studierte die Werftanlagen von einer Bergkuppe im Norden. Die Hügel, auf denen die alte Stadt gelegen hatte, verbargen einen Großteil der Ruinen vor seinem Blick. Was er sah, mahnte ihn daran, wie Swojin vermutlich nach Jahrzehnten Witterungseinfluss aussehen würde. Alle unmittelbaren Spuren von Gewalt waren dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Die ganze Stadt schien verwittert, und abgesehen vom Hafenbereich zeigte sie kaum Anzeichen von Leben. Der Zustand des Werftbereiches hingegen stand auf einem völlig anderen Blatt. Dieses Gebiet war in riesigem Maßstab wiederaufgebaut worden. Im Norden befanden sich die Essen sowie Mühlen und Lagerhallen für das Holz. Dahinter lagen Holzplätze, und kleine Boote bewegten sich mit schwerer Ladung hin und her. Im Zentrum und entlang des Südufers der Kreszentbucht wurde in vier Docks emsig gearbeitet, und die Schiffe, die dort gebaut wurden, stellten alles in den Schatten, was Adrogans je gesehen hatte. Zwei der Schiffe standen wenige Tage, vielleicht eine Woche, vor dem Stapellauf in die Bucht, wo man sie fertig ausstatten und seetüchtig machen würde, falls die sechs Giganten, die bereits dort dümpelten, ein Anhaltspunkt waren. Ausgehend von den Berichten, die er über den Piratenangriff auf Vilwan gelesen hatte, schloss er, dass diese schweren Schiffe mit Draconellen bestückt werden sollten. Zusätzlich zu den Riesenschiffen wurden in der Werft auch reihenweise kleinere Galeeren hergestellt, schnellere Boote, die die Schiffe des Südens mit Sicherheit von den großen Transportern fern halten sollten. Sie würden den Weg für die großen Schiffe frei machen, die dann die Häfen mit ihren Draconellen beharken konnten, während die Galeeren Truppenbataillone abholten und an Land brachten. 166 Weiter vom Ufer entfernt standen Kasernen. Durch die hügelige Landschaft konnte Adrogans nur zwei vollständig und ein paar andere teilweise sehen. Insgesamt schätzte er jedoch, dass es zehn waren, jeweils groß genug für ein komplettes Regiment. Die vor Nachschub und Proviant für diese Truppen überquellenden Lagerhallen brauchte er gar nicht erst zu sehen, um zu wissen, dass sie sich ebenfalls dort befanden, ebenso wie kleine Werkstätten für Tonnen, Segel, Riemen und was man sonst so brauchte. Hastig überschlug er die Zahlen im Kopf. Er nahm für jedes Schiff ein Regiment an. Falls drei davon Lakaslin überfielen, drei weitere Yslin, und die anderen auf ausgewählte Hafenstädte verteilt wurden, konnten sie den
Kriegshergang ernsthaft beeinflussen. Das Bündnis der südlichen Staaten würde zerfallen, weil seine Mitglieder entweder überrannt wurden oder sich gezwungen sahen, ihre Truppen heimzuholen. Die einzige logische Vorgehensweise wäre gewesen, alle Truppen hierher zu ziehen und augenblicklich anzugreifen. Falls die Kasernen bereits voll besetzt waren, bedeutete das einen Angriff auf eine zweifache Übermacht im Schutz von Befestigungsanlagen. Außerdem konnte der Feind Draconellen einsetzen, und ziemlich sicher mehr als er. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie zwei oder mehr der großen Schiffe - jedes für sich gewiss für mindestens so viele Draconellen gut wie seine gesamte Armee - seine Truppen schon im Anmarsch unter Beschuss nahmen. Verglichen mit den dann bevorstehenden Schlachten verblasste sein Hinterhalt wie ein Regentropfen gegenüber einer Sturmflut. Doch wenn er wartete, brachte das andere Risiken mit sich. Ohne weiteres konnten schon ein halbes Dutzend Schiffe seeklar und voll bestückt auf Jungfernfahrt sein. Falls dem so war und sie kehrten von der Erprobung zurück, sähe er sich noch mehr Truppen und Draconellen gegenüber. Außerdem wurden jetzt leere Kasernen vielleicht später noch besetzt, und er vertat seine einzige Gelegenheit, die Flotte zu versenken. Er knurrte. »Ich brauche mehr Einzelheiten.« 167 Ph'fas zuckte die Achseln. »Kann es für eine Entscheidung wie diese je genug sein?« »Nein. Wenigstens wissen wir jetzt, warum sich die aurolanische Befehlshaberin keine Sorgen um ein Kavallerieregiment an der Grenze macht. Der Holznachschub läuft ungehindert weiter, und eine Bedrohung stellt es für sie hier nicht dar.« Der Shuskenschamane musterte ihn fragend. »Für sie?« Adrogans runzelte die Stirn. Niemand hatte irgendein Wort über das Geschlecht des aurolanischen Kommandeurs verloren, doch bei seinen eigenen Worten wurde ihm klar, dass er sich vollkommen sicher war, es mit einer Frau zu tun zu haben. Er suchte in Gedanken nach dem Ursprung dieser Gewissheit. In der Vergangenheit hätte ihn diese Suche zu Schmerz geführt. Er hätte gespürt, wie sie ihre Krallen über seine Haut zog und an seinen Nervenenden nagte. Aber seit sie Okrannel verlassen hatten, war die Berührung des Yrün verklungen. Als er jetzt in sich ging, erwartete er nicht, etwas zu finden. Doch da war etwas. Er fühlte es schwach und unbestimmt. Zunächst glaubte er, seine Verbindung zu Schmerz würde zurückkehren, denn die Präsenz war eindeutig weiblich. Jedoch erkannte er schnell, dass es nicht seine Herrin war. Diese neue Präsenz hatte Krallen und Reißzähne, sie wirkte eher katzenhaft. Ihr deutlicher Geschlechtstrieb überraschte ihn, denn Schmerz war ihm zwar immer nah gewesen, hatte aber niemals Interesse an fleischlichen Gelüsten gezeigt, nur an deren Perversion, Freude durch Schmerz zu erfahren. Das war bei dem, was er nun spürte, ganz anders, und falls er eine weitere Schlussfolgerung wagen wollte, hätte er gesagt, dass sich das Wesen, das er jetzt spürte, entweder soeben der sexuellen Befriedigung hingab oder das Nachklingen eines Höhepunkts genoss. Adrogans öffnete die Augen. »Onkel, wenn wir Sullanciri früher begegnet sind, hast du durch die Yrün etwas von ihnen gespürt?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatten keine Verbindung zu den alten Geistern.« 168 »Dann ist etwas an der dort unten anders als bei den anderen. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine Sullanciri.« »Mit ziemlicher Sicherheit.« »Das meine ich auch.« Adrogans fuhr sich mit der Hand nach hinten durchs kurze Haar. »In dieser hier steckt ein wenig von Schmerz. Ich kann sie spüren, manches lesen. Sie scheint sehr offen. Sie hat Sorgen, aber zur Zeit keine militärischen.« »Du liest ihre Gedanken?« »Nein, noch nicht. Es ist ohne Zusammenhang. Ich empfange Wünsche und Gefühle. Als belauschte man einen Träumer, der im Schlaf spricht, und herausfinden, wovon er träumt.« »Das könnte hilfreich sein.« Ph'fas nickte. »Und gefährlich.« »Du hast Recht. Ich muss davon ausgehen, dass sie dieselben Eindrücke von mir empfangen kann. Ich werde mich vorsehen.« »Gut. Versuch nicht, in ihren Geist einzudringen.« »Ich wüsste nicht mal, wie ich das anstellen sollte.« Ph'fas kicherte. »Das würde dich nicht aufhalten, sollte es nötig werden. Ihr Geist wird ein Nest von Albträumen sein.« »Wie passend.« Der General schaute zurück auf die Stadt. »Sie lebt in einem Nest von Albträumen. Ich brauche mehr Einzelheiten, und ich werde sie mir beschaffen müssen. Ein paar unserer Leute werden mit einer Ladung Holz dort hinein müssen und mit Splittern von den Gebäuden wieder heraus.« »Nimm Freiwillige dafür.« »Das werde ich.« »Achte darauf, dass es Waisen sind.« »Ja, Onkel, das werde ich.« Adrogans hob die linke Braue. »Noch etwas?« »Ihr Ziel und deines sind nicht dieselben.« Langsam trat ein Grinsen auf die Züge des kleinwüchsigen Schamanen. »Benutze ihr Ziel gegen sie, und der Weg zu deinem wird leichter werden.«
169 KAPITEL NEUNZEHN 1/ie drei Tage, die er mit der Jagd auf Blutmasken verbrachte, waren eine Belastungsprobe für Ermenbrecht. Er hatte die Armee ein Lager aufschlagen lassen und sprach jeden Tag mit Sander Malvenstett. Die beiden machten bei diesen Gesprächen ziemlich viel Wind und brüllten sich streckenweise regelrecht an. Ermenbrecht wünschte sich, diese Wortgefechte wären nur Spiegelfechtereien gewesen, aber dem war nicht so. Obwohl Malvenstett inzwischen glaubte, dass Ermenbrecht seinen Vater nicht hatte umbringen lassen, vergiftete die alte Feindschaft zwischen Mittland und Meredo ihre Beziehung weiter. Ermenbrecht erinnerte sich aus jungen Jahren an Sander, aber das ging kaum über Namen und Aussehen hinaus. Schließlich war er nur ein niederer Adliger aus Mittland. Der Prinz erkannte, dass er Malvenstett noch immer entsprechend abfällig einstufte, wenn der ihn nur genügend provozierte. Aber wenigstens hielt er sich weit genug zurück, seine Empörung über die Tiraden dieses Provinzbarons nicht in Worte zu fassen. Falls ich das tue, ist alles verloren. Malvenstett hatte eine ganz schöne Wut auf Ermenbrecht abzubauen. Das Mittland, wie im Grunde das ganze Reich, hatte die Anwesenheit aurolanischer Truppen in Oriosa gehasst. Alle Adligen litten jedoch genau wie Ermenbrechts Vater unter der Angst, Nefrai-kesh oder ein anderer Sullanciri könne sie besuchen und ihnen den Kopf abreißen. Sie hassten diese Angst und wollten ihren Mut beweisen, indem sie sich Kytrin entgegenstellten, aber jedes offene Handeln hätte nicht nur ihren Zorn, sondern auch den König Swindgers herausgefordert. Viele von ihnen nahmen Ermenbrecht übel, dass er Oriosa 170 den Rücken gekehrt und sich für Festung Draconis entschieden hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, als seine Heimat darum stolz auf ihn gewesen war, aber nachdem Kytrin die Feste geschleift hatte, war davon nicht viel übrig geblieben. Ermenbrechts Rückkehr und der Bruch mit seinem Vater, erst recht angesichts eines so dicht vor den Grenzen stehenden aurolanischen Heerwurms, schien einen Angriff der Nordländer geradezu herauszufordern. Aus der Sicht solcher Leute wie Malvenstett war Ermenbrecht darauf versessen, Kytrin anzugreifen, und bereit, dafür auch seine Heimat zu opfern. Gleichzeitig warf ihm Malvenstett vor, sein eigenes Volk nicht zu kennen. »Daran, wie sie unter deinem Vater gelitten haben, kann doch kein Zweifel bestehen. Konntest du unsere Klagen nicht bis Festung Draconis hören?« Er erinnerte Ermenbrecht, dass er bei allem Hass auf seinen Vater dem Volk von Oriosa gegenüber noch immer eine Pflicht hatte. Und Ermenbrecht musste Malvenstett in diesem Punkt Recht geben: Er hatte seine Landsleute im Stich gelassen. Der Prinz sagte sich, dass er aus zwei sehr stichhaltigen Gründen so gehandelt hatte. Zum Ersten hatte man ihn auf Festung Draconis gebraucht, und Festung Draconis war nicht zu ersetzen, wenn es darum ging, Kytrin im Norden festzuhalten. Und zum Zweiten hätte er mit einer Rückkehr und dem Widerstand gegen seinen Vater innerhalb kurzer Zeit einen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen. Entweder das, oder er hätte mich umbringen lassen. Beide Gründe waren richtig, und beides waren gute Gründe. Trotzdem verstand der Prinz, dass ihn keiner von beiden von den Pflichten entband, die ihm seine Herkunft auferlegte. Jemand musste ein Gegengewicht zu seinem Vater bilden und sich ihm sogar widersetzen, und niemand sonst in der ganzen Welt war dazu legitimiert oder in der Lage, diesen Widerstand anzuführen. So wenig er auch einen blutbesudelten Thron wollte, besser das Blut seines Vaters ergoss sich über den Thron als das der Bürger Oriosas über den Boden ihrer und seiner Heimat. 171 Ermenbrecht wollte sich mit Swindgers Herrschaft über Oriosa auseinander setzen, sobald er den Krieg gegen Kytrin hinter sich hatte. Falls ich ihn überlebe. Doch er konnte Malvenstett diese Entscheidung nicht mitteilen, denn das wäre offener Verrat gewesen, und den Gedanken daran mit ihm zu teilen, hätte eine Einladung bedeutet, sich ihm anzuschließen. Das wiederum wäre politisch bedenklich gewesen, denn während Malvenstett ohne innenpolitische Bedenken an seiner Seite gegen die Aurolanen ins Feld ziehen konnte, hätte ihn ein Aufstand zur Zielscheibe für machthungrige Barone aus allen Winkeln des Reiches gemacht. Und so stritten die beiden weiter, und die Gerüchteküche in beiden Armeen brodelte. Währenddessen waren Dranae, Net, Borghelm und die Ottermagiker auf der Suche nach den Blutmasken. Net und Borghelm wussten, wie man mit Kätnern und Hirten sprechen musste, und manche von ihnen kannten sie sogar vom Markt in Valsina. Von ihnen erfuhren sie, wie die Blutmasken vorgingen. Die Ottermagiker setzten ihre Zauber ein, um einen Teil des angerichteten Schadens zu beheben und Eindrücke von den Übeltätern zu sammeln. Am frühen Abend vor dem Aufbruch zu ihrem letzten Jagdausflug berichtete Rumbelo Ermenbrecht von ihren Erkenntnissen. »Wir haben den Eindruck gewonnen, dass es sich um zwei verschiedene Gruppen von Leuten handelt. Eine Gruppe sind Soldaten, etwa eine Kompanie, die andere besteht aus einer ähnlichen Anzahl Magiker. Ich bin sicher, dass es sich um Vilwaner handelt, was unter anderem bedeutet, dass sie Masken tragen, ohne ein Recht dazu zu haben.« Obwohl er so lange fern von Oriosa gelebt hatte, zuckte Ermenbrecht bei dieser Bemerkung wütend zusammen. Muroso, Alosa und Oriosa hatten sich vor langer Zeit vom Estinischen Reich gelöst, und die Anführer der Revolte hatten Masken getragen, um geheim zu halten, wer sie waren. Ihren Nachkommen hatten sie das Recht
vererbt, zu Ehren der Opfer, die ihre Vorfahren für die Freiheit der Heimat gebracht hatten, ebenfalls eine Maske zu tragen. Dass jemand, der dazu 172 kein Recht hatte, mehr als eine Höflichkeitsmaske trug, war genug, jedem wahren Sohn Oriosas den Magen umzudrehen. Dass sie wahrscheinlich die Erlaubnis seines Vaters hatten, Masken zu tragen, machte es für Ermenbrecht noch schlimmer. »Sie haben versucht, ihre Spuren zu verwischen, aber wir haben eingezeichnet, wo sie gesehen wurden.« Rumbelo breitete auf dem Tisch eine Karte von Mittland aus und stellte Kerzenhalter auf die Ecken, um sie zu beschweren. »Sie haben in einem weiten Bogen zugeschlagen, was den Eindruck erwecken sollte, sie würden von Norden kommen und nach Westen ziehen. Doch all ihre Anschläge haben einen schnellen Tagesritt von dieser Ortschaft stattgefunden.« Ermenbrecht nickte. »Nyresina.« Rumbelo schaute auf. »Ihr kennt sie?« »Ja. Ein Landgut, die Mitgift meiner Mutter. Vor ihrem Tod haben wir die Sommer dort verbracht.« Ermenbrecht ballte die Fäuste. »Sind wir in Angriffsreichweite?« »Ein Tagesritt. Sie wissen, dass wir hier sind, und wenn wir kommen, würden sie das ebenfalls wissen.« Der Ottermagiker schüttelte den Kopf. »Ich vermute, sie werden bald aufbrechen, falls sie nicht schon fort sind. Aber keine Sorge, wir finden einen Weg, sie zu verfolgen.« »Ich will sie nicht verfolgen. Ich will ihren Tod.« Ermenbrecht kniete neben die Truhe am Fuß des Bettes und schlug den Deckel zurück. Er hob den Vierschüsser, den Beutel mit Kugeln und das Feuerdreckhorn heraus. »Wir greifen heute Nacht an.« Rumbelo schüttelte den Kopf. »Meine Mitmagiker und ich sind gut, aber selbst wir schaffen es nicht, uns so schnell dorthin zu bringen.« »Ich weiß.« Ermenbrecht schlang sich den Schwertgurt um die Schulter. »Ihr könnt es nicht, aber Dranae kann es. Hol deine zehn besten Kampfmagiker. Sie mögen auf den Straßen nach uns Ausschau halten, also werden sie nicht wissen, wie ihnen geschieht, wenn wir zuschlagen.« 173 Ermenbrecht hatte das Landgut noch nie aus der Luft gesehen, daher brauchte er einen Augenblick, bis er es erkannte. Er fand die vertraute Schleife im Flusslauf, der im silbernen Mondlicht schimmerte. Der Baumbestand war ausgedünnt und die Weinberge im Norden schienen ausgedehnter, das Gut selbst wirkte allerdings ziemlich verfallen. Der Turm in der Nordostecke war teilweise eingestürzt und das Dach der alten Remise hing durch. Davon abgesehen wirkte das kantige Haupthaus durchaus noch bewohnbar. Dranae stürzte sich hinab, dann breitete er die Flügel aus und setzte sanft im Hof an der Westseite des Haupthauses auf, zwischen dem Gebäude und dem kleinen See, auf dem Ermenbrecht und sein Bruder als Kinder mit Modellbooten gespielt hatten. Da die Straße aus dem Osten kam und das Gut auf der anderen Seite erreichte, war davon auszugehen, dass die Blutmasken diese Seite weniger im Auge behielten. In einem Augenaufschlag verwandelte sich Dranae von einem Drachen in eine Menschengestalt. Ermenbrecht warf ihm seine Draconette und ein Bündel Tücher zu, aus dem sich der Hüne einen Kilt wickelte. Die Ottermagiker verteilten sich und liefen zum Haus. Keiner von ihnen wollte sich darauf verlassen, dass ein Drache unbemerkt landen konnte, und ein magischer Alarm konnte durchaus lautlos sein. Falls sie das Überraschungsmoment trotzdem auf ihrer Seite hatten, um so besser. Rumbelo rammte einen eisenbeschlagenen Stock gegen die Tür, und das verwitterte Holz explodierte nach drinnen. Die Ottermagiker stürmten ins Haus. Ermenbrecht folgte ihnen, Dranae dicht hinter sich. Die Tür führte in die Küche, und von dort ging es links den Flur entlang zum Salon. Als sie dort eintrafen, tobte ein thaumaturgisches Gefecht. Leuchtend rote Fledermäuse und glühend grüne Adler umkreisten einander unter der hohen Decke des Raumes, stießen herab, wirbelten und schlugen mit den Schwingen. Goldene Flammenzungen erhellten das Zimmer und zerbarsten wirkungslos an magischen Schilden. Ein Ottermagiker öffnete 174 die Hand und schleuderte einen Funkenregen, der sich in blaue Pfeile verwandelte. Der Pfeilschwarm senkte sich auf einen Blutmaskenmagiker, der sofort einen Schild zauberte, der sie bis auf zwei aufhielt. Diese beiden trafen, schleuderten ihn herum und er ging mit qualmenden Wunden in Brust und Rücken zu Boden. Ermenbrecht riss den Vierschüsser an die Schulter, spannte und drückte ab. Das Donnern des Schusses hallte durch den Saal, das Mündungsfeuer war aber verglichen mit den Lichteffekten der Zaubersprüche keine Erwähnung wert. Die Bleikugel erwischte eine Blutmaske knapp über dem Brustbein und warf die Magikerin zurück, bevor sie einen Zauberspruch vollenden konnte. Die Kraft, die sich in grünen Tentakeln um ihre zu Krallen verkrampften Hände gesammelt hatte, kehrte sich gegen sie und die Hände lösten sich auf und wurden zu öligem Qualm. Auch Dranae schoss und zerschmetterte einer Blutmaske das Bein. Der Schild, den diese gegen einen Flammenspeer errichtet hatte, brach zusammen. Das goldene Feuer traf sie mit ganzer Gewalt und verzehrte alles zwischen Schulterbein und Hüfte.
Wieder feuerte der Prinz, dann zog er Krön. Er parierte den Schwertstreich eines Blutmaskensoldaten. Seine Riposte schnitt dem Mann den Bauch auf. Der verletzte Soldat taumelte zurück, die Hand auf den Leib gepresst, und prallte gegen einen anderen Bewaffneten. Ermenbrecht sprang ihm nach und durchbohrte den zweiten Mann. Dranae gab einen weiteren Schuss an, der Kopf einer dritten Soldatin zerplatzte. Die umstehenden Blutmasken hatten genug und ergriffen die Flucht. Ermenbrechts dritter Schuss tötete einen weiteren Magiker - und war im Grunde unnötig. Murosonische Magiker schienen stolz auf ihre Kampfkünste, und ihre vilwanischen Kollegen waren ihnen weit unterlegen. Sie streiften durch das Haupthaus, suchten ein Zimmer nach dem anderen ab und beförderten alle Magiker, die Widerstand leisteten, schleunigst 175 ins Jenseits. Sie fanden auch einige, die bereits tot waren. Sie hatten offenbar Gift geschluckt, nachdem sie per Arkantafal eine letzte Nachricht abgeschickt hatten. Rumbelo wog eine der Tafeln in der Hand. »Ich kann versuchen herauszufinden, an wen die Nachrichten gegangen sind, aber falls der Empfänger am anderen Ende seine Arkantafal zerbricht, bin ich machtlos.« »Es spielt keine Rolle. Ich weiß, wo die Nachrichten letztlich gelandet sind.« Ermenbrecht stieß die Leiche eines toten Magikers mit dem Fuß an. »Und ich weiß auch, welche Nachricht ich dorthin schicken will. Dranae, falls es dir nichts ausmacht, können wir sie ziemlich schnell überbringen.« Im Orioser Thronsaal traten Ermenbrecht und Dranae einen Schritt zurück und begutachteten ihr Werk. Sie hatten jede einzelne Blutmaske geköpft und die Masken auf den Schädel ihrer Träger genagelt. Nachdem sie alle Köpfe in einen Sack gepackt hatten, war Dranae nach Meredo geflogen und Ermenbrecht hatte ihn durch Geheimgänge, von denen er schon länger wusste, unbemerkt in den Palast geführt. Im Thronsaal angekommen, platzierten sie die abgeschlagenen Köpfe auf dem Thron und in einem Kreis um ihn herum. In den Mund jedes Kopfes legten sie eine Goldmünze, auf der das Auge in König Swindgers Profil zerstochen war. Der Drachenmann schaute den Prinzen an. »Wie, glaubt Ihr, wird er das aufnehmen?« »Wütend und verängstigt. Nefrai-kesh hat meine Großmutter umgebracht, indem er ihr den Kopf abriss und ihn meinem Vater gab. Er wird diesen Moment bei jedem einzelnen dieser Köpfe noch einmal erleben. Er wird wissen, dass wir Bescheid wissen, und dass wir herein- und wieder herausgekommen sind, ohne entdeckt zu werden. Das wird ihm zu denken geben.« »Ihr wisst, dass Vilwan damit zu tun hat.« »Ja. Aber wir müssen Prioritäten setzen. Erst kommt Kytrin, dann mein Vater, dann Vilwan.« 176 Dranae lächelte, als sie zurück in den Geheimgang traten, der hinaus aus dem Palast führte. »Ihr Menschen seid eine seltsame Spezies. Ihr sendet eine Botschaft auf eine so barbarische Art, die doch bei aller Offenheit sehr hintergründig ist.« »Hintergründig? Das?« Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Wie hätte ein Drache diese Botschaft formuliert?« »Der Kopf Eures Vaters wäre das zentrale Schaustück geworden.« »Gut, ich verstehe. Ja, mit Drachenaugen gesehen, ist das tatsächlich hintergründig. Fliegen wir zurück ins Mittland, und ich werde mich bemühen, meine Hintergründigkeit abzulegen.« Ermenbrecht schlug seinem Freund auf den Rücken. »Wir wollen schließlich nicht, dass Kytrin unsere Botschaft möglicherweise nicht versteht.« 177 KAPITEL ZWANZIG Kjarrigan schreckte aus dem Schlaf hoch. Entschlossen und Trawyn polterten auf Elvisch streitend in die Kabine. Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was vorging, und das Gespräch übersetzen konnte. Trawyns /Elvisch war reichlich gestelzt und Entschlossens Ausdrucksweise schien unterste Gossensprache, was die Sache nicht gerade leichter machte. Bevor Kjarrigan herausfinden konnte, worüber sie stritten, wechselte Entschlossen in Gemeinsprache und deutete auf den im Koma liegenden JEli. »Weck ihn auf.« Trawyn streckte abwehrend die Hand aus. »Nichts dergleichen, Kjarrigan.« Ihr Auge funkelte. »Sieh ihn dir an, Entschlossen. Seine Haut ist immer noch fliederfarben. Sein Organismus hat die Traumschwinge noch nicht abgebaut. Er könnte jederzeit versuchen, uns umzubringen.« »Unsinn. Wäre er so hilflos, hätten ihn die Aurolanen längst gefangen und ermordet.« Der silberäugige JEli schaute Kjarrigan an. »Hast du irgendeinen Hinweis darauf gefunden, dass er gefährlich ist?« »Nein, keinen. Er hat nicht einmal gezaubert, soweit ich das feststellen kann. Er schläft nur tief und fest.« »Heb deinen Zauber auf und weck ihn.« »Entschlossen, überlege dir, was du tust.« »Ich habe es mir überlegt, Hoheit.« Der Vorqaslf deutete nach Norden. »In zwei Stunden erreichen wir Saslynnae. Ich will schnell an Land, zum Corijes, Will abholen und wieder verschwinden. Ich habe zu lange darauf gewartet, dass er von selbst aufwacht. Ich brauche ihn, um in den Corijes zu gelangen, und wenn er verwirrt ist, muss ich wissen, wie sich das auswirkt.« 178
»Er ist süchtig nach Traumschwinge, Entschlossen. Er könnte in einem Augenblick klar sein und im nächsten völlig von Sinnen. Im besten Fall nutzlos, im schlimmsten selbstmörderisch.« »Besser, wir erfahren es, Hoheit. Bitte, Kjarrigan.« Der junge Magiker stand auf und zog die Ärmel zurück. Er schaute auf den /Elf hinab, dann streckte er die rechte Hand aus. Er sammelte Energie, dann erhob sich ein goldener Lichtfunke aus der Handfläche - wie ein Löwenzahnsamen in einem Lufthauch. Er tanzte auf einer unsichtbaren Brise, dann sank er abwärts und berührte die unsichtbare Hülle des Schlafzaubers. Im selben Augenblick schoss er bereits in goldenen Zickzacklinien um und über den Schläfer. Einen Pulsschlag später verschwand er, dann kehrte er zurück, bewegte sich aber nicht. Entschlossen verzog das Gesicht. »Was ist los?« »Ich weiß nicht.« Kjarrigan bereitete sich vor und sprach einen einfachen Diagnosezauber. Der Spruch setzte an den Füßen des /Elfs an und arbeitete sich allmählich aufwärts, während er seinen Zustand genau aufführte. Er schien weitestgehend gesund, mit Ausnahme von Spuren eines Stoffes, von dem Kjarrigan annahm, dass es sich um Traumschwinge handelte, und eines körperfremden Gegenstandes, der in der Nähe einer Rippe eingewachsen war. Fühlt sich nach Stein an, vielleicht eine Pfeilspitze. Der Zauber kroch weiter den Körper hinauf, ohne irgendetwas Ungewöhnliches festzustellen, bis er auf Höhe der eisigblauen Augen ankam. Sie gingen urplötzlich auf und Kjarrigan zuckte zurück. Der Deckel der Truhe, in der Qwc lag, fiel zu. Der junge Magiker setzte sich schlagartig und glaubte zerstreut, mit seiner früheren Körperfülle die Truhe und den Sprijt zerquetscht zu haben. Er fasste nach dem Fußende der Koje, um sich abzustützen, dann traf ihn ein Impuls aus Macht und Wut. Wer wagt es? Die Worte erreichten ihn lautlos, doch sie sezierten Kjarrigan förmlich. Dass es der /Elf war, der ihn befragte, war nicht überraschend, nur strafte sein Alter das Aussehen Lügen. Er 179 war Jahrtausende alt, weit älter als irgendjemand sonst, mit dem Kjarrigan es je zu tun gehabt hatte. Das Stück Drachenkrone aus Vorquellyn hatte Spuren in ihm hinterlassen. Wut und tiefe Trauer erfüllten ihn. Die Traumschwinge hatte eine betäubende Wirkung, aber mit jedem Schlag seines Herzens wurde er klarer, und wenn er erst seine volle Geisteskraft zurückerlangt hatte, konnte er Kjarrigans Gehirn zu Brei verwandeln. Ungebeten stieg der Drachenbeinpanzer durch Kjarrigans Haut. Knochenplatten bedeckten ihn vom Kopf bis zu den Füßen, zerfetzten sein Hemd an den Schultern und sprengten die Knöpfe. Die Schnürsenkel eines Schuhs rissen und die Gürtelschnalle knirschte unter der Belastung. Krallen wuchsen ihm aus den Fingern und gruben sich ins Holz, als er sich festklammerte. Kajrün? Der Ansturm des Elfen ließ einen Augenblick lang nach, und Kjarrigan nutzte die Gelegenheit zum Gegenangriff. Er trieb sein Bewusstsein ins Hirn des Elfen und obwohl er sich vor dem, was er dort fand, klein wie eine Ameise fühlte, tat er laut seine Gegenwart kund. Nicht Kajrün, aber einer von denen, die versuchen, sein Erbe vor Kytrin zu beschützen. Kjarrigan war klar, dass er ein hohes Wagnis einging. Dieser JEli hatte Yrulph Kajrün gekannt, sonst hätte er den Drachenbeinpanzer nicht erkennen können. Da er zwei Bruchstücke der Drachenkrone versteckt und gegen aurolanische Einheiten gekämpft hatte, hoffte der junge Magiker, dass er ein Feind Kytrins war. Die Präsenz des itlfen verstummte und der Druck auf Kjarrigan ließ nach. Dann, als wäre es noch nicht seltsam genug, dass er sich im Geist des /Elfen befand, geschah etwas wahrhaft Erstaunliches. Das Bewusstsein des /Elfen wandte sich von ihm ab und begann ein Gespräch mit einer zweiten Präsenz. Kjarrigan konnte dem Wortwechsel nicht folgen, erhielt aber eine Ahnung dessen, was er beobachtete. Er unterhält sich mit dem Drachen im Vorquellyn-Frag180 ment! Kjarrigan selbst hatte ein ähnliches Gespräch mit dem Drachen des Rubinfragments geführt. Damals hatte er allerdings nicht gewusst, mit wem er sprach, und es war keine ausschließlich angenehme Erfahrung gewesen. Sich das vorzustellen: über ein Jahrhundert nur einen Drachen als Begleiter zu haben. So unangenehm war es nicht. Sie hat eine unbegrenzte Kapazität, mein Leiden zu ertragen. Der Geist des Elfen wandte sich wieder Kjarrigan zu. Lass mich allein. Ein weiterer Stoß warf Kjarrigan zurück und das Abschlussbrett der Koje zerbrach. Er fiel von der Truhe auf den Rücken, ein Stück Brett in den Händen. Der Panzer schützte ihn nicht vor dem Aufprall, denn er war wieder verschwunden, und Kjarrigan fand sich mit Holzsplittern unter den Fingernägeln auf dem Kabinenboden wieder. Trawyn half ihm auf, dann öffnete sie die Truhe. Qwc schlief immer noch, was Kjarrigan außerordentlich beunruhigte. Während er sich neben die Truhe kniete und einen Diagnosezauber sprach, setzte sich der alte /Elf auf und Entschlossen drückte ihm Syverces Spitze an den Hals. Der /Elf betrachtete Entschlossen und sprach mit ruhiger Stimme, doch seine Worte trieften vor Herablassung. »Entferne die Klinge, Kind, oder wir sind gezwungen, sie dir abzunehmen.« »Macht es uns leicht.« Der alte Vorqaelf überlegte kurz, dann nickte er. Er wiederholte die Warnung. »Hast du uns diesmal verstanden?« Entschlossen senkte die Waffe, steckte sie aber nicht weg. »Ich bin sicher, Ihr habt eine höchst reizvolle
Geschichte zu erzählen, doch mich betrifft nur eine einzige Sache: Könnt Ihr uns in den Corijes von Saslynnae bringen?« Er sah an Entschlossen vorbei Trawyn an. »Du bist eine Loqaelfe. Was machst du in der Gesellschaft verwilderter Kinder?« Sie seufzte schwer. »Ihr solltet Entschlossens Frage besser beantworten.« 181 »Entschlossen?« Der alte /Elf drehte sich wieder um. »Das war nicht dein Geburtsname.« »Hört zu, Großvater. Wir haben nicht viel Zeit.« Kjarrigan stand auf und legte Entschlossen die Hand auf die Schulter. »Entschlossen, warte mal.« Er wandte sich zu dem alten /Elf um. »Ich bin Kjarrigan Lies, ehemals von Vilwan. Das ist Prinzessin Trawyn. Dass sie eine Loqaelfe ist, wisst Ihr. In der Truhe dort liegt Qwc. Er ist ein Sprijt.« »Das wissen wir, Knabe. Wir waren schon auf der Welt, als es die Sprijsa noch nicht gab.« Er warf die dünne Decke zurück, mit der sie ihn zugedeckt hatten. »Man nennt uns Magarric.« Der /Elf schaute zu Entschlossen und Kjarrigan hoch, dann hinüber zu Trawyn. »Sie sind Kinder. Sicher kennst du unseren Namen.« Sie runzelte kurz die Stirn, dann wurde ihr Auge groß und sie sank auf ein Knie. »Mein Fürst. Vergebt mir.« Entschlossen knurrte. »Es ist mir gleich, wer Ihr seid. Könnt Ihr uns in den Corijes in Saslynnae bringen?« »Das können wir.« Der Vorqelf runzelte die Stirn. »Prinzessin Trawyn scheint zu glauben, Eure Traumschwinge-Sucht verwirre Euch und mache Euch möglicherweise gefährlich.« »Das wissen wir. Es ist die einzige Erklärung für den Zauber, den dieser Mensch über uns gelegt hat.« Magarric neigte den Kopf in Kjarrigans Richtung. »Ein Traumschwinge-Süchtiger wäre gefährlich, aber wir haben dieses Kraut lange genug benutzt, um uns an seine Wirkung zu gewöhnen. Wir wussten, was wir taten, als wir es züchteten.« »Die Behauptung, diese Pflanze erschaffen zu haben, ist nicht gerade geeignet, mich von Eurer geistigen Gesundheit zu überzeugen.« »Das ist ein Wagnis, das du wirst eingehen müssen, wenn du willst, dass ich euch in den Corijes bringe, nicht wahr?« Der alte /Elf zuckte die Achseln. »Wir werden euch hineinführen.« »Seid Ihr sicher, dass Ihr das könnt?« »Natürlich, Kind. Wir sind uns sehr sicher.« Magarric 182 lächelte, als er die Füße aus der Koje schwang. »Ich habe ihn errichtet.« Kjarrigan spürte den Ruck, der durch Entschlossen ging. Der Vorqaelf sank auf die Knie, dann zog er Kjarrigan neben sich zu Boden. Entschlossen streckte die Hand aus und legte Magarric Syverce zu Füßen. »Ich bitte Euch für mein ungehobeltes Betragen um Vergebung.« »Du bist ein Kind, wenn auch ein recht großes. Wir haben uns gefragt, wie es euch ergehen würde. Kjarrigan sagt uns, ihr seid Feinde Kytrins.« »Ja, mein Fürst.« Kjarrigan fühlte sich ebenso unter dem Bann des alten Elfen wie Trawyn und Entschlossen. »Warum wollt ihr den Corijes betreten?« Entschlossen hob den Kopf. »Mein Fürst, man hat uns gesagt, der, der Kytrin vernichten wird, wartet im Corijes auf uns.« Kjarrigan warf Entschlossen einen schnellen Blick zu. »Er könnte etwas mehr Einzelheiten wünschen.« Magarric lächelte kurz, dann wurde sein Blick unbestimmt. Sein Körper zuckte einmal und blinzelte. »Ohne Zweifel haben wir den Wunsch, die ganze Geschichte zu erfahren. Wie lange haben wir noch, bis wir Saslynnae erreichen?« »Keine zwei Stunden.« »Sehr schön. Lasst uns allein. Wir müssen uns vorbereiten.« Er schaute hinunter auf Syverce. »Du führst diese Klinge Sylquellyns ohne Schmerz?« Entschlossen nickte, dann nahm er das Schwert wieder auf. »Ich habe sie von dem erhalten, den wir suchen.« »Tatsächlich.« Der alte Vorqaslf lächelte wieder, dann verzerrte sich sein Gesicht und sein Rücken bog sich zu einem Hohlkreuz. Er rang nach Luft und Kjarrigan bereitete einen Zauber vor, doch Magarric hob die Hand. »Nein, bemühe dich nicht. Wir sind an Vorquellyn gebunden. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Je näher wir kommen, desto größer wird er.« Kjarrigan zog fragend die Augenbrauen hoch. »Und wenn Ihr die Insel betretet?« 183 »Es wird entsetzlich, dessen sind wir uns sicher. Aber das spielt keine Rolle.« Magarric stieß einen langen Seufzer aus. »Selbst auf diese Entfernung spüren wir den, nach dem ihr sucht. Es gibt nichts, das wir nicht auf uns nehmen würden, um ihm zu begegnen.« Kjarrigan zog Qwcs Truhe mit hinaus, als sie die Kabine verließen. Trawyn und Entschlossen wirkten beide noch verschlossener als gewöhnlich. Auf dem Ruderdeck setzte er Qwc an der Reling ab. Dann schaute er die beiden /Elfen an. »Wer ist er?« Trawyn lehnte sich schwer auf die Reling, während Entschlossen hinter dem Steuerrad auf und ab wanderte. Der Wind spielte mit ihrem Haar und blies durch die Risse in Kjarrigans Hemd, wovon er eine Gänsehaut bekam. Sie
schien in Gedanken versunken. Dann nickte sie. »Kjarrigan, du weißt, heute gibt es vier aelfische Heimstätten, Vorquellyn eingeschlossen. Entschlossens Schwert stammt aus einer nicht mehr existierenden Heimstatt, wie du weißt, und damit auch, dass es noch andere gegeben hat. Es gab einmal eine Zeit, da nur eine einzige Heimstatt vorhanden war. Durch das Auftauchen der Menschen und anderer Geschöpfe entstanden Reibereien, und statt Krieg zu führen, beschlossen die neun Fürsten des damaligen Königs, die Heimstatt in kleinere Reiche aufzuteilen. Sie brauchten Jahrhunderte, um zu entscheiden, wie sie das bewerkstelligen wollten und kamen schließlich zu dem Schluss, Corijesci zu errichten. Sie zogen die Grenzen ihrer Reiche erst auf der Karte, dann steckten sie mit Hilfe von Magik eine gewaltige Macht in die Corijesci. Sie schufen die Heimstätten und banden sich an deren Corijesci.« Entschlossen verschränkte die Arme. »Wenn ein /Eli an seine Heimstatt gebunden wird, betritt er den Corijes und wird von dessen Hüter willkommen geheißen. Der Hüter ist an den Corijes gebunden. Es gibt den Corijes, solange er lebt. Ich hatte angenommen, der Hüter des Corijes von Saslynnae, wer immer das war, habe zwar mit den anderen diese Welt verlassen, lebe aber noch.« 184 »Waren alle Hüter diese ursprünglichen Fürsten?« Trawyn schüttelte den Kopf. »Nein. Durch bestimmte Rituale können andere diese Verpflichtung übernehmen. Ihre Namen sind nur den erwachsenen Elfen bekannt und werden denen gegenüber, die noch nicht zur Reife gelangt sind, nicht erwähnt. Ich kenne Magarrics Namen nur, weil ich die Geschichte der Entstehung unserer Heimstätten kenne.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Woher wisst ihr, dass er der Magarric ist?« Beide Elfen legten die Hand auf die Brust. Entschlossens Antwort kam als ein Flüstern. »Ich weiß es einfach.« Orakel erschien auf dem Ruderdeck. »Magarric ist wach?« Dem menschlichen Magiker fiel die Kinnlade herunter. »Du wusstest es?« Sie lachte. »Ich sehe vieles, Kjarrigan. Es wissen, ist etwas anderes. Ich weiß seinen Namen, weil ich zufällig hier oben stand, als er sich vorgestellt hat.« Entschlossen legte Orakel die Hand auf die Schulter. »Ja, Cousine, er ist wach. Er kann uns in den Corijes bringen. Er sagt, Will erwarte uns.« Orakel lächelte. »Jetzt weiß ich noch etwas anderes.« Kjarrigan hob Qwc aus der Truhe, wickelte ihn in ein Tuch und steckte ihn sich ins Hemd. »Was weißt du?« »Viele mögliche Zukünfte treffen hier aufeinander. Nur wenige entfalten sich und erreichen die volle Blüte.« Sie kehrte sich nach Norden um. »Morgen wird sich die Norderstett-Prophezeiung entweder als wahr erweisen oder sie ist falsch und wird uns alle töten.« Kjarrigan nahm gerne wieder seinen Posten am Bug des Schiffes ein, als sich die Vorqaelfen für das letzte Stück in die Riemen legten. Das Schiff bog um eine Landzunge und hielt in gerader Linie auf den Hafeneingang zu. Er erinnerte sich daran, wie die Gefährten Rellaence erreicht hatten, die Hauptstadt von Loquellyn. Trotz der Traurigkeit, die sein Herz damals umfangen hielt, hatte ihre Schönheit ihn gefangen 185 genommen. Obwohl seine Lehrerin tot in einer der Kabinen des Schiffes lag, hatte ihn Rellaence aufgemuntert. Der erste Anblick Saslynnaes hatte keine vergleichbare Wirkung. Die Berge rund um die Stadt waren von einem niedrigen schwarzen Etwas überwuchert, das Kjarrigan stark an Schimmel erinnerte. Rote Ranken zogen sich wie Blutgefäße durch die Landschaft und wanden sich um die dunklen, nackten Leichen kahler Bäume. Hässliche kleine Büsche, von der Farbe eingetrockneten Blutes und von Dornen starrend, erhoben sich hier und da in kleinen Gruppen. Einst prächtige Gebäude, aus Holz gebaut und so natürlich in ihrer Form, dass man glauben konnte, sie wären so aus dem Boden gewachsen, dienten nur noch Schimmel und Ranken als Klettergerüst. Riesige bunte Pilze hingen an den zum überwiegenden Teil eingestürzten Hauswänden. Um genau zu sein, abgesehen von den Docks und ein paar grob zusammengezimmerten Lagerhallen hatte nur ein einziges Gebäude dem Zerfall standgehalten. Mechanisch deutete aufs Land. »Das ist der Corijes. Der Platz vor dem Eingang war früher überwuchert, aber als Kytrin ihn benutzen wollte, hat sie ihn roden lassen.« Kjarrigan nickte und schätzte die Entfernung vom Hafen zum Corijes. Es waren etwa fünfhundert Schritt, allerdings über eine Straße, die sich in Serpentinen den Berg hinaufwand. Häuser reihten sich daran entlang, und auch wenn sie unbewohnt aussahen, konnten in jedem von ihnen Schnatterer lauern. Der Weg bot keine Deckung. Eine einzige Salve Pfeile oder Draconettenkugeln konnte sie alle töten. Außer mir. Kjarrigan fröstelte bei der Vorstellung der knatternd von seinem Panzer abprallenden Draconettenkugeln, während rings um ihn herum seine Freunde starben. Er hatte die Wunden, die diese Waffen schlugen, aus nächster Nähe gesehen und wollte nun wirklich nicht noch zusehen müssen, wie sich seine Freunde sterbend am Boden wanden. Er drehte sich um und winkte Entschlossen zu sich. »Niemand erwartet uns.« 186 Entschlossen hob die Hand über die Augen. »Noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Die meisten Aurolanen schlafen. Diejenigen, die Wache halten, sehen eines ihrer eigenen Schiffe einlaufen.«
»Ich könnte sie ebenfalls einschläfern.« »Falls es nötig wird.« Entschlossen klopfte ihm auf die Schulter. »Vor allem müssen wir uns beeilen. Wir holen Will und verschwinden wieder.« »Aber wenn etwas schief geht, kann ich die Zauber einsetzen, die ich für richtig halte?« »Ja, Kjarrigan. Ich vertraue dir.« Der Graunebler, der das Schiff steuerte, lenkte es an einen Kai, und den Ruderern wurde mitgeteilt, dass sie am Ziel seien. Schnell holten die Vorqaelfen die Riemen ein und machten sich kampfbereit. Trawyn und ihre Hand voll Überlebender besaßen komplette Kettenpanzer, und sowie das Schiff an der Kaimauer scheuerte, sprangen sie mit Tauen an Land und zurrten sie fest. Abgesehen von einem Dutzend Vorqaelfen, die als Wache bei Orakel an Bord blieben, rannten alle Mitglieder der Gruppe das Dock hinunter in die Stadt. Kjarrigan, der Qwc in einem umgebastelten Weinschlauch um den Leib trug, rannte an der Spitze der Truppe, hinter Entschlossen, Mechanisch und Trawyns Leuten. Magarric lief neben ihm, Bok folgte ihnen. Er hatte Rymramochs Kasten an Bord des Schiffes gelassen, von genügend Schutzzaubern bewacht, um eine Legion Aurolanen aufzuhalten. Hinter ihnen folgte der Graue Nebel. Er konnte spüren, wie ihn fremde Augen beobachteten. Keines der von schwarzem Wuchs pelzigen und in rote Schlingpflanzen gehüllten Gebäude erschien ihm wirklich verlassen. Hinter den Türen und Fenstern mochte es dunkel sein, aber er wusste einfach, dass es Aurolanen verbarg. »Entschlossen, sie warten auf uns.« »Ich weiß.« »Woher?« »Es ist nur folgerichtig. Swindger war dabei, als Orakel ver187 kündete, dass Will im Corijes auf uns warte. Kytrin hat versucht einzudringen, doch es ist ihr nicht gelungen.« »Es war die Traumschwinge.« Magarrics Gesicht wirkte verzerrt und die Worte kamen ihm zischend über die Lippen. »Sie haben nach mir gesucht, doch die Traumschwinge hat mein Wesen weit genug verändert, so dass sie mich nicht finden konnten. Hätten sie mich getötet, wäre er gefallen.« Kjarrigan rannte noch etwas schneller, um Entschlossen einzuholen. »Wenn du gewusst hast, dass sie warten und dass das hier eine Falle wird, warum hast du dann zugelassen, dass wir hineintappen?« »Kjarrigan, denk einen Augenblick nach.« »Was?« »Du hast einmal ein Schiff aus dem Meer gehoben und zertrümmert.« »Ich erinnere mich.« »Wie schwer wird es dir fallen, einen Turm voller Schnatterer zu zermalmen?« Der junge Magiker zögerte. So baufällig wie diese Gebäude waren, kostete ihn das nur ein müdes Lächeln. So leicht zu töten... Er schauderte. Aber wenn es meine Freunde rettet... »Du hättest mir sagen können, was du vorhast.« Entschlossen lachte, als sie um die letzte Kurve in der Straße bogen. »Hätte ich geglaubt, dass du Zeit zur Vorbereitung brauchst, hätte ich das getan.« Sie erreichten den Platz vor dem Corijes. Ein Teil der Dornenbüsche, die zwischen den Pflastersteinen und roten Lianen gewachsen waren, rankten sich um die Säulenpodeste. Der Schimmel klebte auf den Steinen, wurde aber in der Nähe des Gebäudes dünner. Zehn Schritt vor dem Corijes endete der Teppich aurolanischer Gewächse, und als Magarric zwischen den Vorqaelfen vortrat, erstrahlte das Gebäude, als wäre ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke gebrochen, um es in hellem Sonnenglanz zu baden. Das Bauwerk selbst erinnerte an eine riesige Baumwurzel, die aus dem Boden gebrochen war und in einem Bogen wieder 188 unter die Oberfläche tauchte. Außer am runden Eingangsportal war es von einer dünnen Rinde bedeckt. Dessen Ränder wirkten verdickt, als wäre der Baum um einen abgestorbenen Ast herum weitergewachsen, und das Holz im Innern des Kreises war durch Ringe abwechselnd aus hellem und dunklem Holz gezeichnet. Magarric hielt vor der Tür an und schloss die Augen. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, ein süßer Duft stieg auf. Die Tür schien zu schwitzen, wirkte wie von Tau bedeckt. Die Tropfen liefen an dem Holz herab, das sich langsam auflöste. Der Vorqaelf trat durch das Portal, dann drehte er sich langsam um und breitete die Arme aus. »Seid willkommen allesamt in Vorquellyns Corijes. Er, den ihr sucht, erwartet euch darin.« Magarric wandte sich wieder um und winkte ihnen, zu folgen, und drang tief in das eelfische Heiligtum ein. Mit offenem Mund betrat Kjarrigan den Corijes. Hinter der Tür lag ein breiter, halbrunder Absatz, von dem eine Treppe mit zwölf Stufen hinab in einen langen Saal führte. Die Säulen, auf denen das Dach ruhte, waren mächtige Eichen, die in dem Bauwerk gediehen wie im Freien. Das Dach lag auf ihren Laubkronen, die in prachtvollen Herbstfarben erstrahlten. Magarric hüpfte fast die Stufen hinab. Als sein Fuß den Saalboden berührte, verwandelten sich die beiden vorderen Bäume. Ihre Blätter wurden grün, zunächst im hellen Farbton des Frühlings, dann wechselten sie zu einem dunkleren Grün voller Leben. Der uralte ^lf bewegte sich ohne den geringsten Anschein von Schmerz und
schien beinahe seine Jugend zurückzugewinnen, als er tiefer in den Corijes wanderte. Kjarrigan folgte ihm. Auf halbem Weg durch die Säulenallee bemerkte er einen Baum, der seine lebendige Farbe nicht wiedergewonnen hatte. Er war noch immer rot und golden, und Laub bedeckte den Boden um den Stamm. Zwischen den Blättern fand er auch etwas Ungewöhnliches, Schwarzes, aber erst, als er fast darüber stolperte, erkannte er, was es war. 189 Ein steinerner Arm hatte sich durch den hölzernen Körper des Bodens gebohrt. Dicke Finger krallten sich in die Luft. Der Arm war viel zu groß, um Will zu gehören, aber trotzdem wusste Kjarrigan, dass Will dort im Boden steckte. »Entschlossen, was soll ich jetzt tun?« »Hol ihn heraus.« »Das weiß ich auch. Aber wie« Ein rollendes Donnergrollen stieg vom Treppenabsatz auf. Kjarrigan riss den Kopf herum. Ein Dutzend Draconettiere - Turekadein, wie an ihrer Größe leicht zu erkennen war - hatte auf die letzten Graunebler geschossen, die auf dem Weg die Treppe herab waren. Die Schüsse, die keine Vorqaelfen trafen, sprengten Splitter aus Stufen, Wänden und Boden. Magarric schrie auf und sank auf die Knie, Kjarrigan aber drehte sich nicht zu ihm um. Keine der Draconetten konnte ihn auf diese Entfernung treffen und außerdem gab es noch eine weit größere Bedrohung als aurolanische Scharfschützen. Die vorderste Reihe der Turekadein teilte sich und zog sich zum Nachladen zurück. Eine große, schlanke Äilie mit fließendem goldenen Haar, einen Smaragdstock in der Hand, trat nach vorn. Ihre Haut war so weiß, wie es die Trawyns einmal gewesen war. Und die JElie wäre wunderschön gewesen, hätten die leeren Augenhöhlen den Eindruck nicht zerstört. Trotzdem fühlte Kjarrigan einen kalten Blick über sich gleiten. »Das ist eine Sullanciri.« Entschlossen nickte. »Quiarsca.« Sie stieg eine Stufe tiefer, und hinter ihr stellte sich eine neue Reihe Draconettiere auf. Rings um sie herum schwärmten die Froschkreaturen, die Trawyn Nyressanii genannt hatte. Sie schwangen Äxte und hüpften die Treppe herab. Dabei schwangen sie die Waffen nach den hastig zurückweichenden Grauneblern, dann hackten sie auf die Toten und Sterbenden auf den Stufen ein. Wenn die Äxte die Körper durchschlugen, zuckte Magarric ebenso und schrie auf, wie wenn sie verfehlten und nur auf Holz trafen. Die Sullanciri öffnete die Arme. »Macht euch keine Sorgen, 190 wie ihr den Norderstett befreien sollt. Das werden wir übernehmen. Danke, dass ihr uns die Türe geöffnet habt.« »Entschlossen, was soll ich tun?« »Hol ihn heraus.« »Das hatten wir schon. Aber wie« »Woher soll ich das wissen. Tu es einfach, ich hole mir eine Sullanciri.« Entschlossen zog Syverce, dann winkte er die Graunebler beiseite. »Ich werde dich töten, Quiarsca.« Sie lachte beinahe melodiös, als er auf sie zulief. »Ach, Entschlossen. Du bist immer so verbissen. Du willst mich vielleicht töten, aber dafür werde ich dich nicht nahe genug heranlassen.« Sie deutete auf ihn. »Feuer.« Draconetten wurden an Schultern gehoben, Hämmer spannten sich. Die Turekadein zielten und bewegten die Waffen mit Entschlossens Schritten mit. Sie warteten, während jeder seiner weiten Schritte die Entfernung schrumpfen ließ. Schon war er in Reichweite. Jeder Schritt brachte ihn näher an die Schützen, näher an die Sullanciri und näher an den Tod. ]etzt nicht! Kjarrigan gestikulierte und setzte den Zauberspruch ein, auf den Entschlossen unterwegs angespielt hatte. Der Telekinesezauber, den er vor langer Zeit schon gelernt hatte, und mit dem er ein Schiff aus dem Wasser heben oder einen Turm zertrümmern konnte. Er hätte sie alle aus dem Corijes schleudern können, was vermutlich eine sehr wirkungsvolle Methode gewesen wäre, den Zauber einzusetzen. Aber eins von Entschlossens Worten hallte in ihm nach. Ich könnte Türme zermalmen. Kjarrigan schmunzelte und entschied sich für ein weit bescheideneres, aber nicht weniger verheerendes Ziel. Einer der Turekadein knurrte einen Befehl und entlang der ganzen Reihe krümmten sich die Finger um die Abzüge. Hämmer fielen und senkten die brennende Lunte in den feinen Feuerdreck der Pfanne. Ein dünner weißer Rauchfaden bestätigte den Erfolg. Aus der Pfanne schoss die Flamme in den Lauf, wo sie eine weitere Portion Feuerdreck entzündete. Die pulverige Mischung verbrannte schnell, die Luft wurde heiß und dehnte 191 sich rasch aus. Die Bleikugel und der Tuchlappen, die den Lauf versperrten, wurden von Feuer und Luft vorwärtsgetrieben, immer schneller. Schneller als man blinzeln konnte, beschleunigte sie und schlug durch Entschlossens Brust. Oder zumindest hätte sie das getan, hätte Kjarrigan es nicht verhindert. Statt Türme zu zermalmen, hatte er sich damit begnügt, die Mündungen der Draconetten zusammenzuquetschen. Die Kugeln trafen auf das fest verschlossene Ende des Laufes und in zwei Fällen, in denen Kjarrigans Zauber das Metall gespalten hatte, explodierten die Läufe und überschütteten Quiarsca und einige Nyressanii mit
glühenden Metallsplittern. Bei allen anderen Waffen baute sich der Druck im Lauf weiter auf und suchte nach dem Weg des geringsten Widerstands - die Verbindung zwischen Kammer und Lauf. Die Draconetten flogen auseinander und Kammern oder Verschlüsse trafen mit der ganzen Wucht des Feuerdrecks die Gesichter der Turekadein. Trawyn stieß einen alten adfischen Schlachtruf aus und eilte an der Spitze ihrer Soldaten in den Kampf. Der Graue Nebel fing sich und setzte ihnen nach. Weitere Turekadein erschienen mit traditionellen Waffen am Treppenkopf, und die Nyressanii warfen sich ins Gefecht. Gelassen wie bei einem leichten Morgenspaziergang kam Quiarsca die Treppe herab, dann blieb sie stehen und trieb das angespitzte Ende des Stocks in eine der Stufen. Magarric heulte auf. Kjarrigan wirbelte herum und sah, wie sich der Äi\( am Boden wand. Hände und Gesicht waren von winzigen Schnitten übersät. Blutflecken färbten sein Hemd rot. Er hat den Corijes errichtet. Er ist mit ihm verbunden. Und umgekehrt. Stirbt er, stirbt auch der Corijes. Wird jedoch der Corijes beschädigt, verwundet es ihn. Kjarrigan starrte hinab auf den steinernen Arm, der sich durch den Boden zwängte. Natürlich. Entschieden wandte er sich von dem Kampf ab und kniete neben Magarric nieder. Er fasste den alten TElf an den Schultern, drehte ihn um und packte ihn von hinten unter den Ach192 sein. Magarric schlug um sich, als wieder Draconettendonner durch den Saal hallte und Quiarsca ihren Stock noch einmal in den Boden trieb. Der Magiker klammerte sich fest und vertrieb die Schreie und Explosionen aus seinem Bewusstsein. Er öffnete sich dem Strom der Magik und hielt Ausschau nach einer Strömung voller Macht und Reinheit. Er streckte sich aus und fing sie ein, dann lenkte er sie in einen Heilzauber. Er sprach ihn über Magarric, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht verhindern, dass er mit in den Strudel der Schmerzen gezogen wurde, der den alten i£lf in seiner Gewalt hatte. Für Kjarrigan war es nahezu unvorstellbar. Magarric hatte schon gelebt, bevor es Sprijsa und Menschen auf der Welt gab. Er hatte Freunde und Verwandte verloren, hatte unzählige Male geliebt und noch unzähligere Male war ihm das Herz gebrochen worden. Die Erschaffung Vorquellyns war ein freudiges Ereignis gewesen, doch das Wissen um das Größere, das hatte untergehen müssen, um seine Geburt zu ermöglichen, zehrte an ihm. Er hatte so viel gesehen, so viele Menschenalter durchlebt, hatte sein Reich verloren, zusehen müssen, wie es geschändet wurde und verrottete. Der junge Mensch stürzte in das Leben des uralten elfen und spürte, wie er sich auflöste. Kjarrigan kämpfte um Zusammenhalt, doch er fühlte sich wie Öl, das in ein endloses Meer gegossen wurde. Er beruhigte die Wogen, dabei verwandelte er sich aber in einen durchscheinend dünnen Film. Er konzentrierte sich darauf, Magarrics Verletzungen zu heilen. Die Schnitte der Äxte, die Nadelstiche der Draconettenkugeln und die brutalen Stiche Quiarscas zehrten an Magarrics Kraft. Sie trieb den Stock in sein Fleisch - IN unser FLEISCH -und drehte ihn in der Wunde. Schmerztentakel peitschten durch sie - uns. Und der Teil, der noch Kjarrigan war, kämpfte darum, den Schaden zu beheben. Er suchte alle übrigen Anomalien und Krankheiten. Er drückte den verkrusteten Stein aus der Brust, fand uralte Wunden und heilte sie. Kjarrigan fiel mitten durch Magarrics Wesen und in den 193 Corijes. Er sah das ganze Geschehen von allen Seiten gleichzeitig. Die Loqaelfen waren durch die Reihen der Turekadein gestoßen, aber jetzt waren sie umzingelt. Ein Teil der aurolani-schen Kreaturen stürmte an ihnen vorbei und griff die Grau-nebler an. Ein Turekadin löste sich aus dem Tumult und rannte mit blutigem, hoch erhobenen Schwert auf Kjarrigan zu. Der Knabe war deswegen nicht weiter besorgt. Er wusste, die Waffe würde von seinem Panzer abprallen. Entschlossen war in einen Zweikampf mit einem Turekadin verwickelt und Bok bombardierte die Nyressanii mit Zaubersprüchen. Keiner der beiden bemerkte den ausbrechenden Turekadin, aber Quiarsca sah ihn. Sie lachte triumphierend und trieb ihren Stock so tief in den Boden, dass eine ganze Stufe auseinander brach. Magarric schüttelte sich. Der Stich ging bis zum Herzen des /Elf. Noch ein Stich, und sie würde ihn töten. Und sie wusste es: Er entnahm es ihrem Gesicht und der langsamen, genüsslichen Art, mit der sie den Stock aus dem Boden zog und zu einem letzten Stoß hob. Niemand war nahe genug, sie aufzuhalten. Außer mir. Kjarrigan suchte hastig in sich und jagte einen Zauber durch Magarric hinaus in den Corijes. Quiarscas Stock fiel herab. Die glitzernde, nadelscharfe Spitze raste auf den Riss im Holz zu, aus dem bereits goldenes Harz floss. Der Stock würde tief bis zum Kernholz eindringen und Magarric töten, den Corijes töten und damit Vorquellyns Untergang besiegeln. Der Stock zerbarst in Quiarscas Hand. Der aus einem einzigen riesigen Smaragd geschnittene Kristall zersplitterte an dem Drachenbeinpanzer, der durch das Holz stieg und die Wunde schützte. Messerscharfe Splitter grünen Edelsteins bohrten sich der Sullanciri in Hände, Gesicht, Rumpf und Schenkel. Reflexartig riss sie die Hände vors Gesicht und zerschnitt sich auch dort die Haut. Sie schrie auf. Blut floss aus den leeren Augenhöhlen. Magarrics Bewusstsein strömte durch Kjarrigan. Was hast du getan? Du hast uns deinen Panzer gegeben. Du
bist schutzlos. 194 Kjarrigan schloss die Augen und wartete darauf, dass das Schwert des Turekadins ihn spaltete. Ihr müsst überleben. Aus weiter Ferne, wie aus tausend Meilen, hörte er Entschlossen seinen Namen brüllen. Der schwere Atem des Turekadins aber war weit lauter. Er spürte den Donner seiner Schritte. Er machte sich für das Zischen des Schwerts durch die Luft und den Knall bereit, mit dem ihm die Klinge den Schädel spaltete. Halb fragte er sich, ob er das Knacken der zerplatzenden Knochen wohl noch hören würde. Mit seinem letzten bewussten Gedanken stieß er Magarric von sich, damit ihn der Hieb nicht ebenfalls tötete. Der Schlag schien ewig auf sich warten zu lassen. Kjarrigan fragte sich, ob die Legenden stimmten und im Augenblick des Todes das ganze Leben an einem vorbeizog. Die Zeit reichte ohne weiteres, auch noch Magarrics Leben vorbeirauschen zu lassen, dachte er. Beeilung, mach schon, bringen wir es hinter uns! Er erwartete ein Zischen und ein Krachen. Er hörte ein Quietschen und ein Gurgeln. Kjarrigan wirbelte herum und rollte sich ab, als das Schwert, das ihn hatte spalten sollen, klirrend zu Boden fiel. Gut zwölf Schritt über ihm hing ein Turekadin in der Luft und strampelte. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Die Zunge hing ihm aus dem Maul und lief blauviolett an. Er schlug nach der Hand um seinen Hals, aber die Hiebe verloren schnell an Kraft, dann fielen die Arme leblos herab. Ein Fels in Menschengestalt ragte über Kjarrigan auf und drehte ihm den Rücken zu. Er war vom selben Obsidian wie die Hand, die aus dem Boden geragt hatte. Das war der Stein, den ich aus Magarrics Brust gedrückt habe. Die Gestalt war überlebensgroß und erheblich breiter, als Will es je gewesen war. Seine Schultern sind noch breiter als die von Dranse. Kjarrigan stand hastig vom Boden auf und schlug der Gestalt auf den Rücken. »Keine Sorge, Will, wir kriegen dich da raus. Es gibt bestimmt einen Weg. Danke.« Die Felskreatur wandte ihm den Kopf zu. Sie hatte keine 195 Ohren, keine Nase, keinen Mund. Genau genommen hatte sie auch keine Augen, nur zwei Flecken am Kopf glühten rotgolden wie die Lava, die Will verschlungen hatte. Sie schaute ihn kurz an, dann drehte der Kopf sich zum Kampfgeschehen zurück. Der tote Turekadin hing noch immer in der ausgestreckten Linken. Kjarrigan schaute ebenfalls zum Eingang und sah Quiarsca die blutigen Stufen hinaufkriechen. Sie versuchte zu entkommen, krallte sich blind, auf Händen und Knien, in die Stufen. Sie versuchte nach Kräften schnell voranzukommen, doch schien das Holz selbst sie festzuhalten. Sie hatte Mühe, die Hände zu heben. Das Kleid klebte an den Stufen. Magarric kicherte. »Was uns nicht umbringt, macht uns ausgesprochen ärgerlich. Sie geht nirgends hin.« Entschlossen schlug sich den Weg durch die letzten Turekadein frei, dann sprang er die Stufen hinauf zu der Sullanciri. Sie drehte sich zu ihm um und hob die linke Hand, als wollte sie um Gnade flehen. Sie wälzte sich auf den Rücken, das Haar gefangen im klebrigen Harz, das auf Magarrics Befehl aus dem Holz quoll. Schnell stieß ihr Entschlossen Syverce durchs Herz. Sie erstarrte. Obwohl sich ihre Muskeln bald darauf entspannten, blieb ihr Körper auf der Treppe liegen. Mehr Harz quoll aus dem Holz, floss um ihre Leiche und schloss sie nach und nach ein. Anderswo im Saal des Corijes brannte Bok das Leben aus der letzten Nyressan. Trawyn kniete neben einem ihrer toten Krieger und schloss ihm die Augen. Verwundete Graunebler plünderten die Kadaver der Turekadein, und mehr als einer von ihnen schwenkte eine Draconette. Entschlossen stand am Treppenaufgang und deutete zum Eingang. »Ihr habt uns eingeschlossen.« »Ich habe sie ausgeschlossen.« Magarric trat heran. »Die Verletzten sollen ihre Wunden mit dem Harz aus den Stufen bestreichen. Das wird die Heilung beschleunigen. Für die Toten kann ich nur meine Tränen anbieten.« Kjarrigan lief ihm hinterher und fasste ihn an der Schulter. »Was ist mit Will? Was könnt Ihr für ihn tun?« 196 Magarric drehte sich um. »Wer ist Will?« Kjarrigan deutete zu der steinernen Gestalt, die den toten Turekadin immer noch festhielt. »Das ist Will. Will ist da drin. Wir müssen ihn herausholen.« Trawyn und Entschlossen erreichten Kjarrigan und Magarric, als der alte /Elf den Kopf schüttelte. »Ihr seid nicht wegen Will hier. Ihr seid wegen dem Norderstett hier. Das ist er.« Kjarrigans Magen überschlug sich. Er stolperte rückwärts und hätte sich wohl auf den Hosenboden gesetzt, doch Entschlossen stützte ihn. »Was?« »Kjarrigan, Kjarrigan, wir haben nicht zugehört.« »Wie meinst du das? Ich verstehe nicht.« Entschlossens Stimme klang gepresst. »Orakel hat gesagt, der Norderstett erwartet uns. Sie hat niemals von Will gesprochen. Will ist auf Vael gestorben, aber der Norderstett hat überlebt.« Kjarrigan kamen die Tränen, vor seinen Augen verschwamm die Umgebung. »Wie?« Er schluchzte. »Wie kann das sein? Damals habe ich ihn nicht gerettet, aber diesmal wollte ich es. Wie?«
Entschlossen drückte Kjarrigan an sich. »Ich weiß es nicht, Kjarrigan, aber ich habe eine Vermutung. Will war nicht einfach Will, musst du wissen.« »Ich weiß. Er hieß Wilmenhart. Er hat es mir gesagt.« »Nun, vielleicht war Will nur ein Teil des Norderstett. Der Teil von ihm, der an einen Punkt gelangen musste, an dem er sich verwandeln konnte. Und irgendwie wusste er das. So wie sich sein Vater und Großvater verwandelt hatten, musste auch er sich verwandeln. Auf Vael haben wir Will verloren, aber hier haben wir den Norderstett gefunden.« Etwas flatterte gegen Kjarrigans Bauch. Qwc kämpfte sich aus dem Kokon aus Stoff und Leder frei, dann schwirrte er hoch zu der Obsidiangestalt. Qwc umkreiste den Felsenmann einmal, dann landete er auf der rechten Schulter. Der Sprijt legte alle vier Hände um den Mund und flüsterte etwas an die Stelle, wo bei einem Menschen das Ohr gewesen wäre. 197 Der Turekadin schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden, als sich die Hand öffnete, dann senkte sich der linke Arm, und die Gestalt setzte sich in Bewegung. Für ein Geschöpf aus Stein bewegte sich der Norderstett erstaunlich leichtfüßig. Unter dem schweren Schritt des Turekadins hatte der Boden stärker gebebt. Als der Norderstett näher kam, sah Kjarrigan, dass sich in seiner Schulter eine Delle geformt hatte, in die Qwc genau hineinpasste. Der Sprijt klopfte dem Norderstett auf die Schulter. »Fort. Fort. Will möchte fort.« Entschlossen drückte Kjarrigan. »Qwc, das ist nicht Will.« »Genauer hinschauen. Qwc sieht.« Kjarrigan hob den Kopf. Er sah nichts. Oder doch? War da ein Funkeln in den Augen? Etwas in der Art, wie sich eine Hand bewegte ? Das Ding bewegte sich ebenso leicht, wie Will es getan hatte. War es das, was Qwc sah, oder konnte der Sprijt durch die Steinhülle sehen, was darin verborgen lag? Entschlossen ließ Kjarrigan los und ging zur Tür. »Qwc hat Recht. Wir müssen aufbrechen. Wahrscheinlich wartet da draußen eine ganze Horde von ihnen auf uns.« Magarric schüttelte den Kopf. »Die Tunnel sind fast leer, und wir kennen ein paar Tricks, um sie beschäftigt zu halten, während ihr abzieht.« Der silberäugige Vorqaelf runzelte die Stirn. »Das klingt, als würdet Ihr hier bleiben.« »So ist es. Wir werden die Fragmente hier aufbewahren.« Trawyn schüttelte den Kopf. »Ist das klug? Ihre Gegenwart im Corijes wird ...« Magarric blickte sie an. »... störend genug wirken, uns in den Wahnsinn zu treiben?« »Verzeiht, mein Fürst.« »Halb so schlimm, Kind.« Der Vorqaelf lächelte. »Die Fragmente sind hier sicher, bis ihr Erfolg habt. Und falls nicht, werden wir wieder auf Wanderschaft gehen.« Trawyn rückte ihre Augenklappe zurecht. »Ihr habt Tunnel erwähnt. Hat Kytrin dort ihre Truppen herangezogen?« 198 »Manche von ihnen. Diejenigen, die ihr hier seht, die Kryalniri - die nicht annähernd so schlimm sind wie die Kreaturen, von denen sie ihren Namen haben. Und auch die kleineren.» »Und Ihr sagt, die Tunnel seien leer?« »So gut wie. Viele sind nach Loquellyn gezogen, und wir vermuten, der Rest zog nach Osten.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Nach Sebtia und Muroso. Die Prinzessin marschiert in eine Falle.« Entschlossen nickte. »Umso mehr Grund, dass wir uns beeilen. Jeder schnappt sich ein paar Turekadein und bringt sie mit.« Raubtier wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Es ist einfacher, sie hier zu skalpieren, Entschlossen.« »Stimmt, Raubtier, aber Skalps rudern nicht.« Entschlossen tippte auf eine der Tätowierungen auf seinem Arm. »Falls ihr nicht den ganzen Weg bis zur Geistermark pullen wollt, nehmt einen Freiwilligen mit. Wenn wir Kytrin schon mit einem ihrer eigenen Schiffe einen Besuch abstatten, darf sie uns ruhig auch die Mannschaft zur Verfügung stellen.« 199 KAPITEL EINUNDZWANZIG Isaura hatte ihre Mutter noch nie in einem solchen Zustand erlebt. Sie wusste seit langem, dass die Imperatrix die Gestalt verändern konnte. Als Kind hatte sie das begeistert, und noch immer überliefen sie wohlige Schauer, wenn sie ihre Mutter Drachengestalt annehmen sah, um über ihr Reich zu fliegen. Isaura wusste auch, dass diese Veränderung von ihrer Mutter Disziplin erforderte - sowohl für die Gestaltwandlung selbst als auch für das Bewahren einer Form. Als sie jetzt im Eingang zum Arkanorium ihrer Mutter hoch im Turm des Palastes stand, erkannte Isaura Kytrin kaum wieder. Sie hatte bereits erwartet, dass etwas nicht stimmte, als ihre Mutter sie tagelang nicht zu sich bestellt hatte. Isaura vermutete, dass der Tod der beiden Sullanciri damit zu tun hatte: Myral'mara und Quiarsca. Ihre Mutter hatte nie irgendwelche Zuneigung für die beiden gezeigt, doch ihr Tod musste sie treffen. Vielleicht war diese Trauer die Erklärung für den Anblick, der sich Isaura bot. Kytrins schmutziges, lumpiges Kleid hing von gekrümmten Schultern. Ihr langes Haar, sonst golden und von seidigem Glanz, jetzt brüchig und
von weißen Strähnen durchsetzt. Ihre Gesichtszüge waren schärfer geworden, die Mundpartie zu einer Schnauze ausgestülpt. Vor allem aber bedeckten elfenbeinweiße Schuppen ihre Haut. Sie waren weder so dick noch so groß wie in der Drachengestalt, sondern ähnelten eher den Schuppen eines Fisches. »Du hast nach mir geschickt, Mutter?« Kytrin wandte den Kopf mit derselben Beiläufigkeit, mit der Reifreißer sie als mögliche Beute zur Kenntnis nahmen. »Das 200 habe ich, Isaura.« Ihr Lächeln entblößte Fangzähne. »Ich habe konzentriert an dem Zauber gearbeitet, der mich in Narriz entlarvte. Meine derzeitige Gestalt ist eine der Vorkehrungen, die ich traf, um nicht noch einmal von ihm aufgespürt zu werden. Außerdem habe ich Schutzzauber errichtet, um ihn aufzuhalten oder zu täuschen.« Isauras Rechte lag auf dem kühlen Stein des Türbogens. »Das ist gut zu wissen, Mutter. Ich wusste, es würde dir gelingen.« »Oh, sicher, es ist mir mühelos gelungen. Aber dann begann ich mit dem Zauber zu experimentieren. Der Mensch, der ihn entwickelt hat, ist für jemanden von seiner Jugend sehr begabt.« Kytrin hauchte - und in der Dunstwolke sah man ein Bild von Kjarrigan. Isaura keuchte auf. »Das ist der Magiker, der Neskartu getötet hat.« »Kaum überraschend. Er ist eine erstaunliche Mischung aus vilwanischer, murosonischer und sonstiger Magik. Er wurde von Drachen und natürlich von meinem Vater unterrichtet. Das Faszinierende ist, wie neu die Magik war, die er für die Suche nach mir benutzt hat. Ich habe sie umgestaltet, um nach Fragmenten der Drachenkrone zu suchen, und sie war erfolgreich. Zwei habe ich hier, eines befindet sich auf Vael. Der Rubin ist in Oriosa. Swindger hat ihn versteckt, aber ich weiß, wo er ist. Sobald Anarus die Armee dort zerstört hat, werde ich ihn losschicken, den Stein zu holen.« Kytrin rieb sich die schuppigen Hände. »Ich habe auch Berichte über zwei weitere Bruchstücke erhalten: den Saphir und Vorquellyns vermissten Diamant. So, wie sie sich bewegten und wieder verschwunden sind, zusammen mit Quiarscas Tod...das lässt mich darauf schließen, dass sie auf Vorquellyn sind, und zwar im dortigen Corijes. Du, mein Liebling, wirst eine entscheidende Rolle dabei spielen, diesen Ort zu öffnen, so dass wir die Krqne vervollständigen können.« »Natürlich, Mutter. Es wird mir eine Freude sein, dabei zu helfen.« Isaura hoffte, dass ihre Stimme heiter klang. »Was ist mit dem siebten Fragment?« 201 »Ah ja, das ist das Wichtigste. Genau wie das Vorquellyn-Fragment war es gegen die üblichen Suchzauber hervorragend abgeschirmt. Jetzt aber konnte ich es ausfindig machen. Zumindest manchmal. Ich setze den Spruch einmal in der Stunde ein, und gelegentlich findet er es, zu anderen Zeiten aber nicht. Jedenfalls kann ich es jetzt in meine Hand bekommen.« Das zufriedene Gackern ihrer Mutter sandte Isaura einen kalten Schauder über den Rücken. »Und das Beste daran, meine Tochter: Es befindet sich bei Prinzessin Alexias Begleitung und ist somit geradewegs in unsere Falle unterwegs. Sobald ich es besitze und die anderen Fragmente gesichert sind, werden mir die Drachen den Wahrstein aushändigen, den sie auf Vael aufbewahren. Dann werde ich die Krone neu schmieden und meine Meister werden wieder über die Welt herrschen.« »Das ist wundervoll, Mutter. Soll ich gleich nach Vorquellyn aufbrechen?« Die gespaltene Zunge der Imperatrix zuckte kurz aus ihrem Maul, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist nicht möglich. Die Suche beansprucht meine Zeit, und ich brauche dich hier.« »Möchtest du mir den Zauber beibringen? Dann könnte ich dir die Suche abnehmen.« Ihre Mutter schlurfte langsam durch das dunkle Turmzimmer, dann drehte sie sich so plötzlich zu Isaura um, dass diese zusammenzuckte. »Das ist vielleicht gar keine so dumme Idee, ja. Komm her.« Gehorsam glitt Isaura näher und blieb vor ihrer Mutter stehen. Kytrin streckte die Hand aus und drückte der jungen Frau die rechte Handfläche auf die Stirn. Ihre Krallen wühlten sich in Isauras Haar. Die Haut ihrer Mutter war trocken und warm. Die Krallen senkten sich leicht in Isauras Kopfhaut. Ihre Mutter konnte ihr zweifellos mit einem unbedachten Muskelzucken den Schädel eindrücken. Kytrin schloss die Augen, und die Hand auf Isauras Stirn 202 wurde heiß. Sie widersetzte sich einen Augenblick, dann brach der Zauber in ihr Bewusstsein durch. Sofort verstand ihn die junge Frau in seiner ganzen Eleganz. All seine unterschiedlichen Elemente waren brillant miteinander verwoben. Man brauchte nur die Eckpunkte der Suche festzulegen und den Sammelpunkt für die Herolde zu bestimmen, und der Zauber tat seine Arbeit und schirmte seinen Anwender zugleich vor einer Entdeckung ab. Besonders gefiel ihr, wie der Magiker die Suchzauber so geschützt hatte, dass diese Schildzauber selbst jeden in die Irre führen konnten, der versuchte, den Ursprung des Zaubers zu finden. Isaura trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit den Fingern durch das weiße Haar. »O ja, Mutter, ich verstehe ihn. Ich werde dir helfen, wie du es brauchst.« »Ich weiß, Isauraliebes.« Wieder blitzten die Fangzähne der Imperatrix beim Lächeln auf. »Inzwischen bedaure ich es, dass ich den Schöpfer dieses Spruches so übereilt getötet habe. Wäre es mir gelungen, ihn zu einem Sullanciri zu machen, wäre er ein ausgezeichneter Ersatz für Neskartu gewesen und ihm haushoch überlegen.« »Ja, Mutter, das ist wirklich Pech.« Isaura zögerte, dann sprach sie weiter. »Du hast gesagt, zwei Fragmente sind
in Vorquellyn. Bedeutet das, sie sind dorthin gefahren und haben den Norderstett befreit?« Kytrin nickte, während sie sich umdrehte und zu einem Tisch hinüberging, dessen Arbeitsfläche mit Büchern, Schriftrollen, Destillierkolben, Ampullen und einer kleinen Truhe voller Schubladen mit seltenen Ingredienzien bedeckt war. »Ich vermute es. Genauso hatte ich es geplant.« »Wie kann das sein? Es ist ihm vorherbestimmt, dich zu vernichten.« »O ja, das ist es, mein Liebling, doch die entscheidende Frage lautet: wann.« Die Imperatrix drehte sich wieder um und verschränkte die Finger. »Du musst etwas Entscheidendes begreifen. In einer Prophezeiung stecken gewaltige Möglichkeiten. Sie bündelt diese Möglichkeiten, als wäre ihre Erfüllung ein 203 Nadelöhr, und alles, was geschehen und Wirklichkeit werden kann, muss durch dieses Nadelöhr passen oder es hat keine Zukunft. Die Norderstett-Prophezeiung könnte für jeden Norderstett zutreffen. Deshalb habe ich sie gesammelt. In dieser Ära hat die Prophezeiung noch zusätzliche Macht, weil ein ungestümer junger Bursche namens Tarrant Valkener geschworen hat, Vorquellyn zu seinen Lebzeiten befreit zu sehen. Ich hatte gehofft, mit seinem Tod etwas von dieser Macht freizusetzen. Doch es sollte nicht sein. Noch nicht. Und so baut sich weiter Macht auf, weil sich der Norderstett der Erfüllung der Prophezeiung nähert und die Möglichkeiten sich immer stärker bündeln. Macht, die ich benötige.« Isaura nickte nachdenklich. »Um die Oromisen zu befreien?« »Ja.« »Aber was, wenn der Norderstett dich tötet?« »Ich habe Vorkehrungen getroffen. Falls ihm das gelingt, werden andere Kräfte ins Spiel kommen, die trotzdem zur Befreiung der Oromisen führen. Falls ich ihn aufhalte, falls ich ihn zögern lasse, bin ich in einer Lage, die es mir gestattet, diese Macht zu nutzen und meine Meister freizusetzen. Auch die Wiedererschaffung der Drachenkrone bündelt Macht, jedoch weit weniger. Aber da ich mit ihr die Drachen aufeinander hetzen und sie vernichten kann, werde ich auch weniger Macht benötigen. Sobald sie verschwunden sind, wird es sehr viel leichter sein, meine Meister zu befreien.« »Was aber, falls der Norderstett es nicht bis hierher schafft?« »Ich habe sein Kind. Das reicht.« Isaura zwang sich zu einem Lächeln. »O Mutter, ich bin so froh. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht. Jetzt weiß ich, dass nichts passieren kann.« Kytrins Miene hellte sich auf. »Sehr gut, meine Tochter. Ich freue mich, dass du dir keine Sorgen mehr machst. Jetzt muss ich weiterarbeiten. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es nicht mehr lange dauert. Ich werde dich rufen, sobald ich deine Hilfe benötige. Leb wohl.« 204 »Du auch, Mutter.« Isaura drehte um und floh aus dem Turm. Sie raffte die Röcke, um die Stufen der Wendeltreppe hinabrennen zu können. Was ihre Mutter gesagt hatte, trieb sie an. Ihre Mutter war wahnsinnig, daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Was einmal ein echter Wunsch gewesen sein mochte -Aurolan vor der Unterwerfung durch den Süden zu bewahren -, hatte die Oromisen schon vor langer Zeit in etwas anderes verwandelt. Ihre kurze Begegnung mit den Oromisen und ihr Wissen um die Drachen und die Furcht vor ihnen brachte Isaura zu der Überzeugung, dass die Oromisen die Herrschaft über die Welt auf keinen Fall zurückerringen durften. Am Fuß des Turmes wartete Hlucri in den Schatten. »Da bist du. Hol alles zusammen, was wir für unsere Flucht versteckt haben.« Der Sullanciri nickte. »Und Sayce?« »Die hole ich.« Isaura atmete durch. »Wir müssen in den Süden, und zwar schnell. Falls nicht, werden die Pläne meiner Mutter aufgehen - und die Welt wird sich zu etwas verändern, das nie sein darf.« Ferxigo machte sich so klein, wie es ihre gestaltwandlerischen Fähigkeiten erlaubten, bevor sie zu Füßen ihrer Herrin niederkniete. »Es ist, wie Ihr gesagt habt, Herrin. Isaura hat die Gefangene und ist in den Süden aufgebrochen.« »Hlucri ist bei ihnen?« »Ja, Herrin.« »Sehr gut.« Kytrin lächelte, ihr Gebiss bestand nun ausschließlich aus drachenartigen Reißzähnen. »Natürlich war sie es, die mich verraten hat. Es liegt ihr im Blut. Sie wird den Norderstetts immer helfen. Und sie hat nicht begriffen, was ich ihr über die Möglichkeiten gesagt habe. Ein Norderstett, der kommt, mich zu töten, stellt Macht dar. Zwei, denn Sayce wird nicht zurückstehen, vergrößern diese Macht nur. Sie will mich aufhalten, doch sie macht mich bloß stärker.« Ferxigo wagte einen Blick nach oben. »Wird sie in der Lage sein, sie zu finden?« 205 »Ganz sicher. Mit dem Zauber, den ich sie gelehrt habe, wird sie sie finden. Gib ihr zwei Tage Vorsprung, dann brich nach Süden auf. Bring mir Sayce und den Norderstett. Alle anderen bringst du um.« »Was ist mit Eurer Tochter?« »Ich habe keine Tochter.« »Ich verstehe, Herrin.« Ferxigo presste die Stirn auf den Boden. »Soll ich am Pass Truppen aufstellen?«
Kytrin zögerte, dann nickte sie. »Alexia wird an Nefrai-kesh nicht vorbeikommen, aber du fragst dich, ob auch er sich gegen mich wenden könnte?« »Nein, Herrin, er würde Euch niemals verraten.« »Nein, aber falls doch... falls drei Norderstetts aufeinander träfen ...« Kytrins Lächeln wurde breiter. »Dann würden sich vielleicht selbst die Oromisen mir zu Füßen werfen, so wie du es tust.« »Wie es Euch gebührt, Herrin.« »Da hast du Recht, Kleines, es wäre nur angemessen.« Die Imperatrix der Aurolanen nickte ruhig. »Geh jetzt und bereite unsere Truppen vor. Erfülle deine Aufgabe zügig. Je eher du Erfolg hast, desto eher wird unsere Zukunft Wirklichkeit.« 206 KAPITEL ZWEILNDZWANZIG yx hörte aufmerksam zu, als die Murosonin wiederholte, was sie auf der Flucht nach Süden gesehen hatte. Die Frau behauptete, aus Caledo zu stammen, und die Markierungen der Maske bestätigten das. Sie war aus der Hauptstadt geflohen, als die Aurolanen sie einnahmen. Mitsamt ihrer Familie war sie erst nach Süden gezogen und dann nach Westen umgeschwenkt. Sie hatten sich in der Wildnis versteckt und in einer Höhle gelebt, bis der Frühling kam. Dann waren sie weiter nach Westen gezogen, um nachzusehen, ob Zamsina ebenfalls gefallen war. »Die Stadt gibt es nicht mehr, sie ist von Drachenfeuer bis auf den Grund niedergebrannt.»Ihre Stimme hatte den monotonen Klang betäubter Müdigkeit. »Alles ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Wir haben von einem Berg auf sie Stadt hinabgeschaut, und es war wie ein Heckenlabyrinth aus einem Turmfenster. Aber südwestlich davon, da sahen wir etwas, von dem Ihr erfahren müsst.« Alyx lächelte ihr zu. »Bitte, ich weiß, du hast die Geschichte schon oft erzählt, aber ich möchte sie mit deinen Worten hören.« Während sie das sagte, trat sie hinüber zu den Karten, die man - basierend auf den Aussagen dieser Frau und ihrer Familie - angefertigt hatte. Sie alle waren einzeln befragt worden. Ihre Geschichten stimmten überein, und sobald die Murosonin sie noch einmal wiederholt hatte, würde man die Familie wieder zusammenführen und auf einem der Güter nahe Notirri unterbringen. Falls es stimmt, was sie sagt, hat Nefrai-kesh kaum mehr als zwanzig Meilen von hier eine Armee zusammengezogen, die mich vernichten wird. Einerseits wollte sie diese Vorstellung Ai 207 als Hirngespinst abtun, denn ihr angeblicher Traum hatte eine Endschlacht in Sebtia vorhergesagt. Hatte sich die Lage so sehr verändert, dass Kytrin davon abgekommen war, ihr eine Erfüllung dieser Träume vorzuspielen, oder hielt sich Nefrai-kesh nicht an den Plan seiner Herrin ? Oder hatte Kytrin Alyx glauben machen wollen, sie wüsste, wie es weitergehen solle, damit sie den Feind unterschätzte? »Ich habe kein Händchen für Zahlen, aber mein Sohn hat die Banner gezählt. Er sagt, da gab es fast hundert dieser kleinen Banner und sechs große Standarten. Mein Mann hat gesagt, so nenne man die großen Banner. Er hat in den alten Zeiten gegen Kytrin gekämpft. Mein Sohn sagte, da habe es achtzig von den kleinen gegeben, aber ich konnte sie nicht zählen.« Alyx sah zu Kräh hinüber, der die Stirn gerunzelt hatte. Achtzig kleine Banner entsprachen achtzig Legionen oder achttausend Feinden. Die größeren Standarten würden Regimentern entsprechen, und sechs davon, das entsprach ungefähr den Legionsbannern. Die zusätzlichen Legionen waren dann wohl Verstärkung. Obwohl Alexia über fast das Anderthalbfache verfügte, machten andere Faktoren die Aurolanen ihrer Streitmacht überlegen. »Nachts mussten wir uns verstecken, aber wir haben eine Menge Lagerfeuer gesehen. Das war in den Bergen südwestlich von Zamsina. Sie haben Wälle errichtet und ein Fort gebaut. Kann sein, dass sie Sklaven aus der Gegend dafür eingesetzt haben. Wir haben keine Sklavenjäger gesehen, mein Sohn sagt aber, es waren Menschen bei den Arbeitern. Menschen müssten doch Sklaven gewesen sein, oder? Sie würden nicht für sie arbeiten, wenn sie nicht gezwungen werden, oder?« Alyx schüttelte den Kopf, ohne die Augen von der groben Karte der Befestigungen zu heben, die der Sohn gezeichnet hatte. Nefrai-kesh hatte ein quadratisches Fort aufgebaut, dessen südwestliche Ecke höher lag als die im Südosten oder Nordwesten. Die unterste Ecke war nur durch ein enges Tal zwischen zwei Bergkämmen zu erreichen, steil genug, um Rei208 ter daran zu hindern, einem Hinterhalt zu entkommen. Und wenn es einen Ort gab, der wie für einen Hinterhalt geschaffen schien, dann war es dieses Tal. Belagerungsmaschinen dort entlang zu fahren, war beinahe unmöglich, und selbst wenn, dann nutzten sie am Ziel kaum etwas, weil es dort keine Mauern gab, die zertrümmert werden mussten, nur Erdwälle und Gräben. Alyx war durch die Beschreibung des Forts vor allem deswegen beunruhigt, weil sich Nefrai-kesh damit in die Stellung begab, in der sie ihre eigenen Truppen beim Ansturm durch aurolanische Einheiten vorhergesehen hatte. Die Nordlandhorden hatten sich durch wiederholte Sturmangriffe todgerannt, und selbst als es die Aurolanen schafften, eine Bresche in die tiefe Nordostecke der Befestigung zu schlagen und in die Festung einzudringen, hatte ein entschlossener Gegenangriff sie zurück vor das Fort getrieben, wo sie besiegt wurden. Ihre Truppen
waren durch die Bresche gestürmt und hatten die Aurolanen zerschlagen, indem sie durch das Tal und in einer Flankenbewegung nach Südwesten preschten, um die aurola-nischen Schlachtreihen von der Seite aufzurollen. In ihrem angeblichen Traum hatten es die elftausend Truppen in der Befestigung ohne Schwierigkeiten mit zwanzigtausend Aurolanen aufgenommen. Genau das war jetzt ihr Problem. Befestigungen wie diejenige, die diese Flüchtlingsfamilie beschrieb, konnten eine zweifache Übermacht von Angreifern aufhalten, wenn nicht sogar eine dreifache. Und wenn die Aurolanen auch noch Draconellen hatten, waren sie möglicherweise unbesiegbar. »Ich weiß, Ihr werdet wissen wollen, ob sie Draconellen hatten. Ich habe vor Caledo welche gesehen und gehört. Ich dachte, meine Ohren müssten bluten bei dem Krach. Hier habe ich keine gesehen. Ich habe auch keine Stellungen gesehen, von denen mein Sohn sagt, dass sie nötig wären, um sie einzusetzen. Aber sicher weiß ich es nicht.« »Das ist schon gut.« Diesmal drehte sich Alyx um. »Wir können es schon herausfinden, bevor wir dort sind.« 209 Arimtara trat zu der Frau und ging in die Hocke. Sie hauchte eine Dunstwolke aus, in der das Bild eines Dracomorphs erschien. »Hast du irgendetwas gesehen, das so aussah?« Erst schreckte die Frau zurück, dann kniff sie die Augen zusammen und starrte auf das Bild. »Nein, und auch niemanden wie Euch, aber da waren so viele Leute, dass ich es nicht mit Bestimmtheit sagen könnte. Es waren auch keine Gyr-kyme da.« Peri lächelte. »Irgendwelche Araftii?« »Ich habe nichts fliegen sehen. Und nach dem Drachen vor Caledo habe ich Ausschau gehalten.« »Das glaube ich gerne.« Alyx ging hinüber und half der Frau auf. »Draußen wartet ein Leutnant, der dich zurück zu deiner Familie bringt. Danke für eure Hilfe.« Die Frau nickte, dann lächelte sie. »Ihr werdet unser Land doch befreien?« »Natürlich werden wir das.« »Und Ihre Hoheit retten?« »Ganz bestimmt.« Die Frau griff nach Alyx' Händen und bedeckte sie mit Küssen. »Die Götter mögen Euch bei allem, was Ihr beginnt, segnen.« »Danke für deine Hilfe.« Arimtara begleitete die Frau zum Ausgang, den Generalin Pandiculia für sie aufhielt. Sobald die Murosonin hindurch war, schloss die salnische Kriegerin die Türe hinter ihr. »Dankbarkeit nur für ein Versprechen. Wie bemerkenswert.« Alyx zuckte die Achseln. »Sie hat nur noch ihre Hoffnung. Und ihre Familie. Ich habe ihr zusätzlich ein bisschen Hoffnung dazu gegeben. Was sie uns gegeben hat, stimmt mich allerdings nicht gerade hoffnungsvoll.« »Das vielleicht nicht, aber es ist hilfreich.« Kräh trat hinüber an die Karte des Forts. »Ihr Sohn und der Ehemann sind sich hinsichtlich der Befestigung einig. Der Sohn hinkt, deshalb konnte er nicht Soldat werden, aber er hat ein reges Interesse an Geschichte. Er hat viele der Regimentsstandarten genau 210 beschrieben, und mit den neuen Soldatengattungen in den feindlichen Reihen war er sehr genau.« »Ich weiß. Hört sich nach den Kreaturen an, die Entschlossen auf Vorquellyn gesehen hat.« Alyx fröstelte. Die per Arkantafal aus Loquellyn eingetroffenen Einzelheiten waren zwar nicht sehr ausführlich, sie erwähnten jedoch zwei neue Kreaturenrassen in Kytrins Armeen, Turekadein und Nyressanii. Peri betrachtete die Karte. »Eines verstehe ich nicht: Das Fort ist nahezu uneinnehmbar, sowohl was die Bauweise und die Lage, aber auch was die Bemannung betrifft. Doch es hat eine Schwachstelle. Es gibt keine Wasserquelle. Selbst wenn sie Brunnen ausheben, geben die niemals genug für eine so große Armee. Warum solltest du deine Armee auch nur im Traum an einen solchen Ort führen?« Die Prinzessin lächelte. »Reiner Zufall. Als ich meinem Vetter den angeblichen Traum erzählte, habe ich nur ein paar Schlachten erwähnt, aber dazugesetzt, da wären noch andere gewesen. Der Kronzirkel wollte alle Einzelheiten hören. Eigentlich ist diese Lagebeschreibung eine Schlacht aus der valischen Geschichte, als eine j eranische Armee die Valen in einer Festung einschloss und belagerte. Ich hatte den valischen Kommandeur immer für einen Narren gehalten und nicht verstanden, wie er hätte gewinnen können. In meiner Hast versetzte ich mich in seine Lage und bot dem Kronzirkel eine mögliche Lösung an. In Wahrheit fiel die Nordostecke, sobald die Soldaten dort zu durstig waren, um sie noch zu verteidigen.« »Dann machen wir es genauso? Wir umstellen sie, graben uns ein und warten?« Kräh strich sich über den Bart. »Das wäre eine Möglichkeit.« »Ja, aber dazu müsste Nefrai-kesh ein Narr sein, und wir wissen beide, dass er das nicht ist.« Alyx tippte auf die Karte. »Falls wir das Fort umzingeln und er noch weitere Truppen in der Hinterhand hat, fällt er über uns her, und wir sind erledigt.« Kräh nickte. »Zugegeben, aber wenn wir versuchen, die Festung zu stürmen, werden wir eine Menge Leute verlieren.« 211 »Die Schwierigkeit ist mir durchaus bewusst. Er braucht uns nur zu schwächen, uns auszulaugen. Ermenbrecht
hat gemeldet, dass eine Armee nach Oriosa vorrückt. Falls sie anhält und umdreht, während wir Nefrai-kesh nach Caledo oder Sebtia treiben, sitzen wir zwischen zwei Fronten und werden zwischen diesen beiden Armeen zerquetscht.« Generalin Pandiculia verzog das Gesicht. »Wir könnten meine Truppen als Schutzschild nach Osten hin aufstellen. Ich befürchte allerdings, wir könnten sie nicht lange aufhalten. Trotzdem kann Euch das als Vorwarnung nützlich sein.« Alyx nickte. »Ganz gleich, was wir tun, Eure Armee wird eine entscheidende Rolle spielen.« Peri machte ihrer Verärgerung in einem kurzen Aufschrei Luft. »Wir können Nefrai-keshs Armee nicht einfach außer Acht lassen, weil er dann über Saporitia herfällt. Wir müssen ihn hier angreifen, auf dem Schlachtfeld seiner Wahl.« »So ist es. Für uns mag es nach einer schlechten Wahl aussehen. Für ihn ist es genau das, was er beabsichtigt.« Alyx seufzte erst, dann kniff sie die Augen zusammen. »Ich versuche zu erraten, was er weiß, er versucht zu erraten, was ich weiß, und so weiter.« »Und die Entscheidung wird von etwas abhängen, das ihr beide nicht wisst.« Kräh schüttelte den Kopf. »Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir niemals genug wissen werden, also bleibt uns nichts anderes übrig als weiterzustolpern.« »Ja, mein Liebster, du bringst es auf den Punkt.« Die Prinzessin schlang die Arme um sich. »Und zu hoffen, dass das, was wir nicht wissen, uns nicht zu übel mitspielt.« 212 KAPITEL DREIUNDZWANZIG Nachdem er die Turekadein verzaubert hatte, um die Ruderbänke zu bemannen, hatte sich Entschlossen zu einer Ruhepause in die Kabine des Schiffes zurückgezogen. Er schlief schnell ein, leichter als jemals in den letzten hundert Jahren. Obwohl seine Heimat nicht mehr annähernd so gewesen war wie in seiner Erinnerung, hatte es ihm einen gewissen Frieden beschert, sie auch nur betreten und den Feind dort besiegt zu haben. Es reichte nicht aus, ihn von seiner Aufgabe abzubringen, doch konnte er so daran glauben, der Kampf habe eines fernen Tages ein Ende. Als er wieder aufwachte und hinauf zum Ruderdeck ging, graute bereits der Morgen. Unter Deck, wo die untoten Turekadein mit einer Unermüdlichkeit die Riemen pullten, die kein lebendes Wesen aufgebracht hätte, stand der Norderstett reglos da. Qwc schlief auf seiner rechten Schulter. Die Felskreatur schien nichts von dem zu bemerken, was um sie herum vorging, und trotzdem hatte Entschlossen den deutlichen Eindruck, dass kein Turekadin auch nur eine unerwartete Bewegung hätte vollenden können. Vorn am Bug standen Kjarrigan und Orakel. Entschlossen schaute hinüber zu Trawyn, die am Steuerrad stand. »Hat Kjarrigan geschlafen?« »Nein.« »Und Ihr?« Sie schaute sich zu ihm um. »Nein. Ich kann nicht schlafen, während unsere Crew rudert.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Die machen keinen Ärger. Sie werden uns zur Geistermark bringen.« »Und dann was?« 213 »Keine Ahnung. Bis jetzt hat noch keiner lange genug durchgehalten, dass ich mir darüber hätte Gedanken machen müssen. Falls sie noch bei Kräften sind, lasse ich sie ins Meer springen. Das schulde ich Tagostscha.« Die Loqaelfenprinzessin schaute wieder zum Bug. »Ich war nie damit einverstanden, wie sich manche von euch Vorqaelfen haben verzaubern lassen.« »Die Entscheidung lag nicht bei Euch. Wir haben entschieden, es müsse sein, und damals gab es noch Vorqaelfen, die die Rituale durchführen konnten.« Ihre Stimme blieb leise. »Nur wenige der Tätowierungen auf deiner Haut sind vorqaelfisch.« »Stimmt. Ich habe eine gewisse Zeit damit verbracht, mein Gewerbe zu lernen. Es gab Personen, die nach gewissen Dingen verlangten, und ich habe sie geliefert. Es gab eine Zeit, als man Schnatterfratzengalle für ein Potenzmittel hielt. Und in der feinen Gesellschaft Alcidas waren Fächer aus Frostkrallenfedern einmal sehr gefragt. Sie haben bekommen, was sie wollten, und ich auch.« Trawyn starrte ihn wieder an, und die Kraft in ihrem Blick überraschte ihn. »War es all das wert, was du dir angetan hast?« »Wovon redet Ihr, >was ich mir angetan habe