Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts
Olga Artsibacheva
MAX NIEMEYER VERLAG
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Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts
Olga Artsibacheva
MAX NIEMEYER VERLAG
Frhe Neuzeit Band 132 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Olga Artsibacheva
Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-36632-9
ISSN 0934-5531
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: Hubert & Co., Gçttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel »Der Saiten süße Kunst« Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts im Wintersemester 2007/2008 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommen wurde. Mein herzlichster Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg), der die Dissertation über mehrere Jahre intensiv betreut und mich auf vielfältige Weise gefördert hat. Er hat mich in den verschiedenen Stadien der Arbeit stets durch seine Gesprächsbereitschaft, Rat und Kritik unterstützt. Prof. Dr. Dieter Martin (Freiburg) danke ich für zahlreiche wertvolle Hinweise und das dauerhafte Interesse, mit dem er die Arbeit begleitet hat. Für die kritische Lektüre der Arbeit danke ich herzlich Dr. Karin Vorderstemann, die mir auch in vielen fruchtbaren Gesprächen zahlreiche wichtige Anregungen gegeben hat. Daneben gilt mein Dank Dr. Irina Galynina, die mich bei der Übersetzung der lateinischen Texte unterstützt hat. Dr. Jörg Ganzenmüller danke ich für seine Hilfe bei der Beschaffung wichtiger Quellen. Ganz herzlich bedanke ich mich bei der Rombach-Verlag KG und beim Kuratorium des Gerhart-Baumann-Preises für die Anerkennung des Gerhart-Baumann-Preises für interdisziplinäre Literaturwissenschaft. Beim Kuratorium der Rolf und Ursula Schneider-Stiftung möchte ich mich für das gewährte Stipendium bedanken, das mir eine intensive Nutzung der für mein Dissertationsprojekt unentbehrlichen Bestände der Herzog-August- Bibliothek Wolfenbüttel ermöglichte. An dieser Stelle sei auch den Mitarbeitern der Herzog-August-Bibliothek für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gedankt. Mein herzlicher Dank geht auch an die ehemaligen Arbeitskollegen in der FVA Baden-Württemberg in Freiburg, deren Wohlwollen und Verständnis mir eine große Hilfe waren. Insbesondere Wolfgang Hercher bin ich zu Dank verpflichtet. Den größten Dank schulde ich meinen Eltern und meinem Mann, die mich auf vielfältigste Weise unterstützt und mir immer Geduld und Vertrauen geschenkt haben. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Frühe Neuzeit möchte ich mich bei den Herausgebern der Reihe herzlich bedanken. Köln, im September 2008
Olga Artsibacheva
Inhalt
1.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1.
Problemstellung, forschungsleitende Fragestellung und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1.1. 1.1.2. 1.1.3.
Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsleitende Fragestellung . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 2
1.2.
Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.3.
Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . .
12
1.3.1. 1.3.2. 1.3.3.
Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Strukturmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität und Interdiskursivität . . . . . . . . . . .
12 13 20
2.
Quellen des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert . . . . . .
27
2.1.
Narrative Quellen des Orpheus-Mythos . . . . . . . . . .
27
2.1.1. 2.1.2.
Antike Quellen des Orpheus-Mythos. Vergil und Ovid . . . . Mythographische und mythologische Nachschlagewerke . . .
27 31
2.2.
Ikonographische Quellen des Orpheus-Mythos . . . . . . .
40
2.2.1. 2.2.1.1. 2.2.1.2. 2.2.2.
Illustrationen zu Ovids Metamorphosen Einzelillustrationen . . . . . . . . Sammeldarstellungen . . . . . . . Titelillustrationen zu Orpheus-Dramen
. . . .
40 41 47 48
3.
Der Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
3.1.
August Buchner: Orpheus und Eurydice (Dresden 1638) . . .
51
3.1.1.
Einleitung. Prätexte und Forschung. Orpheus und Eurydice und die Anfänge der Oper in deutscher Sprache . . . . . . . . . Literarische Mythos-Adaption in Orpheus und Eurydice . . . Poeta theologus: Orpheus und Eurydice im poetologischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2. 3.1.3.
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
51 57 61
VIII 3.1.4. 3.1.5. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5. 3.3. 3.3.1. 3.3.2.
Der göttliche Orpheus. Orpheus und Eurydice in der Tradition der christlichen Allegorese. Christianisierung des Mythos . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 74
Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Orpheus (Wolfenbüttel 1659). . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Einleitung. Dramenaufführungen am Wolfenbütteler Hof von Herzog August dem Jüngeren . . . . . . . . . . . . . Orpheus: Pastorale und Singspiel . . . . . . . . . . . Orpheus und L’Orfeo von Alessandro Striggio und Claudio Monteverdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumentalisierung des Mythos für das höfische Theater . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
75 77
. . .
81 93 95
Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice (Eisenberg 1683) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
3.3.6.
Einleitung. Opernaufführungen in Eisenberg . . . . . . . . Literarische Mythos-Adaption im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice . . . . . . . . . . . . . . . Die Komisierung des Orpheus-Mythos . . . . . . . . . . Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice im zeitgenössischen Liebes- und Ehediskurs . . . . . . . . . Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice und der zeitgenössische Notzuchtdiskurs . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.
Der beständige Orpheus (Salzdahlum 1684) . . . . . . . . 131
3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.4.4.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Mythos-Adaption im Beständigen Orpheus . . . Der beständige Orpheus und der ethisch-moralische Diskurs. Mythos-Rezeption im Licht der Affektenlehren . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.
Johann Valentin Merbitz: Orpheus (Dresden 1696)
3.5.1. 3.5.2. 3.5.3. 3.5.4.
3.3.3. 3.3.4. 3.3.5.
3.5.5.
96 98 108 110 120 130
. .
131 134
. .
143 152
. . . . .
153
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Mythos-Adaption im Orpheus . . . . . . . . . Der Orpheus-Mythos im Dienste der Schulrhetorik . . . . . . Politisierung des Mythos: Orpheus’ Lehre und der staatstheoretische Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 155 167 171 180
3.6.
Friedrich Christian Bressand: Orpheus (Braunschweig 1698–1699) . . . . . . . . . . . . . . . 182
3.6.1.
Einleitung. Fassungen und Forschung . . . . . . . . . . . 182
IX 3.6.2. 3.6.3. 3.6.4.
Literarische Mythos-Adaption im Orpheus. Dramaturgie der Intrige und Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . 185 Poeta doctus. Orpheus als Referenzfigur des Dichters . . . . 199 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
3.7.
Orpheus Und Euridice (Naumburg 1701) . . . . . . . . . 214
3.7.1. 3.7.2. 3.7.3.
Einleitung. Literarische Mythos-Adaption in Orpheus Und Euridice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Orpheus-Rezeption in der stadtbürgerlichen Oper . . . . . . 217 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
4.
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1.
Orpheus von Friedrich Christian Bressand. Überlieferungsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . 225
2.
Textauszüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
2.1. 2.2. 2.3.
August Buchner: Orpheus und Eurydice . . . . . . . . . . 242 Johann Valentin Merbitz: Orpheus . . . . . . . . . . . . 245 Orpheus Und Euridice, Naumburg 1701 . . . . . . . . . . 248
Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
1.1. 1.2.
Orpheus-Libretti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
2.
Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
3.
Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Bibliothekssiglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
1.
Einleitung
1.1.
Problemstellung, forschungsleitende Fragestellung und Aufbau der Arbeit
1.1.1. Problemstellung Die Antike ist für die späteren Epochen von paradigmatischer Bedeutung. Dank ihrer Kunst und Literatur, ihrer philosophischen Erkenntnisse und ihrer Ästhetik waren und bleiben das griechische und römische Altertum kritischer Maßstab, Modell und Exempel für die nachfolgenden Epochen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Mythos, und dies sowohl hinsichtlich der Intensität als auch der Vielschichtigkeit der Antikerezeption. In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung vor allem für das 17. Jahrhundert das Verhältnis zum antiken Erbe grundsätzlich revidiert. Die verschiedenen Aspekte dieser Epoche – sogar diejenigen, welche auf den ersten Blick markante ›antiklassische‹ Züge tragen – werden als Rezeption und Verarbeitung der antiken Traditionen erkannt. Allerdings ist die Rezeption der Antike und der antiken Mythen in der Literatur der Frühen Neuzeit nur partiell erforscht. Für den Zeitraum zwischen 1600 und 1710 liegen so gut wie keine Einzeluntersuchungen antiker Mythen vor. Auch die Rezeption des Orpheus-Mythos in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ist nicht annähernd erschlossen. Während Untersuchungen, die entweder epochenspezifisch auf andere Zeiträume bezogen sind oder die Rezeption des Orpheus-Mythos bei einzelnen Autoren behandeln, bereits vorliegen, fehlt eine Studie, die die barocken Bearbeitungen und Verwendungsweisen des Orpheus-Mythos im deutschen Sprachraum verfolgt.
1.1.2. Forschungsleitende Fragestellung In der vorliegenden Arbeit wird die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts untersucht. Die zahlreichen Verweise auf den Orpheus-Mythos in Lyrik, Epik und Traktatistik werden hier bewusst ausgeklammert. Analysiert werden nur die geschlossenen literarischen Mythos-Verarbeitungen, in denen die dramatischen und narrativen Möglichkeiten des Orpheus-Mythos – eines der Gründungsmythen der Neuzeit – besonders stark zum Ausdruck kommen. Ein weiteres Ziel der Studie ist, exemplarisch die
2 Dynamik der Barockepoche aufzuzeigen, indem die Rezeptionsgeschichte eines Mythos innerhalb einer neuen, sich im Laufe des Jahrhunderts erst etablierenden Gattung verfolgt und analysiert wird. Methodisch stützt sich die Untersuchung auf das von Wladimir Propp vorgelegte Modell der Struktur des Zaubermärchens, das hier in modifizierter Form auf den Orpheus-Mythos angewendet wird, sowie auf die Intertextualitäts- und die Interdiskursivitätstheorie. Maßgeblich waren hier vor allem die Arbeiten von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Jüngere Forschungen zur Frühen Neuzeit belegen, dass in der Barockzeit konkurrierende Rezeptionen der Antike parallel existierten und die Heterogenität der rezipierten Antike durchaus Teil des frühneuzeitlichen Bewusstseins war. Die vorliegende Arbeit kann als Bestätigung dieses Befundes verstanden werden. Die verschiedenen Aktualisierungen des Orpheus-Mythos verdeutlichen beispielhaft, welches Antikebild in den jeweiligen barocken Rezeptionen erstrebt oder rekonstruiert wurde. Damit soll nicht nur die Forschungslücke in der Rezeptionsgeschichte des Orpheus-Mythos wenigstens teilweise geschlossen werden. Die Arbeit ist gleichzeitig ein Beitrag zur Untersuchung der Aufnahme und Verarbeitung antiker Traditionen im Zeitalter des Barock.
1.1.3. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit gliedert sich neben der Einleitung (Kapitel 1) und der Schlussbetrachtung (Kapitel 4) in zwei Hauptteile. Das zweite Kapitel behandelt die Quellen des mythologischen Wissens, die den Autoren des 17. Jahrhunderts zur Verfügung standen. Berücksichtigt werden sowohl Referenztexte der Antike als auch die Rezeption und die Darstellung des Orpheus-Mythos in den zahlreichen mythologischen und mythographischen Nachschlagewerken der Epoche. Anschließend werden Illustrationen des 17. Jahrhunderts, vor allem illustrierte Metamorphosen-Ausgaben, als mögliche Quellen für die Rezeption des Orpheus-Mythos im Musiktheater betrachtet. Im dritten Kapitel wird in Einzelinterpretationen die Rezeption des Orpheus-Mythos in sieben musikdramatischen Werken untersucht, die chronologisch den Zeitraum von 1638 bis 1701 abdecken und in der Forschung noch nie oder nicht umfassend kritisch gewürdigt worden sind. Hier werden die jeweiligen literarischen Adaptionen des Mythos vorgestellt und anschließend unter besonderer Berücksichtigung des kultur- und diskursgeschichtlichen Kontextes analysiert. Der Anhang bietet einen Überblick über die verschiedenen Fassungen von Friedrich Christian Bressands Libretto Orpheus, das nur lückenhaft überliefert ist. Er enthält ferner Abbildungen zum Kapitel 2.2 und relevante Textauszüge zum dritten Kapitel.
3
1.2. Forschung Das literaturwissenschaftliche Interesse an der Rezeption des Orpheus-Mythos wandte sich anfangs der älteren Literatur zu. Relativ gut erforscht sind deswegen die Gestaltungsweisen des Orpheus-Mythos in der Antike, im Mittelalter und – vor allem für romanische Literaturen – in der Renaissance. Da die Frage nach der Kontinuität der Rezeption für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz ist, werden im folgenden Abschnitt die Forschungsliteratur und die Rezeptionsweisen des Orpheus-Mythos in der Literatur vor 1600 vorgestellt. Die in Zitaten greifbaren schriftlichen Zeugnisse der verschiedenen antiken Orpheus-Traditionen wurden von Otto Kern gesammelt.1 Daneben sind vor allem Euripides und Plato sowie die römischen Dichter Vergil, Ovid, Horaz und Seneca die wichtigsten antiken Quellen.2 In der antiken Überlieferung des Orpheus-Mythos kristallisieren sich drei Bereiche heraus, die in unterschiedlichem Grade für die spätere Rezeption des Mythos relevant wurden. Neben der Gestalt des Mythos (Orpheus spielt eine wichtige Rolle im Argonauten-Zyklus3 und ist die zentrale Figur des eigenen Mythos über den Abstieg in den Hades4) kannte die Antike Orpheus als realen Verfasser poetischer Werke sowie als Kultur- und Religionsstifter. Die beiden letzten Aspekte sind eng mit der geistig-religiösen Bewegung der Orphik verbunden, die im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein muss. Es war wohl keine fest definierte religiöse Organisation, sondern eine schwer rekonstruierbare Lehre bzw. Mysterienreligion, die u. a. viel mit dem Pythagoreertum und den eleusinischen Mysterien gemeinsam hatte und von Wanderpriestern getragen wurde.5 Die zentralen Vorstellungen der Orphik ––––––––––– 1 2
3 4 5
Otto Kern: Orphicorum Fragmenta. Berlin 1922. Eur. Alc. 357–360. Plat. rep. 10, 620a. Verg. georg. 4, 453ff. Ov. met. 10, 1–155. 11, 1–66. Hor. carm. 3, 11, 13ff. Sen. Herc. f. 569f. Hier u. weiter werden antike Autoren und Werktitel wie im Neuen Pauly abgekürzt und zitiert. Zur Rezeption des Orpheus-Mythos bei Ovid und Vergil vgl. ausführlicher Kap. 2.1.1 dieser Arbeit. Mit der literarischen Rezeption des Orpheus-Mythos bei Ovid und Vergil befasst sich W. S. Anderson: The Orpheus of Virgil and Ovid: flebile nescio quid. In: Orpheus. The metamorphoses of a myth. Hg. v. John Warden. Toronto u. a. 1982, S. 25–51. Vgl. auch Jürgen Blänsdorf: Vorstellung des Mythos: Orpheus und Eurydice in der Dichtung Vergils und Ovids. In: Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos. Hg. v. Christine Mundt-Espín. Tübingen u. Basel 2003, S. 23–35. Zu Orpheus bei Ovid vgl. Jörg Döring: Ovids Orpheus. Basel u. Frankfurt / Main 1996. Das älteste bekannte Zeugnis über Orpheus als Teilnehmer am Argonautenzug ist eine Metope des Schatzhauses der Sikyonier (oder Syrakuser) in Delphi (570–560 v. Chr.). Das erste literarische Zeugnis ist die Alkestis des Euripides (Eur. Alc. 357–360). Hinweise darauf finden sich u. a. bei Plato (Plat. rep. 364b–365a; Plat. Prot. 316d; Plat. leg. 782c–d), in den Fröschen und Vögeln des Aristophanes (Aristoph. Ran. 1032f.; Av. 676–702), im Hippolytos und im Satyrspiel Cyclops des Euripides (Eur. Hipp. 952– 954; Eur. Cycl. 646–648). Aus der religionsgeschichtlichen Sicht behandelt die Orphik William Keith Chambers Guthrie: Orpheus and Greek Religion. A Study of the Orphik Movement. London 21952. Einen guten Überblick über die Orphik und die wissenschaftlichen Kontroversen um diese liefert Dorothea Frede: Die Orphik – Mysterienreligion oder Philosophie? In: Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart. Die Vorträge der
4 enthielten die Existenz einer unsterblichen Seele, Lohn und Strafe im Jenseits für das Einhalten bestimmter Gebote im irdischen Leben sowie die Wiedergeburt. In der Figur des Orpheus wurde dabei der Religionsstifter und Begründer der Mysterien gesehen. Eine Theogonie, eine Kosmogonie und eine Katabasis, die Orpheus im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben wurden, sind nur indirekt überliefert.6 Dagegen sind die Texte späteren Entstehungsdatums (zwischen 200 v. Chr. und 400 n. Chr.), die unter dem Namen des Orpheus verbreitet wurden, vollständig erhalten. Dabei handelt es sich um 87 kurze Hymnen, das Epos Argonautika (1376 Hexameter) und ein Gedicht mit dem Titel Lithiká über die magischen Kräfte von Steinen. Hinsichtlich der Autorschaftszuschreibung bestand allem Anschein nach bereits in der Antike eine gewisse Unsicherheit. Die Affinität einiger Aspekte der Orphik mit der christlichen Lehre führte, wie Friedman und Irwin belegen,7 zu einer intensiven Rezeption des Orpheus-Mythos auch im christlichen Schrifttum der Spätantike. Bereits in der jüdisch-hellenistischen und in der frühchristlichen Tradition war die Vorstellung von der Verwurzelung der griechischen Philosophie und damit auch der Lehren des Orpheus im Alten Testament verbreitet.8 Demnach kannte Orpheus die Schriften Moses’, vermittelte aber die darin enthaltenen göttlichen Wahrheiten den für die Worte Gottes noch nicht aufnahmefähigen Heiden in der verschleierten Form der Fabel. Eine besondere Rolle für die Auffassung Orpheus’ als Monotheisten spielte die Jupiterhymne sowie das anonyme Testament (Diathékai),9 als deren Verfasser Orpheus galt. In letzterem bekennt sich Orpheus vor seinem Schüler Musaios zum einzigen allgegenwärtigen und selbstgezeugten Gott des Moses. Die orphische Erlösungstheologie brachte noch einen zweiten Rezeptionsstrang des Orpheus-Mythos innerhalb des christlichen Schrifttums hervor: Orpheus wurde als Präfiguration Christi angesehen. Obwohl Kirchenväter wie Clemens von Alexandrien oder Augustinus den heidnischen Orpheus für die Verfälschung der göttlichen Wahrheit verurteilten und ihm Christus als »wahren Orpheus« entgegenstellten,10 fand der mythische Sänger als guter Hirte, Symbol –––––––––––
6 7
8 9 10
interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Hamburg. Sommersemester 2003. Hg. v. Claudia Maurer Zenck. Frankfurt / Main u. a. 2004, S. 229–245. Vgl. Martin L. West: The Orphic Poems. Oxford 1983. Kern: Fragmenta, 1, 14, 21, 30, 54, 170, 236–239. John Block Friedman: Orpheus in the Middle Ages. Cambridge (Massachusetts) 1970, S. 13–86. Eleanor Irwin: The Songs of Orpheus and the New Song of Christ. In: Warden: Orpheus, S. 15–63. Vgl. auch Patricia Vicari: Sparagmos: Orpheus among the Christians. In: Warden: Orpheus, S. 63–85. Z. B. bei Diodorus Siculus in seiner Bibliotheke (Diod. 1, 23, 2.3. 1, 96, 4–6. 4, 25, 1–4). Kern: Fragmenta 245–248. Clem. Al. Stromata 5, 12, 78, 4. Aug. civ. 18, 14. Zu Orpheus-Bezug bei Clemens vgl. Irwin: The Songs of Orpheus, S. 50. In Contra Faustum manichaeum betont Augustinus dagegen, dass Orpheus »de filio dei aut de patre deo« wahr gesprochen hat (Aug. contra Faustum 13, 15).
5 für Christus oder griechische Entsprechung für den alttestamentlichen Harfenspieler David Eingang in die christliche Literatur und Kunst. Zwei Texte der Spätantike weisen in ihrer Methode der Mythenallegorese bereits ins Mittelalter: die ›musiktheoretisch‹ anmutende Deutung des OrpheusMythos in den Mitologiae des Fulgentius (5. Jh. n. Chr.)11 und seine moralische Auslegung in der Consolatio Philosophiae des christlich-neuplatonischen Philosophen Boethius (ca. 480–524 n. Chr.).12 Vor allem das Werk des Boethius wurde für die spätere mittelalterliche Rezeption des Orpheus-Mythos maßgebend; Boethius interpretiert den Mythos als Warnung für den Philosophen, sich nicht im Irdischen zu verfangen, sondern den Blick stets zum Licht als Quelle des Guten zu richten. Als grundlegend für die Bewertung der mittelalterlichen Rezeption des Orpheus-Mythos sind die Studien von Heitmann und Friedman zu bezeichnen.13 Sie weisen nach, dass im Mittelalter bis zum 14. Jahrhundert die Mythos-Auslegung des Boethius nicht nur als Interpretationsgrundlage, sondern auch als Mythosquelle maßgebend bleibt. Zahlreiche Boethius-Kommentare referieren erneut dessen Mythos-Version und liefern weitere allegorischmoralische Deutungen.14 Daneben findet der Orpheus-Mythos Eingang in den mittelalterlichen Roman.15 Erst seit dem 14. Jahrhundert verbreitet sich zunehmend die direkte Kenntnis von Ovids Metamorphosen und es erscheinen zahlreiche Kommentare und Umarbeitungen, unter denen der Anfang des 14. Jahrhunderts verfasste anonyme Ovid moralisé16 und der sogenannte Ovidius moralizatus17 die bekanntesten sind. Gemäß der aus der Bibelexegese ––––––––––– 11
12 13
14
15
16 17
Fulgentius bietet eine ›musiktheoretische‹ Mythos-Auslegung, indem er Orpheus als optima vox, die musikalische Praxis, und Eurydike als profunda diiudicatio, d. h. die Musiktheorie, etymologisch deutet. Die Unterwelt wird als Unwissenheit interpretiert, an welche die tiefen Geheimnisse der Musik unwiderruflich verloren gegangen sind. Fulgentius mitol. 3, 10. Boeth. consolatio philosophiae 3, 12. Klaus Heitmann: Orpheus im Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 45, 3 (1963), S. 252–294. Ders.: Typen der Deformierung antiker Mythen im Mittelalter. Am Beispiel der Orpheussage. In: Romanistisches Jahrbuch 14 (1963), S. 45–77. Friedman: Orpheus, bes. S. 86–241. Zur Orpheus-Rezeption im Mittelalter vgl. auch Vicari: Sparagmos, S. 63– 83. Vgl. dazu Friedman: Orpheus, S. 86–146. Heitmann: Orpheus im Mittelalter, S. 255f. Zum Fortleben der spätantiken Orpheus-Christus-Allegorese im Frühmittelalter vgl. Peter Dronke: The return of Eurydice. In: Classica et mediaevalia. Revue danoise de philologie et d’histoire 23 (1962), S. 198–215. Der Orpheus-Mythos war für die Illustration der Liebe und ihrer Kraft besonders geeignet. Im anonymen Sir Orfeo (Anfang des 13. Jhs) und in Robert Henrysons Orpheus and Eurydice (2. Hälfte des 15. Jhs.) wird Orpheus zum idealen Ritter im Dienst der Minne. Vgl. Friedman: Orpheus, S. 146–213. Ovide moralisé. Hg. v. Ch. de Boer. 4 Bde. Amsterdam 1915–1938. Als Ovidius moralizatus wird das 15. Buch des Reductorium morale, einer vom Benediktiner Petrus Berchorius zwischen 1342 und 1350 verfassten Enzyklopädie, bezeichnet. Das Buch ist in 60 Handschriften erhalten und wurde seit 1509 unter dem Namen von Thomas Waleys viermal gedruckt. Petrus Berchorius (Pierre Bersuire): Reductorium morale 15, 2– 25: Ovidius moralizatus. Hg. v. J. Engels. Utrecht 1962.
6 abgeleiteten Vorstellung vom mehrfachen Schriftsinn wird der Orpheus-Mythos historisch, allegorisch-moralisch und anagogisch gedeutet: so mit dem heilsgeschichtlichen Verweis bei der Gleichstellung des Orpheus mit Christus, der die vom Teufel verführte Eurydike oder Eva aus der Hölle befreit18, oder in der Interpretation der Eurydike als menschlicher Seele, die Orpheus durch die Versuchung des Teufels verliert.19 Auch in Boccaccios mythographischem Werk Genealogie der Götter, das in seiner Darstellungs- und Erklärungsmethode neue humanistische Tendenzen aufweist und bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts das maßgebliche Handbuch zur griechischen und römischen Mythologie blieb, ist vom viergeteilten Deutungsverfahren die Rede.20 Orpheus wird darin als sapiens et eloquens allegorisiert, der eine Umkehrung der unzivilisierten Menschen zur humanitas bewirkt. Darüber hinaus übernimmt Boccaccio die Katabasis-Auslegung des Fulgentius und liefert gleichzeitig eine auf den Kommentatoren der mittelalterlichen Schule von Chartres basierende Deutung Eurydikes als concupiscentia naturalis.21 Aristaeus erscheint als virtus und Orpheus als vir prudens, der seine dem Irdischen verfallene concupiscentia zurück zur virtus führt.22 Allen mittelalterlichen Interpretationen gemeinsam bleibt aber die Vorstellung von Orpheus als göttlichem Sänger, der mit seinem Spiel die Macht der Musik und der Poesie verkörpert. In der Renaissance verlagert sich das Interesse der Autoren als Folge der Bekanntschaft mit den nun zugänglichen griechischen Quellen, insbesondere mit den Werken Platos, auf die Figur des Orpheus als Philosophen und Religionsstifter. Eine besondere Rolle spielt Orpheus im 15. Jahrhundert in den neuplatonischen Kreisen der Florentiner Akademie, vor allem im Werk von Marsilio Ficino, wie D. P. Walker und A. Buck anschaulich vorführen.23 In seiner Bestrebung, die antike Philosophie mit der christlichen Lehre vereinbar zu machen, setzte sich Ficino mit Plato und den Neuplatonikern, aber auch mit ––––––––––– 18 19 20
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Ovide moralisé, X, 466–467. Petrus Berchorius (Pierre Bersuire): Ovidius moralizatus, fol. LXXIIIv. Petrus Berchorius (Pierre Bersuires): Ovidius moralizatus, fol. LXXIIIr. Die Genealogia deorum gentilium, deren Verbreitung ab 1370 ansetzt, wurde erst 1472 publiziert, bis 1532 aber mindestens neunmal gedruckt. Zum Orpheus-Mythos bei Boccaccio vgl. Brigitte Hege: Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den Genealogie deorum gentilium. Buch XIV. Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung. Tübingen 1997. Im Anhang zu ihrer kommentierten Übersetzung des Buches XIV von Boccaccios Genealogia analysiert Hege am Beispiel des Orpheus-Mythos die Behandlung einer ›Fabula‹ in Boccaccios Werk. Concupiscentia ist affektiver, indifferenter, aber leicht verführbarer Teil der menschlichen Seele. Mehr dazu vgl. Hege: Boccaccios Apologie, S. 265. Mehr dazu vgl. Hege: Boccaccios Apologie, S. 266f. Zur Gestalt des göttlichen Hirten Aristaeus, dessen Geschichte Vergil als erster mit dem Orpheus-Mythos verknüpft, vgl. Kap. 2.1.1. der vorliegenden Arbeit. D. P. Walker: Orpheus the Theologian and Renaissance Platonists. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 16 (1953), S. 100–120. August Buck: Der Orpheus-Mythos in der italienischen Renaissance. Köln 1961 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts). Zur Orpheus-Deutung Ficinos vgl. auch John Warden: Orpheus and Ficino. In: Warden: Orpheus, S. 85–111.
7 den neuentdeckten orphischen und hermetischen Texten auseinander, die er ins Lateinische übertrug. In den Lehren der Orphica sah Ficino die Überschneidungen mit den christlichen Auffassungen des Monotheismus und der Trinitäts- und Schöpfungslehre. Unter Ficinos Einfluss wird Orpheus als Archipoeta in der Kunst der Renaissance zum Symbol für die Einheit von Musik und Poesie, zum »Gründerheros der Dichtkunst«24, theologischen Dichter,25 Verkünder der göttlichen Wahrheit, zum priscus theologus. Darüber hinaus erfolgt in der Renaissance bei der Deutung von Orpheus’ Gesangkunst eine geringe Akzentverschiebung zugunsten des Dichterisch-Rhetorischen: im Sinne der Horazischen Ars poetica und im Dienste der humanistischen Bildungsidee wird die Wirkung vom Gesang des Orpheus als Allegorie der Beredsamkeit aufgefasst, mit der die sittliche und kulturelle Belehrung und Besserung der Menschen zu erreichen sei.26 Die philosophischen Ausführungen der Florentiner Akademie fanden ihren Widerhall in der Literatur, wie Françoise Joukovsky in ihrer ausführlichen Studie zur französischen und neulateinischen Dichtung des 16. Jahrhundert gezeigt hat.27 So stellt Guy Le Fèvre de La Boderie in seinem Gedicht L’encyclie des secrèts de l’éternité Zitate aus den orphischen Hymnen und aus den Psalmen Davids und somit beide Figuren als Typen des göttlichen Sängers nebeneinander in dem Bestreben, sie auf die Verkündigung desselben Gottes zurückzuführen.28 Pierre de Ronsard stützt sich bei der Abfassung seines Orphée en forme d’élégie, worin er Orpheus als schöpferischen Künstler in einem Wettstreit mit dem Kentauren Chiron schildert, auf die orphischen Argonautika. Ronsard nutzt Orpheus für die Illustration seiner eigenen Dichtungstheorien: in Ode à Michel de l’Hospital und in den Hymnes erscheint Orpheus als Inbegriff des göttlich inspirierten Dichterphilosophen, als Entdecker und als Schöpfer,29 während für Joachim Du Bellay in den Regrets Orpheus zur Selbstidentifikationsfigur des Dichters avanciert. Eine besondere Erwähnung verdient schließlich die Favola d’Orfeo von Angelo Poliziano, ein um 1470 in Mantua verfasstes fünfaktiges Drama mit Gesangseinlagen, das als Vorläufer der späteren Opernbearbeitungen des Orpheus-Mythos angesehen werden kann.30 ––––––––––– 24 25 26 27 28
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Buck: Der Orpheus-Mythos, S. 16. Die Bezeichnung des Orpheus als poeta theologus geht auf Augustinus zurück (Aug. civ. 18, 13–14). Zur Orpheus-Rezeption in der Ars poetica vgl. Anm. 349 Kap. 3.5.2. Vgl. Françoise Joukovsky: Orphée et ses disciples dans la poésie française et néo-latine du XVIe siècle. Genève 1970. Zum 1570 entstandenen umfangreichen Gedicht von La Boderie vgl. Joukovsky: Orphée, S. 93, 98–103. Vgl. auch Gabriele Bräkling-Gersuny: Orpheus, der Logos-Träger. Eine Untersuchung zum Nachleben des antiken Mythos in der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1975. Zur Orpheus-Rezeption bei Ronsard vgl. Eva Kushner: Le personnage d’Orphée chez Ronsard. Paris 1966. Zu Polizianos Fabula d’Orfeo vgl. I. Maïer: L’Ange Politien. La formation d’un poète humaniste (1469–1480). Genève 1966, S. 392ff. Bodo Guthmüller: Mythos und dramatisches Festspiel. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. August
8 Neben den vorgestellten Studien zur Orpheus-Rezeption in den älteren Literaturen existieren epochenübergreifende Überblicksdarstellungen, die teilweise auch die Ikonographie berücksichtigen. So behandelt der Beitrag von Konrat Ziegler primär die Rezeption des Orpheus-Mythos in der bildenden Kunst und in der Musik.31 Für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung haben seine knappen Beschreibungen vorrangig faktischen Wert. Der Überblick von Heinz Hofmann umspannt den Zeitraum von der Antike bis zum 20. Jahrhundert und stellt ausgewählte Orpheus-Werke der europäischen Literatur und bildenden Kunst vor.32 Elizabeth A. Newby beschränkt sich in ihrer Studie auf das Mittelalter und die Renaissance und betrachtet die Rezeption unter dem poetologischen und musikästhetischen Gesichtspunkt.33 Charles Segal behandelt Orpheus-Texte von der Antike bis zur Gegenwart, wobei er den Schwerpunkt auf die Antike (Vergil, Ovid, Seneca), auf das Orpheus-Bild im Werk von Rilke und auf die Literatur des 20. Jahrhunderts legt.34 In allen obengenannten Studien ist die Orpheus-Rezeption im 17. Jahrhundert, wenn überhaupt, nur mit Werken von Calderon und Milton vertreten. Die Studien zur deutschen Rezeption des Orpheus-Mythos beginnen mit Werken des 18. Jahrhunderts und verfolgen meist eine spezifisch zugespitzte Fragestellung. Das 17. Jahrhundert wird nur marginal berücksichtigt.35 Die wichtigsten rezeptionsgeschichtlichen Überblicke stammen von Rainer Kabel, Manuela Speiser und Eva-Maria Knittel.36 Alle drei Darstellungen behandeln –––––––––––
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Buck. Bd. 2. Hamburg 1981, S. 103–112. N. Borselino: La voce e lo sguardo. Orfeo nella fabula del Poliziano. In: Orfeo e l’Orfismo. Hg. v. Agostina Masaracchia. Rom 1993 (Atti del Seminario Nazionale Roma-Perugia 1985–1991), S. 209–317. Friedrich Wolfzettel: Die gesuchte Totalität: Orpheus und Eurydike und das Barock. In: Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt? Hg. v. Joachim Küpper u. Friedrich Wolfzettel. München 2000, S. 47–95, hier S. 53ff. Konrat Ziegler: Orpheus in Renaissance und Neuzeit. In: Form und Inhalt. Kunstgeschichtliche Studien. Otto Schmitt zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1951, S. 239–257. Heinz Hofmann: Orpheus. In: Antike Mythen in der europäischen Tradition. Hg. v. Heinz Hofmann. Tübingen 1999, S. 153–199. Elizabeth A. Newby: A portrait of the artist. The Legends of Orpheus and Their Use in Medieval and Renaissance Aesthetics. New York u. London 1987. Charles Segal: Orpheus. The Myth of the Poet. Baltimore u. London 1989. Dies bezieht sich auch auf die Orpheus-Artikel in den entsprechenden Lexika, die kaum Beispiele für die deutsche literarische Rezeption des Orpheus-Mythos im Barock bringen. Vgl. z. B. Elisabeth Frenzel: [Artikel] Orpheus. In: Stoffe der Weltliteratur, S. 603–608. Michael Butter, Birte Christ: [Artikel] Orpheus. In: Antike Mythen und ihre Rezeption, S. 180–186. Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: [Artikel] Orpheus. In: Themen und Motive in der Literatur, S. 180–186. Hans-K. Lücke, Susanne Lücke: [Artikel] Orpheus. In: Antike Mythologie, S. 570–586. Annemarie van Rinsum, Wolfgang van Rinsum: [Artikel] Orpheus. In: Lexikon literarischer Gestalten. Bd. 1, S. 230–236. Mehr Beispiele enthält Jane Davidson Reid: [Artikel] Orpheus. In: The Oxford guide to Classical Mythology. Bd. 2, S. 733–801. Rainer Kabel: Orpheus in der deutschen Dichtung der Gegenwart. Diss. masch. Kiel 1964. Manuela Speiser: Orpheusdarstellungen im Kontext poetischer Programme. Innsbruck 1992. Eva-Maria Knittel: Orpheus im Horizont moderner Dichtungskonzeptionen. Münster 1998.
9 ausführlicher den Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.37 Rainer Kabels Überblick über die älteren dichterischen Behandlungen des Orpheus-Mythos beschränkt sich auf die Erwähnung wichtiger Bearbeitungen des Orpheus-Stoffes sowie für das 17. Jahrhundert auf eine kurze Beschreibung von Calderons El Divino Orfeo. Manuela Speiser untersucht die Rezeption der Orpheus-Gestalt in poetologischen Texten von Klopstock bis Wolfgang Bauer, demgemäß stellt das entsprechende Kapitel ihrer Studie eine zweiseitige Zusammenfassung der Literatur des Mittelalters und des Barock dar, die auf dem oben erwähnten Artikel von Ziegler basiert. Eva-Maria Knittel widmet der Mythosgestaltung im Barock lediglich zwei Seiten des Einführungskapitels, in welchem sie einen allgemeinen Überblick anstrebt und die Rezeption des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert mit Beispielen aus fremdsprachigen Literaturen (El Divino Orfeo von Calderon, Hinweise auf die englische Literatur) illustriert.38 Neben der Literaturwissenschaft hat auch die Kunstgeschichte Interesse an der Gestalt des Orpheus. Der umfangreichen Rezeption des Orpheus-Mythos in der Kunst der italienischen Renaissance sind die Studie von Hannelore Semmelrath und der Artikel von Giuseppe Scavizzi gewidmet.39 Der Katalogband der Ausstellung Les Métamorphoses d’Orphée präsentiert Orpheus-Darstellungen von der griechischen Antike bis in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts.40 Zusätzlich zu diesen Arbeiten liefern die Artikel von Udo Reinhardt, Elisabeth Schröter, Heinz Hofmann und Konrat Ziegler einen Überblick über die Orpheus-Darstellungen in der bildenden Kunst.41 Zum Gegenstand von zahlreichen autorspezifischen Studien wurde die Rezeption des Orpheus-Mythos in der deutschen Literatur von Novalis bis Gott––––––––––– 37 38 39
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Dieser Schwerpunkt manifestiert sich auch in den rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen zu Orpheus in anderen westeuropäischen Literaturen. Vgl. Knittel: Orpheus, S. 27. Hannelore Sammelrath: Der Orpheus-Mythos in der Kunst der italienischen Renaissance. Eine Studie zur Interpretationsgeschichte und zur Ikonologie. Köln 1994. Giuseppe Scavizzi: The Myth of Orpheus in Italian Renaissance Art. 1400–1600. In: Warden: Orpheus, S. 111–163. Als weitere Titel sind zu nennen: Jerzy Mizioáek: Orfeusz i Eurydyka: cykl obrazów Jacopo del Sellaio z czasów Lorenzo il Magnifico. In: Mit Orfeusza. Inspiracje i reinterpretacje w europejskiej tradycji artystycznej. Hg. v. Sáawomira ĩeraĔska-Kominek. GdaĔsk 2003, S. 71–119. Juliusz A. ChroĞcicki: O kilku przedstawieniach Orfeusza. Od Albrechta Dürera do Michaela Willmanna. In: ĩeraĔska-Kominek: Mit Orfeusza, S. 119–131. Catherine Camboulives (Hg.): Les Métamorphoses d’Orphée. Editions Musée des Beaux-Arts de Tourcoing, Les Musées de la Ville de Strasbourg, Musée Communal d’Ixelles, Bruxelles. Tourcoing u. a. 1995. Vgl. auch Klaus Walter Littger, Ernst Arnold Bauer (Hgg.): Orpheus in den Künsten (Austellung der Universitätsbilbiothek Eichstätt-Ingolstadt in der Staats- und Seminarbibliothek Eichstätt, 17. Juli–18. Oktober 2002). Wiesbaden 2002. Udo Reinhardt: »prendique et prendere certans«. Orpheus’ und Eurydikes Trennung: Bilder von der Antike bis zum Fin de siècle. In: Mundt-Espín: Blick auf Orpheus, S. 77–108. Elisabeth Schröter: Orpheus in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance. Eine vorläufige Untersuchung. In: Mundt-Espín: Blick auf Orpheus, S. 109–157. Hofmann: Orpheus. Ziegler: Orpheus.
10 fried Benn.42 Schließlich führen Sammelpublikationen (Sammelbände) zur Rezeptionsgeschichte des Orpheus-Mythos das breite Spektrum der Orpheus-Rezeption in Literatur, Musik, bildender Kunst und im Film vor.43 Die literarische Rezeption des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert ist dagegen nur in Ausschnitten bekannt. Das Forschungsinteresse blieb bis jetzt auf das Werk von Calderon und Milton sowie auf die Anfänge der Oper in Italien beschränkt. Während Calderons El divino Orfeo in den beiden Fassungen von vermutlich 1635 und 1663 in der Forschung meistens im Rahmen der Untersuchungen zu autos sacramentales Beachtung findet, haben sich nur wenige Forscher mit Calderons Orpheus-Rezeption befasst.44 In seinem allegorischen Drama, das ein theologisches Dogma illustriert, vereinigt Calderon den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike mit den biblischen Geschichten über die Erschaffung der Welt, den Sündefall und die Erlösung des Menschen. Orpheus erscheint darin als göttlicher Schöpfer der Welt, der die sechs schlafenden Schöpfungstage und die menschliche Natur, für welche Eurydike steht, erweckt. Der Fürst der Finsternis, der in einer der Versionen den Namen Aristeo trägt, sendet die Schlange Envidia (Neid) in den Paradiesgarten, wo diese Eurydike überredet, vom verbotenen Apfel zu essen. Der Fürst der Finsternis raubt Eurydike. Orpheus erschafft im Kreuz ein neues Instrument und befreit mit dessen Hilfe die menschliche Natur vom Tod. Während in Calderons Fronleichnamsspiel die mittelalterliche OrpheusChristus-Allegorese weiter tradiert wird, lebt der Orpheus der Renaissance, wie Patricia Vicari zeigt, in der Deutung als Archipoeta und priscus theologus im Frühwerk von John Milton weiter.45 In Lycidas wird Orpheus’ Schicksal zum Ausgangspunkt der Reflexion über die Pflichten und Schwierigkeiten des vom Pöbel bedrohten Dichterseins und über den wahren dichterischen Ruhm. Die beiden ersten Orpheus-Opern – Ottavio Rinuccinis und Jacopo Peris L’Euridice (1600), der Prototyp der Gattung Oper überhaupt, und Alessandro Striggios und Claudio Monteverdis L’Orfeo (1607), der die Darstellung des Orpheus als Liebenden und Künstler für die europäische Opernbühne der nächsten Jahrhunderten vorgibt – erfreuen sich des konstanten Interesses der Literatur- und der Musikwissenschaft.46 Neben diesen bekanntesten Beispielen ––––––––––– 42 43 44 45 46
Vgl. Bibliographie in der Studie von Eva-Maria Knittel. Knittel: Orpheus, S. 197. Warden: Orpheus. ĩeraĔska-Kominek: Mit Orfeusza. Mundt-Espín: Blick auf Orpheus. Maurer Zenck: Der Orpheus-Mythos. Masaracchia: Orfeo e l’orfismo. Pedro León: Orpheus and the Devil in Calderón’s El divino Orfeo ca. 1634. In: Warden: Orpheus, S. 183–206. Vgl. auch Wolfzettel: Die gesuchte Totalität, S. 73f. Patricia Vicari: The Triumph of Art, the Triumph of Death: Orpheus in Spenser and Milton. In: Warden: Orpheus, S. 207–230. Da beide Werke als Prätexte bzw. Referenztexte für die in den Kapiteln 3.1 und 3.2 analysierten Textbücher fungieren, wird auf ihre ausführliche Vorstellung in diesem Abschnitt verzichtet. Zu den beiden Textbüchern vgl. Claudia Maurer Zenck: Euridice und Orfeo und die Anfänge der Oper, oder: Die Menschwerdung des Orpheus durch die Musik. In: Maurer Zenck: Der Orpheus-Mythos, S. 11–37. Linda Simonis: Orpheus-Opern der Frühen Neuzeit. Monteverdi – Telemann – Gluck. In: Mythen in Kunst und Literatur. Tradition
11 wird in einigen Arbeiten auch die Orpheus-Rezeption in Textbüchern von Gabriello Chiabrera (Il Pianto d’Orfeo, 1615) und Stefano Landi (La Morte d’Orfeo, 1619) gestreift.47 Robert Braunmüller berücksichtigt in seinem Überblick über die Orpheus-Variationen auf der Opernbühne auch L’Orfeo (1673, Venedig) von Antonio Sartorio und die erste in Frankreich aufgeführte Oper Orfeo von Francesco Buti (1647).48 Einen auf das 17. Jahrhundert fokussierten Überblick über die Orpheus-Rezeption liefert Friedrich Wolfzettel, allerdings behandelt er ausschließlich Beispiele aus den romanischen Literaturen.49 Um den Stand der Forschung kurz zu bilanzieren: es fehlt eine umfassende Studie zum deutschen Barock, die die Bearbeitungen und Verwendungsweisen des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert verfolgt. Mit der vorliegenden Arbeit soll nicht nur diese Forschungslücke in der Rezeptionsgeschichte des Orpheus-Mythos wenigstens teilweise geschlossen, sondern auch exemplarisch das deutsche Barock aus dem Blickwinkel der Aufnahme und Verarbeitung antiker Traditionen erhellt werden.
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und kulturelle Repräsentation. Hg. v. Annette Simonis u. Linda Simonis. Köln 2004. Vgl. zu L’Euridice: Laura Pistolesi: Les deux »Euridice«: des préfaces aux partitions. Analyse comparative. In: La naissance de L’Opéra. Euridice 1600–2000. Hg. v. Françoise Decroisette, Françoise Graziani u. Joël Heuillon. Paris 2002, S. 247–260. Françoise Graziani: La mort d’Eurydice: »Favola« et »Tragedia« selon Rinuccini. In: Decroisette: La naissance de L’Opéra, S. 99–120. Maria Grazia Accorsi: »Gravitas« et »suavitas« dans l’»Euridice« de Ottavio Rinuccini. In: Decroisette: La naissance de L’Opéra, S. 121–130. Reinhard Wiesend: Der gesungene Gesang. Implikationen und Wandlungen eines Orpheus-Motivs in der Oper. In: Mundt-Espín: Blick auf Orpheus, S. 223–240. Franco Vazzoler: Chiabrera de Céphale à Orphée. In: Decroisette: La naissance de L’Opéra, S. 157–179. Jean-François Lattarico: Mythe et parodie dans »La Morte d’Orfeo« de Stefano Landi. In: Decroisette: La naissance de L’Opéra, S. 181–199. Irena Poniatowska: Tragicommedia pastorale »La morte d’Orfeo« Steffano Landiego i rzymska szkoáa operowa w pierwszej poáowie XVII wieku. In: ĩeraĔska-Kominek: Mit Orfeusza, S. 169–193. Robert Braunmüller: Orpheus-Variationen. Über die Wandlungen eines Stoffs auf der Opernbühne. In: Oper aktuell. Die Bayerische Staatsoper 1999/2000 (XXII). Hg. v. Hanspeter Krellmann. München 2000. Vgl. Wolfzettel: Die gesuchte Totalität, S. 53. Wolfzettel geht von der Annahme einer Zusammenkunft der »kosmischen Totalität« und dem dichterischen »ingegno« in der »emblematischen Gestalt des Orpheus« aus und behandelt in seinem Artikel neben den ersten Orpheus-Opern Calderons Drama, den Orfeo von Giambattista Marino (1619) und dessen Nachahmungen bei französischen Autoren sowie zwei spanische epische Gedichte: Orfeo von Juan de Jáuregui (1624) und Orfeo en lengua castellana von Juan Pérez de Montalbán (1624).
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1.3.
Fragestellung und Methode
1.3.1. Fragestellung Will man sich im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit mit dem Phänomen ›Mythos‹ beschäftigen, so wird man mit einem heterogenen Begriffskomplex konfrontiert. Der polymorphe Charakter des Mythos macht ihn zu einem Terminus und zugleich Untersuchungsgegenstand vieler Disziplinen. Ethnologie, Religionsgeschichte, Soziologie, Philosophie, Politologie, Psychoanalyse und Anthropologie haben den Mythos zum Stoff ihrer Diskussionen gewählt. Für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung kann man den Mythos verallgemeinernd primär narrativ definieren und darunter die Geschichten verstehen, die etwas zur Darstellung bringen und somit erklären, was anders nicht dargestellt und erklärt werden kann: »Unter Mythen versteht man meist mündlich tradierte Erzählungen, die im Dienste einer vorwissenschaftlichen Erklärung und Beschreibung der Lebenswelt stehen und sich meist vor der Folie eines kosmischen oder übernatürlichen Bezugsrahmens abspielen.«50 Das wichtigste Charakteristikum der Mythen besteht darin, dass »sie immer wieder neu erzählt werden können«51. Zu ihrer Rezeption stellt Hans Blumenberg in Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos fest: Bedeutsamkeit [...] ist ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht ‘immer schon’, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konfigurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer Rezeptionsgeschichte auf ihren Grundbestand. Je vieldeutiger sie schon sind, um so mehr provozieren sie zur Ausschöpfung dessen, was sie ‘noch’ bedeuten könnten, und um so sicherer bedeuten sie noch mehr.52
Des weiteren besitzen die Mythen eigene Strukturen, die ihre Existenz bestimmen und Prämissen voraussetzen. Die wichtigste davon ist die »Präsenz des Ewigen«53. Sie beinhaltet eine Auffassung von Raum und Zeit, die sich kardinal von der heutigen unterscheidet. Im Falle einer literarischen Mythenverarbeitung erfolgt damit eine doppelte Steigerung: eine in unserem Sinne ›irreale‹ Welt mit einer anderen Zeit- und Raumontologie wird in eine literarische Wirklichkeit mit eigenen chronotopischen Gesetzen projiziert. ––––––––––– 50 51
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Annette Simonis: [Artikel] Mythos. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 390. Martin Vöhler, Bernd Seidensticker, Wolfgang Emmerich: Zum Begriff der Mythenkorrektur. In: Mythen-Korrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. v. Martin Vöhler u. Bernd Seidensticker. Berlin u. New York 2005, S. 1–18, hier S. 2. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11–66, hier S. 66. Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte – Struktur und Semantik der Zeit im Mythos. In: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne. Hg. v. Dietmar Kamper. Frankfurt / Main 1987, S. 536.
13 Dabei manifestiert sich in der spezifischen Ausprägung der jeweiligen literarischen Mythosverarbeitung die vollbrachte ›Arbeit am Mythos‹. Somit wird der Mythos poetisch funktionalisiert. Für die mythopoetische Analyse eines literarischen Textes ergeben sich damit folgende Fragestellungen: 1) Wie erfolgt die literarische Verarbeitung des als Vorlage dienenden Mythos? 2) Innerhalb welchen weltanschaulichen Rahmens wird an dem Mythos gearbeitet? Welche Applikation welcher Diskursstränge wird dadurch eventuell ermöglicht?54
1.3.2. Das Strukturmodell Hans Blumenberg betont zwar die Identität und die gleichzeitige Variabilität des semantischen Mythos-Kerns als die zwei wichtigsten Charakteristika der Mythen: Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.55
Allerdings ist für Blumenberg der Mythos nur in seinen historischen Manifestationen als Text gegeben, er »ist immer schon in Rezeption übergegangen«56 und liegt »nur in Gestalten seiner Rezeption«57 und Reproduktion vor, denn auch die frühesten Mythologeme »sind schon Produkte der Arbeit am Mythos«58. Mit Claude Lévi-Strauss lässt sich jeder Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen definieren. Mit anderen Worten: »der Mythos bleibt solange Mythos, wie er als solcher gesehen wird«59. Für eine Untersuchung der Funktions- und Verwendungsweisen eines Mythos muss folglich seine innere Struktur offengelegt werden, die sein Erkennen ermöglicht. Es lässt sich eine idealtypische Verlaufsform des Mythos denken, aus der auf ein heuristisches Strukturmodell geschlossen werden kann. Seine Stadien werden in verschiedenen literarischen Adaptionen des Mythos vollständig oder partiell rezipiert. Die idealtypische Verlaufsform erlaubt somit, die partiellen Verlaufsformen der Realtypen genauer zu bestimmen. Anschließend kann man der Frage nach den konkret praktizierten poetischen Verfahren der Mythenrezeption (wie etwa Komisierung,
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In Anlehnung an Nicola Bock-Lindenbeck: Letzte Welten. Neue Mythen. Köln 1999, S. 4. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt / Main 1996. S. 40. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 299. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 299. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 300. Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt / Main 1967, S. 239.
14 Mythenallianz, Heroisierung oder Politisierung),60 die für die Mythos-Modifikation und schließlich für das Entstehen des mythopoetischen Textes verantwortlich sind, bzw. der Frage nach einer eventuell vorliegenden Mythoskorrektur61 nachgehen und die Bedeutung der einzelnen Mythos-Version anhand ihrer Differenzen zu den anderen erschließen. Im Falle der literarischen Rezeption eines antiken Mythos kann nur bedingt eine ›Standardfassung‹ vorausgesetzt werden, von welcher ausgehend der Grad der ›Mythos-Berichtigung‹ bestimmt werden kann. Es darf aber von einer oder mehreren als kanonisch empfundenen antiken textlichen Mythosfixierungen gesprochen werden, die als Referenzform gelten können. In der vorliegenden Arbeit dient eine Wiedergabe des Orpheus-Mythos, die auf einer Zusammenführung verschiedener antiker Quellen basiert, als Vorlage für die Strukturanalyse.62 Dabei handelt es sich sowohl um literarische Mythos-Verarbeitungen als auch um die Schriften der hellenistischen Mythographen.63 Da der Orpheus-Mythos bereits in der Antike in verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Versionen vorlag, wird für das Strukturmodell die jeweils vorherrschende Variante gewählt. Bevorzugt werden dabei die Texte, welche für die spätere literarische Rezeption von besonderer Relevanz sind. In erster Linie sind es das vierte Buch der Georgica des Vergil sowie das zehnte und das elfte Buch der Metamorphosen von Ovid, die auch für das 17. Jahrhundert die maßgeblichen Quellen waren. Im Hinblick auf die Fragestellung der Arbeit und den Zweck des Strukturmodells, das eine Arbeitsgrundlage für die Untersuchung der Rezeption des Orpheus-Mythos im Rahmen des Zeitkonzepts ›Barock‹ bilden soll, erscheint diese Vorgehensweise berechtigt.
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Zu den poetischen Verfahren der Mythenkorrektur vgl. Achim Aurnhammer: Zum Deutungsspielraum der Ikarus-Figur in der Frühen Neuzeit. In: Vöhler: Mythen-Korrekturen, S. 139–164. Vgl. zum Begriff der Mythenkorrektur Vöhler u. a.: Zum Begriff der Mythenkorrektur. Allgemein wird unter der Mythenkorrektur ein radikaler Eingriff in den narrativen oder semantischen Mythenkern verstanden, der zu dessen Veränderung sowie zu einer ›Berichtigung‹ statt ›Fortschreibung‹ des Mythos führt. Die Quellen sind folgenden Nachschlagewerken entnommen: Kontrat Ziegler: [Artikel] Orpheus. In: Pauly-Wissowa 18, 2, Sp. 1200–1316. Sarah Iles Johnston: [Artikel] Orpheus. In: Der neue Pauly 9 (2000), Sp. 54–58. Claude Calame: [Artikel] Orphik, Orphische Dichtung. In: Der neue Pauly 9 (2000), Sp. 58–69. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. München 1999, S. 201–203, 207f., 213f., 220–225. Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung der literarischen Orpheus-Rezeption besteht darin, dass Orpheus in seiner Gestalt als Seher und Religionsstifter die tragende Rolle im orphischen Kult spielte, innerhalb dessen dem Dichter zugeschriebene Schriften entstanden, die weiter tradiert und rezipiert wurden. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die literarische Rezeption des Orpheus-Mythos. Deswegen werden stark orphisch gefärbte Quellen beim Entwurf des Strukturmodells nicht berücksichtigt. Dies bezieht sich vor allem auf die Orphischen Argonautica. Eine strikte Trennung zwischen beiden Aspekten der Orpheus-Gestalt ist allerdings weder in der Antike noch in der späteren Überlieferung und Rezeption möglich.
15 Die methodische Vorgehensweise orientiert sich an Wladimir Propps Analyse der Zaubermärchen,64 die in der vorliegenden Arbeit für die Strukturanalyse eines einzelnen Mythos modifiziert wurde. Selbstverständlich ist diese Strukturanalyse kein Selbstzweck. Sie hat eine heuristische Funktion und dient als eine einheitliche Vergleichsbasis. Der erste Schritt der Analyse besteht darin, die Grundbestandteile des Mythos zu isolieren. Aus ihnen soll die idealtypische Verlaufsform des Mythos konstruiert werden, die Basis für die Untersuchung und für die Vergleiche der einzelnen literarischen Adaptionen des Orpheus-Mythos bildet. Um den Mythos zu gliedern, wird die Reihenfolge der Ereignisse möglichst knapp wiedergegeben. Der Inhalt wird in wenigen kurzen Sätzen komprimiert und in eine Reihe aufeinanderfolgender Handlungen zergliedert. Weiter wird jede konkrete Handlung einem Verlaufsstadium zugeordnet. Ein Stadium wird durch eine Existenz- oder Allaussage definiert, welche die entsprechende Handlung bezeichnet. Unter den Bestandteilen des Mythos werden abhängig von ihrer Relevanz für das Erkennen des Mythos konstante und variable Größen unterschieden. Die letzteren sind austauschbar und spielen in der Konstituierung des Mythos nur eine sekundäre Rolle. Die konstanten Elemente sind Invarianten des Mythos und bilden das Strukturmodell seines idealtypischen Verlaufs. Propps These, dass die Aktionen bzw. Funktionen65 der ›Aktanten‹ konstant bleiben, während ihre Namen und Attribute66 wechseln können, wird in Grundzügen übernommen. Um eine idealtypische Verlaufsform eines Mythos herauszuarbeiten, muss allerdings auch zwischen den konstanten und variablen Stadien und Attributen unterschieden werden. Dabei bildet die Bedeutung des Verlaufsstadiums oder des Attributs für den Handlungsablauf das Kriterium für die Unterscheidung zwischen den konstanten und variablen Elementen. Im Folgenden soll der ›Inhalt‹ des Orpheus-Mythos mit Angabe der jeweils relevanten antiken Quellen zusammengefasst wiedergegeben werden. Anschließend wird das daraus abgeleitete Strukturmodell vorgestellt. Orpheus ist Sänger und Dichter thrakischer Herkunft,67 er wird auch als thrakischer König bezeichnet.68 In der antiken Überlieferung ist er der Sohn der Muse,69 nach den meisten Erzählungen heißt seine Mutter Kalliope.70 Als sein ––––––––––– 64 65
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Vgl. Wladimir Propp: Morphologie des Märchens. München 1972. Der von Propp für die Analyse des Zaubermärchens eingeführte Begriff der Funktion wird in der vorliegenden Arbeit für die Strukturanalyse eines Mythos durch den des Verlaufsstadiums ersetzt. Unter Attributen versteht Propp sämtliche äußere Eigenschaften der Gestalten, wie z. B. Alter, Geschlecht, Stand, äußere Erscheinung, besondere Kennzeichen usw. vgl. Propp: Morphologie des Märchens, S. 87. Eur. Alc. 967; Eur. Hypsipyle fr. 1 col. 3 v. 8 Bond; Eur. Rhes. 944; Phanokles bei Stob. ecl. 4, 20, 47; Anth. Pal. 7, 617. Apoll. Rhod. 1, 34. Plat. rep. 2, 364e. Timotheos pers. 234; Apollod. 1, 14f.; Apoll. Rhod. 1, 23; Iambl. v. P. 28, 146. Einzelne Quellen nennen abweichend Polymnia (schol. Apoll. Rhod. 1, 23).
16 göttlicher Vater gilt Apollon,71 häufiger wird aber auch Oiagros als sein Vater genannt.72 Nach den meisten Zeugnissen wuchs Orpheus in Pierien, dem Land der olympischen Musen, auf.73 Apollon unterrichtete ihn auf der Lyra,74 die der Sonnengott von seinem Bruder Hermes geschenkt bekam und an Orpheus weiterreichte.75 Neben der Lyra werden Orpheus die Phorminx76 und die Kithara77 als Instrumente zugeschrieben. Die Wirkung seines Gesanges war so zauberhaft und mächtig,78 dass er damit Pflanzen,79 Tiere80 und die unbelebte Natur81 gefügig machen und sogar Steine82 in Bewegung bringen konnte. In den späteren Zeugnissen wird Orpheus zunehmend zum Seher, zu einem in göttliche Geheimnisse eingeweihten Weisen und zum Religionsstifter.83 Orpheus nahm als Musiker84 und Taktschläger85 für die Ruderer an der Fahrt der Argonauten teil.86 Auf der Insel Samothrake, welche die Argonauten nach ––––––––––– 71 72 73 74 75
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schol. Pind. P. 4, 313a = FGrH 12 F 6a; Ov. met. 10, 167; Apollod. 1, 14f.; Apoll. Rhod. 1, 24f. mit schol. Plat. symp. 179d; Apoll. Rhod. 1, 23; Nik. Ther. 462; Hermesianax bei Athen. 13, 597b; Phanokles bei Stob. ecl. 4, 20, 27. Timotheos pers. 234; Apoll. Rhod. 1, 24. Hyg. astr. 2, 7. Dabei erweiterte Orpheus die Zahl der Seiten, die bisher nach der Zahl der Pleiaden sieben betrug, auf neun nach der Zahl der Musen (Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 28,4–29,4 Olivieri). Nach Nikom., MSG 266, 2–4 bekam Orpheus die Lyra unmittelbar von Hermes. Pind. P. 4, 176f. mit schol.; Apoll. Rhod. 1, 31. Plat. Ion 533 b–c. Aischyl. Ag. 1629f. Apollod. 1, 14f.; Apoll. Rhod. 1, 28; Hor. carm. 1, 12, 7. 3, 11, 13; Ov. met. 10, 86–106; Sen. Med. 229. 629. Sim. fr. 384 PMG; Eur. Bacch. 560–564; Ov. met. 10, 86ff.; Anth. Pal. 7, 8; Diod. 4, 25, 2; Cul. 118. 278; Prop. 2, 13, 5; Sen. Herc. f. 572ff.; Herc. O. 1043. 1045.; Sen. Med. 628. Nur die Bezauberung der Tiere: Paus. 6, 20, 18. 9, 17, 7. 9, 30, 4; Prop. 3, 2, 1; Dion Chrys. 19, 3. 32, 62–66. Felsen und Berge: Lukian. im. 14; Herc. O. 1048; Claud. rapt. Pros. 2 praef. 7. Flüsse: Apoll. Rhod. 1, 27; Hor. carm. 1, 12, 9. 3, 11, 14; Prop. 3, 2, 1; Cul. 117. 278; Sen. Herc. f. 573; Herc. O. 1036. 1040. 1076; Sen. Med. 627; Claud. rapt. Pros. 18; Mart. Cap. 9, 907. Meer: Anth. Pal. 7, 8; Philostr. imag. 2, 15. Schnee: Herc. O. 1050; Claud. rapt. Pros. 20. Winde: Anth. Pal. 7, 8; Hor. carm. 1, 12, 10; Sen. Med. 627; Herc. O. 1069; Claud. rapt. Pros. 17. Eur. Iph. A. 1211–1214; Apoll. Rhod. 1, 26–31; Apollod. 1, 14f.; Dion Chrys. 35, 9. 78, 19; Lukian. im. 14. Eur. Alc. 962ff; Paus. 6, 20, 18; Philostr. epist. 16; Plin. nat. 30, 7; Plat. Prot. 316d; schol. Eur. Alc. 968; Plin. nat. 7, 203; Aristoph. Ran. 1032; Lukian. salt. 15; Ps.-Lukian. astr. 10; Hippol. ref. 5, 20; Nonn. Dion. 41, 375; Serv. Aen. 6, 645; Anth. Pal. 7, 9; Apollod. 1, 14f; Proklos in Plat. rep. 1, 175, 1 Kroll.; Hyg. astr. 2, 6; Cic. nat. deor. 3, 58; Ov. met. 10, 149. 11, 92; Ov. Pont. 3, 3, 41. Mit seiner Musik und seinem Gesang begleitet er alle Feiern: das Abschiedsfest (Apoll. Rhod. 1, 494ff.), das Sühnefest für Rhea (Apoll. Rhod. 1, 1134), das Dankesfest für Apollon nach der Bebrykerschlacht (Apoll. Rhod. 2, 161), das Fest auf der Insel Thynias (Apoll. Rhod. 2, 703) und die Vermählung von Iason und Medeia (Apoll. Rhod. 4, 1159. 1193). In den Argonautica des Valerius Flaccus singt Orpheus bei folgenden Anlässen: beim Stapellauf des Argo (Val. Fl. 1, 187), beim Abschiedsfest (Val. Fl. 1, 277), zum Trost
17 Orpheus’ Rat besuchten, wurde er zusammen mit Iason, den Dioskuren und Herakles in die Mysterien eingeweiht.87 Nach der Erscheinung des Apollon bei Morgendämmerung in der kleinen Bucht der Insel Thynias schlug Orpheus vor, das Eiland dem Morgendlichen Apollon heilig zu nennen und dem Gott zu opfern.88 Auf der Rückfahrt aus Kolchis rettete Orpheus die Argonauten vor den Sirenen, indem er mit einem munteren Lied deren gefährlichen Gesang übertönte, so dass das Schiff an den Felsen der Meeresfrauen unversehrt vorbeifahren konnte.89 Orpheus erkannte und wandte sich mit der Bitte um Auskunft an die Hesperiden90 und half den Argonauten, den Ausweg aus dem Tritonsee zu finden, indem er empfahl, den Dreifuß Apollons den einheimischen Göttern zu weihen.91 Orpheus’ Gattin ist Eurydike.92 Mit der Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike ist in der antiken Überlieferung die Geschichte der Katabasis des Orpheus verbunden.93 Einen Rivalen hatte Orpheus in Gestalt des Erfinders der Bienenzucht Aristaios, des Sohnes der Nymphe Kyrene und des Apollon.94 Aristaios stellte Eurydike nach, diese floh vor ihm95 und wurde von einer Schlange96 tödlich verwundet. Nach dem Tod der Gattin stieg Orpheus am Tainaron ins Totenreich hinab, um Eurydike wieder heraufzuholen.97 Mit seinem Leiergesang bezauberte und erweichte er Charon,98 Kerberos,99 die Eumeniden,100 die Schatten der Verstorbenen101 und Büßer im Totenreich102 ebenso wie die Totenrichter103 und die Unterweltherrscher Hades und Perse–––––––––––
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der Gefährten nach dem Verlust des Herakles (Val. Fl. 4, 85), am Bosporus (Val. Fl. 4, 348–421) und beim Totenopfer für Sthenelos (Val. Fl. 5, 98ff.). Eur. Hypsipyle fr. 1 col. 3 v. 8–15 Bond; Apoll. Rhod. 1, 540; Val Fl. 1, 471; Lukian. fug. 29. Pind. P. 4, 176f.; Apoll. Rhod. 1, 32–34. Dagegen Pherekydes von Athen FGrH 3 F 26. Diod. 5, 49, 6.; Apoll. Rhod. 1, 915. Es handelt sich dabei um einen orphischen Zusatz bei Apollonius. Als Theologe tritt Orpheus auch in den Argonautica des Dionysios Skytobrachion in Erscheinung (Diod. 4, 40ff.). Orpheus rettet die Argonauten zweimal vor dem Sturm, indem er Gebete an die Götter der Samothrake richtet. (Diod. 4, 43, 1. 2, 48, 5–7). Apoll. Rhod. 2, 674f. Apoll. Rhod. 4, 903ff. Apoll. Rhod. 4, 1409ff. Apoll. Rhod. 4, 1547. Neben diesem Namen ist für die Gattin des Orpheus auch der Name Agriope überliefert. Nach Hermesianax bei Athen. 13, 597b–c. Eur. Alc. 357–360; Verg. georg. 4, 453–506; Cul. 268–295; Ov. met. 10, 1–63; Apollod. 1, 14f.; Sen. Herc. f. 569–591; Herc. O. 1061–1089; Hor. carm. 3, 1, 15–24; rationalistische Umdeutung bei Paus. 9, 30, 6. Verg. georg. 4, 453ff., 544ff. Verg. georg. 4, 460. Verg. georg. 4, 460; Ov. met. 10, 8. Verg. georg. 4, 457; vgl. Plat. Phaid. 68a. Herc. O. 1072f. Cul. 270; Verg. georg. 483; Hor. carm. 3, 1, 15–24. Verg. georg. 4, 483; Ov. met. 10, 45. Verg. georg. 4, 471ff.; Ov. met. 10, 41. Verg. georg. 4, 484; Ov. met. 10, 41; Hor. carm. 3, 1, 15–24; Herc. O. 068ff. Sen. Herc. f. 579.
18 phone.104 Von der Musik und von der treuen Liebe des Sängers gerührt, erlaubten die Götter der Unterwelt Eurydike, ihrem Mann wieder ins Leben zu folgen.105 Allerdings durfte Orpheus auf dem Rückweg bis zur Oberwelt nicht zurückblicken.106 Da Orpheus dieses Verbot jedoch übertrat, verschwand Eurydike bei dreimaligem Donnern107 für immer im Totenreich.108 Der zweite Versuch des Orpheus, in die Unterwelt herabzusteigen, scheiterte, da Charon ihm den Zutritt verwehrte.109 Sieben Tage verbrachte Orpheus ohne Nahrung am Unterweltfluss.110 Danach bewohnte er sieben Monate lang eine Höhle unter einem Felsen an der Mündung des makedonischen Flusses Strymon.111 Er schwur der Frauenliebe ab112 und führte in Thrazien die Knabenliebe ein.113 Vermutlich dadurch zog er sich den Zorn der thrakischen Frauen zu.114 Schließlich überfielen, erschlugen und zerrissen ihn die zürnenden Frauen.115 Seine Körperglieder wurden überall verstreut,116 das abgeschnittene Haupt an die Leier genagelt117 und ins Meer118 ––––––––––– 104 105 106
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Verg. georg. 4, 471; Hor. carm. 21; Ov. met. 10, 40; Herc. O. 1067; Sen. Herc. f. 578. Nach Plat. symp. 179d–e war es nur ein Trugbild der Eurydike. Bei Apollod. 1, 14f. darf sich Orpheus auf dem ganzen Rückweg bis zu seiner Ankunft zu Hause nicht umwenden. Bei Diod. 4, 25, 4 wird das Misslingen von Orpheus’ Rückkehr nicht erwähnt. Einen glücklichen Ausgang von Orpheus’ Unterweltfahrt lassen darüber hinaus vermuten: Eur. Alc. 357; Plut. am. 17, 761e; Lukian. mort. dial. 23, 3; schol. Eur. Alc. 357; auch Verg. Aen. 6, 119. Isokr. or. 11, 8 spricht Orpheus allgemein die Rolle des Totenführers zu. Verg. georg. 4, 493. Verg. georg. 4, 488; Cul. 299; Ov. met. 10, 56; als ältestes Zeugnis für Misslingen der Katabasis vgl. Plat. symp. 179d. Verg. georg. 4, 502; Ov. met. 10, 72. Ov. met. 10, 73. Verg. georg. 4, 507. Nach Ov. met. 10, 73ff. hat Orpheus drei Jahre in Einsamkeit gelebt. Verg. georg. 4, 516. Ov. met. 10, 83; Phanokles bei Stob. 4, 20, 47. Ov. met. 10, 78. Nach Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 29 Olivieri handelte es sich um Zorn des Dionysos: Weil Orpheus Helios-Apollon mehr als Dionysos verehrte, befahl Dionysos den Mänaden die Rache. Dies ist die vorherrschende Überlieferung zum Tod des Orpheus. Es handelt sich entweder um Mänaden (Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 29 Olivieri; Apollod. 1, 14f.) oder um zornige Thrakerinnen allgemein (Plat. symp. 179b; Platon rep. 10, 620a (die Seele des Orpheus wählte für die Wiedergeburt das Leben eines Schwanes, da er nach dem durch rasende Frauen erlittenen Tod nicht von einer Frau geboren werden wollte); Phanokles bei Stob. 4, 20, 47; Paus. 9, 30. Bei Verg. georg. 4, 520ff. und Ov. met. 11, 1ff. ist das Dionysosfest die Gelegenheit für die Rache der Frauen). Bei Ov. met. 11, 67 tritt Dionysos anschließend als Rächer auf und verwandelt die Frauen zur Strafe in Bäume. In einer anderen Variante wurde Orpheus durch den Zeusblitz getötet, weil er göttliche Geheimnisse in Mysterien an die Menschen verraten hat: Paus. 9, 30, 5; Anth. Pal. 7, 617. Eine weitere Variante ist die rationalistische Erklärung des Pausanias, Orpheus habe Selbstmord begangen: Paus. 9, 30, 6. Strab. 7, 330 fr. 18 erzählt auch, dass Orpheus von seinen Gegnern in einem Kampf um die Machtstellung in Pimpleia bei Dion auf Olymp umgebracht wurde. Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 29 Olivieri; Verg. georg. 4, 522; Ov. met. 11, 50. Phanokles bei Stob. 4, 20, 47. Phanokles bei Stob. 4, 20, 47; Ov. met. 11, 50ff.
19 oder in den Fluss Hebros119 geworfen. Das schwimmende Haupt sang aber und die Leier tönte weiter.120 Das Haupt wurde entweder bei Smyrna121 oder auf Lesbos122 aufgehoben und bestattet.123 Die Leier, die nach Orpheus keinen würdigen Besitzer finden konnte, wurde von Zeus als Lyra unter die Sternbilder gesetzt.124 Der Überlieferung zufolge singen an Orpheus’ Grab125 die Nachtigallen süßer und mächtiger als sonst.126 Aus den konstanten Funktionen und Attributen ergibt sich folgende idealtypische Verlaufsform des Orpheus-Mythos: Konstante Attribute: Ein Künstler. Seine Kunst hat eine außergewöhnliche Wirkung. Er ist ein weiser Lehrer der Sitten und der göttlichen Geheimnisse. In der vollständigen Verlaufsform basiert der Orpheus-Mythos auf folgenden Verlaufsstadien: Sequenz I 1. Teilnahme an einer Reise mit Gefährten 2. Mehrmalige Rettung der Gefährten dank seiner Kunst Sequenz II 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Liebesheirat, glückliche Liebe Die Werbung des Rivalen um seine Frau (die deren Tod herbeiführt) Tod der Frau Reise in die Unterwelt / Katabasis Überreden der (Unterwelt)Herrscher / Rettung der Frau durch die Kunst Übertreten des Verbots Endgültiger Verlust der Frau
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Verg. georg. 4, 524. Ov. met. 11, 52; Verg. georg. 4, 524. FGrH 26.45. Philostr. her. 5, 3. Das Grab war eine Orakelstätte (Philostr. Ap. 414). Nach Phanokles bei Stob. 4, 20, 47 wurden das Haupt und die Lyra auf Lesbos beigesetzt. Nach Lukian. adv. indoct. 11 wurde nur das Haupt beigesetzt, die Lyra aber dem Heiligtum des Apollon gestiftet. Ov. met. 11, 50–60 fügt eine ›Schlangengeschichte‹ hinzu: als eine Schlange Orpheus’ Haupt angreifen wollte, wurde sie von Apollon in Stein verwandelt. Eine andere mit einer Schlange verbundene Variante liefert Ps.-Plut. de fluviis 3, 4: danach wurde das Haupt des Orpheus im Pangaiongebirge selbst in eine Schlange verwandelt, aus seinem Blut entstand das Kitharagras. Ov. met. 11, 60–66 schildert auch, wie Orpheus’ Schatten in die Unterwelt hinabsteigt und in den Gefilden der Seligen die Erfüllung seiner Liebe mit Eurydike findet. Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 30 Olivieri; Ps.-Plut. de fluviis 3, 4. Nach Ps.-Eratosth. katasterismoi 24 p. 29 Olivieri sammelten die Musen Orpheus’ Glieder und begruben sie auf dem Libethra. Dieser wird auch in Anth. Pal. 7, 9 und Paus. 9, 30, 9 als Bestattungsort genannt. Weitere Quellen geben Pierien (Apollod. 1, 14f.) und Dion (Paus. 9, 30, 7) als Bestattungsorte an. Paus. 9, 30, 6.
20 Sequenz III 10. Klage / Unterweisung der Menschen (in göttlichen Lehren) / Bezauberung der Natur 11. Verzicht des Künstlers auf Frauenliebe 12. Gewaltsamer Tod / Ermordung durch die zürnenden Frauen 13. ›Reise‹ zum Bestattungsort / Singen nach dem Tod 14. Verherrlichung / Verstirnung Die vorgenommene Einteilung in drei Sequenzen erscheint sinnvoll, da sich der Mythos in drei Teile (Phasen) gliedern lässt, in denen das Stadium ›Reise‹ jeweils eine zentrale Stellung einnimmt. Die Isolation der idealtypischen Verlaufsform bildet ein Kriterium, um einen Text als literarische Verarbeitung des Orpheus-Mythos zu bestimmen. Davon ausgehend werden die Veränderungen der konstanten sowie die spezifische Ausprägung der variablen Elemente untersucht. Die wichtigsten Veränderungen in einer literarischen Mythos-Verarbeitung sind die Reduktion der Verlaufsstadien (bestimmte Phasen des idealtypischen Mythos-Verlaufs werden ausgeklammert) und die Amplifikation der Verlaufsstadien (neue Phasen werden hinzugefügt). Zu nennen sind auch die Inversion und die Substitution. Bei der Inversion verwandelt sich das Element in sein Gegenteil (zum Beispiel befreit Orpheus Eurydike aus dem Totenreich, statt sie endgültig zu verlieren), bei der Substitution erfolgt ein Austausch der Elemente.
1.3.3. Intertextualität und Interdiskursivität In der jeweiligen Textinterpretation wird nach einem Vergleich mit dem oben vorgestellten Strukturmodell untersucht, in welchen rezipierten Verlaufsstadien des Orpheus-Mythos Korrekturen, Modifikationen bzw. Variationen127 erkennbar sind und wodurch (mit welcher Indienstnahme des Mythos) sie sich erklären lassen. Durch Aussparung (Reduktion), Amplifikation oder Hervorhebung einzelner Elemente erfährt ein Mythos eine spezifische, womöglich epochentypische Ausprägung. Somit indizieren diese Abweichungen Aussageabsichten, die für eine Epoche charakteristisch sind. Das Ziel der Arbeit ist daher, verschiedene Aspekte der Verwendung des Orpheus-Mythos und seine mögliche Transformation im deutschen Musikdrama des 17. Jahrhunderts unter Einbettung in den kultur- und diskursgeschichtlichen Kontext der Barockepoche sichtbar zu machen. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht nur auf der Frage, welche Stadien des Mythos jeweils aktualisiert und wie sie gestaltet werden, sondern auch wann diese Aspekte hervorgehoben werden. Der umfangreiche motivische Grundbestand des Orpheus-Mythos – die Macht der Kunst und insbesondere der Dichtung, ihre gesellschaftliche Rolle, die Vanitas- und Todesproblematik, das ––––––––––– 127
Zum Begriff ›Variation‹ vgl. Bernd Seidensticker: Mythenkorrekturen in der griechischen Tragödie. In: Vöhler: Mythen-Korrekturen, S. 19–45, hier S. 40.
21 Verhältnis zwischen Liebe und Erotik sowie die mystischen Traditionen – berührt zentrale ästhetische und religiöse Aspekte und Probleme der Epoche. Bei einer Beschäftigung mit der Barockliteratur liegt ein kulturwissenschaftlicher Zugang nahe. Eine Beschränkung auf reine Textinterpretation ohne Berücksichtigung der historischen Hintergründe sowie der philosophischen, sozialen, religiösen und künstlerischen Diskurse der Epoche ist kaum möglich, zumal die Barockliteratur als Teil des gesellschaftlichen Systems zu begreifen ist. Im Rezeptionswandel eines Mythos kommen die Veränderungen der historischen Situation, des literarischen Lebens, des Zeitgeschmacks und der Zeitvorstellungen zum Ausdruck. Versteht man Literatur als kulturelle Praxis, die sich mit anderen Formen menschlicher Praxis verbindet, so stellt man fest, dass nicht nur in bestimmten literarischen Epochen eine Konzentration auf bestimmte Mythen erfolgt, sondern auch, dass in diesen Mythen bzw. durch sie jeweils spezifische gesellschaftliche Diskurse128 zur Darstellung kommen.129 Gerade die Mythen sind dafür besonders ›aufnahmefähig‹, denn ihre literarischen Variationen und Korrekturen »erlauben die immer neue Anpassung der traditionellen Geschichten an die sich wandelnde historische und soziale, kulturelle und ideologische Realität«130. Speziell für das konfessionelle 17. Jahrhundert bot der antike Mythos, dessen Struktur im Unterschied zu anderen, insbesondere biblischen Themen, frei bearbeitet werden konnte, Anschlüsse an verschiedene Diskurse.131 Der Orpheus-Mythos, der die künstlerische mit der theologischen Thematik vereinigt, verfügt über große Auslegungsfreiräume, die sich poetisch ausnutzen ließen. Aussagekraft, Relevanz und Vieldeutigkeit des Sujets erlaubten neben der Verwendung in unterschiedlichen Kontexten vielerlei Adaptionen. Der ––––––––––– 128
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Ich folge dem Foucaultschen Diskursbegriff. In der vorliegenden Arbeit bezeichnet der Terminus ›Diskurs‹ »eine strukturierte Menge von (überwiegend sprachlichen) Äußerungen, deren Geltungsbereich durch eine Diskurs-Ordnung geregelt wird. Der innere Zusammenhang solcher Diskurse ist semantisch bestimmt: zu einem Diskurs gehören alle Äußerungen, die seine Regeln befolgen und zum spezifischen Thema des Diskurses Wissenselemente beitragen«. Mit Rüdiger Schnell wird der Terminus auch auf »ein festes Bündel tradierter Denk- und Konnotationsschemta« ausgeweitet. Rainer Baasner: Diskursanalyse. In: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Hg. v. Rainer Baasner u. Maria Zens. Berlin 22001, S. 137–147, hier S. 137. Rüdiger Schnell: Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt u. New York 1998, S. 29. Vgl. die Beobachtung von Foucault über die Verflechtung der Literatur mit anderen Diskursformationen: »Die archäologischen Gebiete können ebenso durch ›literarische‹ oder ›philosophische‹ Texte gehen wie durch wissenschaftliche Texte. Das Wissen ist nicht nur in Demonstrationen eingehüllt, es kann auch in Fiktionen, in Überlegungen, in Berichten, institutionellen Verordnungen, in politischen Entscheidungen liegen.« Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt / Main 1997, S. 261. Seidensticker: Mythenkorrekturen in der griechischen Tragödie, S. 41. Zur Interdiskursivität und diskursübergreifender Funktion der Mythen in literarischen Texten vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Harro Müller. Frankfurt / Main 21992, S. 284–307.
22 motivische Grundbestand des Mythos – die Macht der Dichtung und der Musik, Liebe, Tod und seine Überwindung, Unsterblichkeit des Dichters – lässt Betrachtungen und Interpretationen aus verschiedenen Perspektiven zu. Der mythologische Diskurs beschränkt sich nicht nur auf den Dialog zwischen Antike und neuerer Zeit. Auch die Adaptionen und Auslegungen des Mythos aus früheren Epochen – ein selektives Konstrukt, das seinerseits das Ergebnis mehrfacher Rezeptionsvorgänge ist – werden rezipiert. Darüber hinaus stehen die rezipierenden Texte auch untereinander in Beziehung. Das Deutungspotenzial des Mythos entwickelt sich somit auch durch die Interferenzen zwischen seinen einzelnen Aktualisierungen. Da der Mythos nur in der Gesamtheit dieser schriftlichen Fassungen gegeben ist, definiert Manfred Pfister ihn als intertextuelles Phänomen und schlägt vor, im Falle literarischer Mythen-Rezeptionen von einer intertextuellen Systemreferenz zu sprechen.132 In der Systemreferenz treten Einzeltextreferenzen zwischen bestimmten Fassungen hinter den intertextuellen Serien zurück. Letztere können als immer neue Versionen und Variante verstanden werden, die längere Zeiträume und mehrere Künste umspannen können.133 Die vorliegende Untersuchung muss sich daher auch mit der Frage befassen, inwiefern die barocke Rezeption des Orpheus-Mythos im Zeichen einer kontinuierlichen Tradition des Mittelalters und der Renaissance steht und ob sie innerhalb des Untersuchungszeitraums eine Dynamik aufweist. Im Falle der Analyse eines konkreten Textes liegen allerdings meistens sowohl die Einzeltext- als auch die Systemreferenz vor, daher sollen diese beiden Bezugsformen in ihrem Zusammenwirken analysiert werden.134 Gerade der Aspekt der Dialogizität/Intertextualität machte eine Beschränkung und klare Konturierung des Analysekorpus notwendig. In meiner Studie konzentriere ich mich daher auf die musikdramatische Gattung, also auf Orpheus-Libretti. Die Einbeziehung eines Schuldramas in das Textkorpus lässt sich sowohl durch die Besonderheit dieses Textes – zahlreiche Musikeinlagen – als auch durch die allgemeine Tendenz der ›Veroperung‹ dieser Gattung gegen
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Unter Systemreferenz wird ein intertextueller Verweis eines Textes auf einen Prätext verstanden, der »nicht mehr ein individueller Prätext [ist], sondern von Textkollektiva gebildet [wird] oder genauer von den hinter ihnen stehenden und sie strukturierenden textbildenden Systemen«, die sich »in Texten manifestieren und nur über Texte greifbar sind«. Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 52–58, hier S. 53. Der literarische Bezug auf Mythos gehört insofern zur intertextuellen Systemreferenz, als dass zum einen ein Mythos die Verknüpfung einzelner Erzählmotive zu einem System darstellt und zum anderen ein mythologischer Text meistens auf eine ganze Serie von Texten referiert, in denen dieser Mythos schon gestaltet wurde. Vgl. Pfister: Zur Systemreferenz, S. 56. Vgl. Pfister: Zur Systemreferenz, S. 57. Vgl. Ulrich Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Broich u. Pfister: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, S. 48–52, hier S. 51–52.
23 das Ende des 17. Jahrhunderts rechtfertigen.135 Darüber hinaus kann häufig, vor allem wenn die Musik nicht erhalten ist, aufgrund der im 17. Jahrhundert fehlenden einheitlichen definitorischen Bezeichnungen bei den musikalisch-dramatischen Werken der Grad ihrer Vertonung nicht mit Sicherheit festgestellt werden, so dass sich die Grenzen solcher Dramen zur Oper als fließend erweisen.136 Die Gründe für die Wahl und Beschränkung auf die Musikdramen seien an dieser Stelle genannt: 1. Die sieben musikdramatischen Texte, welche in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, decken chronologisch fast den ganzen Untersuchungszeitraum ab. Da das musikalische Drama – und damit die erstmalige Verarbeitung des Orpheus-Mythos in einer Oper – als neue Gattung nach Deutschland importiert wird und sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts etabliert, lässt sich die mythische Intertextualität in den mehr oder weniger deutlich markierten Rückverweisen auf frühere Fassungen innerhalb derselben Gattung nachvollziehen. Die oben gestellte Frage nach der Kontinuität und Dynamik kann im Rahmen eines intertextuellen Diskurses137 innerhalb einer Gattung besser verfolgt werden, als in einer gattungsübergreifenden Untersuchung. Selbstverständlich darf dabei nicht aus den Augen verloren werden, dass auch bei Texten, die einer Gattung angehören, sowohl der Bezug auf ein »System von Varianten und ›Lesarten‹ des Mythos«138 innerhalb einer komplexen Vernetzung der Texte als auch der auf einzelne Texte relevant ist. 2. Das Libretto stellt die wohl wichtigste musikdramatische Gattung in der europäischen Theatertradition dar. Allerdings wurde sie lange Zeit von der Forschung vernachlässigt.139 Für die Erforschung des 17. Jahrhunderts im ––––––––––– 135 136
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Mehr dazu vgl. Kap. 3.5. Auch das RISM-Verzeichnis subsumiert Schuldramen unter andere musikalische Quellen. Auch Bernhard Jahn, Bodo Plachta: Zur Edition deutschsprachiger Opernlibretti (1660– 1740). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Teil 1. Amsterdam 1997 (Chloe 24), S. 231– 245, hier S. 235, plädieren für eine weitgefasste Definition des Musiktheaters in Bezug auf das 17. Jahrhundert. Der Begriff des ›intertextuellen Diskurses‹ ist der Studie von Thorsten Fitzon entnommen. Vgl. Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji: antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1870. Berlin u. New York 2004. Pfister: Zur Systemreferenz, S. 58. Die Untersuchungen zu Operndichtungen nehmen im Vergleich zu denen zu anderen dramatischen Gattungen wenig Raum ein. Allerdings ist die Zahl operntextzentrierter Arbeiten in den vergangenen Jahren deutlich angewachsen. In letzter Zeit bemüht sich die Literaturwissenschaft, in der Nachfolge von Willi Flemings Die Oper (Leipzig 1933) die Qualität eines Operntextes unter Einbeziehung seiner Funktion zu beurteilen. Das Libretto wird als literarische Gattung anerkannt, das trotz gewisser formaler Affinitäten zu den dramatischen Gattungen des Sprechtheaters eine eigene Dramaturgie besitzt. Untersuchungen zur Librettistik des 17. und 18. Jahrhunderts sind im Vergleich zu anderen Epochen relativ gut vertreten, wobei allerdings der Schwerpunkt auf italienischen und französischen Libretti liegt. Dabei weicht die normative Librettoforschung zunehmend einem deskriptiven Ansatz. Aus einer Reihe von Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier nur einige exemplarisch herausgegriffen: Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten 1964. Jens Malte Fischer (Hg.): Oper und Operntext.
24 Allgemeinen und der Antikerezeption im Besonderen ist diese Gattung aber von großer Relevanz, entstand sie doch im Zuge des Bestrebens, die antike Tragödie in Form der Oper wiedererstehen zu lassen. Darüber hinaus bildeten spätestens ab 1680 »die Oper und ihr verwandte musiktheatrale Gattungen [...] in Deutschland [...] die wichtigste Form des Theaters und standen im Brennpunkt verschiedenster Diskussionen«.140 Die zentrale Rolle bei der Genese einer Gattung, die sich vor allem durch die Intermedialität, die gleichzeitige Einbeziehung von Dichtung, Musik und malerischer Ausstattung auszeichnet, spielte bereits in der ersten Oper – Jacopo Peris und Ottavio Rinuccinis L’Euridice – der Orpheus-Mythos, der in sich genuin das dichterische Wort mit der Musik vereinigt. Im Allgemeinen liegt beim Entstehen des Gesamtkunstwerks ›Oper‹ zuerst das Libretto vor, dann wird die Musik komponiert. Im 17. Jahrhundert sind sich nahezu alle Autoritäten darüber einig, dass in der Oper der Text wichtiger ist als die Musik.141 Auch in der Theaterpraxis des 17. und 18. Jahrhunderts kam dem Libretto eine wichtige Rolle zu. Es wurde am Tag der Aufführung im Theater verkauft, so dass der vollständige Text mitgelesen werden konnte, da der Zuschauerraum hell beleuchtet blieb.142 Damit entging dem Zuschauer keine Nuance der Dichtung. Die Libretti wurden als Lesedramen konzipiert und enthielten auch Verse, die nicht zur Vertonung bestimmt und im Druck mit Anführungsstrichen versehen waren. Sie wurden in Sammelausgaben veröffentlicht und galten u. a. neben den Romanen als empfohlene Lektüre für die Erziehung zur Galanterie. Auch die Musikerbriefe zeugen von der Wichtigkeit des Librettos für das Entstehen der Oper. Darüber hinaus zeichnete sich das Libretto im 17. Jahrhundert durch eine breite Auswirkung auf andere Gattungen aus. Besonders Libretto und Schauspiel, aber
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Heidelberg 1985. Albert Gier: Oper als Text: romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. Heidelberg 1986. Hans Joachim Marx (Hg.): Zur Dramaturgie der Barockoper: Bericht über die Symposien der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 1992 und 1993. Laaber 1994. Christiane Loskant: Librettologische Untersuchungen zur Opernpraxis im 17. und 18. Jahrhundert, ausgehend von Francesco Gasparinis »La Statira« (Venedig 1706). Frankfurt / Main 1995. Albert Gier: Das Libretto: Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998. Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690–1745). Göttingen 1998 (Abhandlungen zur Musikgeschichte 2). Pia Janke: Dramaturgie der Leidenschaften: Libretti aus vier Jahrhunderten. Wien 2000. Judith P. Aikin: A language for German opera: the development of forms and formulas for recitative and aria in seventeenth-century German libretti. Wiesbaden 2002. Als grundlegende Studie zum deutschen Opernlibretto seit 1680 kann die Arbeit von Bernhard Jahn betrachtet werden: Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron 45). Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 1. Zur Ausgrenzung der Musikdramen bei der Konstituierung der Fächer Literatur- und Musikwissenschaft vgl. ebd. S. 2ff. Vgl. dazu Gier: Das Libretto, S. 4ff. Gier: Das Libretto, S. 3.
25 auch der Roman haben sich wechselseitig beeinflusst.143 So ist das deutsche Schauspiel in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wesentlich durch Übersetzungen italienischer Libretti geprägt.144 3. Die Oper wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts erst allmählich in den Poetiken definiert und durch Regeln festgelegt.145 Sie kombinierte die antike ›Fabula‹ mit der neuen, wenig festgelegten Gattung, die sich durch das Nebeneinander verschiedener Formen, freien Umgang mit tragischen Stoffen und einen klar definierten Rezipientenkreis – die höfische adlige Gesellschaft zu Beginn des Jahrhunderts und die Vertreter des Stadtbürgertums gegen dessen Ende – auszeichnete. Diese Kombination war Voraussetzung für die poetische Lizenz und erlaubte dank größerer Deutungsspielräume Umschreibungen des Orpheus-Mythos, wie sie weder in den zeitgenössischen außerliterarischen Diskursen noch im Rahmen anderer literarischen Gattungen möglich waren.
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Vgl. Bodo Plachta: Plagiat oder Neuschöpfung? Zum Einfluß der galanten Lyrik Christian Hofmann von Hofmannswaldaus auf Libretti von Christian Heinrich Postel. In: Die Musikforschung 34 (1981), S. 11–24. Sara Smart: Die Oper und die Arie um 1700. Zu den Aufgaben des Librettisten und zur Form und Rolle der Arie am Beispiel der Braunschweiger und Hamburger Oper. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Gudrun Busch u. Anthony J. Harper. Amsterdam u. Atlanta/Georgia 1992, S. 183–212. Bernhard Jahn: Das Libretto als literarische Leitgattung am Ende des 17. Jahrhunderts? Zu Zi(e)glers Roman »Die Asiatische Banise« und seinen Opernfassungen. In: Die Oper am Weißenfelser Hof. Hg. v. Eleonore Sent. Rudolstadt 1996, S. 143–169. Ders.: Die Sinne und die Oper, S. 3. Gier: Das Libretto, S. 17. Als erster hat Harsdörffer das Singspiel in eine normative Poetik aufgenommen. In seinem maßgeblichen Poetischen Trichter (3 Bde., 1647–1653) behandelt er die Oper noch unter den Hirtenspielen. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen. Teil 2. Nürnberg 1648, S. 99f.
2.
Quellen des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert
2.1.
Narrative Quellen des Orpheus-Mythos
2.1.1. Antike Quellen des Orpheus-Mythos. Vergil und Ovid Die im Kapitel 1.3.2 vorgestellte Version des Orpheus-Mythos ist ein synthetisches Konstrukt und basiert auf den klassischen antiken Quellen. Bei der Untersuchung der Rezeption des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert stellt sich dagegen die Frage nach der Überlieferung und nach den Quellen des mythologischen Wissens, aus denen die Orpheus-Sage den barocken Autoren bekannt sein konnte. In diesem Kapitel soll der Frage nach dem ›Orpheus-Wissen‹ des 17. Jahrhunderts, d. h. dem Material und den Themen nachgegangen werden, die den Autoren zur Verfügung standen. Die ersten Quellenstudien auf diesem Gebiet machen deutlich, dass mythologische Zitate und Figuren auch im 17. Jahrhundert seltener auf das Studium der klassischen antiken Quellen als auf die zahlreichen mythologischen Repertorien, Handbücher, Lexika und Nachschlagewerke zurückgehen. Diese Werke, von denen die meisten die synkretistische Tradition der Spätantike fortsetzen und sich häufig definitiv von den Überlieferungen der antiken Autoren unterscheiden, erlebten vor allem in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts einen wahren Aufschwung. Es handelte sich einerseits um Neuauflagen von Werken spätantiker und mittelalterlicher Autoren sowie Renaissance-Autoren und andererseits um neue, lateinische oder volkssprachliche Kompendien, wobei ältere Werke mit neuen Kommentaren versehen wurden. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Zweckmäßigkeit dieser Werke: sie sollten als erklärende Grundlage für Künstler und als Hilfe bei der Lektüre der Dichter dienen. Dass sie als solche auch Verwendung fanden, bezeugen u. a. die zahlreichen Vorreden zu den Textbüchern, in denen zur Erklärung der Fabel auf die einschlägigen ›Mythologien‹ verwiesen wird bzw. eventuelle Abweichungen gerechtfertigt werden. Für den Orpheus-Mythos waren die zwei wichtigsten ›Gewährsmänner‹ – wie schon für die früheren Jahrhunderte – Vergil1 und Ovid2; als weitere Autoren von Primärquellen, die auch im Studium gelesen wurden, sind Horaz3 und
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Verg. georg. 4, 453ff. Ov. met. 10, 1–155. 11, 1–66. Hor. carm. 3, 11, 13ff.
28 Seneca4 zu nennen. Vor allem für Ovids Metamorphosen lässt sich im 17. Jahrhundert eine regelrechte ›Ausgabenflut‹ konstatieren.5 Dabei handelt es sich nicht nur um den lateinischen Originaltext bzw. dessen jeweilige volkssprachliche Übersetzung, sondern auch um allegorische Bearbeitungen der früheren Jahrhunderte, die auch zahlreiche nicht-ovidische Mythen enthalten. Bereits im 16. Jahrhundert hatten die Metamorphosen den Status eines mythographischen Sammelwerks und wurden um Angaben aus anderen Quellen vervollständigt, in Prosa umgeschrieben und in enzyklopädische Werke übernommen.6 Auch in den meisten Ausgaben des 17. Jahrhunderts wird der Text um Kommentare erweitert. Nicht selten erhalten diese die meiste Aufmerksamkeit, während der Text auf eine Zusammenfassung reduziert wird. Dabei legen die Autoren in ihrer Vorgehensweise je nach der potentiellen Rezipientengruppe ein unterschiedliches Ausmaß an philologischer Sorgfältigkeit an den Tag. So kombiniert Jacobus Pontanus in seinem 1618 erschienenen Ovid Textauszüge mit Inhaltswiedergaben und liefert einen auf antike Quellen gestützten Kommentar ausgewählter Verse, obwohl er auch häufig, vor allem in der Deutung, auf Werke spätantiker und Renaissance-Mythographen verweist.7 Auf eine andere Art manifestiert sich diese Abhängigkeit von den Vorgängern in der Übersetzung der Ovid-Paraphrase des Carel van Mander, die dem zweiten Teil der Teutschen Academie von Joachim von Sandrart beigebunden ist, einem Werk, das sich vor allem an Künstler richtet.8 Die Auslegung ist nach den Bü––––––––––– 4 5
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Die Chorlieder in Hercules furens (Sen. Herc. f. 569–591) und in dem Seneca zugeschriebenen Drama Hercules Oetaeus (Herc. O. 1031–1101). Beispielsweise erschienen im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts allein im deutschen Raum: P. Ovidii Metamorphosis, seu Fabulae Poeticae [...] Earumque Interpretatio Ethica, Physica, Et Historica, Georgii Sabini [...]. Frankfurt 1601. P. Ovid. Nasonis XV. Metamorphoseon Libroru[m] figurae elegantissime [...] Quibus Subiuncta sunt Epigra[m]ata [...] autore Giulhelmo Salsmanno. Köln 1607. P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1609. Georg Sabinus: Fabularum P. Ovidii metamorphosis descriptarum Interpretatio ethica et physica historica. 1614. P. Ovidii Nasonis Opera Omnia in Tres Tomos Distributa: Ex postrema Jacobi Mycilli Recognitione. Et Nova Recensione Gregorii Bersmanni, Cum Eiusdem Aliorumq[ue] [...] Notationibus, Cumque omnium Fabularum in Libris Metamorphoseon Ethica, Physica & Historica Interpretatione. Georgii Sabini Quibus in Fine tandem accesset eiusdem Bersmani dudum desiderata Calligraphia Ovidiana, Germanica Paraphrasi illustrata, & in ceteros locos redacta [...]. Leipzig1620–1621. P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri XV. Selecti: Ab Omni Obscoenitate Purgati, Sectionibus & Argumentis novis illustrati; Ad usum Studiosae Iuventutis. Köln 1629. Weitere einschlägige Werke ließen sich aufführen. 54 illustrierte Ausgaben der Metamorphosen verzeichnen allein für das 17. Jahrhundert Gerlinde Huber-Rebenich, Sabine Lütkemeyer, Hermann Walter: Ikonographisches Repertorium zu den Metamorphosen des Ovid. Die textbegleitende Druckgraphik. Bd. 2: Sammeldarstellungen. Berlin 2004. Vgl. Bodo Guthmüller: Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Die Allegorese des antiken Mythos. Hg. v. Hans-Jürgen Horn u. Hermann Walter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 75), S. 37–63, hier S. 39f. Jacobus Pontanus (Hg.): Ex P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon libris XV. Electorum libri totidem ultimo integro / Ad eosdem novi commentarij [...]. Antwerpen 1618. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste [...]. Teil 2.3: P. Ovidii Nas. Metamorphosis, Oder: Des verblümten Sinns der Ovidiani-
29 chern der Metamorphosen gegliedert und innerhalb eines Buches in einzelne Unterkapitel unterteilt, die der jeweiligen mythologischen Gestalt bzw. deren Verwandlung gewidmet sind. Ovids Text wird dabei nur sehr knapp zusammengefasst wiedergegeben. Für den Orpheus-Mythos zieht Sandrart (bzw. van Mander) zum Vergleich Vergils Version heran, beschränkt sich aber sonst bei seinem Kommentar auf die Übersetzung des entsprechenden Abschnitts aus der Mythologie des Natale Conti.9 Im Hinblick auf die besondere Relevanz von Ovid und Vergil für die Rezeption des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert seien an dieser Stelle die Versionen der Metamorphosen und der Georgica kurz referiert und miteinander verglichen. Die frühere der beiden ist die Version des 4., der Bienenzucht gewidmeten Buchs von Vergils Lehrgedicht Georgica. Sie entfaltet sich um die Gestalt des göttlichen Hirten und Erfinders der Bienenzucht Aristaeus10 und wird im Zusammenhang mit dem Verlust und der Wiedergewinnung seines Bienenstocks erzählt. In chronologische Reihenfolge gebracht, kann die Version Vergils folgendermaßen dargestellt werden: Aristaeus stellt Eurydice nach (457), diese flieht vor dem Verfolger und tritt auf eine Schlange (458–459). Es folgt die Schilderung der allgemeinen Trauer der Nymphen, der Natur und insbesondere des Orpheus um Eurydice (460–466). Orpheus steigt in die Schroffenfelsen des Taenarus und tritt vor den Thron des Pluto (467–470). Vergil erzählt nur die Wirkung von Orpheus’ Gesang: die Schatten schweben zu Orpheus herauf (471–480), die Eumeniden und der höllische Hund Cerberus erliegen dem Zauber seiner Musik und Ixions Rad bleibt stehen (481–484). Orpheus führt Eurydice zurück in die Oberwelt (485–487), aus Übermaß an Liebe schaut er sich aber nach seiner Gattin um (488–491). Das Vorhandensein der Bedingung wird somit impliziert, sie wird auch parenthetisch in 487 erwähnt. Als Zeichen der verletzten Bedingung ertönt ein dreimaliger Donnerschlag (491–493), Eurydice verschwindet mit vorwurfsvollen Worten als Schatten aus den Armen des Orpheus, der vergebens versucht, sie festzuhalten (494–502). Eine erneute Katabasis wird Orpheus von Charon verwehrt (502– 503). Sieben Monate lang beweint Orpheus sein Schicksal (507–509), Tiger und Bäume kommen und lauschen seinem Gesang (510). Er verzichtet auf Liebe und Ehe (516) und wandert einsam in Thanais (517–520). Die thrakischen Frauen fühlen sich verschmäht (520), zerreißen ihn in bacchantischem Zorn (521–522) und streuen seine Glieder auf die Felder (522). Orpheus’ Haupt wird vom Strom des Hebrus zum Meer getragen und ruft nach Eurydice (523–527). Um ihre Gespielin zu rächen, töten die Nymphen Aristaeus’ Bienen (532–534). Der verzweifelte Aristaeus wendet sich an seine Mutter, die Nymphe Cyrene –––––––––––
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schen Wandlungs-Gedichte gründliche Auslegung. Nürnberg 1679. Es handelt sich dabei um eine Übersetzung der 1604 erschienenen Auslegung des niederländischen Malers und Kunstschriftstellers Carel van Mander. Vgl. Carel van Mander: [...] Wtlegghinghe op den Metamorphoseon [...]. Haerlem 1604. Zu Conti vgl. Kap. 2.1.2. Hier und weiter wird bei den Eigennamen die Schreibweise des jeweiligen Textes beibehalten.
30 (319–332). Diese lässt ihn in ihrem Meerespalast bewirten (357–385) und schickt ihn zum Meergreis Proteus (386–414). Aristaeus gelingt es, Proteus zu bezwingen (437–444), und dieser offenbart ihm die Ursache der Bienenplage (453–527). Cyrene rät Aristaeus daraufhin, den Nymphen vier Stiere, Eurydice ein Kälblein und Orpheus ein Lamm und Mohn zum Opfer zu bringen (534– 547). Aristaeus folgt dem Rat (548–553); aus den Rippen der geschlachteten Stiere fliegen Bienen heraus (554–558). Dass sich Ovid bei der Verarbeitung des Orpheus-Mythos in den Büchern 10 und 11 der Metamorphosen auf Vergils Version stützte, wird durch intertextuelle Bezüge belegt. Ovid transformiert die Geschichte jedoch sehr stark. Er verzichtet gänzlich auf die Figur des Aristaeus und beginnt die Erzählung mit den schlechten Vorzeichen, die der Ehegott Hymenaeus bei der Hochzeit von Orpheus und Eurydice gibt (10, 1–7). Eurydice spielt mit den Naiaden auf der Wiese, wird durch eine Schlange gebissen und stirbt (10, 10). Orpheus beweint die Gattin auf Rhodope (10, 11) und beschließt, durch die Pforte des Taenaris in die Unterwelt hinabzusteigen (10, 12–16; dabei ist »simulacra functa sepulchro« ein unmarkiertes Zitat aus Verg. georg. 4, 472–474). Orpheus trägt singend dem Herrscherpaar Pluto und Proserpina die Bitte um die Rückgabe der Gattin vor. Sein Gesang ist von Ovid als direkte Rede gestaltet (10, 17–39). Die Wirkung von Orpheus’ Gesang wird von Ovid ausführlicher beschrieben: die Seelen weinen (10, 41), die Torturen der vier Büßer Tantalus, Ixion, Tityos und Sisyphus sowie der Beliden werden unterbrochen (10, 41–44) und die Eumeniden weinen zum ersten Mal (10, 46). Weder Persephone noch Pluto können die Bitte ablehnen (10, 46–47), sie rufen Eurydice, die mit verwundetem Fuß nur langsam voranschreitet (10, 48–50), und geben sie Orpheus unter der Bedingung zurück, auf dem Rückweg in der Unterwelt nicht zurückzublicken (10, 50–52).11 Orpheus und Eurydice kehren zurück und sind an den Rand der Oberfläche gelangt, als Orpheus sich aus Sorge und Liebe umblickt (10, 53–57). Eurydice verschwindet ohne Vorwürfe mit einem Abschiedgruß, den Orpheus kaum vernehmen kann (10, 60–63). Das Entsetzen des Orpheus über den zweiten Verlust der Gattin wird mit zwei versteinerten Gestalten verglichen (10, 64–71). Charon weist Orpheus ab (72–73), daraufhin harrt der Sänger trauernd, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, am Ufer aus, und zieht sich anschließend auf Rhodope und Haemus zurück, wo er drei Jahre klagend verbringt (10, 76–79; 10, 86–144). Als Orpheus auf einem schattenlosen Hügel singt, zieht seine Musik eine Schar von wilden Tieren und Vögeln (10, 145–147; 11, 2), Steine (11, 1–2) und Bäume (11, 1) heran, die ihm Schatten spenden (10, 86–105), darunter auch verwandelte Gestalten wie Cyparissus (10, 106–142). Orpheus stimmt das Lied ein, in welchem er die Knaben, die von Göttern geliebt wurden, und die Mädchen, die verbotener Leidenschaft nicht widerstehen konnten, besingt (10, 148–739). Orpheus verzichtet auf die Liebe der Frauen, die sich mit ihm verbinden wollen, entweder aufgrund seiner unglücklichen Erfahrung oder ––––––––––– 11
In der Formulierung der Bedingung – »aut irrita dona futura« – verbirgt sich ein weiteres Zitat Vergils (»irrita dona«, Verg. georg. 520).
31 als Folge des Eurydike gegebenen Versprechens (10, 79–81). Er führt die Knabenliebe ein (10, 83–84). Während des alles verzaubernden Gesanges des Orpheus attackieren ihn die Mänaden; sie bewerfen ihn mit Thyrsusstäben und Steinen, diese fallen aber, von der Musik angehalten, dem Sänger zu Füßen (11, 3–14). Das Geschrei der rasenden Frauen erweist sich aber stärker als der Gesang: die Mänaden schleudern Steine, Thyrsusstäbe (11, 29–30) und Arbeitsgerät der geflohenen Bauern (11, 34–37) und zerreißen schließlich den bittenden Orpheus und dessen Zuhörer (11, 20–24; 11, 39–40). Die Natur trauert um Orpheus (11, 41–49). Das Haupt des Sängers und dessen Lyra schwimmen im Hebrus, die Leier spielt und das Haupt klagt (11, 50–54). Das Haupt und die Lyra landen auf der Insel Lesbos, wo sie von einer Schlange bedroht werden, die Apollo rechtzeitig in Stein verwandelt (11, 55–60). Der Schatten des Orpheus kehrt in die Unterwelt zurück und das Paar genießt das Glück im Elysium (11, 61–66). Zur Strafe für den Tod des »sacrorum vates suorum« verwandelt Dionysos die Mänaden in Bäume (11, 67–84) und verlässt Thrazien (11, 85– 87).
2.1.2. Mythographische und mythologische Nachschlagewerke Sonstige Quellen zu Orpheus kannte man verarbeitet und vermittelt durch spätantike heidnische oder christliche Mythographen, Scholiasten und deren humanistische Nachfolger. Zu diesen Texten zählen zum einen die Neueditionen der bereits im 16. Jahrhundert zu Sammlungen zusammengefassten mythographischen, allegorischen und astronomischen Traktate: die Unglaublichen Geschichten des hellenistischen Grammatikers und Historikers Palaephatus, das astronomische Lehrgedicht Phaenomena des frühhellenistischen Dichters Aratus,12 die Bibliothek des Pseudo-Apollodoros,13 die Fabeln und die Astronomie des Hyginus,14 die Mythologiae in drei Büchern des spätantiken Mythographen Fulgentius,15 die Argumenta des Pseudo-Lactantius16 und der Libellus17 des Pseudo-Albricus.18 ––––––––––– 12 13 14
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Dieses in der anonymen lateinischen Prosaübersetzung. Das mythographische Handbuch ǺȚȕȜȚȠșȒțȘ wurde dem alexandrinischen Gelehrten Apollodoros (ca. 180 – ca. 110 v. Chr.) zugewiesen; es ist aber späteren Datums. Das astronomisch-mythologische Handbuch stammt vermutlich tatsächlich vom Philologen und Polyhistor Hygin (28 v. Chr., Präfekt der palatinischen Bibliothek). Von diesem Werk (Hyg. astr. 2, 12: De quo in primo libro Genealogiarum scripsimus) wurden der Name und der Titel Genealogiae auf das auch und besser als Fabulae des Hyginus Mythographus bekannte mythologische Buch übertragen. Vgl. Peter L. Schmidt: [Artikel] Hyginus. In: Der Neue Pauly 5 (1998), Sp. 778–779. Die Mitologiae (Mythologiarum libri III) sind um das Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren; darin werden 50 antike Mythen mit Hilfe von Etymologien physikalisch und ethisch gedeutet. Die Identität des Autors, Fabius Planciades Fulgentius des Mythographen, mit dem Bischof Fulgentius von Ruspe, die in der Frühen Neuzeit angenommen wurde, ist in der Forschung umstritten.
32 Zum anderen sind es die Werke der Mythographen des 16. Jahrhunderts, vor allem die Geschichte der Götter19 von Lilio Gregorio Giraldi und die Mythologie20 von Natale Conti. Zwar greifen beide Verfasser bei ihren Betrachtungen ––––––––––– 16
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Die Argumenta Metamorphoseon Nasoniarum wurden in der Frühen Neuzeit Lactantius Placidus zugeschrieben, einem wohl christlicher Scholiasten des späten 4. Jahrhunderts n. Chr., dessen Kommentar zu Statius’ Thebais im Mittelalter von den Mythographi Vaticani, wie summarisch drei 1831 herausgegebene mittelalterliche mythographische Sammlungen aus der vatikanischen Handschriftensammlung bezeichnet werden, benutzt wurde. Die Wirkungsgeschichte dieser Schriften reicht über das Mittelalter hinaus. De deorum imaginibus Libellus; zu den zwei dem Autor Albricus zugeschriebenen mittelalterlichen Texten über die Bilder der Götter vgl. Jean Seznec: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. München 1990 (Franz. Original 1980. Erstausgabe London 1940), S. 127. Die Ausgabe von 1608 (C. Ivlii Hygini, Avgvsti liberti, fabularvm liber, Ad Omnivm Poetarvm lectionem mirè necessarius, & nunc denuò excusus. Eivsdem Poeticon Astronomicon Libri quatuor. Quibus accesserunt similis argumenti; Palaephati De fabulosis narrationibus Liber I. P. Fvlgentii Placiadu Episcopi Carthaginensis Mythologiarum Libri III. Eivsdem De vocum antiquarum interpretatione Liber I. Phornvti De natura deorum, siue poëticarum fabularum allegorijis, speculatio. Albrici Philosophi De deorum imagibinis Liber. Arati ĭĮȚȞȠȝİȞȦȞ fragmentum, Germanico Caesare interprete. Eivsdem Phaenomena Graece cum interpretatione Latina. Procli De sphaera libellus, Graece & Latine. Apollodori Biblioth. siue de Deorum origine. Lilii G. Giraldi De Musis Syntagma. Nunc primvm vero Ex Macrobio, Ficino in Plotinum, Natali de Comitibus, & alijis Excerpta lectu dignißima, & Operis argumento conuentissima, subiuncta sunt [...]. Lyon 1608) ist die um Auszüge und Kommentare von Macrobius, Ficino und Conti erweiterte Basler Ausgabe von 1570, die ihrerseits auf die noch kürzeren Basler Sammlungen von 1549 (mit Texten von Albricus, Hyginus, Fulgentius, Phornutus, Proklos und Aratos) und von 1535 (ohne Albricus) zurückgeht. 1681 erschien die als Mythographi latini betitelte Sammlung mit Kommentaren von Thomas Muncker (Hg.): Mythographi latini. C. Jul. Hyginus. Fab. Planciades Fulgentius. Lactantius Placidus. Albricus Philosophus. Thomas Munckerus omnes ex libris MSS. partim, partim conjecturis verisimilibus emendavit [...]. Amsterdam 1681. Die Fabeln des Hyginus wurden 1670 in Leiden (C. Iulius Hyginus: Fabularum liber [...]. Leiden 1670) und 1674 in Hamburg zusammen mit der Astronomie und mit Kommentaren von Johannes Gerhard Scheffer und Thomas Muncker (C. Iulius Hyginus: Fabulae Quae hodie extant, adcurante Joanne Scheffero Argentoratensi, Qui simul adjecit notas [...]. Accedunt & Thomae Munckeri In Fabulas Hyginis Annotationes. Hamburg 1674) gedruckt. Die Unglaublichen Geschichten erschienen 1649 in Amsterdam (Palaephatus: De Incredibilibus [...]. Amsterdam 1649) und 1686 in Frankfurt (Palaephatus: De Incredibilibus [...] Cum Interpretatione Latina Cornelii Tollii, & Annotatis Martini Brunneri [...] Paulus Pater nunc primum in Germania Graece & Latine edidit. Frankfurt 1686), die Phaenomena des Aratus 1631 in Güstrow (Aratus: Phainomena [...]. Güstrow 1631). Editio princeps: Lilio Gregorio Giraldi: De deis gentium varia et multiplex historia in qua simul de eorum imaginibus et cognominibus agitur [...]. Basel 1548. Ausgabe des 17. Jahrhunderts: Lilio Gregorio Giraldi: Opera omnia duobus tomis distincta [...]. Leiden 1696. Editio princeps: Natale Conti: Mythologiae sive explicationum fabularum libri decem. Venedig 1551. Die Ausgaben des 17. Jahrhunderts: 1602 in Lyon, 1605 und 1619 in Hanau, 1605 in Paris (bei drei Verlegern gleichzeitig), 1616 und 1637 in Padua (mit dem anonymen Kommentar und mit der Mythologia musarum des Geoffroy Linocier und der Mythologia des Marco Antonio Tritonio; beide Werke sind mythographische Kompilationen des 16. Jahrhunderts). Die französische Übersetzung wurde 1604 und 1607 in Lyon, 1611 in Rouen und 1627 in Paris gedruckt.
33 verstärkt auf die klassischen Autoren zurück,21 im Großen und Ganzen referieren sie aber in ihren Ausführungen weiterhin die Werke der Spätzeit sowie die ihrer Zeitgenossen.22 Schließlich erschienen vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts neue mythologische Nachschlagewerke. Entweder in Latein oder in den jeweiligen europäischen Sprachen verfasst, verdrängen sie zunehmend ihre Renaissance-Vorgänger und lassen auf den ersten Blick einen neuen wissenschaftlicheren Anspruch erwarten. Es zeigt sich jedoch, dass sie – zumindest in Bezug auf den Orpheus-Mythos – trotz der Erklärung von Versehen und Irrtümern der Vorgänger nur weitere Zeugen für deren enormen Erfolg und Einfluss sind. Nur einige wenige Ausnahmen sind dabei zu verzeichnen. So stützt sich Francis Bacon in seiner Sapientia veterum, welche allerdings keine primär mythographischen Ziele verfolgt, in der Wiedergabe der Orpheus-Fabel ausschließlich auf die Erzählung Ovids.23 In der allgemeinen Stoffauswahl sowie in der Methode ist er jedoch weitgehend Conti verpflichtet.24 Auch das monumentale Werk des Gerhard Johann Voss bildet aufgrund seiner Zielsetzung – der vergleichenden mythologischen Analyse und Erklärung des Ursprungs und des Fortgangs der heidnischen Religion – eine Ausnahme.25 Dagegen verbergen die primär als Nachschlagewerke konzipierten Schriften kaum ihre Herkunft. Die beiden bekanntesten jesuitischen mythologischen Standardwerke, 1653 von François Antoine Pomey26 und 1659 von Pierre ––––––––––– 21
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Zum Beispiel zieht Conti die griechische Literatur heran und arbeitet in seinem Werk Homer, Hesiod, Pindar, Theognis, Aristophanes, Apollonios Rhodios, Kallimachos, Theokrit, Herodot, Plato, Aristoteles, Pausanias und Plutarch im Original oder in lateinischer Übersetzung ein. Seine weiteren Quellen sind griechische Autoren von der hellenistischen bis zur späten byzantinischen Zeit sowie lateinische Dichter, wohingegen christlich-lateinische Autoren und Mythographen wie Hieronymus, Augustinus oder Macrobius fehlen. In den Ausführungen zu Orpheus zitiert Conti Vergil, Menaechmus, Apollonios Rhodios, Horaz, Lukian, Pausanias, die orphischen Argonautica und Lithica und bezieht sich auf die Stellen bei Ovid, Apollodor von Gela, und Tzetzes. Vgl. Seznec: Das Fortleben der antiken Götter, S. 175ff. Francis Bacon: De Sapientia Veterum Liber [...]. London 1609. (Die französische Übersetzung von Sir Arthur Gorges erschien 1619 in London.) Vgl. Seznec: Das Fortleben der antiken Götter, S. 241. Bacon sah die Mythen als Quellen verborgenen Wissens. Dadurch, dass dieses Wissen in den Mythen gleichzeitig enthüllt und verhüllt werde, gelange man zu einer kritisch-distanzierten Beobachtung und zu neuen Erkenntnissen über Natur und Mensch. Vgl. Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 23–81. Allerdings beschränkt sich Voss in Bezug auf den Orpheus-Mythos lediglich auf die Geschichte seines Orakelspruches auf Anfrage des persischen Königs Kyros des Großen. Vgl. Gerhard Johann Voss: De Theologi gentili, et physiologia christiana, sive de origine ac progressv idolatriae, [...] liber I, et II. Amsterdam 1641, S. 966. François Antoine Pomey: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia. Utrecht 1653. Das Werk erlebte bis 1701 sechs lateinische Ausgaben (1653, 1671, 1675, 1684, 1690, 1697) und erfreute sich besonderer Beliebtheit in England (die erste Übersetzung ins Englische erfolgte 1694).
34 Gautruche27 verfasst, erzählen die Geschichte des Orpheus zusammen mit der des Amphion28 und orientieren sich dabei an deren Schilderung in Ovids Metamorphosen. Bei der Beschreibung von Orpheus’ Tod beschränken sie sich auf wenige Versionen, ohne deren Quellen zu nennen.29 Die im deutschen Sprachraum erschienenen Werke basieren noch viel deutlicher auf der Mythographie der Renaissance. Der Orpheus-Artikel der Mythologia deorum ac heroum von Heinrich Schaevius ist ein Exzerpt aus Contis Mythologie, wobei als einzige Primärquellen Vergil, Ovid und Seneca verzeichnet werden.30 Allerdings verweist Schaevius im Titel seines Werks auf die Autoren, aus deren Schriften er sein Wissen schöpft. Das 1677 erschienene zweibändige Lexicon von Johann Jacob Hofmann ist eher ein universales Nachschlagewerk als ein mythographisches Kompendium.31 Unter dem ›Orpheus‹-Eintrag wird daher der relevante Text von Conti – mit nur geringen Veränderungen und unter Verzicht auf Contis moralische ›Explikation‹ – komplett übernommen. Darüber hinaus erfolgt eine Revision von Contis Quellenangaben. Hofmann verzichtet auf wohl zweifelhafte Zeugen, fügt an einigen Stellen Hinweise auf die Quellenliteratur hinzu und erweitert die Darstellung um Zitate klassischer Autoren zum Motiv der Bezauberung der Natur, wobei jedem Vertreter der belebten und unbelebten Welt ein gesonderter Eintrag in der Zitatliste zukommt. Neben der Mythologie übernimmt Hofmann – diesmal als markiertes Zitat – einen Auszug aus Voss’ De Idolatria und verweist an anderer Stelle auf die Schrift des Niederländers. Schließlich erweist sich die Darstellung des Orpheus-Mythos im mythologischen Standardwerk des deutschsprachigen Raums – in Philipp von Zesens 1688 publizierten Begebnissen – als Übersetzung des Orpheus-Kapitels aus Contis Mythologia.32 Dabei vertauscht Zesen die Reihenfolge der Absätze und erweitert Contis Darstellung um eine Nacherzählung der Bücher 10 und 11 von Ovids Metamorphosen und des 4. Buches von Vergils Georgica. ––––––––––– 27
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Pierre Gautruche: Histoire Poétique pour l’intelligence des poètes et des auteurs anciens. Lyon 1669. Weitere Ausgaben: Lyon 1680, 1683, 1687, 1689; Paris 1678, 1681, 1683, 1693, 1695; Rouen 1688, 1687; Toulouse 1684. Die erste lateinische Ausgabe erfolgte 1756: Pierre Gautruche: Historia poetica ad faciliorem poetarum et veterum auctorum intelligentiam gallice conscripta. Lyon 1756. Die englische Übersetzung ist von 1671. Bei Gautruche werden im Kapitel V De Orpheo vor Orpheus außer Amphion noch Arion, die Geschichten des Wettstreits von Marsias und Apoll sowie von Pan und Apoll behandelt. Gautruche wählt die Variante, in der zornige Thrakerinnen Orpheus zerreißen, weil er sie verachtet. Pomey fügt alternativ zu dieser Version das Zerreißen aus Liebe als Folge der Intervention der Venus hinzu, ohne die Ursache (Rache der Venus an Calliope) zu nennen. Heinrich Schaevius: Mythologia deorum ac heroum, Ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii officina atque Poëtis Classicus, olim methodice a dicto Autore contracta [...]. Stettin 1660. Weitere Editionen 1683 und 1720. Johann Jacob Hofmann: Lexicon universale historico-geographico-chronologico-poeticophilologicum [...]. Teil 1.2. Basel 1677. Philipp von Zesen: Der erdichteten Heidnischen Gottheiten / wie auch Als- und Halb-Gottheiten Herkunft und Begäbnisse [...]. Nürnberg 1688.
35 Ein Vergleich zwischen der synthetischen Mythosversion, die dem im Kapitel 1.3.2 vorgestellten Strukturmodell zugrundegelegt wurde, und der Mythosversion, wie sie sich aus den oben beschriebenen frühneuzeitlichen Sekundärquellen rekonstruieren lässt, zeigt, dass sich trotz der oben geschilderten Komplikationen der Überlieferung die zweite nur wenige Abweichungen, dafür aber einige Akzentverschiebungen aufweist. Darüber hinaus wird deutlich, dass beide Versionen teilweise auf denselben antiken Primärquellen basieren und darum teilweise übereinstimmen. Die mythologischen Nachschlagewerke sind sich der späteren Entstehungszeit von den dem Orpheus zugeschriebenen Schriften (orphische Argonautika und Lithiká) zwar bewusst, fassen Orpheus aber häufig als reale historische Gestalt und nicht nur als mythischen Helden auf.33 Deswegen werden meist mehrere dichtende Träger dieses Namens vermutet.34 Die Autoren sind sich aber darin einig, dass es sich bei der Person des Mythos um den ersten Orpheus, den Thraker, handelt,35 und dieser von Apollon bzw. Oiagros und einer der Musen abstammt.36 Trotz dieser Differenzierung ist Orpheus im 17. Jahrhundert nicht nur als einer der ersten Dichter,37 sondern auch als weiser Zivilisationsheros,38 Astrologe,39 Magier,40 Stifter des Dionysos-Kultes und der Mysterien in Thra––––––––––– 33
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Natale Conti: Mythologiae [...]. Padua 1637, S. 399 hält Orpheus für den Autor der Argonautica, Lilio Gregorio Giraldi: Historia de dies gentium [...]. In: Ders.: Opera omnia [...]. Bd. 2. Leiden 1696, S. 71, S. 78 für den Autor der Hymnen. Conti 1637, S. 399. Giraldi 1696, S. 71 und 76–77 unterscheidet vier Dichter mit diesem Namen. Hofmann, S. 69. Zesen, S. 290 (zitiert nach der Ausgabe: Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung v. Ulrich Maché u. Volker Meid. Bd. 17, 1. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1998). Der Herausgeber der 1689 neuedierten Orphischen Schriften Andreas Christian Eschenbach referiert die zum Teil gegensätzlichen Meinungen der Mythographen und hält lediglich als gesichert fest, dass die Argonautica, die Lithica und die Hymnen einen gemeinsamen Autor (Orpheus Crotoniates?) haben, der nicht identisch mit dem ersten Orpheus, dem mythischen thrakischen Sänger, ist, dem u. a. die verlorenen Schriften Kosmogonie und Theogonie zugeschrieben wurden. Vgl. Andreas Christian Eschenbach (Hg.): Orphei Argonautica, Hymni, et de Lapidibus. Utrecht 1689. Zitiert nach Acta eruditorum 1690, S. 98–99. Conti 1637, S. 399. Giraldi 1696, S. 71. Schaevius, S. 928. Hofmann, S. 69. Zesen, S. 291. Apollodoros: Biblioth. siue de Deorum origine. In: C. Iulii Hygini [...]. Lyon 1608, S. 257– 305, hier S. 254. Hyg. astr. 2, 7. Aratus: ĭǹǿȃȅȂǼȃȍȃ Fragmentvm. In: C. Iulii Hygini [...]. Lyon 1608, S. 177–202, hier S. 188. Lactantius: Argumenta. In: Muncker: Mythographi latini. Bd. 2, S. 189–301, hier S. 264. Conti 1637, S. 399. Lilio Gregorio Giraldi: De Musis Syntagma. In: C. Iulii Hygini [...]. Lyon 1608, S. 306–318, hier S. 314. Giraldi 1696, S. 71. François Antoine Pomey: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia [...]. O. O. 1701, S. 272. Subsidiorum literariorum syllabus [...]. Freiburg 1684, § 112. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 69. Magnus Daniel Omeis: Teutsche Mythologie. In: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst [...]. Nürnberg 1704, S. 184. Zesen, S. 290. Seine verschollenen Schriften werden aufgezählt bei Conti 1637, S. 400. Giraldi 1696, S. 76. Hofmann, S. 69. Zesen, S. 291. De deorum imaginibus libellus. In: Muncker: Mythographi latini. Bd. 2, S. 301–330, hier S. 20. Conti 1637, S. 400. Giraldi 1696, S. 72. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 292. Conti 1637, S. 399. Giraldi 1696, S. 73. Hofmann, S. 69. Zesen, S. 291.
36 kien41 und nicht zuletzt Theologe42 präsent. So werden sein angebliches Bekenntnis zum Monotheismus sowie der Empfang seiner Lehre von Moses – auf dem jüdisch-hellenistischen Testament aufbauend – zitiert.43 In den Hintergrund tritt dagegen seine Teilnahme am Argonautenfeldzug. Bei den meisten Autoren wird er lediglich als einer der Argonauten erwähnt.44 Die Beschreibung seiner Taten beschränkt sich auf die Rettung der Gefährten vor den Sirenen45 und Symplegades.46 Ins Zentrum der Diskussionen rückt in den Nachschlagewerken vielmehr die Macht seiner Kunst. Die Geschichte, wie Orpheus mit seinem Gesang wilde Tiere zähmte, den Strom der Flüsse anhielt und Steine, Bäume und Felsen in Bewegung setzte, wird immer wieder erzählt und verschiedensten Deutungsversuchen unterzogen.47 Den Mittelpunkt aller den Orpheus-Mythos referierenden Artikel bildet die Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike und die damit verbundene Katabasis des Helden.48 Sie wird allerdings meistens – wohl aufgrund der allgemeinen Bekanntheit und Verfügbarkeit der Werke von Ovid und Vergil, der für sie wichtigsten Primärquellen – knapp zusammengefasst. Es ist bemerkenswert, dass das 17. Jahrhundert die glückliche Version von Orpheus’ Descente nicht kennt.49 Dagegen verfügen die Autoren über fast alle der zum Teil sehr stark voneinander divergierenden Varianten der Geschichte über den Tod des Orpheus, die von den meisten Verfassern gegeneinander ausgespielt und gedeutet werden.50 ––––––––––– 40 41 42 43 44 45 46 47
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Conti 1637, S. 400. Giraldi 1696, S. 73. Hofmann, S. 69. Conti 1637, S. 399. Giraldi 1696, S. 73. Johannes Ravisius Textor: Officina. Basel 1626, S. 30. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 69. Zesen, S. 291. Conti 1637, S. 399. Girolamo Aleandro: Antique tabulae marmoreae. Rom 1616, S. 92. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 69. Omeis, S. 184–185. Zesen, S. 292. Anonymi obseruationum in totam de dijs gentium narrationem libellus. In: Conti 1637, S. 603. Giraldi 1696, S. 75. Apollod., S. 266. Apollod., S. 266. Syllabus, § 112. Apollod. S. 266. Palaephatus: De non credendis fabvlosis narrationibus. In: C. Iulii Hygini [...]. Lyon 1608, S. 100–125, hier S. 120, mit rationalistischen Deutung. Apollod., S. 254. Aratus, S. 188. Lactantius, S. 258–259. Libellus, S. 320–321. Conti 1637, S. 399, Deutung S. 401. Giraldi 1696, S. 73, mit Berufung auf Palaephatus. Bacon, S. 42. Pomey, S. 272. Pierre Gautruche: Historia poetica. Lyon 1756, S. 67. Syllabus, § 112. Schaevius, S. 593. Sehr ausführlich mit Zitaten aus antiken Quellen Hofmann, S. 69, S. 70–71. Omeis, S. 184. Zesen, S. 292. Apollod., S. 254. Hyg. Astr. 2, 7. Laktantius, S. 258. Fulgentius: Mitologiarum libri III. In: Muncker: Mythographi latini. Bd. 2, S. 2–137, hier S. 130. Libellus S. 320, S. 264. Conti 1637, S. 400. Textor, S. 552. Bacon, S. 41. Pomey, S. 272. Gautruche, S. 68. Syllabus, § 112. Schaevius, S. 593, 872. Hofmann, S. 69–70. Omeis, S. 185. Zesen, S. 293, 296–297. Aratus, S. 188 und Hyg. Astr. 2, 7 erwähnen nur die Katabasis des Orpheus, aber keinen Ausgang der Unterweltreise. Das Zerreißen durch die Mänaden erwähnen allgemein Apollod., S. 254. Syllabus, § 112. Als Rache des Dionysos für den vergessenen Lobpreis: Hyg. Astr. 2, 7. Aratus, S. 188. Conti 1637, S. 400. Giraldi 1696, S. 72. Schaevius, S. 593. Syllabus, § 253. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 298. Als Rache der Frauen für die Verachtung des weiblichen Geschlechts und Verführung der Männer zum zölibatären Leben: Conti 1637, S. 400–401. Giraldi 1696, S. 72. Textor, S. 177. Bacon, S. 41. Pomey, S. 272. Gautruche, S. 68. Syllabus, § 112. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 70. Omeis, S. 185. Zesen, S. 298. Als Bestrafung für die
37 Schließlich widmen sich die mythographischen Artikel dem Nachleben des Orpheus: sowohl die Begräbnisstätten für seinen Körper, dessen Glieder von den Musen gesammelt wurden,51 und für sein Haupt, das auch abgetrennt fortsang,52 als auch seine unter die Sterne versetzte Leier53 und seine Orakel54 werden eingehend betrachtet. Die von Apollo in Stein verwandelte Schlange, die Orpheus’ Haupt angreifen wollte, erwähnt nur Pseudo-Lactantius.55 Auch die Platonische Version, wonach die Seele des Sängers für das nächste Leben die Gestalt eines Schwans wählt, ist bekannt.56 Im Allgemeinen tendieren die Nachschlagewerke im Verlauf des Jahrhunderts zur Vereinheitlichung und Reduktion des Orpheus-Mythos auf eine einzige Version, die sich vorrangig auf Ovid und teilweise auf Vergil stützt. Dies ist bereits bei den Jesuiten Pomey und Gautruche zu beobachten; für Deutschland sei als Ergebnis dieses Prozesses die Darlegung des Orpheus-Mythos von Magnus Daniel Omeis in dessen Teutscher Mythologie als Beispiel zitiert: Orpheus / ein Sohn des Apollo und der Calliope / hat von seinem Vatter nicht allein die Leyer empfangen / sondern auch so künstlich darauf spielen gelernet / daß er mit seinem Gesange die Bäume bewegen / die wilden unvernünftigen Thiere an sich ziehen und zahm machen / ingleichen die rauschen- und starkfließende Waßer-Ströme hemmen und anhalten können; d. i. er hat durch seine Music und Wolredenheit wilde und grobe Leute bewogen / daß sie ehlich beisammen / und nach guten Gesetzen und Ordnungen zu wohnen angefangen. Dann diß war vor Alters das Amt und Verrichtung der Poëten; daher ihre Gesäng- und Gedichte für heilige Gesetze und göttliche Geheimniße gehalten worden. Eurydice war des Orpheus Gemahlin / welche er / nachdem sie verstorben / wiederum aus der Hölle durch seine Musik zu führen getrachtet. Besiehe Eurydice.57 Als sie aber im herauf-führen / –––––––––––
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Knabenliebe: Hyg. Astr. 2, 7. Lactantius, S. 264. Conti 1637, S. 401. Giraldi 1696, S. 72. Textor, S. 651, 177. Schaevius, S. 897. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 297. Als Rache der Venus für Kalliopes Urteil im Streit zwischen der Liebesgöttin und der Persephone um Adonis: Hyg. Astr. 2, 7. Conti 1637, S. 401. Giraldi: de Musis, S. 214. Giraldi 1696, S. 72. Pomey, S. 272. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 298. Der Tod durch Blitz als Strafe des Zeus für das Verraten der göttlichen Geheimnisse an die Menschen wird genannt bei: Conti 1637, S. 400. Giraldi 1696, S. 72. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 299. Den Selbstmord oder Tod an Traurigkeit erwähnen: Conti 1637, S. 401. Giraldi 1696, S. 72. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 299. Hyg. Astr. 2, 7. Aratus, S. 188. Conti 1637, S. 400–401. Giraldi 1696, S. 74. Syllabus, § 112. Hofmann, S. 70. Omeis, S. 185. Zesen, S. 298. Meistens Lesbos: Hyg. Astr. 2, 7. Aratus, S. 188. Lactantius, S. 265. Conti 1637, S. 400– 401. Giraldi 1696, S. 74. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 70. Zesen, S. 298. Auch Lybethra wird genannt: Schaevius, S. 593. Hyg. Astr. 2, 7. Aratus, S. 188. Conti 1637, S. 401. Giraldi 1696, S. 70. Pomey, S. 272. Gautruche, S. 68. Syllabus, § 112, § 253. Schaevius, S. 593. Hofmann, S. 70. Omeis, S. 185. Zesen, S. 298. Giraldi 1696, S. 73. Voss, S. 966. Lactantius, S. 265. Gautruche, S. 65. Unter dem Stichwort ›Eurydice‹ wird von Omeis die Geschichte der Katabasis des Orpheus wie folgt wiedergegeben und anschließend gedeutet: »Eurydice / ist des Orpheus Ehweib gewesen; welche / als sie sich im grünen ergetzte / und von einer Schlangen gebißen und getödtet worden / ist Orpheus mit seiner Syther zur Hölle hinab gestiegen / und hat den Pluto und die Proserpina durch seine fürtreffliche Music erweichet / auch seine Eurydice
38 durch des Orpheus ihres Mannes umsehen / wiederum verschwunden / hat er vor Traurigkeit immerfort seiner liebsten Eurydice geruffen / und nicht allein nach der Zeit kein Weibs-Bild mehr ansehen wollen / sondern auch alle Männer von der Frauen-Liebe abgemahnet. Dieses hat die Priesterinnen des Bacchus dermaßen verdroßen / daß sie den Orpheus todt geschlagen / und seine Gebeine hin und wieder zerstreuet. Welche hernachmals die Musen widerum zusammen gelesen und begraben / auch die Leyer / zu seinem immerwährenden Gedächtniß an das Firmament des Himmels gesetzet; allwo noch heut zu Tag ein Gestirn leuchtet / welches Lyra Orphei genennet wird. Vid. Ovid. Lib. XI. Metam. Fab. I. 2. Was die Ausführung aus der Höllen / und wieder beschehene Verschwindung der Eurydice bedeutet / ist oben bei deren Namen erinnert worden. Andere haben durch die Eurydice die Seele verstanden / welche den Orpheus als den Leib geheiratet / und von demselben / durch eine Entzückung / auf eine Zeit geschieden worden: endlich aber / nach kurzer Lebens-Frist / werde der Leib von den Würmern / wie Orpheus von den Weibern / zernichtet. Jedoch ist anbei noch zu merken / daß die jenige / so viele zur Gerechtigkeit gewiesen / ob sie schon bißweilen eines von der Welt verächtlich- und unansehnlichen Todes sterben / dannoch der Seelen und ihres wolverdienten Ruhmes nach / leuchten wie die Sterne am Himmel immer und ewiglich.58
Neben der Erzählung bietet Omeis vier ethisch-allegorische Deutungen des Orpheus-Mythos. Zwei davon – die Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydice und die anschließende Unterweltfahrt als Allegorie für Leib und Seele sowie die Deutung der Eurydice als Gerechtigkeit – gehen auf Conti zurück,59 während die Gleichsetzung der thrakischen Frauen mit Würmern wohl von Omeis stammt, der die Allegorie weiterführt. Eine moralische Allegorese des Naturtheaters lieferte bereits Horaz,60 und die Deutung des Descente als Gewinnen und Wiederverlieren des als Belohung für Kunst und Tugend verstandenen Ruhmes leitet sich in einer logischen Folge von diesem Verständnis ab. Mit seiner Orpheus-Allegorese gehört Omeis’ Werk zu den Ausnahmen. Die meisten in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen oder reedierten Texte beschränken sich auf die reine Wiedergabe der Fabel und auf die Quellenangaben, ohne dass ein interpretatorischer Versuch unternommen wird. Auch die –––––––––––
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wieder erhalten; doch mit diesem Bedinge / daß er auf der Herauf-Reise an das Tag-Liecht sich nicht solte umsehen. Welches da er es nicht gethan / sondern aus Liebe einmal umgeschauet / ist Eurydice wiederum verschwunden. Vid. Ovid. Lib. X. Met. Fab. 2. Eurydice heißet zu Teutsh [sic!] die Gerechtig- und Billigkeit; diese war zu Zeiten des Orpheus verstorben / und er hatte sie von dem Tode gleichsam auferweckt. Weil er aber gar zu streng ob dem Recht halten wollen / ist sie wieder verschwunden. Andere lehren / dieses Gedicht bedeute / daß Kunst und Geschicklichkeit einen unsterblichen Nachruhm nach sich ziehe: wann man aber solchen erlanget / und zurücksiehet / d. i. nicht beständig die Tugend und Kunst fortsetzet / könne man selbigen leichtlich wieder verlieren.« Omeis, S. 105. Omeis, S. 184–186. Conti folgt in seiner Deutung der Fabel dem traditionellen Dreierschema der Allegorisierung (historice/physice, ethice (oder morale) und anagogice) und sieht Eurydice als iustitia oder aequitas, um deren Wiedergewinnung Orpheus sich bemüht. Zur Allegorese bei Conti vgl. Hege: Boccaccios Apologie, S. 283f. Zu den antiken Typen der Allegorese und ihrer Weiterentwicklung im okzidentalen Schrifttum vgl. Michael v. Albrecht: [Artikel] Allegorie. In: Lexikon der Alten Welt, Sp. 121–123. Vgl. auch Seznec: Das Fortleben der antiken Götter, Kap. I–IV. Hege: Boccaccios Apologie, S. 272ff. Auch Conti referiert sie, indem er aus der Ars poetica zitiert. Vgl. Conti 1637, S. 401. Vgl. auch Anm. 349 Kap. 3.5.2.
39 nach dem Beispiel von Ravisius Textor61 verfassten Lexika liefern trotz einer systematischen Gliederung des Materials fast keine Interpretation.62 Die allegorische Mythendeutung tritt stark zurück, im Vordergrund steht, wie vor allem aus den Vorreden zu den Werken deutlich wird, eine Auseinandersetzung zwischen der Mythologie und Theologie, wobei die erste im Verständnis ihrer Aufgabe auf den praktischen Nutzen der Mythen für die Kunst und für die Lektüre der antiken Autoren zielt. Nicht der überlieferte Wissensstand und nur in geringem Maße die Quellen werden vor dem Hintergrund des mythologisch-theologischen Diskurses revidiert; die Umschreibungen betreffen vielmehr das Verhältnis zu diesem überlieferten Wissen sowie die Frage nach seinen Deutungsspielräumen, d. h. nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Auslegung und nach seiner Nützlichkeit. Diese Verschiebung manifestiert sich gegen das Ende des Jahrhunderts bei den Neuauflagen alter Sammlungen in den Vorreden, Widmungen und angefügten Dissertationen, sowie in den neuen Werken entweder in der expliziten polemischen Intention ihres Entstehens oder kommentarlos in ihrer Funktion als ›Faktensammlung‹, welche pragmatischen dichterischen Zwecken dienen soll. Dieser letzte, fast aufklärerische Ansatz, führt zu einer distanzierteren Betrachtung und hat eine viel größere Freiheit in der Adaptation des Mythos zur Folge. Er leitet sich von der in allen drei konfessionellen Theologien vorherrschenden Überzeugung ab, »daß der mythologischen Tradition keine geistliche Bedeutung zugemessen werden dürfte, daß jedoch ihr weltlicher Gebrauch rechtens sei, sofern er nicht den dort geltenden moralischen Axiomen widerspreche«63. Der von den Ansprüchen eines moralisch-religiösen Sinns gereinigte Mythos wird, da er keiner Rechtfertigung mehr bedarf, nun zunehmend bedeutungslos und für die Kunst frei verfügbar. Die Zunahme von mythologischen Handbüchern, Sammlungen und Lexika in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt sich nicht zuletzt in einen Zusammenhang mit der steigenden Popularität der aufblühenden Gattung Oper bringen, die neben historischen vor allem mythologische Sujets bevorzugt.
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Seine 1503 in Basel erschienene Officina partim historicis partim poeticis referta disciplinis gilt als Modell der Gattung. Die Officina wurde 1616 und 1626 in Basel wieder gedruckt. In der zusammen mit Schaevius’ Mythologia gedruckten Mantissa materiae poeticae, die Officina als eine der Quellen benutzt, wie auch im 1684 in Freiburg erschienenen Werk unter dem Titel Subsidiorum literariorum syllabus wird Orpheus z. B. nur unter Stichwörtern: »De Cantoribus, Musices & Citharoedis«, »De Conjugali amore«, »De Lascivis seu libidinosis« erwähnt. Walter Sparn: Hercules Christianus. Mythographie und Theologie in der frühen Neuzeit. In: Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten. Hg. v. Walther Killy. Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Forschungen 27), S. 73–107, hier S. 82.
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2.2.
Ikonographische Quellen des Orpheus-Mythos
2.2.1. Illustrationen zu Ovids Metamorphosen Über seinen Auftritt als Orpheus in einer Oper vor der Pariser adeligen Gesellschaft weiß Grimmelshausens Simplicissimus im dritten Kapitel des vierten Buches Folgendes zu berichten: Ich hab die Tag meines Lebens keinen so angenehmen Tag gehabt, als mir derjenige war, an welchem diese Comoedia gespielt wurde [...] ich wurde mit einem Lorbeerkranz bekrönet und in ein antikisch meergrün Kleid angetan, in welchem man mir den ganzen Hals, das Oberteil der Brust, die Arm bis hinder die Elenbogen, und die Kniee von den halben Schenkeln an bis auf die halbe Waden nackend und bloß sehen konnte; um solches schlug ich einen leibfarbendaffeten Mantel, der sich mehr einem Feldzeichen vergliche; in solchem Kostüm leffelt ich um meine Euridice, rufte die Venus mit einem schönen Liedlein um Beistand an, und brachte endlich meine Liebste darvon [...] Nachdem ich aber meine Euridicen verloren, zog ich einen ganz schwarzen Habit an [...] aus welchem meine Haut hervorschiene, wie der Schnee; in solchem beklagte ich meine verlorne Gemahlin [...] bis ich vor Plutonem und Proserpinam in die Hölle kam; denselben stellte ich in einem sehr beweglichen Lied ihre Lieb, die sie beide zusammen trügen, vor Augen, und bate sie, darbei abzunehmen, mit was großem Schmerzen ich und Euridice voneinander geschieden worden wären, bat demnach mit den allerandächtigsten Gebärden, und zwar alles in meine Harfe singend, sie wollten mir solche wieder zukommen lassen; und nachdem ich das Jawort erhalten, bedankte ich mich mit einem fröhlichen Lied gegen ihnen [...] Da ich aber meine Euridice wieder ohnversehens verlor [...] setzte ich mich auf einen Felsen, und fieng an den Verlust meiner Liebsten mit erbärmlichen Worten und einer traurigen Melodei zu beklagen, und alle Kreaturen um Mitleiden anzurufen; darauf stellten sich allerhand zahme und wilde Tier, Berg, Bäum und dergleichen bei mir ein [...] Keinen anderen Fehler begieng ich, als zuletzt, da ich allen Weibern abgesagt, von den Bacchis erwürgt und ins Wasser geworfen (welches zugericht gewesen, daß man nur meinen Kopf sahe, denn mein übriger Leib stunde unter der Schaubühne in guter Sicherheit), da mich der Drach benagen sollte, der Kerl aber so im Drachen stak, denselben zu regieren, meinen Kopf nicht sehen konnte, und dahero des Drachen Kopf nebem dem meinigen grasen ließe; das kam mir so lächerlich vor, daß ich mir nit abbrechen konnte, darüber zu schmollen, welches die Dames, so mich gar wohl betrachteten, in acht nahmen.64
In der Forschung ist umstritten, welche Quelle Grimmelshausen für sein ›Opernkapitel‹ benutzt haben mag. Verschiedene zeitgenössische Libretti oder Zeitungsberichte über diverse Opernaufführungen wurden als mögliche Vorlagen diskutiert.65 Es stellt sich allerdings die Frage, ob sowohl Grimmelshausen bei der Verfassung seines Kapitels als auch zeitgenössische Librettisten und Bühnenbildner bei der Gestaltung einer (Orpheus-)Oper eher auf eine gemeinsame Vorlage – Ovids Metamorphosen – und insbesondere deren illustrierte Ausgaben zurückgriffen. In der Tat zeigen die Orpheus-Illustrationen eine frappierende Ähnlichkeit mit den von Grimmelshausen beschriebenen ›Stationen‹; ––––––––––– 64 65
Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1668). Stuttgart 2001, S. 170ff. Vgl. Martin Erich Schmid: Orpheus. Grimmelshausen – Anton Ulrich – Francesco Buti. Die Quelle zum Pariser Opernkapitel im »Simplicissimus«. In: Argenis 1 (1977), S. 279– 299.
41 sie wirken mitunter wie Bühnenbilder und ihre Themen haben fast ausnahmslos ein Pendant in den Schlüsselszenen der in der vorliegenden Arbeit behandelten Musikdramen.66 Die Rezeption des Orpheus-Mythos war – wie es die Analysen der einzelnen Musikdramen in den folgenden Kapiteln zeigen – stark von Ovids Metamorphosen geprägt. Somit ist zu vermuten, dass nicht nur Ovids Text, sondern auch die begleitenden Illustrationen zur Quelle des Mythos wurden, auch indem sie das Bildmaterial lieferten. Die Illustrationen wurden von Librettisten, die für das Gesamtkunstwerk ›Oper‹ aufs engste mit Komponisten und Bühnenbildnern zusammenarbeiteten, als maßgebliche Grundlage herangezogen, und sie haben die Umsetzung des Orpheus-Mythos in eine visuelle Form wie Oper entscheidend mitgeprägt.67 Da barocke Musikdramen als Fragment eines Gesamtkunstwerks angesehen werden müssen, dessen visueller Aspekt verloren ging, lohnt es sich, bevor in den nächsten Kapiteln der Frage nach der literarischen Rezeption des Orpheus-Mythos und nach dem Ausmaß des Einflusses von mythologischen Handbüchern auf die musikdramatische Produktion nachgegangen werden kann, einen Blick auf die Rezeption des Mythos in den Metamorphosen-Illustrationen zu werfen.
2.2.1.1. Einzelillustrationen Die monoszenischen Illustrationen zu den Metamorphosen weisen in den Ausgaben des 17. Jahrhunderts im Großen und Ganzen noch wenig Selbständigkeit auf.68 Die meisten stellen Kopien und Nachahmungen des berühmten Illustrators Bernard Salomon69 dar, wobei die Entlehnung entweder direkt bei dem ––––––––––– 66
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Dies lässt sich bis ins kleinste Detail verfolgen: so ist der Drache, der bei Grimmelshausen an Orpheus’ Haupt ›nagt‹ und tatsächlich in mehreren Libretti vorkommt, wo er auch unter Bezeichnung »Ungeheuer« unter ›Maschinen‹ aufgeführt wird, alleine aus Ovids Text nicht zu erklären. Die zeitgenössischen Illustrationen stellen aber die von Apollo getötete Schlange, welche Orpheus’ Haupt angreift, ausschließlich als ein drachenähnliches Wesen dar. Man darf diese Behauptung wagen, wenn auch berücksichtigt werden muss, dass seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die topische Organisation der Opernszene nach venezianischem Muster zunehmend am Einfluss gewinnt und die Koordination anderer Künste bis in die Wahl der Handlungsvarianten und des Personals für eine Szene regelt. Vgl. dazu Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 87–104. Vgl. dazu M. D. Henkel: Illustrierte Ausgaben von Ovids Metamorphosen im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. Vorträge 1926–1927. Hg. v. Fritz Saxl. Leipzig u. Berlin 1930, S. 58–145, hier S. 124ff. Vgl. Gerlinde Hube-Rebenich: [Artikel] Verwandlungen / Illustrationen von Ovid-Texten. In: Der neue Pauly 15/3 (2003), Sp. 1031–1037. Dies.: Die Macht der Tradition. Metamorphosen-Illustrationen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Wege zum Mythos. Hg. v. Luba Freedman u. Gerlinde Huber-Rebenich. Berlin 2003 (Ikonographische Repertorien zur Rezeption des antiken Mythos in Europa 3), S. 141–163. Bernard Salomon (ca. 1508–1561), der bedeutendste Vertreter der Lyoner Holzschneiderschule, schuf 178 Holzschnitt-Illustrationen für die Lyoner Metamorphosen-Ausgabe von 1557. Es handelt sich dabei nicht um eine Übersetzung, sondern um eine Folge von 178 Stanzen, in denen die Erzählungen der Metamorphosen zusammengefasst sind. Zu Salo-
42 französischen Zeichner oder mittelbar über zwei andere Illustratoren des 16. Jahrhunderts, Virgil Solis70 und Antonio Tempesta71, erfolgt. Zu den für den Orpheus-Mythos relevanten72 und relativ selbständigen Darstellungen, die ihrerseits häufig kopiert wurden, gehören im 17. Jahrhundert zwei weitere Serien von Ovid-Illustrationen: eine Bildfolge von Crispijn de Passe Sr.73 und die Illustrationen vom Zeichner Sébastien Leclerc und Stecher François Chauveau zu dem 1676 in Paris erschienenen Ovide en rondeaux von Isaac de Benserade.74 Auch sie sind allerdings, obwohl es dabei um keine direkten Kopien handelt, meistens demselben, von Salomon erfundenen ikongraphischen Typus verpflichtet. Da es zu vermuten ist, dass die Illustrationen gerade durch ihre Wiederholung prägend wirkten und auch einen starken Einfluss auf die Gestaltung der Bühnenbilder und einzelner Opernszenen ausübten, seien im Folgenden die Orpheus-Illustrationen aus den obenerwähnten Serien exemplarisch vorgestellt, die als besonders repräsentativ gelten können und mehrfach kopiert wurden. Die Abbildungen in der vorliegenden Arbeit wurden entweder nach den Originalen oder nach den ikonographisch treuen Kopien aus späteren Ausgaben des 17. Jahrhunderts reproduziert. Für die Darstellung des Orpheus-Mythos sind es überwiegend vier Motive, die sich nicht nur in den Metamorphosen-Illustrationen, sondern auch in der bildenden Kunst des 17. Jahrhunderts allgemein großer Beliebtheit erfreuten. Dabei geht die Wahl der Szenen und ihre Gestaltung durch Künstler im 17. Jahrhundert häufig auf die zeitgenössischen illustrierten Ausgaben von Ovids Metamorphosen zurück oder steht mit diesen in einem reziproken Verhältnis. Auf bestimmte vorhandene Interdependenzen zwischen den Meta–––––––––––
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mon vgl. Peter Sharratt: Bernard Salomon. Illustrateur Lyonnais. Genéve 2005. Zu Metamorphosen-Illustrationen vgl. S. 150–165. Die Erstausgabe der Metamorphosen mit den Illustrationen von Solis erschien 1563 in Frankfurt. Bei Solis’ Illustrationen handelt es sich um genaue inverse, aber etwas vergrößerte (ca. 57x79 statt ca. 42x54) Kopien Salomons. Vgl. Ilse O’Dell-Franke: Kupferstiche und Radierungen aus der Werkstatt des Virgil Solis. Wiesbaden 1977, S. 40–42. Der Florentiner Antonio Tempesta (1555–1630) fertigte 150 Illustrationen zu den Metamorphosen, wobei er teilweise Salomons Illustrationen verarbeitete, teilweise aber auch Neuschöpfungen lieferte. Vor allem in Frankreich und in den Niederlanden war sein Einfluss groß. Das Erscheinungsjahr der Erstausgabe ist umstritten, traditionell (nach Bartsch) wird 1606 genannt. Henkel dagegen nahm früheres Erscheinungsjahr an. Vgl. Henkel: Illustrierte Ausgaben, S. 102. Nicht alle Bilderfolgen enthalten Illustrationen zum Orpheus-Mythos. Diese fehlen z. B. in der bekannten Serie von Hendrik Goltzius (1558–1616), der nur die ersten vier Bücher der Metamorphosen illustrierte. Die Abbildung ist nach der Erstausgabe reproduziert: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati, ac in gratiam studiosae juuentutis editi per Crispianum Passaeum Zeelandum chalcographum [...]. Köln 1602. Es handelt sich um eine Kupferstichfolge mit nur zwei lateinischen Distichen auf der Platte. Métamorphoses d’Ovide en rondeaux imprimez et enrichis de figures par ordre de sa Majesté, Et dediez à Monseigneur Le Dauphin [...]. Paris 1676. Es handelt sich um 226 kleinformatige (ca. 64x78), mit der Radiernadel ausgeführte Darstellungen von Sébastien Leclerc (1637–1714) und François Chauveau (1613–1676) für eine für den Dauphin bestimmte ›gereinigte‹ Metamorphosen-Ausgabe.
43 morphosen-Illustrationen und der Gestaltung des Orpheus-Mythos in der Malerei wird in Anmerkungen zu diesem Kapitel hingewiesen. An erster Stelle ist das Motiv des Naturtheaters zu nennen: die Szene der Bezauberung von wilden Tieren und der unbelebten Natur aus dem 10. Buch der Metamorphosen. Das Thema bot die Möglichkeit, dem neuerwachten Interesse an der Natur sowie an der Verbindung einer Landschaft mit den Tiergestalten und mit einer menschlichen Figur in einem Bild gerecht zu werden.75 Das Deutungsspektrum solcher Bilder reicht von einem geeigneten Anlass für die populären Menagerie-Darstellungen über das symbolische Verständnis der Orpheus-Geschichte als friedliches Nebeneinander im ›Goldenen Zeitalter‹ (Paradieslandschaft) bis zur allegorischen Deutung der zähmenden und Frieden stiftenden Macht des Sängers als kluges Regiment. Auf dem Kupferstich des Virgil Solis (inverse Kopie nach dem Holzschnitt von Bernard Salomon) in der Frankfurter Ovid-Ausgabe von 1631 (Abb. 1) ist die Landschaft nur durch einzelne Bäume rechts und links als Seitenkulissen angedeutet.76 Die Figur des Orpheus in einem knielangen Gewand und einem Mantel bildet dabei den Blickpunkt im vorderen Bildbereich. Orpheus trägt einen Lorbeerkranz, er lehnt sich an einen Baum, singt und spielt eine Lyra. Links von ihm ruhen eng nebeneinander Hirsch, Hirschkuh und Bär; im Hintergrund springt eine Ziege einen Baum an. Auf der rechten Seite lauschen ein Fuchs, ein Löwe, eine Kuh und ein Einhorn Orpheus’ Gesang, während ein Vogel von rechts auf den Sänger zufliegt. Reizvolle Details sind die Eidechse auf dem Baum über der Lyra, das Eichhörnchen sowie der Affe, der zu einer beinahe obligatorischen Figur für spätere Darstellungen dieser Szene wird. ––––––––––– 75
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Vor allem die Kopisten in den Niederlanden schenkten der Darstellung der Landschaft eine besondere Aufmerksamkeit; ihre Illustrationen stehen trotzdem hinter den kleinformatigen Kabinettbildern von Jacob und Roelant Savery, Moysesz van Uyttenbroeck oder hinter denen des deutschen Malers Michael Willmann zurück, die sich für dasselbe Thema in Verbindung mit der Orpheus-Gestalt interessierten. Zu Roelant Savery vgl. Kurt J. Müllenmeister: Roelant Savery. Kortrijk 1576–1639 Utrecht. Hofmaler Kaiser Rudolf II. in Prag. Die Gemälde mit kritischem Oeuvrekatalog. Freren 1988 (mit der Konkordanz, Attribution und Abbildungen von fast allen Orpheus-Darstellungen Saverys). Vgl. auch Ekkehard Mai (Hg.): Roelant Savery in seiner Zeit (1576–1639). Ausstellung des Wallraf-Richartz-Museums Köln. Köln 1985. Zu van Uyttenbroeck vgl. Markus Schacht (Hg.): Onder den Oranje boom. Niederländische Kunst und Kultur im 17. und 18. Jahrhundert an deutschen Fürstenhöfen. Katalogband. Ausstellung der Stadt Krefeld der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg und des Stichting Paleis Het Loo, National Museum. München 1999, S. 441, Kat. Nr. 15/23. Zu Willmann vgl. Fritz Wagner (Hg.): Michael Willmann (1630–1706). Studien zu seinem Werk, eine Ausstellung der Residenzgalerie Salzburg und des Nationalmuseums Breslau, Salzburg 1994, S. 94, Kat. Nr. 8. Die reproduzierte Abbildung ist der Ausgabe entnommen: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631. Es handelt sich um die Neuausgabe der deutschen Übersetzung von Albrecht von Halberstadt, in der die Blöcke von Virgil Solis verwendet wurden. Die Übersetzung entstand 1210, sie wurde für die erste gedruckte deutsche Ovidübersetzung 1545 von Jörg Wickram modernisiert. Vgl. Henkel: Illustrierte Ausgaben, S. 105.
44 Auch Antonio Tempesta (Abb. 2, hier in der genauen gleich großen Kopie des niederländischen Stechers Abraham Blooteling) positioniert Orpheus in den Mittelpunkt der Szene.77 Der Sänger, in einem antikisierenden Gewand und einem umgeworfenen Mantel, spielt eine Geige. Im Unterschied zu Salomon ist seine Figur im Profil gezeichnet: Orpheus’ Blick ist sowohl von den Bildbetrachtern als auch von dessen Zuhörern abgewandt und zum Himmel gerichtet. Die Anzahl der Tiere ist im Vergleich zu Salomon reduziert: ein Hirsch und ein Hund links, ein Löwe, ein Pferd und eine Ziege rechts sowie zwei Vögel hören Orpheus würdevoll zu. Dagegen ist für Crispijn de Passe Sr. die Darstellung einer Phantasielandschaft und verschiedener, auch exotischer Tiere von besonderem Interesse (Abb. 3). Die Figur des Orpheus ist zur Seite gerückt. Der Sänger ist als älterer bärtiger Mann dargestellt, der, lediglich mit einem Mantel bekleidet, eine Harfe schlägt und sich mit dem linken Bein auf einen liegenden Löwen stützt. Unter weiteren Tieren auf de Passes Kupferstich sind Stachelschwein, Hirsch, Kuh, Wisent, Pfau, Elefant und Einhorn zu sehen; über Orpheus’ Haupt ist ein kletternder Affe dargestellt. Die Illustratoren der Pariser Ausgabe von 1676 Leclerc und Chauveau gestalten die Szene der Bezauberung der Tiere (Abb. 4) als motivische Kombination und Umwandlung der Darstellungen von Tempesta (Abb. 3) und Salomon (Abb. 1), indem sie vom ersteren die Stellung der Tiere, vom zweiten die Haltung und die Position des Orpheus übernehmen. Eine weniger häufig illustrierte Episode – doch ein sehr beliebtes Thema in der Malerei des 17. Jahrhunderts – war der Tod der Eurydike. Dieser war fast untrennbar mit der Darstellung einer bukolischen Landschaft verbunden. Sowohl auf dem Kupferstich von Virgil Solis nach Bernard Salomon (Abb. 5) als auch auf dem Kupferstich von Crispijn de Passe (Abb. 6) wird der Augenblick festgehalten, in dem Eurydike von der Schlange gebissen wird. Auf beiden Darstellungen sind im Hintergrund die Gespielinnen Eurydikes zu sehen; sie selbst kniet im Vordergrund vor einem Blumenkorb. Bei Salomon/Solis dreht sich Eurydike erschreckt zurück,78 bei de Passe ist sie kurz davor, zusammenzu––––––––––– 77
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Die Abbildung ist der Ausgabe der klassischen Metamorphosen-Übersetzung Vondels entnommen: Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel [...]. Amsterdam 1671. Abraham Blooteling (1631–1690) schuf mit der Radiernadel unter späteren Überarbeitung mit dem Grabstichel 15 genaue Kopien nach Tempesta. Auf den Holzschnitt von Salomon geht in der Haltung der Eurydike zweifellos das berühmteste Gemälde aus dieser ›Reihe‹ (der Tod der Eurydike) zurück: die vermutlich zwischen 1648 und 1650 entstandene Landschaft mit Orpheus und Eurydike von Nicolas Poussin. Das Gemälde hält den Moment unmittelbar vor dem Eintreten des Unglücks fest, das für den Betrachter mehr zu spüren als zu sehen ist. Die Figur der Eurydike bildet den Mittelpunkt. Eurydike erblickt die Schlange und wirft erschrocken einen Blumenkorb um. Vgl. Pierre Rosenberg u. Louis-Antoine Prat (Hgg.): Nicolas Poussin 1594–1665. Ausstellung der Galeries nationales du Grand Palais. Paris 1994, S. 409, Kat. Nr. 180. Zu verschiedenen Interpretationen dieses in der Kunstgeschichte als »rätselhaft« geltenden Gemäldes vgl. Robert Fohr: Le Paysage avec Orphée et Eurydice de Nicolas Poussin. In: Les Métamorphoses d’Orphée, S. 49–51.
45 sinken. Dabei kombiniert de Passe die Sterbensszene mit der darauf folgenden Episode bei Ovid: im linken Bildfeld ist der singende Orpheus vor Pluto und Proserpina dargestellt. Sehr beliebt war in den Bildserien das dritte Thema, Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt. Die meisten Künstler haben die Gesangszene vor Pluto und Proserpina zum Gegenstand gewählt.79 Bei Salomon/Solis wird diese Szene (Abb. 7) genutzt, um eine relativ detailreiche Darstellung der Hölle zu ermöglichen. Der Kupferstich zeigt in der Mitte Orpheus, der vor dem Herrscherpaar seine Bitte vorträgt, während die Darstellung im Hintergrund gemäß Ovid der Wirkung von Orpheus’ Gesang auf die Bewohner und Büßer der Unterwelt – darunter Charon in seinem Kahn und Sisyphos mit einem Stein – gewidmet ist. Auf dem Stich von de Passe (Abb. 6) ist das Schattenreich als das Innere eines Berges, über welchen zwei Dämonen schweben, nur angedeutet. Lediglich Charon ist unter allen winzigen Figuren als solcher zu erkennen. Dagegen gilt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf gleiche Weise dem Sänger und dessen königlichen Zuhörern. Orpheus singt und spielt eine Lyra, Pluto scheint ganz in die Musik vertieft zu sein, während Proserpina ihren Gatten anblickt und gleichzeitig eine halb bittende und halb befehlende Handbewegung in Richtung der Hölle macht. Schließlich ist die Szene bei Leclerc/Chauveau (Abb. 8) klassizistisch-elegant gehalten. Im Vordergrund spielt Orpheus eine Geige und schaut das Herrscherpaar an, das nachdenklich, majestätisch und ohne sichtbares Anzeichen der Rührung ihm zuhört. Im Hintergrund vor dem mit Menschen und phantastischen Wesen bevölkerten Flammenmeer steht als dunkler Schatten Eurydike. Die ganze Darstellung wirkt statisch-theatralisch; dieser Eindruck wird durch einen auf Pluto und Proserpina von oben fallenden und von einem fliegenden Monstrum gehaltenen Draperie-Vorhang zusätzlich verstärkt. Dagegen wählt Antonio Tempesta die Szene des endgültigen Verlustes Eurydikes (Abb. 9).80 Orpheus, der seine Lyra auf der Schulter trägt, hat sich ––––––––––– 79
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Auch in der zeitgenössischen Malerei wurde diese Szene am häufigsten dargestellt, u. a. von Jan Brueghel d. Ä., François Perrier oder Peter Paul Rubens. Vgl. zu Brueghel: Marco Chiarini u. Serena Padovani: La Galleria Palatina e gli Appartamenti Reali di Palazzo Pitti. Catalogo dei dipinti. Bd. 2. Florenz 2003, S. 104, Kat. Nr. 145. Vgl. zu Perrier: Les Métamorphoses d’Orphée, S. 128, Kat. Nr. 25. Vgl. zu Rubens: Matías Díaz Padrón: El Siglo de Rubens en el Museo del Prado. Catálogo Razonado de Pintura Flamenca del Siglo XVII. 3 Bde. Bd. 2. Madrid 1995, S. 920, Kat. Nr. 1667. Rubens’ Monumentalgemälde entstand im Auftrag von Philipp IV. für das Jagdschloss Torre della Parada bei Madrid. Diesem Gemälde ging ein anderes kleinformatiges Bild zu demselben Thema voraus (um 1635). Vgl. Didier Bodart (Hg.): Pietro Paolo Rubens (1577–1640). Padua 1990, S. 138, Kat. Nr. 49. Die reproduzierte Abbildung ist der Ausgabe entnommen: Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise, et de nouueau soigneusement reueuës, corrigees en infinis endroits, et enrichies de figures à chacune Fable [...]. Paris 1651. Es handelt sich um Kopien nach Tempesta, die etwas größere Abmessungen (116x136 statt 90x117) aufweisen und zum ersten Mal 1619 in der Ausgabe der französischen Übersetzung von Nicolas Renouard in Paris erschienen sind. Sie wurden von französischen Stechern gefertigt; die Orpheus-Illustrationen sind nicht signiert.
46 gerade umgedreht und blickt Eurydike an. Diese wird von zwei Dämonen an der Taille und am linken Bein zurückgezerrt und erhebt verzweifelt die Arme. Die Figuren zeichnen sich durch mangelnde Beweglichkeit und Expressivität aus; bemerkenswert ist der dreiköpfige Höllenhund Kerberos im Hintergrund, der eher drollig wirkt. Das letzte der künstlerisch häufig dargestellten Motive ist der Tod des Orpheus. Gemäß der Schilderung Ovids werden der Überfall der thrakischen Frauen auf den Sänger und die Klage um den toten Orpheus dargestellt. Salomon/Solis gestaltet diese Episode in zwei Kupferstichen der Schilderung Ovids sehr nah. Die Darstellung von Orpheus’ Tod (Abb. 10) ist in zwei kontrastierende Hälften geteilt: rechts bewerfen die zürnenden Bacchantinnen den Sänger mit Speeren, links spielt Orpheus unbewegt seine Lyra; Speere und Steine liegen ihm zu Füßen und die von seinem Gesang bezauberten Tiere zeigen noch kein Anzeichen der Furcht. Der Gegensatz zwischen friedlicher Ruhe und angstvoller Panik wird durch die Darstellung der weiteren Ereignisse im Hintergrund – der fliehenden Bauern und der Mänaden, welche den nun wehrlosen Orpheus erschlagen – noch verstärkt. Der zweite Kupferstich (Abb. 11) zeigt in einer idyllischen Landschaft die Musen, die über dem zerstückelten Körper des Orpheus verzweifelt die Hände ringen. Das Haupt des Sängers und seine Lyra schwimmen im Fluss. Rechts im Hintergrund ist Apollo zu sehen, der eine drachenähnliche Schlange tötet und damit Orpheus’ Haupt rettet. Crispijn de Passe kombiniert beide Szenen auf einem Kupferstich (Abb. 12). Im Vordergrund schildert er die Szene des Überfalls der Thrakerinnen auf Orpheus, im Hintergrund den die Schlange tötenden Apollo. Der Künstler wählt den Moment, in dem Orpheus unter den Schlägen der mit Stöcken und Keulen bewaffneten Frauen zusammenbricht. Bei Tempesta weist Orpheus eine ähnliche Haltung auf: seine Viola schützend, wehrt er sich lediglich mit einem erhobenen Arm gegen die auf ihn stürmenden Mänaden (Abb. 13, Kopie von Abraham Blooteling). Wie auf dem Stich von Crispijn de Passe (Abb. 12) fehlen bei Antonio Tempesta die Tiere. Er verlegt die Darstellung in die diagonale Richtung, um durch die Schatten der Frauenfiguren eine stärkere Tiefenwirkung zu erzielen. Auf der Kopie nach Tempesta in der Pariser Ausgabe von 1651 (Abb. 14) werden im Vordergrund weitere Details hinzugefügt, die sich auf die Ereignisse nach dem Tod des Sängers beziehen: eine drachenähnliche Schlange lauert am Flussufer auf Orpheus’ Haupt, das zusammen mit der Lyra, die in dieser Kopie Tempestas Viola ersetzt, vom Strom getragen wird. Schließlich wird Orpheus’ Tod bei Leclerc/Chauveau (Abb. 15) klassizistisch-akademisch und beinahe kühl dargestellt. Die Bacchantinnen schlagen mit Thyrsusstäben und seiner eigenen Viola auf Orpheus zu, der sich mit ausgebreiteten Armen dagegen wehrt. Sein Antlitz ist weder von Angst noch von Schmerz gezeichnet, sondern zeigt stoische Gelassenheit.
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2.2.1.2. Sammeldarstellungen Unter den Metamorphosen-Illustrationen war es vor allem der Typus der sogenannten Sammeldarstellung, der einen besonderen Erfolg hatte.81 Allerdings handelt es sich bei den meisten Illustrationsserien des 17. Jahrhunderts um Kopien der Renaissance-Vorgänger. Sie weisen wenig kompositionelle Originalität auf, auch wenn die Gelegenheit für eigene Akzente von den Zeichnern und Stechern durchaus wahrgenommen wird: »Die Ikonographie wird durch die Veränderungen, die sich im Zuge der Nachbildung bewährter Prototypen ergeben, [...] nur selten berührt.«82 Als Sammelbild oder Sammeldarstellung wird eine ›Ouvertüre‹ bezeichnet, die jedem Buch der Metamorphosen vorangestellt ist und verschiedene Erzählungen des entsprechenden Buches ohne narrativen Zusammenhang auf einem Blatt vereinigt. Die Gemeinsamkeit in der Anordnung der Episoden besteht lediglich darin, dass die Erzählung, mit der das Buch beginnt, in den Vordergrund rückt. Die Geschichte von Orpheus und Eurydike, mit der die Bücher 10 und 11 der Metamorphosen beginnen, ist damit fast immer großfigurig im Vordergrund dargestellt. Für die Sammelbilder des 17. Jahrhunderts sind zwei Serien relevant, in denen drei Szenen behandelt werden: der Tod der Eurydike, der zweite Verlust der Eurydike und der Tod des Orpheus. Im Folgenden sollen für jede Serie ausgewählte Illustrationen exemplarisch vorgestellt werden. Die erste Serie geht auf den Begründer der Gattung, den venezianischen Kupferstecher Giacomo Franco zurück, der 1584 die italienische Versbearbeitung der Metamorphosen aus der Feder des Humanisten Giovanni Andrea dell’Anguillara illustrierte.83 Wohl am einflussreichsten waren im 17. Jahrhundert die Kopien nach Franco, die der französische Stecher Léonard Gaultier fertigte. Seine Bildtafeln zur Illustration der französischen Übersetzung der Metamorphosen von Pierre Du Ryer begründeten den sogenannten Gaultier-Typus, der bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts für zahlreiche Kopienserien maßgeblich war.84 Das Sammelbild zum 10. Buch der Erstausgabe (Abb. 16) zeigt im Vordergrund einen Geige spielenden und zurückblickenden Orpheus in antikisierender Tracht und mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupt. Festgehalten wird der Moment, in dem ein Dämon Eurydike zu dem durch Flammenzungen und Rauch gekennzeichneten Eingang in die Unterwelt zurückzerrt. ––––––––––– 81
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Zu Sammeldarstellungen in den illustrierten Metamorphosen-Ausgaben vgl. HuberRebenich u. a: Ikonographisches Repertorium. Die Autoren weisen für das 17. Jahrhundert 54 illustrierte Ausgaben mit Sammelbildern nach. Huber-Rebenich u. a: Ikonographisches Repertorium, S. X. Vgl. auch Henkel: Illustrierte Ausgaben, S. 59–60. Le Metamorfosi di Ovidio ridotte da gio Andrea dell’ Angvillara in ottava rima [...]. Venedig 1584. Die Abbildungen sind dem Nachdruck der Erstausgabe entnommen: Les metamorphoses d’Ovide [...]. Paris 1612. Der Erstausgabe von 1606 folgten fünf Nachdrucke und zahlreiche ikonographisch treue Kopien, darunter von Matthaeus Merian d. Ä. (Ausgabe Frankfurt 1619).
48 Gaultiers Ouvertüre zum Buch 11 (Abb. 17) stellt den Tod des Orpheus und die anschließende Bestrafung der Bacchantinnen dar. Das Sammelbild zeigt im Vordergrund den Sänger, der auf einem Baumstamm sitzt und mit einer schützenden Geste seine Geige hochhält. Die Angreiferinnen stürmen, mit Werkzeug und Steinen bewaffnet, auf ihn zu. Weiter im Hintergrund sind einige Bäume durch die Unterschrift als verwandelte Mänaden gekennzeichnet. Gaultier hat Francos Vorlage ohne Veränderungen seitenverkehrt wiedergegeben.85 Im Jahre 1632 erschien in Oxford die englische Metamorphosen-Übersetzung von George Sandys, für die der holländische Kupferstecher und Maler Salomon Savrij (Savery) nach den Entwürfen von Franz Klein Radierungen schuf.86 Diese liegen der zweiten Serie der Sammeldarstellungen zugrunde. Das Sammelbild zum Buch 10 (Abb. 18) hat den Tod der Eurydike und ihren wiederholten Verlust zum Thema. Eurydike kniet rechts, von zwei Nymphen umgeben, vor einem Blumenkorb. Sie wird von der Schlange in die Ferse gebissen; der verzweifelt und angstvoll gehobene Arm bedeutet, dass ihr Versuch, dem Tod zu entkommen, vergeblich ist. Die linke Szene des Sammelbildes zeigt Orpheus beim Versuch, den entschwindenden Schatten der Gattin zu halten. Auch Kleins und Savrijs Sammeldarstellung zum 11. Buch (Abb. 19) bleibt nicht nur auf die Szene von Orpheus’ Tod beschränkt. Ähnlich wie bei Franco/Gaultier sitzt Orpheus auf einem Baumstamm. Seine Haltung verrät aber eher den Versuch, die Frauen zum Verstand zu bringen, als sich zu verteidigen. Die ganze Szene wirkt im Allgemeinen viel statischer, als in der Darstellung Gaultiers. Die Szene rechts zeigt Orpheus’ Haupt, das neben seiner Lyra im Fluss Hebros schwimmt. Etwas weiter am Ufer sieht man schließlich Apollo, der eine drachenähnliche Schlange, welche sich an Orpheus Kopf heranwagt, in Stein verwandelt.
2.2.2. Titelillustrationen zu Orpheus-Dramen Auch einige Musikdramen weisen illustrierende Titelkupfer auf. Von Illustrationen zu Orpheus-Dramen sind mir zwei bekannt: das anonyme Titelkupfer zum Schuldrama mit Musikeinlagen Orpheus von Johann Valentin Merbitz87 und der
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Kompositorisch verwandt mit Francos Illustration ist das 1697 entstandene Gemälde des italienischen Malers Luca Giordano. Vgl. Silvia Cassani: Luca Giordano 1634–1705. Neapel 2001, S. 334, Kat. Nr. 115. Ovids Metamorphosis Englished, Mythologized, And Represented in Figures [...]. Oxford 1632. Die reproduzierten Abbildungen sind der späteren lateinischen Ausgabe entnommen: Pvb. Ovidii Nasonis MetamorphoseȦn libri XV [...] Operâ & studio Thomae Farnabii [...]. Paris 1637. Johann Valentin Merbitz: Orpheus. Dresden 1696. Vgl. ausführlicher Kap. 3.5 der vorliegenden Arbeit.
49 Kupferstich zum französischen Musikdrama Le Mariage d’Orphee et d’Euridice von de Chapoton88. Die Titelillustration zu Merbitz’ Orpheus (Abb. 20) ist in der Darstellungstradition des ›Naturtheaters‹ gestaltet. Orpheus spielt seine Lyra inmitten einer idyllischen Landschaft, ihn umgeben wilde und exotische Tiere: ein Dromedar, ein Pfau, zwei Löwen, aber auch ein Hirsch und ein Hase. Ein auf dem Baum sitzender Affe stellt die offensichtliche Reminiszenz an den Holzschnitt Salomons dar. Im Vordergrund rechts lehnt sich ein Leopard an einen Stein, auf dem der Name des Autors und der Titel des Werkes eingraviert sind. Die Darstellung weist den bekannten, von Bernard Salomon eingeführten ikonographischen Typus auf; ob sie allerdings auf eine bestimmte Vorlage in der zeitgenössischen Malerei oder Druckgraphik zurückgeht, ließ sich nicht feststellen. Das Titelkupfer zum Drama Le Mariage d’Orphee et d’Euridice von de Chapoton (Abb. 21) wurde vom französischen Stecher Jérôme David nach der Zeichnung des Malers Claude Vignon gestochen.89 Diese Arbeit fällt in die Anfangsperiode der Zusammenarbeit beider Künstler.90 Es handelt sich dabei um eine originelle Erfindung Vignons, die keine Spuren einer Beeinflussung durch Metamorphosen-Illustrationen aufweist. Im Vordergrund ist das Paar Orpheus und Eurydike, beide mit Lorbeerkränzen und in antikisierenden Gewändern, dargestellt. Sie sind als verträumtes Liebespaar aufgefasst: Orpheus lehnt sich mit dem linken Arm an seine Gattin und stimmt eine Laute, deren Griffbrett Eurydikes Knie berührt; sie selbst stützt sich mit rechtem Ellenbogen auf Orpheus’ Schulter und macht eine Bewegung der Entzückung mit der rechten Hand, während sie in ihrer linken Hand ein Notenbuch hält. Im Hintergrund rechts sind lauschende Tiere – Ochse, Hirsch, Löwin und Bär sowie sechs fliegende Vögel – angedeutet; links wird bemerkenswerterweise die Episode aus Vergils Georgica illustriert: Eurydike wird vom verliebten Aristaios verfolgt.91 Sie stürzt mit ausgestreckten Armen nach vorne, unter ihren Füßen windet sich eine riesige Schlange. Eine weitere Schlange zeigt sich aus der Wolke und ––––––––––– 88
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Das Musikdrama erschien zuerst 1640 in Paris bei Toussaint Quinet unter dem Titel La Descente d’Orphee aux enfers, Tragedie. Es wurde 1648 am selben Ort zum zweiten Mal unter dem Titel La grande Journee des machines ou le mariage d’Orphee et d’Euridice gedruckt. Die in der vorliegenden Arbeit reproduzierte Abbildung ist der zweiten Ausgabe entnommen. Claude Vignon (1593–1670), einer der fruchtbarsten Maler des 17. Jahrhunderts, Zeichner und Schnittkünstler, stand unter einem starken Einfluss von Caravaggio. Von Jérôme David (1590/1600–ca. 1663), namhaftem Kupferstecher, der in Italien und in Frankreich tätig war, sind 71 Kupferstiche nach den Werken von Claude Vignon bekannt. Zu David vgl. Stéphane Loire: La carrière de Jérôme David. In: Claude Vignon en son temps. Hg. v. Claude Mignot u. Paola Pacht Bassani. Paris 1998, S. 157–185. Zu Vignon vgl. Paola Pacht Bassani: Claude Vignon, 1593–1670. Paris 1993. Diese begann 1639 mit der Gestaltung von Titelkupfern zu einigen Dramenausgaben, darunter La Clarigène von Pierre du Ryer (1639) oder Laure von Jean Rotrou (1640). Vgl. Loire: La carrière de Jérôme David, S. 170f. Verg. georg. 4, 453ff. Aristaios gehört zu den Figuren des Dramas.
50 richtet ihren Blick und ihre Zunge auf Aristaios. Noch weiter links ist der Hades durch die Figuren eines Teufels und des Höllenhundes Kerberos, von dem nur zwei Köpfe sichtbar sind, angedeutet. Über Orpheus und Eurydike halten vor dem Hintergrund eines Baums mit palmenblattähnlicher Krönung zwei Puttis eine Kartusche mit dem Titel des Werks, auf einer weiteren Kartusche, die sich im unteren Bildbereich unter Trophäen in Gestalt von Musikinstrumenten befindet, sind die Angaben zum Verleger zu lesen. Beide Titelkupfer zeichnen sich durch die Bestrebung aus, im gewählten Motiv eine harmonische Kombination aus den Titelangaben und der Darstellung von Figuren, die in einer dem Drama entnommenen Handlung festgehalten werden und somit sinnerklärend wirken, erreichen zu wollen. Dabei greift der anonyme Stecher der Titelillustration zu Merbitz’ Orpheus auf eine allegorischemblematische Darstellungsweise zurück.92
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Vgl. dazu ausführlicher Kap. 3.5.2 Anm. 349 u. Kap. 3.5.3.
3.
Der Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts
3.1.
August Buchner: Orpheus und Eurydice (Dresden 1638)
3.1.1. Einleitung. Prätexte und Forschung. Orpheus und Eurydice und die Anfänge der Oper in deutscher Sprache August Buchners Ballett-Oper Orpheus und Eurydice wurde anlässlich der Feierlichkeiten zur Hochzeit des sächsischen Kurprinzen und späteren Kurfürsten Johann Georg II. mit Magdalena Sibylla, der Tochter des Markgrafen Christian von Brandenburg, aufgeführt. Die Hochzeit fand im November 1638 in Dresden statt. Wie der Reichssekretär und Archivar des Kurfürsten Antonius Weck in seiner späteren Beschreibung der Residenzfestung Dresden berichtet, wurde am 20. November 1638 nach aufgehobener Taffel / aufm Riesen-Saale ein stattliches Ballet mit unterschiedenen Abwechslungen und 10. Balleten / auch einer wohl disponierten action, von dem Orpheo und der Euridice vollbracht / worüber die Calliope, als Obriste der Musen ein Cartell ausgeworffen / und der Innhalt gleich vorigem auf folgende maße von Herrn Buchnern P. P. zu Wittenberg begriffen worden.1
Auch der Name des Komponisten ist bekannt: Heinrich Schütz hat als kursächsischer Kapellmeister die Musik zu diesem szenischen Werk geschrieben. Zum ersten – und zum einzigen – Mal wurde das Textbuch 1855 von Hoffmann von Fallersleben in seinem Weimarischen Jahrbuch abgedruckt.2 Als Textgrundlage diente Hoffmann von Fallersleben die sogenannte Altenburgische Handschrift, die allerdings erst nach der Aufführung angefertigt wurde.3 ––––––––––– 1 2
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Anton Weck: Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitberuffenen Residentz- und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vorstellung. Nürnberg 1680, S. 365. In seinem Artikel August Buchner, in: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst. Hg. v. Hoffmann von Fallersleben. Bd. 2. Hannover 1855, S. 13–39. Die Bezeichnung Orpheus und Eurydice hat sich für das ohne Titel überlieferte Werk in der Forschung eingebürgert. Moritz Fürstenau druckte den »Inhalt« der Ballett-Oper – die jedem Akt vorausgehenden zehn- bis vierzehnzeiligen Alexandrinerverse mit der Inhaltszusammenfassung – in seiner Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden (Dresden 1861–1862, S. 103–106), ab. Diese Handschrift – dem Anschein nach das einzige erhaltene Manuskript des Textbuchs – befindet sich im Staatsarchiv Weimar (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg. Schönbergische Sammlung Nr. 54, Bl. 225–245b). Elisabeth Rothmund,
52 Zwar erwähnt August Buchner in seinem Briefwechsel eine mögliche Drucklegung des Textbuches, sie kam jedoch nicht zustande.4 Weder das Manuskript Buchners noch Schütz’ Musik zu Orpheus und Eurydice sind erhalten.5 Buchners Orpheus und Eurydice wurde in der Literaturwissenschaft und in der Musikwissenschaft vorwiegend in zwei Kategorien von Untersuchungen berücksichtigt. Zum einen sind die literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Buchners Leben und Gesamtwerk zu nennen.6 Die Ballett-Oper wird dort meist nur erwähnt. Etwas ausführlicher wird Orpheus und Eurydice in Hans Heinrich Borcherdts Monographie zu August Buchner behandelt,7 allerdings stehen für den Autor die formalen und metrischen Innovationen Buchners im Vordergrund. Borcherdts Analyse erfolgt im Hinblick auf Buchners Poetik und deren praktische Anwendung, wobei er auf Buchners Versuche am Madrigalvers kaum eingeht. Eine primär formal-sprachliche Betrachtung der Ballett-Oper dominiert auch in der zweiten Kategorie der Untersuchungen, die sich durch die Schwerpunktsetzung auf die Geschichte der Gattung ›Libretto‹ bestimmen lässt. Sowohl die literatur- als auch die musikwissenschaftlichen Arbeiten dieser Richtung sehen Orpheus und Eurydice vor dem Hintergrund des Zusammenwirkens von August Buchner und Heinrich Schütz und untersuchen den Text in erster Linie im Hinblick auf die Fortschritte des deutschen Librettos als Gattung. Dabei wird die Gattungszugehörigkeit dieses Bühnenwerks besonders intensiv diskutiert. Den einzigen Hinweis auf die doppelte Beschaffenheit von Orpheus und Eurydice – den deutschen Text und den italienischen Musikstil – liefern die Heÿraths Acten zur fürstlichen Hochzeit: von Herrn Augusto Buchnern, Professore Poeseos zu Wittenbergk, uff itzige neue art in Teutzsche Verse gesetzt, von dem Churf. Capellmeister Heinrich Schützen aber uf Italianische manier componirt8. –––––––––––
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der die Handschrift (bzw. deren Kopie) zur Autopsie vorlag, hat außer einigen Korrekturen von Fehlern, die höchstwahrscheinlich aufgrund der Zerstreuung des Kopisten entstanden und im Druck verbessert wurden, keine ernsthaften Abweichungen des Drucks vom Original festgestellt. Vgl. Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz. Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. Frankfurt / Main u. a. 2004 (Franz. Original 1994). Für die vorliegende Arbeit wurde der Abdruck von Hoffmann von Fallersleben benutzt. Vgl. Wilhelm Buchner: August Buchner, Professor der Poesie und Beredsamkeit zu Wittenberg, sein Leben und Wirken. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Schriftlebens im siebzehnten Jahrhundert. Hannover 1863, S. 45. Vgl. G. Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Leipzig 1855, S. 228–230. Höchstwahrscheinlich gingen die Unikate des Textbuches und der Musik während der Zerstörung des Dresdner Schlosses 1760 verloren. Die einzigen Monographien zu August Buchner sind: Buchner: August Buchner. Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919. Borcherdt: Augustus Buchner, S. 113–117. Vgl. auch: Joachim Dyck: Philosoph, Historiker, Orator und Poet. In: Arcadia 4 (1969), S. 1–15. Heÿraths Acten Churfürst Johann Georgen des Andern. Ander Theil. Anno 1638–1641. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 10554, S. 7v–8. Zitiert nach Rothmund: Heinrich Schütz, S. 102. In den zeitgenössischen Dokumenten wird für das Stück immer die Bezeichnung ›Ballett‹ verwendet.
53 Aufgrund der unscharfen Terminologie im 17. und 18. Jahrhundert, der raren Quellenangaben und der Versbauanalyse wurden in der Forschung Gattungsbezeichnungen wie Singballett,9 Ballett-Oper,10 musikalisches Drama,11 Oper12 und Singspiel13 vorgeschlagen. Die Polarität der Meinungen spiegelt sich auch in den neusten Publikationen wider. So bestreitet Steude, dass es sich bei Orpheus und Eurydice um ein durchgehend vertontes Werk handelt,14 während ––––––––––– 9
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Vgl. Käte Lorenzen: [Artikel] Buchner. In: MGG 1 (1958), Sp. 416–418, hier Sp. 418. Ziegler bezeichnet Orpheus und Eurydice als Ballett. Vgl. Ziegler: Orpheus, S. 249. Auch Wolfram Steude: Die Musikkultur Dresdens zwischen 1539 und 1697. In: Geschichte der Stadt Dresden. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Hg. v. Karl-Heinz Blaschke u. Uwe John. Stuttgart 2005. Zum ersten Mal wohl von Fürstenau: Geschichte der Musik, S. 96. Ihm folgen: Willi Flemming: Die Oper. Leipzig 1933, S. 71, 72. Flemming gebraucht die Bezeichnung ›Singballett‹ neben ›Ballettoper‹. Werner Braun: Das Ballett zum großen Kopenhagener Beilager. In: Heinrich Schütz und die Musik in Dänemark zur Zeit Christians IV. Hg. v. Anne Ørbaek Jensen u. Ole Kongsted. Kopenhagen 1989, S. 69–80, hier S. 78–79. Mara R. Wade: Heinrich Schütz and ›det store Bilager‹ in Copenhagen (1634). In: Schütz-Jahrbuch 11 (1989), S. 32–52, hier S. 35. Michael Heinemann: ›Eine absonderliche Art der Composition‹. Zur Gestaltung von Rezitativen in musikdramatischen Werken von Heinrich Schütz. In: in Teutschland noch gantz ohnbekandt. Monteverdi-Rezeption und frühes Musiktheater im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Markus Engelhardt. Frankfurt / Main u. a. 1996, S. 195–210, hier S. 207. Aikin: A language for german opera, S. 72– 77. Zuletzt Rothmund: Heinrich Schütz, S. 241. Vgl. Hans J. Moser: Heinrich Schütz, Leben und Werk. Kassel 21954, S. 151. Wolfram Steude: Heinrich Schütz und die erste deutsche Oper. In: Von Isaac bis Bach. Studien zur älteren deutschen Musikgeschichte. Festschrift Martin Just zum 60. Geburtstag. Hg. v. Frank Heidelberger, Wolfgang Osthoff u. Reinhard Wiesend. Kassel 1991, S. 169– 179, hier S. 169–170. Sara Smart: Ballet in the Empire. In: Spectaculum Europæum. Theatre and spectacle in Europe. Histoire du spectacle en Europe (1580–1750). Hg. v. Pierre Béhar u. Helen Watanabe-O’Kelly. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 31), S. 547–571, hier S. 551. In ihrer früheren Studie Doppelte Freude der Musen hält sich Smart noch an die Bezeichnung ›Ballettoper‹. Vgl. Sara Smart: Doppelte Freude der Musen. Court Festivities in Brunswick-Wolfenbüttel 1642–1700. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 19), S. 150. Borcherdt: Augustus Buchner, S. 113–117. Unter den neuesten Publikationen tendiert Helen Watanabe-O’Kelly zur Bezeichnung ›Oper‹: »This [court entertainment] was one of a range of works performed in Dresden in which text and music played a central part but which were not labelled operas by contemporaries. These include what were called ballets (Buchner and Schütz’ Orpheus and Eurydice [...])«. Helen Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dresden. From Renaissance to Baroque. New York 2002, S. 190. Mara R. Wade: The German Baroque Pastoral »Singspiel«. Frankfurt / Main u. a. 1990, S. 16. »Unsere These lautet: Weder Dafne noch Orpheus und Eurydice, beide mit Musik versehen von Heinrich Schütz, waren Opern im Sinne durchkomponierter, szenisch dargestellter dramatischer Handlungen, sondern es waren Stücke des Sprechtheaters mit eingefügten Gesangs- und Ballettnummern.« Steude: Heinrich Schütz, S. 170. »Ein vollständig durchkomponiertes Werk im Stile recitativo war es sicherlich ebensowenig, wie alle anderen in diesen Jahren in Szene gegangenen deutschen Werke, die »Singe-Spiel«, »Musicalisch Comoedia« oder ähnlich heißen. All diesen musikalischen ›Bühnenwerken‹ [...] diente der gesprochene Text zur Grundlage. Gesang und Tanz waren Addenda.« Wolfram Steude: Zur Frage nach einer deutschen Monteverdi-Rezeption im 17. Jahrhundert. In: Engelhardt (Hg.): in Teutschland noch gantz ohnbekandt, S. 238–239.
54 Smart die Bezeichnungen ›Singballett‹ und ›Ballettoper‹ in Bezug auf Buchners szenisches Werk ablehnt.15 Eine Gegenposition nimmt Rothmund in ihrer Studie zu Heinrich Schütz ein: in einer detaillierten Analyse der sprachlichen Besonderheiten des Texts stellt sie fest, dass Orpheus und Eurydice als Oper, also als dramatisches Werk mit durchgesungenen und als Rezitative gesetzten Dialogen, konzipiert wurde: Trotz der eindeutigen Benennung handelt es sich um eine Oper, d. h. um einen dramatischen Text mit Rezitativen, Dialogen, Arien und Chören, der wie Dafne durchkomponiert wurde, aber dem Tanz eine weitaus größere Rolle einräumt – der Einfluss des französischen ‹Ballett de cour› ist deutlich zu spüren.16
Rothmund schlägt daher, Wade,17 Braun,18 Heinemann19 und Aikin20 folgend, als Gattungsbezeichnung ›Ballett-Oper‹ vor. In der vorliegenden Arbeit wird diese Bezeichnung für Orpheus und Eurydice übernommen, wobei zu berücksichtigen ist, dass allgemein für die theatralisch-musikalischen Darstellungen des 17. Jahrhunderts »die Grenzen zur Oper der zahlreichen, unter den verschiedensten Bezeichnungen in dieser Zeit aufgeführten Stücke fließend
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»In [...] the performance of Schütz’s and Buchner’s Orpheus und Eurydice [...] it has been established that ballet played only a subordinate role in a work which was essentially a music drama, not, as previously believed, a Singeballet or Ballettoper [...]«. Smart: Ballet in the Empire, S. 551. Auch Watanabe-O’Kelly betont die sekundäre Rolle der Choreographie in Orpheus und Eurydice: »Scholars are fairly inanimous [...] in stating that Orpheus und Eurydice [...] is in fact an opera. [...] It was a five-act dramatic work with spoken, sung and danced portions, but in which dance played a secondary role.« Vgl. Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dresden, S. 175–176. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 241. Elisabeth Rothmund untersucht in ihrer Studie Schütz’ Einsatz auf dem Gebiet der weltlichen Vokalmusik, v. a. der textierten Bühnenmusik und insbesondere des Madrigals, unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung des nationalen Identitätsbewusstseins in seinem Werk und dessen Entsprechung auf der sprachlich-dichterischen Ebene. Ein besonderer Aspekt ist dabei die Frage nach der produktiven Rezeption der italienischen Oper im deutschen Sprachraum. Vgl. auch Elisabeth Rothmund: [Artikel] Buchner. In: MGG2 2 (1999), Personenteil, Sp. 1183ff. Vgl. Wade: Heinrich Schütz, S. 35. Vgl. Braun: Das Ballett, S. 78–79. »Selbst wenn also [die] beiden zentralen Abschnitte nicht von Schütz vertont worden wären, somit also – formal – die Ballettoper Orpheus und Eurydice Buchners nicht als durchkomponiertes Werk zu bezeichnen ist, erscheint dennoch die lediglich gesprochene Szene nicht als defizienter Modus musikdramaturgischer Gestaltung, sondern als Steigerung; sie setzt das vollständig vertonte Libretto voraus und zielt auf Kontrast als Mittel größerer Bühnenwirksamkeit.« Heinemann: ›Eine absonderliche Art der Composition‹, S. 207. Vgl. Aikin: A language for German opera, S. 72. Aikin behandelt Orpheus und Eurydice im Kontext der Erarbeitung einer Sprache für die deutsche Oper und Schütz’ Bemühungen auf diesem Gebiet, insbesondere in Bezug auf den Madrigalvers.
55 sind«21 oder anders gesagt ›Oper‹ »als Sammelbegriff für alle Arten musikalisch-dramatischer Gestaltung«22 fungierte. Die vorliegenden Untersuchungen beschränken sich also überwiegend auf die Textur von Orpheus und Eurydice. Dieser Schwerpunkt bietet sich in der Tat an, denn bereits das Cartell zur Aufführung betonte, dass die Originalität des Stückes nicht in der Verarbeitung des Mythos, sondern in erster Linie im Formalsprachlichen zu suchen sei: Wiewohl nun das jenige / was bey vollziehung jres einigen Wuntsches jhnen [Orpheus und Euridice] zugestossen / auch was für Lohn und Danck die ungewöhnliche Trewe / jhrer gegen einander mit keuscher Flamme entzündeten Hertzen darvon gebracht / denen Gedächtnüß-Büchern allbereit fleissig einverleibt / von unsern geweyheten Priestern auch / und secretarien der Unsterbligkeit / denen Poeten / lengst ausführlich gemacht / und zu männiglichs wissen hinterlassen [...].23 So habe ich dennoch mit einmüthiger Zustimmung meiner anfangs gemeldeten Schwestern / mir belieben lassen / den gantzen Verlauff der Liebe meines Sohns doch uff newe absonderliche Art / vermittels einer Theatralischen Music und Poesie / auch allerhand Dantzen / uff gnedigst erheiltes Erlaubnüß / heunt diese nacht / uff offenen Schawplatz darzustellen.24 Dann wo und wann nur hette man besser Gelegenheit / von trewer und keuscher Liebe zu handeln / als eben zu derjenigen Zeit und Orte / da selbste der Ursprung und Haupt-Ursach aller Frewde?25
Dabei hat Buchners Textbuch in den formbezogenen Studien unterschiedliche Wertungen erfahren. Nicht selten wurde auf seine Mängel im Vergleich zu italienischen Libretti hingewiesen; auf der anderen Seite wurde Buchners »Erfindergeist«26 sowie der »Nuancenreichtum und [die] Feinheiten«27 von Orpheus und Eurydice betont: »vom rein dichterischen Standpunkt aus [muss] Buchners Libretto [...] als das erste befriedigende Ergebnis der Bemühungen um die Schaffung eines deutschen dramatischen Madrigalverses gelten [...]«.28 Über den metrischen Aufbau des Librettos ist zusammenfassend zu sagen, dass der Text (vor allem in den Dialogen) vorwiegend in Madrigalversen geschrieben ist, d. h. in vier- bis dreizehnsilbigen abwechselnd jambischen und trochäischen Versen. Darüber hinaus weist das Libretto vor allem in den liedartigen Passagen eine große Vielfalt von Verstypen auf: zwei- bis dreizehnsilbige jambische Verse mit Vorliebe für Sechs- bis Neunsilbler, Gemeinverse, Alexandriner29, drei- bis sechszehnsilbige Trochäen sowie daktylische Verse im ––––––––––– 21
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Gertraut Haberkamp: Werke mit Musik für die deutschsprachige Bühne des 17. Jahrhunderts. Der aktuelle Quellenstand. In: Engelhardt (Hg.): in Teutschland noch gantz ohnbekandt, S. 3–29. Silke Leopold: [Artikel] Oper. In: MGG2 7 (1997), Sachteil, Sp. 635–636, hier Sp. 635. StAD Loc. 10554, S. 68v. Zitiert nach Rothmund: Heinrich Schütz, S. 292. StAD Loc. 10554, S. 68v–69. Zitiert nach Rothmund: Heinrich Schütz, S. 292. StAD, Heÿraths Acten Johann Georgen des Andern. Ander Teil, Anno 1638–1641, S. 68– 69v. Zitiert nach Rothmund: Heinrich Schütz, S. 312. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 323. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 323. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 386. Auch Borcherdt hat die »kunstvolle Gestaltung« von Orpheus und Eurydice hervorgehoben. Vgl. Borcherdt: Augustus Buchner, S. 114. Aikin hat die relativ häufige (insgesamt 100 Verse) Verwendung des Alexandriners kritisiert. Vgl. Aikin: A language for German opera, S. 77. Dagegen meint Rothmund: »Buch-
56 Schlusschor. Buchner verwendet auch Weisen und Reime zwischen drei Versen. Neben Duetten, Ansätzen zu Terzetten, strophischen Arien, Tanzliedern und Chorgesängen führte Buchner als »Inhalt« betitelte zehn- bis vierzehnzeilige in Alexandrinern verfasste Passagen zu Beginn jedes Aktes sowie sieben Tanzeinlagen (»Ballette«) ein. Nach Opitz’ Dafne ist Orpheus und Eurydice der zweite Versuch von Heinrich Schütz, mit Unterstützung und Hilfe von führenden zeitgenössischen Dichtern eine neue, aus Italien stammende musikalisch-dramatische Gattung in Deutschland einzubürgen und sie an den deutschen Höfen zu etablieren. Als Textvorlage dienten Buchner deswegen genauso wie Opitz italienische Operntextbücher, wobei es Schütz offensichtlich primär um die ›Verdeutschung‹ von deren formaler Eigenart – die Benutzung des Madrigalverses statt des in der Tragödie obligatorischen Alexandriners – ging. Während in der Forschung sowohl die inhaltliche als auch die formale Orientierung Buchners an italienischen Libretti allgemein anerkannt ist, ist strittig, welchen von den zwei in Frage kommenden italienischen Prätexten Buchner benutzt hat. Den Orpheus-Mythos in einem Libretto behandelte zum ersten Mal bekanntlich Ottavio Rinuccini: Die Aufführung der Oper L’Euridice des Komponisten Jacopo Peri fand aus Anlaß der Festlichkeiten zur Hochzeit von Maria de Medici und König Heinrich IV. von Frankreich am 6. Oktober 1600 im Palazzo Pitti in Florenz statt.30 Der Erfolg des Werks war so groß, dass es 1600 in Druck gesetzt, 1608 in Venedig erneut publiziert und 1616 in Bologna wiederaufgeführt wurde. L’Orfeo. Favola in Musica von Claudio Monteverdi und Alessandro Striggio, die am 24. Februar 1607 in Mantua uraufgeführt wurde, stellt die zweite Auseinandersetzung mit dem Orpheus-Mythos innerhalb der neuen Gattung dar.31 Höchstwahrscheinlich hat Buchner durch Vermittlung von Schütz beide Texte gekannt.32 Der Vergleich des Textbuchs von Buchner mit den beiden italienischen Libretti hat in der Forschung bisher jedoch zu keinem eindeutigen Ergeb–––––––––––
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ner war das doppelte Kunststück gelungen, trotz Alexandriner (oder gar durch sie?) einen wahren Dialog zu schaffen, in welchem Rede und Gegenrede rasch aufeinander folgten, und der eine sowohl freie als auch ausdrucksvolle Vertonung zuließ.« Rothmund: Heinrich Schütz, S. 323. Le Mvsiche Di Iacopo Peri Nobil Florentino Sopra L’Euridice Del Sig. Ottavio Rinvccini Rappresentate Nello Sponsalizio della Christianissima Maria Medici Regina di Francia e di Navarra In Fiorenza Apresso Giorgio Marescotti. MDC. Für die vorliegende Arbeit wurde die zweisprachige Ausgabe benutzt: Ottavio Rinuccini: L’Euridice / Eurydike. Übers. v. Richard Bletschacher. In: Die Stimme des Lorbeers. Hg. v. Richard Bletschacher. Wien 1990, S. 42–99. Erstdruck der Partitur (zweite Librettofassung): L’Orfeo Favola In Mvsica Da Clavdio Monteverdi Rappresentata in Mantova l’Anno 1607. & nouamente data in luce. Al Serenissimo Signor D. Francesco Gonzaga Principe di Mantoua, & di Monferato, etc. In Venetia Appresso Ricciardo Amadino. MDCIX. Für die vorliegende Arbeit wurde die zweisprachige Ausgabe benutzt: Alessandro Striggio d. J: L’Orfeo. Favola in musica. Zweisprachiges Textbuch. Wortgetreue Übersetzung von Ursula Jürgens-Hasenmeyer. In: Claudio Monteverdi. Orfeo. Christoph Willibald Gluck. Orpheus und Eurydike. Texte, Materialien, Kommentare. Hg. v. Attila Csampai u. Dietmar Holland. Hamburg 1988, S. 41–81. Vgl. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 296.
57 nis geführt. So sieht Wade in Buchners szenischer Version des Orpheus-Mythos die Bearbeitung der zweiten Librettofassung Monteverdis von 1609,33 während Rothmund Buchners Textbuch als lockere Bearbeitung des Librettos von Rinuccini betrachtet, auch wenn sie den Einfluss Monteverdis nicht ausschließen möchte.34 Dagegen betont Aikin ausdrücklich die Selbständigkeit des buchnerischen Textbuchs: Buchner’s text, which does not seem to be a translation or even an adaptation of either of the (Orpheus and) Euridice operas in Italy [...] seems about as different from either Italian predecessor as they are from each other.35
Angeregt wurde Buchners Textbuch wohl von beiden italienischen Libretti. Doch außer der Situierung der Handlung in einer bukolischen Umgebung sowie der szenischen Entwicklung im ersten Akt gibt es nur wenige Hinweise auf eine ›Umdichtung‹. Daher darf Buchners Orpheus und Eurydice zweifelsohne der Status eines selbständigen Werks zuerkannt werden. Rothmund hat darüber hinaus auf die enge Korrespondenz zwischen dem Cartell und dem »Inhalt« hingewiesen, weswegen Buchners Ballett-Oper eher »zur ethisch-philosophisch erbauenden Gattung statt zur unterhaltenden Darbietung«36 zu rechnen sei. In Orpheus und Eurydice »wird die philosophische Absicht bereits im Cartell deutlich hervorgehoben, denn das darin enthaltene Argument weist am Ende der Inhaltsangabe jeden Akts eine Sentenz auf, in welcher die zu ziehende Lehre bündig zusammengefasst wird«37. Im Folgenden soll Buchners MythosVerarbeitung mit Hilfe des im Kapitel 1.2.2 vorgestellten Strukturmodells analysiert und der Frage nach den Funktionen der Abweichungen sowie den dadurch entstehenden Bedeutungsgehalten und Deutungsmöglichkeiten nachgegangen werden.
3.1.2. Literarische Mythos-Adaption in Orpheus und Eurydice Buchners Libretto hat einen klassischen fünfaktigen Aufbau. Jedem Akt ist eine zehn- bis vierzehnzeilige Inhaltswiedergabe vorangestellt, die sowohl erklärende als auch deutende Funktion hat: als eine Art Prolog erklären die Verse das Erscheinen einiger Figuren, binden die Tanzeinlagen in den Geschehensablauf
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Vgl. Mara R. Wade: The Reception of Opitz’ Judith during the baroque. In: Daphnis 17 (1988), S. 165, n. 55. Vgl. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 241. »Buchner gelingt hier eine vollkommene Verschmelzung beider Fassungen [...].« Rothmund: Heinrich Schütz, S. 294. »Welches aber auch die Vorlagen gewesen sein mögen, es handelt sich beim deutschen Text eindeutig um keine Übersetzung im engen Sinne, sondern um eine freie Nachdichtung, die als erste deutsche Originalschöpfung betrachtet werden muss.« Rothmund: Heinrich Schütz, S. 296. Aikin: A language for German opera, S. 73. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 392. Rothmund: Heinrich Schütz, S. 393.
58 ein und verhelfen damit zum besseren Verständnis der Handlung.38 Gleichzeitig stellen die zwei letzten paargereimten Verse jedes »Inhalts« (Alexandrinercouplets) eine Art Schlusspointe dar, die eine belehrende Interpretation enthält. Die Handlung des ersten Aktes spielt in einer bukolischen Umgebung. Die Hochzeitsfeier von Orpheus und Eurydice steht unmittelbar bevor, und Hirten und Nymphen feiern ihre Verbindung als Bund der Treue und der Tugend. Während sich Orpheus zum Tempel begibt, um Opfer zu bringen, beginnt Eurydice mit den Nymphen einen Tanz zu Ehren der Götter. Eine gespenstische Figur, die in den Inhaltsversen als Neid bezeichnet wird, mischt sich plötzlich unter die Tänzerinnen und wirft Eurydice eine Schlange unter die Füße.39 Die daraufhin erscheinende Götterbotin Iris schneidet der tödlich verletzten Eury––––––––––– 38 39
Zum Beispiel wäre das Erscheinen des Neides im ersten Akt ohne den »Inhalt« unverständlich; überhaupt wird das Gespenst nur in der Inhaltswiedergabe als Neid bezeichnet. Die Darstellung des Neides als personifizierter weiblicher Figur mit Schlangen hat ihre Wurzeln in der Antike. Bei Ovid wird sie im zweiten Buch der Metamorphosen als altes hässliches Weib geschildert, das sich von Vipernfleisch ernährt: »[Minerva] videt intus edentem vipereas carnes, vitiorum alimenta suorum, Invidiam visaque oculos avertit; at illa surgit humo pigre semesarumque relinquit corpora serpentum passuque incedit inerti [...] pallor in ore sedet, macies in corpore toto, nusquam recta acies, livent rubigine dentes, pectora felle virent, lingua est suffusa veneno. risus abest, nisi quem visi movere dolores, nec fruitur somno vigilacibus excita curis, sed videt ingratos intabescitque videndo successus hominum carpitque et carpitur una suppliciumque suum est.« Ov. met. 2, 768–782. Die Emblemkunst des 16. und 17. Jahrhunderts hat diese darstellende Tradition weitergeführt. Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne. Stuttgart 1996, S. 1098, 1413, 1549, 1570ff. Vgl. insbesondere die »Invidiae descriptio« in der Emblemsammlung des Alciatus: »Squallida uipereas manducans foemina carnes, Cuique dolent oculi, quaeque suum cor edit, Quam macies, et pallor habent, spinosaque gestat Tela manu. Talis pingitur inuidia.« Andreas Alciatus: Emblematum liber. Augsburg 1531. Zitiert nach Emblemata, S. 1570. Vgl. die Beschreibung des Neides bei Buchner: »Bald ein Gespükniss kömmt und flichtet sich mit ein. Der Leib war ein Geripp, mit Haut doch überspannt, Erdfarb, als wann ihn hatt der Sonnen Hitz verbrannt, Die blauen Lefzen runter hungen, Dass nicht ein Zahn auch ward bedeckt; Die Augen stunden tief als zwei Bränd angesteckt, Anstatt des Haars sich Nattern schlungen Um beide Schläfen rings herüm.« Buchner: Orpheus und Eurydice, S. 22.
59 dice die Locke ab;40 der Arie der Iris, in der die allgemeine Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und Strebens thematisiert werden, folgt der Tanz des Charon, von dem Eurydice in die Unterwelt geführt wird. Im zweiten Akt erfolgt der weitere Ausbau des Konflikts. Zwei Nymphen sind über den plötzlichen Tod der Eurydice entsetzt und fürchten sich davor, Orpheus die traurige Nachricht zu überbringen. Ihr Entschluss, Orpheus den Tod der Eurydice zu verschweigen, erscheint allerdings unmotiviert. Mit Mühe gelingt es dem zurückgekehrten Orpheus, die Nymphen zum Erzählen zu bewegen. Zuerst erschüttert, gewinnt er seine Fassung wieder und beschließt in einem langen Monolog, Eurydice aus der Unterwelt zu befreien. Der dritte Akt ist in zwei Szenen aufgeteilt, zwischen denen ein Ballett der bestraften Sünder der antiken Mythologie eingeschoben ist. Die erste Szene beginnt mit einem Dialog zwischen Pluto und dessen Diener, einem Unterweltgeist. Pluto erteilt den Befehl, seinem Volk die Ankunft der Eurydice und die Veranstaltung eines Festes ihr zu Ehren zu verkündigen. Die allgemeine Freude wird durch den Tanz von Tantalos, Ixion und Tityos mit drei Danaiden zum Ausdruck gebracht. Das Erscheinen des Orpheus in der zweiten Szene unterbricht das Fest. Orpheus wird von Geistern entdeckt und zu Pluto geführt. Dank seinem kunstvollen Gesang, aber auch aufgrund der Fürsprache der Proserpina sowie der drei Unterweltrichter gelingt es dem Dichter, Eurydice zurückzubekommen.41 Der dritte Akt schließt mit Orpheus’ Versprechen, in einem Lobgesang dem Herrscher der Unterwelt zu danken. Im vierten Akt kehren Orpheus und Eurydice zu den Hirten zurück. Orpheus singt ein Danklied zu Ehren Gottes, welches durch Tänze der Felsen und der Bäume, der Vögel und der Tiere illustriert wird. Der Einfall und der Tanz der Bacchantinnen unterbrechen die Lobpreisung, die »thrakischen Weiber« werden ––––––––––– 40 41
In der Antike ein Zeichen der Befreiung der Seele des Verstorbenen von seinem Körper, die ihm das Betreten der Unterwelt ermöglicht. Pluto schwankt in der Überredungsszene zwischen seiner privaten Sympathie für Orpheus und den Pflichten seines königlichen Amtes. Als Hüter und gleichzeitig der erste Untergebene des Gesetztes räsoniert er in der Art eines Fürstenspiegels: »Dein Suchen straf ich nicht, vielmehr rühm ich die Lieder, Und ist mein dir so sehre nicht zuwider Als der gemeine Schluss, mehr noch als Eisen hart. [...] Die Kronen zwar sind außer Eh und Band, Doch ihnen selbst ihr Maß. Die heilge Würd, der hohen Ehren Stand Zieht sie nur stets auf das Was Ordnung anders heißet. Es wird ein Thor geschätzt, der ab und niederreißet Was er kaum aufgebaut: so wird ein Fürst veracht, Im Fall er brechen will den Schluss, so er gemacht.« Buchner: Orpheus und Eurydice, S. 28–29. Nur dank der Berufung auf Gnade als zweite Säule des richtigen Regiments, die Proserpina, Minos, Äacus und Rhadamantus nacheinander vorbringen, wendet sich Orpheus’ Schicksal zum Guten.
60 aber – wie aus dem »Inhalt des vierten Aktes« hervorgeht – durch himmlische Blitze abgewehrt. Der abschließende fünfte Akt birgt eine weitere unerwartete Wendung. Der vom Himmel gesandte Merkur verkündet dem Paar den Beschluss der Götter: nachdem Orpheus seinen Ruhm sowohl auf der Erde als auch in der Unterwelt erworben hat, steht ihm nun auch der Himmel offen. Zusammen mit Eurydice soll Orpheus in den Kreis der Götter und göttlichen Helden aufgenommen werden. Venus und Amor gesellen sich zu Merkur und preisen zusammen mit einem »Chor der Cupidinum« die Macht der rechten Liebe. In den abschließenden, in Daktylen verfassten Versen des Chors der Schäfer und der Nymphen erfolgt der Übergang zwischen der theatralischen Fiktion auf der Bühne und der Realität der Aufführung: der Chor wendet sich mit Glückwünschen an das kurfürstliche Brautpaar. Der Rahmen der Fiktionalität wird durch das direkte Anknüpfen der dargestellten mythologischen Zeit an die reale historische durchbrochen, wobei das fürstliche Brautpaar zu einem Teil des inszenierten Mythos wird und somit als Teil eines Kunstwerks ›Unsterblichkeit‹ erlangt. Die Textanalyse mit Hilfe des Strukturmodells zeigt, dass die variablen Attribute amplifiziert werden, während die konstanten Attribute unverändert bleiben. Signifikante Änderungen erfolgen dagegen im Bereich der Verlaufsstadien. Die Sequenz I wird vollständig ausgeklammert.42 In der Sequenz II aktualisiert Buchner lediglich die Verlaufsstadien drei (glückliche Liebe / Liebesheirat, modifiziert als Vorbereitung auf eine Hochzeit), fünf (Tod der Frau) und sieben (Überreden der Unterweltherrscher / Rettung der Frau durch die Kunst). Es fehlen die Verlaufsstadien vier (Werbung des Rivalen, die den Tod der Frau herbeiführt) und acht (Übertreten des Verbots). Das Verlaufsstadium sechs (Reise in die Unterwelt) erfährt eine partielle Reduktion durch die Beschränkung auf den Entschluss des Sängers. Im neunten Verlaufsstadium erfolgt eine Inversion: da er an keine Bedingung gebunden ist, gelingt es Orpheus, Eurydice aus dem Totenreich zu befreien. Auch in der dritten Sequenz des Mythos nimmt Buchner Aussparungen vor. Inszeniert werden die Verlaufsstadien zehn (Unterweisung der Menschen in göttlichen Lehren / Bezauberung der Natur) und vierzehn (Würdigung und Apotheose), während das elfte Verlaufsstadium invertiert wird: statt von den Bacchantinnen ermordet zu werden, triumphiert Orpheus, da die »tollen Weiber« [S. 34]43 vom zornigen Zeus durch dessen Blitze getroffen werden. Ihr Auftreten bleibt allerdings aufgrund der Reduktion des elften Verlaufsstadiums (Verzicht auf Frauenliebe) auf der Ebene des Mythos durchgehend unmotiviert – der einzige Hinweis (»Hass«) wird im »Inhalt des vierten Aktes« gegeben. Im vierzehnten Verlaufsstadium ––––––––––– 42
43
Dies ist die Regel; die Sequenz I wird selten mit den folgenden verknüpft, wahrscheinlich weil der Gestalt des Orpheus im Argonauten-Zyklus ursprünglich eher eine marginale Rolle zukam. Später wurde die Argonauten-Sequenz eher mit Orpheus als realem Dichter in Verbindung gebracht. Buchner: Orpheus und Eurydice, S. 34. Hier und weiter werden die Stellen aus der jeweiligen Hauptquelle eines Kapitels im laufenden Text direkt nach dem Zitat in eckigen Klammern nachgewiesen.
61 erfolgt eine partielle Substitution: Orpheus wird nicht in erster Linie als Künstler gewürdigt, vielmehr werden sein Heldenmut, seine Tugendhaftigkeit und der Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen sowie seine hingebungsvolle Liebe hervorgehoben, die ihm den Weg in den Himmel ebnen. Diese Substitution findet allerdings ihre Begründung im feierlichen Anlass der Aufführung. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die Buchner am Orpheus-Mythos vornimmt, erscheint es sinnvoll, vor allem die amplifizierten Verlaufsstadien genauer zu betrachten und nach weiteren möglichen Funktionen der Substitution zu fragen.44
3.1.3. Poeta theologus: Orpheus und Eurydice im poetologischen Diskurs Die Handlung des Stücks ist im Vergleich mit dem Mythos stark gerafft, während rhetorische Elemente als selbständige Aktion gehandhabt werden. In ihrer Länge sowie Sinnhaltigkeit besonders hervorgehoben sind dabei zwei Monologe des Orpheus – das Räsonnement vor seinem Entschluss im zweiten Akt und das Danklied im vierten Akt – zwei Höhepunkte sowohl im Dramentext als auch in der Mythosverarbeitung. Die ›Schlüsselszene‹ des Mythos in seiner idealtypischen Variante – die Überredung der Unterweltherrscher – ist in Buchners Verarbeitung dagegen sehr traditionell gehalten: die Argumente, welche Orpheus in einem kurzen dreistrophigen Lied ins Feld führt, sind in ihrer Logik Ovids Metamorphosen entnommen.45 Somit kristallisieren sich zwei Interpretationsstränge heraus, die auf beiden Monologen aufbauen und im Folgenden ausführlicher erörtert werden sollen. Die außergewöhnliche Stellung der Monologe innerhalb des Textes wird durch die abschließenden Sinnsprüche der ›Inhaltswiedergaben‹ bestätigt.46 Aufeinander bezogen, entfalten die paargereimten Sentenzen folgende Tugendlehre:
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Auch das Textbuch von Rinuccini endet mit der Rettung der Eurydice und der glücklichen Rückkehr des Paares. Die Erklärung des glücklichen Schlusses von Buchners Drama nur mit der Befolgung der Vorlage ist jedoch nicht ausreichend. Vgl. Rinuccini: L’Euridice. 3. Szene, S. 88ff. Vgl. Ov. met, 10, 17–39. (Vgl. Zitat im Kap. 3.6.2, S. 192f. dieser Arbeit). Die beiden Monologe des Orpheus, die weiter analysiert werden, sind im Anhang 2.1 der vorliegenden Arbeit vollständig abgedruckt. Folgt man Schönes These von den Analogien zwischen der Struktur des Emblems und der des Dramas im 17. Jahrhundert, so kann man feststellen, dass die Inhalte in ihrer interpretatorisch-erklärenden Tendenz dem Drama einen emblemähnlichen Aufbau verleihen: die Handlung ist mit der Pictura vergleichbar, als deren Subscriptio die Verse des Inhalts fungieren und deren Inscriptio die ihn abschließende Sentenz bildet. Über die Verwandtschaft des deutschen Dramas des 17. Jahrhunderts mit der Emblematik vgl. die freilich nicht unumstrittene Studie von Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964. Zur Kritik an Schöne vgl. zuletzt aus zeichentheoretischen Sicht Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002.
62 Der Menschen Thun setzt um in Eil als wie ein Wind, Dass mitten unter Lust sich oft ein Trauren findt. [S. 13] [...] Ein großes Heldenherz schlägt aus gemeinen Weg, Und wo Gefahr und Furcht, sucht Tugend ihren Steg. [S. 18] [...] Wo Tugend mit der Kunst gemachet einen Band, Mag nichts für ihnen stehn, sie haben Oberhand. [S. 26] [...] Wo Tugend, da ist Feind; wo Kunst, da findt sich Neid, Und sie behält doch Platz, Gott wendet ihre Zeit. [S. 31] [...] Ihr großen Helden hofft! die Tugend nicht verfällt: Sie steiget himmelan und leuchtet durch die Welt. [S. 35]
Tugend und Kunst erscheinen in den Sinnsprüchen als Schlüsselbegriffe, mit denen der Orpheus-Mythos allegorisch verarbeitet wird. Postuliert wird eine Affinität von Kunst und Tugend, als deren gemeinsamer Feind Neid erscheint. In der zeitgenössischen Emblematik ist eine solche Gegenüberstellung nicht selten. Offensichtlich legte Buchner großen Wert darauf, die Verwandtschaft zwischen der Kunst und der Tugend hervorzuheben. Inwieweit Buchner die Figur des Orpheus und ihre Deutung im Folgenden angelegt hat, soll daraufhin sowohl im Kontext der Poetik Buchners als auch des zeitgenössischen poetologischen Diskurses genauer betrachtet werden. Ist Orpheus im ersten Akt vorwiegend ein glücklicher Bräutigam, der beste unter den Hirten, so wird er im zweiten Akt zum göttlichen Helden, der das Unmögliche erstrebt. Diese Verwandlung, welche nur dank der Kunst möglich ist, erfolgt im ersten Schlüsselmonolog im zweiten Akt. Seiner Form nach ist der Monolog ein Musterbeispiel einer nach allen Regeln der Opitzschen Poetik verfassten Dichtung ebenso wie – breiter gefasst – einer rhetorisch einwandfrei aufgebauten Rede; seinem Inhalt nach ist er ein Panegyrikos auf die Kunst und auf die Person des Künstlers. Der rhetorisch strukturierte Monolog spiegelt den Prozess der Selbstüberzeugung wider. Der metrische Aufbau des Monologs unterstreicht seinen argumentativen Charakter. Orpheus’ ›Rede‹ besteht aus sechs Strophen mit jeweils acht jambischen Versen: auf einen kreuzgereimten Vierzeiler folgen zwei paargereimte Zweizeiler. Das Versmaß der ersten sechs Zeilen ist der Alexandriner, der siebte ist ein Fünf- und der letzte ein Dreiheber. Diese Strophenform ist eine Erfindung Buchners. Der Monolog beginnt mit einer emphatischen Anrede des Orpheus an sich selbst, einem Aufruf, Mut zu fassen und in die Unterwelt herabzusteigen. Eine Geminatio eröffnet den Monolog, welcher den Anforderungen des hohen Stils entspricht. Das Exordium bildet die Selbstansprache, die das Thema der Rede präsentiert: Auf, auf! ermunter dich! fass Alles das zusammen Und zieh es in die Eng was du vermagst und bist! [S. 23]
Die nächsten Strophen enthalten die Argumentatio. Orpheus muss sich mit zwei Gegenargumenten auseinandersetzen, die ihn am Entschluss zur Katabasis
63 hindern: zum einen erschreckt ihn die Unterwelt selbst, zum anderen besteht für die Sterblichen ein Verbot, lebendig die Unterwelt zu betreten. Die Beweisführung beginnt mit der Figur der Subiectio: in der ersten Strophe werden drei Fragen gestellt, die auch das erste – erschreckende – Bild der Unterwelt entwerfen und somit den Zuschauern den Schwierigkeitsgrad des zu fassenden Entschlusses vor Augen führen. Gleichzeitig enthalten aber bereits diese Fragen eine Aufforderung zum Mut. Die zweite Strophe enthält die (fingierte) Antwort Orpheus’ an sich selbst. In der Metaphorik des in den zwei ersten Strophen entworfenen dichterischen Bildes spielt Buchner mit den antithetischen Begriffen Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Der Schatten der Eurydice in der Unterwelt wird für Orpheus zum ruhespendenden Schatten an einem heißen Tag; Eurydice erscheint dem Sänger gleichzeitig als Opfer der Dunkelheit und als seine Beschützerin in den furchterregenden Höhlen des Hades: Ist doch Eurydice daselbst, dein Tag und Sonne, Dein Schatten für die Hitz und Leben für den Tod, Die Furchtbenehmerin, im Trauren deine Wonne, Dein Schutz und sicher Mal in allem Kreuz und Noth. [S. 23–24]
In der dritten Strophe setzt Orpheus die Beweisführung fort, indem er den zweiten Einwand durch ein Exemplum widerlegt. Orpheus beruft sich auf seine mythologischen Vorgänger, die vor ihm in die Unterwelt herabgestiegen sind, ihre ›Höllenfahrt‹ unversehrt überstanden haben und unbestraft geblieben sind, und gliedert sich in ihre Reihe ein. Die Strophe wird durch eine Sentenz abgeschlossen: Stärk und Gewalt viel schaffet und bezwingt, Noch mehrers Glimpf verbringt.47 [S. 24]
Die vierte Strophe bekräftigt den Sinnspruch durch argumentative Beweise, indem die Wirkungspotenziale der Gewalt und der Kunst gegeneinander ausgespielt werden.48 In der fünften Strophe werden die Überlegungen der dritten ––––––––––– 47
48
›Glimpf‹: »alles was sich ziemt, angemessenes Benehmen, Ehrenhaftigkeit, guter Name«. Vgl. die Erklärung des Wortes bei Hoffmann von Fallersleben: August Buchner, S. 24. Der Sinnspruch korrespondiert mit einer der Interpretationen der Orpheus-Gestalt in der Emblematik: so deutet das Motto »peragit tranquilla potestas« eines Emblems in der Sammlung Zincgreffs das Bild des Orpheus, dem die wilden Tiere lauschen, als Macht der sanften Überredung: »La clemence d’vn Roy conduit tout aisement Le plus barbare peuple, & doucement le force, Et mene ou bon luy semble; autrement par la force Il n’en viendra iamais à son contentement.« Julius Wilhelm Zincgref: Emblematum Ethico-Politicorum Centuria [...]. Frankfurt / Main 1619, Emblem LI. »Was andere durch Krieg und strenge Schlacht verübet, Dass wo sie angesetzt bald ihre Fahnen bracht, Dies mir ein süßer Ton und güldne Leier giebet, Sie zwinget Herz und Sinn, und Waffen nur die Macht. Glimpf mehr als Eisen thut: dies raubet zwar die Güter,
64 wiederaufgenommen: Orpheus sucht nach zusätzlichen Argumenten, die ihm erlauben, sich der Reihe der mythischen Heroen anzuschließen. Dem antizipierten Einwand, seine Vorgänger seien göttliche Helden gewesen, begegnet er mit dem Rückgriff auf die eigene – ebenfalls göttliche – Abstammung, die ihm das Recht gibt, deren Heldentat zu wiederholen. Mit Hilfe eines locus a persona beruft sich Orpheus auf seine hohe Abkunft, die ihn den mythologischen Helden Herakles und Theseus gleichstellt.49 Die göttliche Abstammung wird somit einerseits als Verpflichtung zum mutigen Handeln, andererseits als Erlaubnis für das Übertreten des Verbots begriffen. Die performative Aufforderung an sich selbst wiederholt sich in den letzten zwei Versen der fünften Strophe, wobei Orpheus auch seine Ausnahmestellung in der Reihe der Helden betont. In einer Apostrophé, welche die intensive, gesteigerte Stimmung der letzten Strophe unterstreicht, nimmt Orpheus Abschied von allem Irdischen, indem er die Natur in Gestalt von Fluss, Wäldern und Tageslicht anspricht. Dabei wird der Kontrast zwischen der Ober- und der Unterwelt durch das Oxymoron des dritten und vierten Verses zusätzlich betont: [...] Die schwarzen Trauerfelder mich ziehen unterhin, und da scheint meine Sonn. [S. 24]
Die letzten vier Verse der ›Rede‹ entsprechen einer Peroratio und fassen zwei Möglichkeiten für den Ausgang des wagenmutigen Unterfangen zusammen: Ich bleib, im Fall man will mein Seufzen ferne setzen, Und wird mein einig All mich reichlich da ergetzen. Komm ich, so kömmt sie wieder auch mit ein, Dann mag ich göttlich sein. [S. 24]
Der letzte Vers, der durch seine Endstellung besonders hervorgehoben wird, lässt unterschiedliche Deutungen zu: göttlich kann sowohl für den höchsten Grad des Glücks und der Freude als auch für die Erwerbung des göttlichen Ruhmes und somit – wie im Monolog der Iris im ersten Akt bereits angedeutet – für die Erhebung zu den Göttern stehen. Während bei Buchners Vorgängern der psychologisch wichtige Moment der Entschlussfassung und der Selbstüberwindung von Orpheus entweder ausgespart blieb (wie bei Ovid und Vergil) oder durch die Einführung der deus ex –––––––––––
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Und jagt das Leben aus, Glimpf aber die Gemüther. Sie zähmt den Sinn, nicht nur den Leib allein Und kann beliebt doch sein.« Buchner: Orpheus und Eurydice, S. 24. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges steht die Gestalt des Orpheus nicht nur für die Kunst und ihre besänftigende Macht, sondern auch für die milde Lösung der Konflikte: ohne Blutvergießen und ohne Anwendung von Gewalt gelingt ihm das, was Herakles nur dank seiner Kraft und Theseus gar nicht zuteil geworden ist. Den Gegensatz zwischen der Heldenkraft – am Beispiel des Herkules’ als heroischen Heldenideals der Antike – und der Kunst – am Beispiel des Orpheus’ – hat durch die Parallelisierung ihrer Katabasis erstmalig Seneca in Hercules furens ausgearbeitet. Vgl. Sen. Herc. f. 569–591.
65 machina-Figuren gelöst wurde (wie bei Peri/Rinuccini und Monteverdi/Striggio), erfindet Buchner die Überzeugungsrede des Orpheus, welche ihrer Länge und ihrem Aufbau nach eine entscheidende Position innerhalb des Dramas einnimmt. Nur auf den ersten Blick erscheint diese Rede lediglich als Musterbeispiel rhetorischer Kunstfertigkeit, das den individuellen Entscheidungsprozess abbildet. Vielmehr stehen die Kunst, ihre Macht und Möglichkeiten sowie das Bild des Künstlers thematisch im Vordergrund. Die Rolle, die in Orpheus’ Monolog einem Dichter (Künstler) zukommt, korrespondiert mit den theoretischen Ausführungen Buchners in seiner Anleitung zur Deutschen Poeterey50 und lässt sich ohne weiteres in den poetologischen Diskurs der Epoche einbetten. Für diesen stand bekanntlich im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts die Aufwertung des Deutschen zur konkurrenzfähigen Literatursprache im Vordergrund. Der wichtigste Impuls war das bahnbrechende Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz, welches die deutschsprachige Dichtung in den Rang einer Literatur erhebt, die den anderen europäischen Nationalliteraturen wie der lateinischen Dichtung ebenbürtig ist. Dabei distanzierte Opitz sich bewusst von der Tradition des Meistersanges und der Volksdichtung und forderte eine Ausrichtung der Literatur an den Mustern der Antike sowie an der Renaissance-Dichtung in den romanischen Sprachen und im Niederländischen. Indem Opitz an den antiken Mustern, am Stil und an der Form der lateinischen Poesie festhielt, brach er mit der volkstümlichen Tradition und gliederte die deutschsprachige Dichtung in die europäische höfisch-gelehrte Entwicklung ein. Auch Buchner betrachtete es in seinem theoretischen wie dichterischen Werk als Hauptaufgabe, das Niveau einer deutschen Literatursprache anzuheben, die sich stark von der Umgangssprache und von den Mundarten unterscheiden sollte. Mit der Etablierung der Kunstdichtung in der deutschen Sprache war das Bestreben verbunden, das Sozialprestige der Dichter in einer Gesellschaft zu verbessern, in der die Dichtkunst als Nebentätigkeit galt, für die man sich nicht selten rechtfertigen musste.51 Rolle und Aufgabe eines Poeten, der auf Deutsch dichtete, sollte in der ästhetischen Elite, die aus dem Adel und den akademisch gebildeten Intellektuellen bestand und sich überwiegend um die universitären und höfischen Zentren konzentrierte, neu definiert und legitimiert werden. Ziel war eine elitäre literarische Standeskultur, in wel––––––––––– 50
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Das Manuskript der Poetikvorlesung Buchners an der Wittenberger Universität wird zum erstenmal 1638 erwähnt, so dass ein früheres Entstehungsdatum anzunehmen ist. Die Poetik wurde postum veröffentlicht, der Erstveröffentlichung durch Georg Göze (1663), die ohne Wissen und Zustimmung von Buchners Erben geschah, folgte 1665 die Edition von Buchners Schwiegersohn Otto Prätorius. In der vorliegenden Arbeit wird die zweite Fassung zitiert. Augustus Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey. Anhang: A. Buchners Poet. Wittenberg 1665. Vgl. beispielsweise Buchner selbst, im Anhang zu seiner Anleitung: »Von des Poëten Nahmen will von nöthen seyn / etwas anzuführen / weil Er bey den gemeinen und unverständigen Leuten nicht allein / sondern auch bey andern / und wol gar Gelehrten so gar wenig geachtet ist / und fast schimpflich will gehalten werden. Dahero auch etliche sich des Versmachens deshalb enthalten / weil Sie nicht für Poeten angesehen seyn wollen.« Buchner: Poet, S. 1.
66 cher der Dichter dem Gelehrten gleichgestellt war. Für einen Dichter wurde umgekehrt das am humanistischen Ideal orientierte Wissen zur notwendigen Voraussetzung, um dem Geschmack des elitären Publikums zu entsprechen. Im Sinne dieser Statusabgrenzung führt Buchner in seiner Anleitung aus: Denn des Poeten Ampt ist / neben nützlichen Unterricht / die Gemüther zu förderst zu belustigen und zu ergetzen. Und haben sie ihr Absehen nicht so sehr auf den gemeinen Pöbel / der nichts verstehet / und Unflath oft mehr / als Reinligkeit liebet / als auf Leute / die etwas wissen / und ein gerechtes Urtheil fällen können / ob aller Unsauberkeit auch einen Ekel schöpfen.52
Analog dazu sieht sich sein Orpheus im Monolog der Ballett-Oper den mythologischen Helden von »Götterart« (S. 24) ebenbürtig, während er in einem späteren Passus den Hass der Bacchantinnen als Aufruhr des unverständigen Pöbels deutet: Kein Donnerkeil, der durch die Wolken bricht, Mit solchen Grimme fährt, Kein Wirbelwind mit gleichem Sturm auch nicht Die hohle Ficht umkehrt, Als wann der Pöbel rennet Aus leichtem Wahn erregt Und als für Hasse brennet, Den er der Tugend trägt. Er findet an der wahren Weisheit Licht, Liebt Nebel, Rauch und Wind, Und was ihm nur zu schaden ist gericht Das suchet er geschwind. [S. 34]
In seiner Aufwertung der Dichtung geht Buchner noch einen Schritt weiter und stellt sie in eine Reihe mit der Philosophie und Theologie53, indem er von der »Hoheit dieser Kunst / und [ihrem] fast Göttlichem Wesen«54 spricht: So nun die Poeterey in Warheit eine Philosophie ist / die Philosophie aber alle Göttliche und Menschliche Sachen in sich begreiffet / so erscheinet hieraus / daß die Poeterey nicht enger / als die Welt und Natur an ihr selbsten / eingeschrencket sey / und der Poet nicht allein bey allerley Menschlichen Händeln / [...] so täglich vorlauffen; Sondern auch von Gött- und natürlichen Sachen / wie die Nahmen haben mögen / mit allem fuge schreiben könne.55
Die Dichter der Vergangenheit waren keine ungehobelten Versmacher, sondern poetae theologi, die die Göttliche Weisheit verkündeten und sie in Fabeln ein––––––––––– 52 53
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Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey, S. 27–28. Damit tritt Buchner in die Fußstapfen seines berühmten Vorgängers auf dem Gebiet der poetischen Theorie, denn bereits Opitz erhöhte die ›Poeterey‹ zur »verborgenen Theologie«. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 14. Die Einreihung der Dichtung in die Hierarchie der Künste und Wissenschaften fehlt seitdem in fast keiner barocken Poetik. Buchner: Poet, S. 2. Buchner: Poet, S. 22–23.
67 hüllten. Die Aufgabe des Dichters ist somit seit Beginn der Zeiten die Unterweisung der Menschheit in der Tugend: Damit nun die Lehre der Weisheit und Tugend (denn dieses ist / wie wir in folgenden mit mehren andeuten werden / der Poeten ältestes Thun und vornehmster Zweck / dahin Sie Ihre Arbeit richten sollen /) oder vielmehr die Weisheit und Tugend selbst / nicht in Verachtung gerathen / und endlichen gantz unter die Banck gestecket werden möchten / haben die Poeten das bequemste Mittel zur Unterweisung solcher Göttlichen Sachen die Fabel erfunden / welche etwas dunckeler / als andere schlechte Reden / und doch klärer und deutlicher / als sonst ein Rätzel wäre [...].56
Die Gestalt des göttlichen Orpheus steht paradigmatisch für das in den Poetiken des 17. Jahrhunderts erstrebte Dichterbild, und Buchner nutzt sie als Illustration seiner theoretischen Auslegungen, indem er in seiner Verarbeitung des Mythos in erster Linie dessen künstlerisch-theologischen Aspekt akzentuiert. Dies wird besonders deutlich im ›Loblied‹, das Orpheus als Dank für seine Errettung und für das Gelingen seines Unterfanges nach der Rückkehr aus der Unterwelt vorträgt. Dieses Loblied im vierten Akt knüpft an das Versprechen an, welches Orpheus im dritten Akt dem Unterweltherrscher Pluto gibt: Dies sei gesagt, dass ich nicht danken kann Wie du verdienst, doch will ich, Vater, tragen Dein Lob von hier bis zu den Sternen nan. [S. 30]
Bereits der »Inhalt des vierten Aktes« enthält allerdings eine erste änigmatische Bezeichnung des Dankempfängers: Orpheus [...] singt Dank Dem, welcher ihn geführt, mit Saiten und Gesang, Dem Meister aller Welt. [S. 31]
Die Auflösung erfolgt allmählich im Laufe des vierten Aktes. Die zurückgekehrten Orpheus und Eurydice begrüßen ihr Land und ihre Gefährten; die gegenseitigen Versicherungen der Liebe und Freude unterbricht Orpheus mit dem Aufruf, [...] den [zu] besingen, Der nur Alles schafft und thut, Unter welches Schutz und Hut Diese Gruft ich bin gegangen außer Welt und Licht und Tag Und auch wieder angelendet, da ich des genießen mag. [S. 32]
Der Austausch des Lobempfängers von den Göttern zu einem Gott wird von Schäfern und Nymphen zuerst nicht wahrgenommen: getreu dem pasto––––––––––– 56
Buchner: Poet, S. 7–8. »Es ist von langen Zeiten [...] herbracht / unter dem schein eines schlechten Wercks / (dergleichen sind die Mährlein und Fabeln) hohe und wichtige Sachen der Philosophie zuverbergen / damit nicht das jenige / was schwerlich und mit Mühe erfunden / aus dem Gedächtniß der Menschen außgelöschet / doch aber nicht bey dem schnöden Pöbel mißbraucht und verfälscht werden könte.« Buchner: Poet, S. 17–18.
68 ral-mythologischen Kontext stimmen sie zu, den Göttern für deren Geneigtheit und Wohlwollen zu danken. Orpheus’ Lobgesang gilt aber offensichtlich nicht dem Pluto der antiken Mythologie, dessen Macht sich bekanntlich nur auf die Schatten der Unterwelt beschränkte, sondern dem allmächtigen alttestamentlichen Schöpfergott. Der Lobgesang wird im Text als »Orpheus Lied« bezeichnet. Die sieben im elegischen Alexandriner verfassten Vierzeiler, die Orpheus vorträgt, alternieren mit den weiblich gereimten Verspaaren aus trochäischen Vierhebern des Chors. Dieser ruft alle Lebewesen auf, sich dem Lobgesang anzuschließen: Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! [S. 33];
wobei der vorletzte und der letzte Refrain-Zweizeiler von der vollkommenen Bekehrung der Thrazier durch Orpheus zeugen: Lasst uns alle die wir leben Unsers Meisters Güt erheben! [S. 34]
In der ersten Strophe wird der Gepriesene noch als König bezeichnet, die vorangestellten Epitheta und Antonomasien weisen ihn aber bereits als das Höchste Wesen aus, indem durch Anspielungen auf seine schöpferische Kraft sowie auf die Erschaffung der Welt versucht wird, sein Wesen zu bestimmen: Du Wesen außer End, du Wurzel aller Dinge, Und selbst dein Same dir, doch ohne Tag und Zeit, Dass beides aus dir fleußt, von dir ich, König, singe Und rühme deine Macht und große Gütigkeit. [S. 32]
In der zweiten Strophe wird eindeutig die biblische Version der Erschaffung der Welt angesprochen, und die Entstehung der Gewässer, des Himmels und der Himmelskörper den Zuschauern vor Augen geführt: Dein frommes Herze hat, o Vater, dich bewogen, Dass du dies weite Rund so herrlich ausgebaut, Die Wasser rumgeführt, um die den Himmel zogen, Da man bei stiller Nacht viel schöne Feuer schaut. [S. 33]
Die dritte Strophe ist der Erschaffung der Erde, der Berge und der Pflanzenwelt gewidmet: Du hast der Erden Last ganz meisterlich gehangen Recht mitten in die Luft stet, fest und unbewegt, Mit Bergen hier und da als einen Wall umfangen, Mit Blumen ausgekränzt und Bäumen schön belegt. [S. 33]
An diesen Vierzeiler schließt die erste Tanzeinlage an. Nach dem Refrain des Chors findet das Ballett der Bäume und der Felsen statt, die dem Aufruf des Chors folgen. Ein kurzes Echo-Gedicht, das von den Tanzenden gesprochen wird, enthält ein Rätsel, dessen Auflösung der biblische Name des Schöpfergottes ist:
69 BÄUME: Wo ist den wir loben? FELSEN: Oben. BÄUME: Was für Nam ist ihm erkiest? FELSEN: Der ist.57 [S. 33]
In der vierten Strophe besingt Orpheus die Erschaffung der Vögel, deren Tanz gleich nach dem Aufruf des Chors erfolgt: Der Vögel leichtes Volk von deiner Hand sich schwinget Hin durch das blaue Feld, die ungestützte Bahn; Bald fliehet es Wald ein und auf den Ästen springet, Stimmt dann in deiner Ehr ein süßes Danklied an. [S. 33]
In der fünften Strophe wird die göttliche Macht gepriesen, die die Tiere erschuf und ihnen das Leben ermöglicht: Der kluge Elephant dich seinen Meister ehret, Des starken Löwen Kraft von deinem Athem brüllt, Das wild und zahme Vieh durch deine Stimm sich mehret, Von Gaben deiner Hand ihm Durst und Hunger stillt. [S. 33]
Das Ballett der Tiere folgt dem Chorrefrain. In der sechsten Strophe preist Orpheus die Erschaffung des Menschen. Das gepriesene göttliche Wesen enthüllt sich endgültig als der Gott-Vater des Alten Testaments. Es wird explizit Schöpfer genannt, nach dessen Ebenbild der Mensch als anderer Herr der Welt geschaffen wurde. Dabei ist es der menschliche Verstand, der als göttlicher Funken im Menschen gesehen wird, welcher ihn zum Ebenbild Gottes macht: Dein Hauptwerk ist der Mensch, da hast du sehen lassen Was deine Hand vermag und du auch selber seist: Er ist dein Ebenbild, klug, witzig allermaßen, Wie du ein Herr der Welt und was dich Schöpfer heißt. [S. 34]
Der Refrain des Chores ändert sich und wird zu einem Aufruf an die Menschen, die Güte des Gottes zu preisen. Um so mehr unerwartet erscheint die letzte Strophe des Liedes, die einen humanistischen Lobgesang an den Menschen und seine Erfindungskraft, Fähigkeiten und Errungenschaften darstellt, die der Mensch vor allem seinem Verstand verdankt: Er sinnet Alles aus, ihm ist kaum was verborgen; Was je dem Aug entgeht, das siehet der Verstand; ––––––––––– 57
Der hebräische Name Gottes Jahwe bedeutet in der Übersetzung soviel wie ›er ist da‹ (eine Verbform in der 3. Person Sg.). In den jüdischen und christlichen Traditionen wird der Name Jahwe durch die Bezeichnung ›der Herr‹ ersetzt. Ferdinand van Ingen hat darauf hingewiesen, dass das Echo als beliebtes Stil- und Ausdrucksmittel nicht nur bei den Liebesdichtungen, sondern auch in der religiösen Lyrik eine wichtige Rolle spielte. Das Echo wurde als Simme der Natur aufgewertet, die zwischen den himmlischen und irdischen Sphären vermittelte. Vgl. Ferdinand van Ingen: Echo im 17. Jahrhundert. Ein literarisch-musikalisches Phänomen in der Frühen Neuzeit. In: Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen 65, 2 (2002), S. 8, 34, 50ff.
70 Er bauet Stadt und Feld, weiß Alles zu besorgen, Spannt seinen Segel auf und schifft in fremde Land. [S. 34]
Dieser lebensbejahende, in der humanistischen Tradition der Renaissance die Souveränität des Menschen betonende Liedschluss ist überraschend. Allerdings wird Orpheus’ Monolog durch den Einfall der Bacchantinnen unterbrochen, der nur dank der Einmischung des Himmels abgewendet werden kann, so dass das in der letzten Strophe entworfene Bild des beinahe allmächtigen Menschen wieder relativiert wird.58 Insgesamt sind es sieben Strophen, die für die sieben Tage der Erschaffung der Welt stehen, auch wenn es keine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Stropheninhalt und den biblischen Schöpfungen der entsprechenden Tage gibt. Dadurch wird die Verbindung zwischen dem göttlichen und dem dichterischen schöpferischen Prozess evoziert. Die Korrelation des Schöpfer-Topos mit dem Künstler-Ideal wird zusätzlich durch die Bezeichnung Gottes als »Meister« und dessen Werkes als »meisterlich« in den Zeilen neun und siebzehn erzeugt, die auf die Invocatio des Sonetts An GOtt den Heiligen Geist von Andreas Gryphius anspielt. In diesem Inspirationsgedicht, das die 1637 erschienene Sammlung der Lissaer Sonette eröffnet, wird Gott als »Meister aller Kunst«59 apostrophiert. Zudem fungiert Buchners Orpheus als poeta theologus, der dem einzigen alttestamentlichen Gott dankt und ihn gleichzeitig predigt. Orpheus’ Loblied steht damit im Einklang mit den zeitgenössischen und schließlich von Buchner selbst geäußerten Vorstellungen, dass Sintemahl die allerältesten Poeten / Musäus / Linus / Orpheus / und andere / nur von natürlichen sachen / von Ursprung der Dinge / und Fortpflantzung derselben / was es mit den Göttern für eine Gelegenheit habe / wie Sonne und Mond ihren Lauff verrichten / und was dergleichen mehr gewesen / geschrieben haben.60
3.1.4. Der göttliche Orpheus. Orpheus und Eurydice in der Tradition der christlichen Allegorese. Christianisierung des Mythos Die Gleichsetzung der von dem mythischen Dichter verkündeten Lehre mit der biblischen Version der Schöpfung hat eine lange Tradition. Von der Spätantike ––––––––––– 58
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Dieser humanistisch geladene Passus korrespondiert mit der Chorpartie der Geister in Striggios L’Orfeo am Ende des 3. Aktes, die ihrerseits auf das erste Stasimon in der Antigone des Sophokles zurückgeführt wird. Während allerdings bei Monteverdi/Striggio eindeutig die menschliche Hybris thematisiert wird, ist das Menschenlob bei Buchner eher positiv besetzt. Vgl. Striggio: L’Orfeo, S. 68. Es lassen sich darüber hinaus Parallelen mit dem Psalm 8, 7–9 feststellen. »O Feuer wahrer Lib! O Brunn der guten Gaben! O Meister aller Kunst! O Höchste Heilikeit! O dreymal grosser GOtt! O Lust / die alles Leid Vertreibt! O keusche Taub! O Furcht der Höllen Raben!« Andreas Gryphius: Gedichte. Eine Auswahl. Text nach der Ausgabe letzter Hand von 1663. Hg. v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 2000. Buchner: Poet, S. 20.
71 über das Mittelalter und die Renaissance bis ins 17. Jahrhundert hinein blieb die Überlieferung lebendig, Orpheus, an dessen Historizität nie Zweifel bestand, habe während seines Aufenthalts in Ägypten sein Wissen aus mosaischen Schriften geschöpft und sich als Schüler Moses’ zum Monotheismus bekannt.61 Bereits in der hellenistisch-jüdischen und später der frühchristlichen Tradition herrschte die Überzeugung vor, dass die gesamte griechische Philosophie im Alten Testament wurzelte. Allerdings vermittelten die Philosophen sowie Dichter dem der Offenbarung noch nicht gewachsenen Volk die göttliche Wahrheit in fabelhafter Verschleierung. Die Auffassung von Orpheus als Monotheisten geht u. a. auf den ins 2. Jh. v. Chr. – Mitte 1. Jh. n. Chr. datierten apokryphen Text zurück, der als Testament oder Palinodie bezeichnet wird.62 Die Palinodie wird in den Werken der Kirchenväter bis in das 5. Jahrhundert zitiert. Der Ruhm des Orpheus als poeta theologus blieb bis in die Renaissance unantastbar und erreichte vor allem in der neuplatonischen Philosophie von Marsilio Ficino seine Vollendung.63 Zivilisierender Heros, Garant einer planvollen Ordnung, Religionsstifter und Archeget der Kultur, wird Orpheus von Ficino zum priscus theologus erhoben, welcher dank der vierfachen Inspiration der göttlichen Offenbarung am nächsten steht. Der Nachhall dieser traditionel––––––––––– 61
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Eine weniger verbreitete Variante, die auf den jüdisch-hellenistischen Schriftsteller Artapanos zurückgeht, identifiziert dagegen Mose mit Orpheus’ Schüler Mousaios (Musaeus). Vgl. Fritz Graf: [Artikel] Orpheus. Teil II. 2: Christliche Rezeption. In: RGG4 6 (2003), Sp. 674. Der Text ist ein Teil der sogenannten Orphischen Schriften oder Orphica, die in der Renaissance von Marsilio Ficino wiederentdeckt und ins Lateinische übersetzt wurden. Das als ǻȚĮșȘțĮȚ bezeichnete Gedicht wird heute als späthellenistische jüdische Fälschung betrachtet. Darin bekennt sich Orpheus vor seinem Schüler Musaeus zum Monotheismus und warnt ihn vor der Vielgötterei, welche er als die von ihm verbreitete Irrlehre widerruft. Verschiedene Versionen der Palinodie sind bei Pseudo-Justin, Clement von Alexandrien, Eusebius und Cyrill überliefert (vgl. Kern: Fragmenta, S. 245–247). D. P. Walker erwähnt eine fast vollständige frühneuzeitliche Ausgabe von Orphischen Fragmenten: Henri Estienne: ȆȠȒıȢ ijȚȜȩıȠijȠȢ. Poesis philosophicae, Empedoclis, Parmenidis, Xenophanis, Cleanthis, Timonis, Epicharmi. Adiuncta sund Orphei illius carmina qui à suis appellatus fuit ‘Ƞ șİȠȜȩȖȠı. Item, Heracliti et Democriti loci quidam, & eorum epistolae. Paris 1573 (andere Ausgabe 1588). Vgl. Walker: Orpheus the theologian, S. 100–120. So zählte Augustinus Orpheus zu den alten Dichtertheologen, die in der vorchristlichen Zeit über göttliche Dinge berichteten. Vgl. Aug. civ. 18, 14; 18. Thomas von Aquin wiederholte dies. Vgl. Thomas von Aquin: Komment. in Aristot. an. 1, 12, 190. In: Thomas de Aquino. In Aristoteles librum De anima commentarium. Hg. v. Angelo M. Pirotta. Torino 41959. Ficino und Ronsard belebten den antiken Begriff poeta theologus wieder und sahen Orpheus als einen Dichter in dieser Reihe. Vgl. Pierre de Ronsard: Abbregé de l’Art Poetique Françoys, 1565. In: OEuvres Complètes de Ronsard. Hg. v. Vaganay. 7 Bde. Bd. 4: Les poèmes. Paris 1923, S. 471. Für Ficino enthielt die Lehre des Orpheus drei theologische Wahrheiten, die seine eigene christliche Auffassung bestätigten: den Monotheismus, das Trinitätsdogma und die Schöpfungslehre der Genesis. Zu Ficino sowie zur Auffassung der Orphica in der Renaissance vgl. v. a. Walker: Orpheus the theologian. Zum renaissancistischen Bild des Orpheus als poeta theologus vgl. auch Buck: Der Orpheus-Mythos. Zum Dichtertheologen Orpheus im Mittelalter vgl. Friedman: Orpheus. Heitmann: Orpheus im Mittelalter.
72 len Auffassung der Orpheus-Gestalt ist in Buchners Drama noch deutlich zu spüren. Bei einer genaueren Betrachtung des Buchnerschen Orpheus wird allerdings deutlich, dass die Berührung mit dem christlichen Gedankengut sowie mit der jahrhundertlangen Tradition der Auslegung des Orpheus-Mythos Buchners dramatisches Werk intensiv geprägt hat. Seit der Spätantike wurde der Orpheus-Mythos im Sinne des christlichen Glaubens umgedeutet. Bei den frühchristlichen Autoren als Präfiguration Christi aufgefasst,64 wird die Figur des mythischen Dichters im mittelalterlichen Schrifttum im Sinne der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn vollständig mit Christus identifiziert,65 wobei Orpheus’ Katabasis ausdrücklich dem Abstieg Christi in die Hölle zugeordnet66 und Eurydike als menschliche Seele oder humana natura gedeutet wird.67 Diese interpretatio christiana erlebt ihre letzte Blüte im Schrifttum des 17. Jahrhunderts.68 Vor allem die gegenreformatorisch gesteuerte Literatur in den romanischen Ländern (insbesondere in Frankreich und in Spanien) hat die theologische Allegorese des 14. und 15. Jahrhunderts wiederbelebt.69 Außer geistlichen Emblemsammlungen setzten zahlreiche mythologische Nachschlagewerke, aber auch die ohne Kommentare undenkbaren Ovidausgaben die Tradition der christlich-allegorischen Interpretation fort.70 Auch dieser Tradition trägt Buchners Orpheus und Eurydice Rechnung. Die Parallele zwischen der Orpheus-Figur des Dramas und Christus wird freilich nicht besonders stark expliziert. Sie ist aber durchaus markiert, am deutlichsten an zwei Textstellen. Zum einen ist die Figur des Neides signifikant, die mit dem typischen Mythosverlauf unvereinbar ist und – auf den ersten Blick unbegründet – eine aktive Rolle in der Handlung spielt. Bedenkt man allerdings, dass Neid ein biblischer Aspekt des Teufels ist, seine Figur im Text also als personifizierte Lehre der christlichen Theologie erscheint, so enthüllt sich die in Opernkostüm verkleidete Orpheus-Geschichte partiell als Allegorie der Schöpfung.71 ––––––––––– 64 65 66
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Clem. Alex. protrept. 1, 1–6. Eusebius vita Contstantini 14, 5f. Vgl. z. B. Ovide moralisé en prose. Texte du quinzéme siècle. Hg. v. Ch. de Boer. Amsterdam 1954, S. 264. Der Bericht über die Höllenfahrt Christi bildet den zweiten Teil der apokryphen Schrift, die als Acta Pilati (Nikodemus-Evangelium) bezeichnet wird und bis ins späte Mittelalter von der Kunst und Literatur intensiv rezipiert und bearbeitet wurde. Vgl. Nikodemus-Evangelium. In: Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Hg. v. Alfred Schindler. Zürich 2004, S. 489–543. Zur anagogischen Deutung des Orpheus-Mythos vgl. Heitmann: Typen der Deformierung antiker Mythen, S. 63ff. Vgl. Heitmann: Orpheus im Mittelalter, S. 287ff. Vgl. z. B. Augustin Chesneau: Orpheus eucharisticus sive Deus absconditus. Paris 1657 oder Baltasar Gracián: El criticȩn. In: Obras completas. Hg. v. A. del Hoyo. Madrid 1960, S. 705. Der berühmteste Autor ist wahrscheinlich Calderon mit seinem Auto sacramentale Der göttliche Orpheus. Vgl. Guthmüller: Formen des Mythenverständnisses um 1500, S. 39f. »Denn Gott hat den Menschen geschaffen / zum ewigen Leben / vnd hat jn gemacht zum Bilde / das er gleich sein sol / wie er ist. Aber durchs Teufels neid / ist der Tod in die Welt kommen / Vnd die seins teils sind / helffen auch dazu.« Das Buch der Weisheit 2, 23–25
73 Der Neid allegorisiert die natürliche Unordnung, die durch die menschliche Sünde entstanden ist, und personifiziert diese Sünde selbst. Die Katabasis des Orpheus und die Rettung der Eurydike wird zur Allegorie der Passion Christi, dessen Aufopferung die Menschen von der Sünde erlöst hat. In der von Buchner geschaffenen Orpheus-Gestalt kann an dieser Stelle eine Christus-Figur vermutet werden, die Liebe ist und in sich trägt, den Tod überwindet und die Tugend, Schönheit und Kunst – womöglich auch die gerettete menschliche Seele in Gestalt der Eurydice – wieder zu den Lebenden bringt. Die mythologische Fabel und die christliche Geschichte und Doktrin verschmelzen hier miteinander. Der zweite signifikante Hinweis erfolgt im Lied des Orpheus nach dem Einfall der »Thracischen tollen Weiber«, an deren Beispiel Orpheus den Pöbel verurteilt: Es rase nur die Thorheit wie sie will, Ich bin doch wer ich bin Und ringe stets nach dem gefassten Ziel Mit freiem Zügel hin.72 [S. 34]
Orpheus’ Worte »Ich bin doch wer ich bin« erscheinen als ein Zitat Gottes, der sich in denselben Worten vor Moses offenbahrt: »ego sum qui sum«73. Die Umdeutung des Orpheus-Mythos ins Christliche beschränkt sich somit nicht nur auf die Gleichsetzung des Schicksals des mythischen Helden mit dem Leben und der Passion Christi, sondern erstreckt sich in diesem Passus auf die ›Identifikation‹ des Orpheus mit Gott dem obersten Schöpfer.74 Damit kann im Hinblick auf Buchners Mythosverarbeitung von einer Christianisierung des Or–––––––––––
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(D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Hg. v. Hans Volz u. Heinz Blanke. 2 Bde. München 1972. Bd. 2, S. 1705). Die Ethicen des 17. Jahrhundert assoziieren nicht selten den Pöbel mit Hass und Neid, die unentwegt der Tugend folgen und von dieser verachtet werden. Vgl. Justus Georg Schottel: Ethica Die Sittenkunst oder Wollebenskunst / In Teutscher Sprache vernemlich beschrieben in dreyen Bücheren [...]. Wolfenbüttel 1669, S. 160: »Folget dem Glücke und der Tugend nach der Haß und die Abgunst / ey so begleitet die Tugend zugleich auch die Verachtung des Neides und Hasses / und tritt endlich die sieghafte Tugend dem untugendlichen und untauglichem Hasse den starrenden Hals entzwey. Dieses ist also die Weltart / daß / was in der Welt gut ist / müsse wenigen gefallen / und vielen mißfallen. Was der Pöbel und die Zunft der Neidlinge / so die Warheit übel / und nichts zum besten auslegen / sagen / schreien und richten / muß einen ehrliebenden nicht bewegen: Man muß nicht fort hören und billigen / was viele plaudern und sagen / und daher so fort eine Ursach des Hasses nehmen / sonderen man muß vielmehr dem jenigen / was recht und mit Warheit gesaget wird / nachdenken.« »Dixit Deus ad Moysen: Ego sum qui sum. Ait: sic dices filiis Israël: Qui est, misit me ad vos«. Ex. 3, 14. Vulgata Clementina. (Zitiert nach: Biblia Sacra vulgatae Editionis [...]. Köln 1609). Orpheus kann an dieser Stelle als Logos, die zweite Person der Dreifaltigkeit in ihrer Schöpfungsmittlerschaft und Erhellung des Sinnes der Schöpfung aufgefasst werden. Diese Bedeutung des Logos geht auf Thomas von Aquin zurück. Vgl. Notger Slenczka: [Artikel] Logos. Teil II: Fundamentaltheologisch. In: RGG4 5 (2002), S. 494–499. Die Frage, inwieweit Buchner bewusst auf diese Gleichsetzung Bezug nimmt, kann allerdings nicht eindeutig beantwortet werden.
74 pheus-Mythos gesprochen werden, ohne dass allerdings der Mythos – wie in den zahlreichen mythologischen Handbüchern der Zeit – durch figurale Allegorese auf seinen ›einzig wahren christlichen‹ Sinn reduziert wird.
3.1.5. Fazit Die palimpsestartige Überlagerung der verschiedenen, aber über die allegorische Tradition und Überlieferung nicht hinausgehenden Mythos-Deutungen in Buchners Orpheus lässt die Vermutung zu, dass sich Buchner in seiner Mythos-Verarbeitung auf die traditionelle Lehre vom mehrfachen Schriftsinn stützt. Neben dem sensus litteralis wird der moralisch-allegorische Sinn expliziert: Orpheus als Tugend überwindet den Neid und die Hindernisse, die dieser ihm in den Weg legt, und liefert den Zuschauern ein Nachahmungsbeispiel. Die allegorisch-moralische Deutung kulminiert in Orpheus’ Kommentar zu dem von den Göttern abgewendeten Einfall der Bacchantinnen: der Torheit des neidischen Pöbels wird die kluge stoische weise Haltung des einzelnen Individuums entgegengehalten, das nach Tugend strebt und dafür vom Himmel mit dem ewigen Ruhm belohnt wird.75 Der sensus anagogicus bleibt dagegen im Hintergrund; die Möglichkeit einer ›christologischen‹ Lesart des Textes ist allerdings durch deutliche Markierungen im Text gegeben. Auch das höfische Fest als Anlass aktualisiert den Orpheus-Mythos. Buchners Mythos-Version stellt somit ein gelungenes Beispiel dafür dar, wie verschiedene Traditionen der Mythos-Auslegung aufgenommen, miteinander kombiniert und verarbeitet werden konnten. Außerdem bekommt das Verfahren der Allegorese eine neue zusätzliche Funktion: vor allem mit Hilfe der anagogischen Auslegung wird der Orpheus-Mythos als Künstler-Mythos aktualisiert und christlich-theologisch begründet. Im Ganzen erweist sich Buchners Drama folglich als Kombination aus gut Bewährtem und Neuem: der neuen literarischen Form, der noch nicht erprobten Art des Dichtens (Versuche am Madrigalvers, an Daktylen), welche die Erschaffung, Präsentation und Etablierung einer neuen Gattung zum Ziel hatte, steht ein im Aufbau auf den antiken und italienischen Vorlagen basierter, in der Mythos-Deutung noch der alten Tradition der Allegorese und des vierfachen Schriftsinns verhafteter Text gegenüber. Allerdings ist die Funktion und das Ziel, zu welchem der Orpheus-Mythos den anderen mythologischen Sujets vorgezogen, eingesetzt und umgedeutet wird, von signifikanter Neuheit und Relevanz. Durch die Figur des prophetischen Dichter-Theologen wird das Bild eines perfekten Poeten entworfen, welches der Aufwertung des dichterischen Status und der noch nicht überall anerkannten Dichtung in der deutschen Spra––––––––––– 75
Die vom Autor erwünschte Deutung wird auch im »Inhalt des vierten Aktes« vorgetragen: »Wo Tugend, da ist Feind; wo Kunst, da findt sich Neid, Und sie behält doch Platz, Gott wendet ihre Zeit.« Buchner: Orpheus und Eurydice, S. 31.
75 che dient. Daneben soll – nicht zuletzt mit dem Versuch der Implementierung einer neuen Gattung – die deutschsprachige Literatur an die gesamteuropäische Entwicklung anschließen. Die Gestalt des Orpheus, des Erfinders und Erneuerers, des Urdichters, erscheint für diese Aufgabenstellung von unüberschätzbarer Bedeutung, hat er – und als sein Nachfolger auch Buchner – doch gelehrt, [...] was zu thun oder zulassen sey; nicht zwar durch gebiethen und verbiethen / oder durch scharffsinnige Schlußreden [...] sondern durch allerley Exempel und Fabeln / welches die alleranmuthigste Art zu lehren ist / und bey denselben / die sonst nicht so gar erfahren sind / zum meisten verfängt: in dem Sie hierdurch ohn allen Zwang und mit einer sondern Lust / fast spielend zur Tugend / und dem was nützlich ist / angeführet werden.76
3.2.
Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Orpheus (Wolfenbüttel 1659)
3.2.1. Einleitung. Dramenaufführungen am Wolfenbütteler Hof von Herzog August dem Jüngeren Die Aufführung der Oper Orpheus fand am 20. August 1659 zu Ehren des Geburtstags der Herzogin Sophia Elisabeth zu Braunschweig und Lüneburg statt, der Gemahlin des regierenden Herzogs August des Jüngeren und der Stiefmutter von Anton Ulrich. Als Komponist der nicht überlieferten Musik wird auf dem Titelblatt Johann Jacob Löwe genannt. Löwe kam im Jahre 1655 auf Empfehlung seines Lehrers Heinrich Schütz nach Wolfenbüttel. Bis dahin bekleidete Schütz, der Sophia Elisabeth wohl während ihres Aufenthalts am Hof des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel kennengelernt hatte, selbst das Amt des Wolfenbütteler Kapellmeisters ›von Haus aus‹.77 Über den Lebensweg von Johann
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Buchner: Poet, S. 29–30. Geborene Herzogin zu Mecklenburg, war Sophia Elisabeth 1629 wegen der Kriegswirrnisse gezwungen, ihren Hof zu verlassen. Sie fand Unterkunft bei ihrem Stiefonkel Landgraf Moritz von Hessen-Kassel, dessen Hof vor dem Krieg ein berühmtes Kulturzentrum mit dem ersten ständigen Theater in Deutschland – dem Ottoneum – war. Herzog Moritz förderte die Karriere von Heinrich Schütz, der zuerst sein Hofmusiker war und später zum Studium nach Italien zu Giovanni Gabrieli geschickt wurde. Vermutlich fand die Bekanntschaft des Komponisten mit der jungen Herzogin zu dieser Zeit statt. Es ist auch wahrscheinlich, dass Sophia Elisabeth trotz des Krieges allgemeine Kenntnis über die Hoffeste erlangt hat. Später heiratete sie im Alter von 18 Jahren den Herzog August den Jüngeren von Braunschweig und Lüneburg und brachte als seine dritte Gemahlin drei Kinder zur Welt. Für eine kurze Zeit (1652–1656) dominierte sie die Hoffeste in Wolfenbüttel. Traditionell veranstaltete sie zum Geburtstag ihres Gemahls einen Triumphzug, dem ein Bankett folgte, an welches sich ein von ihr komponiertes Ballett oder eine andere Veranstaltung (zum Beispiel im Jahre 1654 die Oper Seelewig von Georg Philipp Harsdörffer) anschloss. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 57f.
76 Jakob Löwe von Eisenach ist wenig bekannt.78 Geboren 1628 in Wien, erhielt er dort seine erste musikalische Ausbildung. Seit 1655 als Kapellmeister in Wolfenbüttel tätig, hatte er vermutlich kein gutes Verhältnis zu Herzog August.79 Im Frühling 1663 verließ er Wolfenbüttel und wurde Kapellmeister bei Herzog Moritz von Sachsen zu Zeitz. Von dort wurde er 1665 an den Kurfürsten von Brandenburg und an andere Höfe empfohlen. Für siebzehn Jahre verlieren sich seine Spuren, seit 1682 wird er als Organist zu St. Nicolai in Lüneburg erwähnt. Diese Stelle behielt er bis zu seinem Tod im Jahre 1703.80 Orpheus gehört zu Anton Ulrichs siebzehn dramatischen Werken, die im Zeitraum zwischen 1656 und 1663 als Gelegenheitsdichtungen entstanden sind. Anlass war meist der Geburtstag von Herzog August.81 Alle diesen Werke erschienen anonym, die Musik wurde bisher nicht aufgefunden. In der Forschung wurde lange vermutet, dass Johann Jacob Löwe die Texte vertont hat, obwohl sein Name nur auf der Titelseite des Orpheus genannt wird. Dieser Umstand führte Frederick Robert Lehmeyer zu der Hypothese, dass die Herzogin Sophia Elisabeth die Musik für die meisten Bühnendichtungen komponiert hat.82 In der Komponistenfrage konkurrieren seitdem diese beiden Hypothesen. Alle dramatischen Werke von Anton Ulrich wurden auf der kleinen Bühne im Wolfenbütteler Schloss aufgeführt, deren Aufbau wirkungsvolle szenische Effekte und den Einsatz anspruchsvoller Maschinerie ermöglichte. Da Herzog August der Jüngere keine Schauspieltruppe unterhielt, wirkten Familienmitglieder, Hofpersonal und Gäste als Sänger, Tänzer und Schauspieler mit.83 Es ist ––––––––––– 78
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Das Adelsprädikat wurde seinem Vater, dem in Eisenach geborenen sächsischen Residenten am Wiener Hof verliehen. Vgl. Ferdinand Sasse: Wolfenbütteler Komponisten des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1921. Sasse schließt dies aus der Tatsache, dass Löwe seine Werke anderen Mitgliedern der fürstlichen Familie, nicht aber dem Herzog – seinem unmittelbaren Brotgeber – widmete. Er hinterließ eine Witwe und mehrere Kinder in dürftigen Verhältnissen. Vgl. Sasse: Wolfenbütteler Komponisten, S. 50. Vgl. auch Paul Raabe: Sammler. Fürst. Gelehrter: Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg, Braunschweig 1979. S. 265–278. Die Gebrauchssituation ist nicht bei allen diesen Bühnenwerken nachweisbar. Die Titelseiten weisen bei neun Dichtungen auf den Geburtstag Herzog Augusts als Anlass hin, drei sind dem Geburtstag der Herzogin Sophia Elisabeth gewidmet, vier wurden bei den Hochzeiten von Anton Ulrichs Schwestern Maria Elisabeth und Sibylla Ursula aufgeführt. Das früheste Werk Frühlings-Ballet entstand zur Feier seiner eigenen Hochzeit und war gleichzeitig eine Huldigung für Sophia Elisabeth und August. Vgl. Blake Lee Spahr: Einleitung. In: Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Bühnendichtungen. Bd. 1, Teil 1. Hg. v. Blake Lee Spahr (Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg. Werke. Hg. v. Rolf Tarot. Stuttgart 1982), S. IX–XXXI, hier S. XII. Frederick Robert Lehmeyer: The Singspiele of Anton Ulrich von Braunschweig. Diss. masch. Berkeley 1970, S. 118. Die sonstigen gedruckten Textbücher erhalten keine Informationen zu den Komponisten. Auch Spahr und Smart vermuten, dass einige Partituren von Sophie Elisabeth stammen. Vgl. Spahr, S. XII. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 58. Nach der Hypothese von Pierre Béhar waren die Singspiele – und die »Lieder« in den Balletten – professionellen Sängern vorbehalten. Er argumentiert damit, dass Anton Ulrich die Namen der in seinen verschiedenen Singspielen auftretenden Schauspieler nie angibt, wohingegen alle Ballette mit einer Liste der Adeligen und Höflinge versehen sind, welche
77 anzunehmen, dass Anton Ulrich als Regisseur auftrat und gewöhnlich eine Hauptrolle übernahm.84
3.2.2. Orpheus: Pastorale und Singspiel Orpheus ist das zweite von Anton Ulrichs drei Bühnenwerken zu Themen der antiken Mythologie. In der Forschung wurde früh darauf hingewiesen, dass diesem Drama das Libretto von Alessandro Striggio zu Claudio Monteverdis L’Orfeo zugrunde liegt.85 Doch überträfe es, wie Schmid und Spahr betonen, die italienische Vorlage an dramatischer Kraft und sprachlicher Intensität.86 Auch Lehmeyer, der teilweise eine große Nähe des Orpheus zu L’Orfeo sieht und die Übernahme einiger poetischer Formen sowie ihre eigenwillige Umstellung in der dramatischen Struktur durch Anton Ulrich hervorhebt, kommt zu dem folgenden Schluss: »Of the two works Anton Ulrich’s is the more dramatic, or, if you will, more theatrically effective.«87 In der Tat weist Anton Ulrichs Orpheus starke Einflüsse von Striggios L’Orfeo auf: einzelne Szenen sind direkt nachgedichtet, und auch die formale Gestaltung orientiert sich an diesem Prätext. Daneben hat Anton Ulrich aber auch auf die Bücher 10 und 11 der Metamorphosen des Ovid zurückgegriffen. Somit erweist sich sein Librettotext als Ergebnis einer mehrschichtigen Rezeption. Im Gegensatz zu seinen mythologischen Bühnenwerken Iphigenia und Andromeda, deren Zugehörigkeit zur Gattung ›Singspiel‹ auf dem Titelblatt angegeben wird, bezeichnet Anton Ulrich den Orpheus als »tragisches Getichte«. In Anlehnung an seinen italienischen Prätext steht Orpheus in der Tradition der –––––––––––
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die Rollen spielten. Béhar erklärt dies aus dem möglichen Mangel an schauspielerischen Talenten bei den Adeligen wie auch durch den Etikettezwang, der ihnen den Tanz empfahl und die verrufene Schauspielfunktion verbot. Pierre Béhar: Anton Ulrichs Ballette und Singspiele. Zum Problem ihrer Form und ihrer Bedeutung in der Geschichte der deutschen Barockdramatik. In: Daphnis 10 (1981), S. 775–792, hier S. 778, 783. Diese Vermutung liegt nahe, denn die Oper erfordert in der Tat besondere Singfähigkeiten. Sara Smart meint dagegen, dass die Mitglieder der Herzogsfamilie in den Prologen doch auftreten konnten. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 152. Vgl. Spahr, S. XI. Claudio Monteverdi war mit dreiundzwanzig Jahren in das Orchester des Herzogs von Mantua eingetreten. Im Kreis seiner Kollegen, darunter namhafte Komponisten wie Giaches de Wert und Giovanni Giacomo Gastoldi, fand er reiche Anregungen zu seinem späteren Werk. Die Reisen, die er 1595 nach Ungarn und 1599 nach Flandern unternommen hatte, ermöglichten ihm die Bekanntschaft mit der Musikpraxis anderer führender europäischer Orchester und mit anderen Komponisten. Dank diesen Anregungen entstanden in diesen Jahren die Madrigale, welche ihren Niederschlag auch in den Hirtenszenen von L’Orfeo fanden. Die Favola in musica l’Orfeo wurde am 22. Februar 1607 in Palazzo Ducale in Mantua vor einem gelehrten erlesenen kleinen Publikum uraufgeführt. Sie wurde später am Hoftheater wiederholt, auch in anderen Städten fanden die Aufführungen statt. Vom ungewöhnlichen Erfolg der Oper zeugen zwei Druckausgaben von 1609 und 1615, die sich beide u. a. im Besitz von Francesco Gonzaga befanden. Vgl. Spahr, S. XVIII. Vgl. auch Schmid: Orpheus, S. 288. Lehmeyer: The Singspiele, S. 103.
78 Pastorale. Als komplexes Phänomen verfügt die Pastorale über eine Flexibilität, die unter dem Gattungsbegriff des Schäferdramas das Nebeneinander von inhaltlich ganz unterschiedlich ausgerichteten Typen ermöglicht.88 Das Werk Anton Ulrichs, das auf den ersten Blick zum mythologischen Schäferdrama gehört, weist daneben einige Merkmale des allegorischen Schäferdramas auf, vor allem das geistlich-moralische Anliegen. Allerdings stellt der Orpheus-Mythos selbst diese utopische Welt bereits in Frage, indem er sie mit der Wirklichkeit des Todes konfrontiert. Sowohl bei Striggio als auch bei Anton Ulrich wächst im Verlauf der Handlung Orpheus’ Einsamkeit und Isolation, bis er am Ende aus dem heiteren pastoralen Miteinander gänzlich ausgeschlossen wird. Durch den Tod und die anschließende Apotheose des Orpheus wird diese Welt wiederhergestellt. Die ältere Forschung sah in Orpheus ein Musikdrama mit Liedeinlagen.89 In der letzten Zeit hat sich dagegen die Auffassung etabliert, dass es sich bei Anton Ulrichs Orpheus (wie bei seinen anderen Singspielen) um eine sogenannte Liedoper handelt. Diese bestand überwiegend aus Liedern statt Arien,90 wurde aber vollständig vertont. Nach Béhar bestand sie wie die traditionelle Form der italienischen Oper aus einer wechselnden Folge von Liedern und Rezitativen. Als ein weiterer Hinweis auf die Vertonung des ganzen Werkes kann der Versbau in den Singspielen betrachtet werden: man findet fast keinen Alexandriner, sondern unregelmäßige, zum Singen bestimmte Verse. Auch Aikin kommt zu dem Schluss, Orpheus sei wie alle anderen Singspiele von Anton Ulrich vollständig vertont gewesen.91 Den zeitgenössischen Poetiken, die eine Klassifizierung der ›Schauspiele‹ vornehmen, entsprechend, steht Orpheus in der Tradition der Hirtenspiele. Dies rechtfertigt die Einteilung des Dramas in drei Akte: Ist in diesen Spielen gemein die Abtheilung derselben / als der Vorredner / die Aufzuege / fuenf Handlungen / (deren die Hirten-Spiele nur drey zu haben pflegen) und den Schluß. Zu diesen allen ist zu rechnen der Chor / oder die Musik / dienend dergestalt / daß zwischen ieder Handlung ein Lied gesungen werden sol. Dieses Lied sol die Lehren / welche aus vorhergehender Geschichte zuziehen / begreiffen / und in etlichen Reimsaetzen mit ei––––––––––– 88
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Dubowy unterscheidet in Anlehnung an Garber das mythologische Schäferdrama, das nicht-mythologische Liebesdrama und das allegorische Schäferdrama. Vgl. Norbert Dubowy: Zur Pastorale in der Oper des deutschsprachigen Raums: Der Ansbacher Narciso von 1697. In: Engelhardt (Hg.): in Teutschland noch gantz ohnbekandt, S. 169–195, hier S. 175. Lehmeyer und Gerkens tendieren zu der Auffassung, dass es sich bei Anton Ulrichs ›Singspielen‹ um Dialogopern gehandelt hat, in denen nur die Arien gesungen wurden. Gerkens zufolge wird dies dadurch bestätigt, dass Anton Ulrich nur in den Arien »seine volle poetische Kraft entfaltet, die Zwischentexte dagegen kurz und schlicht hält, fast nachlässig behandelt und ihnen lediglich die Funktion zubilligt, die Handlung voranzutreiben«. Gerhard Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum und sein Erbauer Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Braunschweig 1974, S. 25. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 187. Béhar: Anton Ulrichs Ballette und Singspiele, S. 783. »I concur with Béhar’s conclusion that this and other Singspiele by Anton Ulrich were sung in their entirety.« Aikin: A language for german opera, S. 203.
79 ner oder mehr Stimmen deutlichst hoeren lassen. [...] Man koente auch zur Nachfolge der Alten / an stat der Chorlieder jedes Mal zwischen den Handlungen dantzen.92
Diese Gattung bietet auch größere Freiheiten in Bezug auf Vers- und Reimtypen sowie Strophenformen.93 Allerdings impliziert die Vertonung des Textes neue Anforderungen an die metrische Gestaltung des Dramas. Bereits Striggios Text ist im Vergleich zum Prototyp der Gattung ›Oper‹, Rinuccinis L’Euridice, weniger rhetorisch: während Rinuccini bei der deklamatorischen Rezitativsprache des Pastoraldramas bleibt, sind viele Textstellen bei Striggio in ihrem Reimschema und Versmaß bereits von musikalischen Vorstellungen durchdrungen.94 Das Libretto von Anton Ulrich setzt diese Entwicklung fort: sein Text ist weniger rhetorisch und der dramatische Ablauf ist konzentrierter. Judith Aikin behandelt Anton Ulrichs Singspiele im Rahmen ihrer Untersuchung zur Entwicklung der Opernsprache in Deutschland als Rezeption des italienischen Parlando. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass Orpheus eine vollkommene und komplette Adaption der Regeln darstellt, die Caspar Ziegler in seiner 1653 veröffentlichten Abhandlung Von den Madrigalen aufgestellt hat.95 Anton Ulrich verwendet fast keine alexandrinischen Verse. Ausnahmen bilden lediglich die Rede- oder Szeneschlüsse, wo sie zur Schaffung der Emphase gebraucht werden. Die durchschnittliche Verslänge ist kürzer, am häufigsten sind drei-, vier- und fünffüßige Verse. Er variiert und kombiniert verschiedene Reimarten, wobei die reimenden Zeilen häufig von unterschiedlicher Länge sind. Als Ergebnis können die Lieder und Arien leichter von den Dialogen und Rezitativen unterschieden werden. Im Versbau gelingt Anton Ulrich eine deutsche Entsprechung des Secco in den Dialogen: durchgehend jambische zwei- bis sechsfüßige Verse in einer willkürlichen Anordnung und mit verstreuten Reimen, häufig auch mit Enjambement und Zäsur. Die Chor- und Solopartien, die in seinen frühesten Singspielen einen strophischen Aufbau aufwiesen, weichen im Orpheus einer neuen Technik. Mit der Verwendung der jambischen Madrigalverse nähert sich Anton Ulrich dem zeitgenössischen italienischen Stil mit seinen Arioso-Passagen. Aikin vermutet, dass diese Partien als Versuche einer Implementierung von Arietten betrachtet werden können, die von Ziegler als notwendige Elemente einer Oper beschrieben worden sind.96 Anton Ulrich entwickelt auch eine Arienform, in der er Verse von verschiedener Länge und unterschiedliche Reimschemata kombiniert. Die Arien ––––––––––– 92 93
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Harsdörffer: Poetischer Trichter, S. 117. Dies entspricht der Gattung des Hirtenspiels, in welchem die Abwechslung der »Reimarten« (Versarten), »wann sie mit Verstand zu Werke gebracht ihr billiches Lob« hat. Harsdörffer: Poetischer Trichter, S. 88. »In Hirtenspielen werden allerhand Reimarten gebraucht / nach Begebenheit der vorwesender Haendel.« Harsdörffer: Poetischer Trichter, S. 97. Monteverdi war kein Verfechter des recitar cantando florentinischer Prägung, sondern er ging in seiner Erschaffung der Oper vom Madrigal aus. Vgl. Silke Leopold: Die musikalische Dramaturgie in Monteverdis »Orfeo«. In: Csampai u. Holland: Claudio Monteverdi, S. 98. Aikin: A language for german opera, S. 174, 194. Vgl. Aikin: A language for german opera, S. 195.
80 unterscheiden sich bereits deutlich von den Rezitativen. Als Beispiel dafür führt Aikin die Vorrede an, in der Anton Ulrich von unterschiedlichen Arienformen mit vielen metrischen Variationen – Soli, Wechsellieder (auch in der vierten Szene des ersten Aktes), Duette, Trios und Quartette – Gebrauch macht. Auch die Form der Dakapoarie wird von Anton Ulrich der deutschen Oper einverleibt, wobei er Daktylen mit Auftakt verwendet und die Länge der Zeilen variiert. Anton Ulrich liefert nicht nur Muster für den Versbau des Rezitativs, der Ariette und der Arie, sondern etabliert auch das Verhältnis zwischen Arie und Rezitativ, ohne auf die traditionelle strophische Liedform zu verzichten, welche meistens durch trochäische oder daktylische Verse konstituiert wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass Anton Ulrich bereits kürzere Verse, Jambus, Enjambement und eine kunstvolle Einsetzung der Zäsur präferiert und ausarbeitet, aber trotz seiner Versuche an Madrigalen und Dakapoarien noch die Liedform bevorzugt. Ein typisches Beispiel für deren Verwendung ist das Abschiedslied des Orpheus vor seiner Reise in die Unterwelt (I.6): ein trochäischer Sechszeiler mit Kreuzreim und alternierenden weiblichen und männlichen Kadenzen in den ersten vier Versen und einem zusätzlichen Verspaar mit neuem Reim und männlicher Kadenz. Diese Strophe wurde mit der Melodie des 146. Psalms aus dem französischen Hugenottenpsalter übernommen und fand ihre Verbreitung zuerst im deutschen Kirchenlied und später durch Opitz in der Schäferdichtung. Anton Ulrich verzichtet aber auch nicht vollständig auf den Alexandriner: der Schlusschor trauert in einem elegischen Alexandriner über Orpheus und Eurydice und reflektiert die Unbeständigkeit alles Irdischen. Weitere Verwendung findet der Alexandriner in der Anrede Irenes an Phoebus und im Dialog zwischen Irene und Mars im Prolog. Für eine stärkere Pointierung der Trostworte der Hirten in I.7 wird sogar ein jambischer Siebenheber eingesetzt. Anton Ulrich benutzt alle Reimarten, er verwendet neben dem reinen auch den unreinen Reim, der identische Reim ist bei ihm eher selten. Gerkens sieht für den Operntypus, wie Anton Ulrich ihn in seinem Orpheus einführt, die französische Tradition mit dem Drama von Pierre Corneille als Vorbild.97 Anton Ulrich strebt der bildreichen Sprache Corneilles nach und versucht vor allem, durch effektvolle Szenen die Dramatik des Bühnenwerks zu steigern. Überraschende Bühneneffekte und bunte und prächtige Szenen, die eine tiefe Wirkung auf die Zuschauer ausüben sollen, entsprechen dem Ziel der Verschmelzung vom Theater und höfischem Fest. Im Orpheus werden einige Charakteristika deutlich, die für das schlesische Drama typisch sind. Die Verwandtschaft mit der zeitgenossischen Tragödie manifestiert sich in der Darstellung der Grausamkeit, die im 17. Jahrhundert in Deutschland seit Opitz’ stoizistischer Lehre vom Trauerspiel, dem er die Aufgabe der Gemütsmedizin zuweist, als Schule der Affekte aufgefasst wird.98 Im Orpheus sind es drei Sze––––––––––– 97 98
Vgl. Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum, S. 26. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von »Agrippina«. Göttingen 1986, S. 175.
81 nen, die der Ästhetik der Grausamkeit Rechnung tragen: der auf der Bühne vorgeführte Tod der Eurydice,99 die Folterdarstellung in der Unterwelt und die Szene der Tötung Orpheus’ durch die Mänaden.
3.2.3. Orpheus und L’Orfeo von Alessandro Striggio und Claudio Monteverdi Im Folgenden soll die strukturelle Verlaufsform der literarischen Mythosadaption im Orpheus in ihrer Beziehung zur idealtypischen Verlaufsform des Mythos offengelegt werden. Anschließend soll die Besonderheit der literarischen Mythos-Verarbeitung durch Anton Ulrich im Vergleich zu seinen Vorlagen – den Texten von Alessandro Striggio und von Ovid – diskutiert werden. Von Interesse ist zudem die Frage, welche Entwicklung und eventuell Transformation des Mythos gegenüber der Ballett-Oper von Buchner stattfand. Die konstanten Attribute des idealtypischen Mythos-Verlaufs erfahren in Anton Ulrichs Mythos-Verarbeitung sowohl Reduktionen als auch Amplifikationen. Orpheus tritt in seiner Rolle als Theologe, Priester und Vermittler der göttlichen Geheimnisse an die Menschen zurück und macht dem »berühmten Hirten«100 Platz. Sein künstlerisches Wesen bleibt unverändert: er ist Sänger und »Vater der Poeten« [E3r]. Von den drei Sequenzen des idealtypischen Mythosverlaufs wird die erste Sequenz vollständig ausgelassen. Die zweite Sequenz behält fast alle Verlaufsstadien: Liebesheirat / glückliche Liebe (3), Tod der Frau (5), Katabasis (6), Überreden der Unterweltherrscher / Rettung der Frau durch die Kunst (7), Übertreten des Verbots (8) und endgültiger Verlust der Frau (9). Lediglich das vierte Verlaufsstadium (die Werbung des Rivalen) wird ausgelassen. In der dritten Sequenz wird lediglich auf das Stadium dreizehn (›Reise‹ des Toten zum Bestattungsort) verzichtet, das zehnte (nur als Klage und Bezauberung der Natur), das elfte (Verzicht des Künstlers auf Frauenliebe) und das zwölfte (Ermordung durch die zürnenden Frauen) Verlaufsstadium werden aktualisiert, während das letzte (die Apotheose des Künstlers und die Würdigung seiner Kunst) eine Substitution erfährt. ––––––––––– 99
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Einige zeitgenössische Poetiken – wie z. B. Harsdörffers Poetischer Trichter – missbilligen allerdings solche Darstellungen auf der Bühne und empfehlen stattdessen Botenberichte. Vgl. Harsdörffer: Poetischer Trichter, S. 82f. Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Orpheus aus Thracien / Der Calliope und deß Apollinis Sohn / Wie er seine Eurydice nach ihrem Tode unter der Erden gesuchet / gefunden / und wieder verlohren / auch selbst elendiglich umbkommen: In einem Tragischen Getichte beschrieben / Zu sonderbahrem Gefallen Der Durchläuchtigen Hochgebohrnen Fürstin und Frauen / Frauen Sophia Elisabeth / Vermähleter Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg [...]. Wolfenbüttel 1659, E3r. Hier und weiter werden beim Zitieren von unpaginierten Texten die Bogensignaturen genannt. Nicht ausgedruckte Signaturen werden in runde Klammern gesetzt. Bei Textbüchern war es üblich, dass der Vorspann (Widmung, Personenverzeichnis, Szenarium usw.) j-Signaturen oder ähnliche Zeichen erhielt. Bei dem ersten Akt begann dann die Buchstabenzählung ab A.
82 Eine ähnliche Struktur der Aktualisierung von Mythos-Verlaufsstadien weist der Text von Alessandro Striggio auf. Eine Ausnahme bildet lediglich die dritte Sequenz: nur die Verlaufsstadien zehn, elf und vierzehn werden aktualisiert, wobei das letzte gleichfalls substituiert wird. Damit liegen die Differenzen – abgesehen von der reduzierten Anzahl der aktualisierten Verlaufsstadien in der dritten Sequenz durch Striggio – in erster Linie in den Amplifikationen und in den variablen Elementen. Deswegen erscheint es sinnvoll, dass die weitere Untersuchung dieser Elemente und somit der vollbrachten »Arbeit am Mythos« in einem unmittelbaren Vergleich des Orpheus mit dem Textbuch von Striggio erfolgt. Monteverdis Favola in musica kleidet den antiken Orpheus-Mythos in die Form eines Schäferspiels und behält dabei die Regeln der fünfaktigen aristotelischen Dramaturgie bei. Anton Ulrichs Drama besteht aus drei Akten. Ihnen ist ein Prolog vorangestellt, in welchem der Anlass der Aufführung verkündet und die Wahl der Thematik erklärt werden. Der erste Akt enthält acht Szenen, der zweite besteht aus sechs Szenen, der dritte nur aus fünf Szenen. Jeder Akt enthält eine Balletteinlage und wird von einem Chor abgeschlossen.101 Den Chorsätzen kommt eine kommentierende Funktion zu. Ähnlich wie in der antiken Tragödie übernehmen die Chöre die Funktion eines weisen Betrachters. Die Kommentare des Chors zeichnen sich durch einen verallgemeinernden, oftmals sentenzartig moralisierenden Charakter aus. Obwohl sie das Fortschreiten der Handlung aufhalten, gehen sie im Unterschied zu den Chorkommentaren bei Striggio nie weit über die konkrete Handlung hinaus. Sowohl dem Prolog als auch jedem der drei Akte ist eine »Auszierung« vorangestellt, in der Hinweise zur Bühnenausstattung gegeben werden. Auch die einzelnen Akte enthalten Regieanweisungen. Beiden Texten dient die im Sinne der Affektenlehre bis ans Übermaß gesteigerte Liebe des Orpheus zu Eurydike als Ausgangspunkt. Bei Anton Ulrich wird dies als Thema bereits im Prolog angegeben: Nim gnädig an / daß wir dir heut zu Ehren / Aus wolgemeinter Trewe trieb / In einem Spiel zu zeigen hie begehren Des Edlen Orpheus grosse Lieb. [B2v]
Obwohl die Allegorie der Musik im Prolog des L’Orfeo vom unsterblichen Ruhm kündet, den der Sänger durch die Macht seiner Musik, ihre Wirkung auf die Natur und die Bezwingung der Hölle gewann, bleibt die Darstellung dieser Wirkung in Striggios Drama aus; die durch die Liebe ausgelösten Affekte treten in den Vordergrund. In seiner Interpretation des Textbuches von Striggio sieht Egon Voss Orfeo im Zeichen der auf Boethius zurückgehenden mittelalterlichen
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Insgesamt gibt es sechs Chöre: den Chor der Hirten und den Chor der Nymphen in I.1, den Chor der Hirten und Phyllis in I.8, den Chor der Geister in II.2, II.3, II.4 und II.6 sowie den Chor der Bacchantinnen in III.3 und den Chor der Geister in III.5.
83 Tradition der Orpheus-Kritik.102 Auch bei Anton Ulrich steht im Zentrum der Darstellung die totale Hingabe des Orpheus ans Übermaß seiner Gefühle. Im Vergleich zu Striggio ist bei Anton Ulrich die Verarbeitung der neostoizistischen Affektenlehre aber modifiziert. Der Mythos wird hier mit dem christlichen Gedankengut kombiniert. Die erste Szene des Orpheus entspricht in ihrem Aufbau weitgehend dem ersten Akt des Textbuches von Alessandro Striggio. Sie ist der Idyllisierung des antiken Orpheus-Mythos in der bukolischen Umgebung eines Schäferspiels verpflichtet, die ihren Ursprung in der 1480 entstandenen Fabula di Orpheo von Angelo Poliziano hat. Fortgeführt und ausgearbeitet in Rinuccinis L’Euridice (1600), wird sie in ihren Grundzügen von Monteverdi und Striggio in ihren L’Orfeo (1607) und von Buchner in seinen Orpheus (1638) übernommen. Wie bei Striggio beginnt das Drama bei Anton Ulrich mit der Hochzeitsfeier: die Nymphen rufen Hymen, den Gott der Ehe, an und Orpheus wird von der Nymphe Phyllis103 aufgefordert, seine Freude in Tönen der Natur zu verkündigen. Der Bezug zum Schäferspiel wird durch die Vorgeschichte der Beziehung zwischen Orpheus und Eurydice hergestellt: Orpheus hat Eurydice erst »nach langer Lieb erlangt« [B3r]. Dieses von Striggio übernommene Motiv hat seinen Ursprung in Tassos Aminta, wo der unglücklich Liebende erst nach langen Proben und Liebesbeweisen das Herz der spröden Schäferin erobert.104 Auch die Invokation der Sonne durch Anton Ulrichs Orpheus ist dem Rezitativ »Rosa del ciel«105 des Orfeo nachempfunden und soll ähnlich Orpheus’ Meinung zum Ausdruck bringen, niemand sei glücklicher als er. Im Unterschied zu Striggio fehlt bei Anton Ulrich allerdings jegliche religiöse Konnotation der Aufrufung.106 Damit wird die Selbstbezogenheit des Orfeo, welche bei Striggio als Hybris dargestellt ist, bei Anton Ulrich deutlich gemildert. Die Szene endet bei Anton Ulrich mit einem Schäferballett, während dessen Eurydice einschläft. Beschließen bei Striggio die Nymphen und Hirten die Hochzeitsszene mit der Anforderung, sich in den Tempel der Götter zu begeben, um für das Glück ––––––––––– 102 103 104 105
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Egon Voss: Am Beginn der Operngeschichte – Orpheus ohne Mythos. In: Csampai u. Holland: Claudio Monteverdi, S. 15–38, hier S. 35. Bei Striggio von einem Hirten. Vgl. Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 30. »Rosa del ciel, vita del mondo, e degna Prole di lui che l’universo affrena, Sol, che ’l tutto circondi e ’l tutto miri Dagli stellanti giri: Dimmi, vedesti mai Di me più lieto e fortunato amante?« Striggio: L’Orfeo, S. 48. »O schönstes Licht der Welt O Flamme die du mich regierest / Du / der du alles siehst und zierest / An jenem Himmels-Zelt / Sag an / sag an / ob ausser mir wol sey ein Hirt / Der da mehr liebt als ich / und mehr geliebet wird.« Anton Ulrich: Orpheus, B3v.
84 dieses Tages zu danken, ist es bei Anton Ulrich Orpheus selbst, der die Tänzer wegführt. Die erste Amplifikation der Verlaufsstadien in der Mythos-Verarbeitung durch Anton Ulrich erfolgt in der Szene I.2, in der Eurydice von dem Baum Lotos träumt, der ihr den baldigen Tod durch den Schlangenbiss ankündigt. Daraufhin wird die erschrockene Eurydice durch Donner und Regen geweckt. Auch die dritte und die vierte Szene löst sich von Striggios Prätext. In I.3 reflektiert Eurydice über ihren Traum und ihr Leben. Während ihres Monologs wird sie von einer Schlange tödlich verwundet. Im Unterschied zu Striggio lässt Anton Ulrich seine Eurydice auf der Bühne sterben. In I.4 bittet Eurydice ihre Gefährtin Phyllis, sie zu Orpheus zu bringen, damit sie in seinen Armen sterben kann. Die ganze Szene steht im Zeichen der Ästhetik der Grausamkeit; vor allem die Schlussworte von Phyllis enthalten eine sehr naturalistische, ›anatomische‹ Beschreibung der Sterbenden: Die Wangen werden blaß / Die Augen brechen ihr / der Schweiß komt ohne Maß / Ihr Götter könnet ihr / so grawsam das verderben / Was ihr für dem den Ruhm der schönsten liest erwerben. [C2r]
Die Sterblichkeit des menschlichen Leibes wird auch zum Paradigma für die Vergänglichkeit und Nichtigkeit der Welt. Der barocke Topos der Vergänglichkeit der Schönheit führt zu einer Verschiebung der Akzente: Während Striggio eine Botin von Eurydices Tod berichten lässt und Buchner zur Motivierung ihres Todes die Figur des Neides einführt, nimmt die Sterbeszene bei Anton Ulrich die zentrale Stelle im ersten Akt ein. Da der Tod Eurydices unmotiviert bleibt, erscheint er als plötzliches Unglück, welches als Teil der göttlichen Providenz unbegreiflich bleibt und den Menschen als göttliche Willkür erscheint. Gleichzeitig beweist der Tod – im Sinne des ›et in Arcadia ego‹ – die Vergänglichkeit alles Irdischen. Die Idylle des Schäferspiels – der utopischen Welt Arkadiens – wird zerstört. In I.5 sucht Orpheus vergeblich seine Gattin. Als er die Nymphe Echo befragt, werden seine verzweifelten Vermutungen bestätigt. Anton Ulrichs Echo-Gedicht steht in einer langen, von Angelo Poliziano begründeten Tradition des Echolieds.107 Seit Guarinis Il pastor fido wird aus dem einfachen Spaß am Nachhall ein Frage- und Antwort-Spiel, welches zum aktiven Bestandteil der Handlung wird und sie schließlich steuert. Bereits in den Madrigalen des 16. Jahrhunderts sind Echos sehr beliebt, und seit Rinuccinis La Dafne ist eine Echoszene für Pastoralopern geradezu obligatorisch. Alessandro Striggio setzt sie im fünften Akt des L’Orfeo ein, wo sie den Höhepunkt der Vereinsamung von Orfeo symbolisiert und gleichzeitig das Ausmaß seines Gefühlskults und seiner Hingabe an die Affekte veranschaulicht: Nur das Echo beantwortet seine hoffnungslosen Klagen, aber sogar hier fordert er es auf, sie vollständig wieder––––––––––– 107
Zur Tradition der Echo-Dichtungen in der Frühen Neuzeit vgl. Ferdinand van Ingen: Echo im 17. Jahrhundert.
85 zugeben.108 Bei Anton Ulrich bestätigt das Echo als höhere »extrahumane Instanz«109 Orpheus in einem locus amoenus seine düsteren Vorahnungen und prophezeit dessen baldigen Tod. Den Echoeffekt erreicht Anton Ulrich nicht durch eine Abtrennung der Schlußwörter eines Verses und deren anschließende Umgestaltung zu neuen Formen, sondern durch die einfache Wiederholung der vorangehenden Wörter. Das Ergebnis ist das kunstvolle viersielbige Echo; das Echo tritt als Zeugin des passierten Unglücks auf und beantwortet in einem Dialog die sorgenvollen Fragen des Verliebten.110 Die Szenen I.6, I.7 und I.8 des Orpheus entsprechen inhaltlich dem zweiten Akt des Textbuches von Striggio. In I.6 erfolgt eine weitere Amplifikation: Orpheus erfährt von Phyllis die traurige Nachricht von Eurydices Tod und will sich das Leben nehmen.111 Trotz seiner Vorahnungen will er an den Tod der Gattin zunächst nicht glauben, so dass Phyllis ihn überzeugen muss und gezwungen ist, die Todesstunde Eurydices genau zu schildern. Auch hier wird der Prozess des Sterbens ganz ungeschönt und präzise mit beinahe medizinischem Blick vergegenwärtigt. Die Steigerung des dramatischen Effektes wird im Unterschied zu Striggio nicht durch den unerwarteten Botenbericht, sondern durch die Darstellung der übersteigerten Reaktion von Orpheus erreicht. In I.7 eilen die von Phyllis zur Hilfe gerufenen Hirten herbei. Doch der Sänger widersetzt sich ihren Versuchen, ihn zu trösten. Während Buchners Orpheus in einem inneren Monolog eine nach allen Regeln der Rhetorik kunstvoll verfasste Überzeugungsrede an sich selbst hält,112 kennt Anton Ulrichs Held (wie ––––––––––– 108 109 110
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»Rendimi tutti interi i miei lamenti.« Striggio: L’Orfeo, S. 76. Van Ingen: Echo im 17. Jahrhundert, S. 25. »Echo schönste Nymph der Wälder Du hörst meine Klag allein / Sage mir du Schall der Felder Wo mag Eurydice seyn / Ist ein Unglück wol obhanden? Echo. wol obhanden. Kan ich das dann nicht verwehren? nicht verwehren. Sag an / ist sie nicht verhanden? nicht verhanden. Weh / was muß ich doch hie hören? noch hie hören. Sol ich noch mehr böses wissen? böses wissen. Sag / was hie dann ist geschehen? Ist geschehen. Sol ich ihr dann nicht geniessen? nicht geniessen. Und alhie sie nicht mehr sehen? nicht mehr sehen. Ach ich fürcht sie ist gestorben? Ist gestorben. Echo, darf ich dir wol trawen? mir wol trawen. Weh / O weh / ist sie verdorben / Sie verdorben. Werd ich meinen Todt bald schawen. Todt bald schawen.« Anton Ulrich: Orpheus, C2r. Dadurch wird darüber hinaus der auf Plato zurückgehende Strang der Orpheus-Kritik gemildert, welcher für Monteverdi/Striggio noch maßgebend ist: im Unterschied zu Alkestis hatte Orpheus nicht den Mut, das eigene Leben für das der Geliebten zu geben. Plat. symp. 179d–e. Auch bei Ovid versucht Orpheus zuerst, sich mit dem Schicksal abzufinden und steigt erst in die Unterwelt hinab, nachdem er Eurydike zur Genüge betrauert hat: »Quam satis ad superas postquam Rhodopeius auras
86 auch Striggios Orfeo) keinen Zweifel an seinem raschen Entschluss, sich in die Unterwelt zu begeben. Während aber bei Monteverdi/Striggio Orfeo seine Katabasis schon unmittelbar nach dem Vernehmen der Todesbotschaft beschließt, stehen bei Anton Ulrich zwischen dem Tod Eurydices und Orpheus’ Entscheidung dessen Selbstmordversuch und die tröstenden Worte der Hirten, in denen sich das neostoizistisch-konsolatorische Verhaltensideal manifestiert: Orpheus soll seine Trauer beherrschen, denn »Ein jedes Leid in dieser Welt / hat seine Maß und Ziel« [C3v]. Die achte Szene beschließt den ersten Akt mit einem Auftritt des Chores. Dessen Kommentar hat moralisierenden Charakter; das Geschehen des ersten Aktes wird als Beispiel der Vergänglichkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen gedeutet: Ach weh! wer wolte nicht aus diesem Fall erkennen / Das alles in der Welt ist Jammer / Creutz und Noth / Und das ja nichtes sey beständig hie zu nennen / das zeiget gnugsam an / der Eurydice Todt. [(C4)r]
Orpheus aber, den das Unglück »in Zweifelmuth gebracht« [(C4)r] hat, verfängt sich im Irdischen – in seiner Liebe und in den durch sie ausgelösten Affekten. Die Szenen II.1 und II.2 stimmen fast vollständig mit Striggios Prätext überein. Neben der allegorischen Figur der Hoffnung (Spes) führt Anton Ulrich die Figur Amors ein. Spes und Amor bringen Orpheus zur Pforte des Hades, auf der ihnen ein Gesetz den Zutritt verwehrt: Last alle Hoffnung fahren / Ihr / die ihr einmahl komt herein [...]. [Dr]
Dieses Zitat aus Dantes La divina commedia, von Striggio bewusst als Anachronismus in die antike Fabel gesetzt, wird von Anton Ulrich vollständig übernommen.113 Amor und Spes erklären dem Sänger seinen weiteren Weg und seine Aufgabe, sich mit Hilfe der Kunst Plutos Gehör zu verschaffen. Sie prophezeien ihm Erfolg, warnen ihn aber vor Ungeduld. In der Szene II.2 stellt sich Charon, der Fährmann, der die Seelen der Verstorbenen zum anderen Ufer der Lethe bringt, Orpheus in den Weg: kein Lebender darf das Reich der Schatten betreten. Die Überwindung des Charon durch Harfenspiel ist der Fassung von Striggio nachgedichtet: Orpheus fleht in einer Bittszene Charon an, ihn in das Reich Plutos einzulassen, indem er sich für einen Toten erklärt, weil sein Herz – Eurydice – gestorben ist. Wie bei –––––––––––
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deflevit vates, ne non temptaret et umbras [...]«. Ov. met. 10, 11–12. Voss stellt fest, dass auch bei Striggio die Szene zwischen Orfeo und Caronte, »die weder in den antiken Quellen noch bei Poliziano vorgegeben ist, die Begegnung zwischen dem Dichter und Charon im III. Gesang des »Inferno« [...] zugrunde liegt, [und] als Anspielung auf Dante [...]« verstanden werden kann. »Hintergrund all dessen könnte sein, dass Orpheus, wie es der IV. Gesang des »Inferno« darstellt, zu den Unerlösten des ersten Höllenkreises gehört (vgl. Vers 140), zu jenen, die nicht getauft wurden.« Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 36–37.
87 Striggio erreicht Orpheus’ Musik nicht ihre volle Wirkung: es gelingt ihm nicht, Charon zu besänftigen, er kann ihn aber einschläfern. Die geistig-seelische Wirkung der Musik bleibt aus. Dies ist kennzeichnend für Striggios Auffassung des Orpheus-Mythos. Das Misslingen von Orfeos Katabasis wird somit im Textbuch von Striggio/Monteverdi vorausgedeutet. An dieser Stelle setzt die Divergenz zwischen den beiden Textbüchern ein, die ihre weitere Entwicklung in den folgenden Szenen in der Unterwelt und ihre Kulmination im abschließenden Akt erfährt. Bei Striggio schließt die Szene mit einer Warnung des Chores vor der menschlichen Hybris, in der das erste Stasimon aus der Antigone von Sophokles paraphrasiert wird: Die Motive des Chores »Viel Ungeheures ist, doch nichts so Ungeheures wie der Mensch«114 – das Pflügen der Erde, die Meeresfahrt und die Sprache – werden übernommen.115 Dieser Chor ist die einzige Stelle in Striggios Libretto, in der das im Prolog angesprochene Thema des Ruhmes aufgegriffen wird. Dabei wird der menschliche Ruhm relativiert und seine Ambivalenz unterstrichen. Das Scheitern des Orfeo wird dadurch vorweggenommen: der Mensch besiegt die Natur, ist aber nicht Herr über sich selbst. Dagegen beschränkt sich Anton Ulrich zum Abschluss der Szene auf den Fortuna-Topos: Wer die Gelegenheit zu rechter Zeit nimt an / Ist ja ein kluger Mann. [D2r]
Die Szene II.3 des Orpheus eröffnet der Chor der Geister, der die Bewohner der Unterwelt zum Anstimmen des Lobliedes auf Pluto aufruft. Tantalus, Ixion, Sisyphos und Tityus, die entsprechend den Regieanweisungen unter ihren Foltern leidend gezeigt werden, stimmen in das Lied mit ein, indem sie nach dem Ende ihrer Leiden fragen und selbst die Ewigkeit der Qualen bestätigen. Die Strafe sollte vor Affekten warnen – nach Norbert Elias ist sie ein Schlüsselinstrument der Pädagogik und Sozialdisziplinierung im 17. Jahrhundert.116 Eine theologische Begründung liefert das alttestamentliche Vergeltungsdenken: auf eine sündhafte Handlung folgt unweigerlich ihre – menschliche oder göttliche – Bestrafung. Die Darstellung grausamer Strafen auf der Bühne entsprach somit den zwei wichtigsten Funktionen der Literatur: movere und docere. Den entscheidenden Unterschied zwischen Striggios und Anton Ulrichs Mythos-Verarbeitung markiert die vierte Szene des Orpheus. Sie entspricht dem vierten Akt des Librettos von Monteverdi/Striggio. Bei Striggio gelingt es Orfeo nicht, mit seiner Bitte zu Plutone vorzudringen. Der Herrscher der Unterwelt hört nur von weitem seine Klagen. Im Gegensatz zu den antiken Quellen sowie zu Poliziano und Rinuccini lässt Orfeos Musik Plutone ungerührt. Eine Fürsprecherin findet Orfeo in Proserpina, wobei die Wirkung seiner Musik auf die Göttin der Unterwelt lediglich im Hintergrund erfolgt. Bezaubert von der Schönheit ––––––––––– 114 115 116
Sophokles: Antigone. Übers. und hg. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt / Main 101993. Vgl. Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 31. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchung. 2 Bde. Frankfurt / Main 61979. Bd. 1, S. 282f.
88 der Gattin und aus Liebe zu ihr, lässt Plutone sich erweichen, gibt aber Euridice nur unter der Bedingung des Rückblickverbots frei. Somit wird Orfeo, wie Voss es bemerkt hat, lediglich zum Anlass für die sich verselbständigende Handlung zwischen Proserpina und Plutone.117 Dagegen beginnt die vierte Szene bei Anton Ulrich mit dem Lied des Orpheus, das dieser vor dem Herrscherpaar Pluto und Proserpina vorträgt. In seiner Bitte wendet er sich an beide Gottheiten, wobei sein Lied dem rhetorischen Argumentationsschema entspricht, welches der Rede des Orpheus in den Ovidischen Metamorphosen zugrunde liegt und in beinahe alle späteren Mythos-Verarbeitungen praktisch unverändert übernommen wurde: er appelliert an Plutos Liebe zu seiner Gattin und droht ihm, sogleich in der Unterwelt zu bleiben, wenn seine Bitte abgelehnt wird. Allerdings bedarf auch der Orpheus Anton Ulrichs der Fürsprache Proserpinas, und auch in seiner Unterwelt gibt es keinen Platz für die von der staatspolitischen Philosophie gefärbten Überlegungen über die Pflichten und Rechte eines Herrschers gegenüber dem Gesetz und dessen Ausübung, wie sie für Buchners Ballett-Oper charakteristisch sind.118 Während Plutone in L’Orfeo als allmächtiger Herrscher über seine Diener erscheint,119 steht bei Anton Ulrich das Wohl des Staates im Vordergrund, das ein Fürst zu gewährleisten hat.120 Aber auch bei Anton Ulrich wird Eurydice nur aufgrund eines willkürlichen Beschlusses von Pluto freigegeben, der sich im Unterschied zu dem Unterweltherrscher bei Buchner dem von ihm selbst erschaffenen Gesetz nicht verpflichtet fühlt. Allerdings erscheint auch bei Anton Ulrich Plutos Einwilligung viel mehr als ein Akt der Gnade und der Barmherzigkeit. So preist der Chor der Geister, der die Szene beschließt, in daktylischen Versen Erbarmen und Liebe, welche die Hölle besiegen. Eine Regieanweisung gibt an, dass ein Geist Eurydike bringt und mit ihr zusammen Orpheus folgt, der sich zum Ausgang der Unterwelt begibt. Auch die fünfte Szene des Orpheus gewinnt bei Anton Ulrich trotz der an Striggios Prätext orientierten Gestaltung eine eigenständige Auslegung. Bezeichnenderweise singt Striggios Orfeo bei der Rückkehr ein Loblied auf die ––––––––––– 117 118 119
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Vgl. Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 38. Vgl. Anm. 41 Kap. 3.1.2. »O degli abitator de l’ombre eterne Possente Re, legge ne sia tuo cenno. Ché ricercar altre cagioni interne Di tuo voler nostri pensier non denno.« Striggio: L’Orfeo, S. 70. »Unser weites Regiment / Ohne End / Preiset dich mit grossem Schall / über all / Daß du Pluto unser Land Wol erhälst in gutem Stand.« Orpheus, D2v. Im Hinblick auf den Gelegenheitscharakter des Werkes, das vor dem regierenden Herzog aufgeführt wurde, kann diese Passage auch als Allusion auf den Herzog verstanden werden, so dass das entworfene Idealbild eines Fürsten im Zeichen der fürstlichen Propaganda interpretiert werden kann.
89 Kraft seiner Leier121 und dreht sich um nicht nur aus Zweifel, ob Euridice ihm tatsächlich folgt, sondern auch aus dem Übermaß an Liebe, die er absolut setzt: Ma che temi, mio core? Ciò che vieta Pluton, comanda Amore. A nume più possente, Che vince uomini e dei, Ben ubbidir dovrei.122
Sein Gefühlskult veranlasst ihn sogar dazu, die Unterweltgötter des Neides auf die Intensität seiner Liebe zu verdächtigen. Nachdem Euridice ihm für immer genommen wird, wird Orfeo gegen seinen Willen dem Licht entgegengezogen. Der Chor am Ende des vierten Aktes stellt Orfeo das neustoizistische Ideal der Tugend gegenüber: Einzig die Beherrschung seiner selbst und seiner eigenen Affekte verleiht die Fähigkeit, das Schicksal zu meistern. Die Affektenkontrolle ermöglicht es, den Blick von der irdischen Vergänglichkeit auf die himmlische Ewigkeit zu richten.123 Orfeo dagegen ist des ewigen Ruhmes nicht würdig, womit die vierte Strophe des Prologs widerlegt wird. Zwar klingen bei Anton Ulrich die Worte Eurydices an Orpheus (»So / so verlierstu mich dan nun aus grosser Liebe [...]« [(D4)r]) wie ein Vorwurf. Doch fehlt dem Sänger jeglicher Hochmut: er erkennt »der Hellen Güth« [(D4)v] und preist die Götter der Unterwelt. Orpheus nähert sich dem Ausgang der Unterwelt und besingt sein Glück und seine Liebe. Dem Zweifel, ob die Geliebte ihm folgt, widersteht er erfolgreich, bis er plötzlich laute Geräusche hört und sich aus Furcht umdreht, Furien können ihm Eurydice rauben. Der Geist befiehlt Eurydice, wieder zu den Seelen zurückzukehren, und verkündet Orpheus, dass alle seine Versuche, die Hölle zu mildern, in der Zukunft erfolglos bleiben. Somit wird Orpheus bei Anton Ulrich für sein Misstrauen in die göttliche Kraft, für den Verlust seines Glaubens bestraft. Der Chor der Geister beschließt den zweiten Akt: Nun ist des Orpheus Anschlag ihm mißlungen / Hett er sich selbst / als andre überwunden / Hett er gefunden / Was er bereits erlangt / durch seine Harff und Zungen. [Er]
Mit dem Tanz der Geister, die Eurydices Verbleiben in der Unterwelt feiern, schließt der Akt. Auch hier wird Orpheus kritisiert, weil es ihm an Selbstbeherr––––––––––– 121
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»Qual onor di te fia degno, Mia cetra onnipotente, S’hai nel tartareo regno Piegar potuto ogni indurata mente?« Striggio: L’Orfeo, S. 72f. Striggio: L’Orfeo, S. 72. Die Schriften von Justus Lipsius erreichen Italien erst viel später, die Rezeption seines Gedankengutes erscheint aber bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts als wahrscheinlich. Vgl. Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 34. Zu den Affektenlehren vgl. auch Kap. 3.4.3 der vorliegenden Arbeit.
90 schung fehlt und er sich von seinen Affekten besiegen lässt. Allerdings wird der Topos der Affektbeherrschung bei Anton Ulrich weitgehend modifiziert und spiegelt lediglich die im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Maximen über Wert und Formen der Affektenkontrolle wider. Der auf Augustinus zurückgehende Gedanke, den Affekten komme eine notwendige Funktion im göttlichen Heilsplan zu, wird in der Neuzeit aus erbaulich-didaktischem Interesse heraus thematisiert: Affekte haben ihren Ursprung im Sündefall. Ihre restlose Beherrschung erweist sich als unmöglich, so dass der Mensch für ihre Ausrottung als gnadenbedürftig erscheint und auf die göttliche Gnadenzuwendung verwiesen wird.124 Im dritten Akt folgt Anton Ulrich in III.1 und III.3 genau der Erzählung Ovids, indem er die Klage des Orpheus und die Wirkung seiner Musik auf die Natur darstellt125 und dessen Tod durch die Bacchantinnen auf die Bühne bringt. Der entsprechende fünfte Akt im Textbuch von Striggio beginnt gleichfalls mit der Klage des Orfeo. Bei Anton Ulrich dient das Trauerlied zur Demonstration der Kunst des Sängers und der Macht der Musik. Um seinem Gesang zu lauschen, versammeln sich um Orpheus herum Bäume, Felsen, Vögel und wilde Tiere; in seiner Klage wendet sich der Sänger in jeweils einer Strophe an seine Zuhörer. Dagegen ist bei Striggio der Gegenstand der Darstellung die Einsamkeit Orfeos, die durch den ›Dialog‹ mit dem Echo sinnfällig dargestellt wird. Anton Ulrichs Orpheus entsagt den Frauen aus Trauer und Sehnsucht nach Eurydice, wohingegen die Worte Orfeos misogyn klingen: Or l’altre donne son superbe e perfide Ver chi le adora, dispietate, instabili, Prive di senno e d’ogni pensier nobile, Onde a ragion opra di lor non lodansi. Quinci non fia già mai che per vil femina Amor con aureo stral il cor trafiggami.126
Ab dieser Stelle divergieren das 1607 zur Uraufführung gedruckte Libretto von Striggio und die 1609 von Monteverdi selbst herausgegebene Partitur von L’Orfeo: in Striggios Libretto endet der fünfte Akt mit einem Chor rasender Bacchantinnen, vor denen Orfeo flieht.127 Im Finale der Partitur erfolgt eine Apotheose des Orfeo: Apollo erscheint als Deus ex machina und bringt Orfeo ––––––––––– 124 125
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Vgl. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 43–46. Diese Darstellung hat einiges gemeinsam mit der entsprechenden Szene bei Buchner. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 189–190, schließt nicht aus, dass Anton Ulrich Buchners Libretto kannte. Striggio: L’Orfeo, S. 78. Diese Frauenkritik steht in der Tradition von Poliziano und zeigt seinen Einfluss: »Die Frau flieht dem, der folgt, folgt dem, der flieht, Sie kommt und geht, wie zum Strand die Welle zieht.« Angelo Poliziano: Orpheus. Tragödie. Übers. v. Werner Gebühr. In: Orpheus und Eurydice. Poliziano. Calderon. Gluck. Offenbach. Kokoschka. Cocteau. Anouilh. Hg. v. Joachim Schondorff. München u. a. 1963, S. 40–56, hier S. 54. Die Oper wird mit einem Tanzlied der Bacchantinnen beschlossen, das deutlich an Poliziano erinnert. Monteverdis Musik dazu ist nicht erhalten.
91 eine Erlösung aus dem Jammertal, indem er ihn in den Himmel erhebt. Der damit verbundene Ruhm der Unsterblichkeit gemahnt an die Erlösung des Sünders durch die Gnade Gottes. Die Schlusszeilen des Schlusschors des fünften Aktes können als Anspielung auf den 5. Vers des Psalms 126 verstanden werden: E chi semina fra doglie D’ogni grazia il frutto coglie.128
Orfeo verzichtet für immer auf die irdische Vergänglichkeit sowie auf die Möglichkeit, Euridice jemals zu sehen, und erlangt die Gnade des Himmels. Auch bei Anton Ulrich erscheint Phoebus als Deus ex machina und verkündigt Orpheus seinen nahen Tod, vor dem dieser sich noch durch Flucht retten kann. Aber Orpheus hat seine Haltung geändert: das Leiden hat ihn gelehrt, das Schicksal zu akzeptieren und dem göttlichen Willen nicht zu widersprechen: So wil ich in Gedult des Himmels Willen / Was er beschlossen hat / alhie erfüllen. [E2v]
In III.3 brechen die Bacchantinnen herein, die mit höhnischem Gesang Orpheus töten und die Szene mit einem Tanz beschließen. In III.4 leitet Bacchus die Apotheose des Dichters ein. Er verdammt die thrakischen Frauen und verwandelt sie in Bäume. In der letzten Szene sind die Gefilde der Seligen zu sehen, auf denen Phoebus, begleitet vom Chor der elysischen Geister, Orpheus und Eurydike zusammenführt, die – getreu der Erzählung von Ovid – einander ihre Liebe bestätigen. Der Chor heißt Orpheus als »Wunder der Poeten« willkommen, seine Harfe wird in den Himmel erhoben und dort in einer bemerkenswerten Analogie zum Prolog in einen Stern verwandelt. Phoebus zeigt dem Dichter, dass er gerächt wurde: Gerechter Himmels-Schluß / so wird aus deiner Krafft Das Böse abgestrafft. [(E4)r]
Der Chor der Geister beschließt das Drama mit erbaulichen Worten, indem er das Vertrauen in Gott, die Wiederkehr und Sieg des Guten sowie das Glück und die Seligkeit nach dem Ende der irdischen Leiden verspricht: So komt dann auf das Leyden Volle Freuden / Und auf die Trawrigkeit / Des Himmels Seligkeit. Ihr / die ihr seid geplaget / Nicht verzaget / Wehrt schon etwas ewr Leyd / Folgt endlich doch die Freud. / Drumb leydet und erduldet / Unverschuldet / ––––––––––– 128
Striggio: L’Orfeo, S. 78. Vgl. Ps 126, 5 nach der Vulgata Clementina: »Qui seminant in lacrimis, in exsultatione metent.« Vgl. Voss: Am Beginn der Operngeschichte, S. 36.
92 Auff kurtze Trauer-Zeit Folgt stete Fröligkeit. [(E4)r]
Anton Ulrich modifiziert Striggios Schluss und damit die ganze Aussage der formal so ähnlichen Mythos-Verarbeitung. Die Konfrontation der Liebe als einer unbeherrschten Leidenschaft mit der Tugend der Selbstbeherrschung verschwindet, statt dessen finden sich die Geliebten im Elysium wieder. Einige Einflüsse des lutherischen Gedankengutes machen sich außerdem in dieser Verarbeitung des antiken Mythos bemerkbar, nämlich die Auslegungen von Glauben und Leiden. Ersterer ist nach Luther grundlegend für die innere Wandlung des Menschen. Der Glaube, welcher Zuversicht und Vertrauen auf Gott mit sich bringt, muss eingeübt werden, weil der Mensch von Natur aus dafür nicht aufnahmebereit ist. Nur ein Leben im Vertrauen auf Gott, welches das Ziel der Übung im Glauben ist, erfüllt die Gebote. Doch hat die Einübung von Zuversicht und Vertrauen auf Gott für Luther einen positiven und einen negativen Aspekt. Der positive Sinn der Übung liegt in der Erprobung und Verwirklichung der im Glauben möglichen aktiven Lebensweise, die negative Seite besteht in der ›Abtötung‹ der gegenläufigen Strebekräfte im Menschen. Im Zusammenhang mit diesen Strebekräften, die um der Erfüllung der Gebote willen ›getötet‹ werden müssen, sieht er in den über die Glaubenden verhängten ungerechten Leiden einen theologischen erzieherischen Sinn und Wert. Gott bedrängt den Menschen solange mit Übeln und Leiden, bisz der mensch durch vbet / so fridsam und stil werde / das er nit bewegt werde / es gehe yhm wol odder vbel / ehr sterb odder lebe / ehr wird geehret odder geschendet / da wonet dan got selb allein.129
Auch die Trostworte der Hirten an Orpheus in der sechsten Szene des siebten Aktes sind durch diese Intention gekennzeichnet: »Ein jedes Leid in dieser Welt / hat seine Maß und Ziel.«130 Wenn der Mensch zur Hingabe an Gottes Willen bereit ist, erfährt er die ewige Seligkeit als den Zustand der vollkommenen Lebenserfüllung. Beide Werke verarbeiten somit den griechischen Mythos auf der Grundlage der christlichen Ethik. Während sich bei Striggio die menschliche Hybris des Orfeo bereits in der Übermäßigkeit seiner übersteigerten Trauer als Folge seiner zu großen Liebe manifestiert und als Mangel an Selbstbeherrschung gedeutet werden kann,131 setzt bei Anton Ulrich die Kritik an Orpheus’ Verhalten erst nach dem ungeduldigen Rückblick an. Orpheus widersetzt sich zum zweiten Mal der göttlichen Fügung und wird dafür bestraft. Striggios L’Orfeo ist ein abschreckendes Beispiel des übersteigerten und darum bestraften Gefühlskults. ––––––––––– 129 130
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Martin Luther: Sermon von den guten Werken. Bd. 2. Leipzig 1992, S. 60. Anton Ulrich: Orpheus, C3v. Die Übung im Glauben stärkt also zwei ›Künste‹: die ›Kunst‹ eines spontanen Lebens im Vertrauen auf Gott ohne den absichernden Rückgriff auf spezielle moralische oder religiöse Praktiken und die ›Kunst‹, in den unvermeidlichen Leiden das Erziehungswerk Gottes zu sehen. Deswegen kommt nirgendwo bei Striggio die Wirkung von Orfeos Gesang auf die Natur zur Schau: Orfeo versagt auch als Musiker.
93 Dagegen besteht die Schuld von Anton Ulrichs Orpheus darin, dass er das eigene Schicksal nicht hinnehmen will und die providentia dei nicht akzeptiert. Orpheus versteht sich als erbauender Tugendspiegel, in welchem entsprechend der docere-Funktion der Literatur das richtige Verhalten gegenüber den irdischen Leiden gelehrt wird.
3.2.4. Instrumentalisierung des Mythos für das höfische Theater Im Hinblick auf den außerliterarischen Kontext – das Drama ist eine Gelegenheitsdichtung und wurde als Geburtstagsgeschenk am herzoglichen Hof aufgeführt – erscheint die Oper auch als Propaganda der Tugend als der wichtigsten Eigenschaft eines Herrschers. Die Tugend, von der der gute Ruf und die Hoffnung auf den Ewigen Ruhm abhängen, steht in enger Verbindung mit den altrömischen Tugendidealen der inneren Stärke, der Beständigkeit, der Weisheit, der Gerechtigkeit und des Selbstvertrauens.132 Die christliche Tugend legitimiert zudem die Rolle des Herrschers als Ebenbild Gottes auf der Erde. Somit kombiniert Anton Ulrich im Orpheus Elemente der Unterhaltung mit denen der Belehrung. In diesem Licht prävalieren in der Hofgesellschaft des Herzog August Gottesfurcht und Selbstdisziplin als höhere Werte. Bei der Interpretation des Dramas muss auch ein anderer wichtiger Aspekt berücksichtigt werden: bei Orpheus handelt es sich um ein Werk für das höfische Theater. Von Anfang an war die Oper als Gattung auch ein Instrument der fürstlichen Propaganda. Aus diesem Kontext heraus kann untersucht werden, ob und auf welche Weise das herzogliche Haus glorifiziert wird und inwieweit Orpheus als Instrument der Ideologie aufgefasst werden kann.133 In den Vordergrund treten dabei die Fragen nach stilistischen Mitteln, die als typisch höfisch betrachtet werden können, sowie nach dem kulturellen oder politischen Zweck, dem das Stück eventuell dient. Auch die Frage nach der Beziehung des Werks zu den herrschenden Herzögen und danach, ob sich ihre Interessen im Stück widerspiegeln, kann gestellt werden.134 In diesem Zusammenhang ist der Prolog des Orpheus von besonderem Interesse. Der Prolog stellt den Tempel des Phoebus dar. Phoebus begrüßt Irene, die Göttin des Friedens, die in seinem Tempel erscheint und ihm das Werk ankündigt, das von den Nymphen Musica, Poesis, Architectura und Zoographia geschaffen wurde: der fröhliche Tag, an welchem die Herzogin, die als Tochter der Tugend bezeichnet wird, geboren wurde, ruft zur jährlichen Pflicht, das Licht des Phoebus – ein Kunstwerk – auf die Welt zu bringen. Dabei wird betont, dass Orpheus ein Gesamtkunstwerk ist. Der Gott willigt ein, den ––––––––––– 132 133 134
Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 116. Vgl. auch Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum, S. 26. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 156. Die Fragestellungen wurden von Sara Smart als Schema für ihre Untersuchung ausgearbeitet. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 22.
94 vorgestellten Orpheus aufzuführen. In diesem Moment wird die Unterhaltung durch das Erscheinen des Kriegsgottes Mars auf einem »fliegenden feuerspeyenden Drachen«135 [Br] unterbrochen. Mars tritt als Widersacher des Friedens auf und versucht, Phoebus auf seine Seite zu ziehen, indem er die Künste für unnötig und unzeitgemäß erklärt, da die heutige Zeit sein »scharfes Spielen« [Br] erfordere. Das stichomythisch aufgebaute Streitgespräch zwischen Mars und Irene wird von Phoebus, der als Schiedsrichter auftritt, zugunsten des Friedens entschieden. Der daraufhin erscheinende Genius von Deutschland schließt Frieden mit Irene und schlägt Mars in die Flucht. In der Höhe leuchtet ein Stern auf, in dem das Bildnis der Herzogin Sophia Elisabeth zu sehen ist. Die Allegorien der Künste werden aufgefordert, ein Loblied auf den Tugend-Stern zu singen. Die Huldigung an die Herzogin beschließt den Prolog. »Des Edlen Orpheus grosse Lieb« [B2r] wird als Thema des Geburtstagsgeschenks angegeben. Orpheus wurde elf Jahre nach dem Ende des dreißigjährigen Krieg aufgeführt. Da das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel während dieser Jahre an keinen Kriegshandlungen teilgenommen hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Streit zwischen Krieg und Frieden einfach als Topos innerhalb der pastoralen Tradition verwendet wird und keinen direkten Bezug zu den zeitgenössischen Ereignissen hat.136 Orpheus ist in erster Linie ein Gelegenheitswerk, das in seiner primären Funktion die herrschende Herzogin glorifizieren sollte. Die Oper ist Teil eines großen Festes,137 und ihr Prolog legt die Beziehung zwischen der Realität dieses Festes und der künstlerischen Illusion der Mythos-Verarbeitung fest. Durch die Verbindung mit dem allgemein bekannten Mythos wird die Realität erhöht und verschönt. Gleichzeitig wird so das Bild des Herrschers und somit des Hofes in einem erhabenen Sinne der Berühmtheit geprägt. Feste dieser Art können als Präsentation von mythologischen Versionen der Realität (hier zwei Sternbilder) betrachtet werden, die – analog zu den Praktiken der zeitgenössischen Malerei – der Feier oder der Glorifikation der Dargestellten diente.138 Im Prolog, in welchem Sophia Elisabeth angesprochen wird, erfolgt eine Verknüpfung von Öffentlichem und Privatem. Allerdings ist alles Private hinter der Formalität verborgen, welche der Gelegenheitsdichtung vorgeschrieben war. Der Prolog zum Orpheus bietet – außer seinen typischen Funktionen wie der Vorstellung des Werks, der Gewährleistung eines grandiosen Beginns und der Ehrung der ––––––––––– 135
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Vermutlich ist der Drache dieselbe Maschine, die bei der vier Monate vorher zum Geburtstag des Herzogs August stattgefundenen und von der Maschinerie her viel aufwendigerer Vorstellung der Andromeda zum Einsatz kam. Vgl. Lehmeyer: The Singspiele, S. 113. Lehmeyer sieht dagegen in diesem Dialog die Aktualität, die er vor allem auf die langjährige Beseitigung der Folgen und Spuren des Krieges im Herzogtum, unter anderem auch im Wolfenbütteler Schloss, zurückführt. Vgl. Lehmeyer: The Singspiele, S. 105. Wahrscheinlich fanden die Opernaufführungen zur Unterhaltung nach der Festmahlzeit statt. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 70.
95 Anwesenden – die Erklärung der Stoffwahl und die erste Interpretation.139 Im Prolog erfolgt die Verbindung des Hauptthemas des Librettos – der christlichen Tugend, die allein das Höchste Glück ermöglicht und den Ewigen Ruhm verleiht, – mit der herrschenden Person: das Bild von Sophia Elisabeth erscheint in einem leuchtenden Silberstern, woraufhin sie selbst als Tugend-Stern bezeichnet wird. Damit werden der Anlass der Aufführung und das eigentliche Stück verknüpft.
3.2.5. Fazit Obwohl die Rezeption des Mythos im Orpheus im Rahmen einer neuen Gattung erfolgt, ist Anton Ulrichs Mythos-Verarbeitung – wie auch ihr Prätext, Striggios L’Orfeo – in ihrem Impetus der allegorischen Tradition verpflichtet. Die Modifikation der Aussage des Prätextes erreicht Anton Ulrich vor allem durch die Integration des lutherischen und neustoizistischen Gedankenguts. Damit verbindet er den Orpheus-Mythos mit dem zeitgenössischen moralisch-theologischen Diskurs. Dabei steht die erbauend-didaktische Funktion im Vordergrund und rechtfertigt somit den versöhnlichen Schluss. Dieser kann gleichzeitig auch als Zugeständnis an den feierlichen Anlass der Aufführung betrachtet werden.140 Im Kontext des höfischen Festwesens steht die Wahl des Orpheus-Sujets darüber hinaus im Zeichen des Bemühens um eine Modernisierung des Hoflebens nach italienischem und französischem Muster – eine Tendenz, die für deutsche Fürstenhöfe in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts charakteristisch ist. Der Machtausbau der Territorialfürsten erforderte eine zeitgemäße dynastische Selbstdarstellung: Geburtstage, Hochzeiten, Taufen wurden somit zu Anlässen zur Repräsentation dynastischer Macht. Der Prolog des Orpheus, in der Nachfolge von Guarinis Il Pastor fido als panegyrischer Teil des Dramas konzipiert, dient Anton Ulrich nicht allein zum Feiern der Herzogin, sondern auch zur Verherrlichung des ganzen Herrscherhauses, zu dem der Autor gehört. Die ›Apotheose‹ der Fürstin Sophia Elisabeth als leuchtenden Stern soll auf den »Tugend Licht« [B2r] der Hezogin hindeuten, womit das für das 17. Jahrhundert evidente Verhältnis zwischen der Tugend und der Eignung zur Herrschaft thematisiert wird. Mit der expliziten Glorifizierung im Prolog korrespondiert implizit die Wahl des Sujets: Indem Anton Ulrich den Orpheus-Mythos in der Tradition des französischen Operntypus verarbeitet und sich auf Striggios L’Orfeo als Prätext bezieht, knüpft er auch an das Vorbild absolutistischer Höfe in Italen und Frankreich an und instrumentalisiert den Mythos für das höfische Theater. ––––––––––– 139
140
Lehmeyer vermutet, dass die Wahl des Orpheus-Mythos als Kompliment an Sophia Elisabeth, die als Musikerin und Komponistin bekannt war, zu interpretieren ist. Vgl. Lehmeyer: The Singspiele, S. 104. Vgl. Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum, S. 24.
96
3.3.
Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice (Eisenberg 1683)
3.3.1. Einleitung. Opernaufführungen in Eisenberg Das Singspiel Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice141 wurde anlässlich des 23. Geburtstags der Herzogin Sophia Maria, der zweiten Frau des Herzogs Christian von Sachsen-Eisenberg, am 7. Mai 1683 auf der Christiansburg in Eisenberg uraufgeführt.142 Die Aufführung fällt mit dem ––––––––––– 141
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Singe-Spiel. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice. Auff das Wiederscheinende Freuden-Geburts-Fest / Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / Frauen Sophien Marien / Vermählten Herzogin zu Sachsen / Jülich / Cleve und Berg [...] Am 7. May / Im Jahr 1683. Nach Hoch-Fürstlicher Anordnung Auff der neuen Schaubühnen Der Christians-Burg zu Eisenberg Vorgestellet. Eisenberg 1683. Dieser Arbeit liegt das Exemplar der HAB Wolfenbüttel zugrunde (Textb. 4° 50a). Ein Exemplar befindet sich in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha (Poes. 4° 02169/01 (06)). Erdmann Werner Böhme weist vermutlich dasselbe Exemplar der damals Herzoglichen Bibliothek zu Gotha nach (Smbd. fol. 2169, Nr. 6). Bei der Verfassung seiner Abhandlung (s. u.) lag ihm das Textbuch allerdings nicht vor. Es wurde gefunden, als die Arbeit bereits im Druck war; somit konnte es lediglich in einer Fußnote berücksichtigt werden. Vgl. Erdmann Werner Böhme: Musik und Oper am Hofe Herzog Christians von Sachsen-Eisenberg (1677–1707). Ein musik- und theatergeschichtlicher Beitrag. Stadtroda 1930, S. 127f. Böhme erwähnt das Exemplar in seiner späteren Abhandlung zur thüringischen Oper. Vgl. Erdmann Werner Böhme: Die frühdeutsche Oper in Thüringen. Ein Jahrhundert mitteldeutscher Musikund Theatergeschichte des Barock, Stadtroda 1931, S. 69. Herzog Christian von Sachsen-Eisenberg – der einzige Herzog von Sachsen-Eisenberg – wurde am 6. Januar 1653 als der fünfte von sieben Söhnen Herzogs Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha geboren. Infolge der Teilung des väterlichen Erbes vereinigte er die ihm zuerkannten Ämter und Städte zu einem Herzogtum Sachsen-Eisenberg. Nach der nur zwei Jahre dauernden Ehe mit der bei der Geburt ihres einzigen Kindes verstorbenen Prinzessin Christiane von Sachsen-Merseburg heiratete der Herzog die zwanzigjährige Sophia Maria von Hessen-Darmstadt, die in die Geschichte Eisenbergs als Wohltäterin und Kunstpatronin eingegangen ist. Diese zweite Ehe blieb kinderlos. Herzog Christian starb am 28. April 1707 nach einer schweren Krankheit, die Herzogin überlebte ihn um fünf Jahre und starb am 22. August 1712. Eine unbestritten herausragende Persönlichkeit, betätigte sich Herzog Christian als Bauherr (vor allem die Schlosskirche, deren Entwurf der Herzog teilweise mitgestaltet haben soll, gehört zu den bedeutendsten Baudenkmälern in Thüringen), er stand im Briefwechsel mit bedeutenden Gelehrten seiner Zeit, verfasste geistliche Lieder (vgl. den Eintrag in: Gottfried Lebrecht Richter: Allgemeines Biographisches Lexikon alter und neuer geistlicher Liederdichter. Leipzig 1804), förderte das Bildungswesen, verbesserte das Polizeiwesen und ließ eine neue Prozessordnung für zivile Gerichtsverfahren ausarbeiten. Daneben kultivierte er ein stark ausgeprägtes Interesse für Alchemie, welches sich mit dem Alter in eine wahre Leidenschaft verwandelte, den Herzog schließlich zum Opfer hochkarätiger Betrüger machte und ihn in den finanziellen Ruin stürzte (die Anekdoten über Herzog Christians Begegnungen sowie über seinen langjährigen Briefwechsel mit den Geistern waren noch ein Jahrhundert nach seinem Tod zu lesen, so z. B. in Christian August Vulpius: Herzog Christian von Sachsen-Eisenberg und seine Unterhaltung mit Geistern. Nach handschriftlichen Aufzeichnungen desselben. In: Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt; zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser. Bd. 1. Weimar 1811, S. 449–487, mit Auszügen aus den Briefen). An der wirtschaftlichen Misere war jedoch vor allem seine verschwenderische
97 Höhepunkt der kurzen Glanzzeit der Eisenberger Hofhaltung zusammen, die das Herzogtum für die folgenden Jahrzehnte in finanzielle Schwierigkeiten stürzte und schließlich einen wirtschaftlichen Zusammenbruch des kleinen Staates herbeiführte. In den Jahren zwischen 1681 und 1684 entstand in Eisenberg ein reges Musikleben, dessen Initiatorin und Patronin die Herzogin war. Obwohl das Eisenberger Theater nicht lange bestand, erreichte vor allem das Musikdrama ein hohes Niveau. Die erste Oper mit dem Titel Der sich selbst überwundene Scipio Africanus wurde bei der Empfangsfeier der frischvermählten Herzogin in Eisenberg gespielt, die üblichen Anlässe zu weiteren Opernaufführungen waren Geburtstage des Fürstenpaares. Die ›Capelldirectoren von Haus aus‹ für die Hofkapelle waren der im benachbarten Weißenfels tätige Johann Philipp Krieger sowie sein jüngerer Bruder Johann Krieger.143 Das Titelblatt des Textbuches verzeichnet weder den Namen des Komponisten noch den des Dichters. Die Musik zum Singspiel ist nicht erhalten,144 als deren Komponist wird Johann Philipp Krieger vermutet.145 Den vielseitig begabten Hoforganisten und Erzieher der Prinzessin Christiana, Michael Telonius, sieht Böhme als mutmaßlichen Verfasser des Librettos.146 Telonius (1652, Zeitz – 1714, Eisenberg) wird laut einer Urkunde für die »Verfertigung –––––––––––
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Hofhaltung sowie die aufwendige Regierungstätigkeit schuld, welche die wirtschaftlichen Möglichkeiten seines winzigen Herzogtums weit überstieg. Zu Herzog Christian von Sachsen-Eisenberg vgl. Wilfried Warsitzka: Herzog Christian von Sachsen und der Bau der Schloßkirche zu Eisenberg. Wartburg 1992, mit Literaturangaben. Johann David Gschwend: Eisenbergische Stadt- und Land-Chronika. Eisenberg 1758. A. Proksch: Festschrift zur zweihundertjährigen Jubelfeier des Herzoglichen Christiansgymnasiums zu Eisenberg den 24. September 1888. In: Mitteilungen des Geschichte- und Altertumsforschenden Vereins zu Eisenberg 3 (1888), S. 1–46. Ferner August Leberecht Beck: [Artikel] Christian von Sachsen-Eisenberg. In: ADB 4 (1876), S. 178–180 und Wolfgang Huschke: [Artikel] Christian Herzog von Sachsen-Eisenberg. In: NDB 3 (1997), S. 232 mit weiteren Literaturangaben. Johann Krieger vertonte den größten Teil der Lieder und Arien in Christian Weises Schuldramen. Das gemeinsame Werk von Johann Krieger und Christian Weise M. G. Johann Kriegers Neue musicalische Ergetzlichkeit ist Herzog Christian von Sachsen-Eisenberg gewidmet. Vgl. Böhme: Musik und Oper, S. 24. Nach Herzogs Tod wurde dessen reiche Bibliothek zerteilt, der Notenbestand ging an Friedrich II, und damit nach Gotha. H. J. Moser: Geschichte der deutschen Musik. Stuttgart 51930. Bd. 2, S. 117. Böhme konnte dies bei seinen späteren Recherchen nicht bestätigen, er bezweifelt auch, dass J. Ph. Krieger in seiner Funktion als ›Ehrenkapellmeister‹ Zeit für umfangreiche Bühnenwerke für das kleine Eisenberg aufbringen konnte. Vgl. Böhme: Musik und Oper, S. 25f. Eine weitere als Dichter in Frage kommende Person am Hofe ist Friedrich Sonnenhoff, Kammermusiker, der 1683 noch in Eisenberg ist und zumindest bei der Gestaltung des Balletts eine womöglich leitende Stellung hat, später aber als Hofdichter Operettentexte verfasst. Die Autorschaft Johann Beers ist dagegen unwahrscheinlich. Seinen Aufzeichnungen nach war er aber als Musiker zur Aufführung nach Eisenberg berufen: »Anno 1683. den 20. April griffe mich zu Eisenberg, dahin mich Hertzog Christian nebst andern hiesigen Musicis zu einer Opera, die Höllstürmende Libe genannt, verschrieben, ein Tertian Fieber an.« Johann Beer: Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Hg. v. A. Schmiedecke. Göttingen 1965, S. 25.
98 von Operen« bezahlt;147 es lässt sich allerdings nicht feststellen, ob damit Kompositionen oder Textbuchdichtungen gemeint sind. Dass Telonius beides lag, bezeugen seine erhaltenen Gelegenheitsgedichte sowie die Tatsache, dass er nach dem Weggang von Johann Krieger 1687 den Posten des Fürstlichen Hofkapellmeisters übernahm. Von seinen Zeitgenossen hochgeschätzt, geriet Telonius in Vergessenheit, weil kein einziges musikalisches Werk von ihm überliefert ist. Wenngleich seine Autorschaft für den Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer nicht belegt werden kann, weist das Textbuch stilistische Ähnlichkeit mit der letzten Eisenberger Oper Ursprung der Römischen Monarchie148 auf, als deren Verfasser Telonius mit ziemlicher Sicherheit gelten darf.
3.3.2. Literarische Mythos-Adaption im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice Dem fünfaktigen Libretto gehen neben dem obligatorischen Verzeichnis der handelnden Personen eine kurze Inhaltswiedergabe, eine Zusammenfassung der »Hauptlehren des Spiels« sowie ein »Vor-Redner« als weitere Paratexte voran. Bereits in der Inhaltswiedergabe manifestiert sich der moralisch-didaktische Impetus, der in den weiteren Ausführungen der Hauptlehren noch deutlicher wird. Dieser vorgegebene Deutungsrahmen soll von Anfang an die Rezeption der Zuschauer in die vom Autor gewünschte Bahn lenken. Dabei wird in der Inhaltswiedergabe eine der beim intendierten Publikum als bekannt vorausgesetzten Versionen des Orpheus-Mythos als individuelle Mythos-Variante präsentiert, so dass sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf der vom Autor vorgeschlagenen Mythos-Deutung konzentrieren kann. ›Haupt-Prätext‹ ist Vergils Version des Orpheus-Mythos, die im vierten Buch der Georgica überliefert ist. Allerdings zeugen die Implikationen der Handlung, die häufige Erwähnung von Orts- und Eigennamen aus der griechischen Mythologie, die Verweise auf andere Mythen und Beziehungen der mythischen Figuren untereinander sowie der gesamte gelehrte Eindruck davon, dass der Autor mehrere zusätzliche Quellen, höchstwahrscheinlich auch mythologische Handbücher und Nachschlagewerke herangezogen hat. Aus der Inhaltswiedergabe geht auch deutlich hervor, dass sich die Handlung vor allem um die Figur des Aristäus entwickelt. Ihm kommt die zentrale Rolle in dieser Mythos-Verarbeitung zu, auch wenn der Titel und die Hauptlehren anderes suggerieren. Letztere stehen in einer langen Tradition der allegorisch-emblematischen Deutung des Orpheus-Mythos: 1. Die Liebe treuer Ehegatten ist stärcker / als der Todt: und derselben Eiffer vest / wie die Hölle.149 ––––––––––– 147 148 149
Vgl. den Urkundentext bei Böhme: Musik und Oper, S. 41. Ursprung der Römischen Monarchie in einem Singe-Spiele [...] Vorgestellet. Eisenberg 1684. Exemplare nachweisbar in Halle, München und Berlin (VD 17). Die erste der »Hauptlehren« ist ein leicht abgewandeltes Zitat aus dem Hohelied Salomos in der Übersetzung von Martin Luther. Vgl. Das Hohelied 8, 6: »Denn Liebe ist starck wie
99 2. Alle Menschen müßen dermaleins offenbahret werden / vor einen Richterstule; und Rechenschafft geben / wie sie gehandelt haben / bey Leibes-Leben.150 [A3r]
Der Prolog rekurriert auf den Anlass der Aufführung – den Geburtstag der Herzogin Sophia Maria – und ist inhaltlich mit der Textbuchthematik nur lose verbunden; lediglich die zwei abschließenden Verse leiten zur eigentlichen Handlung des Dramas über und geben gleichzeitig den vom Autor gewünschten Deutungsrahmen vor: Hier solt ihr sehn / was Heiligkeit der theuren Ehe-Pflicht Mit Eiffer und in Gluth verricht. [A4r]
Der Prolog wird vom Sonnengott Apollo gesprochen, der in Begleitung von vier »Liebes-Nymphen« in einer Wolke vom Himmel herabsteigt. Den Nymphen kommt dabei eher eine ›schmückende‹ Funktion zu, denn sie bleiben während des ganzen Prologs stumm. In den Bühnenanweisungen wird der Schauplatz genannt: es ist der große Peleus in Thessalien.151 Bereits im Prolog manifestiert sich die Belesenheit des Autors: die Fülle an Eigennamen und Andeutungen, welche den Erscheinungsgrund Apollos in Thessalien eher verhüllen als erklären, lässt vermuten, dass beim Publikum profunde Kenntnisse der antiken Mythologie vorausgesetzt werden. Erinnert wird an die berühmte Hirtenzeit Apollos, als der Sonnengott dem König Admetos dienen musste.152 Der Apollo des Prologs erscheint erzürnt über den Tod seines Sohnes Asklepios und will anfangs seine Rache an den Kyklopen üben, bevor er sich besinnt und beschließt, eine Geliebte unter den sterblichen Frauen zu suchen: Ein Weiser giebt dem Grolle keinen Raum. Vernunfft ist der Begierden Zaum. Was soll das Hertz bey Freuden / Ein schmertzliches Gedächtnis leiden? Es schickt sich nicht / verliebt und zornig seyn. Es mag vor mir der Himmel Himmel bleiben. Ich kan ja wol auf Erden mich beweiben. [A4r]
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der Tod / und Eiuer ist fest wie die Helle [...]«. Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 1, S. 1158. Bereits Buchner hat diese beiden Aspekte deutlich hervorgehoben; auf die Betonung der ehelichen Treue sowie auf eine ausführliche, christlich gefärbte Schilderung des Unterweltgerichts verzichtet so gut wie keine der früheren dramatischen Verarbeitungen des Orpheus-Mythos. Gemeint ist offensichtlich der Berg Pelion. Eine der Begründungen für diese Knechtschaft war Apollos Rache an Zeus: Apollos Sohn Asklepios erweckte mit seiner Kunst einen Toten zum Leben und erregte dadurch den Zorn des Zeus. Nachdem Asklepios durch Zeus’ Blitz getötet wurde, rächte Apollon seinen Sohn und ermordete die Kyklopen, die für Zeus Waffen geschmiedet hatten. Diese Tat hatte er als Hirt beim König Admetos zu büßen; dort verliebte er sich in die Nymphe Kyrene, die er nach Nordafrika entführte, wo später die Stadt Kyrene gegründet werden sollte. Kyrene gebar Apollon den göttlichen Helden Aristaios. Vgl. Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 1, S. 113.
100 An dieser Stelle des Prologs scheint die mythologische ›Wirklichkeit‹ auf der Bühne reibungslos in das Geschehen im Zuschauerraum überzugehen: zwar hat Apollo die Nymphe Cyrene erkoren, soll sie ihm aber nicht länger gefallen, so Hat Heßen doch auch eine Wunder-Schöne Geschmückt mit Pracht und Licht. Die Weiseste Sophia: Das Wunder-Bild Maria. [A4r]
Nach Huldigung und Lobpreis der Herzogin erinnert sich allerdings Apollo, das die Erwählte bereits vermählt ist, und wendet sich mit seinen Glückwünschen an das fürstliche Ehepaar und mit der Bitte um Aufmerksamkeit und um Nachsicht für das Singspiel an die Zuschauer. Somit präsentiert der Prolog das Singspiel als Allusion und Hommage auf das eheliche Glück des fürstlichen Paares in ihrem dritten Ehejahr, als eines der Geschenke des Fürsten an seine Gattin und als moralische Lehre in unterhaltsamem Gewand einer Modegattung. Die erste Handlung enthält vier Auftritte. In I.1 erscheint in einem Palastzimmer der Geist des verstorbenen arkadischen Königs Peneus, der um das Schicksal Arkadiens und dessen Herrschers Aristäus besorgt ist und einen schnellen Untergang seines ehemaligen Reiches fürchtet.153 Gefahr für das Reich besteht, weil Aristäus seine königlichen Pflichten und die dem König gebührende Selbstkontrolle vergessen hat: er kann seine Leidenschaft nicht überwinden und hat sich dem Laster der ›unkeuschen‹ Liebe zugewandt: Was soll denn gar ein Vater sagen? Wenn er sieht/ wie sein Königlich Geschlecht / Auch mit dem letzten Funcken In Pful der Laster ist versuncken. [(A5)v]
Die anschließende Arie des Peneus entwirft in sentenziösen trochäischen Dreihebern in der moralisierenden Art eines Fürstenspiegels die Prinzipien des klugen und guten Regiments: Wer will klug regieren Und das Zepter führen: Muß nur Tugend suchen Und die Lust verfluchen. Jedem Land und Reiche / Schadet solche Seiche / ––––––––––– 153
Hier und in weiteren Szenen redet Peneus Aristäus als Sohn an und bezeichnet sich selbst als Aristäus’ Vater, während er in der Inhaltswiedergabe und im Verzeichnis der handelnden Personen Aristäus’ Großvater genannt wird. Diese Verwirrung resultiert womöglich aus der Uneinigkeit der zeitgenössischen Quellen: einerseits hat Kyrene entweder den Flussgott und arkadischen König Peneus oder aber den thessalischen König Hypseus zum Vater, andererseits werden sowohl Apollon als auch Peneus für Aristäus’ Vater gehalten. Das Textbuch weist allerdings auch andere geringe Unstimmigkeiten in Bezug auf die Mythologie auf, entgegen seiner Tendenz, möglichst genau zu sein und möglichst viel von mythologisch-geographischem Wissen vermitteln zu wollen. So ist es in der Inhaltswiedergabe »Theseus Orakel«, das Aristäus berät und ihm in seiner Not hilft, im Text selbst aber – Vergil entsprechend – der Meeresgreis Proteus.
101 Wo verbotnes Lieben Immer wird getrieben. Keuschheit schmückt die Crone / Sie giebt Sieg zu Lohne: Und auf allen Wegen Reichthum / Ehr und Seegen. [(A5)v–(A6)r]
Auch wenn Peneus erzürnt ist, bleibt er von Mitleid und Sorge um sein »sonst gerathnes Kind« [A4v] erfüllt und hat sich bei den Göttern der Unterwelt die Erlaubnis erbeten, mit dem Sohn zu reden, um ihn zu warnen und auf den rechten Weg zurückzubringen. Er schließt mit einem allgemeinen Räsonnement über die Last der elterlichen Pflichten: Zarte Kinder: Zarte Sorgen. Grosse/ machen alle Morgen / Grössern Kummer: grössern Harm. Sonderlich / wenn sie geschritten Aus der Väter Recht und Sitten. Zarte Kinder: zarte Sorgen. Grosse / machen alle Morgen Noch mehr Kummer / noch mehr Harm. Grosse Gottheit dich erbarm. [(A5)r]
Aristäus, der die Anwesenheit des Gastes aus der Unterwelt spürt, kämpft innerlich gegen die ihn plötzlich ergreifende Angst, bis er schließlich seine Mutter Cyrene erblickt. Cyrene versucht, von ihrem Sohn mehr über dessen Gefühle zu erfahren. Der junge König gesteht seine Liebe, zögert aber, den Namen der Erwählten und ihren Stand zu nennen. Cyrene, die anfangs ihren Sohn in einer Arie zur Liebe ermutigte, errät sein Geheimnis, verurteilt die Liebe zu einer verheirateten Frau und zwingt ihn unter der Drohung des mütterlichen Fluches, den Namen der Geliebten zu entdecken.154 Als Cyrene Aristäus die verbrecherische Leidenschaft zu Eurydice anschließend vorwirft und ihn mahnt, an »des Abgrunds strenge Richter« [B2r] zu denken, gerät der König, der sich zu Beginn des Dialogs als gehorsamer Sohn gezeigt hat,155 in Zorn, wobei sein Verhalten immer mehr tyrannische Züge annimmt. Aristäus’ Gefühlsverwirrung wächst, er erwägt, Eurydices Ehemann Orpheus töten zu lassen, und erklärt der Mutter seine Entschlossenheit, Eurydice, und sei es auch durch List und Gewalt, für sich zu gewinnen. Dabei beruft er sich auf Apollo, der Cyrene selbst genauso ––––––––––– 154
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»Was Schönheit ists / die dich so blind gemacht? Daß dein sonst reines Hertz / Durch den verdammten Liebes-Schertz Das Götter-Recht veracht: Und machet dich zum Schänder und Vernichter Der himmlischen Gebot. Ohn allen Zwang / und ohne alle Noth.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B2r. »Kein Sohn. Ein Knecht / Nimt seiner Mutter Gruß / als lauter Schätze an.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Br.
102 zur Liebe gezwungen hat. Am Schluss des Auftritts entzieht Cyrene ihrem Sohn den mütterlichen Segen, Aristäus aber sieht darin lediglich den Neid der Mutter auf die jüngere und schönere Eurydice: Es ist Eurydice / wie ihr gestehen müst Im dritten Grade schöner / Als ihr / des Phöbus trefflicher Magnet. [...] Flucht gleich der Neid: so crönt nichts desto minder Die Liebe ihre Kinder. Hat doch mein Vater sich in Daphnen selbst verliebt.156 Wo ist ein Gott der nicht dies Handwerck hat geübt? [B3v]
Auch Peneus’ Bitten im letzten Auftritt der ersten Handlung bleiben vergeblich. Aristäus verharrt in seiner Gefühlsverwirrung und missdeutet die Rechte, die einem König zustehen. Er erkennt Peneus nicht und flieht in Angst vor dem Geist. Die Handlung schließt mit einem stoischen Appell zur Überwindung der Fortuna: in einem alexandrinischen Zwölfzeiler wird der Mensch in den antithetischen Halbversen der ersten drei Zeilen als Spielball des Glückes dargestellt, in den Abschlussversen aber selbst für sein Handeln und dessen Folgen verantwortlich gemacht.157 Die Handlung des zweiten Aktes spielt in einer thessalischen Landschaft vor dem Hintergrund des »lustigen Tempels«. Eurydice besingt – mit genauen geographischen Angaben – die wunderschöne Natur und sehnt sich nach Orpheus. Dieser gesellt sich zu ihr im Auftritt II.2, der mit einem Duett der beiden Liebenden schließt. Den dritten Auftritt eröffnet eine Lauschszene. Aristäus beobachtet Orpheus und Eurydice und versucht, aus ihrem Gespräch Möglichkeit für sich zu erkennen, ungestört nach Eurydices Liebe zu »streben« [(B5)v]. Da er Gefahr läuft, entdeckt zu werden, sieht er sich gezwungen, Echo zu spielen, und verspottet dabei in seinen Antworten die eheliche Liebe und Treue, die von dem Sänger und seiner Frau gepriesen werden. Schließlich muss Aristäus doch sein Versteck verlassen und wendet sich mit der Bitte, ihn an ihrer Liebe teilhaben zu lassen, an die Beiden: ––––––––––– 156 157
Aristäus selbst scheint die zweite Version seiner Abstammung zu bevorzugen, wonach er der Sohn Apollos ist. Vgl. Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 1, S. 113. »Du schwache Welt: dein Mensch schläfft wenn er wachet. Sein Wesen trügt. Er trauret wenn er lachet. Sein Aug ist blind. Das Hertze ist verkehrt / Daß er vielmal nicht siehet und nicht hört. Das Glücke setzt sich offt zu seiner Seiten / Und sucht mit Macht den Wolstand auszubreiten. Das Unglück sieht auch nahe mit ins Spiel. Der Mensche doch vertraut dem Glück zu viel. So bleibt er auch an Glück und Unglück schuldig Wenn Warnung ihn zumal macht ungeduldig. So geh denn hin / und nimm das Urtheil mit. Du bist und bleibest deines Glückes Schmidt /«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (B4)r.
103 Allein / wie gehets euch / läst sichs denn hier im Grünen Der Liebe also dienen? Gilt meines nicht auch mit? [(B6)r] [...] Besinnet euch und nehmt mich mit. [(B6)v]
Dieses Ansinnen weist das glückliche Paar jedoch in einem Duett zurück. Für einen dritten ist in der ehelichen Liebe kein Platz: Das Urtheil ist gefället / Mit Klugheit und Vernunfft / Daß niemand mehr in unsre enge Zunfft Soll aufgenommen werden. [(B6)v]
Die Liebenden verlassen Aristäus, wobei Eurydice ihm spöttisch den Rat gibt, seinen Brand im kalten Flusswasser zu kühlen. Gleich darauf überwältigt den König plötzliche Angst: er sieht den Geist des Peneus. Peneus warnt seinen Sohn vor dem ihm und seinem Reich bevorstehenden Unglück, wenn sich Aristäus von der lasterhaften Begierde nicht abwendet. Mit ermunternden Worten überwindet Aristäus jedoch seine Angst, er schreibt das Gehörte den Auswirkungen seines verwirrten Zustandes zu und bekräftigt seine Absicht, Eurydice durch List zu gewinnen. Der Auftritt III.1 zeigt einen Lustgarten, in dem Eurydice auf Orpheus wartet und, um ihn besorgt, nach seinem Aufenthalt Blumen und Bäume fragt. Die sprachliche Darstellung ihrer Sehnsucht, die sich hyperbolisch in einer Drohung an die Bäume äußert, »die höchsten Stämme [zu] fällen« [C2r], wirkt allerdings eher komisch. Die Schlüsselszene der dritten Handlung bildet der zweite Auftritt. Aristäus findet Eurydice im Garten und erklärt ihr sein Verlangen, welches diese in der Berufung auf »der Liebe feste Treu« [C2v] entschieden abweist. Auch die Arie, in der Eurydice Aristäus das Wesen der Liebe erklärt,158 vermag diesen nicht zu überzeugen. Für ihn ist Eurydice einer »weit beßrer Liebe« [C3r], also der eines Königs wert,159 der »Spielmann« [C2v] Orpheus dagegen »kan schon Hörner tragen« [C3r]. Der Königswürde des Aristäus stellt Eurydice die göttliche Abstammung des Orpheus, aber auch seine Würde und Größe als Künstler gegenüber. Trotz ihrer Überzeugungskunst vermag Eurydice aber nicht, die immer dreister werdenden Annäherungsversuche des Königs abzuwehren. In ihrer Bedrängnis ergreift Eurydice die Flucht, dabei wird sie von einer aus dem Ge––––––––––– 158
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»Was die Lieb einmal erhitzet Und besitzet: Das ist ihr das allerbeste: Das ist ihr das allergröste. Daran hanget sie allein. Das muß ihr das schönste seyn.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, C2v. »Ein König ist ja besser / Und dessen Liebe grösser.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, C2v.
104 büsch springenden Schlange verletzt und muss sterben, weil Aristäus ihr jegliche Hilfe verweigert.160 Die letzte Arie Eurydices ist an Orpheus gerichtet. Erinnys, eine »Bediente des Höllen-Gerichts« [A3r], führt im nächsten Auftritt die Seele Eurydices in die Unterwelt, um sie dort vor Gericht zu stellen. Ein Bild der gerechten Strafe für Sünder wird entworfen, das stark den Darstellungen der christlichen Hölle ähnelt.161 Die Arie der Zorngöttin mahnt die Lebenden, an die Notwendigkeit einer Offenlegung aller Taten nach dem Ende ihres irdischen Daseins zu denken: »Wie die Arbeit: so der Lohn« [(C4)r]. Eurydices früher Tod dient dabei als Exempel für die Vergänglichkeit der Schönheit und des Glücks. Der Auftritt III.4 bietet eine überraschende Kontrastszene: Cyrene wird von Bachides, einem anderen Diener der Unterwelt, an einer Kette in die Hölle geführt. Der tollpatschige und ungehobelte Todesbote bestätigt Cyrenes Furcht vor der Strenge des sie erwartenden Gerichts. Erschrocken bittet Cyrene um Gnade: sie hat die Sünde des »Löffelns«162 auf dem Gewissen und fürchtet die Rechenschaft, die von ihr gefordert werden soll. ––––––––––– 160
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»Ich helffe nicht. Ich möchte selbst verderben. Darein hat euch eur Wieder-Sinn gebracht.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, C3v. »Der Richt-Platz ist mit Schwerdt und Rad bestellt. Es fehlet nicht an Feur / an Kett und Strange. Da quälen wir die frechen Sünder lange. So bald das Urtheil wird gefällt So ist zugleich die schnelle Straffe da.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (C4)r. Die Beschreibungen und Darstellungen der Hölle waren im 17. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, welches die Leser dazu bewegen sollte, rechtzeitig für ihr Seelenheil zu sorgen. So verspricht der Autor der 1676 erschienenen Grausamen Beschreibung und Vorstellung Der Hölle Und der Höllischen Qwal / Oder Des andern und ewigen Todes In Teutscher Sprache nachdenklich / und also vor die Augen gelegt / daß einem gottlosen Menschen gleichsam die höllischen Funken an noch in dieser Welt ins Gewissen stieben / und Rükk-Gedanken zur Ewigkeit erwekken können [...] Justus Georg Schottel in den dem zweiten Kapitel vorangestellten Versen: »Wann nur eine Stundelang dieses du wirst durch bedenken / Mit Betracht und mit Vernunft dein Gedächt niß dahin lenken / Ei so wird dein wilder Sinn meist in dir geen dert seyn / Wo dunicht ein TigerThier / und dein Hertz ein KiselStein.« Die zeitgenössische Bedeutung des Wortes löffeln ist liebeln, buhlen, aber auch hofieren. Es entstammt der Studentensprache und gehörte bereits im 17. Jahrhundert zum niedrigen Stilregister. Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch 12, Sp. 1125. In der Form läffeln wird das Wort von Johann Christoph Adelung folgendermaßen definiert: »unverschämt bei dem anderen Geschlecht seyn, seine Liebe oder vielmehr Lüsternheit durch unanständige Bezeigungen und besonders durch dreistes Küssen an den Tag legen«. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Leipzig 21793–1801. Zitiert nach der CD-ROM-Ausgabe Berlin 2001 (Digitale Bibliothek 40).
105 Die vierte Handlung des Stückes eröffnen Pluto und Proserpina. Pluto will von seiner Gemahlin wissen, ob sie mit ihrem neuen Reich und der Ehre, die ihr von dessen Bewohnern erwiesen wird, zufrieden sei. Proserpina rekapituliert die Geschichte ihrer Entführung und bedankt sich mit einem Loblied bei ihrem göttlichen Gemahl. In IV.2 erblickt das göttliche Ehepaar Bachides, der Cyrene nach sich zieht. Auf die verwunderte Frage der Herrscher hin erklärt er, Cyrene sei eine Sünderin und gehöre in die Hölle. Cyrenes Bitte an Proserpina um Gnade wird von dieser sofort abgewiesen; dank der Einmischung Plutos aber, der seine Gattin auf die Verpflichtung des Fürsten zu gerechter Rechtssprechung verweist, wird Cyrene erhört. Ihre anfänglichen Versuche, die richterliche Gunst dadurch zu gewinnen, dass sie ihre Beziehung zu Apollo als »Noth-Zwang« [(C6)r] schildert, sich auf ihre königliche Abstammung und göttliche Verwandtschaft beruft und den Göttern reiche Opfergaben für die Milderung des Urteils verspricht, können die strengen Herrscher kaum bewegen. Sie lassen sich weder von Geschenken noch von der Verwandtschaft blenden.163 Cyrene aber besteht auf der Barmherzigkeit für das, »was Wahrheit ist und was vor Unschuld spricht« [(C6)v], und erinnert Proserpina daran, wie diese selbst von Pluto geraubt wurde und sich »wieder List und Zwanck« [Dr] nicht wehren konnte. Diesmal erzielen Cyrenes Worte die gewünschte Wirkung: die Königin der Unterwelt setzt sich für ihre Begnadigung ein. Das Urteil wird aber von Pluto gesprochen: Cyrene ist von ihrer Sünde frei, soll aber als Dank auf einige Zeit Proserpinas Dienerin werden. Die Gerichtsszene wird in IV.3 fortgesetzt. Erinnys bringt Eurydice vor den Richterstuhl, die durch ihre Schönheit sofort Plutos Aufmerksamkeit und Proserpinas Unmut erweckt. Dabei weist der Dialog der beiden Herrscher markante Züge einer derben Komik auf. In den anschließenden Arien werden zwei Meinungen gegeneinander ausgespielt: Pluto wirft seiner Gattin Eifersucht vor,164 Proserpina betont die Notwendigkeit eines gesunden Misstrauens in der Ehe.165 Das Schlusswort spricht Erinnys, wobei sie ihren Herren unterstützt: ––––––––––– 163
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»Richter müssen blind seyn / In Gerechtigkeit / Und die Urtheil sprechen rein / Sonder Lieb und Leid. [...] Wer was verbricht / gehört bey uns in Band und Eisen.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (C6)r. »Eiffersucht / Quaal verknüpfter Hertzen / Schmertzen über Schmertzen. Seelen / die du innen hast / Leben immer ohne Rast.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Dv. Das Motiv der eifersüchtigen Proserpina hat als erster Francesco Buti in der neben Monteverdis L’Orfeo wohl bekanntesten Orpheus-Oper des 17. Jahrhunderts Orfeo. Tragicomedia Per Musica, zugleich der ersten in Frankreich aufgeführten Oper, verwendet: in III.7 wirkt Proserpina aus Eifersucht auf ihren Mann Pluto ein und bewegt ihn dazu, Eurydike freizulassen. Luigi Rossi (Musik) u. Francesco Buti (Text): Orfeo. Tragicomedia Per Musica. Erstaufführung Paris 1647. Obwohl das Libretto nie gedruckt wurde, fand die Aufführung europäische Re-
106 Thut der Mann / was ihm gefält / So bleibt er ein praver Held. [D2r]
Proserpina gibt sich überzeugt. Der Streit wird von Eurydices Klagen unterbrochen: sie bittet die Götter um Erlaubnis, Orpheus ein letztes Mal sehen zu dürfen. Erinnys erzählt Eurydices Geschichte, die von Eurydice selbst bestätigt wird. Erschrocken und beschämt muss Cyrene hören, wie ihr Sohn Eurydice seine Hilfe verweigert und dadurch ihren Tod herbeigeführt hat: Er selber war in Schröcken / Und lief wie einer / den man jagt / Und wär er nicht gewesen so verzagt / So hätte er mich füglich können lösen Von diesen unverhofften Bösen. [D3r]
Aber das Urteil der Götter steht fest: Eurydice hat sich ihrem Schicksal zu fügen und Proserpinas Dienerin zu werden. Die fünfte Handlung eröffnet Aristäus, der seine Not beklagt: aus Rache haben Nymphen und Dryaden seine Bienen vertrieben sowie Felder und Wiesen unfruchtbar gemacht. Das Land steht kurz vor dem Aufruhr.166 Aristäus besinnt sich: geplagt von seinem schlechten Gewissen, erkennt er die Unbeständigkeit des Liebesglücks, das er anstrebte, und die Schuld, die er selbst durch seine »schnöde Lust« [D3v] an seinem Unglück hat. Die Angst treibt ihn bis zum Tor in die Unterwelt. Dort gelingt es Cyrene, ein letztes Mal mit Aristäus zu sprechen (V.2). Auch wenn die zornige Erinnys, die Cyrene begleitet, dem sündigen König jegliche Rettung verweigert, weiß Cyrene helfenden Rat: Aristäus soll nach Pharos fahren, den Meeresgreis Proteus bezwingen und ihn um Hilfe bitten. Auch die Opfer für die Götter der Unterwelt darf er nicht vergessen. Erst in V.3 erscheint Orpheus wieder. Überall sucht er Eurydice – was dem Verfasser ein weiteres Mal die Gelegenheit bietet, seine Kenntnisse der antiken Geographie unter Beweis zu stellen. Orpheus’ Liebeseifer treibt ihn bis zum Tor –––––––––––
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sonanz; neben dem Druck einer Analyse der Oper wurde auch ihre detaillierte Zusammenfassung in der Gazette de France gedruckt. Vgl. Schmid: Orpheus, S. 290ff. »Trau und traue nicht zu viel. Man sieht wie es geht / Man sieht wie es liegt und steht / Mit der Liebe treuen Leben Wer kan immer Glauben geben? Alle Männer sind nicht gleich? Noch an fester Treue reich / Manchmal ändert sich das Ziel / Trau und traue nicht zu viel: [...]«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Dv. »Der Unterthane ist des Jammers voll / Und durch die gantze Insel Erschallet ein erbärmliches Gewinsel. Ich weiß vor Angst nicht was ich machen soll.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, D3v.
107 der Unterwelt, wo er mit seiner Musik Cerberos in Schlaf versetzt und sich auf diese Weise Eintritt ins Reich der Toten verschafft. Der Auftritt V.4 verwandelt die Bühne wieder in die Unterwelt. Der Rauch der Opfer, die Aristäus vollbringt, erreicht die Herrscher des Totenreiches. Auf Proserpinas Geheiß preisen dessen Bewohner die Güte und die Macht Plutos. In V.5 erscheint Aristäus selbst. Da Proteus ihm geraten hat, Eurydice mit Opfern zu versöhnen und auch den Göttern der Unterwelt reiche Gaben zu bringen, eilt er persönlich ins Totenreich, um sein Urteil von Pluto zu vernehmen. Die Angst um sein Schicksal, welches nun von der Entscheidung Plutos und Proserpinas abhängt, hindert ihn nicht daran, einige Kommentare über seine strengen Richter abzugeben: Sind das nicht häßliche Gesichter / Die man doch ehren muß. [(D6)v]
Pluto zeigt sich mit Opfern zufrieden; es ist aber Eurydice, der nun freisteht, Aristäus zu bestrafen oder ihm zu vergeben. Sie verlangt keine Rache und somit wird Aristäus’ Sünde von ihm genommen. In seiner Dankbarkeit bringt er den Göttern ein weiteres Opfer dar. Der letzte Auftritt versammelt alle Figuren auf der Bühne. Orpheus nähert sich den Anwesenden, erblickt Eurydice und zögert in der Überlegung, ob er um sie kämpfen oder seine Kunst zur Überredung der Götter einsetzen soll. Diese Kunst scheint allerdings zuerst wenig zu bewirken: Erinnys und Bachides verspotten den Sänger, und sogar Proserpina fragt nach der Quelle des »klägliche[n] Geheule[s]« [(E)r]. Die anschließende Arie bezaubert jedoch alle; Pluto ist bereit, jeden Wunsch Orpheus’ zu erfüllen, und bietet ihm sogar als Zeichen seiner Gnade den Schlüssel zur Hölle.167 Eurydice darf auf die Erde zurückkehren, sie bestätigt dem besorgten Aristäus, dass sie ihm vergeben hat. Dank Plutos Gnade wendet sich auch für ihn und Cyrene alles zum Guten: Aristäus’ Land soll wieder gedeihen, Cyrene wird im Elysium »mit Peneus triumphiren« [(E2)r]. Orpheus und Eurydice preisen die Götter. Der abschließende Lobpreis aber, der von allen Figuren abwechselnd und im Chor gesungen wird, gilt der treuen und beständigen Liebe: Wer liebet/ der liebe und meine es reine. Drum ehre und liebe ein Jeder das Seine. [(E2)v]
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»Sieh / dieser Schlüssel soll der Gnade Zeichen seyn. So kanstu / wenn du wilst / zur Hölle kommen.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (E)v.
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3.3.3. Die Komisierung des Orpheus-Mythos Das fünfaktige Libretto entspricht im Wesentlichen den Gattungsbestimmungen,168 es weist jedoch – vor allem in seiner sprachlichen Gestaltung – einige Besonderheiten auf. Auch wenn der Einfluss einer bestimmten Operntradition schwer feststellbar ist, kann die venezianische Oper mit ihrer Nichtbeachtung der Regelpoetik, dem Verzicht auf Tanzeinlagen, Chorpartien und ausführliche Konfliktdarstellung in Monologen als nächstes Vorbild betrachtet werden. Allerdings weicht das Libretto im Handlungsaufbau entschieden von der für die italienische Oper der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts so typischen Dramaturgie der Intrige ab. Zwar kann auch im Fall des Höllen-stürmenden Liebs-Eiffers Orpheus und Eurydice nicht von einer linearen Handlungsführung gesprochen werden, im Wesentlichen ist die Handlung aber einheitlich und wird von vier Hauptfiguren – Orpheus, Eurydice, Aristäus und Cyrene – getragen. Die Figuren äußern sich zu den Ereignissen häufig in Sentenzen,169 die meisten Kommentare zum dramatischen Geschehen finden sich aber in den Arien, welche damit nicht allein auf die Darstellung der Gefühle beschränkt bleiben, sondern als »allgemeine Aphorismen«170 die individuelle Erfahrung der Figur auf die Ebene des Allgemeinen transponieren. Die Arien sind nicht explizit als solche gekennzeichnet, sie sind aber graphisch durch einen Zeilenabstand hervorgehoben und lassen sich auch aufgrund ihrer metrischen Struktur – im Gegensatz zu den fortlaufenden heterometrischen Versen des Rezitativs sind es überwiegend isometrische Strophen – ohne weiteres bestimmen. Die Rezitative sind durchgehend in jambischen Versen verfasst. Meist handelt es sich um sechs- bis achtsilbige Kurzverse und zehn- bis elfsilbige Langverse, vereinzelt wird auch der Alexandriner verwendet. Ungleich lange Verse reimen miteinander, auch Waisen kommen vor, allerdings dominiert neben dem Reim gleicher Verse der Paarreim. Der Wechsel im Metrum erfolgt ausschließlich in Arien. Die Arien und die Refrains weisen eine größere metrische Vielfalt auf, wie etwa die Verwendung des Daktylus in der Arie Eurydices in II.1 oder die Schlussverse der letzten Handlung. Inhaltlich greifen die Arien häufig die Themen der galanten Lyrik auf: Eile zum Lieben, Leben als Traum, Vergänglichkeit alles Irdischen.171 Die Besonderheiten des Textbuches manifestieren sich überwiegend auf der sprachlichen Ebene. Bemerkenswert ist der auffallende Kontrast zwischen der ––––––––––– 168
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Der Terminus ›Singspiel‹ wird im 17. Jahrhundert als Synonym für Oper verwendet. Vgl. Joachim Reiber: [Artikel] Singspiel. In: MGG2 8 (1998), Sachteil, Sp. 1470–1489, hier Sp. 1470. Vgl. z. B. die stichomythisch bzw. distichomythisch aufgebaute Dialoge zwischen Aristäus und Cyrene in I.3. Albert Gier: »Gott! – Welch ein Augenblick!« Wie funktioniert ein Libretto? In: »Gehorsame Tochter der Musik«. Das Libretto: Dichter und Dichtung der Oper. Hg. v. Cécile Prinzbach. München 2003, S. 96–100, hier S. 98. Z. B. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (A5)r; (B4)r.
109 ausdrucksvollen Metaphorik172 einerseits und der stellenweise frappierenden Derbheit der Sprache andererseits, wie zum Beispiel im Dialog von Aristäus und Eurydice in III.2 oder in der Eifersuchtsszene zwischen Pluto und Proserpina in IV.3.173 Diese offensichtliche Durchbrechung der Stilgrenze vom mittleren zum niederen Stil muss nach den Regeln der zeitgenössischen Poetik als Vermischung der ernsthaften und der komischen Elemente bewertet werden. Auf den ersten Blick widerspricht das jedoch nicht Gattungskonventionen. Die Nichtbeachtung der Stilhöhenregel sowie häufig jeglicher Regelpoetik überhaupt war vor allem für die italienische Oper typisch und wurde im Verlauf des Jahrhunderts zum konstituierenden Gattungsmerkmal.174 Die bereits von Rospigliosi in die Gattung eingeführte und vor allem in der Hamburger Oper intensiv bemühte Kombination tragischer und komischer Ebenen durch die Zusammenführung hochgestellter und niedriggeborener Personen in einer zusammenhängenden Handlung wird hier allerdings entscheidend modifiziert. Während für eine Oper des 17. Jahrhunderts eine Verbindung des komischen und des heroischen Bereichs vor allem im Einfügen von selbständigen komischen Nebenhandlungen sowie in der Einführung von lustigen Personen bestand, wird im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice der komische Effekt weder durch die Situations- noch durch die Typen- oder Charakterkomik und kaum durch komische Figuren erreicht. Eine Ausnahme bilden lediglich die beiden Höllenbediensteten Erinnys und Bachides, welchen die niederen komischen Rollen übergetragen sind. Vielmehr kann von einer Komisierung des ganzen Orpheus-Mythos gesprochen werden, welche infolge eines Stilbruches entsteht. Bemerkenswert ist, dass die sprachlichen ›Fauxpas‹ allen Figuren ungeachtet ihres Standes unterlaufen, also auch den königlichen und göttlichen Personen Aristäus, Cyrene, Pluto und Proserpina. Lediglich Eurydice und vor allem Orpheus bleiben von der ›Herabsenkung‹ zum niederen Stilniveau ausgeschlossen. Da die Komisierung des Orpheus-Mythos ausschließlich auf der sprachlichen Ebene durch den partiellen Einsatz der niederen Sprache erfolgt, während die ––––––––––– 172 173
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Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, A4v, Br, B2r. Ein weniger markantes, aber typisches Beispiel ist auch das Gespräch zwischen Cyrene und Aristäus im Auftritt I.3, in dem der König seiner Mutter die Liebe zu Eurydice entdeckt: »ARIST[ÄUS] Wie? wenn man aber liebet? Und sich darum betrübet / Was schon ein ander hat? CYRENE Der stört in frembdes Feuer / Er wird von frembden Funcken matt / Und machet ihm den Kauff durch Höllen-Straffe theuer. ARIST[ÄUS] So steht mein Lieben in Gefahr? CYRENE Ich meine/ ja. Fürwar! Beym Styx! du wilst gewiß nach Eheweibern gaffen.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Bv–B2r. Vgl. Silke Leopold: [Artikel] Das Libretto. Teil B I.1: Historischer Überblick. Das italienische Libretto. 17. und 18. Jahrhundert. In: MGG2 5 (1995), Sachteil, Sp. 1123–1131, hier Sp. 1125–1126.
110 inhaltliche Ernsthaftigkeit beibehalten wird, kann bei dieser Diskrepanz von Form und Inhalt durchaus von Elementen einer Travestie gesprochen werden. Damit stellt sich die Frage, ob diese Mythos-Verspottung lediglich der Publikumserheiterung dienen soll oder ob dadurch Raum zur Thematisierung bestimmter Sachverhalte gewonnen wird, die sonst kaum auf die Bühne hätten gelangen können. Allerdings wird der Stil gemäß der zeitgenössischen Poetiken nicht nur durch den Stand der sprechenden Personen, sondern auch durch den Stoff bestimmt, von dem erzählt wird.175 Somit dürfen auch höhere Personen im niederen Stil sprechen, wenn es um niedere Angelegenheiten geht. Von Interesse ist also, welche Thematik in der gröberen Sprache behandelt wird. Dieser Frage soll im Folgenden ausführlicher nachgegangen werden. Ein erster Blick lässt unschwer erkennen, dass es Liebe, Ehe, Eifersucht und Begierde sind, die sprachlich markiert werden. Dabei sind bei den Themen Liebe und Ehe figurenspezifische Unterschiede feststellbar. In den Ausführungen des nächsten Abschnitts soll daher zunächst das ›Ausnahmepaar‹ Orpheus und Eurydice im Zentrum der Betrachtung stehen, anschließend wird anhand der markanten ›Stilbruchstellen‹ untersucht, zu welchem Zweck die Komisierung des Mythos erfolgt und welche Inhalte dadurch transportiert werden.
3.3.4. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice im zeitgenössischen Liebes- und Ehediskurs Die Analyse der stilistischen Textur ergibt, dass Orpheus und Eurydice die einzigen Figuren sind, die vom ›Abgleiten‹ ins niedere Stilregister verschont bleiben. Damit liegt die Vermutung nahe, dass auch den mit diesen Figuren verknüpften Themen eine besondere Bedeutung zukommt. Bereits der Titel betont im Zusammenhang mit den Helden ihren »höllen-stürmenden Liebs-Eiffer«; in der Hauptlehre werden jedoch die Grenzen dieses Gefühls präzisiert: »Die Liebe treuer Ehegatten ist stärcker / als der Todt: und derselben Eiffer vest / wie die Hölle.«176 In doppelter Hinsicht treten an dieser Textstelle die Bezüge des hier betrachteten Singspiels zur Emblematik zutage. Zum einen manifestiert sich der emblematische Charakter des Stückes selbst: die ›Lehre‹
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»Die Comedie bestehet in schlechtem wesen vnnd personen: redet von hochzeiten / gastgeboten / spielen / betrug vnd schalckheit der knechte / ruhmrätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfertigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey vnd solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen.« Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 30. Die »Hauptlehre« ist als abgewandeltes Zitat aus dem Hohelied 8, 6 in der Übersetzung Luthers leicht erkennbar (vgl. Anm. 149 Kap. 3.3.2). Es wird nicht mehr traditionell allegorisch gedeutet, die sinnliche Liebe wird allerdings nur unter den Eheleuten gestattet. Vgl. Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 1, S. 1158.
111 fungiert als Subscriptio, welche die Idee des Stücks erklären soll.177 Zum anderen ist diese Idee – die Auslegung der Orpheus-Gestalt und der Eurydike-Sequenz des Mythos als Sieg der Liebe und der Treue über den Tod hinaus – in der zeitgenössischen Emblematik gut bekannt.178 Neu ist dagegen die besondere Hervorhebung der ehelichen Liebe sowohl in der Hauptlehre als auch im Textbuch. An mehreren Stellen wird betont, dass Orpheus und Eurydice ein Ehe- und nicht nur ein Liebespaar sind; als Eheleute zeigen die Titelhelden Liebe und Zuneigung zueinander. In der Schilderung ihrer Ehebeziehung sind sowohl die emotionale als auch die sinnliche Komponente erstaunlich präsent, so zum Beispiel im Duett des glücklichen Paares in II.2.179 Damit wird im Textbuch am Beispiel der Titelhelden ein Modell der Liebesehe entworfen und bestätigt. Im Hinblick darauf, dass die Oper als ›Schule der Gefühle‹ wahrgenommen wurde, erscheint diese Tatsache nicht unerheblich und kann u. a. als für die Forschungsdebatte um den Ehediskurs der Frühen Neuzeit wichtiges Faktum betrachtet werden, zumal sich bis jetzt keine eindeutige Meinung zur Frage nach der Emotionalität in der frühneuzeitigen Ehe etabliert hat. Auf der einen Seite begegnet man häufig der Ansicht, dass die Ehe lediglich ein arrangiertes Geschäft war und in (überwiegend) höfischen Kreisen Liebe und Verliebtheit zwischen den Eheleuten verpönt waren.180 Daneben wird die Auffas––––––––––– 177 178 179
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Zur Beziehungen zwischen Emblematik und Drama im 17. Jahrhundert vgl. Schöne: Emblematik und Drama. Vgl. Emblemata, S. 1610. »Die das Lieben / Nicht verschieben: Sondern werben Biß sie sterben; Denen muß es also gehn / Daß sie sich vergnügen Und beysammen liegen Und mit Lust beysammen stehn. Aus dem Munde Biß zum Grunde Beyder Hertzen / Steigt das Schertzen. Dieses dämpfet den Verdruß / Daß wir auch im Trauren Dörffen nicht versauren / Wenn das Harren weichen muß. Last uns küssen: Weil wir wissen / Daß wir können Beyde brennen: Und umfassen in den Arm Last uns immer freuen In der Jugend Mayen / Und einander machen warm.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (B5)r. Vgl. die Studie von Niklas Luhmann, allerdings zugespitzt auf die französische Salonkultur des 17. Jahrhunderts. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität.
112 sung vertreten, dass sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert die Liebesehe bzw. Liebe in der Ehe als Modell anbahnt.181 Allerdings zeugen die neusten Untersuchungen zur Frage, seit wann es Liebe in der Ehe gibt, davon, dass dieses Thema viel differenzierter angegangen werden sollte.182 So gab es bereits im mittelalterlichen Schrifttum des 13. Jahrhunderts sowie in späteren Schriftzeugnissen eine Vorstellung von der Liebe in der Ehe.183 Dabei wird in den vormodernen Texten die Liebe unterschiedlich, beinahe polar aufgefasst: der –––––––––––
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Frankfurt / Main 31982, bes. S. 53, 84, 57–122. Luhmann stellt allerdings für die letzten zwei Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts eine allmähliche »Rückwendung zu einer religiös-moralischen Beurteilung« der Liebe und erst für den Beginn des 18. Jahrhunderts eine stärkere Betonung der (rationalen) Liebe in der Ehe fest. Luhmann: Liebe als Passion, S. 100, 101–103. Vgl. z. B. auch Georges Duby u. Michelle Perrot (Hgg.): Geschichte der Frauen. 5. Bde. Bd. 3: Frühe Neuzeit. Hg. v. Arlette Farge u. Natalie Zemon Davis. Frankfurt / Main 1997. Elke Kleinau u. Claudia Opitz (Hgg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt / Main u. New York 1996. Renate Büff: Ruelle und Realität. Preziöse Liebes- und Ehekonzeptionen und ihre Hintergründe. Heidelberg 1979. Zuletzt Beate Appelt: Vom Sieg der Liebe über die Lust: Überlegungen zum Motiv des lüsternen Alten in den Komödien Molièrs. In: Gefährliche Verbindungen. Verführung und Literatur. Hg. v. Frank Wanning u. Anke Wortmann. Berlin 2001, S. 33. Zur Kritik an Luhmann, die an einer Untersuchung verschiedener Liebeskonzepte und Diskursivierungen von Liebe in Opernlibretti von 1680 bis 1740 basiert, vgl. die grundlegende Studie von Bernhard Jahn. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 275–351. Diese These stammt aus der sozialgeschichtlichen Familienforschung und geht auf die Arbeit von Otto Brunner zurück. Vgl. Otto Brunner: Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische Ökonomik. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1958, S. 33–61. Demnach hat infolge eines Wandels vom ›Ganzen Haus‹ zur Arbeitsteilung und der Trennung von der Haushaltsarbeit der Frau und der außerhäuslichen Tätigkeit des Mannes eine Intimisierung der Familie stattgefunden. Dagegen vgl. z. B. Schnells Kritik an der These einer Entwicklung von der vorindustriellen Großfamilie zur neuzeitlichen Kleinfamilie in: Rüdiger Schnell: Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes. In: Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Hg. v. Rüdiger Schnell. Tübingen 1998, S. 1–59, hier S. 3. So betont R. Schnell, dass die Argumentation nicht nur epochengeschichtlich, sondern auch differenziert nach Textgattungen zu erfolgen hat, wobei nach den besonderen diskursiven Bedingungen und sozialen Funktionen der Texte gefragt werden sollte. In der Vernachlässigung dieser Komplexität ist womöglich die Ursache für die Meinungsdifferenz in der Forschung zu suchen. Vgl. Rüdiger Schnell: Text und Geschlecht. Eine Einleitung. In: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit. Hg. v. Rüdiger Schnell. Frankfurt / Main 1997, S. 9–47, hier S. 25, 28ff. Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln u. a. 2002, S. 162ff. Heide Wunder weist unter Berufung auf Texte des 16. Jahrhunderts »das Zusammenrücken von Liebe und Ehe« für diesen Zeitraum nach: für die sozialen Eliten kommt der ›Liebe‹ bei der Stabilisierung der Ehe eine zunehmende Bedeutung zu. Vgl. Heide Wunder: Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht. In: Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Hg. v. Heide Wunder u. Christina Vanja. Frankfurt / Main 1991, S. 12–27, hier S. 23. Schnell: Sexualität und Emotionalität zeigt allerdings überzeugend, dass der für die Frühe Neuzeit behauptete Wandel »von der Sachehe zur Liebesheirat« in vielem nicht den sozialen Veränderungen, sondern den literarischen Konstruktionen entspricht.
113 unkontrollierbaren und verstandraubenden Leidenschaft steht die tiefe Zuneigung gegenüber, die sich häufig erst allmählich und über Jahre der Ehe hin entwickelt oder Ergebnis einer willentlichen Einstellung ist.184 Für das 17. Jahrhundert lassen die bislang vorliegenden Ergebnisse allerdings auch feststellen, dass gegen das Ende des Jahrhunderts infolge einer Aufwertung der Ehe durch die Reformation das »sanftmütige Befürworten ehelicher Zuneigung und partnerschaftlicher Tugenden [...] zunehmend der leidenschaftlichen [...] Liebe weicht«185. Das hier analysierte Libretto scheint diese These zu unterstützen: im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice wird die Ehe als Ort vor allem emotionaler Beziehung zwischen Mann und Frau thematisiert.186 Es ist bemerkenswert, dass neben dem Libretto auch in einem anderen, für denselben Anlass entstandenen Text den Lesern die Ehe als Glücksort vor Augen geführt wird: in der vom herzoglichen Hofprediger und Beichtvater Johann Frank187 verfassten Predigt zur Hochzeit des fürstlichen Ehepaares,188 welche erst zwei Jahre nach der Hochzeitszeremonie in Druck gegeben und am Tag der Opernaufführung der Herzogin als Geburtstagsgeschenk überreicht wurde. Aufgrund der teilweise identischen moralisch-didaktischen Wirkungsintention des Librettos und der Predigt bietet sich ein Vergleich der beiden Texte im Hinblick auf die Behandlung des Ehethemas an.189 Gerade die lutherischen ––––––––––– 184 185
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Vgl. Schnell: Sexualität und Emotionalität, S. 19. Vgl. Norbert Haag: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640–1740. Mainz 1992, S. 233f. Susan C. Karant-Nunn: Von Melanchthons Vision zur türkischen Amme. In: Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Hg. v. Heide Wunder u. Gisela Engel. Königstein 1998, S. 42–56, hier S. 44. Somit wird die These von Bernard Jahn bestätigt, dass in Libretti (zumindest seit 1680) »hinsichtlich der psychischen Bedingungen der Partnerwahl [...] eine Emotionalisierung der Beziehung« gefordert wird. Vgl. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 331. Eine ähnliche Thematisierung der Liebesehe erfolgt im 17. Jahrhundert im Rahmen einer anderen sich etablierenden Gattung: des Schäferspiels. So stellen Andreas Gryphius im Schwermenden Schäfer und Caspar Stieler in der Basilene die Priorität des Elternrechts bei der Wahl des Ehepartners in Frage. Vgl. Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts dargestellt in einzelnen Untersuchungen. Stuttgart u. Bad Cannstatt 1998, bes. S. 232f. Johann Nicolaus Frank (Francke) (1648–1707), Hofprediger, Beichtvater und Superintendent am Hof des Herzogs Christian, war selber vier Mal verheiratet. Unter seinen Verdiensten werden u. a. die Bemühungen um die Verbesserung des Schulwesens in der Stadt Eisenberg genannt. Vgl. Johann David Gschwend: Eisenbergische Stadt- und Land-Chronika. Eisenberg 1758. B. 3, Abt. 3, Kap. 3, § XIII. Eigentlich zum feierlichen Einzug des Paares in Eisenberg am 5. Mai 1681; die Vermählung fand am 9. Februar 1681 in Darmstadt statt. Johann Nicolaus Frank: Das von Gott geschikte / durch beständigkeit geschmükte mit Wunsch beglükte Fürstl. Eheband [...]. Eisenberg 1683. Der Vergleich mit diesem homiletischen Text bietet hier, obwohl es sich um eine andere Textsorte handelt, eine Möglichkeit, das Textbuch in seinem zeitgenössischen Kontext zu betrachten. Auch wenn idealerweise nur Texte verglichen werden sollten, die denselben diskursiven Bedingungen unterliegen, darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die Texte durchaus in einem reziproken Verhältnis zueinander befinden können. Obzwar sie vor allem die Entwicklung auf der Diskursebene wiedergeben, ist eine scharfe Abgrenzung von Realitätsebenen und Disziplinen jedoch unmöglich. Zur gesellschaftli-
114 Hochzeitspredigten stellen die Textsorte dar, in welcher die auf Martin Luther zurückgehende protestantische Aufwertung der Ehe als Institution stattfand. Für die zentrale Ordnungsvorstellung der Zeit (›gute Ordnung‹, ›gemeiner Nutz‹, ›gute Policey‹) gewann die Ehe sehr stark an Bedeutung, was eine Verstärkung der Kirchenzucht sowie die Verkirchlichung der Eheschließung zur Folge hatte.190 Die Korrespondenz zwischen der Lehre der Predigt und der moralisch-didaktischen Intention der Ehe-Passus im Singspiel fällt auf: die Ehe erscheint als vollkommene Freundschaft, in welcher der Ehepartner zu einem zweiten Ich wird.191 Auch auf der Ebene des inneren Aufbaus weisen beide Texte Korrespondenzen auf. Bekanntlich stand den Verfassern von Hochzeitspredigten eine größere Auswahl an entsprechenden Bibelstellen zur Verfügung, die sie zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nahmen.192 Der zentrale Gedanke, der sich wie ein Leitfaden durch Franks Predigt zieht, nimmt genauso wie die erste Hauptlehre des Singspiels – dort als Zitat und hier als Paraphrase193 – auf das Hohelied 8, 6 Bezug.194 Die Liebe, die durch keine Widerwärtigkeit erschüttert werden kann und »ewiglich«195 dauert, erscheint in der Predigt als Grundstein und Grundbedingung einer Ehe: –––––––––––
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chen Rolle der Ehepredigten vgl. Elfriede Moser-Roth: Familienleben im Spiegel der Barockpredigt. In: Predigt und soziale Wirklichkeit. Beiträge zur Erforschung der Predigtliteratur. Hg. v. Werner Welzig (Daphnis 10, 1 (1984)), S. 47–65. Auf den Einfluss des homiletischen Schrifttums auf die religiöse Lyrik hat bereits van Ingen hingewiesen. Vgl. Ferdinand van Ingen: Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966, S. 165. Die Reformation machte die Ehe zur primär christlichen und zentralen gesellschaftlichen Ordnung, die formal unter Aufsicht der Kirchen stand, inhaltlich aber weltlichen Interessen und Regelungen Rechnung trug. Vgl. Heide Wunder: Normen und Institutionen der Geschlechterordnung am Beginn der Frühen Neuzeit. In: Wunder und Engel: Geschlechterperspektiven, S. 57–78, hier S. 71. Vgl. auch: Heide Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 66–88. Vgl. auch Hans Moser: Jungfernkranz und Strohkranz. In: Das Recht der kleinen Leute. Festschrift für Karl-S. Kramer. Berlin 1976, S. 140–161. »Was nun ein gesprächiger gefährte einem wandrer ist / das ist ein treuer Ehegatte dem andern: Sie theilen die last unter sich / stehen sich in allen begebnissen zur seiten / unterstüzzen die schwachheit- und müheseeligkeiten / aus allen ihren kräfften.« Frank: Das Eheband, B3v. Diese Vorstellung ist dem antiken Diskurs der Freundschaft entlehnt und wurde bereits von Aristoteles auf die Ehebeziehung übertragen. Vgl. Aristot. eth. Nic. 8, 14 (1162 a 23ff). Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-Deutsch. Übers. v. Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel. Düsseldorf u. Zürich 2001, S. 251f. Eine ähnliche Funktion erfüllen im Textbuch die »Hauptlehren«, die dem klassischen Libretto vollkommen fremd sind. »[...] sondern diese liebe muß fest sein wie der tod [...]«. Frank: Das Eheband, Ev. In beiden Fällen ist der intertextuelle Bezug auf das Hohelied nicht markiert. »Denn Liebe ist starck wie der Tod / vnd Eiuer ist fest wie die Helle / Jr glut ist fewrig / vnd ein flamme des HERRN [...]«. Das Hohelied 8, 6. Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 1, S. 1158. »[Die Liebe] muß währen und dauren / die ganze lebenszeit über: Nicht nur in der flitterwoche / weil das beilager / oder die heimführung und lustigkeit währet / sondern ewiglich: nicht nur in gesundheit / beglükten tagen und wolstand / sondern vornehmlich auch in unglük / krankheit / und allerhand wiederwärtigkeit.« Frank: Das Eheband, Ev.
115 Die liebe mus ein stetes inchoativum sein / und nicht ehe geendiget werden / als mit des lebens ende: nichts soll sie scheiden denn GOtt und der tod / und der tod selbsten nicht ewig von GOtt.196
Die eheliche Treue und Liebe sind somit die Schlüsselbegriffe, um welche die Predigt aufgebaut wird.197 Das fürstliche Eheband wird vor allem als »ein durch veste Beständigkeit geschmüktes«198 gepriesen. Der dritte Schlüsselbegriff der Predigt heißt »reine Begierde«, die der sündigen »Lust-Seuche« gegenübergestellt wird.199 Die Mahnung an die Eheleute, die Sünde des Ehebruchs zu meiden, schließt sich an den Lobpreis der Liebe und der Beständigkeit an: Ihr Eheleute / ihr habt einander einen heiligen eid der treue gethan [...] Brechet diesen ja nicht: denn / um eine so schnöde wollust / habt ihr zuempfinden / die schreklichste verdammniß: Die hurer und ehebrecher wird GOtt richten.200
Die Pflicht der ehelichen Treue kennt dabei keine Standesunterschiede: Und hievon ist so gar keine hoheit noch stand ausgenommen / daß vielmehr die Ehe soll ehrlich gehalten werden / bei jedermann / und das Ehebett unbeflekkt.201
Vor diesem Hintergrund scheint das Textbuch den ›Erziehungsauftrag‹ des Predigtverfassers fortzuführen: in der ›Schule der Gefühle‹ vereinigt es die Aufgabe des docere mit der des delectare, indem es die belehrende Intention der Predigt in den Hauptlehren bestätigt und durch die Handlung illustriert.202 Augenfällig wird dies durch den Kontrast zwischen der ›keuschen Liebe‹ des
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Frank: Das Eheband, Ev. »Wir erneuern billich unsre freude / mit dank / gebeht / und wunsch: Bevorab die eheliche Treue und Liebe / in Euren Durchlauchten herzen / einem immergrünen Maj gleichet / und täglichen neugeboren / auch mit ersinnlichster möglichkeit / von Beederseits an tag geleget wird.« Frank: Das Eheband, (A4)r. Frank: Das Eheband, D3v. »Die Ehe unterdrükket die sündige begierde / dämpffet die Lust-Seuche / löschet die verbotne brunst / wehret denen unreinen beflekkungen [...].« Frank: Das Eheband, (B4)r. Frank: Das Eheband, E2r. Der letzte Satz ist in der Predigt als Zitat aus dem Brief an die Hebräer gekennzeichnet. Vgl. Hebr. 13, 4: »Die Hurer aber vnd die Ehebrecher wird Gott richten.« Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 2, S. 2452. Frank: Das Eheband, E2r. Es handelt sich um ein markiertes leicht abgewandeltes Zitat aus dem Brief an die Hebräer. Vgl. Hebr. 13, 4: »Die Ehe sol ehrlich gehalten werden bey allen / und das Ehebette vnbefleckt.« Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 2, S. 2452. Während dabei im Falle der Predigt von einer Tradierung der textsortenspezifischen Vorstellungen gesprochen werden kann, sind der Ehereflexion im Textbuch keine gattungsbedingten Beschränkungen auferlegt. Allgemein lassen sich für das 17. Jahrhundert eine allmähliche Popularisierung und sogar Trivialisierung der Ehereflexion feststellen. Vgl. zumindest für den romanischen Sprachraum: Margarete Zimmermann: Gamologien und Geschlechtertänze. Ehereflexionen französischer und italienischer Autorinnen des 15.– 17. Jahrhunderts. In: Schnell: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, S. 303–327. Bereits im 16. Jahrhundert entwickelt sich die Beschreibung des Eheglücks zu einem literarischen Topos, der stets dieselben Bilder und Details evoziert.
116 Orpheus und der sinnlichen Begierde des Aristäus. Schon auf der sprachlichen Ebene ist die Beschränkung von Aristäus’ Bestrebungen auf die Sinnlichkeit markiert: sein Lob Eurydices gilt ausschließlich ihrer körperlichen Schönheit;203 sein Verlangen wird von Aristäus selbst und von den anderen Figuren mehrmals mit einem Feuer oder Brand verglichen, der zu löschen ist – und aus Aristäus’ Sicht auch leicht gelöscht werden kann.204 Bereits bei der ersten Erwähnung von Aristäus’ Liebe tritt der Kontrast zwischen seiner auf das Körperliche begrenzten Wahrnehmung Eurydices und ihrer Apperzeption durch andere Figuren, die vor allem durch ihre gesellschaftliche Position als Ehefrau bedingt ist, zutage: CYRENE Darum so nenne sie. ARISTÄUS Es ist Eurydice. CYRENE Des klugen Orpheus Weib? ARISTÄUS Die schöne Frau. Der Alabaster Leib. [B3r]
Zwar entbehrt auch die eheliche Beziehung von Orpheus und Eurydice nicht der sinnlichen Komponente;205 ihre Ehe wird aber vor allem als Verbindung zweier liebender Seelen aufgefasst. Die geschlechtliche Liebe wird vom Autor folglich nicht abgewertet, solange sie nicht dem Lustprinzip verfällt, sondern gleichzeitig auch geistige Liebe-Freundschaft ist. Aristäus’ Liebe ist dagegen lediglich auf das Körperliche fixiert, deswegen erniedrigt sie die Seele, welche einen höheren Stellenwert hat als der Körper, weil erst sie dem Menschen das Menschsein ermöglicht. Damit wird Aristäus noch vor dem eigentlichen Verbrechen zum Sünder. Indem er sich von seinem körperlichen Instinkt verleiten lässt, verliert Aristäus seine Menschlichkeit und wird nicht zufällig sowohl von Peneus als auch von anderen Figuren mit wilden Tieren verglichen.206 ––––––––––– 203
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»Die schöne Frau. Der Alabaster Leib.« (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B3r.), »O schönes Weib! weit süsser als Melonen.« (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (B5)v.). »Was lescht nun meinen Brandt?« (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Cr.); »Bedencket doch / wie heiß mein Hertze brennet [...]«. (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, C3r.); »Offt liegt ein heisser Brandt Ň Verborgen in der Aschen.« (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, Bv.); »Ihr könt ja meinen Willen | Mit weniger Geduld in aller Kürtze stillen.« (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, C3r.); »Die Götter werden dir dein Brennen und dein Baltzen / In Höllen-Grund versaltzen [...]«. (Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B3r.). »CYRENE So brennestu? ARIST[ÄUS] Gantz ohnaufhörlich: ohne Ruh. CYRENE Ach um des Himmels Gunst Lesch aus. Und dämpfe solche Brunst.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B2v. Vgl. z. B. das Duett von Orpheus und Eurydice in II.2 oder das Duett der Titelhelden in II.3. »PENEUS Weit besser ist: ein Vater ohne Kinder; Als Kinder ohne Zucht / Die wie das Vieh / und wie die geilen Rinder In Wollust und in schnöde Liebes-Sucht Gantz ohne Zaum und Zügel rennen /
117 Das Werben um die Liebe wird für Aristäus zur Eroberung, was besonders deutlich in der auf sein Verhalten bezogenen venatorischen Metaphorik zum Ausdruck kommt, wobei die Begriffe aus dem Wortfeld der Jagd eine eindeutig negative Konnotation aufweisen. So reagiert er in II.2 beim Erblicken von Eurydice in Orpheus’ Begleitung mit einem saloppen Sieh da! Hier ist das Wildpret zu erjagen / Wornach mein Liebes-Hunger brennt. [(B5)r]
Auch zu Beginn der Verführungsszene in III.2 erscheint ihm die Geliebte als Beute, die zu fangen ist: Nun ist es Zeit/ den Vogel einzufangen / Nach dem ich nun so lange bin gegangen. [C2r–C2v]
Eurydice sieht sich in die Situation eines verfolgten Tieres hineingezwungen: Er jagte mich als wie ein schichtern Reh / Nachdem ich sein Begehren abgeschlagen / Durch Busch und über Beet. [D3r]
Die Metaphern der Jagd weisen darüber hinaus auf Aristäus’ Position als Herrscher hin. Kraft dieser Position versucht er, seine Macht auszubreiten und gleichzeitig sein Übertreten des Gesetzes zu legitimieren: Was nützet mir der Lebens-Geister Stärcke? Was wäre Cronen-Macht? Wenn Könige in ihrem Liebes-Wercke Nicht frey und ungebunden solten seyn?207 [B3v]
Aber auch Aristäus selbst ist im übertragenen Sinne der Gejagte, denn seine Leidenschaft versklavt und unterwirft ihn so sehr, dass die durchaus vorhandenen positiven Seiten seiner Persönlichkeit208 hinter dem Wunsch und Bestreben, möglichst schnell vom »Liebesfeuer« befreit zu werden, vollkommen ver–––––––––––
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Und wie die Hengste brennen«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (A5)r–(A5v). »CYRENE Du blinder Auerhan [...]«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B3r. Es ließe sich die Frage stellen, inwieweit hier auch von einer latenten Kritik am politischen Konflikt der Zeit – dem absoluten Machtstreben der Fürsten auf Kosten der Entmachtung gesellschaftlicher Gruppen – gesprochen werden kann. Diese werden mehrmals von Peneus und Cyrene betont: »PENEUS Wie? Bistu blind? Mein sonst gerathnes Kind [...]«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, A4v. »CYRENE Was Schönheit ists /die dich so blind gemacht? Daß dein sonst reines Hertz / Durch den verdammten Liebes-Schertz Das Götter-Recht veracht [...]«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B2r.
118 schwinden. Er ist seinem Affekt absolut unterlegen, verliert die Selbstkontrolle und bezeichnet sich selbst als erkrankt: Mein Hertze ist verwirrt. Es wancken die Gedancken. Was? und warum wolt ihr euch mit mir zancken? Ich bin nicht mehr in mir: Ich weiß nicht was ich mache? Bey dieser Liebes-Sache. Mein Hertze ist verreist. Mein gantz verwirrter Geist Schwebt wie ein Adler in der Lufft: Der von der Erden sich hat Himmelwerts geschwungen / Und suchet Raub vor sich und seine Jungen. Der Liebes-Hunger drückt. Ich bin verrückt. [B2r]
Nicht zuletzt stehen den reinen und klaren Empfindungen der Liebe, welche Orpheus und Eurydice beschreiben, die in ihrer Schilderung physiologisch anmutende Liebesqualen gegenüber, welche Aristäus erleiden muss. Bei ihm erscheinen diese Leiden als beinahe außenperspektivisch beobachtete Krankheitssymptome. Eindeutig bleibt aber, dass es trotz der überwältigenden Kraft der leidenschaftlichen Liebe Aristäus ist, der die ganze Verantwortung für sein Handeln, für seine Gefühle und für die Kontrolle über seine Affekte zu tragen hat. Die im Textbuch angesprochenen und für ein Singspiel eher untypischen Inhalte lassen eine nähere Betrachtung sowie ihre Einbettung in den zeitgenössischen Kontext als notwendig erscheinen. Mit seinem Verhalten illustriert Aristäus die alte, durch zahlreiche moraltheologische Traktate überkommene These, welche die emotionale Komponente in der Ehe für überflüssig erklärt,209 für Orpheus dagegen sind die Gefühle Voraussetzung für die Ehe. Mit den beiden Figuren stehen sich zwei Menschenbilder gegenüber: Orpheus repräsentiert das Ideal eines selbstbeherrschten und zivilisierten Menschen, in Aristäus wird der Mensch durch die Gewalt der Leidenschaft auf seine Triebhaftigkeit reduziert. Gleichzeitig repräsentieren sie die im 17. Jahrhundert diskutierten Liebesauffassungen: die spontane und verstandraubende Leidenschaft und die freundschaftliche Zuneigung der Seelen.210 ––––––––––– 209 210
Aristäus wäre durchaus bereit, Eurydice zur Königin zu machen: »Ach! hätt Arcadien nur dich zur Königin.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (B5)v. Rüdiger Schnell betrachtet Gefühle als literarische bzw. diskursive Konstrukte und weist darauf hin, dass in den vormodernen Texten zwei Auffassungen von Liebe vertreten sind: Liebe als wilde Leidenschaft steht eine Zuneigung zwischen Eheleuten entgegen, die sich willentlich und unter Leitung der Vernunft im langen Zusammenleben einstellt, also erst in der Ehe entsteht. Vgl. Schnell: Sexualität und Emotionalität, S. 19f. Vgl. auch Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. 16.–18. Jahrhundert. München 1990. David Cressy: Birth, marriage and death. Ritual, religion, and the life-cycle in Tudor and Stuart England. Oxford 1997. Lawrence Stone: Uncertain unions. Marriage in England 1660–1753. Oxford 1992. Auch in der Sittenlehre des 17. Jahrhunderts, v. a. in ihrer augustinischen Tradition, wurde zwischen zwei Arten der Liebe unterschieden. So trennt z. B. Christian Thomasius in seiner Liebesethik die
119 Die Reformation hat bekanntlich die Ehe als »wahre Keuschheit«211 und erste Ordnung Gottes212 aufgewertet. Das eheliche Zusammenleben stand somit unter dem besonderen Segen Gottes. Für eine dauerhafte und feste eheliche Beziehung war die Beständigkeit und nicht die Leidenschaft wichtig. Das Fundament dafür war eine Liebe, die den Verstand nicht raubte. So ist Aristäus aus der Sicht der zeitgenössischen Moraltheologie, die das Begehren als Folge der Erbsünde sieht, das den Sinn und den Verstand des Mannes zerstört, wenn es nicht unter die Kontrolle der Vernunft gestellt wird, eindeutig ein Sünder. Aber auch – und gerade – im Rahmen des ordnungspolitischen Diskurses begeht er ein Verbrechen.213 Denn mit der zunehmenden Sozialdisziplinierung wird der Ehebruch unter dem Aspekt einer möglichen Störung der öffentlichen Ordnung als Bedrohung für die Gemeinschaft angesehen, weil die Ehe keine private, sondern ›öffentliche‹ Einrichtung, Gegenstand obrigkeitlicher Ordnungspolitik geworden ist.214 Die Fokussierung auf die ordnungspolitisch relevanten Aspekte der Ehe führte dazu, dass das Ideal der Concordia zwischen den Eheleuten215 –––––––––––
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»vernünftige« von der »unvernünftigen« Liebe: während die zweite nur auf die physische Vereinigung zielt, erstrebt die vernünftige Liebe gleichzeitig und vor allem die Vereinigung zweier Seelen, so dass »eine vernünfftige Liebe niemahlen auf die Vermischung des Leibes ihr hauptsächliches oder auch gleichmäßiges Absehen richten müsse«. (Christian Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen, Oder Einleitung zur Sitten Lehre. Halle 1692, IV, § 49). Zum Einfluss der thomasischen Ethik auf die Librettoproduktion vgl. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 294ff. Zum Eherecht und zur Eheethik im 17. Jahrhundert vgl. Stephan Buchholz: Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Frankfurt / Main 1988, S. 15–230, bes. S. 109–134. Ausführlicher zu Thomasius vgl. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim u. New York 1971. In dem in diesem Kapitel behandelten Textbuch kommt zu diesen Auffassungen, für welche repräsentativ die leidenschaftliche Liebe des Aristäus und die erst in der Ehe entstandene Zuneigung von Pluto und Proserpina betrachtet werden können, eine dritte und neue Variante der Liebesehe (Orpheus und Eurydice) hinzu. Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«, S. 66. Vgl. auch Haag: Predigt und Gesellschaft, S. 218ff. Heide Wunder: Normen und Institutionen der Geschlechterordnung, S. 70. Auf die Vielfalt der Wechselbeziehungen zwischen Recht und Religion wurde in der Forschung bereits häufiger hingewiesen. So konstatiert Buchholz, dass »die naturrechtlichen Systeme der Schulorthodoxie des 17. Jahrhunderts [...] eine bruchlose Einheit von Moraltheologie, Moralphilosophie und Recht bewahrt und [...] im Theologischen verortet haben [...]«. Buchholz: Recht, Religion und Ehe, S. 2. Lawrence Stone vermutet, dass gerade im 17.–18. Jahrhundert die Ehe als Ort persönlichen Glückes dargestellt wurde, um mittels dieses Bildes gegen den Ehebruch vorzugehen. Vgl. Lawrence Stone: The family, sex and marriage in England, 1500–1800. London 1977, S. 241f. Zur Bedeutung der Ehe für die gesellschaftliche Ordnung s. auch Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«, S. 70ff. Wobei die herrschaftlich-hierarchische Ordnung, in welcher der Mann über der Frau stand, nicht aufgegeben wurde. Vgl. Schnell: Sexualität und Emotionalität, S. 125. Heide Wunder sieht dagegen für das 17. Jahrhundert zwei gegenläufige Tendenzen: »die Gefährtenschaft von Mann und Frau und die Hierarchie von Mann und Frau«. Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«, S. 74.
120 sowie die besondere Berücksichtigung von moralisch-sittlichen Vorzügen bei der Wahl des Ehegatten in den Vordergrund traten.216 Auch dagegen verstößt Aristäus, denn für ihn steht die erotische Anziehung im Vordergrund. Insofern handelt er nicht nur darin gegen die Vernunft und die Ordnung, dass er von Eurydice den Ehebruch fordert, sondern auch, weil er bereits seine Wahl aufgrund falscher Kriterien trifft. Seine Schuld wird durch sein königliches Amt noch zusätzlich erschwert: als fürstlicher Herrscher vernachlässigt er staatliche Aufgaben sowie gesellschaftliche Pflichten und stellt sein Begehren über das Wohl seines Königreichs.217 Die Rebellion der Untertanen, die ihm droht, ist die logische Konsequenz seines Handelns, denn er hat sich selbst die Legitimation zum Herrschen entzogen.218
3.3.5. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice und der zeitgenössische Notzuchtdiskurs Kompositorisch bildet die Nötigung Eurydices durch Aristäus (III.2) das Zentrum des Stücks.219 Die ersten zwei Handlungen zeigen die sich entwickelnde Leidenschaft des Aristäus, welche trotz ihrer strikten Ablehnung durch Orpheus und Eurydice sowie aller Prophezeiungen und Ermahnungen der Eltern in seinem Entschluss mündet, sich von »Gewalt durch List«220 leiten zu lassen. Die anschließenden Handlungen stellen eine Katabasis im doppelten Sinne dar und finden ihre Lösung in der triumphierenden Gerechtigkeit. Ist es also auf der sprachlichen Ebene vor allem das Eheglück, das hervorgehoben wird, so ist es auf der strukturellen Ebene die Aristäus-Sequenz des Mythos und die durch sie ––––––––––– 216
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Vgl. Schnell: Sexualität und Emotionalität, S. 125. Haag: Predigt und Gesellschaft, S. 233. Auch die oben diskutierte Predigt Franks betont den Vorzug der Sittlichkeit als besonders wichtig für das gelungene Eheleben. Bezüglich des frühneuzeitlichen Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft stellt Maria E. Müller fest, dass »die Beherrschung männlicher Triebnatur auch in der gesamten abendländischen Tradition als Voraussetzung und Ausweis rechter Herrschaft [gilt], wie umgekehrt Tyrannei und Machtmissbrauch mit sexueller Perversion und Frauenschändung assoziiert sind«. Maria E. Müller: Naturwesen Mann. Zur Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Ehelehren der Frühen Neuzeit. In: Wunder u. Vanja: Wandel der Geschlechterbeziehungen, S. 43–69, hier S. 44. Vgl. die in der frühen Neuzeit gängige aristotelische Definition des Sklaven: »Denn von Natur ist derjenige Sklave, der imstande ist, einem anderen zu gehören – deswegen gehört er ja auch einem anderen – und der in dem Maße an der Vernunft Anteil hat, daß er sie vernimmt, aber sie nicht (als ihn leitendes Vermögen) besitzt; denn auch die übrigen Lebewesen (besitzen) keine Vernunft, der sie gehorchen können, sondern da sie nur Sinneswahrnehmungen haben, folgen sie en Affekten.« Aristot. pol. I, 1254 b 21. Übers. von Eckart Schütrumpf. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 9. Darmstadt 1991. Als zweiter Auftritt der drei Auftritte umfassenden dritten Handlung nimmt sie die zentrale Stellung im Textbuch ein. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B3v: »So soll Gewalt durch List / auch mir ein Führer seyn.«
121 evozierte Ehebruchsthematik, die entwickelt werden. Betrachtet man allerdings die bereits erwähnten ›Stilbruchstellen‹ genauer, erweist sich das Thema des Ehebruchs als Teil einer breit aufgefassten Notzuchtproblematik, welche im Textbuch wiederholt behandelt wird. So ›gleitet‹ beispielsweise Cyrene ins niedere Stilregister ›ab‹, als sie erkennt, dass Aristäus die Liebe zur Ehefrau eines Anderen vor ihr verheimlicht (»Beym Styx! du wilst gewiß nach Eheweibern gaffen.« [B2r]) und als sie über das eigene Vergehen spricht (»Muß man das Löffeln auch gestehn?« [C4v]). Proserpina unterläuft ein Fauxpas, als sie Eurydice erblickt und berechtigterweise Eifersucht verspürt: Sie hat gar einen schönen Spiegel / Halt / Alter / schau / daß du dich nicht vergaffst. [Dr]
Aristäus und Pluto durchbrechen die Stilebene, wenn sie sich von ihren Begierden verleiten lassen: ARIST[ÄUS] Her / mit dem Schooß und mit der Brust! Ich kühle mich. Ihr hat wol mehr gemust. [C3v] [...] PLUTO Wer bistu denn / du angeputzter Schnügel? [Dr]
Auf der inhaltlichen Ebene ist Eurydice nicht die einzige weibliche Figur, die Opfer einer Nötigung wird. Cyrene und Proserpina teilen – jede auf ihre Weise – dieses Schicksal mit ihr: Cyrene wird für ihren ›Fall‹ entschädigt,221 während Proserpina ihren Entführer heiratet. Diese drei Konstellationen werden in der zeitgenössischen Literatur und in der bildenden Kunst häufig dargestellt; es ist zu vermuten, dass die literarischen Texte den zeitgenössischen juristischen sowie moralisch-theologischen Diskurse wie auch nicht selten die Realität reflektieren, indem sie allerdings die Reflexion um eigene Deutungsspielräume und -ebenen komplementieren.222 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Interpretation im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice vorgelegt wird und welche – womöglich neue – Inhalte an ihrem Beispiel zum zeitgenössischen Notzuchtdiskurs beigetragen werden.
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»ARISTÄUS [...] Davon der grosse Peel Die Zier Thessalien / den Beyschlaf ausgesungen: So daß noch Libien / mein heimlich Vaterland Ernehret viel Cyrener / So weit euch solches Land zum Braut-Schatz zuerkandt.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, B3v. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung über die Vergewaltigungsdarstellungen in der deutschen Literatur unter besonderen Berücksichtigung historischer Rechtsnormen hat Gesa Dane vorgelegt. Exemplarisch für das 17. Jahrhundert behandelt die Autorin vier Erzählungen in Harsdörffers Anthologie Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte, Grimmelshausens Courasche sowie entsprechende Passagen in Lohensteins Großmüthigem Feldherrn Arminius. Vgl. Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005.
122 Alle drei Stränge wurzeln in der darstellenden Tradition des sogenannten »heroischen Raubs« 223, deren Anfänge in der Literatur und in der bildenden Kunst der Antike zu finden sind. Mit dem Motiv eines Gottes oder Heros, der das Objekt seiner Gefühle verfolgt und/oder verführt, war seit der Antike auch die Metapher der Liebe als Jagd verknüpft.224 Im Eurydice-Strang tritt Aristäus in die Fußstapfen der großen mythischen Helden und erprobt in seinem Bestreben, Eurydices Liebe zu gewinnen, nacheinander Verführung und Gewalt.225 Aus der Sicht der zeitgenössischen Rechtssprechung allerdings läuft Eurydice als verheiratete Frau in dieser Situation vor allem Gefahr, Ehebruch zu begehen. Die Notzucht wurde in erster Linie als Verbrechen und Vergehen wider die Ehre und die Sittlichkeit, dann als Angriff auf die Keuschheit der Frau aufgefasst; war deren Opfer eine verheiratete Frau, so wurde das Verbrechen als Ehebruch eingestuft.226 Dies war mit dem rechtlichen Status der Frau verbun––––––––––– 223
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Von Susan Brownmiller eingeführt, stammt die Motivbezeichnung ›heroic rape‹ ursprünglich aus der Kunstgeschichte und bezieht sich auf die Darstellungen der Entführung, in denen der Entführer ein Gott oder Heros aus der römischen oder griechischen Mythologie bzw. Geschichte ist. Susan Brownmiller: Against Our Will. Toronto 1975, S. 313. Vor allem in der bildenden Kunst der frühen Neuzeit sind solche Darstellungen zahlreich, typisch für sie sind »the aestheticization of rape; the sanitization of the violent and sexual aspects of the theme; the focus on the point of view of the rapist and the male relatives of the victim; the suggestion of a happy ending [...]«. Diane Wolfthal: Images of rape. The »heroic« tradition and its alternatives. Cambridge 1999, S. 9. Vgl. Wolfthal: Images of rape, S. 12ff, mit Literaturverweisen zur Verknüpfung von Jagdund Liebethematik bei Ovid. Auch dieser Gedanke wurzelt in der antiken Tradition: versagt die Verführung, so ist Gewalt angesagt. Im deutschen Barockdrama steht die literarische Gestaltung der Reflexion über das Verhältnis von sexueller Gewalt und Liebe im Zeichen einer produktiven Rezeption von Torquato Tassos Aminta. Auch im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice ist die Gestaltung der Nötigungsszene der Satyr-Episode aus Tassos Aminta verpflichtet: die Rolle des zudringlichen Satyrs wird auf den König Aristäus übertragen. Zur Rezeption von Tassos Satyr-Episode im deutschen Barockdrama vgl. Achim Aurnhammer: Torquato Tassos zudringlicher Satyr im deutschen Barockdrama. In: Italienisch-europäische Kulturbeziehungen im Zeitalter des Barock. Hg. v. Brigitte Winklehner. Tübingen 1991, S. 165–180. In der zeitgenössischen Literatur wird der Gedanke zum Topos: auch bei Harsdörffer (Die Genothzüchtigte) und Lohenstein (Arminius, Bd. I, 11bff.) schreiten die Männer erst nach den misslungenen Verführungsversuchen zur Gewalt. Dass diese Tradition im 17. Jahrhundert zumindest in Rom lebendig war, belegen Gerichtsprotokolle über Vergewaltigungsfälle. Vgl. Elisabeth E. Cohen: »No Longer Virgins«. In: Refiguring Woman: Perspectives on Gender and the Italian Renaissance. Hg. v. Marilyn Migiel u. Juliana Schiesari. Ithaca u. a. 1991, S. 169–191, hier S. 184. »Rape was primarily moral offence in traditional law, associated with crimes like fornication, adultery, sodomy and bestiality and not with crimes of violence. It belonged to the world of indecency rather than to that of violence; it was illicit enjoyment rather than illicit injury [...]. It was first and foremost an act of lasciviousness.« Georges Vigarello: A History of Rape. Sexual violence in France from the 16th to the 20th century. Cambridge 2001 (Franz. Orig. 1998), S. 30. Dane differenziert dagegen zwischen den Rechtsnormen des 17. Jahrhunderts (die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532, die sogenannte Carolina, die als übergeordnetes Reichsrecht im deutschen Sprachraum galt), entsprechend denen die Vergewaltigung als Ehrenraub an der Frau, deren Familie und Haus verstanden wurde, und dem geänderten Verständnis als ›fleischliches Verbrechen‹ oder ›Verbrechen
123 den: rechtlich unselbständig, ›gehörte‹ sie entweder zu ihrem Vormund oder zu ihrem Ehemann, die als eigentliche Opfer des ›Eigentumsdeliktes‹ in den Vordergrund traten.227 In dieser Hinsicht ist das Verhalten Eurydices signifikant. Sie sieht sich vor allem vor eine moralisch-ideologische Wahl gestellt, denn sie verteidigt gegen Aristäus ihre Ehre und ihre Tugendhaftigkeit. Aber noch mehr geht es in der Verführungsszene um die Ehre ihres Mannes.228 Eurydice selbst tritt in den Hintergrund, ihr Wille erscheint als nicht oder nur wenig entscheidend, in ihrer Verteidigung spielt lediglich der Entschluss, Orpheus treu zu sein, eine Rolle: Es soll die Hölle mich mit Flamm und Gluten strügeln / Und zu Ixion hin verketten und verriegeln. Wenn dieses ich an meinem Orpheus thu. [C3r]
Dabei ist bemerkenswert, dass sich Aristäus beim Einsatz seiner Verführungskünste vor allem auf seinen königlichen Status beruft und diesen gegen den angeblich niedereren Künstlerstatus des Orpheus ausspielt. Dem hält Eurydice die göttliche Abstammung ihres Ehemannes sowie die Göttlichkeit seiner Kunst entgegen: ARIST[ÄUS] Der mehr als Orpheus ist / erscheint euch zu vergnügen. EURYD[ICE] Was nicht von Orpheus kömt / ist lauter Wüsteney. ARIST[ÄUS] Soll dieser Spielmann denn alleine bey euch liegen? ERYD[ICE] Darzu verbindet mich der Liebe feste Treu. ARIST[ÄUS] Ihr wist nicht wer ich bin. Ein König ist ja besser / Und dessen Liebe grösser. [...] Ja / was ist das? ihr müst ermessen / Wer Aristäus ist: Ich bin ein grosses Haubt und der Pelasgen König. EURYD[ICE] Auch dieser ist mir viel zu wenig / Wenn ihm mein Eh- und Ehren-Bruch gelüst. –––––––––––
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gegen die Sittlichkeit‹ zunehmend seit dem 18. Jahrhundert. Vgl. Dane: »Zeter und Mordio«, S. 29. »The words used in some trials illustrate this neglect of the victim in favour of her »owners«: adultery committed by force«. The word used in the sentence was »adultery«; the harm done to the husband took precedence over that done to the wife.« Vigarello: A History of Rape, S 46. Dane: »Zeter und Mordio«, S. 107. Nicht zufällig spricht Eurydice Orpheus als ihren »Schützer« an, vgl. z. B. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (B5)r. Im Hinblick auf das frühneuzeitliche Ehrenverständnis stellt Lyndal Roper fest: »Die weibliche Ehre war unmittelbar an den Körper der individuellen Frau gebunden, die männliche Ehre dagegen mit der Teilhabe am öffentlichen Leben, mit der Arbeit und mit dem Status verknüpft.« Lyndal Roper: »Wille« und »Ehre«: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen. In: Wunder u. Vanja: Wandel der Geschlechterbeziehungen, S. 180–229, hier S. 197. Zur literarischen Verarbeitung des Ehrencodes vgl. Maria-Theresia Leuker: ›De last van `T huys, de wil des mans...‹ Frauenbilder und Ehekonzepte im niederländischen Lustspiel des 17. Jahrhunderts. Münster 1992, S. 255ff. Vgl. auch Jocelyn Catty: Writing Rape, Writing Women in Early Modern England. Unbridled Speech. London 1999.
124 Seyd ihr ein Printz von Götter Fürsten her / So ist mein Orpheus auch nicht etwa ohngefehr Aus einem Stein entsprungen. Ist nicht Bäotien von seinem Stamm erklungen. Es ist der Helicon der Mutter Vaterland. Die Götter-Macht der Finger Ist alß eur Zepter nichts geringer. [C2v–C3r]
Die Macht der Kunst wird somit von Eurydice auf die Ebene der weltlichen Macht angehoben; allerdings tritt dadurch das Argument der Treue aus Liebe etwas zurück. Überhaupt vermittelt die Verführungsszene den Eindruck eines Eloquenzzweikampfes.229 Erfolglos in der Berufung auf seine königliche Macht, versucht Aristäus, mit der Stärke seiner Gefühle zu argumentieren, während er gleichzeitig den Schaden, der Orpheus im Falle Eurydices Untreue erleiden soll, relativiert: ARIST[ÄUS] Eurydice / ihr seyd weit beßrer Liebe werth. EURYD[ICE] Mich wundert daß ein König das begehrt. ARIST[ÄUS] Ihr seyd die schöneste / die Phocis ie gekennet. Bedencket doch/ wie heiß mein Hertze brennet EURYD[ICE] Was würde Orpheus darzu sagen? ARIST[ÄUS] Der kan schon Hörner tragen. Sein Leib ist stark und groß. Sein Scheitel wacker hart. EURYD[ICE] Wie? Giebet sich ein Printz bey mir so bloß / Und hält der Ehre Wiederpart? ARIST[ÄUS] Ihr müst und solt mich lieben. EURYD[ICE] Es sol der Cerberus mich tödten und betrüben So bald ich solches thu. [C3r]
Da auch diese Strategie nichts nutzt, versucht Aristäus es schließlich mit der Relativierung des Verstoßes selbst, was die zweite Ursache für Eurydices Beständigkeit offenbart: ihre Angst vor der Sünde des Keuschheitsverlustes und der darauffolgenden unabwendbaren Strafe. Die Situation wird somit für Eurydice auch zu einer Prüfung auf die Beständigkeit im Glauben: ARIST[ÄUS] Ihr könt ja meinen Willen Mit weniger Geduld in aller Kürtze stillen. Wir sind ja gar allein. EURYD[ICE] O! nein. O! nein. Wenns auch kein Mensche sieht und höret / So siehts der Himmel doch / Der wieder Laster sich mit Straff und Pein empöret. ARIST[ÄUS] Ist euch nicht mehr bekandt / wie Mars zur Venus kroch. ––––––––––– 229
Eine ähnliche Auffassung ist für die Beschäftigung mit der Notzuchtproblematik in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit festzustellen.: »Debate, the guiding principle of Renaissance education and rhetoric, frequently takes rape stories as its subject, and is also often presented as intrinsic to the rape situation. Debate may take the form of the rapist’s mental struggle with the idea of rape; more commonly, however, it manifests itself in a competition between the »male« art of persuasion and the »female« art of dissuasion [...]«. Catty: Writing Rape, S. 2., ausführlicher dazu ebd. S. 20f.
125 EURYD[ICE] So sah es doch die Sonne: ARIST[ÄUS] Weil Gallus nicht gewacht. EURYD[ICE] Dies hat ihn auch in Hertzeleid gebracht. Daß er / ein Mensch / zum dummen Viehe worden. ARIST[ÄUS] Was schadet Orpheus denn der Hahnen-Orden? Ein schönes Weib muß nicht Leibeigen seyn. Ey / gebt euch immer drein. [C3r]
Erst als Aristäus merkt, dass seine Worte keine Überzeugungskraft besitzen, geht er zur Gewalt über. Dabei wird das ›Heroische‹ einer Liebesjagd sprachlich dekonstruiert; es ist die ›gejagte‹ Eurydice, die ihren ansonsten in der Tradition als bewundernswert dargestellten göttlichen Verfolger230 charakterisiert: Ihr seyd in Unzucht gantz ersoffen. Daß ihr / gleichwie ein blinder Hengst / Von einem Baum mich zu den andern qvält und ängst. [C3v]
Es ist auffallend, dass Aristäus nicht imstande ist, Eurydices Verhalten richtig zu interpretieren, So nimmt er ihre Zustimmung für gegeben und stuft sie dadurch seinerseits auf die Ebene des Kreatürlich-Triebhaften herab: Ich sage nein darzu. Eur Weigern ist nur Possen. [C3r]
Das Verhalten des Aristäus korrespondiert mit der für die Frühe Neuzeit charakteristischen deutlichen Abgrenzung der Geschlechter im Hinblick auf das sexuelle Verhalten: dem Mann wurde die aktive, der Frau die passive, abwartende Rolle zugestanden. Die Keuschheit, die als die weibliche Haupttugend galt, ließ den Frauen keine Wahl und keine Möglichkeit, eventuelle Zustimmung auch nur zu äußern; somit ist die Vorstellung, Frauen stimmen zu, auch wenn sie ablehnen, zu einem Topos geworden.231 Dabei wurde dem männlichen Willen häufig die bewusst eingesetzte weibliche Verführungskunst entgegengehalten. In Untersuchung zur Problematik der Notzuchtdarstellungen im englischen Drama der Frühen Neuzeit hat J. Catty eine spezifische Funktion des Notzuchtmotivs festgestellt: die Notzucht bzw. die Gewaltandrohung fungiert als Prüfung der weiblichen Keuschheit und Tugend und/oder als Prüfung des Herrschers auf seine Machteignung,232 wobei der Ausgang der ›Prüfung‹ für die weibliche Figur nicht zuletzt von ihren rhetorischen Fähigkeiten abhängig ge––––––––––– 230 231
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Vgl. z. B. die Geschichte von Apollo und Daphne im 1. Buch der Metamorphosen. Vgl. Schnell: Sexualität und Emotionalität, S. 294ff. Vgl. auch Catty: Writing Rape, S. 11ff. Bei der Auswertung der Akten der Augsburger Kriminalprozesse stellt L. Roper eine »fundamentale Geschlechtsasymmetrie« fest, infolge deren »Geschlechtsverkehr als Resultat des männlichen Willens und des weiblichen Konsenses« begriffen wird. »Der Wille der Frau konnte von dem Mann so weit ignoriert werden, daß allein ihr Schweigen als Zustimmung galt.« Roper: »Wille« und »Ehre«, S 187ff. Auch dieser Gedanke geht auf die antike Vorstellung zurück. Aristäus verletzt die Tugenden, die von einem vorbildlichen Herrscher erwartet werden – die Zügelung seiner Affekte und die Klugheit. Dies stellt die Verbindung der Aristäus-Figur mit den Tyrannendarstellungen des zeitgenössischen Dramas her, wie Chach Abas in Gryphius’ Catharina von Georgien.
126 macht wird.233 Das hier analysierte Textbuch begnügt sich allerdings nicht mit dieser Lösung: Eurydice bezahlt ihre Keuschheit mit ihrem Leben – womit sie allerdings die ›Prüfung‹ besteht. Gehören im Eurydice-Strang die Sympathien der Zuschauer eindeutig der Protagonistin, so erlauben im Cyrene-Strang die Gestalt und die Geschichte von Aristäus’ Mutter keine einfache Beurteilung. Trotz ihres Widerstandes wurde Cyrene von Apoll entführt: ARIST[ÄUS]
Hat nicht Apollo auch zum Lieben euch gezwungen? [B3r]
Überraschend für eine Verarbeitung des Orpheus-Mythos rückt nun ausgerechnet Cyrenes Schicksal – gebunden an die Auseinandersetzung um ihr Verhalten – in den Vordergrund. Ihr Vergehen wird unterschiedlich eingeschätzt. Einerseits erscheint sie als Sünderin und Mitschuldige am »Löffeln« – als ›gefallene Frau‹, wie sie selber gesteht.234 Andererseits offenbart sie trotz einer unterwürfigen Wiederholung des Topos der weiblichen Schwäche immer wieder ihre tatsächliche Sichtweise auf das Erlebte, so beispielsweise in ihrem Gespräch mit Aristäus: Das war ein Zwang / ein Raub und eine List. Ein schwaches Weib / wie kan das wiederstehen? [B3v]
Nicht zuletzt geht sie in ihrer Verurteilung der Gewalt an Frauen so weit, dass sie ihren eigenen Sohn schon für seine unehrlichen Absichten verflucht. Ein eindeutiger und offener Bruch mit der Darstellungstradition erfolgt allerdings erst in der Szene vor dem Unterweltgericht des Pluto und der Proserpina. Zuerst findet Cyrenes Bitte um Gnade kein Gehör, was der zeitgenössischen Auffassung von der Notzucht als Sünde und Verbrechen gegen die Sittlichkeit und den davon abgeleiteten Konsequenzen bei der Beurteilung von Opfer und Täter entspricht. Denn unabhängig von seiner Einwilligung war das Opfer an der Sünde der Lüsternheit beteiligt und wurde somit zur Komplizin im Verbrechen.235 Darüber hinaus prävalierte die Überzeugung von der dämonisch-lüsternen Natur der Frauen, was den Verdacht auf die bewusst eingesetzte weibliche Verführung nährte. Parallel dazu existierte die Auffassung, dass die
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»Rape thus paradoxically functions as a means of identifying women as either possessing or lacking the cardinal female virute: chastity. The rapist »tests« the woman for this virtue by defining rape as a failure of her eloquence.« Catty: Writing Rape, S. 2. »Complicating the issue is the fact that female sexual denial is usually figured as the active decision to be chaste, rather than to reject an offer on any other grounds.« Catty: Writing Rape, S. 15. »CYRENE Muß man das Löffeln auch gestehn? BACH[IDES] O ja! CYRENE So bitt ich um Genade.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (C4)v. Vgl. Vigarello: A History of Rape, S. 24, 30ff. »Who »yielded«, even to violence, was already »corrupted«, lost to debauchery, conquered by evil, which explains the suspicion and the frequent absence of any investigation into his degree of responsibility.« Vigarello: A History of Rape, S. 34; ebd. S. 24. Vgl. Dane: »Zeter und Mordio«, S. 79f.
127 Frauen physisch stark genug waren, um ihre Ehre erfolgreich zu verteidigen.236 Aus dieser Sicht ist es nicht verwunderlich, dass Cyrenes Behauptung, sie habe sich gewehrt und sei der Gewalt unterlegen, auf kein Verständnis stößt: CYRENE Ihr Götter zürnet nicht ob meinen Sünden Und last mich Lindrung finden. Apollo selbst hat mich geteuscht. Ich wurd darzu gezwungen. Er hat mit mir gar lange drum gerungen. Der Noth-Zwang stillt des schwachen Weibes Schuld. Beweiset eure Huld. PLUTO Was Huld? PROSERPINA was Schuld? BACHIDES was weisen? PLUTO. PROS. BACH. Wer was vebricht / gehört bey uns in Band und Eisen.237
Die Situation wendet sich allerdings schlagartig, sobald Cyrene direkt Proserpina anspricht und die eigene Erfahrung auf die der Unterweltkönigin projiziert. Die Wiedergutmachung der Gewalt durch Heirat von Täter und Opfer, der sich nicht selten auch die finanzielle Entschädigung anschloss, ist die Praxis, die bereits im Pentateuch vorgeschrieben wird238 und als Grundgedanke auch in die Rechtsnormen der christlichen Gesellschaften – und deren Wiederspiegelung in der Literatur – eingegangen ist.239 Bereits bei Ovid heißt es über die Entführung ––––––––––– 236
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Vgl. Vigarello: A History of Rape, S. 42ff. »The other version of rape in these first modern stories is one of successful resistance, a triumphant defence, confirming that women were able to resist if they really wanted to.« Vigarello: A History of Rape, S. 45. Als literarischer Topos auch bei Catty: Writing Rape, S. 17: »The troping of chastity – and frequently also beauty – as all-powerful contributes significantly to the belief that only suicide can prove a raped woman innocent of sexual desire and enjoyment.« Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (C6)r. Als mögliche Entlastung fungiert häufig der Selbstmord – ein auf das Beispiel Lukrezias zurückgehender, zumindest in den englischen literarischen Texten nicht seltener Beweis der eigenen Unschuld: »If [the woman] fails and is raped, suicide may redeem her, or alternatively, an impulse towards suicide followed by marriage to the rapist [...]«. Catty: Writing Rape, S. 100. Gerade die Geschichte der Lucretia, insbesondere ihre Diskussion in De civitate Dei des Augustinus (Aug. civ. 1, 28) erwies sich für die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema als besonders wirkungsvoll. Zwei Aspekte traten dabei in den Vordergrund: die Fragen nach der Zulassung des Selbstmordes und nach der Schuld der Frau durch geheimes Einverständnis. So widmet Lohenstein ihnen ein Streitgespräch innerhalb der Romanhandlung des Arminius. Daniel Casper von Lohenstein: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Leipzig 1689–1690. Neudruck hg. v. E. Szarota. Hildesheim u. New York 1973, S. 423aff. Dtn 22, 28–29. So stellt Catty für die englische Literatur der Frühen Neuzeit fest: »Comparably, the presence of rape in a narrative has different generic consequences, causing it to develop into either tragedy or tragicomedy. This hinges not only on whether the rape is achieved or not, but on whether raped woman commits suicide (producing tragedy) or marries her rapist (a happy ending). [...] The raped or threatened woman coming to pity or even marry her attacker is common phenomenon. Such characters implicitly or explicitly define rape as an expression of love, rather than as a traumatic sexual crime«. Catty: Writing Rape, S. 20– 22. In der rechtlichen Praxis des 17. Jahrhunderts werden solche Ehen allerdings zuneh-
128 der Proserpina: »Aber will man die Dinge beim rechten Namen nennen, ist diese Tat kein Unrecht, sondern Liebe.«240 Auch die Handlung des hier betrachteten Textbuches suggeriert anfangs das glückliche Ende von Proserpinas Raubgeschichte: in IV.1 bedankt sich Proserpina bei Pluto für die ihr erwiesene Ehre.241 Als sie aber durch Cyrene an die Einzelheiten ihrer Entführung erinnert wird, spricht sie diese sofort von aller Schuld frei, wobei der Eindruck entsteht, als wolle Proserpina nichts mehr darüber hören: CYRENE [...] Doch / Göttin / denckt zurück / wie euch geschah / Da ihr Narcissen auf der Insul suchtet / Und bey dem Orcus fluchtet. Es solte euch allda Die Buhlschafft nicht gewinnen / Noch Garn zur Haube spinnen. Was kontet ihr dafür? Da Pluto kam mit Pferden vor die Thür / Und euch gantz wieder Willen raubte Und auch hernach behaubte. Wer kan denn wieder List und Zwanck? [...] Ein Weib ist viel zu schwach / –––––––––––
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mend für nichtig erklärt. Der Grund dafür ist jedoch vor allem im Schutz des Familieneigentums vor unerwünschten ›Eindringlingen‹ zu sehen. So verkündet 1676 der Hamburger Stadtrat: »[...] dafern jemand / Er sey Frembd oder Einheimisch / Bürger oder Einwohner dieser Stadt / eine getraute oder ungetraute Person / Eheweib / Wittibe / Jungfrauw / von was Jahren oder Qualität Er oder Sie auch seyn mögen / ohne Vorwissen / Willen oder völlige Beliebung der Eltern / Vormünder / oder nechsten Bluts-Verwandten / beedes von Vater und Mutter / in Ehegelöbniß zu ziehen / oder ohne ihren Willen / es sey umb Unehrlicher oder Ehrlicher Liebe / ihres habenden Geldes halber / oder was sonst für Ursachen seyn können / entführen / selbe ihm heimb- oder öffentlich / für oder nach der Verkuppelung oder Entführung / in- oder ausser der Stadt / von ordentlichen oder frembden Predigern sich trauen lassen würde; daß solche Handlung [...] für keine Ehe geachtet [...]«. Edictum Poenale. Hamburg 1676. »[...] sed si modo nomina rebus addere vera placet, non hoc iniuria factum, verum amor est [...]«. Ov. met. 5, 524–526. Zitiert nach: Ovidius Naso, Publius: Metamorphoseon libri quindecim. Metamorphosen. Lateinisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994. Allerdings schildert bereits Ovid Proserpina als traurige Königin; auch die Nymphe Cyane verurteilt bei Ovid die Tat Plutos. »PROS[ERPINA] Ich bin geehret und erhöht / Nachdem mein Fuß auf euren Trohne steht. Cicilien / mein staubicht Vater-Land / Muß gegen dieses Reich sich schmügen und verkriechen. Ich solt und muste fast den fetten Braten riechen Bevor noch eure schnelle Macht / Und die geflügelten sechs Rappen / Mich konten recht an Enna Sumpf ertappen. Und da ich vollends nun hieher gebracht Bin ich an Gottheit reich und groß / Und gebe Juno nichts zuvor [...]«. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice, (C5)r.
129 Sie ist ja tausendfach / Zu zwingen / durch Gewalt und Trügereyen / So werdet ihr auch mir vergeben und verzeihen. PROS[ERPINA] Halt ein. PLUTO daß wissen wir. PROS[ERPINA] Wir wollen dich der schweren Straff entladen / Und dieses mal befreyen und begnaden. PLUTO Soll es so seyn? BACHIDES. wenns ihr also gefällt. PROSERPINA. Ja / ja. PLUTO. BACH[IDES] Nu / nu / so bleibts dabey.242 [(C6)v–Dr]
In dieser Szene erfolgt damit eine eindeutige Stellungnahme zur Notzucht, welche erstaunlicherweise die Perspektive der Frau berücksichtigt, wobei ebendieser Recht gegeben wird: Die Liebe hat mit der Jagd nichts gemeinsam, die Notzucht ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Frau und erst dann gegen das Eigentum des jeweiligen männlichen Familienmitgliedes und schließlich ist bei diesem Verbrechen eindeutig zwischen dem Opfer und dem Täter zu unterscheiden. Explizit und lapidar wird dieser Gedanke von Erinnys vorgetragen: »Wer wider Weiber kämpft / empfänget Hohn zum Gold« [D4v]. Allerdings bleibt das Singspiel mit der Lösung des Konfliktes sehr zeitgemäß: das Verbrechen an sich und die Täter werden zwar verurteilt, aber alle entkommen der verdienten Strafe.243 Apollo und Pluto sind aufgrund ihrer Göttlichkeit unantastbar,244 und Aristäus, der sich eigentlich in seinem Handeln lediglich ein Beispiel an den Großen nimmt, wird verziehen, nachdem er einige, gewisse Anstrengung erfordernde Bedingungen erfüllt hat. Dabei ist bemerkenswert, dass es seine Mutter Cyrene ist, die ihm hilft. Von größter Wichtigkeit ist jedoch, dass das letzte Wort bei der Verurteilung von Aristäus Eurydice und nicht ihrem Mann oder dem Unterweltgericht gehört: sie ist es, die über Aristäus Schicksal entscheidet und schließlich ihrem Verfolger verzeiht. Nimmt man an, dass auch Texte die Realität mitzugestalten imstande sind, ist dies nicht unbedeutend.245 Somit kann die Mythosverarbeitung im Textbuch auch als ––––––––––– 242
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Bemerkenswerterweise unterscheidet sich auch die Arie des Orpheus in der Unterwelt von Ovids Vorlage und von den meisten Mythos-Verarbeitungen: in seinem Bitten um Eurydice beruft sich Orpheus nicht auf die Liebe, die Pluto und Proserpina verbunden hat. »Rape, like many forms of violence, was fiercely condemned by the texts of classical law but little punished by judges.« Vigarello: A History of Rape, S. 9. Zum gleichen Ergebnis kommt auch Nazife Bashar: Rape in England between 1550 and 1700. In: The Sexual Dynamics of History: Men’s Power, Women’s Resistance. London 1983, S. 28–42, hier S. 33f. Der Artikel 119 der Carolina sah für die »nottzucht« die Todesstrafe durch das Schwert vor. Auch für die literarischen Texte stellt Dane fest, dass es, mit Ausnahme von Harsdörffers Die Genothzüchtigte, »nur in Ausnahmefällen zu einem juristischen Verfahren gegen den Täter kommt«. Dane: »Zeter und Mordio«, S. 13. Pluto wird als glücklicher und selbstzufriedener Ehemann dargestellt; auch Apollo scheint im Prolog keine Reue zu empfinden. Als Gegenbeispiel könnte man Judith Butlers Feststellung anführen, dass sprachliche Formulierungen, und sei es auch solche in einem Gesetztext oder richterlichen Urteil, für potenzielle Vergewaltiger geradezu ermunternd wirken können. Vgl. Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹. In: Der Streit um
130 latente Kritik an dem im Notzuchtdiskurs der Zeit vorherrschenden Frauenbild gelesen werden.
3.3.6. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verarbeitung und die Aneignung des Orpheus-Mythos im Höllen-stürmenden Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice sowohl auf der strukturellen als auch auf der sprachlichen Ebene erfolgt. Von den drei Sequenzen der idealtypischen Verlaufsform wird lediglich die zweite aktualisiert. Dabei werden die fünf ersten Verlaufsstadien unverändert übernommen, während die zwei letzten (Übertreten des Verbots und Endgültiger Verlust der Frau) eine Reduktion bzw. Inversion erfahren: es gelingt dem Künstler, seine Frau aus dem Totenreich zu befreien, ohne dass er eine Bedingung erfüllen muss. Allerdings wird die überraschende Variation der Deutung nicht akzentuiert, sondern tritt gegenüber den zahlreichen Amplifikationen der anderen Verlaufsstadien in den Hintergrund. Besonders stark wird das siebte Verlaufsstadium (Überredung der Unterweltherrscher durch die Kunst) ausgebaut, es kann in diesem Fall sogar von einer Substitution gesprochen werden, da das Überreden der Unterweltherrscher durch die Schilderungen des Unterweltgerichts ersetzt wird. Darüber hinaus werden neue Phasen – der Aristäus- und der Cyrene-Strang – hinzugefügt. Diese Transformationen lassen den Mythos als Folie erscheinen, auf welcher andere, vollkommen fremde Inhalte transportiert werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die Komisierung des Mythos durch sprachliche Mittel (Travestie). Indem sie die Beziehungen der mythischen Helden ihrer symbolisch-heroischen Bedeutung und ätiologisch-genealogischen Motivierung beraubt, reduziert sie das Heldenhafte und Überzeitliche auf das Menschliche und schafft so einen Deutungs- und Applikationsspielraum, in dem die sozialen, zwischenmenschlichen und moralischen Problemen der Zeit thematisiert werden können. Die Mythos-Variation wird damit zum Forum, in dem zeitgenössische Ehe- und Notzuchtdiskurse zitiert und reflektiert werden. Dennoch gerät das Textbuch trotz seiner offensichtlichen moralisch-didaktischen Funktion nicht zur Moralpredigt. Einerseits wird das zeitgenössische Frauenbild in Frage gestellt, indem aus einer neuen Perspektive die Schuld der Frauen an der Sünde des Ehebruchs und der Verführung betrachtet wird und ein partieller Bruch mit der hier relevanten Diskurstradition erfolgt, andererseits wirkt gerade das versöhnliche Ende des Singspiels einer didaktischen Überformung entgegen und macht das Textbuch zu einem Diskussionsangebot. Paradoxerweise führt gerade die Sprache, welche die für die Thematisierung der mythosfremden Sachverhalte notwendige Distanz schafft, zum Mythos zurück. Dieser verliert in der Travestie seine Glaubwürdigkeit und wird in Frage ––––––––––– Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Hg. v. Seyla Benhabib u. a. Frankfurt / Main 1993, S. 31–58, hier S. 51–56.
131 gestellt. Der Einsatz des Mythos für ein Singspiel erweist sich so als Möglichkeit einer latenten Kritik am Mythos selbst. Allerdings legt ein um ein Jahr später verfasster Text die Vermutung nahe, dass diese ›Subversion‹ kein zufälliger Nebeneffekt gewesen ist. Die Generalvorrede zur letzten, 1684 entstandenen Eisenberger Oper mit dem Titel Ursprung der Römischen Monarchie enthält eine Art Programm, welches die Opern- und Mythologie-Debatte zwischen Vockerodt und Beer vorwegzunehmen scheint: Ist die Göttliche Ehre der Zweck aller Menschlichen Verrichtungen, so sollen fürwahr auch die Schauspiele aus denen Schranken dieser Schuldigkeit nicht ausgeschlossen werden. Dahero leicht zu gedenken, daß abgöttliche, Heydnische Reden, Fluchen, unzüchtige Worte und Geberden, und was die Menschheit mehr ärgern kann, sich auf dem Theatro verbergen müsse. [...] Eine Schaubühne ist eine Politische Cantzel, und gleichwie diese nichts, als Erbauung der Zuhörer, suchet, also soll auch jene nach keinem andern Ziel trachten, als daß die Zuschauer durch die vorgestellten Handlungen zur Tugend behertzt und erhitzt gemacht werden mögen. [...] Inmassen Er [der Herzog] dann in folgenden zukünfftigen Schau-Spielen eine solche Ordnung gemacht, daß er bey Aufführung derselben, mit gutem Gewissen, so wohl die Jugend als Alte, und alle andere dem Himmel ergebene Gemüther zuschauen lassen kan. Und das eben ist des höchstlöblichen Hertzogs sein meistes Bewegniß, warum Er so wohl denen Geistlichen Historien, als auch denen Heydnischen Fabeln seine Schau-Bühne zuschliesset. [...] Gleichwie auch unmöglich, daß eine Abgöttische Fabel ohne Reitzung der Abhötterey in einem beyfälligen Gemüthe kan angesehen werden [...].246
Ob der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer in seiner Offenheit die einem Singspiel gesetzten Grenzen überschritten hat oder ob die latente Mythos-Kritik ein erster bewusster Schritt zum Verzicht auf ›heidnische Fabeln‹ gewesen ist, bleibt allerdings ungewiss.
3.4.
Der beständige Orpheus (Salzdahlum 1684)
3.4.1. Einleitung Das Singspiel wurde aus Anlass der Hochzeit von Augusta Dorothea, einer Tochter des Herzogs Anton Ulrich zu Braunschweig und Lüneburg, mit dem Grafen Anton Günther von Schwarzburg-Sondershausen verfasst.247 Die ––––––––––– 246
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Ursprung der Römischen Monarchie. Zur 1696 entzündeten Polemik zwischen dem Gothaer Schulrektor und Pietisten Gottfried Vockerodt und Johann Beer, Christoph Wentzel und Johann Christoph Lorber vgl. Rainer Bayreuther: Der Streit zwischen Vockerodt und Beer. In: Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter 1655–1700. Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 285–303. Anton Günther II. (1653–1716) war der zweite Sohn des Grafen Anton Günther I. von Schwarzburg-Sondershausen. Er regierte nach dem Tode seines Vaters 1666 als Graf und von 1697 an als Fürst. Seine Jugend verbrachte er bis zur Volljährigkeit am Wolfenbütteler Hof, während sein Onkel und seine Mutter für diese Zeit für ihn die Regierung übernahmen. 1683 verlegte Anton Günther als Erbe seines 1681 verstorbenen Onkels Ludwig
132 Aufführung fand am 6. August 1684 in der fürstlichen Residenz Salzdahlum statt.248 Das Titelblatt des Librettoexemplars erwähnt weder den Verfasser der nicht erhaltenen Musik noch den Librettisten.249 Als Komponist wird Johann Rosenmüller vermutet, der zu den bedeutendsten Musikern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zählt und seit 1682 bis zu seinem Tod am 12. September –––––––––––
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Günther seine Residenz nach Arnstadt. Anton Günthers Gemahlin Augusta Dorothea (1666–1716) ist u. a. die äußere Prachtentfaltung des Arnstadter Hofes zu verdanken, wobei die besondere Aufmerksamkeit dem regen Musikleben galt. Zu dessen Höhepunkten zählt das Wirken von Johann Sebastian Bach als Organist der Neuen Kirche zu Arnstadt in den Jahren 1703 bis 1707. Auch die Verbindung zum Wolfenbütteler Hof, an dem Anton Günther und Augusta Dorothea erzogen wurden und dessen kunstfreundliche Atmosphäre sie prägte, blieb verhältnismäßig eng. So widmete Friedrich Christian Bressand, der Wolfenbütteler Hofdichter, Augusta Dorothea zwei Opern: Die Plejades von 1693 und Penelopa von 1696. Die fürstliche Ehe blieb kinderlos. Zu Anton Günther II. vgl. H. J. Ch. Apfelstedt: Heimatkunde für die Bewohner des Fürstenthums Schwarzburg-Sondershausen. H. 2: Geschichte des Fürstlich-Schwarzburgischen Hauses Sondershausen. O. O. 1865, S. 97–98. Eduard Vehse: Geschichte des Hauses Lippe zu Detmold und Bückeburg. Der Hof von Waldeck und Arolsen. Die Höfe von Schwarzburg und des Hauses Reuß zu Greiz und Schleiz. Leipzig 1856. Manfred Donhof: Barockplastik in Thüringen. Meister und Werke im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen 1680–1740. Arnstadt 1993, S. 12–16. Die Aufführung fällt in die zweite Periode der musikalisch-dramatischen Aufführungen am Wolfenbütteler Hof (1666–1685). Nach dem Tod des Herzogs August des Jüngeren am 17. September 1666 übernahm dessen ältester Sohn Rudolf August die Regierung. Dieser künstlerisch wenig interessierte Fürst löste aus finanziellen Gründen die Hofkapelle auf und unterbrach damit den Theaterbetrieb, bis 1682 sein Bruder Anton Ulrich, der zum Statthalter ernannt worden war und im Laufe der Jahre immer mehr die Regierungsgeschäfte übernahm, den Komponisten Johann Rosenmüller mit der Reorganisation der Kapelle beauftragte. 1685 wurde Anton Ulrich zum Mitregenten. Damit kam es zur Wiederaufnahme der musikalischen Aufführungen auf der Höhe der Zeit und vor allem von Opern, die als repräsentative Gattung im Rahmen des kulturpolitischen Programms eine technisch hochentwickelte Bühne und hochqualifizierte Berufsdarsteller voraussetzte. In den 80er Jahren unternahm Anton Ulrich mehrere Reisen nach Venedig (1680, 1681, ein kurzer Aufenthalt Anfang 1684 sowie weitere dokumentierte Aufenthalte 1685 und 1687) und hatte so Gelegenheit, die Oper in ihrer führenden venezianischen Ausführung kennenzulernen. Obwohl Der beständige Orpheus zweifellos noch zu den ›kameralen‹ Hofaufführungen zu zählen ist, zeugen dessen Aufbau, die für die italienische Oper der Mitte des 17. Jahrhunderts typische Anreicherung der Handlung sowie der hohe Einsatz der Maschinerie eindeutig von venezianischen Einflüssen. Zu den Venedig-Aufenthalten von Anton Ulrich vgl. Jochen Luckhardt: Malerei und Divertissement. Reisen Herzog Anton Ulrichs und seiner Familie nach Venedig. Braunschweig 2002. Zur doppelten Regentschaft von Rudolf August und Anton Ulrich sowie zu den kulturellen Aktivitäten am Wolfenbütteler Hof zu dieser Zeit vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 195ff. Etienne Mazingue: Anton Ulrich, Duc de Braunschweig-Wolfenbuettel (1633–1714). Un prince romancier au XVIIéme siecle. 2 Bde. Paris 1974. Bd. 1, S. 91–140. Vgl. allgemein auch Christoph Römer: Anton Ulrich als Herrscher. In: Herzog Anton Ulrich von Braunschweig. Leben und Regieren mit der Kunst. Hg. v. Rüdiger Klessman. Braunschweig 1983, S. 249–255. Der beständige Orpheus. [...] In einem Singe-Spiel Vorgestellet / Auf dem Lust-Hause Saltzthalem Im Jahr 1684. Wolfenbüttel 1684. Zwei Exemplare des Librettos lagen zur Autopsie vor: das Exemplar der HAB (Textb. 386) sowie das Exemplar der Niedersächsischen Landesbibliothek (Op. 5,1). Beide Drucke stimmen überein.
133 1684 das Amt des Hofkapellmeisters in Wolfenbüttel bekleidete.250 Der Dichter des Textbuchs ist nicht bekannt, allerdings schließt Mazingue eine (Mit)Autorschaft Anton Ulrichs nicht vollständig aus.251 Über die Einzelheiten der Aufführung ist mit Ausnahme einer Besonderheit nichts überliefert – Herzogin Sophie von Hannover schreibt in ihrem Brief vom 22. August / 1. September 1684 an den Kavalier Balati: Le voyage que j’ai fait à Brunswic à la foire, et à Wolfenbudel, pour voir un opéra qui fut chanté par des princes et des princesses aussi bien que des messieurs et des dames, pour célébrer les noces de la princesse fille aînee du duc Antoine avec un comte de Swartzburg, m’a empêché de vous écrire.252
Mazingue folgert daraus, dass die Opernpartien von den Mitgliedern der fürstlichen Familie gesungen wurden.253 Von besonderem Interesse ist Der beständige Orpheus im Zusammenhang mit anderen Bühnenwerken in der Reihe von musikalisch-dramatischen Verarbeitungen des Orpheus-Mythos in Wolfenbüttel,254 da dieses Textbuch den Orpheus von Anton Ulrich teilweise als Vorlage rezipiert und selbst eine Vorlage für die ›Orpheus-Oper‹ von Friedrich Christian Bressand bildet.
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Unter die Verdienste Rosenmüllers (1619–1684) fällt u. a. die Vermittlung der italienischen Musikentwicklungen nach Deutschland. Rosenmüller war 1672–1673 auch Lehrer von Johann Philip Krieger. Zu Rosenmüller vgl. Thomas Altmeyer: [Artikel] Johann Rosenmüller. In: NDB 22 (2005), S. 72–73. Peter Wollny: [Artikel] Johann Rosenmüller. In: MGG2 14 (2005), Personenteil, Sp. 406–412. Franz Hamel: Die Psalmkompositionen Joh. Rosenmüllers. Straßburg 1933. Th. Antonicek: Joh. Rosenmüller und das Ospedale de la Pietà in Venedig. In: Die Musikforschung 22 (1969), S. 460–464. »Ainsi il serait logique et vraisemblable qu’Anton Ulrich ait collaboré en tant qu’organisateur – et pourquoi pas en tant que librettiste ? – aux spectacles présentés à Wolfenbüttel pour le mariage de ses filles : L’Excellence de la Paix (Die Fürtrefflichkeit des Friedens), ballet dansé pour Elisabeth Eleonore en 1675, ou La Constance d’Orphée (Der beständige Orpheus), opéra joué pour Augusta Dorothea en 1684.« Mazingue: Anton Ulrich, S. 268. Die Verfasserschaft von Anton Ulrich erscheint allerdings eher fraglich. Friedrich Christian Bressand, der Dichter der Libretti aus den 90er Jahren, ist frühestens ab 1689 am Wolfenbütteler Hof nachweisbar, auch wenn dieses Datum nicht gesichert ist. Der stilistische Unterschied zwischen dem Beständigen Orpheus und den Bühnenwerken sowohl von Anton Ulrich als auch Bressand lassen dessen Zuschreibung an einen dieser Autoren als höchst unwahrscheinlich erscheinen. Richard Doebner (Hg.): Briefe der Königin Sophie Charlotte von Preussen und der Kurfürstin Sophie von Hannover an Hannoversche Diplomaten. Leipzig 1905. Zitiert nach Mazingue: Anton Ulrich, S. 268. »Nous savons au moins que la famille ducale a chanté cet opéra.« Mazingue: Anton Ulrich, S. 268. Während die Teilnahme der fürstlichen Personen an den Ballettaufführungen keine Seltenheit war, blieb das Singen gewöhnlicherweise professionellen Schauspielern vorbehalten. Vgl. Anm. 83 Kap. 3.2.2. Orpheus (1659) von Anton Ulrich, L’Orpheo (1690) von Aurelio Aureli (Übersetzung ins Deutsche 1690), Orpheus (1698) sowie Die sterbende Eurydice und Die verwandelte Leyer des Orpheus (1699) von Bressand.
134
3.4.2. Literarische Mythos-Adaption im Beständigen Orpheus Die Gattung des Werks wird durch den Titel als Singspiel definiert. Nach venezianischem Opernmuster weist das Textbuch drei Handlungen auf, welche auf italienische Art als Actus bezeichnet werden und aus Scenen bestehen. Die Handlungen werden von einem Prolog (Vorredner) eingeleitet. Trotz vieler Chorpartien und Balletteinlagen255 steht das Textbuch in seiner Metrik dem Sprechdrama sehr nah: das häufigste Versmaß ist der Alexandriner; die meist paargereimten Verse der Rezitative stimmen metrisch überwiegend überein. Unter den Reimarten ist der Paarreim am häufigsten vertreten. Eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Arien und Liedern stellt eine weitere formale Besonderheit dieses Librettos dar. Aus der Bezeichnung der Gattung ›Singspiel‹ lässt sich kaum schließen, ob alle in Alexandrinern verfassten Passagen zum Singen bestimmt waren. In der Verarbeitung des Orpheus-Mythos steht das Textbuch auf den ersten Blick den Versionen von Ovid und Vergil nahe. Allerdings deutet bereits das Verzeichnis der »singenden Personen« auf bestimmte Interventionen hin. So wird Aristeus als Sohn des Weingottes Bacchus eingeführt, eine neue Gestalt – die in Orpheus verliebte Nymphe Crinise – gesellt sich zu den vertrauten Figuren des Mythos. Neben einer bemerkenswert hohen Anzahl der Götter (Phoebus, Bacchus, Mercurius, Morpheus sowie die Muse Calliope lösen durch ihren Machtanspruch mehrere unlösbare Verwicklungen) bereichern die verwandelten Gestalten aus dem zehnten Buch der Metamorphosen die Handlung des Singspiels. Das ›Nebenpersonal‹ wird reichlich bemüht: Charon, Morpheus, Najaden, Dryaden, Satyren bevölkern neben Musen und »eliseischen Geistern« die Bühne. Der in Versen verfasste Prolog ist der Huldigung an die Wolfenbütteler Fürsten und das Welfengeschlecht verpflichtet. Vor diesem Hintergrund erfolgt auch die Verkündigung des Anlasses der Opernaufführung. Der Prolog wird von der Nymphe Guelphis256 in der Entourage eines Gartens in Anwesenheit der Allegorien der »singe-vers-bau- und mahler Kunst« rezitiert.257 Die Nymphe verkündet, das welfische Land glücklich preisen zu wollen, weil Gott es in ––––––––––– 255
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Balletteinlagen wurden auf Wunsch des Herzogs häufig auch in fremde Bühnenwerke eingefügt, wodurch sich die Oper dem höfischen Fest annäherte. Vgl. Gerhard Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum, S. 28. Die Nymphe Guelphis ist eine Personifikation des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel und tritt auch in anderen Bühnenwerken auf. Vgl. ihre Beschreibung in Tempel der Tugend und Ehre, einer von Bressand verfassten Beschreibung des Geburtstagsfestes von Herzog Anton Ulrich aus dem Jahre 1697: »Sie erschiene in alter Kriegerischer Cherusker-Tracht / einen silbern Helm / der mit einer eisern Krone von Mauern und Thürmen umgeben / auf dem Kopfe tragend. In ihr gewand waren unterschiedliche grosse Hölzer / Flüsse und Städte gewircket / und in ihrem Schilde zwey springende Pferde / ein schwarzes und ein weisses / gemahlet.« Friedrich Christian Bressand: Tempel der Tugend und Ehre, Wolfenbüttel 1697, S. 25. Das Versmaß und das Fehlen dieser allegorischen Figuren im Verzeichnis der »singenden Personen« lassen vermuten, dass der Prolog gesprochen wurde.
135 seiner Gnade mit vielen Gaben beschenkt und ihm durch »des Himmels Gnaden-Schluß«258 den regierenden Herzog zum Landesvater bestimmt hat.259 Es folgen weitere Allusionen auf die Mitglieder des Fürstenhauses, wobei Guelphis in der Huldigung nicht nur im Allgemeinen verharrt, sondern zum Beispiel Bezug auf die pünktliche Rückkehr der einzelnen Familienmitglieder zur Hochzeit nimmt.260 Der bevorstehende Ehebund zwischen den Häusern Braunschweig-Wolfenbüttel und Schwarzburg steigert die Freude über die Heimkehr der Fürsten. Anschließend wendet sich die Nymphe an die Zuschauer mit der Aufforderung, sich ihren Glückwünschen anzuschließen. Es ist bemerkenswert, dass seit der ersten Aneignung des Orpheus-Mythos für die Oper zu einem hochzeitlichen Anlass zum ersten Mal die Wahl des Stoffes explizit begründet wird. Zwar soll dieser Bund der Liebe und der Treue genauso fest bis in den Tod bestehen wie die Liebe des mythischen Sängers zu Eurydice, das Unglück der Mythos-Helden soll dem fürstlichen Paar aber fern bleiben. Der Prolog endet mit einem daktylischen Sechszeiler, der die Feierlichkeit des Anlasses wiederholt unterstreicht und den Übergang zur eigentlichen Handlung des Singspiels einleitet. Ein Tanz der Künste beschließt den Prolog. Die Handlung des ersten Aktes spielt in einer »angenehme[n] Gegend umb den Berg Haemus in Thracien« [Ar]. Statt einer für ein Libretto charakteristischen Exposition wird allerdings (nach dem für das Sprechdrama häufigen Muster) die Vorgeschichte in den ersten vier Szenen retrospektiv erzählt. Die erste Szene eröffnen Aristeus und Crinise. Beide weisen einander die Schuld am »kläglichen Verlust« [Ar] von Orpheus und Eurydice zu, ohne dass die Einzelheiten des Geschehenen sofort verraten werden. Die Zuschauer erfahren lediglich, dass Orpheus eine Reise in die Unterwelt angetreten hat, weil ––––––––––– 258 259 260
Der beständige Orpheus, x2r (der Vorredner). Gemeint ist Rudolf August, damals noch der alleinige regierende Herzog in Braunschweig-Wolfenbüttel. »Der Fürste voller huld / so gleichfalß sucht dein Heyl / Kommt von der Berge Brunn / mit seines Hertzens-Theil; Ein hochgepreister Printz / geliebet überall / Findt nach verrichter Reiß sein treues Eh’-Gemahl. Es wächset auff ein Zweig / ein rechter Musen-Sohn / Vor welchen Adria behält ein’ Sieges-Kron. Und nun vermehrt die Freud der Tugend wehrtes Kind / So sich in Liebes-Treu beständiglich verbindt Mit der Schwartzburger Preiß [...]«. Der beständige Orpheus, x2r (der Vorredner). Anton Ulrich, zu der Zeit noch nicht zum Mitregenten ernannt, kehrte Ende März 1684 zusammen mit seiner Gattin Elisabeth Juliane von seiner zweiten Reise nach Venedig zurück. Sein Sohn und Erbprinz August Wilhelm kam im Mai 1684 aus Frankreich nach Wolfenbüttel. Ob mit dem kunstliebenden »Musen-Sohn« der jüngste Sohn Anton Ulrichs, Ludwig Rudolf, der mit seinen Eltern von der Reise zum venezianischen Karneval nach Wolfenbüttel zurückkehrte, gemeint ist, bleibt unklar. »Der Tugend wehrtes Kind« ist eindeutig die Braut Prinzessin Augusta Dorothea. Vgl. Briefe des Herzogs Anton Ulrich an August Wilhelm. NSA I Alt 22 285.
136 Crinise durch ihre Weigerung zu helfen den Tod seiner Gattin Eurydice herbeigeführt haben soll. So konnten die in Eurydice und Orpheus unglücklich verliebten Aristeus und Crinise trotz ihres Eifers nicht verhindern, »daß stets beysammen seynd die treuen Ehegatten« [Av]. Vor den zwei klagenden Chören der Thrazier und der Nymphen261 können Aristeus und Crinise allerdings die Wahrheit nicht länger verheimlichen: Crinise erzählt den Thraziern, wie Eurydice auf der Flucht vor Aristeus von einer giftigen Schlange tödlich verwundet wurde; Aristeus beschuldigt die in die Heilkunst eingeweihte Crinise, Eurydice ihre Hilfe verweigert zu haben. Die Enthüllung wird durch die erste Göttererscheinung unterbrochen: Orpheus’ Mutter, die Muse Calliope, steigt von den Wolken herab. Die Spannung steigert sich in der dritten Szene. Calliope ist besorgt um ihren Sohn: die Stille, welche von keinem Ton seiner Lyra unterbrochen wird, überrascht sie. Allein Crinise findet den Mut, Calliope vom Tod der Eurydice zu berichten. Die Nymphen führen die Erzählung von Crinise fort: von seinem Schmerz getrieben, hat Orpheus Thrazien verlassen. Aber auch mit dem Bericht der Nymphen ist die Geschichte noch nicht vollständig: nun erzählt Aristeus, wie er aus Treue Orpheus begleitet und sich von ihm in Lakonien vor dem Abstieg in die Unterwelt getrennt hat. Die für Aristeus weniger schmeichelhaften Einzelheiten über diese Trennung verrät Crinise, die den beiden gefolgt ist: sie habe gehört, wie Orpheus die Furien zur Rache an Aristeus aufgerufen hat. Dem erfolglosen Versuch von Crinise, Orpheus vor dem Schritt in den Höllenabgrund abzuhalten, habe Aristeus teilnahmslos zugesehen. Calliope und die Nymphen entziehen in ihrem Zorn Aristeus die Bienen, was für ihn einen Sturz in Not und Armut bedeutet. Die Vorgeschichte ist damit allerdings keineswegs zu Ende. In I.4 erzählen die Nymphen, wie Aristeus Orpheus’ Abwesenheit ausgenutzt hat, um Eurydice nachzustellen. Offensichtlich blieben Aristeus’ Enthüllungen über die Rolle von Crinise ungehört: als alleinige Zeugin berichtet sie über die letzten, an Orpheus gerichteten Abschiedsworte von Eurydice.262 Die Szene schließt mit einem Lied ––––––––––– 261
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Den Klagenden erscheint dieser Verlust zuerst als unerklärliches Spiel des unbeständigen Schicksals: »[...] so geht das Kugel-Rad Des wandelbahren Glücks / es findet nirgend stat.« Der beständige Orpheus, A2r. »EINE NYMPHE Es konte Aristeus die alte Liebes-Flamm / Die der Eurydice ihr Glantz in ihm entzündet / Nicht tilgen / ohn geacht ein ander Band sie bindet An Orpheus ihren Mann / Daher er eines tags / in acht die Stunde nahm Wie Orpheus nicht daheim / und fand sich bey ihr ein / Sie höhrte alles an Wie häfftig sie ihn quähl / Wie seine Pein Ohn’ ihr Erbarmen würd’ ertödten seine Seel / Stirb immer hin / rieff sie / wilstu nicht von mir lassen / Drauff wil er sie umbfassen /
137 Calliopes, die ihrem Glauben an die Macht von Orpheus’ Kunst und ihrer Hoffnung auf dessen Rückkehr aus Plutos Reich Ausdruck verleiht. Allerdings werden dadurch auch die Hoffnungen der in Orpheus verliebten Crinise erneut geweckt. Die Spannung nimmt vorübergehend ab, als Phoebus erscheint, um seine Geliebte263 und das thrakische Volk mit einer erfreulichen Nachricht zu trösten. Orpheus’ göttliche Abstammung betonend, verkündet Phoebus, sein Sohn habe durch den süßen Klang seiner Stimme Eurydice wiedererlangt und das Ehepaar befinde sich auf dem Heimweg nach Thrazien. Während unter den Thraziern allgemeiner Jubel ausbricht und sie die Treue preisen, welche die Herrscher der Unterwelt zu Mitleid und Barmherzigkeit zu bewegen vermochte (I.6),264 fragt sich Crinise à part, welche Wendung diese Nachricht für sie bedeutet, und schwankt in einem in Alexandrinern gehaltenen Monolog zwischen Freude, Hoffnung und Verzweiflung (I.7). In der Szene I.8 erfolgt die Peripetie. Von einem starken Blitzschlag erschrocken, dreht Orpheus sich nach der ihm folgenden Eurydice um.265 Bemerkenswerterweise gibt Eurydice Orpheus’ »Fürwitz« die Schuld für ihre misslungene Befreiung:266 –––––––––––
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Sie flieht / er folgt / niemand wahr sonst zu gegen. CRINISE Als ich / in meinen Schoß kahm sie sich hinzulegen / In fliehen hatte sie durchwandert jenes Thal Das überall Vol böser Nattern kreucht / drumb sprach ihr blasser Mund Ich bin verwund / Ein Schlangen-Stich hat mir den todt gebracht.« Der beständige Orpheus, Bv. Kalliope als die vornehmste der Musen ist in der griechischen Mythologie die Mutter des Orpheus’. Als sein Vater gelten entweder der Flussgott Oiagros oder Apoll. Es gibt keine besondere Überlieferung über die Liebe von Kalliope und Apoll, im Textbuch erscheinen sie dagegen als besorgte und liebevolle Eltern. »Daß deine ungemeine Treu die Hölle können zwingen / Dir und auch uns Eurydice hinwiederumb zubringen.« Der beständige Orpheus, B3r. Die Kenntnis dieser Mythos-Variante ist bei den zeitgenössischen Zuschauern vorauszusetzen. Das Wort Fürwitz wird im Textbuch in seiner für das 17. Jahrhundert gebräuchlichen Bedeutung der »leichtfertig sich vordrängenden begier, vermessenes [zu] beginnen« gebraucht. (Grimm: Das Deutsche Wörterbuch 26, Sp. 1956). Fürwitz ist nach Zedler »ein Laster, in dem man sich um etwas, das einem nicht angeht, und dazu man keinen Beruff hat, ja das wohl gar verboten ist, oder, wenn man auch Beruff dazu hat, doch nicht zu rechter Zeit und auf gehörige Weise sich darum bekümmert«. Zedler: Universal–Lexikon 9 (1735), Sp. 685. Eurydices Vorwurf geht auf Vergils Mythos-Version zurück. Vergil gebraucht das Wort dementia: »[...] dementia cepit amantem, ignoscenda quidem, scirent si ignoscere manes [...]«. Verg. georg. 4, 488–489. Vgl. die Frage Eurydices an Orpheus: »illa, ‘quis et me’, inquit, ‘miseram et te perdidit, Orpheu, quis tantus furor?« Verg. georg. 4, 494–495.
138 Mein Orpheus gute nacht / nun gute nacht! ich scheide / Dein Fürwitz nimbt mich dir. [(B4)r]
Von seinen Gefährten freudig begrüßt, beklagt Orpheus trostlos den – teils aus Liebe, teils aus Furcht, wie es Ovids Metamorphosen wollen –, erfolgten Verlust. Kein Zweifel besteht aber daran, dass Orpheus’ unermessliche Leidenschaft ihn verursachte: Die Höll hat keine schuld / mein ungeduldig Lieben Und daß ich nicht gehorcht / macht itzo mein betrüben [...]. [Cr]
Den Hirten, die in ihrer Einfachheit eine zweite Ehe für das geeignetste Heilmittel gegen die Trauer und Trostlosigkeit halten, gelingt es nicht, Orpheus zu beruhigen. Auch die Götter, die über Orpheus’ »Fürwitz« erzürnt sind, verlangen von dem Sänger, sich schnellstmöglich wieder zu vermählen. Orpheus trotzt aber dem göttlichen Zorn und dem von Mercurius übermittelten Willen der Götter und ist fest entschlossen, Eurydice treu zu bleiben.267 Er beschließt, sein Glück zum zweiten Mal zu versuchen und wagt in der Hoffnung auf die Macht seines Gesangs erneut einen Abstieg in die Hölle (I.11), wird aber vom mürrischen Fährmann Charon entschieden abgewiesen (I.12): ehe er »den Todesthal« durchwandert hat, soll Orpheus keinen Zutritt zur Hölle erlangen. Zwar erklärt sich Orpheus bereit, die gestellte Bedingung sofort zu erfüllen,268 der Chor der »Elyseischen Geister« hält ihn aber noch rechtzeitig davon ab: Wer vor der Zeit des Himmels-Schluß durchbricht / Und kürtzet ihm sein Ziel / sieht unsre Ruhe nicht: Drümb Orpheus halte ein Wann bey Eurydice du ja verlangst zu seyn.269 [C3r]
Orpheus gehorcht, beschließt aber, den Rest seines Lebens als Eremit zu verbringen. Analog zum ersten Akt wird der zweite Akt von Aristeus und Crinise eröffnet. In ihrer Verzweiflung stürzen sich beide von einem Felsen ins Meer, werden aber von den rechtzeitig eingreifenden Gottheiten, Bacchus, dem Vater des Aristeus, und Orpheus’ Mutter Calliope in der Luft aufgehalten. Die Götter verkünden, dass Aristeus und Crinise ihre Schuld erlassen wurde. Allerdings –––––––––––
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Dagegen betont Ovid: »iamque iterum moriens non est e coniuge quicquam questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?) supremumque ‘vale’, quod iam vix auribus ille acciperet, dixit revoltaque rursus eodem est.« Ov. met. 10, 60–63. »Schweigt meine Freunde schweigt / ich sag ab aller Liebe / Ich sag’ ab aller Lust / in Thränen mich nur übe.« Der beständige Orpheus, Cr. Ähnlich wie in Anton Ulrichs Orpheus will Orpheus sich erdolchen. Der christlich-didaktische Gehalt ist in dieser Szene durch den eindeutig mahnenden Kommentar des Chores im Vergleich zur Gestaltung des Selbstmordversuches bei Anton Ulrich viel stärker ausgeprägt.
139 wird ihnen Gehorsam abverlangt. Aristeus hat seine Leidenschaft zu überwinden,270 Crinise muss ihre Beständigkeit und Hoffnung stärken, da sowohl Calliope und Phoebus als auch die anderen Götter sich eine neue Ehe für Orpheus wünschen und Crinise als dessen zukünftige Gattin erwählt haben.271 Die Beiden erklären ihre Bereitschaft, sich dem göttlichen Willen zu fügen (II.3). Der Gehorsam lohnt sich: bald erfährt Aristeus von seinen Dienern die freudige Nachricht, dass seine Bienen wieder am Leben seien. Ein Stimmungswechsel erfolgt in II.5. Von trauriger Musik begleitet, beweint Orpheus seine verlorene Geliebte und hofft, durch Trauer und Einsamkeit seinem Leben bald ein Ende zu setzen: So will ich doch allmählich mich verzehren / Mein Leben mit Verdruß ernehren / Biß ich / wornach mein Hertz verlangt / Hab’ durch den todt Eurydicen erlangt. [D2v]
Crinise, die sich hinter einem Felsen versteckt hat, hört Orpheus’ Klagen und gibt sich für die Nymphe Echo aus, indem sie Orpheus’ Worte über dessen unglückliche Liebe kunstvoll auf ihre eigenen Gefühle bezieht. Von Orpheus entdeckt, bittet sie ihn um Liebe, wird aber von dem Sänger entschlossen abgewiesen: CRINISE Behalt Eurydice in deines Hertzens schrein / Nur bitte ich / laß mich auch mit hinnein. ORPHEUS Mein Hertze ist zu klein / nicht zwene kann ich fassen / Von nun an schwere ich all’ Weibesbild zu hassen / Laß mich! kann diesen Orth ich nicht alleine hegen? [(D4)r]
Die unerwiderte Liebe kehrt in ihr Gegenteil um: Crinise, von Hass erfüllt, schwört Rache und verlässt Orpheus, der erschöpft einschläft. Auf Bitten der besorgten Calliope lässt Morpheus, der Gott der Träume, dem Sänger Eurydice im Traum erscheinen. Diese warnt ihn vor dem unumstößlichen Beschluss der Götter:272 Orpheus muss sterben, wenn er seiner Liebe zu
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»Auß Lieb’ hastu gefählt / auß Lieb’ kam dein Verbrechen / Weiln nun die Liebe eh’ selbst Götter können schwächen. Als fällt hin deine Schuld / Der Himmel spricht dich frey [...] Doch dieses ist dabey / Dir muß die Lieb’ vergehn / wilstu der Götter Huld.« Der beständige Orpheus, (C4)r. »Mein Phoebus wil nebst mir / Orpheus sol sich vermählen / Beständig liebe ihn / wenn er dich sol erwehlen.« Der beständige Orpheus, (C4)v. »[...] Der Götter ihr begehr Kan ihre Macht selbst nicht umbstossen / Sie wehren mir zu warnen meinen Sohn [...]«. Der beständige Orpheus, Ev.
140 Eurydice nicht entsagt und sich erneut vermählt.273 Doch selbst die Traumerscheinung kann Orpheus’ Beständigkeit nicht erschüttern: Nach dem Erwachen ist er noch mehr willens, allein auf dem Berg Rhodope seiner einzigen Liebe zu leben und stimmt ein Loblied auf die verstorbene Geliebte an. Die Szene II.9 ist von der in der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit beliebtesten Orpheus-Darstellung inspiriert: Orpheus zieht durch seine Musik Bäume, wilde Tiere und Felsen an. Allerdings erfährt diese Szene, die auch in der zeitgenössischen Emblemkunst im Zusammenhang mit dem Orpheus-Mythos am häufigsten begegnet und für die Macht der Musik oder der Überredungskunst steht,274 eine zusätzliche, von Ovid inspirierte Interpretation. Die leblosen Bäume und Felsen, aber auch die Tiere sind verwandelte Gestalten aus Ovids Metamorphosen und kommen, um Orpheus durch ihr eigenes Beispiel vor der Gefahr einer übermäßigen (maßlosen), zu leidenschaftlichen oder von den Göttern missbilligten Liebe und unbegründeter Grausamkeit zu warnen.275 Aber auch sein Leiden verstehen sie nur zu gut, und der dankbare Sänger spielt für diese Geschöpfe Musik, zu welcher sie ihn mit ihren Tänzen zu erheitern versuchen. Offensichtlich wurden die verwandelten Gestalten für dieselben Laster bestraft, die Orpheus der Gefahr aussetzen.276 Orpheus ist folglich für seine zu starke Leidenschaft, den Hochmut und die grausame Missachtung fremder ––––––––––– 273
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Diese Forderung der Götter lässt sich womöglich aus der zeitgenössischen moralisch-theologischen Sicht erklären. So schreibt Gerhard Lorich in der Mitte des 15. Jahrhunderts in seiner ›Auslegung‹: »Der Orpheus ist aber auch ein irriger Poet / wiewol er dichten und singen kan / daß er dermassen sein Eurydicen trauwret / daß er auch / der Weiber sich verzeihend / in gedacht grawsam Laster einfällt. Es seyn dem Orpheo gleich die Ketzer / so die ander Ehe der Witwen als vnrein verachten.« Lorichs Kommentare wurden bis ins 17. Jahrhundert hinein den Metamorphosen-Ausgaben hinzugefügt. P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...] auch deß Hochgelehrten Herrn Gerhardi Lorichii der Fabeln Außlegung / renoviert / corrigiert / und an Tag gegeben. Frankfurt / Main 1631, S. 338–339. Vgl. Emblemata, S. 1609–1612. Es erscheinen Daphne, Atis, Myrrha und Cyparissus, die in Bäume verwandelt wurden, ferner treten die in Löwen verwandelten Hippomenes und Atalanta sowie die Propoetiden (»zwey Prophetische Weiber«) in Gestalt von Ochsen und Cerasten (»zwey Einwohner auß Amathonte«) als Felsen auf. Es handelt sich dabei ausschließlich um Gestalten, welche in Orpheus’ Gesang im 10. Buch der Metamorphosen vorkommen, wobei die Verwandlungen der Propoetiden und der Cerasten (Ov. met. 19, 220–242) offensichtlich miteinander verwechselt wurden. »ALLE VIERE [BÄUME] Zu Bäumen hat der starcken Liebe-Macht Gantz kläglich uns gebracht [...] DIE LÖWEN Die Lieb’ wil sein geehrt / die ehmahls wir verschmähet / Lieb’/ was dich liebt / daß dirs nicht so wie uns ergehet / DIE OCHSEN Die wilde Grausamkeit / die wir an Frembden übten / Bracht’ uns in diesen Stand / erbarm dich der Verliebten. DIE FELSEN Wir / die der Hochmuht eh’ / da Venus wir verachten / In Felsen hat verkehrt / schmertzlich dein Leyd betrachten.« Der beständige Orpheus, E3r.
141 Gefühle zu tadeln. Trotzdem hält Orpheus unbeirrt an dem Entschluss fest, seiner Treue zu leben und jeder anderen Liebe zu entsagen: Die treue Lieb’ hat mich dazu gebracht / Daß ich sag’ aller Liebe gute nacht: Ihr warnet mich / und ich wünsch nichtes mehr / Als daß sich bald mein Wesen nur verkehr! [E3v]
Aus der Ferne hört man bereits die wilden Klänge der Bacchantinnen; Bäume, Tiere und Felsen fliehen vor den zornigen Frauen. Es sind augenscheinlich persönliche Gründe, durch welche die meisten der Frauen zur Rache getrieben werden: Er ist es / den ich fruchtloß eh’ geliebet. [...] Du Tichter du / Liebstu noch mehr die Todten als die leben / […] Dein Seiten-Spiel / Davon du rühmst / es könn’ die Hölle zwingen / [...] Rührt uns so viel / Als unsre schön dir künt’ durchs Hertze dringen. [(E4)v–Fr]
Aber Orpheus weigert sich, seine Kunst zum eigenen Schutz einzusetzen. Alle Drohungen erwidert er mit dem litaneihaften Refrain: Es gehe wie es geh’ Ich lieb’ Eurydice. [(E4)v]
Die rachesüchtigen Mänaden zerreißen den Sänger auf der Bühne und beschließen die Szene mit einem Tanz, fallen aber selbst der Rache des Weingottes Bacchus zum Opfer, der seine verbrecherischen Dienerinnen in Tannen verwandelt. Der Schmerz des Bacchus ist aber so stark, dass er Thrazien für immer verlassen will: Mein Tichter / mein Poet / dieß Land ist mir zuwider / Man hört in Thracien nicht mehr des Orpheus Lieder / Drumb laß ich dieses Land! [Fv]
Der letzte Akt spielt in einer Gegend an der See und beginnt mit einem Monolog der Crinise.277 Sie leidet unter Gewissensqualen, denn sie war es, die die Bacchantinnen zur Rache angestiftet hat. Der Tod von Orpheus hat sie aber weder von ihrer Liebe noch von der Eifersucht befreit.278 Verzweifelt will sie Selbstmord begehen und stürzt sich ins Meer. Aber die Najaden gönnen Crinise nicht den erwünschten Tod: zur Strafe wird sie in III.2 von den Wassernymphen in eine giftige Meeresschlange verwandelt. ––––––––––– 277
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Die Symmetrie ist nicht perfekt: in den ersten zwei Akten waren es die beiden Verliebten, die ihre unerwiderte Liebe beklagten. Die sich hier anbietende Erklärung, das Fehlen des Aristeus sei darauf zurückzuführen, dass er im Unterschied zu Crinise zur Tugend zurückgefunden hat, wird allerdings durch den weiteren Verlauf des Stückes widerlegt. Der beständige Orpheus, Fr.
142 Während die ganze Natur und die Thrazier den Tod des Orpheus beweinen, will Calliope aller Künste entsagen,279 wirft den Göttern Eifersucht auf ihren Sohn vor und gibt ihnen die Schuld an seinem Tod.280 Da Orpheus nach dem Tod »in der Elyser Feld« [(F4)r] aufgenommen wurde, wo Calliope als einer Unsterblichen der Zutritt verwehrt bleibt, soll sie ihn nie wieder sehen. Alle beklagen Orpheus und die eigene Lage: Aristeus, der sich als »unschuldig« Schuldiger sieht und nun Thrazien verlassen muss,281 die Nymphen, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen, weil Orpheus von den Händen der Frauen gestorben ist, die Thrazier, weil sie den Überfall der Mänaden nicht rechtzeitig verhindern konnten. Das Schicksal ihres Landes ist eng mit Orpheus’ Schicksal verknüpft: Weh dir O Thracien dein Wohlstand ist zum End’. Dein grosser Ruhm ist auß / dein Glück hat sich gewend. [Gr]
Am Schluss der Szene (III.5) erblicken die am Ufer der See versammelten Figuren Orpheus’ Haupt, das singend von den Wellen getragen wird, und hören eine leise Musik. Die Spannung wird erneut aufgebaut: die in eine Meeresschlange verwandelte Crinise versucht, das Haupt anzugreifen.282 Aristeus, der sich von seiner Schuld befreien will, springt ins Wasser, um Orpheus’ Haupt zu retten und es Calliope zu bringen. Die Verwicklung wird durch Phoebus und Bacchus gelöst, die durch die Verwandlungen ihren Machtanspruch bestätigen – sowohl Crinise als auch Aristeus werden als Strafe für das Übermaß an Liebe zu Felsen: So müst ihr dann nun unempfindlich seyn / Die ihr empfand’ zu sehr die Liebes-Pein. [G2v]
Allerdings gestehen beide Götter ihre Mitschuld am Tod von Orpheus und an den Vergehen von Aristeus und Crinise ein. Die Verwandlung erweist sich dabei als nötig, um Orpheus zumindest im Jenseits das Liebesglück zu ermöglichen.283 ––––––––––– 279
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»Kan ich schon gleich nicht sterben / So will ich doch lebendig hie verderben. [...] Nun Orpheus nicht mehr lebt / fällt auch mit ihm Die Tichterey nebst meiner Lauten-Stimm.« Der beständige Orpheus, (F4)v. »Weil Orpheus sterblich war / war es euch gantz entgegen / Daß seine Ehr den Göttern gleichen solt [...]«. Der beständige Orpheus, F3v. »Unschuldig hab’ ich Schuld / drumb meid’ ich Thracien / Ich such’ mein Vaterland dort in Arcadien.« Der beständige Orpheus, (F4)v. Eine Weiterführung von Ovids Erzählung, in der die Schlange keine verwandelte Gestalt ist. Vgl. Ov. met. 56–60. »PHOEBUS Weil es mein Wille war / daß Crinise solt’ lieben / Kan unempfindligkeit nun wehren ihr Betrüben. BACCHUS Damit auch Aristeus nicht in Elyser Feld Dem Orpheus wiedrig sey / wird er zum Stein gestellt.« Der beständige Orpheus, G2v.
143 Die Unabwendbarkeit des Todes und des göttlichen Willens durchzieht als Leitgedanke die letzten Szenen: »Jedweder der Natur muß zahlen seine Schuld« [G3r]. Es wendet sich nun alles zum Guten: Orpheus ist glücklich mit seiner Geliebten im Elysium, Calliope darf das Haupt des Sängers behalten und auf dem Parnass begraben, und Orpheus’ Geige wird von Phoebus unter die Sterne versetzt, wo die Thrazier sie bewundern können. Zudem erfüllt Phoebus den Wunsch der Muse und gestattet ihr, Orpheus und Eurydice in den Elysischen Gefilden zu sehen. In der Schlussszene bekräftigen Orpheus und Eurydice ihre Liebe zueinander, der Chor der Seelen bestätigt ihr Glück und besingt das freudige und sorgenlose Dasein in der Ewigkeit. Die letzten Verse wirken erbaulich für alle, die in diesem Leben leiden müssen: Orpheus nun ewig lebt / mit der Eurydice Beständig ist die Freud’ vergänglich war ihr Weh. [Hr]
3.4.3. Der beständige Orpheus und der ethisch-moralische Diskurs. Mythos-Rezeption im Licht der Affektenlehren Die Art und Weise, wie das Libretto den Orpheus-Mythos verarbeitet, weicht vom idealtypischen Verlauf ab. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Sequenzen II und III fast vollständig wiedergegeben werden. Lediglich im zehnten Verlaufsstadium (Klage / Unterweisung der Menschen in den göttlichen Lehren) wird der zweite Aspekt (die Unterweisung) ausgeklammert. Bei dem dreizehnten und vierzehnten Verlaufsstadium kann von einer partiellen Substitution der Elemente gesprochen werden: der Akzent wird von der Würdigung der Kunst und des Künstlers auf das Lob der treuen Liebe verlegt. Die wichtigste Rolle kommt der Amplifikation zu: der Crinise-Strang und die damit verbundenen zusätzlichen Elemente (die Figuren der göttlichen Eltern und die Deus ex machina-Szenen) werden neu hinzugefügt. Sowohl die Amplifikation der Verlaufsphasen als auch die Einführung von zahlreichen variablen Attributen lassen den Eindruck einer beinahe kompletten Abweichung vom idealtypischen Mythosverlauf entstehen, obwohl dieser fast vollständig erhalten bleibt. Im Folgenden soll der Frage nach der Funktion der Amplifikationen sowie nach den dadurch entstandenen möglichen Sinnakzentuierungen bei der Verarbeitung des Mythos im Textbuch nachgegangen werden. Zwar enthält das Textbuch auf der Ebene des Sujets vor allem aufgrund der oben erwähnten Amplifikationen zahlreiche Neuigkeiten im Vergleich sowohl zu den ›klassischen‹ Vorlagen als auch zum zwanzig Jahre älteren ›Wolfenbütteler‹ Orpheus von Anton Ulrich, doch lässt sich auf der Ebene der Mythos-Auslegung ein deutlicher Einfluss des letzteren feststellen. Allerdings wird die mit dem christlichen Gedankengut bereicherte, ihrerseits auf die Rezeption des L’Orfeo von Claudio Monteverdi zurückgehende Interpretation Anton Ulrichs von dem anonymen Librettisten vereinfacht. Auch Der beständige Or-
144 pheus hat die bis zum Übermaß gesteigerte Liebe des Orpheus zu Eurydice zum Ausgangspunkt, allerdings beschränkt sich die Darstellung nicht ausschließlich auf dessen Gefühle. In beiden Werken wird Orpheus’ Verhalten erst nach dem ungeduldigen Rückblick auf dem Weg aus der Unterwelt kritisiert, übereinstimmend in beiden sind sein Misstrauen gegenüber göttlicher Macht und Kraft sowie seine fehlende Selbstbeherrschung der Anlass der Kritik. Noch stärker als Anton Ulrichs Orpheus betont der Held des anonymen Librettos, dass der Hades keine Schuld an seinen Leiden trägt: Eh’ solt ich sie nicht sehn / biß ich diß Thal betreten / So lauten Pluto Wort: Doch brach ich diß Geboth Auß Liebe / theilß auß Furcht: mein mund hat sie erbeten / Mein Aug verliehret sie / giebt doppelt ihr den todt. [Cr]284
Genauso fügt er sich dem himmlischen Willen, indem er darauf verzichtet, sein Leben zu retten. Allerdings manifestiert sich an dieser Stelle ein erheblicher Unterschied zwischen den beiden Texten: Steht der Entschluss von Anton Ulrichs Orpheus eindeutig in keinem Widerspruch zu »des Himmels Willen«285, so erscheint die Beständigkeit des Sängers im späteren Textbuch auch als Trotz gegenüber dem himmlischen Beschluss. In beiden Textbüchern besteht die Schuld des Titelhelden darin, dass er das eigene Schicksal nicht hinnimmt und die göttliche Vorsehung nicht akzeptiert. Bei Anton Ulrich lernt Orpheus aber das richtige Verhalten gegenüber dem irdischen Leiden; das Widerfinden der Geliebten in Gefilden der Seligen kann entweder als Belohnung dafür oder als göttliche Gnade verstanden werden. Dagegen gestaltet sich die Situation im Beständigen Orpheus trotz der äußerlichen Ähnlichkeiten (das Textbuch endet gleichfalls mit der glücklichen Begegnung der Eheleute im Elysium) komplizierter. Indem Orpheus auf seiner Treue zu Eurydice besteht, missachtet er zumindest auf den ersten Blick den himmlischen Willen. Diese Deutung seines Verhaltens wird allerdings durch die Meinungsäußerungen der anderen Personen sowie durch den Titel konterkariert.286 Vielmehr scheint der Held des anonymen Librettos nach seinem ersten Verstoß gegen den Willen des Himmels vor eine freie Wahl gestellt zu sein: Calliope betrübet sich / Und merckt des Himmels Willen / ––––––––––– 284
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Beide Textbücher übernehmen auch den Vorwurf der Eurydice, allerdings wird die Schuld des Sängers unterschiedlich erklärt: während Anton Ulrichs Eurydice konventionell die übermäßige Liebe des Orpheus betont (»So / so verlierstu mich dan nun aus grosser Liebe [...]«, Anton Ulrich: Orpheus, S. 33), beklagt die Heldin des Beständigen Orpheus den »Fürwitz« des Gatten. »So wil ich in Gedult des Himmels Willen / Was er beschlossen hat / alhie erfüllen.« Anton Ulrich: Orpheus, E2v. »DIE NYMPHEN O ungemeine Lieb / so Orpheus thut erweisen / Wie übersehlich ist Eurydice zu preisen.« Der beständige Orpheus, Cr.
145 Wann du nicht bald vermählest dich / Wird sich ihr Leid nicht stillen. [Cv]
Insofern entscheidet sich Orpheus freiwillig für den Tod und ergibt sich in stoischer Gelassenheit seinem Schicksal, während die Götter, allen voran seine Eltern, dieses Schicksal doch noch zu wenden versuchen:287 Wer da sein Leben nichtes acht / Wird nie auß seiner Ruh gebracht! Nur in Gelassenheit des Himmels fester Schluß / Er falle wie er woll’ / gefolget werden muß. [[(E4)r–(E4)v]
Den doppeldeutigen Charakter von Orpheus’ Entschluss resümiert schließlich Calliope: Wann einst der Götter-Schluß Geordnet dieses Leben / Darwieder soll und muß Kein Sterblicher mehr streben / Die Müh’ ist nur verlohren / Wann worzu wir gebohren Man zu verändern sucht / Und alle gar verflucht / Es giebet nur Verdruß. Wann gleich viel süsse Wort / Vertrösten neue Flammen Erwehlen doch den mord / Auch die von Göttern stammen / Man laß’ das Glücke wallen / Und die Gedancken fallen / Daß wir des Himmels Willn Nicht dörfen so erfülln / Sein Schluß geht dannoch fort. [Er]
Hat Anton Ulrich die Aussage seines Prätextes – Striggios L’Orfeo – trotz der Beibehaltung der Grundkonzeption bereits prinzipiell modifiziert, indem er die Kritik am Verhalten des Haupthelden weitgehend geschwächt hat, so entfernt sich der Autor des anonymen Textbuchs noch weiter von dem für die Bühnenwerke Anton Ulrichs charakteristischen Konzept des »Sichtbarmachen[s] einer alle Erscheinungsformen der Welt umgreifenden kosmologischen Ordnung«288. An ihrer Stelle wird eine didaktische Wirkung im Sinne der Tugend- und Af––––––––––– 287
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So beschwört Calliope Morpheus’ Hilfe, indem sie die Situation folgendermaßen erklärt: »Schau meinen armen Sohn / der treibet mich hieher / Was über den der Himmel hat beschlossen / Ist ja dir kund. Der Götter ihr begehr Kan ihre Macht selbst nicht umbstossen / Sie wehren mir zu warnen meinen Sohn / Dir / dir allein / dir bleibet es erlaubt / Zu zeigen ihm im Traum / was über ihn versehen / Wie es so bald wird seyn mit ihm geschehen [...]«. Der beständige Orpheus, Ev. Gerkens: Das fürstliche Schloss Salzdahlum, S. 27.
146 fektenlehre erstrebt. Es erfolgt eine Akzentverschiebung auf eine allgemeine Präsentation der Affekte. Indem die Handlung durch Einführung von zusätzlichen Figuren angereicht wird, wird auch die bei Anton Ulrich noch eindeutige Beurteilung des Helden relativiert. Das Verfolgen ihrer Schicksale, oder vielmehr ihrer Reaktionen auf die veränderten Situationen macht den Beständigen Orpheus zu einer typischen Affektenoper.289 Dabei steht Orpheus in einer Reihe mit anderen Figuren, an deren Beispiel die Wirkung der Affekte sowie die Konsequenz einer Hingabe daran demonstriert wird. In der Deutung der Affekte, wie sie im Beständigen Orpheus aufgedeckt und gezeigt werden, lassen sich deutliche Einflusse der aristotelisch-thomistischen Affektenlehre erkennen.290 Im Folgenden soll die Affektdarstellung im Textbuch in Anlehnung und im Vergleich mit der Ethica von Schottel analysiert werden, die beispielhaft für diese Richtung der Affektenlehre steht.291 In der aristotelisch-thomistischen Tradition werden Affekte weder als Laster noch als Tugenden, sondern neutral verstanden.292 Erst der Vernunft kommt die Aufgabe zu, sie laster- oder tugendhaft einzusetzen. Im Zentrum der Affektenlehren steht somit die Affektbeherrschung, verstanden als Verhältnis der Vernunft zu den Affekten. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die mediocritas, die Kunst der ›Mäßigung‹ der Affekte. In dem auf Augustinus zurückgehenden ––––––––––– 289 290
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Zum Begriff ›Affektenoper‹ vgl. G. F. Schmidt: Die frühdeutsche Oper und die musikalische Kunst Georg Caspar Schürmanns. 2 Bde. Regensburg 1934. Zu den zwei Richtungen der Affektenlehre im 17. Jahrhundert – die neustoizistische und die aristotelisch-thomistische Seelenlehre – vgl. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Vgl. auch die Übersicht über die Affektenlehren bei Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 183–200. Erwin Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand: Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. v. H. R. Jauß. München 1968, S. 239–269. Die Wahl dieses Werkes aus einer Fülle von zeitgenössischen ethischen Abhandlungen zu Affekten erfolgt nicht zufällig. Justus Georg Schottel, der seit 1638 als Prinzenerzieher von Anton Ulrich und Ferdinand Albrecht und später als hoher Beamter am Wolfenbütteler Hof tätig war, verfasste 1669 als einer der ersten seine Ethica in deutscher Sprache. Dieses Werk ist der aritotelisch-thomistischen Tradition der Affektenlehre verpflichtet; die Einflüsse von Schottels Ethica, insbesondere seiner Unterteilung der Grundaffekte in vernünftige und unvernünftige Erscheinungsformen, so zum Beispiel vernünftige und unvernünftige Liebe, sind im Beständigen Orpheus deutlich zu spüren. Vgl. Schottel: Ethica, S. 141f. Zu Schottels Affektenlehre vgl.: Guillaume van Gemert: Schottelius’ Affektenlehre und deren Vorlage bei Coornhert. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jean-Daniel Krebs. Bern u. a. 1996, S. 73–93. Bernhard Jahn betont, dass Schottels Ethica für die Librettoproduktion zwischen 1680 und 1740 repräsentativ und von besonderem Einfluss war, auch wenn er vor allem die augustinische Liebesethik als »die den Libretti im 17. und frühen 18. Jahrhundert zugrundeliegende« betrachtet. Vgl. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 290ff. »Die Hertzneigungen (affectus) sind solche Bewegungen und Regungen des Hertzen / welche herrühren aus der entpfindlichen Begierde / neigen sich und folgen dem nach / was sie gut / gefällig / und nützlich achten: Kehren sich weg / und neigen sich ab / von dem / was sie bös / misfällig und unnützlich erachten.« Schottel: Ethica, S. 129f. »Die Hertzneigungen sind an sich selbst oder von Natur nicht bös: Dan sie rühren her aus der Begierde und aus dem Hertzen / welche beyde GOtt der HErr im Leibe und in der Seele / als etwas gutes / geschaffen hat.« Schottel: Ethica, S. 135.
147 moralisch-theologischen Kontext, den Schottel miteinbezieht, fungieren die Affekte als Erscheinungsweisen des menschlichen Willens: »Auf moralisch gute Objekte gerichtete Willensneigungen können als Tugenden, auf moralisch schlechte Objekte gerichtete Willensneigungen als Sünden qualifiziert werden.«293 Auch bei Schottel verfügt die vernünftige Seele294 des Menschen über zwei »Hauptvermögen«: den Verstand und den Willen.295 Ihr Verhältnis wird folgendermaßen beschrieben: Der Verstand erkennet ofte und begreift das Gute / stellet es dem Willen vor / und erinnert denselben / solches gute auch zuwollen und zuthun; Der Wille aber ist oft widerspenstig / henget sich an das Hertz und an die Hertzneigungen / so von der Begierde herrühren / und wird alsdan verbracht / wozu der Wille geneigt / und wird nicht verbracht / sondern unterlassen das / wozu der Verstand geneigt [...].296
Diese Auffassung der Affekte erklärt ihre unterschiedliche Einschätzung durch die Figuren des Textbuchs: je nachdem, ob der Affekt auf das Gute oder auf das Böse gerichtet, übertrieben oder gemäßigt ist, werden die Figuren für ihr Handeln bestraft oder belohnt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des für das Textbuch wichtigsten Affekts: der Liebe. Ihre ambivalente Einschätzung irritiert auf den ersten Blick: Zuerst wird Orpheus’ Beständigkeit und Treue zu Eurydice belohnt, anschließend (nach dem zweiten Verlust von Eurydice) aber verurteilt; die Leidenschaft, welche Aristeus und Crinise verspüren, hat deren Ausstoß aus der Gemeinschaft der Thrazier zur Folge, wohingegen später die beiden von den Göttern von ihrer Schuld erlöst werden und Crinise in ihrer Liebe zu Orpheus bestärkt wird; in den Schlussszenen findet Orpheus schließlich doch die Erfüllung seiner Liebe im Elysium, während Crinise und Aristeus – letzterer mit wenig einleuchtender Begründung – zur Strafe für ›zu viel Gefühl‹ in gefühllose Felsen verwandelt werden. Vor dem Hintergrund der Affektenlehre lösen sich diese scheinbaren Widersprüche allerdings auf. Der Schlüsselbegriff ist dabei die ›Mäßigkeit‹, welche allein, geleitet durch Vernunft, die Affekte auf dem richtigen Weg der Tugend bewahren kann. Somit kann auch die Liebe je nach dem Maß des Affektes als gottgefällige, natürliche und er––––––––––– 293
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Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 51. Diese Version der aristotelischen Affektenlehre, die sich auf die christliche Willensmetaphysik stützt, war an den protestantischen Bildungsinstitutionen verbindlich. »Die vernünftliche oder verständliche Seele (anima rationalis, seu intellectiva) ist das jenige vernünftliche Vermögen / oder Kraft der Seele / wodurch wir verstehen und wollen: Diese ist unsere unsterbliche Seele / die der Mensche allein / und mit den Thieren nicht gemein hat / darin die Vernunft enthalten / welche regieret unseren Verstand und unseren Willen.« Schottel: Ethica, S. 114. Schottel: Ethica, S. 117. Schottel: Ethica, S. 119. Die Distinktion von Gut und Böse erfolgt dank der Vernunft: »Dan unsere Vernunft (Ratio, mens,) ist ein noch übriger Straal / göttlicher Weisheit in unserer Seel / welche durch ihr hochbegabtes Vermögen den Verstand erleuchtet und anleitet / und den Willen zu vernünftigen Gehorsam anweiset / und zum Guten werk fertig machet. Es ist also unsere Vernunft eine Kraft unseres Gemütes (nemlich des Verstandes und des Willen) die viel Dinges durch einander anschauet / iedes erwigt und eines gegen das andere hält [...]«. Schottel: Ethica, S. 125f.
148 wünschte »Herzneigung« oder als zu verurteilende, vom Menschen nicht mehr kontrollierbare Leidenschaft auftreten: [...] Lieben ist eine aus natürlicher Begier herrührende Hertzneigung / und also eine / durch die Hand des Schöpffers dem Menschen eingenaturte Entpfindung; Wan nun die / so fort bey-eintretende Vernunft / das Lieben zur erlaubten Meßigkeit nur verstattet / oder der Liebe die Tugend und Gottesfurcht zur Gegenliebsten darstellet: So ist und wird die Liebe eine vergönnte / gute / rühmliche Hertzneigung: Wan aber diese Liebesneigung keinem vernünftlichen Einrahten / noch verständlichen Zusprechen folgen wil / sonderen aller wollüstigen Anreitzung nacheilet / alsdan wird solche Hertzneigung zu einer sündlichen Liebesbrunst / ist lasterhaft und verdamlich.297
Demzufolge wird von den Figuren des Stücks ein permanenter Kampf sich selbst verlangt, der darin besteht, das Übermaß an Affekten ständig ›in Schach zu halten‹. Die Figuren führen verschiedene ›Abstufungen‹ des Liebesaffektes vor; darüber hinaus repräsentieren sie aber auch unterschiedliche Arten der Liebe.298 So steht der gegenseitigen, »vollkräftigen vergnüglichen«299 Liebe von Orpheus und Eurydice (amicitia) die »Löffeley« des Aristeus’ gegenüber, welche »so nur auf Fleisches Lust zielet«300; »liebender Gehorsam« (pietas) gegenüber den Eltern ist die Art der Liebe, der Aristeus gehorcht, Orpheus aber nicht folgen will; in Crinises Liebe zu Orpheus ist ein nicht geringer Anteil von Eigenliebe vorhanden, welcher zu deren Umkehrung in Hass beiträgt. Die Strafe für die ›irregeleiteten‹ Affekte lässt nicht auf sich warten. Crinise und vor allem Aristeus bekommen bereits in den ersten Szenen schmerzhaft die Folgen ihrer Missachtung der Affektenlehre zu spüren, die besagt: Liebt man Untugend und verwickelt sein Hertz in Lasterstücken / alsdan pfleget Spott Schimpf / Strafe / Unruhe / und böses Gewissen zur Belohnung zufolgen [...].301
Mit der Liebe überschneidet sich ein anderer Affekt, nämlich das Verlangen. Auch in diesem Fall erfolgt die Einschätzung gemäß dem Objekt, worauf der Affekt gerichtet ist, obwohl der Affekt selbst »auch das verlangende Gemüth irrig / ungedultig und unleidsam zumachen [...]«302 pflegt. Während Orpheus bei seiner Katabasis ehrlich und tugendhaft nach seiner Liebe verlangt, richten sowohl Aristeus als auch Crinise ihr Begehren danach, »was man weder recht kan behalten / noch erlangen«303. Allerdings ändert sich die Situation nach dem zweiten, misslungenen Versuch von Orpheus, sich Zutritt in die Unterwelt zu verschaffen. Das Urteil über sein Verlangen kehrt sich um: Orpheus will nun, »was einem nicht werden kan / oder welches mit hocher Lebens- und Seelenge––––––––––– 297 298 299 300 301 302 303
Schottel: Ethica, S. 135. Schottel unterscheidet zwischen der Buhlenliebe, Pietas, Philautia, Benevolentia, Amicitia und der Liebe gegen Gott. Vgl. Schottel: Ethica, S. 142f. Schottel: Ethica, S. 145. Schottel: Ethica, S. 142. Schottel: Ethica, S. 143. Schottel: Ethica, S. 169. Schottel: Ethica, S. 170.
149 fahr müste an sich gezogen werden«304. Der Zorn der Götter und die Forderung nach einer zweiten Vermählung zielen daher konsequent auf die Mäßigung des Liebesaffekts. Dagegen finden Crinises Verlangen und Liebe eindeutigen Zuspruch und Unterstützung: solange Crinise nicht unvernünftig den fremden Ehegatten liebt, ist ihre Liebe frei von der Sünde. Weitere Affekte werden explizit genannt und durch die Beziehungen der Figuren illustriert. Hass wird sowohl von Orpheus als auch von Crinise empfunden. Genauso wie Liebe ist Hass ein ambivalenter Affekt, dessen Beurteilung davon abhängt, worauf er gerichtet ist: [...] Hasset man die Untugend und gottloses Wesen / ist ein solcher Haß / an sich gut / löblich / höchstnöthig: Ist man aber gehäßig seinem Nechsten ohne gültige Ursach / [...] / so ist der Haß eine schendliche verdamliche Hertzneigung [...].305
Auch der Wunsch des Orpheus nach Einsamkeit ist als »melancholischer Haß«306, odium melancholicum, zu interpretieren. Im Vordergrund der Darstellung dieser Art des Hasses steht allerdings sowohl bei Orpheus als auch bei Crinise der »menschliche Haß«307. Crinises Hass ist eine direkte Folge ihres Zorns, der sich in die »Rachlust« – »eine selbst Mörderinn eigener Vernunft«308 – verwandelt, und aus diesem Grund ungerecht. Ihr Zorn ist allerdings die verständliche Reaktion auf die Verschmähung, die ihr und ihrer Liebe von Orpheus zuteil wird. Orpheus’ Hass ist weniger motiviert,309 grenzt an Grausamkeit und zeugt eher von der Unfähigkeit, zu verzeihen. Sein Hass erscheint darüber hinaus als Folge von anderen übersteigerten Affekten: Liebe, Verlangen und Traurigkeit.310 Der durch Orpheus’ Hass ins Leben gerufene »eingewurzelte Zorn«311 Crinises erweist sich als zerstörerisch in seiner Wirkung, ist aber nicht von Dauer. Statt im Sinne der Affektenlehren zu handeln, sich zu besänftigen und Orpheus dadurch die Beständigkeit ihrer Liebe zu beweisen, begeht Crinise »was teuflisches«312, indem sie nun ihrem Zorn freien Lauf lässt. Ihre anschließende Verzweiflung ist die Folge des Hasses und die Strafe dafür. ––––––––––– 304 305 306
307 308 309 310
311 312
Schottel: Ethica, S. 170. Schottel: Ethica, S. 135. »Ein melancholischer Haß [...] ist / da ein Trauerdampf alle vernünftliche Fröligkeit verdüstert / und die trübe Schwermuht bey einem Menschen sich in stetes Hassen / und immer Abhold-seyn vertieffet / und solches liebet: Solche Leute erlustigen sich mit trauriger Einsamkeit / meiden alle Gesellschafft und erlaubte Ergetzung; Und hassen also alles / was nicht mit ihrem trüben Einbilden und beliebter Kummerlust übereinstimmet.« Schottel: Ethica, S. 154. »Ein menschlicher Haß (odium humanum) so eine Hertzneigung ist / aus der Begierde entstehet und seine Ursach hat [...].« Schottel: Ethica, S. 155. Schottel: Ethica, S. 146. Zum Zorn als Vorläufer des Hasses vgl. Schottel: Ethica, S. 155f. Als möglicher Grund kann nur Crinises unterlassene Hilfe gelten, die den Tod der Eurydice herbeiführte. »Mein Hertze ist zu klein / nicht zwene kan ich fassen / Von nun an schwere ich all’ Weibesbild zu hassen [...]«. Der Beständige Orpheus, (D4)r. Schottel: Ethica, S. 155. Schottel: Ethica, S. 162.
150 Unter den weiteren Affekten, die das Textbuch inszeniert, sind Betrübnis und Hoffnung. Die erste wird als eine der Unterarten der Traurigkeit verstanden. Weder Orpheus noch den anderen Figuren (Calliope, Aristeus) gelingt es, sie wie es sich gehört in ständiger Demut zu erdulden. Die Hoffnung wird von allen Figuren abwechselnd empfunden oder beschworen. Sie fungiert vor allem als Heilmittel gegen die Verzweiflung (»Zweifelmuth«), die Aristeus, Crinise und Orpheus fühlen. Diese erscheint im Textbuch als die schwerste aller Sünden, nämlich als Verlust des Glaubens. Der Selbstmord, den alle drei Figuren versuchen, ist den zeitgenössischen Ethiken gemäß deren logische Folge: Es ist die Verzweiffelung oder Verzagung zweierley / erstlich wan man an Gottes Gnade und Barmhertzigkeit verzaget / in dem man seiner Sünden Vergebung nicht mehr hoffen / noch einige Hülffmittel zu Versöhnung GOttes und der ewigen Seligkeit anhören / annehmen / gebrauchen oder gutheissen wil noch kan. Solche Verzweiffelung ist eine Mörderin unserer Seele / und ein blinder Tod und Untergang alles Heyls: Wodurch der verzweifelender Mensch mit eigener mörderischer Hand wider seine Natur handelt / und ofte dem Leben abhilft.313
Während allerdings Aristeus und Orpheus ihre Verzweiflung überwinden, unterliegt Crinise schließlich diesem Affekt.314 Ihr Todeswunsch wird jedoch durch ihre Verwandlung aufgehoben. Obwohl die Figuren dem Übermaß der Affekte nicht Herr werden, wird ihnen immer wieder eine neue Chance gewährt. Doch fällt auf, dass keiner der Helden zu einer ›vernünftigen‹ glücklichen Liebe im diesseitigen Leben findet: Crinise ›verspielt‹ ihre Liebe, indem sie diese gegen Hass und Rache ›tauscht‹, Aristeus wird neben Crinise in einen Felsen verwandelt – ein deutlicher, wenn auch der einzige Beweis dafür, dass er seine Liebe zu Eurydice nicht überwinden kann315 – und Orpheus wird sein Liebesglück erst im Elysium zuteil. Dass Orpheus’ Liebe trotz dessen partieller Hingabe an seine Affekte belohnt wird316 und dass er in der Schlussszene des Librettos von allen Figuren gefeiert wird, wirkt im Kontext des bisher Gesagten irritierend. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Zuschauer lediglich mit der Hypostase des Verliebten konfrontiert werden, der vergeblich versucht, seine Leidenschaft zu überwinden. Orpheus’ Verdienste sowie seine eigentliche Heldentat – die Bezwingung der Hölle – werden nur in den ersten Szenen erwähnt und bleiben ansonsten im Hintergrund. Sie sind es aber, die seine Ausnahmestellung begründen. Im Un––––––––––– 313 314
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Schottel: Ethica, S. 213. »Ach Eyversucht / ach Lieb’ / ach Haß / ach böß gewissen / Es wird mein Hertz von euch geviertheilt und zerrissen / [...] Durch meine Lieb’ ist Orpheus hingerafft / Durch Zweifelmuht werd’ ich von hie geschafft.« Der Beständige Orpheus, F2r. »BACCHUS Damit auch Aristeus nicht in Elyser Feld Dem Orpheus wiedrig sey / wird er zum Stein gestellt.« Der beständige Orpheus, G2v. Orpheus kann weder seine Liebe noch sein Verlangen nach Eurydice mäßigen, infolgedessen vernachlässigt er die Pietas – seine Pflicht gegenüber den Eltern – und lässt sich durch die Hassgefühle gegenüber Crinise verleiten.
151 terschied zu den anderen Figuren ist Orpheus ein halbgöttlicher Held und besitzt die Heldentugend, die in den Ethiken des 17. Jahrhunderts als eine göttliche Gabe gesehen und akzeptiert wurde: Die Heldentugend ist eine solche überaus tugendliche Vortreflichkeit / und gleichsam eine Wundertugend eines Menschen / die fast über menschliche Kräfte und Vermögen sich hervor thut und erweiset. [...] Die Heldentugend wird nicht so sehr durch menschlichen Fleiß / Bemühung und Sorgfalt / als durch sonderbaren göttlichen Beystand und Erleuchtung erlanget / daher sie auch eine fast überirdische und halb göttliche Tugend genant wird. Zumal die Helden und Heldinnen / so mit dieser Wundertugend begabt gewesen / ein solches unter den Menschen gethan und verrichtet haben / welches anderen Menschen unmöglich gewesen nachzuthun. [...] Solche Helden / theure Männer Gottes / und Wunderleute / sind allezeit die jenige gewesen / durch welche GOtt der HErr etwas sonderliches / hohes und grosses hat in der Welt wollen verrichten lassen; dahero dieselbe / vermittelst göttlichen Beystandes / auch erlanget eine sonderbare Art und ungemeines Vermögen etwas vorzunehmen [...]. Darum nanten die alten Heyden solche Heldenleute / Halbgötter / überirdisch / himlisch / ja machten sie endlich gar zu Göttern.317
Somit wird die durch die Figuren illustrierte Affektenlehre in den Grundriss einer moralisch-theologischen Ordnung eingebettet. Signifikant dafür ist auch die Macht des im Textbuch immer wieder sowohl von Menschen als auch von den Göttern betonten »Himmels-Schlußes«. Dieser erscheint als göttliche Vorsehung, als Verhängnis, das vom Menschen nicht vollständig erkannt und von den Göttern nicht geändert werden kann.318 Dank dieser Vorsehung werden aber die Belohnung der Tugend und die Bestrafung der Laster garantiert. Vor diesem Hintergrund der durch das Schicksal bestimmten Affektdispositionen erweist sich allerdings die Erfüllung der diesseitigen Liebe erst durch ihre Verklärung im Jenseits als möglich. Das affektive Leben wird aus dem heilsgeschichtlichen Blickfeld bestimmt. Die Huldigung des Orpheus ergibt sich darüber hinaus aus dem Kontext der Aufführung: als eine höfische Oper zum feierlichen Anlass einer fürstlichen Hochzeit ist der Beständige Orpheus in zeremonielle Strukturen eingebunden, die den lieto fine mit einer »zeremoniellen Standardsituation«319 einer Huldigung geradezu erfordern. Dabei wird, wie Bernhard Jahn es für die frühneuzeitlichen Libretti gezeigt hat,320 die »unordentliche«321 Situation mehrerer ––––––––––– 317
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319 320
Schottel: Ethica, S. 585f. Auch Einflüsse der euhemeristischen Tradition der Erklärung sind hier zu spüren. Die Frage nach dem Verhältnis bzw. einer möglichen Korrespondenz zwischen dem geregelten Affekt und der Tugend wurde allerdings auch im Rahmen der aristotelischen Affektenlehre nicht eindeutig beantwortet. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 199f. »CALLIOPE Schau meinen armen Sohn / der treibet mich hieher / Was über den der Himmel hat beschlossen / Ist ja dir kund. Der Götter ihr begehr Kan ihre Macht selbst nicht umbstossen [...]«. Der beständige Orpheus, Ev. Hier manifestiert sich eine deutliche Vermischung von paganen und christlichen Elementen. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 385. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 351ff., bes. S. 388.
152 Liebeskonflikte in zeremonielle überführt und damit eine »stabile Ordnung«322 erschaffen.
3.4.4. Fazit Die Vorführung von Affekten als ›Illustration‹ der zeitgenössischen Affektenlehre dominiert die Verarbeitung des Orpheus-Mythos im Beständigen Orpheus. Eine Verankerung des Mythos in den moralisch-theologischen Kontext hat darüber hinaus eine Christianisierung des Mythos zur Folge. Dabei wird die These von der Notwendigkeit einer christlich-demütigen Haltung gegenüber dem Schicksal und göttlichem Willen in didaktischer Manier vermittelt. Allerdings erfolgt im Textbuch keine eindeutige Zuweisung von Affekten an Figuren, vielmehr durchlaufen die Figuren unterschiedliche Stadien eines Affektes – von dessen Kontrolle durch die Vernunft bis zum Übermaß an Leidenschaft. Ins Zentrum der behandelten Affekte rückt dabei die Liebe, deren verschiedene Formen präsentiert werden. Vor allem zwei Liebeskonzeptionen werden gegeneinander ausgespielt: der leidenschaftlichen, ›fürwitzigen‹ Liebe wird die verklärte und auf Dauer angelegte, vernünftig-geordnete Liebe gegenübergestellt. Auch wenn die geschlechtsspezifische Liebe im Vordergrund steht, werden andere Arten der Liebe berücksichtigt, allen voran die Pietas, die im Text als die Liebe und der Gehorsam gegenüber den Eltern aufgefasst wird. Verglichen mit dem idealtypischen Mythosverlauf, wie er im Strukturmodell definiert wurde, manifestiert sich im Beständigen Orpheus eine zunehmende Komplexität der Konfiguration, die vor allem dank den Wiederholungsstrukturen durch die Einführung von zusätzlichem Personal und die zusätzlichen Erzählstränge zustande kommt. Dies hat nicht nur eine im Vergleich zu den Prätexten gesteigerte Dramatisierung des Mythos zur Folge, sondern zeugt gleichzeitig von einer neuen signifikanten Attitüde in der Verarbeitung des Mythos. Hier liegen weder eine in der Tradition der christlichen Allegorese verwurzelte Interpretation noch eine Instrumentalisierung des Mythos als ›Hülle‹ für ihm fremde Sachverhalte vor. Vielmehr wird der Mythos als eine Intrige enthaltende Geschichte aufgefasst und wird aus der Intrige heraus erklärt und vervollständigt. Diese Vorgehensweise resultiert teilweise in einer Trivialisierung des Mythos; ein Effekt, der beim Vergleich mit der unmittelbaren Vorlage – Anton Ulrichs Orpheus – noch deutlicher wird. Allerdings weist der Beständige Orpheus bereits die Züge auf, die von Friedrich Christian Bressand in seinem für die deutsche Opernbühne vor Gluck vielleicht einflussreichsten Libretto Orpheus wiederaufgenommen werden ––––––––––– 321 322
Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 388. Albert Gier: Eine grundlegende Studie zur Oper des 18. Jahrhunderts. (Rezension über: Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005.) In: IASLonline (29.05.2006).
153 sollen. Dies betrifft vor allem die zusätzlichen Figuren und – in seinen Grundzügen – den Knoten der Intrige. Somit erweist sich das anonyme Libretto als ›Scharnierwerk‹ zwischen Anton Ulrichs Orpheus und den zwei Fassungen des Orpheus-Librettos von Bressand.
3.5.
Johann Valentin Merbitz: Orpheus (Dresden 1696) Viel nützliche Sachen von dem Regier- und HaußStande können durch Poetische Lieder beygebracht werden / saget Diogenes Laertius. Unter den Gedichten von Amphion und Orpheus, stecket nichts anderes verborgen / als daß verständige und beredte Leute ein ungeschlachtes Volck leichtlich zum Gehorsam bringen und zu guten Gesätzen gewähnen können.323
3.5.1. Einleitung Das Schuldrama mit dem Titel Orpheus erschien 1696 im Druck und wurde vermutlich im selben Jahr in der Dresdner Kreuzschule aufgeführt.324 Über seinen Autor, Johann Valentin Merbitz, ist wenig bekannt.325 Die seltenen Quel––––––––––– 323
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Georg Neumark: Poetische Tafeln. Jena 1667, § 12, B2v. Diese Deutung der Orpheus-Figur geht zurück auf Thomas von Aquin und Horaz. Vgl. Thomas von Aquin: Komment. in Aristot. an. 1, 12, 190. Hor. ars 491–401. Johann Valentin Merbitz: Orpheus. Lust-Spiel. Dresden 1696. Die öffentlichen Aufführungen der Kruzianer fanden entweder auf der Schulbühne oder in einem Gebäude des Stadtrats, ›Hochzeitshaus‹ oder ›Breyhan-Haus‹ genannt, statt. Vgl. K. Heinr. Neubert: Schola crucis – schola lucis. Aus der Geschichte der Kreuzschule zu Dresden. Vortrag aus Anlaß der einhundertjährigen Feier der Weihe der jetzigen Kreuzkirche. Dresden 1893, S. 51. Meltzer, dem allerdings der Text des Orpheus nicht zugänglich war, bezweifelt unter Berufung auf Goedeke und ausgehend von den Titelangaben, dass eine Aufführung stattgefunden hat: »Wäre eine Aufführung in der Schule auf dem Titel verzeichnet gewesen, so würde sie bei Goedeke kaum fehlen.« Otto Meltzer in: Festschrift Herrn Oberbürgermeister Friedrich Wilhelm Pfotenhauer zur 25jährigen Jubelfeier seines am 2. Januar 1849 angetretenen Amtes. Dresden 1874, S. 10–17, zu Merbitz S. 16. Nach dem Artikel von Schnorr von Carolsfeld in der ADB sind keine Exemplare des Orpheus erhalten. Vgl. Franz Schnorr von Carolsfeld: [Artikel] Merbitz. In: ADB 21 (1885), S. 384–385. Recherchen ergaben jedoch, dass Orpheus-Ausgaben in der Staatsbibliothek zu Berlin, in den Universitätsbibliotheken in Greifswald, in Göttingen und in Halle sowie in der HAAB vorhanden sind. Bolte erwähnte die Drucke in Berlin, Göttingen, Greifswald, St. Petersburg und Weimar. Vgl. Johannes Bolte: Andrea Guarnas Bellum grammaticale und seine Nachahmungen. Berlin 1908 (Monumenta Germaniae Paedagogica 13), S. 74. Schnorr von Carolsfeld. In: ADB 21 (1885), S. 384–385. Adelung 4 (1813), S. 1472. Bolte: Andrea Guarnas Bellum grammaticale, S. 74f. Christian Flemig u. Conrad Peter Meister: Disquisitio academica de loquela Imaginum [...]. Leipzig 1705, S. 36f. Dieselben in: Nova literaria Germaniae. Hamburg 1705, S. 146f. Goedeke: Grundriß 21897, S. 228. Hirsching: Historisch-literarisches Handbuch 5, 1 (1800), S. 270. Jöcher: Gelehrten-Lexicon 3 (1751),
154 len – nur 50 Jahre blieb er im Gedächtnis der Nachfahren – wiederholen neben der Betonung seiner außergewöhnlichen Gelehrsamkeit fast wörtlich eine Anekdote, die für den heutigen Leser einen starken Beigeschmack der Scharlatanerie hat, für Merbitz’ Zeitgenossen aber wohl durchaus ein Grund für Bewunderung sein konnte und zumindest heftige Diskussionen hervorrief. Als talentierter Mechaniker und Konstrukteur von Automaten soll er einen künstlichen Kopf gefertigt haben, der die ihm gestellten Fragen in allen Sprachen beantwortete, »Zukünftiges vorhersagte und Geheimes offenbarte«326. Die Erwähnung von Merbitz’ an Zauberei grenzender Kunstfertigkeit fehlt in keinem der vorhandenen Lexikonartikel,327 deutlich weniger erfährt man dagegen über sein Leben und seine literarischen Werke, deren Themenspektrum überaus breit ist. Geboren 1650 in Dresden, ging er 1667 zum Studium nach Leipzig, wo er 1670 nach einer Disputation über die Republica in casu necessitatis constituta unter dem Präsidium von Valentin Alberti den Grad eines Magister Artium erlangte. In seine Studienzeit sowie in die Universitätszeit danach fallen mehrere Drucke seiner Disputationen sowie andere philosophische und philologische Veröffentlichungen. Nach dem Studium blieb er zunächst an der Universität Leipzig als Nichtordinarius,328 1673 scheint er eine –––––––––––
326 327 328
S. 448f. Gottfried Ludwig: Historia Rectorum & Gymnasiorum Scholarumque Celebriorum [...]. Teil II. Leipzig 1709, S. 119–122. Kosch: Literatur-Lexikon 10 (1988), Sp. 4. Meltzer, S. 15–17. Nova literaria Germaniae. Hamburg 1704, S. 410f. Christian Heinrich Paufler: De conrectoribus scholae dresdensis. Dresden 1816, S. 5. D. F. Pönmann: Vitae virorum Ex quavis Facultate Clarissimorum, Das ist: Lebens-Beschreibungen Etlicher vortrefflich Gelehrter Männer in mancherley Wissenschafften [...]. Wittenberg 1714, S. 192–196. Pyritz: Bibliographie 2 (1985), S. 390. Daniel Härtwig: Die Kreuzschule im Zeitenwandel. In: Der Dresdner Kreuzchor. Geschichte und Gegenwart. Wirkungsstätten und Schule. Hg. v. Dieter Härtwig u. Matthias Herrmann. Leipzig 2006, S. 300–341, zu Merbitz S. 314. Schnorr von Carolsfeld. In: ADB 21 (1885), S. 385. Auch in den Disputationen setzte man sich mit seinen Erfindungen auseinander. Vgl. Flemig u. Meister: Disquisitio academica de loquela Imaginum, S. 36f. Es lässt sich eine unter seinem Präsidium verfertigte Disputation nachweisen: Johann Daniel Artopoeus: Dissidium animalium. Diss. histor.-physica. Präs. Joh. Valentin Merbitz (Dresden). Leipzig, 1672. Nachgewiesen in: Bio- Bibliographisches Verzeichnis von Universitäts- u. Hochschuldrucken (Dissertationen) vom Ausgang des 16. bis Ende des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hermann Mundt. Bd. 1. Leipzig 1934, S. 26. Andere Quellen geben diesen Text als Werk von Merbitz an, was durchaus berechtigt sein kann, da die Verfasserschaft von Dissertationen mitunter schwer feststellbar ist. Es kann sich damit um eine Arbeit des Präses bzw. um eine gemeinsame Arbeit von Präses und Respondenten, seltener um ein selbständiges Werk des Respondenten handeln. Die Tatsache, dass Merbitz das Präsidium übernommen hat, erlaubt noch keinen Aufschluss über seine Stellung an der Universität; als Präses konnten neben Professoren promovierte Gelehrte, Anwärter auf einen akademischen Grad oder fortgeschrittene Studenten auftreten. Die alte Tradition der magistri, die weitere Grade erstrebten und gleichzeitig die Bakkalaureatskandidaten in der Artistenfakultät unterrichteten, war an der Leipziger Universität erhalten geblieben. Vgl. dazu Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Artisten und Philosophen. Wissenschaftsund Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Basel 1999 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 1), S. 215.
155 Stelle an der Philosophischen Fakultät bekommen zu haben.329 Nach der Herausgabe seines Traktats De veritate faciei humanae im Jahre 1676 bekam er eine Anstellung an der Kreuzschule in Dresden und wurde am 5. Dezember desselben Jahres zum Konrektor ernannt.330 Dieses Amt bekleidete er bis 1702, als er aufgrund einer schweren Krankheit unter der Beibehaltung seines Jahresgehalts emeritiert wurde. Während seiner Schultätigkeit veröffentlichte Merbitz mehrere Kommentare und Ausgaben klassischer Autoren und schrieb Schuldramen für die Aufführungen der Kreuzschule, wozu er als Konrektor auch verpflichtet war. Der 1696 in Versform verfasste Orpheus ist wahrscheinlich sein einziges deutsches Schuldrama, allerdings soll es zu einigen lateinischen Texten deutsche Übersetzungen gegeben haben.331 In seiner pädagogischen Ausrichtung ist Merbitz als Anhänger der von Christian Weise vorgeschlagenen Reform des akademischen Erziehungsprogramms anzusehen.332 Ende des 17. Jahrhunderts wurde Merbitz zum Informator des 1696 geborenen sächsischen Thronfolgers Friedrich August ernannt. Am 4. Juni 1704 starb Merbitz in Dresden an einem Schlaganfall.333
3.5.2. Literarische Mythos-Adaption im Orpheus Dem Dramentext ist im Druck eine in Alexandrinern verfasste Widmung an einen anonymen Freund vorangestellt.334 In vier Quartetten wird dem Ideengehalt und der Thematik des Stückes die Priorität vor seiner dichterischen Qualität aporetisch zugesprochen: wenn auch weder die Inventio (die »Erfindung« [S. 3]) noch die Elocutio ( die »Wörter-Pracht« [S. 3]) die Kunstfertigkeit der ––––––––––– 329 330
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»[...] und ward / da er An. 73 eine Oration, de Processione Spiritus S. gehalten / unter die Facult. Philosoph. Assessores aufgenommen.« Pönmann: Vitae virorum, S. 193. Diese Laufbahn war typisch für einen Leipziger Absolventen. Da man in Leipzig schwer Berufungen und Ernennungen bekam, gingen vielversprechende Gelehrte u. a. in den Schul-, Kirchen- oder Staatsdienst. Vgl. dazu Günter Mühlpfordt: Zwischen Tradition und Innovation: Rektoren der Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung. In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. v. Hanspeter Marti. Basel 2004, S. 111–195, hier S. 117. Darüber hinaus gehörte es zur Tradition der Dresdener Kreuzschule, deren Schüler Merbitz während des Rektorats des bedeutsamen Theologen und Orientalisten Johann Bohemus (Böhme) war, dass ihre Absolventen nach dem Studium in die Schule zurückkehrten und eine Stelle als Lehrende antraten. Vgl. Härtwig: Die Kreuzschule im Zeitenwandel, S. 312f. Vgl. Meltzer, S. 16. Im Kontext der seit den frühen 90er Jahren des 17. Jahrhunderts einsetzenden Pedantismuskritik sollte z. B. Merbitz’ Zwischenspiel Priscianus (1695, in der Schulkomödie Darius) betrachtet werden, eine Satire auf einen pedantischen Schulmeister und auf die skolastisch-pedantische Unterrichtsorganisation, unter anderem aber auch Kritik der antiken Mythologie und der Gelegenheitsdichtung. Zu Priscianus vgl. Bolte: Andrea Guarnas Bellum grammaticale, S. 74–75. Schnorr von Carolsfeld. In: ADB 21, S. 384 gibt als Todesdatum den 6. Juni an. »An einen seiner guten Freunde / | Der Verfasser.« Merbitz: Orpheus, S. 3. Ob es sich bei dem Widmungsempfänger um eine reale oder fiktive Person handelt, ließ sich nicht feststellen. Die Widmung ist im Anhang 2.2 der vorliegenden Arbeit vollständig abgedruckt.
156 »hohe[n] Geister« [S. 3] erreiche, könne der Gegenstand doch mit dem Interesse des Publikums rechnen. Auch durch die Bezeichnung des potenziellen Lesebzw. Zuschauerkreises als »gelehrte Meng« [S. 3] erfährt der intellektuelle Anspruch des Dramas eine zusätzliche Steigerung. Allerdings beabsichtige der Autor keinesfalls, gegen die Regeln der poetischen Kunst zu verstoßen: trotz der möglichen dichterischen Mangelhaftigkeit sei der Orpheus verfasst, »wie seiner Zeit es ziemt« [S. 3]. Der Akzent auf die inhaltliche Komponente sowie auf die Zweckmäßigkeit des Stücks soll auch die mögliche Kritik am Werk in den Hintergrund treten lassen. Wichtig ist, dass die intendierte Wirkung erreicht wird: In übrigen / so ist er auch bereits gewohnet Daß Tadelns / ihn kränckt nicht / was der und jener spricht: Er achtet sich sehr wohl und reich sodenn belohnet / Wann er erhält / wohin sein Absehn ist gericht.335 [S. 3]
Damit wird die vom Autor gewünschte Rezeption bereits in der Widmung antizipiert.336 Das Drama beginnt mit einem Vorredner, der in einem monologischen prologus argumentativus um die Gunst des Publikums wirbt und mit einer Inhaltswiedergabe den Zuschauern die Geschichte und die ideologische Auffüllung der dramatisch präsentierten Situationen enthüllt. Die Handlungsumrisse werden vorgegeben: die Schüler sollen darstellen, wie die rohen, in einem Naturzustand lebenden Menschen unter dem Einfluss von Orpheus’ Lehren eine Stadt gründen und sich dem ergeben, [...] was die Welt erhält. Dieses nehmlich sind Gesetze Und Recht [...]. [S. 4]
Bereits an dieser Stelle kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Stück wenig Spielraum für eine dramatische Handlung bietet. Merbitz’ Drama ist statisch und argumentativ: es ist nicht das Was, sondern vielmehr das Wie, das darge-
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Aus diesen Zeilen könnte man auf einen möglichen Misserfolg der Aufführung des Dramas schließen, der dem Druck des Orpheus vorausgegangen ist. Allerdings fehlen auf dem Titelblatt jegliche Angaben zu einer Aufführung. Eine weitere Funktion dieses Widmungstextes ist schwer zu bestimmen. Das Fehlen der Adresse an einen Potentaten hebt allerdings die Uneigennützigkeit des Autors und seine Hingabe an das höhere Ziel der Jugenderziehung hervor. Die vier Quartette weisen eine komplizierte, vor allem durch Inversion und Hyperbaton erschwerte syntaktische Struktur auf, welche in den letzten vier Versen besonders stark verdichtet wird: »Und hierbey bistu selbst mit grossen Ruhm bemühet / Mein Freund / vom kleinen Volck / und List an daß benennt: Versichert / daß hierdurch dein Lob zum schönsten blühet / So lang als Orpheus man und seine Leyer kennt.« Merbitz, S. 3. Dieser änigmatische Vierzeiler legt die Vermutung nahe, dass der Autor den Ideengehalt des Stückes womöglich dem anonymen Freund verdankt.
157 stellt werden soll.337 Dabei wird diese Wie-Spannung durch den Rückbezug auf das kollektive Vorwissen über den Orpheus-Mythos zusätzlich verstärkt. Merbitz gibt seinem Schuldrama die Gattungsbezeichnung ›Lustspiel‹. Angesichts des moralisch-didaktischen Charakters des Stücks verwundert diese Gattungsbestimmung auf den ersten Blick; sie lässt sich aber auf die Vorschriften der zeitgenössischen Poetik zurückführen.338 Merbitz’ Orpheus erfüllt die beiden wichtigsten Kriterien: das vom Gesetz der Gattung geforderte gute Ende und die den unteren Gesellschaftsschichten entstammenden handelnden Personen.339 Das ›Lustspiel‹ Orpheus besteht aus drei »Abhandlungen« mit einer asymmetrischen Anzahl von Auftritten (ein Auftritt in der ersten, vierzehn Auftritte in der zweiten und elf in der dritten Abhandlung) sowie einem Prolog (»Vorredner«) und einem Epilog (»Nachredner«). Das beherrschende Versmaß ist der kreuzgereimte Alexandriner, der in einigen Passagen, z. B. im Prolog, mit trochäischen Vierhebern abwechselt. Dagegen zeichnen sich die als Arien betitelten Passagen durch metrische Vielfalt aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um Musikeinlagen. Die Integration musikalischer Elemente in ein Sprechdrama entspricht der Tendenz einer zunehmenden Annäherung an die Oper, die sich im protestantischen Schuldrama und auch im Jesuitendrama der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts manifestiert.340 Die reichlich einge––––––––––– 337 338
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Diesem Zweck dient u. a. der häufige Gebrauch der Stichomythie, insbesondere in den Szenen, die sich durch eine starke Konfliktgeladenheit auszeichnen. »Die Komödie ist in der Poetik des 17. Jahrhunderts weniger durch einen gattungsspezifischen Wirkungseffekt als durch einen festen Gegenstandsbereich bestimmt.« Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 400. Gerade von den Autoren der Schuldramen wurden die gattungsbestimmenden Schranken öfters gelockert und den spezifischen Aufgaben des Schultheaters angepasst. Dies betraf vor allem die Ständeklausel. Zum Beispiel lässt J. S. Mitternacht in seiner Politica dramatica allein den Ausgang des Dramas als Kriterium der Gattung gelten: »Daß ichs eine Comödiam nennte / geschieht wegen des frölichen Ausgangs / und hätte mich gern der hohen Personen / dergleichen nicht in Comödien / sondern in Tragödien gehören / enthalten / wenn es nur die materia und mein Zwekk hätten leiden wollen.« Zitiert nach: Marianne Kaiser: Mitternacht / Zeidler / Weise. Das protestantische Schultheater nach 1648 im Kampf gegen höfische Kultur und absolutistisches Regiment. Göttingen 1972, S. 58. Auch Christian Weise, dessen Tätigkeit für das Schultheater im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts maßgebend war, lehnte die Ständeklausel ab. Zum Komödienverständnis im Schuldrama vgl. Marianne Kaiser: Mitternacht / Zeidler / Weise. Zum Lustspiel im 17. Jahrhundert vgl. auch Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Stuttgart 1965. Vgl. auch Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 400–422, mit bibliographischen Angaben. Zu den strukturellen Besonderheiten des Schuldramas am Beispiel der Schulkomödien von Christian Weise vgl. Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen 1980. In den protestantischen Schuldramen zeigt sich die ›Veroperung‹ des Wortdramas vor allem bei Johann Christian Hallmann, dessen Dramen ab 1666 von den Schülern beider Breslauer Gymnasien (Magdalenen-Gymnasium und Elisabethanum) aufgeführt werden. Vgl. Rolf Tarot: Schuldrama und Jesuitentheater. In: Handbuch des deutschen Dramas. Hg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 35–47. Auch Weise bereichert seine Schulstücke,
158 streuten musikalischen Partien lassen sich auch dadurch erklären, dass die Dresdener Kreuzschule unter anderem durch ihren Chor berühmt war. Eine weitere Besonderheit des Stücks ist die relativ lockere Handlungsstruktur: die erste Abhandlung bleibt isoliert, auch sonst sind die einzelnen Auftritte, vor allem die der zweiten Abhandlung, nur sehr lose miteinander verknüpft, wodurch ein Panorama-Eindruck entsteht.341 Die Figuren sind Typen und ihre sprechenden Namen verraten durch etymologische Allegorese ihre persönlichen Qualitäten beziehungsweise ihr Beschäftigungsfeld. Die erste Abhandlung des Dramas präsentiert eine isolierte, mit der Haupthandlung lediglich durch den Ideenkomplex verbundene Szene. Die Personifikation der Erde (»die Erdkugel«) wendet sich an ihre Kinder, die Menschen. Sie preist die hohe Stellung des Menschen als göttlicher Schöpfung in der göttlichen Weltordnung sowie die Erfolge des menschlichen Fortschritts: Ihr/ die was Göttliches erhebt in diesem Leben / Und nur allein versteht die grossen Gottes-Werk [...]. [S. 5]
Diese Erhöhung des Menschen über alle anderen Lebewesen wird jedoch mit dem Beweis seiner Nichtigkeit vor Gott konfrontiert: als Antithese zum Lobpreis menschlicher Errungenschaften erzählt die Erde die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte, in welcher der Mensch als Erdenkloß seinen Platz findet. Die Erbsünde brachte der Erde die unverdiente Strafe: sie leidet unter dem Ackerbau; aber als Mutter der Menschen beweint sie auch das Schicksal ihrer Kinder. Um diese Last erträglicher zu machen, rät sie den Menschen die Hinwendung zu den christlichen Tugenden und zum neustoizistischen Ideal der Beständigkeit, im Einklang mit denen der Mensch seine Existenz und das Zusammensein mit der Mutter Erde zu gestalten hat. Glaube, Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit und Gottesfurcht sollen die Menschen »Göttern gleich«342 [S. 10] machen: –––––––––––
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vor allem um dem Publikumsgeschmack entgegenzukommen, um Arien, Chorgesang und Instrumentalmusik. Vgl. Zeller: Pädagogik und Drama, S. 207ff. Die lose Handlungsstruktur zeichnete wohl auch einige der lateinischen Stücke von Merbitz aus. So urteilt 1849 Otto Meltzer über Merbitz’ Themistocles: »Doch machen neben der völligen Zusammenhanglosigkeit und nüchtern gespreizten Langweiligkeit der Haupthandlung, wenn sie überhaupt den Namen einer Handlung verdient, wenigstens die lose eingestreuten Scenen zwischen der unvermeidlichen Glycerium und ihren Liebhabern, dem ebenso unvermeidlichen Parasiten und Sklaven hier und da einen unendlich drolligen Eindruck [...]«. Meltzer, S. 15. J. Bolte findet dagegen lobende Worte für die Komposition von Merbitz’ Priscianus. Vgl. Bolte: Andrea Guarnas Bellum grammaticale, S. 74–75. Diese Eigenart der Komposition ist auch für die Stücke von Christian Weise typisch, dem Merbitz auch in puncto Rhetorik verpflichtet zu sein scheint. Die ›Weitläufigkeit‹ wurde in erster Linie durch besondere Bedingungen des Schultheaters diktiert: die Verpflichtung, im Sinne der ›pädagogischen Dramaturgie‹ und mit Rücksicht auf das zum großen Teil aus Eltern zusammengesetzte Publikum möglichst viele Schüler an der Aufführung zu beteiligen. Vgl. dazu Zeller: Pädagogik und Drama, S. 109ff. Diese ›heidnisch‹ anmutende Hyperbel geht wohl auf Jesus-Worte im Johannes-Evangelium und damit auf den Psalm 82 zurück. Vgl. Joh. 10, 34f.: »Jhesus antwortet jnen / Stehet nicht geschrieben in ewrem Gesetz / Jch hab gesagt / Jr seid Götter? So jr die
159 Last Glauben / Hoffnung / Lieb in allen thun und lassen Euch anbefohlen seyn. [...] Schaut auf Gerechtigkeit / und last sie euch regieren. So wird man unter euch nie hören eine Klag: [...]343 GOtt aber / dessen Gütt uns täglich neu auffgehet / Steh’ euch so förder bey / regiere Sinn und Muth / So wird nach seinem Wort / welchs ewiglich bestehet / Nach diesem euch geschenckt das ewig höchste Gut.344 [S. 11]
Dabei wird unter Tugend das Einordnen des Menschen in die göttliche Harmonie verstanden. Auf dem Hintergrund dieser vom lutherischen Gedankengut stark geprägten Szene erfolgt nun eine Anknüpfung der christlichen Wahrheit an die antike Mythologie: in der zweiten Abhandlung ist es Orpheus, der als Zivilisationsstifter die ›Lehren‹ der Erde aufnimmt und weiterentwickelt. Somit legitimiert und untermauert die biblische Wahrheit die Weisheit der heidnischen Antike. Die zweite Abhandlung beginnt mit einer bukolischen Szene. Die Schäferin Galathea besingt in einer Arie die Freuden und die Schönheit des Lebens in der Natur und ihre Liebe zu dem Schäfer Damon. Diese und die weiteren Galathea-Szenen bilden den bukolischen Nebenstrang des Dramas. Der idyllische, paradiesische Zustand, der in diesen Szenen dargestellt wird, steht für die Möglichkeit eines individuellen, bukolisch-zeitlosen Glücks in der Sphäre des Privaten. Gleichzeitig sind in der Bildwelt der Bukolik aber gleichzeitig die Bedingungen und die Grenzen eines solchen Glücks und einer solchen Freiheit vorgegeben: ihr Raum ist der der Phantasie und der Evasion.345 Die Auftritte des Hauptstranges sind dagegen kontrastiv zu den Galathea-Szenen gestaltet. Die beiden Stränge werden miteinander, wenn überhaupt, nur rein formal verbunden, so am Ende des ersten Auftritts, als die Schäferin von weitem Menschen sieht und erschrocken flieht.346 Im zweiten Auftritt wird Galatheas menschenscheues Verhalten allerdings verständlich: gezeigt wird der Raubüberfall von drei Straßenräubern, die List, –––––––––––
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Götter nennet / zu welchen das wort Gottes geschach / vnd die Schrifft kan doch nicht gebrochen werden / Sprecht jr denn zu dem / den der Vater geheiliget vnd in die welt gesand hat / Du lesterst Gott?« Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 2, S. 2162. Vgl. Psal. 82, 6: »JCh hab wol gesagt / Jr seid Götter / vnd all zumal Kinder des Höhesten.« Martin Luther: Die Heilige Schrifft, Bd. 1, S. 1038. Merbitz: Orpheus, S. 9. Die Hauptzüge der ›Lehre‹, die die Erde vorträgt, sind der aristotelischen Ethik entnommen. Das Höchste Gut, das summum bonum, ist das Endziel aller Ethik. Das Streben des Menschen nach Glück wird mit Erfolg gekrönt, wenn er nach den Vorschriften der Ethik handelt. Die Mittel dazu sind die Tugenden. Bekanntlich stand Aristoteles in den protestantischen Schulen im Mittelpunkt des Unterrichts. Seine vollständige Ablehnung erfolgte erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Vgl. Peter Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921, S. 171ff. Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 368ff. Es stellt sich die Frage, ob diese Szenen lediglich als bloße Intermezzi zu verstehen sind. Offensichtlich tragen sie zur Auflockerung eines ansonsten sehr didaktisch angelegten Stücks bei.
160 Gewalt und Verwegenheit heißen, auf einen Wanderer. Der Versuch des Beraubten, an ihr Gewissen zu appellieren, schlägt fehl, weil sie sich auf das allgemeine Fehlen der Gesetze sowie auf das Recht jedes Einzelnen auf die Durchsetzung seiner Wünsche berufen: »Die Faust die ists / so uns den Ausspruch thut« [S. 14]. Beschäftigt mit der Teilung der Beute, bemerken die Räuber plötzlich Menschen mit Hunden und versuchen ihrerseits, der Begegnung zu entkommen. In II.3 preisen Munter und Wacher, zwei Jäger, in Erwartung ihrer Begleiter die Vorzüge der Jagd. Ihre Nachteile, die Plage und die Verluste, welche sie für die Landwirtschaft bedeutet, besprechen dagegen zwei Bauern mit den pejorativ anmutenden Namen Wild und Frech (II.4). Ohne gesetzliche Bestimmungen sind die Bauern der Willkür der Jäger ausgeliefert: diese zerstören die Felder und stehlen Hunde. Da keine der Parteien imstande ist, die andere vom Nutzen ihrer Tätigkeit zu überzeugen, ist ständig ein latentes Konfliktpotenzial vorhanden. Der Auftritt endet mit einer Arie der Bauern: Wer den Acker-Bau verstört / Dem wird alles Leid vermehrt. [S. 20]
Während die namenlosen Fischer und Vogelsteller ihre Lebensweise loben und ihre Beute umtauschen (II.5), besingen in einer Arie zwei Einsiedler (»Waldbrüder«), Ruhwart und Gnügreich, die Genügsamkeit im Leben: sie verzichten auf Arbeit, weil diese nicht dem Überleben, sondern der Anhäufung von Überflüssigem dient, und begnügen sich lieber mit den Gaben der Natur (II.6).347 Nach einem kurzen Gespräch begibt sich einer der Einsiedler zum Brunnen, der andere bleibt und beobachtet die Knaben, die auf dem Hügel erscheinen. Es folgt eine sehr lebendige lyrische Szene, in der fünf Knaben spielen, sich raufen und ihre Geschichten erzählen. Sie trösten einen Spielkameraden, dessen Hund krank ist, und spielen ein Würfelspiel, bei welchem einer der Knaben sich des Preises bemächtigt und flieht, woraufhin die anderen ihm nachlaufen müssen. Der Auftritt endet mit der Arie des Waldbruders Gnügreich, der den göttlichen Schöpfer preist. Erst nach sieben Szenen, die panoramaartig den Naturzustand, die Schönheit und die Größe der göttlichen Schöpfung im Kontrast zur rauen, unerzogenen Natur der sowohl zum Guten wie zum Bösen fähigen Menschen illustrieren sollen, tritt der Titelheld Orpheus auf. Er spielt auf der Harfe, um ihn herum versammeln sich alle anderen Figuren348 und »hören stille mit Andeutung ungleicher Gemüths-Bewegnis zu«349. Am Anfang seines Gesanges klagt Or––––––––––– 347
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Auch in dieser Szene weist der an die Arie anschließende Dialog eine hohe Unterbrechungsfrequenz auf, die stichomythische Struktur wird hier zur Verdeutlichung eines Konsenses eingesetzt. Merbitz: Orpheus, S. 27–31. Unter ihnen befindet sich auch die Schäferin Galathea, auf diese Weise werden die zwei Stränge formal miteinander verknüpft. Diese Szene hat ihr Pendant im Titelkupfer, auf dem zu sehen ist, wie die unterschiedlichsten wilde Tiere Orpheus’ Gesang lauschen (Abb. 20; vgl. auch Kap. 2.2.2). Die allegorische Deutung bzw. die Gleichsetzung wilder Tiere mit rauen ungehobelten Menschen im
161 pheus die Menschen an, deren Vernunft eine Gefangene der Eitelkeit geworden ist, weil sie das Vergängliche der Ewigkeit und der Tugend vorziehen. In der anschließenden Aria ermahnt er die Zuhörer zur Tugend, welche in einen Zusammenhang mit dem summum bonum und der Gerechtigkeit gestellt wird: Weich / was kluge Sinnen blendet: Falscher Schein Soll uns ferner nicht betrüben: Was Vernunfft soll lieben / üben / Muß gantz nichts / als Tugend seyn / So die Hertzen auff sich wendet. Wo Gerechtigkeit findt statt / Allda hat Man das höchste Gut erlanget / Das mit sichrer Ruhe pranget.350 [S. 38]
Orpheus’ Worte verwirren, reizen aber auch seine Zuhörer. In sich stichomythisch abwechselnden Repliken fragen die Menschen einander, welche Tugend und Glückseligkeit, von denen sie ihr »Lebens-Tag nie gehört« [S. 39] haben, gemeint ist. Schließlich bitten Orpheus die Bitte um eine Erklärung, welche Glückseligkeit er verspricht und wie sie zu erlangen sei. Um den Weg zur wahren Tugend sowie zum vernünftigen Leben aufzuzeigen, lässt Orpheus die Zuhörer näher herantreten und setzt seinen Gesang fort. Er beginnt mit dem Lobpreis der göttlichen Schöpfung, welche in sich bereits alles enthält, was zum glücklichen Leben nötig ist: die Erde bringt Wohlstand und die notwendigen Güter naturwüchsig hervor. Dem Preis des –––––––––––
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Orpheus-Mythos hat eine lange Tradition und geht auf die Horazische Ars poetica (Epistula ad Pisones) zurück: als sacer interpresque deorum habe Orpheus den mit wilden Tieren identifizierten Menschen die gesellschaftliche Ordnung beigebracht. In die christliche Tradition wurde sie von Clemens Alexandrinus bei seiner Gegenüberstellung von Orpheus und Christus (Clem. Al. protr. 14,1) eingeführt. Aufgegriffen von Boccaccio sowie Mythographen des 16. Jahrhunderts, ist sie in der zeitgenössischen Emblematik ständig präsent. Merbitz spricht offensichtlich die von Horaz verschiedenen Dichtern zugeschriebenen Verdienste (Gesetzgebung, Erbauen von Städten, soziale ›Disziplinierung‹) Orpheus zu. Vgl. Hor. ars 391–401: »Silvestris homines sacer interpresque deorum caedibus et victu foedo deterruit Orpheus, dictus ob hoc lenire tigris rabidosque leones; dictus et Amphion, Thebanae conditor urbis, saxa movere sono testudinis et prece blanda ducere quo vellet. fuit haec sapientia quondam, publica privatis secernere, sacra profanis, concubitu prohibere vago, dare iura maritis, oppida moliri, leges incidere ligno. sic honor et nomen divinis vatibus atque carminibus venit.« (Die ›Rede‹ ist im Anhang 2.2 der vorliegenden Arbeit vollständig abgedruckt.) In diesen Zeilen wird Tugend, die nur über Verstand/Vernunft zu erreichen ist, mit der Glückseligkeit gleichgesetzt – ein Gedanke der Stoa, der sich bei Neustoikern des 17. Jahrhunderts findet.
162 göttlichen Werks folgt die Hervorhebung der Auserwähltheit des Menschen, zu dessen Nutzen alle Reichtümer der Erde geschaffen sind, vorausgesetzt, dass der Mensch Gebrauch von der ihm geschenkten Vernunft macht und auf Gewalt und Stärke verzichtet: Ein grosser GOtt hat uns zu Herren lassen werden Des allen / welcher uns aus weisen Rath gemacht. [...] Was ie verborgen liegt / kann die Vernunfft entdecken / Und ist / glaubt / nichts so tieff / das nicht Verstand ergründt. Verstand weiß allen Ding Weiß / Maas und Ziel zu stecken / Worzu sie denn auch bald Rath / Hülff und Mittel findt. [S. 41–42]
Die Vernunft allein führe zur Tugend, aber nur unter der Bedingung, dass sich der Mensch auch im Herzen der Tugend zuwendet. Erst dann können die Gewalt und die Schutzlosigkeit des Naturzustandes ein Ende nehmen. Der von Orpheus vorgeschlagenen Neuordnung des menschlichen Zusammenseins – der Gründung eines Stadtstaates – müssen Gesetze zugrunde gelegt werden.351 Entsprechend ihren Neigungen sollen sich die Menschen einem der drei Stände anschließen. Die Bürger, welche sich durch außergewöhnliche geistige Fähigkeiten auszeichnen und in besonderem Maße auf die Erhaltung des Gemeinwohls bedacht sind, bekommen die Aufgabe, zu lehren und die Ordnung in der Stadt mit Hilfe der Gesetze zu erhalten. Die Obrigkeit wird die Stadt beschützen, und diejenigen, welche die landwirtschaftliche Tätigkeit bevorzugen, sollen sich für den Nährstand entscheiden.352 Die Rede des Orpheus unterstützt ein Chor, der die Eitelkeit, die Lüste und die Laster verurteilt und die Vernunft und die Tugend preist, für die sich die Menschen zu entscheiden haben: Unser Hertz hat sich erwehlet Tugend / und mit der vermählet. [S. 46]
Die folgenden Szenen sollen die Wirksamkeit und die Wirkung von Orpheus’ Eloquenz veranschaulichen. In II.11 wird über die Glückseligkeit diskutiert: zwei Bauern (»Hauß-Wirthe«), Nutzreich und Freymuth, fragen sich, ob sie sich für glückselig halten können. Sie sprechen über die Freude, welche sie an ihrer Arbeit haben, preisen die Vorzüge des ländlichen Lebens und schwören, dass sie sich kein anderes Leben wünschen.353 ––––––––––– 351
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»Gesetze sind das Schloß / so alles fest verwahret / Und Ordnung ist das Band / welchs alles sich verbindt.« Merbitz: Orpheus, S. 43–44. Die Bezeichnung ›Lehr-, Wehr- und Nährstand‹ verbreitete sich zusammen mit dem Begriff im protestantischen Bereich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Den ›Nährstand‹ vertrat in den bildlichen Darstellungen traditionell eine Bauernfigur. Vgl. Walter Behrendt: Lutherisch-orthodoxe Ehelehre in der Haustafelliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Schnell: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, S. 214–230, hier S. 221. Auch hier manifestiert sich eine eindeutige Orientierung an Aristoteles, für den die Glückseligkeit eine der Tugend angemessene Tätigkeit ist, wobei unter Tugend die praktische Tugend verstanden wird: »[...] immer wird die seiner eigentümlichen Tugend gemäße
163 Der Auftritt II.12 widmet sich der Frage nach den Gesetzen und nach der Gerechtigkeit. Freundlieb und Rechthold, zwei Zuhörer, die abgesehen von ihren sprechenden Namen nicht weiter charakterisiert werden, denken über die vorgeschlagene Neuordnung des menschlichen Zusammenseins nach und sind bereits geneigt, die neue Lehre gutzuheißen. Den Ausschlag dafür gibt den Beiden der Zusammenhalt,354 dessen Voraussetzungen der dem Menschen vom Gott verliehene Geist und der Verstand sind. Überzeugt durch Orpheus’ Rede, beklagen Freundlieb und Rechthold den erbärmlichen rechtlosen Zustand, in dem jeder nur auf seinen Willen, seine Wünsche und seine Begierden hört, in dem es weder ein Richtmaß gibt noch jemand da ist, »der Urtheil spricht« [S. 53], so dass die Gewalt ungestört regieren kann. Ordnende Gesetze, denen alle Menschen – sei es aus Liebe zur Tugend, sei es aus Angst vor Strafe – untertan sind, sollen Frieden und allgemeinen Nutzen stiften und so die Unsicherheit und ständige Furcht um das eigene Leben beseitigen, die im gesetzlosen Naturzustand herrschen. Die Frage nach der Freiheit wird in II.13 und II.14 aufgeworfen. Selbherr und Freywalt, zwei weitere Zuhörer, missbilligen zu Beginn Orpheus’ Lehre. Ihre bisherige Lebensart zu ändern, sind sie um keinen Preis bereit; die Einführung der Gesetze ist für sie gleichbedeutend mit der Aufgabe ihrer persönlichen Freiheit und mit freiwilliger Unterwerfung. Allerdings erscheint ihnen die Aussicht attraktiv, endlich vor Gewalt sicher sein zu können. Das Gespräch zwischen Selbherr und Freywalt wird durch die Einführung einer neuen Person, Leuthold, unterbrochen. Die Befürchtung der Beiden, Orpheus’ Lehren seien lediglich leere Worte, erwidert Leuthold mit einem Bericht darüber, dass die Menschen von Orpheus’ Rede in hohem Maße eingenommen seien und bereits die neue Gestaltung des Zusammenseins entwürfen. Orpheus gewinne immer mehr Anhänger, die sich um ihn versammelten und ihm nachzögen. Leuthold argumentiert damit, dass es die wirkliche Freiheit ist, die Orpheus verspricht und schützen will. Im Naturzustand sind die Menschen vereinsamt, allen Gefahren ausgesetzt, hilf- und ratlos. Die Gesetze werden ihnen den nötigen Schutz geben. Da die wirkliche Freiheit nur die Freiheit des Gewissens sein kann, gleiche die Unterwerfung unter das Gesetz sowie gegenüber der Obrigkeit, die das Funktionieren der Gesetze beaufsichtigt, dem Verhältnis zum liebenden Vater.355 Selbherr und Freywalt sind –––––––––––
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Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein«. Aristot. eth. Nic. 1, 1097 b 30. (Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übers. v. Olof Gigon, S. 151f.). »Mich dünckt / es sey wol nicht uneben / was der lehret / Daß man zusammen sich solt halten / nicht wie Vieh Zerstreut im Lande seyn [...]«. Merbitz: Orpheus, S. 51. »F[REYWALT] Allein / warum solt ich vor höheren erkennen Der mir itzt gleich geacht / warum solt ich denn mich Ihm unterwerffen? L[EUTHOLD] So magst du ihn Vater nennen / Weil Vater-Lieb zu dir / er tragen wird bey sich.« Merbitz: Orpheus, S. 60.
164 jedoch nicht so rasch zu überzeugen. Am Ende trennen sich die Freunde, ohne dass eine eindeutige Entscheidung gefallen wäre. Ein von Orpheus gesungenes Lied eröffnet die dritte Abhandlung. Im Vordergrund von Orpheus’ Lehre steht diesmal das individuelle ethische Verhalten. Dem um den Sänger versammelten Publikum wird das neustoizistische Ideal der Affektkontrolle präsentiert. Orpheus preist die Gottesfurcht, welche das Erreichen der Seligkeit verspricht, sowie das Ideal der Prudentia, die als Zähmung der menschlichen Natur und als Kontrolle über die eigenen Affekte verstanden wird, ferner die Genügsamkeit, die Reinheit des Herzens und die Hoffnung, durch welche der Mensch sich erheben und das summum bonum, das Höchste Gut, erlangen kann.356 Nach einer Arie, der ein Echo-Gedicht folgt (III.2)357 gesteht die Schäferin Galathea dem in sie verliebten Schäfer Damon ihre Eifersucht und gebietet ihm zur Prüfung seiner Liebe, ein ganzes Jahr bei einem Treffen mit ihr nur drei Worte zu sagen (III.3). Nach dieser ›bukolischen Einlage‹ wird der Hauptstrang des Dramas fortgeführt. In III.4 unterhalten sich Ehrwerth und Ruhmwart über die Vorzüge des hohen Alters und über die Erfahrungen und Erkenntnisse, die im Laufe eines langen Lebens zur Weisheit führen. Der Rat der klugen Alten ist wertvoll, und so werden sie hochgeschätzt und geachtet. Allerdings kann sich die Weisheit nur unter Schutzmantel der Gerechtigkeit voll entfalten: [...] Wann man sich aber könt verlassen Bey klugen Rath auff Hülff und Schutz / was fehlte doch zum höchsten Glück? [S. 68–69]
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»Wer seinen Sinn Und Willen zähmen kan / Das ist der klügste Mann / Und sein Gewinn; Daß kein unnütze Sorg ihn qvälet; Weil selten / was ihm nöthig / fehlet. Wer sich mit dem Was ihn GOtt gönnt vergnügt / Und wie das Glück es fügt / Der lebt beqvem: Er stellet sich mit dem zufrieden / Was ihm der Himmel hat beschieden. [...] Wer das versteht; Wer er sey / hat erlangt Das Höchste / woran hangt Das ihn erhöht: Er weiß zu hassen und zu lieben / Was kan erfreuen und betrüben.« Merbitz: Orpheus, S. 61–62. Diese artistische Gedichtform wurde in der Barockdichtung wegen ihrer Schwierigkeit hoch geschätzt. Hier soll das Echogedicht vermutlich die Kunstfertigkeit des Dichters unter Beweis stellen und so den intellektuellen Anspruch des Stücks untermauern.
165 Beide befürworten die Errichtung einer Stadt und sind bereit, sich für den Frieden, das Gesetz und die Ordnung einzusetzen, um in Fried und Ruh [...] junge bey den alten [zu] Sehn leben nach gebühr / und in Zufriedenheit. [S. 69]
Die Straßenräuber List, Gewalt und Verwegenheit kehren auf die Bühne zurück (III.5). Ratlos und verängstigt beklagen sie die neue Ordnung, in der eine leichte Beute nicht mehr möglich ist und für jedes Unrecht eine Strafe droht. Allerdings finden sie für sich schnell eine Lösung: jede Stadt braucht Verteidiger, die bereit sind, ihr Leben für alle anderen Bürger aufs Spiel zu setzen; dafür werden sie von den Stadtbewohnern geehrt, geachtet und mit »Sold und Lohn« [S. 73] unterstützt. Da ihre angeborene Neigung zum Kampf den Erfordernissen des Wehrstandes entspricht, wählen sie für sich das Soldatenleben. Die abschließende Aria lobt die Soldaten und ihre Unentbehrlichkeit für eine Stadt: Es ist der Welt bekannt; Kein Reich besteht allein / Es gehet alles ein / Wo nicht Soldaten seyn. [S. 76]
Der Monolog, den Rechtlieb, ein Anhänger der neuen Lehre, inmitten einer Menschenmenge vorträgt, zeigt eine weitere Wirkung von Orpheus’ Rede: Die Richtschnur jeder Handlung ist für den Menschen sein Gewissen, das höchste Gebot des menschlichen Zusammenseins heißt leben und leben lassen, das Eigentum eines Jeden ist unantastbar (III.6). In der abschließenden Aria resümiert der Chor: Wer Tugend liebt / Lebt vor sich selbsten rein / Läßt iedem was das sein/ Und darbey unbetrübt. Wer diß so übt / Ist aller Welt beliebt. [S. 78]
Der Auftritt III.7 beendet den Nebenstrang: die Schäferin Galathea bekennt sich zur Einsamkeit und weist den trostlosen Damon ab, der vergeblich versucht, ihr mit Gebärden sein Verlangen zu gestehen. Die Liebenden versöhnen sich schließlich und besingen Liebe, Treue, Jugend und Schönheit. In Analogie zu jedem Lebewesen, das aus Körper und Seele besteht, erklärt Wahrmund seinen Freunden Reinhold und Holdreich die Struktur des neuen Staates (III.8). Die Stadtbürger werden in einer noch auf den mittelalterlichen Ordo-Gedanken zurückgehenden Körpermetapher mit den Körpergliedern verglichen: jedes erfüllt seine Funktion und ist unentbehrlich, auch wenn die verschiedenen Glieder nicht gleichberechtigt sind.358 Die Seele der Stadt ist die von den Bürgern gewählte Obrigkeit. Die Feststellung der Freunde, die Wahl der ––––––––––– 358
Die Körpermetapher wurde zuerst von Paulus auf die christliche Kirche angewandt. Vgl. 1 Kor. 12, 12ff.
166 Obrigkeit bedeute freiwillige Knechtschaft, wird von Wahrmund logisch umgewandelt: Was Knechtschafft? der ist ja kein Knecht: Ein Herr zu nennen Vor welches Wohlseyn selbst die Obrigkeit hält Wacht. [S. 83]
Somit soll für die Obrigkeit das Gemeinwohl im Vordergrund stehen, ihre Aufgaben beschränken sich auf die Kontrolle sowie auf die richtige Anwendung der Gesetze. Die anschließende Szene (III.9) stellt eine Volksversammlung dar. Die ältesten Bürger, Wohlrath, Dencknach und Jahrpreiß, werden von den Stadtbewohnern zur Obrigkeit erkoren. Die Obrigkeit gibt die von ihr verfassten Gesetze bekannt, beschwört das Volk, ehrliche Richter zu bestimmen und aus Tugendliebe kein Unrecht zu tun und veranlasst die Berufung begabter und kluger Bürger als Lehrer für die Jugend. Vor allem sollen die künftigen Bürger zur Tugend erzogen werden, welche allein der Stadt das höchste Glück gewähren kann. Eines der ersten Gebote in der Stadt ist die Arbeitspflicht: Wer Arbeit scheut; der soll nicht essen: Unsre Stadt Muß keinen nehmen auff / noch sich zum Glied verbinden / Der ihr mit Rath und That nichts beyzutragen hat. [S. 86–87]
Für die Zustimmung, die seine Lehre bei den Menschen gefunden hat, dankt Orpheus im zehnten Auftritt Gott (III.10). Seinen Lohn findet er im Erfolg seiner Mühen und rhetorischen Künste: Die wilde Lebens-Art der Menschen hat sich nun Geendert: [...] Es hält sich schon das Volck zusammen / so befliessen Zu haben seinen Zweck / welchs die Glückseeligkeit: Was iedem nöthig ist / wird ihn da seyn bereit. Die Freude hierob muß mir Sorg und Müh versüssen. [S. 87]
Die Bühnenbilder des letzten Auftritts präsentieren die nun erbaute Stadt. Im Vordergrund erscheinen die Vertreter der drei Stände. Der Auftritt beginnt jedoch mit einer Arie des Orpheus, der die neugebaute Stadt preist: ihre Bürger streben nach der Tugend und finden deswegen »in Zufriedenheit Höchstes Glück und Seeligkeit« [S. 88]. In dem anschließenden Monolog räsoniert Orpheus über das mit seiner Hilfe – wie auch aus Notwendigkeit – entstandene Staatswesen. Die Stadtbürger haben sich in drei Stände eingeteilt, welche mit einer alle Menschen verbindenden Schnur verglichen werden. Diese Teilung in Lehr-, Nähr- und Wehrstand garantiert das reibungslose Funktionieren des Staates. Im Geleitwort legt Orpheus den Bürgern der neuen Stadt das platonische Idiopragie-Prinzip ans Herz: ein jeder hat seine eigene Arbeit gut zu verrichten, um dem Gemeinwohl zu nützen. Jeder einzelne Stand zeigt Besonnenheit, indem er nicht nur das Seine tut, sondern sich darüber hinaus auch auf das Ganze bezieht. Alle Stände sind durch eine strikt der Allgemeinheit gewidmete Tätigkeit geprägt. Dem Monolog von Orpheus folgen die Repliken der drei Stände, in denen ihre Funktionen nochmals akzentuiert werden: Der Lehrstand
167 hat die Aufgabe, tugendhafte Stadtbürger zu erziehen und für die Gottesfurcht in der Bevölkerung zu sorgen. Der Nährstand, bestehend aus Bauern und Handwerkern, ist für die Versorgung der Stadt verantwortlich. Der Wehrstand beschützt die Stadt und erhält den Frieden. Das Stück beschließt eine Laudatio an den Himmel, die als Arie von allen drei Ständen gesungen wird. Im Epilog wendet sich der »Nachredner« mit einer Zusammenfassung des Inhalts an das »Hochwertheste« Publikum. Er hebt insbesondere hervor, dass der dargestellte Zusammenschluss der Menschen zu einem Staat auf freiwilliger Vertragsbasis zustande gekommen ist. Die rhetorische Frage an die Zuschauer, zu welchen Gedanken sie das Stück veranlasst hat, gibt dem Nachredner die Gelegenheit, die wichtigsten Punkte in der darauffolgenden Antwort hervorzuheben: das Primat der Vernunft als göttlichem Funken im Menschen und die aristotelische These vom aus der Vernunft resultierenden sozialen Wesen der Menschen, die in der Einsamkeit nicht existieren können.359 Auf weitere Ausführungen wird allerdings verzichtet, um das Publikum nicht länger zu »beschweren«. Stattdessen bedankt sich der Nachredner bei den Zuschauern für ihre Geduld.
3.5.3. Der Orpheus-Mythos im Dienste der Schulrhetorik Die literarische Adaption des Orpheus-Mythos, die in Merbitz’ Drama dargeboten wird, hat auf den ersten Blick mit dem Mythosverlauf, wie er im Strukturmodell idealtypisch dargestellt ist, wenig gemein. Lediglich die konstanten Attribute gewährleisten die schwache Verbindung: Orpheus erscheint als Zivilisationsstifter, weiser Lehrer der Sitten und Vermittler göttlicher Geheimnisse. Seine künstlerische Seite ist hier nebensächlich. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass Merbitz in seiner Mythosverarbeitung ausschließlich einen Aspekt des elften Verlaufsstadiums (Unterweisung der Menschen) aktualisiert. Dieses amplifiziert er durch die Hinzufügung von neuen Phasen so stark, dass das Element ohne Verbindung zu den anderen Verlaufsstadien isoliert dasteht. Die Handlung wird gewissermaßen aus der Perspektive der ›zu Bekehrenden‹ gezeigt und erlebt, die nicht notwendig Kenntnis der persönlichen Geschichte des Bekehrers haben müssen. Dagegen wird diese Kenntnis bei den potentiellen Zuschauern und Lesern vorausgesetzt, denn erst sie ermöglicht ein Verständnis der Verwendung der mythischen Figur in einem dem Mythos entfremdeten Kontext. In seiner Untersuchung zu den Funktionsweisen der Emblematik im deutschen Drama des 17. Jahrhunderts hat Albrecht Schöne als erster darauf hingewiesen, dass sich die Dichter beim Bedeutungsaufbau seiner Werke bewusst der Sinnbilder vor allem als argumentum emblematicum bedienten.360 Der Orpheus ––––––––––– 359 360
In diesem Punkt werden die beiden Stränge auf den gemeinsamen Nenner gebracht: auch in der idealen bukolischen Welt ist die Einsamkeit für die Schäferin Galathea unerträglich. Vgl. Schöne: Emblematik und Drama.
168 von Johann Valentin Merbitz steht in dieser Tradition. Das Titelkupfer (Abb. 20) knüpft an die Orpheus-Emblemata an, die in zahlreichen Sammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts zu finden sind: Der mythische Sänger ist mit einem Lorbeerkranz und einer Lyra unter einem Baum sitzend dargestellt, um ihn herum versammeln sich Tiere; neben Hasen und Bären sind auch ein Löwenpaar, ein Affe sowie der exotische Dromedar zu sehen. Im Vordergrund des Kupferstichs stützt sich ein Leopard auf einen Stein, worauf der Name des Verfassers geschrieben ist. Solche Orpheus-Darstellungen, die aus den zeitgenössischen Ovid-Illustrationen ihren Eingang in Emblembücher fanden, standen u. a. für die Macht der Beredsamkeit.361 Dass eines dieser Emblemata für die Bedeutungskonstitution des Schulstücks herangezogen wird, dessen Primärzweck die Ausbildung der rhetorischen Fähigkeiten bei den Schülern war, erscheint offenkundig. Mit seinem statisch-argumentativen Charakter entspricht der Orpheus dem zeitgenössischen Verständnis des aus der Horazischen Ars poetica stammenden Formel ut pictura poesis und kann als eine Steigerung zum Bühnenstück der Gattung ›emblematische Verse‹ oder emblematische Deklamationes betrachtet werden, die im Schulbetrieb für deklamatorische Übungen vorgesehen waren. Somit wird Orpheus’ Rede – mittelbar auch die Wirkung ihrer Inhalte auf seine Zuhörer – zum einzigen Charakteristikum der Orpheus-Figur. Das Wissen über die sinnbildliche Bedeutung der Zähmungsszene setzte beim zeitgenössischen Publikum die Kenntnis des Themas – die Macht des Wortes – sowie des Deutungsspielraums für die Gestalt des mythischen Helden voraus: Orpheus wurde sofort als Musterredner aufgefasst. Für die angestrebte Offenlegung der Funktion von Merbitz’ »Arbeit am Mythos« erscheint es daher wichtig, auch den rhetorischen Aufbau von Orpheus’ Rede (I.8–I.9; vgl. Anhang 2.2) näher zu untersuchen und erst dann zur Analyse der Inhalte der durch den Sänger vermittelten ›göttlichen Lehren‹ überzugehen. Die offensichtliche Befolgung vieler Regeln, die Christian Weise in seinem Politischen Redner sowie in den Curiösen Gedancken von Deutschen Versen aufstellt, legt eine Orientierung an Weises Schriften nahe.362 Als Redner, der göttliche Lehren zu vermitteln hat, steht Orpheus vor einer schwierigen Aufgabe: Seine Formulierungen müssen so einleuchtend sein, dass sie ein ganz unterschiedlich zusammengesetztes Publikum mit uneinheitlichen ––––––––––– 361
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Vgl. z. B. die subscriptio zum Orpheus-Emblem von Petrus Costalius: »En vt Treicius numeris et carmine vates Permouet aurata barbara saxa cheli: Vtque arbusta tenet cantu, platanosque sequentes, Et ciet insolitis peruia monstra sonis. Circa homines tantum retinet facundia nomen, In sua vt inuitos vota disertus agat. Condidit hic hominum coetus, et moenia primus Artifici posuit non violata, manu.« Zitiert nach Emblemata, S. 1609. Vgl. weitere Orpheus-Emblemata ebd., S. 1609–1610. Christian Weise: Politischer Redner [...]. Leipzig 1681. Christian Weise: Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen [...]. Leipzig 1693.
169 Voraussetzungen überzeugen können. Die Hauptabsicht seiner Rede ist zweifellos das didaktische docere. Dem Redegegenstand entsprechend wählt Merbitz für seinen mythischen Dichter das genus medium, das eine zugleich eindringliche und scharfsinnige Redeweise erfordert und durch eine mäßige Verwendung des ornatus, vor allem von Metaphern und Redefiguren, gekennzeichnet ist. Darüber hinaus manifestiert sich in dieser Wahl eine offensichtlich beabsichtigte Nähe zum modischen stylus politicus. Diese von Christian Weise in seiner Poetik Curiöse Gedancken von Deutschen Versen eingeführte Stilart entspricht in ihren Hauptzügen dem mittleren Stil, orientiert sich aber auch in der Dichtung stärker an der Prosakonstruktion und soll bei Abhandlung erhabenerer Gegenstände anstatt des genus grande eingesetzt werden.363 Dementsprechend verzichtet Merbitz auf den üppigen ornatus, indem er die Figuren und Tropen in der Rede auf Alliteration, Metaphern sowie syntaktischen Parallelismus beschränkt. Häufig finden auch die Gedankenfiguren der interrogatio und der subiectio Verwendung. Allerdings zeichnet sich Orpheus’ Rede im Gegensatz zu der vom stylus politicus geforderten syntaktischen Vereinfachung durch eine verhältnismäßig komplizierte Syntax aus, wobei ein häufiger Gebrauch von Polysyndeta sowie Schachtelsätzen hervorzuheben ist. Zur Komplexität der Sätze tragen daneben Häufung und insistierende Nennung bei. Auch der heroische Alexandriner mit Enjambement, in dem die Quartette der Rede verfasst sind, unterstützt die langen Satzperioden. In der Arie des Orpheus, mit der das Exordium der Rede abschließt, tritt im Schlussvers die besonders für die Gelehrtendichtung der Zeit charakteristische Pointe hervor. Für den Aufbau der entscheidenden tragenden Rede des Haupthelden wählt der Autor im Einklang mit den Empfehlungen Weises im Politischen Redner364 eine zweiteilige, aus einer Propositio und einer Tractatio bestehende Disposition, der ein Exordium vorangestellt wird.365 Das Exordium der Rede macht fast den ganzen achten Auftritt aus. Es präsentiert das Thema mit Hilfe einer interrogatio (»Hält die Vernunft denn schnöde Eitelkeit gefangen?« [S. 36]). Die Antithese Vernunft – Eitelkeit (bzw. Tugend – Wollust) wird durch die insistierende Nennung zusätzlich ––––––––––– 363
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Außer den Stilarten unterscheidet Weise auch zwei Stilhöhen, den stylus simplex und den stylus floridus, womit die »leichte Manier« und eine »prächtigere« Redeausstattung gemeint sind. Vgl. Christian Weise: Curiöse Gedancken von Deutschen Brieffen [...]. Dresden 1691, 3, 448. Der Stil wurde ausdrücklich für die dramatische Dichtung empfohlen: er wird »am bequemsten in Oden und zu Theatralischen Gedichten employiret. Denn wenn man in denenselben gar zu hoch fliegen wolte / möchte der Leser nicht nachkommen können / ich meine / er möchte nicht alles verstehen [...]«. Weise: Politischer Redner, S. 132–162. Die Rede, die Weise für die Übung in den Schulen empfehlt, besteht aus Propositio und Tractatio. Die Propositio stellt dem Zuhörer vor, was er zu erwarten hat, in der Tractatio wird dies abgehandelt. »Zwar weil die Propositio an sich selbst zu unscheinbar ist / wird zu dessen besserer Recommendation ein Exordium darbey gesetzt / dadurch die Zuhörer entweder in der Sache / die sie hören sollen / zuvor informirt, oder zu guter Auffmercksamkeit gebracht / oder auch wol zu würcklicher Affection gegen den Redner verleitet werden.« Weise: Politischer Redner, S. 133f.
170 amplifiziert (amplificatio ab argutiis).366 Das Exordium mündet in der Propositio, die sich mit der Formel »Tugend ist erstrebenswert« zusammenfassen lässt: Durch Tugend wird allein der Zweck erlangt / Der dir / O Mensch / im Leben vorgestecket / [...] Wer nun vergnügt will leben / wem gefällt / Daß er sich kan in Wahrheit glücklich nennen / Der tret heran / wo Tugend Platz behält / Und lerne recht / was Tugend sey / erkennen. [S. 37–38]
Wie jeder Redner gleich zu Anfang die Sympathie, das Verständnis und die Aufmerksamkeit der Zuhörer wecken soll, so verheißt Orpheus Glück und allgemeine Glückseligkeit, indem er den Weg dazu zwar andeutet, aber nicht zeigt. Damit wird in der abschließenden captatio benevolentiae durch ›tua res agitur‹ das Desinteresse der Zuhörer überwunden. Mittels ungeduldig-pathetischer rhetorischer Fragen, die gleichzeitig zum Nachdenken auffordern, appelliert Orpheus an die menschliche Vernunft und überspitzt die Antithese zwischen irdischer Eitelkeit und göttlicher Tugend. Um die unmittelbare Wirkung der Beredsamkeit zu illustrieren, wird Orpheus’ Rede nach dem Exordium und der Propositio durch die Reaktionen der Zuhörer auf das Gehörte, durch ihren Meinungsaustausch und schließlich durch ihre Bitte um Erläuterung sowie weitere Ausführungen unterbrochen. Die Rede wird in II.9 fortgesetzt. Die Tractatio besteht aus drei Chrien367, deren Protases folgendermaßen aufgebaut sind: Die erste Protasis behandelt die Vernunft (Vernunft ist erstrebenswert). Vier Aetiologiae strukturieren die Argumentation. Die erste Aetiologia führt vor, dass Gott die Welt nach den Regeln der Vernunft erschaffen hat (»Hier herrschet die Vernunfft / die alles kann erreichen.« [S. 41]). Es erfolgt eine Amplifikation a partibus, indem die verschiedenen Bestandteile des »Welt-Gebäu« in einer descriptio vorgestellt werden: die Natur ist mächtig und schön und die Erde mit allem reich ausgestattet, was der Mensch für das Leben braucht. Der Gedanke erfährt in der zweiten Aetiologia eine Erweiterung: Gott hat den Menschen zum Herren über die Natur gemacht (»Ein grosser GOtt hat uns zu Herren lassen werden | Des allen [...]« [S. 41]). Die dritte Aetiologia besagt, dass auch der Mensch vernunftbegabt ist und folglich mit seinem Verstand alles erreichen und erforschen kann (»[...] und ––––––––––– 366
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Das behandelte Motiv der Wollust wird metaphorisch von immer neuen Seiten beleuchtet: »Es ist ein Dampff / ein Schatten der verschwindt / O Sterbliche: ein Rauch der euch verblendet: Ein süsser Traum / des man sich nicht versinnt / Wenn man erwacht: Ein Wind / der sich gewendet.« Merbitz: Orpheus, S. 37. Weise spricht im Zusammenhang mit dieser Technik von Allegorie: »Allegoria spielet durch angenehme Gleichnüsse. [...] Bißweiln pflegt man auch viel Gleichnüsse auff einen Hauffen heraus zu werffen.« Weise: Politischer Redner, S. 12. »Tractatio ist nichts anders als eine Zusammenfügung vieler Chrien, und also hat man die erste Sorge, wo man viel Protases hernimmt, die hernach durch Aetiologias und Amplificationes ausgeführet werden.« Weise: Politischer Redner, S. 134.
171 ist / glaubt / nichts so tieff / das nicht Verstand ergründt.« [S. 42]). Schließlich stellt die Vernunft eine notwendige Voraussetzung für die Tugend dar: [...] daß die Vernunfft euch führt Zur Tugend / welche sich der Himmel hat erkohren [...]. [S. 42]
Die zweite Protasis rückt das Verhältnis der Vernunft und des Naturzustandes (der »Einsamkeit«) in den Vordergrund: »Nur ist die Einsamkeit / was diß am meisten hasset [...]« [S. 42]. Eine Aetiologia a contrario verdeutlicht diesen Gedanken. Der vernunftbegabte Mensch wird den Tieren gegenübergestellt: Diß wird seyn / wenn forthin ihr erenstlich beflissen / Nicht so / als wie zuvor / nach eignen Wahn und Sinn Werdt wandeln / guten Rath und Recht zu folgen wissen / Viel höher schätzen Ruhm / als Reichthum und Gewinn. Was kan den Menschen wol vor wilden Thieren weisen / Wenn er wie diß zerstreut in Wald und Feldern geht [...]. [S. 43]
Ein dem Menschen gebührendes Leben ist allein dort möglich, wo Gesetz und Ordnung herrschen, erläutert die dritte Chria (»Gesetze sind das Schloß / so alles fest verwahret / | Und Ordnung ist das Band / welchs alles sich verbindt.« [S. 43f.]) aufgrund der folgenden Aetiologie: Wo weder Lohn noch Straff verhindert / noch gesparet / Da ist der Ort / da man zu leben Ursach findt. [S. 44]
Den dargelegten Argumenten folgen nun die praktischen Hinweise zur Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft durch die Gründung einer Stadt. In der abschließenden conclusio verwendet Orpheus vor allem das rhetorische Mittel der communicatio, um bei den Zuhörern die nötigen Affekte hervorzurufen. Sein Ziel, die Zuhörer im gewünschten richtigen Sinn (die Neuorganisation des Zusammenlebens auf der Basis der Vernunft zum Zwecke der Erreichung der Seligkeit durch die Tugend) zu ändern, das der Redner in den bisherigen Redeabschnitten überwiegend durch das Appellieren an die intellektuellen Fähigkeiten der Adressaten (docere) zu erreichen versucht hatte, wird nun am Redeschluss auf dem Wege einer emotionalen Stimulierung des Publikums angestrebt (movere).
3.5.4. Politisierung des Mythos: Orpheus’ Lehre und der staatstheoretische Diskurs In diesem Abschnitt soll der Frage nach den Ideenkomplexen nachgegangen werden, welche Orpheus’ Rede sowie die Gesamthandlung des Stückes vermitteln. Das Widmungsgedicht legt die Vermutung nahe, dass es die Ansichten des Widmungsempfängers sind, die Merbitz in die Sprache des Dramas umsetzt. Zudem lässt sich nicht feststellen, ob der politische Gehalt des Dramas der Staatslehre eines bestimmten Staatstheoretikers entnommen worden ist. Vielmehr scheint Merbitz im Orpheus das zeitgenössische staatstheoretische Gedan-
172 kengut zu verarbeiten, wobei die platonische Dreiständelehre dem Erklärungsmodell einer Staatsbildung aus dem Naturzustand zugrundegelegt wird.368 Die meisten Korrespondenzen bestehen zu John Lockes sechs Jahre zuvor anonym erschienener Schrift Zwei Abhandlungen über die Regierung.369 Im Folgenden soll auf diese Übereinstimmungen näher eingegangen werden.370 In seinem Drama vereinigt Merbitz zwei in der politischen Theorie seiner Zeit vorherrschende Ansichten über den Ursprung der Staatsgewalt: die Staatsgewalt wurde entweder als unmittelbar von Gott eingesetzt begriffen371 oder man leitete ihre Entstehung von einem Gesellschaftsvertrag ab, infolgedessen sie von den Bürgern, die zuvor in einem herrscherlosen Naturzustand gelebt hatten, einer Obrigkeit übertragen wurde. Merbitz nimmt eine Zwischenstellung ––––––––––– 368
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Die philosophische Ausrichtung des Stücks erklärt sich durch die lehrhafte Absicht des Schuldramas: von seinem Inhalt wird ein informatorischer Nutzen erwartet. Darüber hinaus war Philosophieunterricht in der besprochenen Zeit eine Besonderheit der Dresdener Kreuzschule: sie war die einzige Institution in der Stadt, an der er erteilt wurde. Auf dem Lehrplan der Kreuzschule, der durchschnittlich ca. 200 Schüler aus Deutschland, Dänemark, Polen, Böhmen, Ungarn, Siebenbürgen und Niederlanden angehörten, stand neben Logik und Rhetorik auch die Beschäftigung mit philosophischen Schriften. Das Abschlussexamen berechtigte zur Studienaufnahme an den Landesuniversitäten Leipzig und Wittenberg. Vgl. Siegfried Wollgast: Philosophie und Theologie in Dresden unter Johann Georg II. In: Johann Georg II. und sein Hof. Sachsen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dresden 1993 (Dresdner Hefte 33), S. 25–31. Vgl. auch Reiner Groß: Bildungswesen. In: Geschichte der Stadt Dresden. Hg. v. Reiner Gross u. Uwe John. Bd. 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung. Stuttgart 2006, S. 278–281. Härtwig: Die Kreuzschule im Zeitenwandel, S. 312–316. A. Neschke-Hentschke hat darauf hingewiesen, dass sich die Einflüsse der platonischen Philosophie des Staates und ihrer Rezeption in der weiteren platonisch-christlichen Tradition und die Auseinandersetzung damit auch in den Traktaken Lockes niederschlagen. Dies betrifft insbesondere die Idee der spontanen Gesellschaftsbildung nach dem Modell der distributiven Gerechtigkeit, die jedem Bürger den Platz zuweist, der ihm entsprechend seinen natürlichen Fähigkeiten zusteht: »Après une longue occultation, Locke fonde à nouveau la cité sur le motif de l’indigence de l’être humain (ȤȡİȓĮ) et sur la base d’une répartition naturelle qui suit la diversité des compétences.« Ada Neschke-Hentschke: Platonisme politique et theorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne. Bd. 2: Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien. La tradition directe et indirecte d’Augustin d’Hippone à John Locke. Paris 2003, S. 523. Dies widerspricht Euchners These, derzufolge Lockes politische Philosophie in Deutschland kaum rezipiert wurde. Ausgehend von der im Vergleich zu anderen europäischen Staaten geringen Anzahl von Ausgaben der Zwei Abhandlungen über die Regierung stellt Euchner fest, dass Lockes Lehre von der Volkssouveränität, die die Freiheits- und Eigentumsrechte der Bürger gegen die Allmacht der Staatsgewalt verteidigte und eine Revolution im Falle der Verletzung dieser Rechte für berechtigt erklärte, in Deutschland keine nachhaltige Resonanz erfuhr, da das deutsche Bürgertum ausgerechnet unter der Protektion der Fürsten zur Blüte gelangte. Vgl. Walter Euchner in der Einleitung zu John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. v. Walter Euchner. Wien 1967, S. 7. Als philosophischer Stützpunkt galt auch Aristoteles, der in seiner Politik behauptet: »Darum existiert auch jeder Staat von Natur, wie es schon die ersten Gemeinschaften tun. [...] Daraus ergibt sich, daß der Staat zu den naturmäßigen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist [...]«. Aristot. pol. 1, 1252a. Zitiert nach: Arnold Bergstraesser u. Dieter Oberndörffer (Hgg.): Klassiker der Staatsphilosophie. Ausgewählte Texte. Stuttgart 1962, S. 36.
173 zwischen der rein lutherischen Auffassung372 und der neueren Naturrechtslehre ein: die Stadt entsteht in seinem Drama zwar infolge der Übertragung individueller Rechte auf die Obrigkeit; dies ist aber nicht allein der menschlichen Vernunft, sondern vielmehr der einer prophetischen Offenbarung ähnelnden Lehre des Orpheus zu verdanken, der wiederum den göttlichen Willen – die Anwendung der von Gott verliehenen Gabe der Vernunft für das friedliche Zusammenleben373 – verkündet.374 Ebenso entschied sich Locke in seiner Abhandlung über die Rechte der Obrigkeit für keine der beiden Hypothesen über die Herkunft der Staatsgewalt, wobei es ihm in dieser Frage hauptsächlich um die Rechte der Obrigkeit in Glaubensangelegenheiten ging. Immerhin ist das Volk bei Locke »in einer Lage, in der es überhaupt keine Freiheit hat, sondern auf Anordnung des großen Souveräns des Himmels und der Erde als Untertan des Willens und Beliebens eines anderen geboren ist«375. Merbitz’ Drama beginnt mit der Schilderung einer menschlichen Gesellschaft, in welcher es noch keine Organisation des Zusammenlebens gibt. Die Szenen illustrieren einen Naturzustand, in dem Menschen isoliert leben und frei und unabhängig vom Willen eines Anderen über sich und über ihre eigene Freiheit verfügen.376 Die Menschen unterstehen allerdings dem Gesetz der Natur, das zugleich das Gesetz der Vernunft ist.377 Nach Locke kann man aus der ––––––––––– 372
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Für einen lutherischen Dogmatiker ist die Betonung der göttlichen Einsetzung des Staates selbstverständlich. Vgl. Confessio Augustana (Confessio oder Bekanntnus des Glaubens etlicher Fürsten und Städte uberantwort Kaiserlicher Majestat zu Augsburg Anno 1530. In: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 1930, Artikel XVI). »Wer GOtt erkennt / Und thut was er begehrt / Dem wird sein Wundsch gewährt [...]«. Merbitz: Orpheus, S. 61. Dass es sich um eine explizit von Gott gewollte Ordnung handelt, wird auch in der ersten Abhandlung des Dramas – der mahnenden Rede der Erde, die auf die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte rekurriert – unterstrichen: »So wird nach seinem Wort / welchs ewiglich bestehet / Nach diesem euch geschenckt das ewig höchste Gut.« Merbitz: Orpheus, S. 11 Locke: Zwei Abhandlungen, S. 10. Dies korrespondiert mit der Schilderung des Naturzustandes bei Locke: »Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtssprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer [...]«. Locke: Zwei Abhandlungen, S. 201. »Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen; er hat dagegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und
174 Schöpfung die rechte Kenntnis vom wahren Gott erlangen. Genauso ist man auch fähig, die Schöpfungsordnung, das Naturgesetz, aus der Natur heraus zu begreifen. Da erst die Vernunft den Menschen als Menschen ausweist, kann das Gesetz der Natur von jedem erkannt und befolgt werden. Gott erschuf den Menschen als vernünftiges und freies Wesen, somit hat der Mensch das Eigentumsrecht auf seinen Körper, seine Persönlichkeit und die materiellen Güter, die die Früchte seiner Arbeit sind. Da Gott das Menschengeschlecht erhalten will, besitzt der Mensch drei fundamentale Naturrechte: das Recht auf das Leben, das auf die Freiheit und das auf das Eigentum. Deshalb ist jede Verletzung dieser Rechte ein Verbrechen gegen die Menschheit und muss bestraft werden. Locke schildert den Naturzustand nicht als ständigen Kriegszustand, sondern betont lediglich eine permanente Gefährdung des Friedens im Naturzustand, die dadurch entsteht, dass jeder Einzelne das natürliche Recht zur Vollstreckung des Gesetzes der Natur besitzt. Auch bei Merbitz ist das oberste Gebot die Erhaltung der göttlichen Schöpfung, deren Teil der Mensch ist, wobei aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Richters bei einer naturrechtswidrigen Handlung jeder das Recht hat, das Gesetz zu vollstrecken und sich zu verteidigen.378 Das wichtigste naturrechtliche Prinzip ist für Locke das Recht auf Selbsterhaltung, worauf auch das Eigentumsrecht beruht. Gott gab den Menschen die Welt als Gemeineigentum,379 wobei die Produkte der Natur zuerst durch die Arbeit des Einzelnen angeeignet werden mussten. In der ersten Phase des Naturzustandes wird deshalb nur soviel angeeignet, wie zur Deckung des Eigenbedarfs benötigt wird. Somit bietet das Streben nach Eigentum keinen Anlass zum Streit. Dies illustriert Merbitz in mehreren Szenen, beispielhaft in den Galathea-Passagen oder in der Darstellung des Tauschgeschäftes zwischen dem Fischer und dem Vogelsteller (II.5). Die zweite Phase des Naturzustands ist für Locke durch die Einführung des Geldes gekennzeichnet, was nach seiner Annahme durch eine gegenseitige Übereinkunft der Menschen geschah. Das Geld ermöglichte den ungleichen Besitz, der auf den unterschiedlichen Fleiß der einzelnen Individuen zurückzu–––––––––––
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unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. [...] so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes in jedermanns Hände gelegt. Somit ist ein jeder berechtigt, die Übertreter dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern.« Locke: Zwei Abhandlungen, S. 202–203. So entschließen sich die Bauern, den Jägern die Beleidigungen heimzuzahlen: »[...] werd einen ich betreten / Und wenn er eines gleich wolt ab auff den Knien beten / Ich will ihn schonen nicht: ich schlag ihm Arm und Bein Entzwey.« Merbitz: Orpheus, S. 20. »Gott, der die Welt den Menschen gemeinsam übertragen hat, hat ihnen auch die Vernunft verliehen, sie zum größten Vorteil und zur Annehmlichkeit ihres Lebens zu nutzen. Die Erde und alles, was auf ihr ist, ist den Menschen zum Unterhalt und zum Genuß ihres Daseins gegeben. Alle Früchte, die sie natürlich hervorbringt, und alle Tiere, die sie ernährt, gehören den Menschen gemeinsam, weil sie wildwachsend von der Natur erzeugt werden [...].« Locke: Zwei Abhandlungen, S. 216.
175 führen ist. Diese Phase birgt ein starkes Konfliktpotenzial:380 das Geld bewirkt, dass die Güter knapp werden und der Mensch in seinem Streben nach mehr Besitz Opfer seiner schlechten Charaktereigenschaften wird, indem sich der gottgewollte Selbsterhaltungstrieb in den verbrecherischen Besitztrieb verwandelt. Die Gesetze der Wirtschaft gewinnen in der Gesellschaft die Oberhand und bedingen eine erweiterte Güterproduktion, die einen zunehmenden Egoismus und eine sukzessive Entartung der Menschen zur Folge hat. Die Darstellung dieser zweiten Phase, in der keine Sicherheit der Person und des Privateigentums besteht, erfolgt in den meisten Panorama-Szenen des Hauptstranges in Merbitz’ Drama. Die Figuren beschweren sich, dass die Rechtsbrecher nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können und infolgedessen allgemeine Unsicherheit herrscht. Dies ist der Zustand, den sowohl die Erde als auch Orpheus beklagen. Entsprechend den Ausführungen Lockes befinden sich in Orpheus die Menschen in der Endphase des Naturzustands, welche »voll von Furcht und ständiger Gefahr« ist und den Genuß des Eigentums, das der Mensch »in diesem Zustande besitzt, sehr ungewiß und unsicher« macht. Daher sind sie bereit, auf diesen freien Zustand zugunsten eines Gesellschaftsvertrages zu verzichten.381 Einen solchen ›Tausch‹ der Freiheit gegen die Sicherheit sowie die Erwägung der Vor- und Nachteile eines Gesellschaftsvertrages wählt Merbitz zum Hauptthema seines Schuldramas. Die Ungerechtigkeit des Naturzustandes wird in den Szenen der ersten Abhandlung ausführlich illustriert: Räuber machen die Straßen unsicher, die Bauern leben in einem ungelösten Konflikt mit den Jägern und die Einsiedler heben vor allem hervor, dass sie nichts besitzen und deswegen nichts zu fürchten haben. Letzteres deutet auf die ökonomische Ungleichheit und sozialen Unfrieden hin. Der Sozialvertrag, der in Merbitz’ Schilderung aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit und angeregt von Orpheus’ Lehre geschlossen wird, bleibt vor allem im Bezug auf die Rolle der Obrigkeit etwas vage. Diese Unklarheit entspricht der Behandlung dieser Frage durch Locke. In der Sozialvertragslehre der Zeit wurde bekanntlich zwischen zwei Verträgen unterschieden: einem Sozialvertrag, durch welchen die Naturmenschen zu Bürgern werden, und einem Herrschaftsvertrag zwischen dem einzelnen Individuum (und somit dem Volk) und dem Souverän.382 Locke dagegen, und mit ihm Merbitz, zeigt die Gesellschaft nach Abschluss des Vertrags als eine Gemeinschaft, in der die Menschen keine Transformation des Bewusstseins infolge der Bildung eines politischen Körpers erfahren, sondern als Primärfunktionen des Staates weiterhin die Ge––––––––––– 380 381
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Dies führt Merbitz in der ›Räuberszene‹ in II.2 besonders deutlich vor Augen. »Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, [...] so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist.« Locke: Zwei Abhandlungen, S. 283. Vgl. Hans Maier: Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie. Hg. v. Dieter Oberndörfer. Freiburg 1962, S. 59–117. Thomas Fleiner-Gerster: Allgemeine Staatslehre. Berlin 1995, S. 31–51.
176 währleistung ihrer eigenen Sicherheit und der Sicherheit des Privateigentums ansehen. Dabei verzichtet jeder Einzelne auf sein Recht, nach eigenem Willen zu handeln, sowie auf das Recht der Bestrafung der Rechtsbrecher nach dem Gesetz der Natur. Die Voraussetzung für die Gründung eines Stadtstaates ist im Drama wie bei Locke ein Vertrauensverhältnis zwischen den Untertanen und der obersten politischen Gewalt, wobei beide Seiten auf die Erhaltung des Eigentums (verstanden als Leben, Freiheit und Vermögen, Frieden, Sicherheit und öffentliche Wohlfahrt des Volkes) sowie auf die Bindung an das Gesetz bedacht sind: O Freunde / werdet ihr / was Obrigkeit / recht kennen So wird euch über die nichts liebers seyn geacht. Ihr Ambt wird bloß darinn bestehen / anzuführen Die Anbefohlenen zum guten / ihnen Schutz Zu leisten / dran zu seyn / wie sie die Frommen zieren Mit Ehr und Preiß / dabey auch fördern ihren Nutz. Hingegen wird sie auch der bösen Vorsatz hindern / Und straffen Ubelthat: damit ja iederman / Wenn weder Macht noch List ihn darff das seine mindern / Was GOtt beschehrt / in Fried und Ruh geniessen kan.383 [S. 83–84]
Während Locke die Frage nach der optimalen Gewaltenteilung der besten Staatsform offen lässt, entscheidet sich Merbitz latent für eine der Oligarchie nahestehende Form:384 die Legislative wird einigen Auserwählten (»Obrigkeit«) zugeteilt. Auffallend ist, dass Merbitz das für die Epoche wichtige Problem des Widerstandsrechtes gegen den Machtmissbrauch der Regierung umgeht, während seine zeitgenössischen Kollegen gerade in der Gattung des Schuldramas dieses Thema diskutierten.385 Merbitz akzentuiert dagegen, dass einzig die ––––––––––– 383
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Vgl. Locke: Zwei Abhandlungen, S. 283: »Wenn der Mensch im Naturzustand so frei ist, wie gesagt worden ist, wenn er der absolute Herr seiner eigenen Person und seiner Besitztümer ist, dem Größten gleich und niemandem untertan, warum soll er auf seine Freiheit verzichten? [...] Die Antwort darauf liegt auf der Hand: obwohl er nämlich im Naturzustand ein solches Recht hat, so ist doch die Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend den Übergriffen anderer ausgesetzt ist. [...] Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist. Und nicht grundlos trachtet er danach und ist dazu bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden, die bereits vereinigt sind oder doch die Absicht hegen, sich zu vereinigen, zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse. [...] Niemand in einer bürgerlichen Gesellschaft kann von ihren Gesetzen ausgenommen werden.« Locke: Zwei Abhandlungen, S. 262. »Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.« Locke: Zwei Abhandlungen, S. 200. Die Gemeinschaft »kann die Gewalt der Gesetzgebung in die Hände einiger auserwählter Männer und ihrer Erben oder Nachfolger legen, dann ist sie eine Oligarchie [...]«. Locke: Zwei Abhandlungen, S. 287. Die Legitimierung eines Aufstandes gegen den Tyrannen wird beispielsweise in der Politica Dramatica (1667) von Johann Sebastian Mitternacht oder im Trauerspiel von dem
177 Obrigkeit den Bürgern die Bewahrung ihrer Freiheit garantieren kann. In der Wahl der Staatsform für seinen Stadtstaat lehnt sich Merbitz auf das platonische Staatsmodell an. Auch bei Plato sind drei Gruppen von Staatsbürgern zu unterscheiden: die Regenten, die Wächter und die Bauern und Handwerker. Die Gerechtigkeit ist dabei diejenige Tugend, durch welche dafür gesorgt wird, dass jede der drei Gruppen das Ihrige tut und zum Nutzen der übrigen Gruppen ihre besondere Aufgabe erfüllt. Allerdings wird bei einem näheren Vergleich deutlich, dass den Ständen im Merbitz’ Drama eine andere Funktion zugewiesen wird. Während bei Plato die Regenten (Philosophen) und die Wächter die Obrigkeit im weiteren Sinne bilden, wobei entsprechend dem Idiopragie-Prinzip eine Teilung der Gesellschaft in Bürger als eine unpolitisch-private und in Wächter und Regenten als eine politisch-öffentliche Sphäre erfolgt,386 erscheinen die Stände bei Merbitz als gleichberechtigte Gruppen von Bürgern, die sich eine Obrigkeit wählen und ihr Gehorsam leisten. Dabei wird im letzten Chorauftritt die religiöse Aufgabe, d. h. die Lehre der Gottesfurcht sowie der Gottesdienst, als primäre Funktion der Vertreter des Lehrstandes bezeichnet.387 Das wichtigste Amt ist in Platos Staat das der Wächter, denn diese kümmern sich um die Erhaltung des Ganzen und werden daher einer Spezialausbildung unterzogen, die nicht nur die erforderliche militärische Kompetenz, sondern auch funktionsgerechte Charaktereigenschaften und Sichtweisen garantieren soll. Zwar wird bei Merbitz die tragende Funktion und damit auch die Unentbehrlichkeit des Soldatenstandes unterstrichen, doch entsteht sie als ›Zufluchtsort‹ der durch die neue Ordnung in ihrem ungerechten Tun verhinderten Räuber. Vermutlich ist das Dreistände-Modell in Merbitz’ Drama nicht direkt –––––––––––
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Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello (1682) von Christian Weise behandelt. Vgl. dazu Kaiser: Mitternacht / Zeidler / Weise. Zum Aufbau des Gemeinwesens in Platos Staat vgl. Wolfgang Kersting: Platons ›Staat‹. Darmstadt 1999, S. 83–171. »Ich weis’ an mit allen Fleiß Wie man gute Künst erlanget / Und entdecke das Geheiß GOttes / woran alles hanget: Soll es um die Stadt wohl stehen / Muß der Gottsdienst seyn bestellt / Sonder mir müst alls eingehen / Lehr-Stand Gottsfurcht / Kunst erhält.« Merbitz: Orpheus, S. 90. An anderer Stelle wird vom Autor eine ›Werbung‹ bzw. eine Aufwertung des eigenen Berufsstandes vorgenommen: »Wo Leute sind / die mit Gedult von GOtt begabt / Der Ambt last seyn / daß sie die liebe Jugend lehren Zum guten / und wenn ihr dergleichen funden habt / Die sich dazu verstehn so wißt / daß ihre Mühe Die allernützlichste / als durch die wird gelegt Der Grund zur Tugend: Wißt / daß in der eintzig Blühe Das höchste Glück der Stadt / welchs kein Sturm ie bewegt.« Merbitz: Orpheus, S. 86.
178 von der platonischen Staatsphilosophie beeinflusst.388 Vielmehr soll das Einteilungsprinzip, das Merbitz für seinen Staat wählt, auf die mittelalterliche, von Luther uminterpretierte, von der lutherischen Orthodoxie für die Kirche umgeformte und ausgebaute und im 17. Jahrhundert allgemein als ius divinum betrachtete Dreiständelehre zurückgeführt werden.389 Somit spiegelt die im Drama vermittelte Lehre das für die frühneuzeitlichen staatstheoretischen Diskurse charakteristische Spannungsfeld von Herkommen und Neuerung wider, wie Hans Maier es definiert: »So kam es im deutschen Fürstenstaat des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer Verschmelzung altständischer und religiöser Überlieferungen mit den neuen Ideen des Naturrechts und der modernen Wirtschafts- und Verwaltungslehre [...].«390 Merbitz’ philosophischer Eklektizismus, der sich zum großen Teil von der protestantischen Schulphilosophie nährt,391 illustriert darüber hinaus die Ausrichtung der Frühaufklärung, wie sie vor allem für die Universität Leipzig und die Leipziger Schulphilosophie kennzeichnend gewesen ist.392 ––––––––––– 388
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Es liege nahe, in Orpheus den platonischen Philosophen zu erkennen, der durch die Schau des Guten die vollkommene Weisheit erkannt hat und in die endgültige Glückseligkeit eingetreten ist. Nach Plato muss der Philosoph, der solches erreicht hat, von der Schau wieder zur politischen Tätigkeit zurückkehren. Allerdings übernimmt Merbitz’ Orpheus nicht die Regierung der Stadt. Vgl. Martin Heckel: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. München 1975, S. 264. Luther hat an die mittelalterliche Dreiständelehre (traditionelle Dreiständeordnung in Klerus, Adel und Bauern) angeknüpft, um die gottgewollte Gliederung der Christenheit in Kirche, Obrigkeit und Haus zu bekunden. Ursprünglich als theologische Soziallehre formuliert, wurde diese Einteilung zunächst von der lutherischen Orthodoxie als Kirchenverfassungsprinzip durchgesetzt, später von der Jurisprudenz aufgegriffen und in den juristischen Abhandlungen häufig dem Aufbau des weltlichen Gemeinwesens zugrunde gelegt. Dabei wurde die Lutherische Uminterpretation des Dreistände-Modells, wonach die Menschen nicht in einen der drei streng voneinander getrennten Stände hineingeboren werden, sondern sich gleichzeitig in allen drei Ständen befinden, zunehmend wieder durch das mittelalterliche Dreiständeschema ersetzt, ohne dass der Widerspruch deutlich wahrgenommen wurde. Zur Drei-Stände-Lehre vgl. auch Werner Elert: Morphologie des Luthertums. Bd. 2. München 1932, S. 49–65. Wilhelm Maurer: Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund. München 1970. Reinhard Schwarz: Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen Drei-Stände-Lehre. In: Troeltsch-Studien. Hg. v. Horst Renz u. Friedrich Wilhelm Graf. Bd. 3: Protestantismus und Neuzeit. Gütersloh 1984, S. 78–88. Maier: Die Lehre der Politik, S. 89. Die protestantische Schulphilosophie, die Züge des Aristotelismus, des Neuplatonismus und des Neustoizismus verbindet, war im 17. Jahrhundert im protestantischen Bereich Deutschlands vorherrschend. Vgl. Wollgast: Philosophie und Theologie, S. 25. Die gelehrten Schulen formten sich nach den Universitäten, von welchen sie ihre Lehrer empfingen und auf welche sie ihre Schüler vorbereiteten. Zur Universität Leipzig als Ursprungsort der Primäraufklärung sowie zum außeruniversitären wissenschaftlichen Umfeld in Deutschland des 17. Jahrhunderts vgl. neuere Forschungen: Hanspeter Marti: Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Marti: Die Universität Leipzig, S. 55–111. Detlef Döring: Das gelehrte Leipzig der Frühaufklärung am Rande und im Umfeld der Universität, ebd. S. 11– 55. Günter Mühlpfordt: Zwischen Tradition und Innovation: Rektoren der Universität
179 Die politische Ausrichtung eines für die Schulbühne verfassten Stückes stellt allerdings weder für die Zeit393 noch für die Gattung eine Ausnahme dar und sollte daher im Kontext anderer ›politischer Schuldramen‹ der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts betrachtet werden. Marianne Kaiser hat in ihrer Studie darauf hingewiesen, dass »im protestantischen Schultheater der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einer gewissen Kontinuität Kritik am Absolutismus und an der höfischen Kultur geübt wurde«394. Dies geschah überwiegend in Territorien, in denen sich die Stände ihre starke Position erhalten konnten. Zu diesen Territorien gehörte das damalige Kursachsen, wo die Stände in einem ständigen Konflikt mit den Fürsten ihr Recht auf wirtschaftliche und politische Einflussnahme bewahrt hatten.395 Da die Fürsten- und Landesschulen für die Erziehung und Ausbildung der zukünftigen Beamten zuständig waren, wurden diese auf den politischen Kampf zwischen den Fürsten und den Ständen vorbereitet. Gegen Ende des Jahrhunderts weicht allerdings in den Schuldramen (vor allem im Schaffen von Christian Weise, dessen Bedeutung für die Gattung bereits erwähnt wurde) das Thema der Rebellion der Untertanen einer resignativen Einstellung gegenüber dem Absolutismus und einer daraus folgenden Kompromisshaltung. Die Akzeptanz der neuen politischen und kulturellen Entwicklungstendenzen manifestiert sich auch im Orpheus. Der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit396 ist eine conditio sine qua non für das reibungslose Funktionieren eines Staates. Allerdings wird im Drama die Thematisierung der Herrschaftsformen, vor allem der Monarchie, umgangen, während die Wichtigkeit und die grundlegende konstituierende Funktion der Stände im Staat betont werden. Damit nimmt Merbitz latent Stellung. Dabei erweist sich die Natur–––––––––––
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Leipzig im Zeitalter der Aufklärung, ebd. S. 111–195. Schwinges: Artisten und Philosophen. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Notker Hammerstein: Universitäten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock. In: studia leibnitiana 13 (1981), S. 242–267. Zur literarischen Verarbeitung der gesellschaftskritischen und staatstheoretischen Probleme in der Literatur der frühen Neuzeit vgl. Barbara Bauer u. Wolfgang G. Müller (Hg.): Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen 79). Kaiser: Mitternacht / Zeidler / Weise, S. 170. Vgl. Rudolf Kötzschke u. Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Frankfurt / Main 1965, S. 262f. C. Gretschel: Geschichte des Sächsischen Volkes und Staates. Bd. 1. Leipzig 1843, S. 486ff. Auch der bereits seit der Fürstenerziehung des Erasmus vor allem in den Fürstenspiegeln verbreitete Topos des Machthabenden als Vater der Untertanen (»Bonus Princeps non alio animo debet esse in suos cives, quam bonus pater familias in suos domesticos. Quid enim aliud est regnum quam magna familia?« Erasmus: Instituio Principis, S. 574) findet Verwendung: »[...]So magst du ihn Vater nennen / Weil Vater-Lieb zu dir / er tragen wird bey sich.« Merbitz: Orpheus, S. 60. Vgl. Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines Christlichen Fürsten. Einführung, Übersetzung und Bearbeitung v. Anton J. Gail. Paderborn 1986, S. 90.
180 rechtslehre – Lockes Auffassung entsprechend – als durchaus hilfreich in einem Konflikt der Stände mit dem absolutistischen Anspruch des Landesherrn.
3.5.5. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten: in seinem Orpheus hat Merbitz lediglich ein einziges Verlaufsstadium des Mythos aktualisiert und diesen durch eine Politisierung in einen mythopoetischen Text verwandelt. Letzteres wird erst durch die Isolation eines einzelnen Verlaufsstadiums möglich, dessen wichtigstes Merkmal die Statik ist. Die Akzentuierung der Figur des mythischen Sängers und poeta theologus in seiner Gestalt als Zivilisationsstifter erlaubt es Merbitz, die fortschrittlichen zeitgenössischen Ideenkonzepte der Naturrechtslehre zu artikulieren, ohne dass ein Widerspruch zu den überlieferten christlichen beziehungsweise christlich umgewandelten Konzeptionen der lutherisch-orthodoxen Staatslehre entsteht. Dabei wird die Gestalt des Orpheus und somit der Mythos selbst instrumentalisiert.397 Statt der Suche nach dem Sinngehalt des Mythos durch allegorische und exemplarische Exegese oder durch freie Interpretation benutzt Merbitz die Orpheus-Figur als Sprachrohr: Der mythische Dichter verkündet die Ansichten des Verfassers. Orpheus, der als Träger der göttlichen (christlichen) Weisheit, Aufklärer, Zivilisationsstifter, Organisator und Redner erscheint, übernimmt eine doppelte Vermittlerrolle zwischen der Antike und der Neuzeit einerseits und zwischen der Frühaufklärung und der im zeitgenössischen Lehrbetrieb immer noch vorherrschenden Orthodoxie andererseits. Dadurch bringt er den für die Staatsphilosophie der Epoche charakteristischen Eklektizismus zum Ausdruck. Die Gestalt des Orpheus eignete sich besonders gut für die Vermittlung und Legitimation der neuen Ideenkomplexe, die das antike und das christliche Gedankengut kombinierten, galt es doch auch am Ende des 17. Jahrhunderts als unumstritten, dass Orpheus – als reale historische Persönlichkeit aufgefasst – seine Lehre von Moses empfangen hatte.398 Somit ––––––––––– 397
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Der Mythos fungiert im Drama als Erklärungsversuch zweiten Grades: bereits im Hellenismus wurde unter der primären Funktion eines Mythos die der Welterklärung verstanden; indem Merbitz ihn für eine Einführung in die Staatstheorie modifiziert, wird der ursprünglicher Sinn des Mythos einer Transformation unterworfen. Durch die neue ideologische Wertbesetzung entsteht ein »künstlicher Mythos« im Sinne von R. Barthes. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1996, S. 92. Vgl. dazu stellvertretend das Vorwort von Andreas Christian Eschenbach zur 1689 erschienenen Ausgabe der Argonautica: »Thracem istum antiquissimum philosophorum & poetam, qui feras cantu suo attraxisse fingitur, & ex Mosis doctrina multa accepisse, ac vir sapientissimus divinorumq; mysteriorum peritissimus Suida laudatur, poetarum vetustissimus a Lactantio lib. I. cap. 5. vocatur, & ab Augustino Steucho lib. 7. de perenni philos. cap. 10. primus theologorum Graecorum, ut Mercurius Trismegistus Aegyptiorum, extitisse censetur [...]«. Orphei Argonautica, Hymni, et de Lapidibus. Hg. v. Andreas Christian Eschenbach. Utrecht 1689. Zitiert nach: Acta eruditorum 1690, S. 98. Über die Bekehrung des Orpheus zum Monotheismus unter Moses’ Einfluss berichten bereits die jüdischen pseudo-orphischen Texte aus späthellenistischer Zeit (v. a. Diathékai), die Tradition wird von den christlichen Autoren weitergeführt, so z. B. von Clemens von Alexandrien: »Und
181 werden im Merbitz’ Schuldrama außer der gattungsspezifischen Aufgabe der Ausbildung von rhetorischen Fähigkeiten bei den Schülern drei weitere zusätzliche Ziele verfolgt: die Wirksamkeit der rhetorisch korrekten politischen Rede wird illustriert, die fortschrittliche Theorie der Staatsbildung aus dem Naturzustand mittels eines Gesellschaftsvertrags erklärt und propagiert und die Werte einer ständischen Gesellschaft werden der zukünftigen Beamtenschicht latent eingepflanzt. Abschließend soll noch auf den utopischen Aspekt des Orpheus hingewiesen werden. Fasst man die gegründete, allgemeine Glückseligkeit verheißende Stadt in Orpheus als Ordnungsmodell auf, so ist dies nicht nur als eine Auseinandersetzung des Autors mit den führenden philosophischen und gesellschaftspolitischen Ideen seiner Zeit, sondern auch der Entwurf eines utopischen Projekts. Wie bereits gezeigt, lässt sich die Stadt, »auf Gesetz erbauet« [S. 88], bei ihrer Gründung als Verwirklichung der staatstheoretischen Modelle der Frühaufklärung identifizieren: die Erklärung für die Entstehung eines Staates birgt in sich auch das Modell eines idealen Staates. Obwohl viele Grundmerkmale der klassischen Utopie (wie Mittlerfiguren, Vermittlung des Eindrucks der Wissenschaftlichkeit oder die bis ins Detail durchdachte Organisation des Staatswesens)399 fehlen, wird aus der Konkordanz der Thematik mit der mythischen Struktur ein Text geschaffen, der einer literarischen Utopie ähnelt. Wie der Mythos befindet sich die Utopie außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität, wodurch fiktive Räume frei werden, in denen das Ideal und die Wirklichkeit einander gegenübergestellt werden können. Dem mythischen Sänger Orpheus sind dabei wieder beide Welten zugänglich. Die Intention des Autors weist bereits in die Aufklärung, in der die Utopie als literarische Gattung ihren Höhepunkt erlebt und zum Appell an den realen Leser wird, die Welt zu verändern. Mythen, die statt einer Erklärung der Welt zur Gestaltung einer Gegenwelt dienen sollen, werden dabei eine Rechtfertigung durch die Mittel sowie durch die Gesetzmäßigkeit der Vernunft benötigen. Dieses latente Potenzial des Mythos bildet die argumentative Basis von Merbitz’ Drama.
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der thrakische Weihepriester, der zugleich auch ein Dichter war, Orpheus, der Sohn des Oiagros, bringt nach seinem Unterricht von den Orgien und seiner Theologie der Götzenbilder einen Widerruf, der die Wahrheit einthält, und singt zwar spät, aber doch noch das wahrhaft heilige Wort [...]«. Clem. Al. Protrepticus 74,3. Zitiert nach: Clemens von Alexandrien: Mahnrede an die Heiden. In: Des Clemens von Alexandrien ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen übers. v. Otto Stählin. Bd. 1. München 1934 (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 7). Vgl. dazu Joanna Jabákowska: Literatur ohne Hoffnung. Die Krise der Utopie in der deutschen Gegenwartsliteratur. Wiesbaden 1993, S. 10–50.
182
3.6.
Friedrich Christian Bressand: Orpheus (Braunschweig 1698–1699)
3.6.1. Einleitung. Fassungen und Forschung Über Friedrich Christian Bressand400, den Autor des in mehreren Fassungen und unter verschiedenen Titeln überlieferten Textbuches, das in der vorliegenden Arbeit vereinfacht als Orpheus bezeichnet werden soll, ist wenig bekannt. Die meisten Informationen über Bressand verdankt man den von ihm verfassten Hochzeit-Briefen – Einladungsgedichten anlässlich seiner Hochzeit, die an die Mitglieder des Fürstenhauses Braunschweig-Wolfenbüttel adressiert sind.401 Geboren um 1670402 in Durlach als Sohn des Leibkochs des Markgrafen zu Baden-Durlach, musste er sein Universitätsstudium aufgrund des frühen Todes der Eltern abbrechen. Kurz nach seiner Heimkehr verlor er während der Zerstörung Durlachs im Pfälzischen Krieg am 6. August 1689 durch französische Truppen sein gesamtes Eigentum. Wohl über die Vermittlung der Tochter des Herzogs Anton Ulrich, Anna Sophie, die mit dem Markgrafen zu Baden-Durlach verheiratet war, erhielt Bressand eine Empfehlung an den Hof in Wolfenbüttel, wo er nachweislich seit 1689 wirkte. Hier avancierte Bressand schnell zum Kammerschreiber und wenig später zum Geheimkammerschreiber. Er wurde bald mit der Organisation von Hoffestivitäten beauftragt, übte die Funktion des Intendanten des neueröffneten Braunschweiger Opernhauses aus und verfasste Libretti, höfische Festspiele und Übersetzungen der französischen Klassiker, u a. Racine, Corneille, Molière und Pradon. Die Übersetzungen der italienischen und französischen Dramen entstanden auf Wunsch des Herzogs und gehören zu den ersten in Deutschland; sie blieben bis Gottsched maßgebend. Allem Anschein nach genoss Bressand das Vertrauen des Herzogs und der fürstlichen Familie. Am 4. April 1699 starb Bressand überraschend in noch jungem Alter. Literarisch war er in seinem kurzen Leben äußerst produktiv gewesen. So hat er über siebzehn Libretti verfasst, die u. a. von Johann Sigismund Kusser, Reinhard Keiser, Johann Philipp Krieger, Georg Caspar Schürmann und Johann Mattheson vertont wurden. ––––––––––– 400
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Als Kuriosum muss Cosacks Behauptung betrachtet werden, Bressands eigentlicher Name wäre Brandes. Vgl. Wilhelm Cosack: Materialien zu Gotthold Ephraim Lessings Hamburgischer Dramaturgie. Ausführlicher Commentar nebst Einleitung, Anhang und Register. Paderborn 1876, S. 206. In der älteren Literatur begegnet man dem Namen Friedrich Carl Bressand – ein Fehler, der womöglich auch auf Cosack zurückzuführen ist. Friedrich Christian Bressand: Hochzeit-Briefe / An die Durchleuchtigste und gnädigste Herrschafften in Wolffenbüttel / Auf seine Den 24sten Jun. 1696. angestellte Ehe-Verbündniß / geschrieben [...]. Wolfenbüttel 1696. Die Hochzeits-Briefe sind eine Sammlung von teilweise erstaunlich persönlichen und scherzhaften Einladungsgedichten, die Bressand anlässlich seiner Hochzeit mit Anna Catharina Schröder, Tochter des verstorbenen Predigers Marcus Schröder zu Preetz in Holstein und Kammerfräulein bei der Herzogin Elisabeth Juliana, verfasste. Die genauen Angaben fehlen, da die entsprechenden Kirchenbücher von Durlach verloren gegangen sind. Vgl. die Antwort des Stadtpfarrers Specht auf die Anfrage von Paul Zimmermann vom 30. Januar 1900 (NSA 249 N 290).
183 Bressands Libretto Orpheus liegt in mehreren Fassungen vor. Erstmals aufgeführt wurde die Oper 1698 auf der Bühne des Braunschweiger Opernhauses.403 Bressand widmete diese ›Urfassung‹ dem Landgrafen Friedrich zu Hessen. Die zweite Fassung des Textbuchs erschien 1699, kurz nach dem Tod Bressands. Sie ist Herzog Anton Ulrich und seiner Gemahlin Elisabeth Juliana gewidmet. Aus den Widmungen geht hervor, dass der Text der ursprünglichen Fassung von 1698 für »zu lang befunden« und deswegen in zwei Textbücher für eine zweitägige Aufführung geteilt wurde.404 Die wenigen Forschungsarbeiten zu Bressand beziehen sich bei der Analyse des Orpheus ausschließlich auf diese ›Doppeloper‹ Die sterbende Euridice (Teil I, mit der Widmung an den Herzog Anton Ulrich) und Die verwandelte Leyer des Orpheus (Teil II, mit der Widmung an die Herzogin Elisabeth Juliana). Welche Teile der beiden Widmungen von Bressand selbst verfasst wurden, lässt sich nicht leicht bestimmen. Smart vermutet, dass Bressand die Widmungen in der Gewissheit seines baldigen Todes geschrieben hat.405 Die spärlichen Berichte über Bressands Tod legen allerdings die Vermutung nahe, dass dieser plötzlich eintrat. Degen vertritt daher die Meinung, dass die Widmungen von anderer Hand stammen.406 Vermutlich ist die Mittelstellung vorzuziehen: Die Widmungstexte wurden wohl von Bressand konzipiert und nach seinem Tod lediglich leicht überarbeitet und auf sein Ableben bezogen.
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Friedrich Christian Bressand: Orpheus, Singe-Spiel / auf dem Braunschw. Schau-Platz vorgestellet [...]. Braunschweig 1698. Von allen in der vorliegenden Arbeit bereits besprochenen Libretti ist Bressands Textbuch das erste, das für eine kommerzielle Opernbühne verfasst wurde. Das Braunschweiger Opernhaus wurde 1690 auf Initiative des Herzogs gegründet und wurde von diesem eine zeitlang finanziell unterstützt, so dass die Abhängigkeit vom Geschmack des Herzogs eine zentrale Rolle spielte. Bressand war an der Organisation des Theaterbetriebs von Anfang an beteiligt, mit seiner Oper Cleopatra (Musik von Johann Sigismund Kusser) wurde das Opernhaus im Februar 1690 eröffnet. Friedrich Christian Bressand: Die sterbende Euridice Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet [...]. Braunschweig 1699. Friedrich Christian Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, In einem Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet [...]. Braunschweig 1699. Alle anderen Fassungen erschienen später. Die Oper wurde mehrmals im Braunschweiger Opernhaus und in der Hamburger Gänsemarktoper aufgeführt. Zur Überlieferungsgeschichte des Textbuches vgl. Anhang 1. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 256. Vgl. Hans Degen: Friedrich Christian Bressand. Ein Beitrag zur Braunschweig-Wolfenbütteler Theatergeschichte. Rostock 1934, S. 63. Zimmermann vermutet vorsichtiger, dass die Widmungen erst nach Bressands Tod vollendet wurden. Vgl. Paul Zimmermann: [Artikel] Bressand. In: ADB 47 (1903), S. 226–228, hier S. 228. Für Chrysander bestand kein Zweifel, dass »der wesentliche Inhalt der Dedicationen von [Bressand] selber herrührt«. Vgl. Friedrich Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert. In: Jahrbücher für musikalische Wissenschaft I/II. Leipzig 1863, S. 148–286, hier S. 251.
184 Das Textbuch Orpheus wurde von Reinhard Keiser vertont.407 Die Musik ist mit Ausnahme der Arien, die in den handschriftlichen zeitgenössischen Ariensammlungen überliefert sind, nicht erhalten.408 Zu Bressands Libretto Orpheus existieren keine Einzeluntersuchungen. Mit dem Leben und Werk des Wolfenbütteler Hofdichters beschäftigen sich eingehender drei Studien: die bisher einzige Monographie zu Bressand von Heinz Degen, die Studie zu den Hoffestivitäten am Wolfenbütteler Hof von Sara Smart und die Arbeit derselben Autorin zu den deutschen Hofdichtern des 17. Jahrhunderts.409 Heinz Degen liefert erstmals eine umfassende Übersicht über die Werke Bressands, indem er die Texte systematisiert und anschließend chronologisch in formaler Hinsicht untersucht. Auch für den Orpheus versucht Degen, alle Fassungen dieses Textbuches zu bestimmen.410 Im Zentrum der früheren Studie von Sara Smart stehen die Festivitäten am Wolfenbütteler Hof. Die Untersuchung umfasst ein halbes Jahrhundert Wolfenbütteler Geschichte. Orpheus wird in einem Abschnitt über die »mythologische Oper« als Beispiel für diese Gruppe von Bressands Libretti behandelt. Zudem analysiert Smart das Bühnenwerk auch als Affektenoper und geht auf einige formale Aspekte ein. In ihrer zweiten Arbeit untersucht Smart in einem eigenen Bressand-Kapitel dessen literarische Tätigkeit unter dem Aspekt ihrer Hofbezogenheit, ihrer Rolle für die fürstliche Repräsentation sowie im Hinblick auf Verhältnis zwischen dem Dichter und der fürstlichen Familie. Orpheus wird in diesem Kontext von der Autorin nicht erwähnt. Partiell berücksichtigt wird Bressands Werk ferner in den musikwissenschaftlichen Untersuchungen zu Reinhard Keiser. Dem Textbuch Orpheus wird darin aber nur wenig oder keine Aufmerksamkeit geschenkt.
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Bressand verfasste die Textbücher für die ersten Opern Keisers, die den Ruhm des Komponisten begründeten. Zwischen 1694 und 1699 hat Keiser die Bühnen in Braunschweig und in Hamburg mit Bühnenwerken zu Bressands Libretti versorgt. Vgl. Klaus Zelm: Die Opern Reinhard Keisers. Studien zur Chronologie, Überlieferung und Stilentwicklung. München 1975, S. 29. Der genaue Beginn von Keisers Tätigkeit am Wolfenbütteler Hof ist nicht bekannt. Meist wird das Jahr 1694 genannt. Der Komponist blieb in Braunschweig-Wolfenbüttel bis zu seinem Wechsel nach Hamburg 1697. Vgl. Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 29. Christine Blanken: [Artikel] Reinhard Keiser. In: MGG2 9 (2000), Sp. 1596–1615. D-B (ohne Rezit.), Arien A-Wn, D-B, D-Hs, Duett in: Divertimenti serenissimi. Hamburg 1713; Instrumentalsätze in D-SWl. Zitiert nach Blanken. In: MGG2 9 (2000), S. 1606. Degen: Friedrich Christian Bressand. Smart: Doppelte Freude der Musen. Sara Smart: The Ideal Image: Studies in Writing for the German Court 1616–1706. Berlin 2005. Auch wenn Degens Ergebnisse teilweise einer Korrektur bedürfen, gelang ihm der erste Überblick über die relativ komplizierte Überlieferungsgeschichte dieses Librettos.
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3.6.2. Literarische Mythos-Adaption im Orpheus. Dramaturgie der Intrige und Intertextualität Die folgende Interpretation basiert auf der zweiteiligen Fassung B (BI und BII) Die sterbende Euridice und Die verwandelte Leyer des Orpheus.411 Im Vergleich zur fünfaktigen Erstfassung von 1698 weisen nun beide Teile nach venezianischem Muster je drei Akte mit unterschiedlicher Auftrittzahl auf. Den ersten Teil bilden die ersten drei Akte der Erstfassung, die ohne Textveränderungen übernommen wurden. Für den zweiten Teil der ›Doppeloper‹ erweiterte Bressand die beiden letzten Akte der Erstfassung erheblich. Kompositorisch bleibt aber bei den Fassungen die Mittelstellung der Sterbeszene der Euridice als Höhepunkt des inneren Aufbaus gemeinsam. Die Ausdehnung der eigentlichen Vorgeschichte, die üblicherweise lediglich die Exposition bildete, auf drei Akte, eröffnete Bressand die Möglichkeit, die affektgesteuerten Beziehungen der Figuren prägnanter auszuarbeiten und zu präsentieren. Im Folgenden soll die Handlung des zweiteiligen Textbuches unter besonderer Berücksichtigung der Affektdarstellungen und deren Einflusses auf die Figurenkonzeption referiert werden. Die Exposition erstreckt sich auf die ersten sieben Auftritte, in denen die Hauptfiguren und die Figurenkonstellation vorgestellt werden. Diese ist die einer Liebesintrige und eröffnet damit die Möglichkeit, gleich zu Beginn verschiedene Arten des Affektes ›Liebe‹ zu präsentieren. Das Duett von Orpheus und Euridice in I.1, in dem die Verliebten vor dem Tempel des Weingottes Bacchus einige Stunden vor der Hochzeitsfeier einander ihre Gefühle bestätigen, führt die vernünftige, auf den guten Zweck der Ehe gerichtete Liebe vor.412 Dass diese Gefühle anderen Figuren des Dramas allerdings noch unbekannt sind, wird aus I.2 deutlich. Darin offenbart Orpheus seinem Vertrauten Cleon die Absicht, sich möglichst rasch mit Euridice zu vermählen und mit ihr nach Griechenland zu ziehen. Orpheus, der in Bressands Mythos-Version nicht nur Dichter und Sänger ist, sondern auch das Amt des Bacchus-Oberpriesters be––––––––––– 411
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Teil I: Die sterbende Euridice Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet. Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Anthon Ulrichen Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg [...] Unterthänigst gewidmet. Braunschweig 1699. Teil II: Die verwandelte Leyer des Orpheus, In einem Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet. Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / Frauen Elisabetha Juliana, Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg [...] Unterthänigst gewidmet. Braunschweig 1699. Diese Fassung war in Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit den anderen vorzuziehen. Es handelt sich dabei um den umfassendsten Text, der als autorisiert gelten darf. Zu den Fassungen des Librettos vgl. Anhang 1. Im Folgenden werden beim Nachweis der Quellenzitate im laufenden Text die beiden Textbücher als BI und BII (für Die sterbende Euridice und Die verwandelte Leyer des Orpheus entsprechend) bezeichnet. Unter vielen zeitgenössischen Definitionen der vernünftigen Liebe sei an dieser Stelle auf die des Thomasius in seiner Einleitung zur Sittenlehre hingewiesen: die vernünftige Liebe ist ein stilles und ruhiges Verlangen, das auf gute Dinge und tugendliebende Menschen gerichtet ist und durch praktische Vernunft reguliert wird. Thomasius: Einleitung zur Sitten Lehre, IV, § 49. Vgl. dazu Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 163f.
186 kleidet, will deshalb dem thrakischen Volk statt seiner eine neue Priesterin geben. Er bestimmt für diese Aufgabe Thya, eine junge Mänade, die ihm von Anfang an bei der Einführung des Bacchuskultes in ihrer thrakischen Heimat beistand und dabei besonderen Eifer zeigte. Der wahre Grund für Thyas Eifer ist allerdings nicht die Gottesliebe, sondern, wie es sich in ihrem à part in I.3 herausstellt, ihre Liebe zu Orpheus. Deswegen missdeutet sie das von Orpheus angebotene Oberpriesteramt als einen verschleierten Heiratsantrag und erklärt sich einverstanden. Zwei weitere Hauptfiguren werden in der anschließenden personalreichen Szene eingeführt, in der Orpheus den Bacchantinnen und dem thrakischen Volk sein Vorhaben verkündet: Unter den Thraziern befinden sich Aristäus und Autonoe, die im Personenverzeichnis als »des Apollo und der Cirene Sohn, Halb-Bruder des Orpheus«413 und als »versprochene und vergessene Braut des Aristäus, Printzeßin von Thebe«414 vorgestellt werden. Damit werden zwei königliche Personen eingeführt, deren Status zusätzliches Potenzial für die Konfliktentwicklung sowohl auf der Ebene der Figurenkonstellation als auch auf der Ebene der Affektdarstellung – zum Beispiel im Sinne der höfischen Verhaltenslehren der »politischen Klugheit«415 – birgt. Ein erstes Beispiel des klugen Verhaltens, die Kunst der Verstellung, zeigt allerdings Thya, die genauso wie Aristäus von Orpheus’ Zukunftsplänen erschüttert ist. Thya willigt ein, in ihrer neuen Funktion als Oberpriesterin Orpheus mit Euridice zu trauen, und verbirgt entschlossen ihre Gefühle: Ich muß mich nur in der Verwirrung fassen / und die bestürzung niemand mercken lassen. [BI, (A4)r]
Die Szene schließt mit einem Chorlied, dem Ballett der Bacchantinnen und der pantomimischen Darstellung der Vorbereitungen für die Opferzeremonie. Ein weiteres Beispiel der Verstellung aus Liebe zeigt in I.5 und I.6 Autonoe. Durch Lauschen und geschicktes Ausfragen erfährt sie von Thya und Aristäus über deren Liebe zu Orpheus und Euridice. Als einfache Nymphe Merane verkleidet, spielt sie ihre Vertrautheit mit Euridice aus und wird von Thya und Aristäus beschworen, die Verlobten auseinanderzubringen. Während Thya allerdings ihre Gefühle und Handlungen offen legt, erzählt Aristäus nur, wie er sich beim Besuch seines Bruders Orpheus in Euridice verliebte, mit einem Liebesgeständnis aber zu lange zögerte: Inzwischen muß ich sehn / daß dis versaumte glück mein Bruder hat davon getragen / der lange mir nicht gleich an Stand und an Geschick. [BI, B2v]
Durch die enigmatische Anspielung Autonoes auf eine ihm zugesprochene königliche Braut sieht sich auch Aristäus zur Dissimulation veranlasst. Er täuscht Unwissen vor und geht ab. Da auch Autonoe eine Vertraute für ihr ––––––––––– 413 414 415
Bressand: Die sterbende Euridice, (x3)r. (Personenverzeichnis). Bressand: Die sterbende Euridice, (x3)r. (Personenverzeichnis). Vgl. zur prudentistischen Morallehre Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 153– 163.
187 Unglück sucht, enthüllt sie der neugierigen Thya ihre Geschichte: Obwohl Aristäus, der König von Thessalien, und Autonoe, die Prinzessin von Theben, einander nie begegnet sind, haben sie Bildnisse ausgetauscht und sich verlobt. Als Autonoe mit einer Gesandtschaft zur beschlossenen Hochzeit mit dem König nach Thessalien kam, erhielt sie die Nachricht, dass Aristäus seinen Bruder Orpheus in Thrazien besuche und noch nicht zurückgekehrt sei. Da Aristäus keinerlei Absicht bezeigte, das gegebene Versprechen zu halten, musste die verschmähte Braut abreisen.416 Aus Neugier auf die Person des Beleidigers begab sich Autonoe nach Thrazien und verliebte sich dann in Aristäus: Da ich ihn vorher immerzu aus bloser Schuldigkeit noch ohnbekandt geliebet / und mich um den Verlust nicht sonderlich betrübet / da fang ich izt in Ernst ihn recht zu lieben an. Sein Wesen und sein Thun besiegen mein Verlangen / und machen mich der Lieb ganz unterthan / die sein gemahltes Bild in mir kaum angefangen. [BI, (B4)r]
Die Ausgangssituation der Intrige, die in der Exposition präsentiert wird, resümiert Thya in I.7: Zween Brüder lieben wir / die beede uns verachten / und der Eurydice nachtrachten / die ists / die glück und ruh uns beyden unterbricht. [BI, (B4)v]
An dieser Stelle erscheint die Liebe bei allen Figuren noch als neutraler bzw. positiver Affekt.417 Sie ist aber auch der Affekt, der als gestaltgebende Ursache die Handlung in Gang setzt und die Figuren zum Handeln veranlasst. Letzteres wird jedoch erst durch die entsprechende Einstellung zu diesem Affekt gut oder verwerflich. Die Szenen I.7 und I.8 bieten dafür das erste Beispiel: während Thya plant, bei der Trauzeremonie Euridice zu vergiften, willigt Autonoe nur zum Schein in den Plan ein, den Vermählungsbecher mit dem beigemischten Gift der Braut zu reichen. Sie bedient sich ein weiteres Mal der Kunst der Verstellung, diesmal aus Sorge, dass Thya eine weniger skrupellose Mitstreiterin finden könnte. Die Verstellung der Autonoe erweist sich als Dissimulation, mit deren Hilfe sie in guter Absicht ihre wahren Gedanken und Gefühle verhüllt.418 ––––––––––– 416
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»Man macht ihm unsre ankunfft gleich bekandt / er aber läst darauf so kalte antwort wissen / daß wir daraus leicht schliessen / daß sich sein ganzer sinn verwandt.« Bressand: Die sterbende Euridice, (B4)r. Die meisten Affektenlehren der letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts stimmen darin überein, dass die Wertung des Affektes von der moraltheologischen Bestimmung des Objektes als gut oder böse abhängt, auf welches der Affekt gerichtet ist. Vgl. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 244f. Vgl. auch Kap. 3.4.3 der vorliegenden Arbeit. Zur Dissimilation als Instrument des klugen Verhaltens vgl. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 154, S. 157. Auf die Figur und das Verhalten der Autonoe treffen die Verse von Lohensteins Cleopatra im besonderen Maße zu: »Die gantze Welt geht itzt ver-
188 Um ihr Glück zu erreichen, will sich Autonoe ausschließlich auf die altbewahrten Tugenden Hoffnung, Treue und Ehre stützen. Während also Autonoe in ihrem Verzicht auf unredliche Mittel zur Erfüllung der Liebe ihrem königlichen Status entsprechend handelt, ist Aristäus gerade dabei, dessen Anforderungen zu verletzen. In II.1 rät vor dem Tempel des Ehegottes Hymen Aristäus’ Vertrauter und Diener Dimas seinem Herren, sich von der hoffnungslosen Liebe zu Euridice abzuwenden und sich an seine königlichen und brüderlichen Pflichten sowie an das der Autonoe gegebene Versprechen zu erinnern.419 Aristäus’ Verhalten erscheint damit als typisches Beispiel für einen Verstoß gegen die sozialen Konventionen der zeitgenössischen Elite. Indem er Autonoe abweist, setzt er seinen guten Ruf aufs Spiel und stellt seine Fähigkeit zu regieren in Zweifel. Solange Aristäus die Kontrolle über sich selbst und seine Leidenschaften nicht erlangen kann, kann er auch keine Kontrolle über seine Untertanen ausüben. Alle Appelle an seine Vernunft bleiben allerdings ohne Wirkung. Stattdessen entdeckt er in II.2 und II.3 Euridice seine Liebe, wird aber von der Braut des Bruders zornig abgewiesen. Damit wird Aristäus’ Liebe endgültig als eine unvernünftige enthüllt, da sie auf keine Gegenliebe stößt und deswegen unerfüllbar ist.420 Unterdessen erteilt Autonoe Orpheus den Rat, nach der Vermählung Thrazien möglichst schnell zu verlassen, da das Brautpaar von zwei Personen leidenschaftlich geliebt wird (II.6). Sich selbst versucht Autonoe Hoffnung und Geduld einzureden, denn sie wird von dem wütenden Aristäus sowohl als unerkannte verkleidete Nymphe wie auch als Thebanische Prinzessin gehasst (II.4, II.5).421 –––––––––––
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mummt; und Tugend kann / Nicht ohne Larve gehn / sol sie nicht Schifbruch leiden.« Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. Trauerspiel. Text der Erstfassung von 1661. Hg. v. Ilse-Marie Barth. Stuttgart 1965, IV, 84. »Ach! höre deinen Ruhm / dein Heil und glück / hör ihre Tugend und beruffne gaben / hör Freundschafft und geblüt / so dich an Orfeus bindt / hör selbst Eurydicen Verlangen / die blos den Orfeus wil umfangen / und laß einst die Vernunfft die schnöde glut begraben / die dein verblendtes herz entzündt. Trostlos schmachten in Knechtischem Band ist ein ruhm für schlechte geister / grosse herzen spielen Meister ob der Liebe verführischem Tand.« Bressand: Die sterbende Euridice, C2v. Denn die von Vernunft geleitete Liebe begehrt nichts Unmögliches und erlaubt nie, »etwas zu lieben, das wir nicht erhalten können, weil die erste Regel des menschlichen Willens darinnen bestehet, daß wir nichts begehren sollen, was uns unmöglich ist«. Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 288. Zitiert nach Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 164. »ARIST[ÄUS] Wilstu nicht / daß mein haß loßbreche / so laß mich ungestöhrt in meinem Thun / und den verhaßten Namen ruhn / sonst glaube / daß ich mich ohnfehlbar an dir räche.« Bressand: Die sterbende Euridice, (C4)v.
189 Die Hochzeit von Orpheus und Euridice beschließt die zweite Handlung. Trotz einer Retardierung in II.8, die bei Aristäus eine letzte Hoffnung weckt, – mitten in der Trauung erlöschen plötzlich die Fackeln des Ehegottes Hymen – findet die Zeremonie ein glückliches Ende. Nach dem Abzug der Hochzeitsprozession rechtfertigt die zur Rede gestellte Autonoe in II.9 ihren Verzicht auf die Giftverabreichung durch die angeblichen Bedenken, der Verdacht hätte sofort auf sie und Thya fallen und damit die Abneigung der Brüder gegen die beiden Frauen noch verstärken können. Symmetrisch zur ersten Handlung schließt Autonoe den letzten Auftritt. In einer moralisch-didaktischen Arie betont sie nochmals, dass der Weg zum Glück nicht durch Laster führen kann. Im Mittelpunkt der letzten Handlung des ersten Teils steht der Tod der Euridice. Kontrastierend dazu spielt die Handlung in einem locus amoenus. Wiederum sind es Thya und Aristäus, die ihren Liebesaffekt nicht durch die Vernunft beherrschen können und willentlich oder zufällig den Tod der Eurydice herbeiführen. Thya bittet den Zauberer Zarxis, eine giftige Schlange hervorzuzaubern, und befiehlt dem Ungeheuer, Euridice zu töten (III.1, III.2, III.3).422 Unterdessen arrangiert Aristäus, der sein Leiden nicht mehr ertragen kann, die Entführung der Euridice. Aristäus täuscht Reue vor, bittet Euridice um Verzeihung, verspricht der unerkannten Autonoe, zu seiner Braut zurückzukehren, und lädt Orpheus für den Zeitpunkt in seinen Bienengarten ein, an dem Euridice bekanntlich nach einem alten Brauch mit den Nymphen im Grünen spielen soll (III.4–III.6).423 Im Gegensatz zu Autonoe fällt seine Verstellung aber unter den Begriff der Simulation, worunter die illegitime Verletzung und Verdrehung der Wahrheit verstanden wurde.424 Die Szene der Entführung, die sich in III.11 abspielt, kontrastiert stark mit der lyrischen Szene des Abschieds von Orpheus und Euridice (III.7), mit der fröhlichen Fangspielszene mit Euridice und Nymphen (III.8) und insbesondere mit der Monologszene der Euridice, die den Ehestand preist. In III.10 erzählt Euridice, die von den Aristäus zu Hilfe eilenden Nymphen allein gelassen wird, der Natur von ihrer Liebe und ihrem Glück: ––––––––––– 422
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Die einzige mir bekannte Verwendung der Figur des Zauberers im Zusammenhang mit dem Orpheus-Mythos erfolgte in einem 1648 in Paris gedruckten Textbuch La grande Jovrnee des machines ov le mariage Dorphee e d’Evridice. Diese Tragedie en musique wurde 1640 von der Troupe Royale aufgeführt. Als Librettist wird de Chapoton vermutet. Allerdings ist es in diesem Textbuch Aristäus, der aus Rache den Tod der Eurydike beschließt und die Hilfe des Zauberers Eurodimion sucht. Ob Bressand diese Oper kannte, ist allerdings fraglich. Auch zur Ablenkung der Nymphen, die Euridice überall begleiten, denkt Aristäus eine List aus: »Die Bienen wil ich nun aus ihren Stöcken mit rauch und dampff selbst treiben aus / und drauf um hülff die Nymfen ruffen an / damit ich sie also von ihr nur wegziehn kan.« Bressand: Die sterbende Euridice, E2v. Zur Simulation bei spanischen Theoretikern des Tacitismus vgl. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 154.
190 Ihr lüffte / die ihr hier um diese gegend spielet / ihr Vöglein / die ihr auf den Zweigen springt / und / gleich wie ich / von eurer Liebe singt / ihr Schatten / die ihr vor der Sonne kühlet / und du / ô grünes Blätter-Zelt / lasst euch erzehlen die süsseste Vergnügung meiner Seelen / die lust / die meine Brust in güldnen banden hält. Angenehmer Tausch der Seelen / wie vergnügt ist dieser Stand; Glück und Ruh muß sich vermählen / nichts kan fehlen bey solch anmutreichem Band. Gleiche Liebe gleiche Treue ist die Losung unsrer Brust / so wächst täglich auf das neue ohne reue unsre süsse Liebes-lust. [BI, F3r]
In den Versen des Rezitativs wendet sich Euridice in einer Apostrophe an die personifizierten Winde, Vögel und Bäume, um in der anschließenden Arie die keusche, vernünftige425 aber nichtsdestotrotz inbrünstige eheliche Liebe zu preisen. Kontrastierend enthüllt sich in der folgenden Szene (III.11) die Liebe des Aristäus als sinnliche Begierde: Denn dich zu missen / und eines andern dich zu wissen / das nennt mein herz Unmöglichkeit. [BI, F3v]
Da Euridice sich weigert, mit Aristäus zu fliehen, zieht er sie mit Gewalt zu seinem bereitgestellten Wagen. Die rechtzeitige Rückkehr der Autonoe ermöglicht Euridice zwar die Flucht, die Fliehende tritt aber auf die verzauberte Schlange und wird tödlich verwundet. Bevor Euridice zum letzten Mal Orpheus sehen darf, nimmt sie Autonoe das Versprechen ab, diesem das Verhalten des Aristäus zu verheimlichen. Die letzten sechs Auftritte nehmen die Handlung des zweiten Teils vorweg. Orpheus nimmt Abschied von Euridice, die in seinen Armen stirbt (III.12). Schnell und sogar mit einem Selbstvorwurf426 entscheidet sich Orpheus für den Gang ins Totenreich. Der Liebesgott Cupido erscheint als Deus ex machina, um Orpheus bis zum Hölleneingang zu begleiten (III.13). Währenddessen verbreitet sich die Nachricht über das Geschehene. Dabei illustrieren die verschiedenen Reaktionen der Hauptfiguren die verbreitete zeitgenössische Auffassung, dass die Liebe als kardinale Leidenschaft in Verbindung mit Folgeaffekten auftritt:427 so sind bei Aristäus die Folgen des unkontrollierten Liebesaffektes Wut und ––––––––––– 425 426
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Darauf verweist die Metapher der Vermählung von Glück und Ruhe, die als Folgezustand der vernünftigen Liebe aufgefasst wurden. »Jedoch was schlag’ ich mich mit unfruchtbahren klagen? Mein Weinen bringt mein Licht nicht wiedrum auf die welt.« Bressand: Die sterbende Euridice, Gv. Vgl. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 265.
191 Hass gegen Autonoe,428 während ihre Liebe zu Aristäus mit Hoffnung kombiniert wird.429 Thya dagegen erfreut sich als einzige am Erfolg ihres Vorhabens. Der erste Teil des Librettos endet jedoch mit dem traurigen Refrain des Nymphenchores: Eurydice ist todt / und Orfeus ist dahin. [BI, G4v]
Auch der zweite Teil der ›Doppeloper‹ weist nach venezianischem Muster drei Akte auf. Die erste Handlung spielt in der Unterwelt. Nach der Trennung von Cupido am Fluss Acheron (I.1) und dem Lobgesang an die Liebe (I.2)430 wagt Orpheus allein seinen Gang ins Totenreich. Er besänftigt Charon (I.3) und ––––––––––– 428
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»Unsinnige / laß mich in Ruh. Du / du alleine / du bist ursach / daß die Schöne must’ erblassen. Ohn dich wär ich vergnügt / und sie im Leben / wenn du mich ohngehindert hättst gelassen / da ich mit ihr zur flucht mich wolte geben. Dich und Autonoe wil ich auf ewig hassen / und könt’ Eurydice gleich sterben hundert mal / und müst’ ich tausend Jahr hinleben mir zur qual / wil ich doch gegen der nie keine Liebe fassen.« Bressand: Die sterbende Euridice, G4r. »Mit Gedult wil ich ertragen alle schmerzen / alle pein / weil die Ursach meiner Plagen mir nicht kan zuwider seyn.« Bressand: Die sterbende Euridice, G4r. »Wie starck ach Liebe sind doch deine Ketten / Du führst mich hier an einen Ort / so nie kein Sterblicher noch hat betretten / wo so viel grauen tausend Schrecken kan der Verzagten Brust erwecken; Jedoch auf dein Geheis und Wort / befreyt von Furcht und von Erzittern / will ich betretten dieses Schrecken-Reich / ob dem man sonst auch nur dran denckend muß erschüttern zu sehen ob Euridice mein Leben / mir wieder auf die Welt zurücke werd gegeben. Kan ich für diese Wehrtste Leich um die ich mich so hefftig muß betrüben / kein neues Lebens-Licht erlangen. Will ich viel höher lieben diß dunckle Todten-Thal / das sie enthält / als gar der Sonnen-Prangen / als Himmel Menschen oder Welt. Laß den Vorsatz mir gelingen / Stehe mir O Himmel bey / laß mein Leyd die Höll durchdringen daß ich mög zurücke bringen / die Belohnung meiner Treu.« Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, Av–A2r.
192 dringt bis zum Gerichtssaal des Pluto vor. Die Nachricht über den Eindringling erreicht Pluto gerade in dem Moment, als Aeacus, einer der Richter der Unterwelt, das Urteil über Euridice spricht (I.4).431 Der anfängliche Aufruhr (I.5) weicht der Erzählung über die Wundertaten, welche die Musik des Orpheus in der Unterwelt geschehen lässt.432 Der Auftritt I.7 enthält die Schlüsselszene des Mythos – die Überredung Plutos. Dabei beschränkt sich Bressand in der Gestaltung der ›Rede‹ des Orpheus im Unterschied zu den anderen Librettisten nicht auf die Übernahme der Ovidischen Argumentation: die ›Rede‹ ist eine freie Übersetzung von Orpheus’ Gesang aus dem zehnten Buch der Metamorphosen. Zieltextorientiert transferiert Bressand Ovids Text in die musikdramatische Gattung, wodurch die Form der Vorlage zwar grundsätzlich verändert wird (das epische Versmaß wird durch die leichter zu vertonenden unregelmäßigen trochäischen Verse ersetzt), der Inhalt aber erhalten bleibt. Der folgende Vergleich von zwei Texten soll veranschaulichen, dass Bressand in die Gesamtstruktur seiner Vorlage nicht eingreift und dem Prätext teilweise bis auf die Wortebene folgt, obwohl er durchaus einzelne Partien amplifiziert, strafft oder verändert. Bei Ovid zeichnet sich Orpheus’ Rede, wie es für die meisten Expositionen zu den Büchern der Metamorphosen charakteristisch ist, durch eine ›nüchterne‹ und zurückhaltende Tonlage aus: [...] ‘o positi sub terra numina mundi, in quem reccidimus, quidquid mortale creamur, si licet et falsi positis ambagibus oris vera loqui sinitis, non huc, ut opaca viderem Tartara, descendi, nec uti villosa colubris terna Medusaei vincirem guttura monstri; causa viae est coniunx, in quam calcata venenum vipera diffudit crescentesque abstulit annos. ––––––––––– 431
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»In allen traf ich an viel Laster und Gebrechen / nur eine fand ich rein / die hieß Euridice, voll Zucht und Tugendschein / drum must ich ihr das Urtheil sprechen / daß sie gleich in die Eliseer Felder / in die vergnügten Seelen-Wälder versetzet solte seyn.« Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, A3r. Das Urteil des Unterweltgerichts wird nach dem strengen Abwiegen von Tugend und Laster gefällt, wobei sich das Kriterium für deren Unterschied als ein latent Christliches erweist. Im Druck wird dieser Auftritt irrtümlicherweise als dritter bezeichnet. Dieser Druckfehler hat allerdings keinen Einfluss auf die weitere Nummerierung der Auftritte. Diese entsprechen der vertrauten Ovidischen Darstellung der Wirkung von Orpheus’ Musik in der Unterwelt: »Ixion läst sein Rad / der Geyer die Leber steh’n / die er dem Titius stets pflegt zu nagen / der Sisyphus hält ein den schweren Stein zu dreh’n / die Beliden vom Wasser tragen / und Tantalus scheint nichts mehr nach den Durst zu fragen [...]«. Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, (A4)r.
193 posse pati volui nec me temptasse negabo: vicit Amor. supera deus hic bene notus in ora est; an sit et hic, dubito. sed et hic tamen auguror esse, famaque si veteris non est mentita rapinae, vos quoque iunxit Amor. per ego haec loca plena timoris, per Chaos hoc ingens vastique silentia regni, Eurydices, oro, properata retexite fata! omnia debemur vobis paulumque morati serius aut citius sedem properamus ad unam. tendimus huc omnes, haec est domus ultima, vosque humani generis longissima regna tenetis. haec quoque, cum iustos matura peregerit annos, iuris erit vestri: pro munere poscimus usum. quod si fata negant veniam pro coniuge, certum est nolle redire mihi: leto gaudete duorum.’433
Die grundsätzliche Schwierigkeit, in einer deutschen Versübersetzung der Knappheit des lateinischen Stils gerecht zu werden, und die Notwendigkeit der Umkodierung434 in eine andere Gattung machen sowohl Amplifikationen als auch stilistische Transformationen im Folgetext unvermeidlich. Die sich unregelmäßig abwechselnden trochäischen Acht- und Vierheber mit weiblichen oder männlichen Kadenzen und einer Mittelzäsur sowie das häufige Verwenden von Enjambement schaffen einen leichten, lockeren und zugleich würdevollen Rhythmus: ORPH[EUS] Mächtiger und starcker Pluto / Herrscher dieser Unter-welt / dem ein jeder der einmahl hat zu leben angefangen / unter seine Herrschafft fält. Ich bin nicht hieher gekommen dein erschröcklichs Reich zu sehn noch den Cerberus zu binden / der dir muß zu Dienste stehn / nein die Ursach meiner Reise ist nur eintzig meine Braut mein Euridice mein Leben / die als sie durch Hymens Bande mir noch kaum war angetraut / gleich durch einer Schlangen Stich / ihren Geist hat aufgegeben. leyder für mich allzufrüh / der das grausame Geschick ließ das schwartze Grab bereiten / in der besten Jahre-Blüh. PLUTO Wie künstlich mengt er seine Stimm und Seiten / ORPH[EUS] Zwar ich nahme mir wohl vor / mit Gedult mich drein zu finden / doch die Liebe muste gleich meinen Vorsatz überwinden / dieser Trieb wird dieser Orten wie ich glaub / auch seyn bekant / und wenn das Gerücht nicht lieget / hat auch dir sein süsser Brand / Proserpinen zugebracht / da du ehmahls sie geraubet / durch dies ungemessene Chaos / durch diß Schrecken-volle Reich / bitt’ ich und beschwere dich / daß mir von dir sey erlaubet / wiederum zu sehn im Leben die zu früh erblaßte Leich / PLUTO (Er sucht was grössers als er glaubet.) ORPH[EUS] wir so viel wir seynd im Leben fallen / dir doch alle zu ––––––––––– 433 434
Ov. met. 10, 17–39. Zum Begriff der Umkodierung vgl. Wolfgang Raible: Arten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens. Spielarten generischer Intertextualität. In: Text und Kommentar. Hg. v. Jan Assmann u. Burkhard Gladigow. München 1995, S. 51–73.
194 einer muß doch nach dem andern / in dein unvermeidlich Reich früher oder später wandern / und auch sie wird wiederkehren in die letzte lange Ruh / wenn du ihr gleich gönnen wirst längre Jahre zu beschliessen / sie wird dir doch nicht entgehn / gönne mir nur das Geniessen / noch auf eine kurtze Zeit; wann es aber nicht kan seyn / wenn es das Verhängniß wehret / wann es keine Möglichkeit/ daß mein Liebste wiederum mit mir in das Leben kehret / so soll mich auch keine Macht mehr von hinnen können treiben / so gib mir auch nur den Todt / daß ich sey mit ihr vereinigt / daß ich möge bey ihr bleiben. [BII, (A4)v]
Die auffälligste inhaltliche Transformation Bressands ist die Apostrophierung des Pluto statt – wie in Ovids Prätext – die aller Gottheiten der Unterwelt. Da Bressand in seiner Mythos-Verarbeitung auf die Figur der Proserpina verzichtet, ist diese Änderung durchaus logisch. In der Erstfassung des Textbuches von 1698 wird der »deus« der Vorlage (Ov. met. 10, 25) noch als »Gott« übersetzt und nicht durch »Trieb« ersetzt. Durch diese Änderung wird die für das Textbuch zentrale Auffassung der Liebe als Affekt stärker hervorgehoben. Bressand vermeidet durch das Weglassen der entsprechenden Verse die bei Ovid postulierte Allmacht der unterirdischen Gottheiten (»vosque humani generis longissima regna tenetis«, Ov. met. 10, 34–35) und verzichtet gleichzeitig auf die Licentia, mit der die Rede bei Ovid eingeleitet wird (Ov. met. 10, 19–20). Auch die drohend-beschuldigende Attitüde, mit der Ovids Orpheus seinen Gesang abschließt, weicht bei Bressand einer einzigen Bitte um den Tod. Am auffälligsten sind aber die Erweiterungen einzelner Teile des Prätextes, die entweder aus einer frei paraphrasierenden Wiedergabe (Bressand, Verse 5, 11, 16, 17) oder aber aus inhaltlichen Amplifikationen (Bressand, Verse 8, 26, 30, 31, 33) resultieren. Insbesondere letztere führen im Vergleich zur zurückhaltenden Schilderung Ovids zu einer Steigerung bei der Darstellung des Liebesaffekts. Dies wird zusätzlich durch die eingeschobenen kommentierenden Worte des Pluto verstärkt, welche die unmittelbare Wirkung von Orpheus’ Gesang illustrieren. Wie bei Ovid ist Bressands Pluto gerührt und bereit, Orpheus’ Bitte zu erfüllen,435 stellt allerdings die bekannte Bedingung: Orpheus darf seine Gattin auf dem Rückweg aus dem Hades nicht anschauen. Darüber hinaus befiehlt Pluto seinen Dienern, Orpheus zu Euridice ins Elysium zu bringen und ihm – im Sinne der Lehre über den Zusammenhang der Affekte – zu erzählen ––––––––––– 435
»Gnug Orpheus du hast obgesiegt / dein kläglicher Gesang kan selbst die Hölle zwingen / du solt Euridicen ins Leben wiedrum bringen. Ich breche selbst die Ordnung des Geschicks / damit du seyst vergnügt.« Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, Bv.
195 des Aristaeus und der Thya Liebe / die jenen zur Verwegenheit und diese zu der Grausamkeit / und beyde zu den Laster triebe. [BII, Bv]
Das anschließende lange rezitativische Erzählen des letzten Auftritts (I.8) hat unter anderem die Funktion, die Figurenkonstellation und Handlung des ersten, am Tage vorher aufgeführten Teiles, ins Gedächtnis der Zuschauer zurückzurufen. Die Handlung des zweiten Aktes beginnt im Elysium. Als einziger unter den Eliseischen Geistern sehnt sich Euridice trotz der Wonne des Elysiums nach ihrem Geliebten (II.1). Nach dem glücklichen Wiedersehen von Orpheus und Euridice gibt ihnen Aeacus einen letzten Hinweis auf den Rückweg mit (II.2): Orpheus darf Euridice nicht anschauen, denn ihm will nicht gebühren / zu sehen eine Seel die nicht mehr sterblich heist [...].436 [BII, (B4)r]
Die Geister der Unterwelt preisen die Treue und die Liebe, die den Tod überwinden. Aber auch für die humorvolle Betrachtung des Geschehenen findet sich Platz (II.3): EIN ANDER ELISÄISCHER GEIST Hier an diesen glückseeligen Orten / trägt manche Seele Neid ob Euridicen Glück / jeder Orpheus beklagt uns mit Worten / doch keinem gehts so nah / daß er uns holt zurück / CHOR DER ELISÄISCHEN GEISTER Dessen Ursach ist leicht zu ermessen / er hat kaum einen Tag genossen ihrer Zier / hätt er erst nur ein Jahr sie besessen / so hätt er sie gewiß bey uns gelassen hier.437 [BII, (B4)v]
Unterdessen betrauert die Oberwelt das Schicksal von Orpheus und Euridice. Vor allem die Gefühle des Aristäus sind verwirrt: auch wenn er Reue verspürt, ––––––––––– 436 437
Bressand gehört zu den wenigen Autoren, die eine Erklärung für die rätselhaft anmutende Bedingung Plutos geben. In ihrer komisierenden Deutung des Mythos knüpfen die Chorverse an die zeitgenössischen misogynen Orpheus-Epigramme an. Vgl. exemplarisch Orpheus von Andreas Tscherning und Von Orpheo und Eurydice von Friedrich von Logau: Orpheus. Der Orpheus hat sein Weib hieher vom tode widerbracht. Kein Weib hat jemals ihren Mann von dannen loßgemacht. Andreas Tscherning: Orpheus. In: Gedichte des Barock. Hg. v. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 82. Von Orpheo und Eurydice Niemand um ein todtes Weib fährt zur Höll in unsren Jahren; Aber um ein lebend Weib wil zur Hölle mancher fahren. Friedrich von Logau: Von Orpheo und Eurydice. In: Ders.: Salomons von Golaw deutscher Sinn-Gedichte drei Tausend. Breslau 1654, S. 201. Zitiert nach: Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke. CD-ROM-Ausgabe (Directmedia). Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 75).
196 sich die Schuld für Orpheus’ Unglück gibt und den Liebesaffekt verurteilt,438 kann er trotz der Ermahnungen der Autonoe nicht von der unvernünftigen Liebe zu Euridice lassen (II.4, II.5). Die Sequenz des zweiten Verlusts der Euridice (II.6, II.7) gestaltet Bressand als Kombination der Versionen Ovids und Vergils. Freude und Zweifel daran, ob er die Gattin tatsächlich zurückgebracht habe, zwingen Orpheus, sich umzudrehen. Die entschwindende Euridice kennt keine Vorwürfe, Orpheus dagegen gibt seiner Ungeduld die Schuld.439 Seine Versuche, erneut in die Unterwelt abzusteigen, werden der Reihe nach von einer Stimme aus dem Berg, einem »grausamen höllischen Ungeheur« [BII, C3r], das sich vor die Öffnung des Berges legt, sowie schließlich von einem Felsstück, das herabfällt und den Berg schließt, verhindert. Unterdessen eilen, von Cleon, der Zeuge von Orpheus’ Rückkehr gewesen ist, unterrichtet, die Nymphen und die Thrakier zum Berg Rhodope (II.8). Als Thya und Aristäus vom endgültigen Verlust der Euridice erfahren, täuschen sie Trauer und Mitgefühl vor. Dieses unwürdige Verhalten veranlasst den trostlosen Orpheus dazu, ihre Schuld und ihr Verbrechen den Nymphen offen zu legen. Der Zorn der Nymphen wendet sich gegen Aristäus: sie schwören Rache und beschließen, seinen Bienengarten zu zerstören. Aristäus, dem Orpheus die Brüderschaft kündigt, geht verzweifelt ab. Thya dagegen versucht, die Tat durch ihre Liebe zu Orpheus zu rechtfertigen. Dadurch zieht sie nur den ganzen Hass und die Verzweiflung des Sängers auf sich. Orpheus sagt den Frauen ab: Pack dich / du Ungeheur / du Scheusal der Natur / dich will ich über alles was ich hasse / hassen / dich will ich stets zu fliehen und zu meyden suchen; so lang mein Schmertz mir wird an noch das Leben lassen / will ich nichts anders thun / als dich verfluchen / und weil die Liebe dich verleitet wider recht / durch meiner Liebsten Todt mir nachzutrachten / wil ich das gantze Weibliche Geschlecht / deinetwegen scheuen und verachten [...]. [BII, (C4)v]
Thya kann die Verschmähung und Verachtung des Orpheus nicht ertragen. In II.9 entschließt sie sich, den Bacchantinnen während des Bacchus-Festes über Orpheus’ Frauenhass zu erzählen und sie zur Rache anzustiften. Das einmal ––––––––––– 438
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»Nur du verfluchte Lieb / hast Schuld an allen Plagen / die mir das Hertz abnagen / drum will hinfort ich deinen Trieb / verfluchen und verschweren / und mich in meinem Leid selbst nach und nach verzehren [...]«. Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, Cr–Cv. »Verfluchte Ungeduld du raubest mir Vergnügung hertz und Leben / daß ich nun muß in stetem Unglück schweben / ist bloß nur deine Schuld [...]«. Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, C3r.
197 begangene Verbrechen »reizt« sie »zu grössern Lastern an«, zumal sich ihre Liebe in Hass umkehrt: Weich / entweiche verworffene Liebe / raum die Stelle verzweiffelter Wut / der durch Hassen zum Hassen mich triebe / fühle nun meiner Verbitterung Glut [...]. [BII, Dr]
Die plötzliche Umkehrung der Liebe in den konträren Affekt des Hasses steht im Einklang mit dem Grundsatz über das Verhältnis konträrer Leidenschaften, der in den Affektenlehren und moraldidaktischen Traktaten des 17. Jahrhunderts eine große Rolle spielt.440 Dieser besagt, dass der stärkste Affekt immer die Oberhand gewinnt und somit, wie am Thyas Beispiel ersichtlich ist, den entgegengesetzten schwächeren Affekt aufheben kann. Der letzte Akt des Librettos beginnt mit der Szene des ›Naturtheaters‹. Nachdem Orpheus den Trost seines Vertrauten Cleon verweigert hat (III.1), bleibt er allein in einer Einöde und stimmt sein letztes Lied zu Ehren der Euridice an (III.2): Ach wie schnell bistu entwichen / meines Lebens aufenthalt / zweymahl hab ich dich bekommen / zweymahl wardstu mir genommen / zweymahl bistu auch erblichen so durch Tods als Liebs Gewalt / ach! wie schnell bistu entwichen / meines Lebens Aufenthalt. [BII, Dv]
Durch die Wiederholung der Apostrophe der Geliebten in den zwei ersten und zwei letzten Zeilen sowie die Anaphern in den Zeilen drei bis fünf kommt nicht nur die Verzweiflung des Orpheus expressiv zum Ausdruck. Hervorgehoben wird auch die sechste Zeile, die den Topos der Verbundenheit von Eros und Thanatos aufgreift. Tiere, Bäume, Flüsse, Felsen und Vögel werden durch das Trauerlied angezogen und hören dem Sänger »gleichsam ganz erstaunend« [BII, D2r] zu. Eine seltsame Müdigkeit ergreift anschließend Orpheus; er wird von den rasenden Mänaden unter Thyas Führung im Schlaf umgebracht (III.3).441 Entsprechend der Version Ovids werden die Bacchantinnen in III.4 von Bacchus in Bäume verwandelt. Im Unterschied zu ihrer Vorgängerin Crinise442 ––––––––––– 440
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Vgl. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 246. Direkt auf die Liebe wird dieses Verhältnis in den französischen Romanen und Liebestraktaten übertragen, die eine enge wechselseitige Abhängigkeit von Liebe und Hass postulieren: »Wer für seine Liebe keine Gegenliebe findet, sollte die Geliebte hassen [...]«. Luhmann: Liebe als Passion, S. 86. Im Druck wird dieser Auftritt als »Anderer« bezeichnet. Der Druckfehler blieb unbemerkt, so dass die falsche Nummerierung fortgesetzt wurde. In der vorliegenden Arbeit wird die fehlerhafte Nummerierung durch die richtige ersetzt. Figur aus dem anonymen Wolfenbütteler Libretto Der beständige Orpheus. Zu diesem Textbuch vgl. Kap. 3.4 der vorliegenden Arbeit.
198 spürt Thya kein Bedauern und keine Reue, denn »das grimm-erboste Hertz höft keine Lieb mehr an« [BII, D2v]: Endlich muste doch erhaschen / den Verächter meine Rach / die von ihm erlittne Schmach läst sich nur mit Blute waschen[...]. [BII, D3r]
Dagegen zeigt sich Aristäus so sehr von Reue und Verzweiflung erfüllt, dass um sein Leben gefürchtet werden muss (III.5). Nach einem Selbstmordversuch des Aristäus, den Autonoe rechtzeitig verhindert (III.6), kommt als Deus ex machina dessen Mutter Cirene zur Rettung (III.7). Cirene tadelt ihren Sohn für das Laster der Verzweiflung, entlastet ihn aber von den Selbstbeschuldigungen: ARIST[ÄUS] Ah! Mutter diß ist meiner Laster Lohn / es ist das treuste Paar durch meine Schuld erblichen / CIR[ENE] Zwar deine Thorheit hat auf Abweg dich gebracht / daß du von der Vernunfft gewichen / doch hast du nie nach ihrem Todt getracht / und dein gröst Laster ist / das du zu sehr geliebet / was alle dreye hat betrübet. [BII, Ev]
Vor allem quält Aristäus aber der Verlust seiner Bienen, der »Gabe, die sie [die Nymphen] [ihm] zu [seinem] Ruhm geschenkt« [BII, Ev]. Cirene rät ihm, sowohl die Seelen von Orpheus und Euridice als auch die Nymphen mit Opfern zu versöhnen und sich wieder seiner königlichen Braut zuzuwenden, zu der ihn Merane bereits an selbem Tag führen könne. Obwohl sich Aristäus durch Cirenes Worte irritiert zeigt und in Autonoe immer noch die einfache Nymphe Merane sieht, spricht er bereits mit Entzücken von seiner Braut: Merane was hab ich vernommen! ist wohl Autonoe hier angekommen / daß du sie mir noch heut sollst können lassen sehn? Ach! schaff mir eylends solches Glücke / zu schauen die geliebten Blicke; sonst muß mein Hertz aus Ungedult vergehn. [BII, E2r]
Seine seelische ›Metamorphose‹ erklärt Aristäus mit dem durch die Lehren der Mutter wieder erwachten Pflichtbewusstsein.443 Auch wenn die äußeren Umstände viel zur Wandlung seiner Affekte von der unvernünftigen zur vernünftigen Liebe beigetragen haben, ist die Umlenkung des Affektes auch sein Verdienst. Aristäus wird schließlich mit Verzeihung und der Liebe seiner Braut Autonoe belohnt (III.8). ––––––––––– 443
»AUTON[OE] Wie kan dein Sinn dich so verkehren? ARIST[ÄUS] Diß wircket meine Pflicht / und der Cirene Lehren. AUTON[OE] Ist es nicht wiederum verstellte Reu? ARIST[ÄUS] Nein / nein ich schwör / ihr ewge Treu! Führ mich nur hin wo ich sie sehen kan [...]«. Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, E2r–E2v.
199 Die beiden letzten Auftritte sind der Apotheose des Orpheus gewidmet. Sein Haupt und die Lyra schwimmen im Fluss Hebros und »geben ein sanfftes Gethön von sich / aus welchen man den Nahmen Euridice vernimmet« [BII, E3r]. Während das Haupt von Thraziern gerettet wird, fliegt die Lyra zu den Sternen (III.8). Das Drama endet mit dem Erscheinen des Sonnengottes Apoll, der das glückliche Ende herbeiführt. Er verzeiht seinem Sohn Aristäus und verkündet, dass Orpheus und Euridice nun ihr Glück auf der Insel der Seligen genießen. Ferner verwandelt er die Leier des Sängers in ein Gestirn, womit er Orpheus’ »Angedencken / zum Beyspiel wahrer Treue macht« [BII, (E4)r]. Aber nicht nur die Treue, sondern auch »Tugend Kunst und Wissen« [BII, (E4)r] soll dadurch verewigt werden. Der feierliche Schluss beinhaltet den Tanz – die Lyra steigt herab und öffnet sich, damit die elf Tänzer, die die Sterne darstellen, einen Entree aufführen können – und die Partie des gesamten Chores. Tugend und wahre Liebe werden gepriesen, die Kernaussage ist aber dem Schlusssatz zu entnehmen: Keine Zeit soll je begraben Orpheus Treu und Wunder-Gaben. [BII, (E4)v]
3.6.3. Poeta doctus. Orpheus als Referenzfigur des Dichters Die Analyse von Bressands Orpheus-Textbuch ergab folgende Struktur der Verlaufsstadien. Als einziger der bisher betrachteten Texte weist Bressands Libretto eine vollständige Übernahme von allen Verlaufsstadien der Sequenzen II und III auf.444 Lediglich das zehnte Verlaufsstadium wird geteilt: die Unterweisung der Menschen in den göttlichen Lehren wird vorgezogen, während die Szene, in der Orpheus die Natur verzaubert, chronologisch korrekt wiedergegeben wird. Weder Inversionen noch Substitutionen finden statt. Die Neuerungen bestehen ausschließlich in den zahlreichen Amplifikationen der Verlaufsstadien. Diese erfolgen hauptsächlich dank der Einführung der neuen Figuren Thya und Autonoe und den mit ihnen verbundenen Nebensträngen. Auf der inhaltlichen Ebene haben sie eine starke Akzentverschiebung zur Folge. Die Frage nach der Funktion der Amplifikationen bei der sonst vollständigen Beibehaltung der ›idealtypischen‹ Verlaufsform lässt sich nur von der inhaltlichen Seite ausgehend nicht eindeutig beantworten. Den ersten Interpretationshinweis liefert der Autor selbst: in einem Scherzgedicht an den Wolfenbütteler Erbprinzen August Wilhelm beschreibt er – auf die eigene Hochzeit bezogen – die Regeln zur Verfassung einer Oper. Das erste und grundlegende ›Stichwort‹ bei der inventio und dispositio einer Oper, das Vorrang vor der unbedingten »Ausschmückung« mit Musik, Tänzen, »Flügen und Machinen« sowie »Verwandlungen« der Bühne hat, heißt »Intrige«: ––––––––––– 444
Offensichtlich stieß die Sequenz I bei den Autoren von dramatischen Texten auf wenig Interesse. Sie fand in keinem der im Rahmen dieser Arbeit behandelten Texte Berücksichtigung. Vgl. Anm. 42 Kap. 3.1.2.
200 Ich hab ein’ Opera zu spielen vorgenommen / Durchleuchtster / die mir nicht hat schlechte müh gemacht / darüber schlaflos ich lag manche halbe Nacht / eh die intriguen recht zu Ende wolten kommen / weil sie so sehr verwirrt / daß ich mich kaum drein fand / und mit dem Anfang fast das End zusammen band. Der Inhalt ist gemein / weil alle welt ihn kennet / er handelt von der Lieb / wie jedes Schau-Spiel pflegt / und läufft auff freyen aus / das solche Lieb’ erregt; Personen seind nur zwey / davon das Spiel sich nennet / ob gleich viel andre mit dabey sich mischen ein / so werden sie doch nur zur Nebenhandlung seyn.445
In der Tat entsprechen die Anforderungen, welchen Bressand jeweils eine Strophe seiner scherzhaften Aufzählung zuordnet, denen der venezianischen Oper, die sich am Ende des 17. Jahrhunderts in ihrer Eigenschaft als Intrige- und Affektenoper die Vorherrschaft in der europäischen Opernlandschaft eroberte. Sie zeichnete sich u. a. durch den Verzicht auf die Regeln der Aristotelischen Poetik, die Vermischung unterschiedlicher Stilhöhen und nicht zuletzt durch die Einführung von mehreren parallellaufenden Handlungssträngen aus. Zum Typus avancierte die Konstellation einer verwickelten Liebesintrige von zwei Paaren, die häufig von einer ins Komische gezogenen Liebesbeziehung der Diener kontrapunktiert wurde. Die Dramaturgie der Intrige bestand u. a. in einer »raschen wechselnden Folge von Szenen unterschiedlichster Affekt- und Personenkonstellationen, [in einer] metrischen Vielfalt des Textes, der Fülle charakteristischer Szenen wie etwa der Geisterbeschwörung [...]«446. Bressands Orpheus trägt dem venezianischen Muster offensichtlich Rechnung. Im dreiaktigen Aufbau jedes Teils, in der Verknüpfung von Szenen und neuen Beziehungen oder in der Gestaltung des obligatorisch prunkvollen Abschlusses folgt Orpheus der Tradition. Die Erklärungen zur ›Invention‹ in den zahlreichen Vorreden zu seinen anderen Opern zeugen davon, dass Bressand davon ausgeht, dass die Oper ihre eigenen gattungskonstituierenden Gesetze hat, deren erstes eine abwechslungsreiche Handlung ist. Diese entsteht durch die Erfindung und das Hinzufügen von neuen Figuren, Episoden und Handlungssträngen.447 Die Vorreden legen darüber hinaus nahe, dass Bressand in seinem ––––––––––– 445 446 447
Bressand: Hochzeit-Briefe, Cr. Silke Leopold: [Artikel] Das italienische Libretto. In: MGG2 5, Sachteil, (1995), Sp. 1125. Vgl. z. B. die Rechtfertigung der neuen Handlungsstränge in der Ariadne: »Die Episodia von Menesthas / Merope / Pasiphaë und Rhadamantus seind darum erfunden / um eine mehrere abwechslung der stimmen zu machen / welche diese art Schauspiele zu erfordern scheinet.« (F. C. Bressand: Ariadne auf dem Braunschweigischen Schauplatz singend vorgestellet [...]. Wolfenbüttel 1692, Vorbericht iiiv.) Auch die ›Eingriffe‹ in den Mythos werden mit dem Gattungszwang gerechtfertigt: »Wo sonst der Fabel nicht allerdings nachgegangen worden / hat es die Nothwendigkeit des Schauplatzes erfordert / welche unterweilen allen andern regeln vorzuziehen ist.« (F. C. Bressand: Die Plejades [...] in einem Sing-Spiele auf Dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet [...]. Braunschweig 1693, Vorbericht iiir.) »Wer den Ovidium gelesen / wird leichtlich finden / worin ich selbigem gefolget / oder was für Umstände ich nach Erforderung des Schau-Spieles verändert habe.« (F. C. Bressand: Echo und Narcissus, in einem Sing-Spiele auf dem Braunschweigi-
201 Schaffen nicht nur durch die Anforderungen der Gattung, sondern auch durch die seines Gönners und Brotgebers, des Herzogs Anton Ulrich, gebunden war.448 Allerdings hat bereits Degen im Zusammenhang mit dem erwähnten ›Gattungszwang‹ auf eine Besonderheit von Bressands Libretti hingewiesen. Diese besteht darin, die beiden zu Bressands Zeit führenden Opernformen, die venezianische und die französische, miteinander zu kombinieren.449 So überwiegen Anfangsarien bzw. Arien innerhalb der Szenen vor den Abgangsarien, es gibt zahlreiche Chorszenen, und die Tänze sind durchgehend mit der Handlung verwoben. Das Interesse an der französischen Oper erklärt sich dabei aus dem allgemein sehr starken französischen Einfluss am Wolfenbütteler Hof.450 Entscheidend für die ›Synthese‹ der Bressandischen Libretti scheint allerdings nicht allein die Form, sondern auch die inhaltliche Komponente zu sein. Statt den »zufälligen«451 venezianischen Aufbau nachzuahmen, als dessen Folge Anton Ulrich die inhaltliche Oberflächlichkeit bemängelte, orientiert sich Bressand am französischen Klassizismus und strebt danach, die Operntexte »spirituel« und »galand« zu gestalten, um dem Geschmack des Herzogs und des Publikums zu entsprechen.452 Degen ist ausführlich auf das Gleichgewichtsverhältnis zwi–––––––––––
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schen Schau-Platze vorgestellet [...]. Braunschweig1693, Vorbericht )(3r.) Die »wahrscheinlich darzu gedichteten Umstände /« »seynd auszierungen / welche trefflich darzu dienen / eine Theatralische vorstellung zu ihrem zwecke / und durch erdichtete Umstände zu dem ausgang zu führen / welchen die Historie an die Hand gibet.« F. C. Bressand: Porus, Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet [...]. Braunschweig 1693, Vorbericht iiir–iiiv.) So erklärt Bressand etwas verschleiert in der Vorrede zu Echo und Narcissus: »Weil von mir begehret worden / daß ich beyde Fabeln in eine ziehen solte / muste ich die Zeit ein wenig übereilen / und was sonst nach einander geschehen / in eine Begebenheit bringen«. (Bressand: Echo und Narcissus, Vorbericht iiir.) Im Vorbericht zu Jason drückt er sich eindeutiger aus: »Der prächtige Seneca und nach ihm der wolausdenkende Corneille haben erwehnte traurige begebnüs bereits mit gutem Fortgange auf den Schauplatz gebracht: deren Fußstapfen man auch näher würde nachgefolget seyn / wenn nicht ein solcher Mund / welchem zu widersprechen eine Unsinnigkeit wäre, einige andere Umstände dabey vorgeschrieben hätte / welche aber nur zu mehrer auszierung des Schauplatzes / auf welches stück in denen Sing-Spielen zweiffelsohne die meiste absicht zu haben / dienen werden.« (F. C. Bressand: Jason, Singe-Spiel / auf Dem Braunschw. Schauplatz vorgestellet [...]. Braunschweig 1692, Vorbericht iiir.) Vgl. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 154f. Degen verweist u. a. auf die Übersetzungen der französischen Klassiker, die Bressand im Auftrag von Anton Ulrich gefertigt hat, sowie auf die Tatsache, dass J. S. Kusser, der bis 1694 Kapellmeister am Hof war und Bressands Libretti vertonte, ein Schüler von Jean-Baptiste Lully war. Auch die ersten gesicherten szenischen Aufführungen der Opern Lullys in Deutschland fanden am Wolfenbütteler Hof statt (Proserpine 1685, Psyche 1686, Thésée 1687). Zur deutschen Rezeption Lullys vgl. Herbert Schneider: Opern Lullys in deutschsprachigen Bearbeitungen. In: Die frühdeutsche Oper und ihre Beziehungen zu Italien, England und Frankreich. Mozart und seine Zeit. Hamburg 1981 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 5), S. 69–80. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 155. Vgl. das Urteil des Herzogs über die paduanischen Opern während seiner zweiten Reise in die Lagunenstadt: »Icy commenceront bientot les Opera, je voulois que vous fussiez pré-
202 schen dem Inhaltlichen und Formalen bei Bressand eingegangen.453 Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit lässt sich allgemein sagen, dass Bressand nicht mechanisch das venezianische Schema übernimmt, sondern die Beziehungen der Figuren untereinander individuell gestaltet und immer motiviert.454 Eine weitere Besonderheit ist die von Bressand angestrebte – und in den Vorreden immer wieder betonte – Korrektheit, mit der er dem mythologischen Sujet folgt. Diese antike Fundierung war wohl u. a. dafür ausschlaggebend, dass Bressand bei seinen Zeitgenossen als poeta doctus galt und dies in seiner Selbstdarstellung akzentuierte.455 Die Erfordernisse dieser dichterischen Selbstinszenierung sind wohl ein Grund dafür, dass Bressand in den Vorreden zu seinen Textbüchern so großen Wert auf die Betonung der möglichst getreuen Wiedergabe des Mythos legte. Die Ursachen für Änderungen, falls solche vorgenom–––––––––––
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sent, l’opera de Piazzola estoit fort magnifique, mais point du tout spirituel ny galand, quand je seray un jour chez nous, je la veu imiter, bien que mon plus habil comedien est mort.« Brief von Anton Ulrich an August Wilhelm, 4/14 November 1681. Zitiert nach Mazingue: Anton Ulrich, S. 112. Vgl. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 71ff. So erörtert Bressand in der Vorrede zu Atalanta: »Den Theseus zugleich in zwo Schwestern verliebt zu machen / scheinet eben seinem charactere, der ihm von den alten Poeten und Geschichtsschreibern beygelegt wird / nicht zu wider / da er jederzeit sehr unbeständig in seinen Liebes-Neigungen eingeführet wird / und absonderlich Plutarchus in dessen Leben / unterschiedliche / die er nach einander geliebet / erzehlet.« (F. C. Bressand: Atalanta, Oder die verirrten Liebhaber [...]. Braunschweig 1698, Vorbericht x3r–x3v.) In Echo und Narcissus heißt es über Jupiter: »Hier wird selbiger eingeführet unter dem Namen und Gestalt Pirantes, eines Schäfers / weil doch dergleichen Verwandlungen in seinen Liebes-Händeln ihme gantz gemein waren.« (Bressand: Echo und Narcissus, Vorbericht iiir.) Die Bedeutung dieser Forderung für die Textqualität wird besonders deutlich beim Vergleich des Orpheus mit einer seiner Vorlagen – dem Libretto von Aurelio Aureli, das höchstwahrscheinlich von Bressand übersetzt wurde. Zu diesem Textbuch vgl. ausführlicher Anm. 465 in diesem Kapitel. Postel schreibt in seinem Gedicht auf Bressands Tod: »Ich darff euch nicht erzähln wer er im Leben war / Dieweil ihr alle wißt daß Pallas ihn erzogen / Nachdem er war gewiegt selbst von der Musen Schaar / Und auf dem Pegasus den Parnaß durchgeflogen. Daß ihm der Griechen Witz und edle Sprache kund; Des ewig grossen Roms geredet beide Zungen; Von keinem Gallier in Zierde ward verdrungen; Dabei doch Teutschland ihm gezieret Hertz und Mund.« Chr. H. Postel: Unverweßliche Ehren-Säule [...]. Hamburg 1699. Auch der Autor des Gedichtes zu Bressands Hochzeit, ein Johann Thalheim, betont vor allem dessen Gelehrsamkeit: »Der Sprachen Wissenschafft / so Zeit und Fleiß erlangt / Die Thaten alter Welt / der Künste kluges Wesen; Und was vor Weißheit mehr in seinen Schrifften prangt / Das hat Er jederzeit begierig draus gelesen«. J. C. Thalheim: Die / von den Himmel Beschlossene Heyrath / Wolte Bey ehlicher Verbindung Des WolEdlen / Best / und Hochgelahrten Herrn Friderich Christian Bressands [...]. Wolfenbüttel 1696.
203 men wurden, waren entweder handlungs- und bühnentechnisch bedingt, also formaler Natur, oder geschahen auf Wunsch des Herzogs. Allerdings gestattete Bressand die gleichzeitige Benutzung von mehreren Quellen, vor allem von mythologischen Kompendien, einen relativ breiten Spielraum für die ›Invention‹ und erlaubte es, die eingeführten Handlungsstränge glaubwürdig zu gestalten.456 Letzteres geschah überwiegend durch die Verknüpfung mehrerer Mythen, deren Gestalten zumindest theoretisch in Berührung kommen könnten, wobei vor allem die Namen und die Beziehungen der Figuren unverändert zu bleiben hatten.457 Gänzlich neu erfundene Figuren, vor allem in ihrer Funktion als Träger der Nebenstränge, sind bei Bressand äußert selten. In Orpheus ist es die Figur der Thya, welche meines Wissens in keiner Quelle nachweisbar ist. Allerdings scheint ihr Name vom lateinischen thya oder thyias – Bacchantin oder Mänade – abgeleitet und somit sprechend zu sein.458 Als Prätexte dienen Bressand in erster Linie Ovid und Vergil: er übernimmt den Kernverlauf der bei den beiden lateinischen Autoren überlieferten My––––––––––– 456
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In den Vorreden erwähnt Bressand nicht selten seine Quellen, so z. B. in der Vorrede zu Atalanta: »Wie weit nun denen fußstapfen der alten in Eintheilung dieser Erfindung nachgefolget worden / kan der günstige Leser ersehen / wenn er dasjenige / was nebst dem schon erwehnten Plutarcho, Diodorus Virgilius und Ovidius davon berühren / mit einander zu vergleichen sich bemühen wil.« (Bressand: Atalanta, Vorbericht x3r–x3v.) In Hercules unter denen Amazonen heißt es in Bezug auf die Quellen: »Wer sich die mühe nehmen wil / was Diodorus Siculus, Appianus, Jornandes, Justinus, Seneca Tragicus, Lilius Giraldus, und andere / von der Amazonen und des Hercules geschichten uns hinterlassen / nachzulesen / wird finden / worin ich selbigen gefolget / und was für umstände ich zu mehrer auszierung und angenehmer vorstellung des Schau Spieles verändert habe.« (F. C. Bressand: Hercules unter denen Amazonen / Singe-Spiel [...]. Wolfenbüttel 1693, Vorbericht iiir.) Es ist folglich zu vermuten, dass Bressand sein Wissen mehr aus den sekundären Nachschlagewerken als aus den Primärquellen antiker Autoren schöpfte. Indirekt Zeugnis davon geben die Einträge in den Ausleihbüchern der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. So verzeichnen die Bücher für die Dauer von Bressands Aufenthalt am Hof sein Interesse für die italienische Übersetzung von Boccaccios Genealogiae, die Nova iconologia von Cesare Ripa, Opera von Lilio Gregorio Giraldi sowie Mythologie von Natale Conti. Unter antiken Autoren hat Bressand mehrmals die Werke von Homer, die Römische Geschichte des Titus Livius, Ovids Metamorphosen sowie dessen andere Werke, Werke von Sueton, Tacitus, Vergil, Lukan, Diodor, Herodot, Justin und Plutarch, und die Argonautica von Apollonius Rhodius ausgeliehen. Dabei fällt auf, dass die Häufigkeit der Ausleihe von antiken Autoren mit den Jahren abnimmt, während die Werke der ›Mythologen‹ immer häufiger konsultiert werden. Dies hängt allerdings nicht unbedingt mit Bressands wachsendem Aufgabenspektrum am Wolfenbütteler Hof zusammen, denn die Einträge legen sein später entstandenes breites Interesse für die zeitgenössische italienische und französische Literatur sowie für die Emblematik offen. Vgl. M. Raabe: Leser und Lektüre vom 17. zum 19. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1664–1873. Braunschweig 1998. Bd. 1, S. 82ff. So Bressands Erklärung zu Echo und Narcissus: »Asteria und Cilene, welche hier eingeführet werden / seynd nicht erdichtete / sondern bey denen alten Poeten schon bekandte Namen / und melden selbige / daß Jupiter diese beyde Nymfen geliebet habe.« Bressand: Echo und Narcissus, Vorbericht iiir. Ein Begriff, der auch in die mythologischen Handbücher Eingang gefunden hat. Vgl. z. B. Schaevius, S. 785: »Thyas: mulier sacerdos Bacchi, qvae & Bacchis & Maenas: plur. Tyades«.
204 thos-Versionen. Die produktive Rezeption von Ovids Metamorphosen wird durch die freie Übersetzung von Orpheus’ Gesang (Ov. met. 10, 17–39), die nicht zuletzt als aemulatio veterum zu verstehen ist, zusätzlich erweitert. Die ›ausschmückenden Details‹ – wie z. B. die Schilderung von Orpheus’ Priestertum – sind höchstwahrscheinlich über mythologische Nachschlagewerke indirekt anderen antiken Überlieferungen entnommen. Wenn auch die Liebeshandlung um Autonoe und Aristäus neu erdichtet ist, erscheinen die Handlung, ihre Situierung und Verknüpfung mit der Orpheus-Geschichte äußerst plausibel und mythologisch sogar begründet: sowohl die Nachschlagewerke als auch die Primärquellen weisen Autonoe als Tochter des Kadmus, Schwester der Semele – der Mutter von Dionysos – als Gattin des Aristäus und Mutter des Akteon nach.459 Die beiden Nebenstränge (der Thya- und der Autonoe-Strang) sind somit hauptsächlich durch den ›Gattungszwang‹ ins Leben gerufen. Dabei dient die Figur der Thya in erster Linie der psychologischen Motivierung des mänadischen Hasses, während Autonoe zur ›Bereicherung‹ der Handlung eingeführt wird. Inwieweit aber die beiden neuen Stränge dichterische Erfindungen von Bressand sind, lässt sich nicht eindeutig feststellen, denn gerade in Bezug auf die Inanspruchnahme des Orpheus-Mythos für ein Textbuch bestand am Wolfenbütteler Hof eine verhältnismäßig reiche Tradition, auf welche Bressand zurückgreifen konnte und sehr wahrscheinlich auch musste. Zwei der Wolfenbütteler Orpheus-Textbücher wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits behandelt: Orpheus von Herzog Anton Ulrich (1659) und der anonyme Beständige Orpheus von 1684. Die dritte Orpheus-Oper in der Wolfenbütteler ›Reihe‹ ist ein italienisches Erzeugnis: L’Orfeo, Drama per Musica, ein Libretto von Aurelio Aureli zur Musik von Antonio Sartorio.460 Der venezianische Autor Aurelio Aureli hat bereits während des zweiten Aufenthalts von Anton Ulrich in Venedig (1682) dem Herzog eine für die Aufführung in Verona bestimmte Oper gewidmet.461 Die Opern zu Aurelis Libretti (Ermione und Medea zur Musik von Gianettini) wurden in den 80er Jahren in Wolfenbüttel aufgeführt. Aurelis Orfeo ––––––––––– 459
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Vgl. etwa Giraldi 1696, S. 68: »Numus, Aristaeus, Agreus, ab eisdem nymphis didicit lactis, mellis & olei confectionem: & quoniam haec primus in mortalium usum exhibuit, ut Deus cultus fuit: mox in Boeotiam deveniens, Autonoen uxorem duxit, ex quibus natu Actaeon qui laceratus a canibus, miser interiit.« Aurelio Aureli: L’Orfeo, Drama per Musica. Wolfenbüttel 1690. Der Erstdruck des Librettos erfolgte 1672 in Venedig. Es handelt sich um das Libretto Olimpia Vendicata. (Aurelio Aureli: Olimpia Vendicata Drama per Musica Da Rappresentarsi nel Teatro di S. Angelo [...] Consacrato All’ Altezza Serenissima DI Antonio Vlrico Duca di Braunsuich, e Lunemburgo. Venedig 1682.) Smart vermutet Aurelio als Librettisten der zweiten Anton Ulrich gewidmeten Oper L’Alcibiade. (Aurelio Aureli: L’Alcibiade Drama per Musica. Da rappresentarsi nel Teatro di Verona. [...] Consacrato All’Altezza Serenissima Di Antonio Vlrico Duca di Braunsuich, e Lunemburgo. Verona 1682.) Auf den Besuch des Theaters in Verona hat der Herzog allerdings verzichtet: »On m’a dédié à Verona une nouvelle opera, où l’on désire que je dois aller pour la voir jouer, mais le chemin est trop long et le meme divertissement icy.« Brief von Anton Ulrich an seinen Sohn August Wilhelm, 6/16 Januar 1682. Zitiert nach Mazingue: Anton Ulrich, S. 112.
205 war im Jahre 1690 eine der ersten Opernvorstellungen auf der neuen Braunschweiger Opernbühne.462 Wahrscheinlich zum selben Zeitpunkt wurde das Textbuch ins Deutsche übersetzt.463 Die Übersetzung wird gewöhnlich Bressand zugeschrieben.464 Auf diesen Text ausführlicher einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen,465 daher sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Figur ––––––––––– 462
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Vgl. ein Brief von Leibniz an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels (4. September 1690): »Je me suis aussi trouvé à Braunsvic avec la Cour, où j’ay veu deux opera Italiens, Orphée et Hermione, et un Allemand intitulé Julia.« Zitiert nach Mazingue: Anton Ulrich, S. 136. Orpheus, In Einer Italiaenischen Opera Auf dem Schau-Platz zu Braunschweig vorgestellet / Und Daraus in das Teutsche übersetzet. Braunschweig 1690. Die gereimte deutsche Übersetzung diente zum besseren Verständnis der italienischen Aufführung durch die Zuschauer. Zur Praxis der Übersetzung von italienischen Libretti vgl. Klaus Zelm: Zur Verarbeitung italienischer Stoffe auf der Hamburger Gänsemarkt-Oper. In: Die frühdeutsche Oper und ihre Beziehungen zu Italien, England und Frankreich. Mozart und die Oper seiner Zeit. Hamburg 1981 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 5), S. 89–106. Wenn auch Bressand in der Tat das Italienische gut beherrschte und seine Autorschaft bei der Übersetzung angenommen werden kann, weicht das übersetzte Textbuch jedoch qualitativ sehr stark von den sonstigen dichterischen Leistungen Bressands ab. Eine kurze Inhaltszusammenfassung scheint jedoch an dieser Stelle angebracht zu sein. Die Stränge mit Nebenfiguren werden dabei ausgelassen. Zu den handelnden Personen des dreiaktigen Textbuches zählen neben der thrakischen Nymphe Eurydice und den Brüdern Orpheus, Aristeus und Aesculapius – dem gelehrten Arzt und Heros –, die Tochter des thebanischen Königs Cadmus Autonoe, der gelehrte Kentaurus Chiron, Hercules und Achilles, die als junge Schüler Chirons auftreten, zwei lustige Personen (die alte Amme des Aristeus Erinda und ein junger Schäfer namens Orillo) sowie die ›obligatorischen‹ Götterfiguren. Die Handlung beginnt mit der Hochzeit von Orpheus und Eurydice. Schnell stellt sich heraus, dass sich Aristeus und Aesculapius über das Glück des Bruders nicht freuen können: der eine, weil er selbst in die Braut verliebt ist, der andere, weil er als überzeugter Gegner der Liebe kein Glück darin sehen kann. Unterdessen erscheint in Thracien Autonoe, die betrogene Geliebte des Aristeus. Als Zigeunerin verkleidet sucht sie ihren untreuen Bräutigam. Sie begegnet Hercules und Achilles, die gerne die Rolle ihrer Begleiter übernehmen. Im Unterschied zum einfachen Hirten Orillo erkennen sie in Autonoe sofort eine Prinzessin. Dieses Prinzip wird im Laufe der Handlung beibehalten: tugendhafte Helden mit reinem Herzen und reinen Gedanken sehen in Autonoe Majestät, die von der Tugend Abgewichenen oder Plebejer behandeln sie als Zigeunerin. Achilles verliebt sich in die schöne Autonoe und schwört, den untreuen Aristeus zu töten. Währenddessen entdeckt Aristeus Eurydice seine Liebe und wird von ihr abgewiesen. Orpheus belauscht zufällig den Versuch Eurydices, Autonoe und den sie abweisenden Aristeus wieder zusammenzubringen. Orpheus missversteht das Gespräch, wird eifersüchtig und befiehlt schließlich dem Hirten Orillo, Eurydice zu töten. Orillo folgt Eurydice und wird Zeuge der Szene zwischen ihr und Aristeus: erneut weist Eurydice Aristeus zurück, flieht vor ihm, tritt auf eine Schlange und stirbt. Aristeus stürzt sich ins Meer, wird aber rechtzeitig von Bacchus gerettet. Orpheus erfährt von der Treue und dem Tod seiner Gattin. Ihr Geist erscheint ihm im Traum und wirft ihm vor, sie allein im Höllenreich verlassen zu haben. Orpheus steigt hinab in den Hades. Die von Aristeus erneut verstoßene und verspottete Autonoe schwört Rache. Auf ihre Bitte nimmt Achilles Aristeus gefangen und will ihn mit dem Tod bestrafen. Aristeus bietet Autonoe um Erlaubnis, sie vor dem Tod zu ehelichen und so ihre Ehre wiederherzustellen. Autonoe verzeiht Aristeus und dieser findet zu seiner alten Liebe zurück. Orpheus erbittet von Pluto Eurydice, verliert sie auf dem Rückweg aus dem Totenreich aber wieder, indem er sich umblickt und so die Bedingung Plutos nicht erfüllt. Über seinen Tod durch die Bacchantinnen wird nur berichtet. Dagegen finden die Verwandlung
206 der Autonoe – den Namen eingeschlossen – komplett übernommen wird. Auch die Handlung des Nebenstranges um Autonoe und Aristäus wird in groben Zügen entlehnt. Bei Bressand ist sie allerdings von der stellenweise derben Komik gereinigt, psychologisch aufgearbeitet und modifiziert. In der Figur der Thya ist dagegen ohne Schwierigkeiten die Nymphe Crinise aus dem Beständigen Orpheus zu erkennen, wobei Bressand auch die im früheren Textbuch vorhandene gewisse Verletzung der dramatischen Logik beibehält: nach der Offenbarung des Verbrechens von Thya und Aristäus gilt die Rache der Nymphen lediglich dem Letzteren; Thya dagegen bleibt weiterhin die Oberpriesterin und darf kraft ihres Amtes den Hass der Mänaden gegen Orpheus schüren.466 Allerdings ist anzumerken, dass dies der einzige logische Verstoß im ganzen Werk ist. Somit weist Bressand ein explizites Streben nach dramatischer Wahrhaftigkeit auf, was im Falle einer Gattung, für welche die Evokation des Affektes im Vordergrund stand, und die natürliche und mannigfaltige Gestaltung der Handlung oft vernachlässigt wurde, besonders signifikant ist. Womöglich verleitete Bressand eben dieses Streben zu einem manchmal übermäßigen Gebrauch von Alexandrinern – der einzige Vorwurf, der dem seinerzeit gefeierten Autor gemacht wurde.467 Ansonsten beherrscht Bressand seine Kunst virtuos und wird den formalen Anforderungen der Gattung gerecht. Die formalen Besonderheiten seiner Libretti wurden bereits von Degen ausführlich untersucht und finden sich im Orpheus wieder: ein lyrisches rezitativisches Duett zur Exposition, die vollständige Ausnutzung der ausgezeichneten Bühnenverhältnisse des Braunschweiger Theaters durch geschickten Einbau von ›Verwandlungen des Schauplatzes‹ und Göttererscheinungen, zahlreiche Gelegenheiten für Balletteinlagen und Pantomime, welche immer in Einklang mit der Handlung stehen, die Entsprechung von Schauplätzen und Handlungsabschnitten, die gelungene Motivierung von lyrischen Episoden, die Arien, für deren Inhaltsgestaltung Bressand die Gleichnisform bevorzugt (und die allgemein als seine Stärke galten468), Stichomythie in Rezitativen, die Ensembles, die als Ausdruck der Stimmungseinheit mehrerer Personen immer motiviert zu–––––––––––
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der Mänaden in Bäume, die Szene mit dem schwimmenden Haupt des Sängers sowie die Apotheose der Leier auf der Bühne statt. Die Schlussszene zeigt das glückliche Paar Orpheus und Eurydice im Elysium. Zwar käme auch die 1690 in Paris aufgeführte Oper Orphée von Michel Du Boulay und Louis de Lully, einem Sohn von Jean-Baptiste Lully, als mögliche Vorlage in Frage. (Michel Du Boulay: Orphée, Tragedie en musique [...]. [Paris] 1690.) Darin entledigt sich die thrakische Königin Orasie, deren Liebe Orphée verschmäht, der Nebenbuhlerin Euridice und lässt Orphée von Mänaden zerreißen. Ein Exemplar des Textes mit dem Exlibris von Anton Ulrichs Sohn Ludwig Rudolf, der bekanntlich mehrmals Paris besuchte, befindet sich in der HAB (LM Sammelbd. 99 (4)). Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Bressand einen schnelleren Zugang zu den bereits auf der Wolfenbütteler Bühne aufgeführten Opern in der deutschen Sprache hatte. Vgl. Barthold Feind: [...] Gedancken von der Opera. Stade 1708. Allerdings hört sich Feinds Vorwurf schwerwiegend an: »Solche Poeten sind der Musicanten Märterer«. Ebd., S. 99. Zu Arien bei Bressand vgl. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 188–199.
207 stande kommen, Bressands Sinn für Komik und nicht zuletzt der prunkvolle betonte Abschluss, der durch die Zusammenwirkung von Chor, Tanz und Maschinerie erreicht wird. Indem Bressand im Orpheus die Zweckgebundenheit einerseits und alle opernbedingenden Einzelelemente andererseits berücksichtigt und letztere jeweils im geeigneten Moment einsetzt, erfüllt er ideal die Anforderungen, welche seinerzeit die Librettokunst an den Textbuchautor stellte. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen geht er darüber hinaus mit viel mehr Aufmerksamkeit und Verantwortung für den Aufbau der Handlung an seine Aufgabe heran, da er die Geschichte möglichst ›mythosnah‹ wiedergibt und die vor allem für die Gestaltung der Nebenstränge notwendigen Beziehungen zwischen den Figuren psychologisch motiviert. Angesichts dieser Dominanz des Formalen sieht man sich im Hinblick auf die Mythosverarbeitung mit einer beinahe paradoxen Situation konfrontiert: einerseits weist von allen bisher untersuchten Verarbeitungen des OrpheusMythos Bressands Textbuch die größte Nähe zum idealtypischen Mythosverlauf auf, andererseits scheint aber in seinem Orpheus jegliche Autorität des Mythos aufgehoben zu sein. Auch wenn er das Aufbauschema eindeutig von Anton Ulrichs Orpheus übernimmt, führt Bressand seine Geschichte ganz aus dem christlichen Kontext hinaus, ohne dafür einen Ersatz zu schaffen.469 Die Amplifikationen sind nicht dazu da, um bestimmte Diskurse in Gang zu setzen, sie zu aktivieren, zu aktualisieren oder widerzuspiegeln. Es wird auch keine Fortsetzung der Tradition des emblematischen, mythologisch-allegorischen Theaters angestrebt, obwohl sich Bressand der allegorisch-mythologischen Tradition der Mythenauslegung durchaus bewusst war.470 So gehört Orpheus zwar zum Typus der Affektenoper,471 entbehrt aber jeglicher Moralisierung, welche z. B. für den Beständigen Orpheus so charakteristisch ist. Signifikanterweise tritt durch diese evidente Formkonzentration ein Aspekt hervor, welcher – wie die bis jetzt untersuchten Texte bezeugen – in den meisten Mythosverarbeitungen marginalisiert wurde: Orpheus erscheint wie bereits in der Renaissance in erster Linie als Identifikationsfigur des Dichters. Den ewigen Ruhm wird Orpheus explizit und vor allem als Dichter erreichen, nicht nur aufgrund seiner etwas abstrakt anmutenden Tugend (wie bei Buchner472) oder seiner göttlichen Abstammung (wie im anonymen Eisenberger Textbuch473). Auch in seiner Rolle als musterhafter Ehemann und Liebhaber sowie Gegenbeispiel zur ––––––––––– 469
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So verschwindet zum Beispiel vollkommen die für Anton Ulrich so wichtige Schuld des Orpheus an »zu viel Liebe«. Dieser Vorwurf gilt eher Aristäus und ist eher im moralischen als im theologischen Kontext zu sehen. Vgl. Bressands »Vorbericht« zu Echo und Narcissus: »Was sonst die Physicalisch und Moralische Auslegung dieser beyder Fabeln betrifft / ist selbige bey denen Mythologisten und anderen gnugsam erkläret.« Bressand: Echo und Narcissus, Vorbericht iiir. Vgl. dazu Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 259–263, v. a. zu den Figuren von Aristäus und Thya als Illustrationen zur Lehre von der Affektenkontrolle. Buchner: Orpheus. Vgl. Kap. 3.1. Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice. Vgl. Kap. 3.3.
208 Macht der Affekte (wie im anonymen Wolfenbütteler Beständigen Orpheus474) tritt Orpheus um einiges zurück. Am deutlichsten wird auf diesen poetologischen Diskurs in der Szene des Verführungsversuchs von Euridice durch Aristäus referiert. Dabei könnten die Argumente, mit deren Hilfe Aristäus seine Vorzüge gegenüber denen des Bruders anpreist, und auch Gegenargumente, die Euridice zur Verteidigung des Orpheus anführt, der humanistischen Diskussion über die Gleichstellung und Konkurrenz von ›Bildungsadel‹ und ›Geburtsadel‹ entnommen sein. Aristäus fühlt sich seinem Bruder, der ihm »nicht gleich an Stand und an Geschick« [BI, B2r] ist, durchaus überlegen: Ein Sänger und Poet / der nichts der Welt kan nützen / als daß sein leerer Schall die lufft erfüllt / sol der wol würdig seyn / des Himmels Ebenbild / die gröste Schönheit zu besitzen. [BI, C3r]
Euridice widerlegt Aristäus’ hochmutige kalkulierende Reflexion über den Nutzen der Poesie, indem sie den Horazischen Topos475 des Dichterpriestertums aufgreift: Wie? Orfeus? der Apollo Sohn / der durch die Stimm und Leyren Thon kan alles / was er will / bewegen / der Recht und sitten so viel Völkern lehrt / der ihnen weist / wie man die Götter ehrt / wie ihnen Dienst / Gebräuch und Opfer anzulegen / dem sich die Weisheit selbst zu eigen hat verpflicht / ist der wol meiner würdig nicht? [BI, C3r–C3v]
Ohne die Talente des Orpheus bestreiten zu können, führt Aristäus seine Argumentation in den Bereich des Allgemeinen über, betont eigene Errungenschaften und lässt nicht zuletzt die materiellen Güter als Maß der Tugend und der Verdienste gelten: Ich sehe / daß so sehr des Orfeus Gaben dich eingenommen haben / daß dein Gemüt vielleicht auf meine gar nicht denket. Er ist zwar des Apollo Sohn / wie ich / Calliope die ihn / gleich wie Cirene mich / der Welt und diesem Gott geschenket / mag endlich auch wol meiner Mutter gleichen. Doch machet unsern Ruhm Verdienst / und nicht geburt;476 ob er mit mir schon gleich gezeuget wurd / ––––––––––– 474 475 476
Der beständige Orpheus. Vgl. Kap. 3.4. Vgl. Anm. 349 Kap. 3.5.2. Eine Bemerkung, die bei einem für das höfisches Publikum bestimmten Werk höchst ungewöhnlich ist und ein Argument des ›Geistesadels‹ wiedergibt, galt doch die Abstammung insbesondere bei einem Fürsten als wichtigster Determinationsfaktor für seine Tugenden. Allerdings wird die Bemerkung durch die folgenden Ausführungen des Aristäus teilweise aufgehoben.
209 muß er mir doch an eigner Tugend weichen. Ich hab den Sterblichen zu erst gewiesen / wie Milch und öhl gebraucht wird und gemacht / den Feld und ackerbau / die Viezucht / die vor diesen ganz unvollkommen war / hab ich in ordnung bracht. Und warum mich die Welt am meisten noch gepriesen / so hat der Nymfen Schaar mich selbst gelehrt / auf welche Weis man hegt die arbeitsamen bienen / und wie ihr Stock uns muß mit Wachs und honig dienen daraus man so viel Nutz erfährt. Daß mir ein Königreich durch Erbschafft ward bescheert / wo meine Vorfahrn schon geherrscht vor vielen zeiten / dient gleichfalls noch zu meinem ruhm; und Orfeus hat kein ander Eigenthum / als sein gesang und seine Seyten. [BI, C3v]
Der Streit um Vorzüge der beiden Brüder, von denen der eine im materiellen und der andere im immateriellen Bereich der Menschheit Fortschritt brachte, – und somit um die Konkurrenz zwischen dem ›ideellen‹ Wert der Kunst und dem materiellen Wert der lebenspraxisbezogenen Errungenschaften –, findet seine Auflösung nicht im Gespräch von Aristäus und Euridice, das bald die Richtung wechselt und eher die moralische Dimension von Aristäus’ Verhalten in den Vordergrund stellt, sondern in der Szene der Rache, die Bacchus an den Mänaden nimmt: Verfluchte bleibt / sagt / was habt ihr gethan / daß meinen Sänger und Poeten / ihr also ungescheut / euch untersteht zu tödten / [...] Also muß sich des Bachus Zorn vergnügen / an denen die mit tollem Muht / den also jämmerlich getödtet und verheert / der meinen Dienst zu erst in diesem Land gelehrt [...]. [BII, D3r–D3v]
Die abschließende Apotheose der Leier sowie der von Apollo befohlene Lobgesang auf Orpheus bestätigen die Sinngebung der Kunst und deren begründende Rolle im Prozess der Zivilisation. Diese wird auch durch die transzendente göttliche Macht des Apollo bestätigt: Ihr andern lernt hieraus wie Tugend Kunst und Wissen / der Himmel selber zu belohnen ist beflissen. [BII, (E4)r]
Der evidente Versuch, den dichterischen Status aufzuwerten, ruft die literarische Situation in Deutschland zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Erinnerung, als es galt, die literarische Tätigkeit in der deutschen Sprache als eine der lateinischen Dichtung ebenbürtige zu etablieren. Die Aufgabe, die sich Opitz bei der Verfassung seiner Deutschen Poeterey gestellt hatte, bestand u. a. darin, »den Poeten vom Odium des Reimeschmieds zu befreien, ihn intellektuell und sozial zu rehabilitieren«477. In einem Orpheus-Drama trug bereits Buchner dieser ––––––––––– 477
Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001, S. 10.
210 Aufgabe Rechnung. Im Unterschied zu Buchner ist es allerdings eine Besonderheit von Bressands Textbuch, dass Orpheus viel deutlicher und offensichtlicher als konkrete Person in einer konkreten Lebenssituation aufgefasst und dargestellt wird. Das Dichterlob im um Jahrzehnte späteren Orpheus von Bressand scheint daher weniger auf den von Opitz formulierten und von dessen Nachfolgern bereits erfüllten Auftrag der Schaffung einer literaturfähigen formbewussten deutschen Sprache, sondern vielmehr auf die biographische Situation des Autors zurückzuführen zu sein. Diese lässt sich allerdings wiederum aus dem historischen Kontext erklären. Opitz’ Anliegen war es, die Bedeutung und die Wichtigkeit der deutschsprachigen Dichtung nicht zuletzt für die fürstlichen und staatlichen Interessen zu beweisen.478 Zugleich sollten so dem gelehrten Dichter als Vertreter des gebildeten Bürgertums Aufstiegschancen in der Ämterhierarchie des frühneuzeitlichen Verwaltungsstaates sowie die Gleichstellung mit der nobilitas generis, dem feudalem Erbadel, gesichert werden. In der Tat konnte sich die nobilitas litteraria zunächst in der Konkurrenz zur meistens bildungsfremden nobilitas generis durchsetzen.479 Gegen Ende des Jahrhunderts verminderten sich allerdings die sozialen Aufstiegschancen des ›Bildungsadels‹: Im Zuge der von der Geschichtswissenschaft beschriebenen Refeudalisierung und Rearistokratisierung von Staat und Gesellschaft, im Zuge einer Entwicklung, in der sich auch der ›alte‹ Adel durch Erwerb von Bildung und gelehrte Studien für den Verwaltungsapparat qualifizierte und somit den am Anfang des Jahrhunderts bestehenden Rückstand zur bürgerlichen Elite wettmachte, setzten sich zunehmend die Ansprüche der ererbten Nobilität durch.480
Dieser Prozess erfolgte vor dem Hintergrund der Diskussion über das Prinzip, welches dem Selbstverständnis des Gelehrtenbürgertums zugrunde lag – das Prinzip ›Bildung‹. Diese wurde zunehmend funktionalisiert, indem sie »einerseits am Norm- und Ordnungsanspruch des Staates gemessen, andererseits nach dem ›Nutzen‹ befragt [wurde], den sie für die Orientierung und Behauptung des Einzelnen in der Praxis des gesellschaftlichen Lebens [bot]«481. Dabei erfolgte eine Abwendung von der literarisch-philologischen Erziehung, die den Menschen angeblich von der Lebenspraxis entfremdete und zunehmend als Ursache für deren Misslingen galt. Die Gelehrsamkeit wurde also zugunsten der ›höfisch-politischen‹ Bildung disqualifiziert.482 ––––––––––– 478
479 480 481 482
Vgl. Wilhelm Kühlmann: Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. Argumentationsmuster und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. In: Daphnis 9, 1 (1980), S. 33–63, insbesondere S. 50f. Vgl. Sinemus: Poetik und Rhetorik, S. 207–210. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 353. Zur Rearistokratisierung im 17. Jahrhundert vgl. auch Sinemus: Poetik und Rhetorik, S. 236–241. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 5. Das markanteste Beispiel dafür sind die universitären Bildungsprogramme von Leibniz und Thomasius, die sich am praktisch-höfischen Bildungsideal, wie er in den Adelsschulen vermittelt wurde, orientieren. Vgl. F. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig 1896. Bd. 1, S. 495–496.
211 Auch wenn Bressands Situation am Wolfenbütteler Hof bei einer oberflächlichen Betrachtung eher wie ein gelungenes Gegenbeispiel aussieht – zunächst als Kammerschreiber und später als Geheimkammerschreiber genoss er das Vertrauen des Herzogs Anton Ulrich, wobei sein Aufgabengebiet in der späteren Phase wohl in erster Linie die Verfassung von Operntextbüchern sowie die ›Intendantentätigkeit‹ für das Braunschweiger Opernhaus beinhaltete – ist doch davon auszugehen, dass seine Position am Hof nicht immer unangefochten war und seine Tätigkeit der Rechtfertigung bedurfte.483 Bei der Aufwertung der Rolle und des Status des Dichters könnte es Bressand also auch um die Aufwertung des eigenen persönlichen Status gegangen sein. Auch einige seiner Hochzeit-Briefe – die ›persönlichsten‹ Werke, die von Bressand bekannt sind – offenbaren ›zwischen den Zeilen‹ den Versuch einer Selbstaufwertung, z. B. durch die Selbststilisierung zu einem gelehrten Dichter. Sara Smart hat den Orpheus im Kontext des Gesamtwerks von Bressand als Beispiel für die fürstliche Glorifizierung untersucht.484 In zahlreichen Werken stellt Bressand den Herzog als Apoll dar.485 Die Idealisierung des Herzogs als Beschützer der Künste und die des Hofes als Helikon trug zur Prestigesteigerung des im Vergleich zu den Nachbarfürstentümern der Welfischen Linie immer mehr an Bedeutung verlierenden Herzogtums bei,486 und spiegelte zugleich Anton Ulrichs literarische Ambitionen wider. Die Darstellung seines Gönners als Apoll gibt Bressand darüber hinaus die Möglichkeit, seine Dankbarkeit auszudrücken, indem er Anton Ulrichs Rolle für die Entwicklung seiner Fähigkeiten ins Licht rückt. Aber eben dieser Vergleich erlaubt Bressand auch, die implizite dichterische Selbstidentifikation mit Orpheus zu wagen. Im Vorwort zur Sterbenden Euridice kommt dies in der für Bressands Widmungen und Ansprachen an fürstliche Personen charakteristischen Attitüde zwischen ––––––––––– 483
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486
Degen vermutet, dass Bressand de facto die Stellung eines fürstlichen Privatsekretärs innehatte. Vgl. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 15. Auch Zimmermann ist der Meinung, Bressand sei die »rechte Hand« des Fürsten gewesen. Vgl. Zimmermann. In: ADB 47 (1903), S. 226–228. Die Hochzeit-Briefe und die erhaltenen Akten legen Bressands künstlerische und geschäftliche Vollmachten offen und zeugen davon, welche Wertschätzung er am Wolfenbütteler Hof genoss. Auf der anderen Seite sah er sich häufig mit Intrigen konfrontiert. Die Hochzeit-Briefe enthalten auch Anspielungen auf die Intrigen und Missgunst der Neider, die vor dem Zustandebringen der Hochzeit zu überwinden waren. Vgl. die Bressand betreffenden Akten: NSA 4 Alt 25 Nr. 584; 4 Alt 25 Nr. 3672; 2 Alt Nr. 4441. Vgl. Smart: Doppelte Freude der Musen, S. 256–269. Zu Bressand als Hofdichter vgl. Smart: The Ideal Image, S. 189–233. Z. B. in Salzthalischer Mäyen-Schluß, Ballet der Statuen, Doppelte Freude der Musen oder Freudenfest der Musen auf dem Salzthalischen Parnassus. Auch in Bressands Hochzeit-Briefen sowie – in Bressands Nachfolge – in Gedichten auf Bressands Tod wird der Herzog als Sonnengott und Musenführer angesprochen. Vgl. Friedrich Christian Bressand: An Herrn Anton Ulrich, in: Bressand: Hochzeit-Briefe, A1r–B1v. Postel: Unverweßliche Ehren-Säule. Zur Verherrlichung des Herzogs Anton Ulrich als Apoll vgl. Smart: The Ideal Image, S. 209–220. Vgl. Smart: The Ideal Image, S. 15, 200f. Vgl. auch Mazingue: Anton Ulrich, S. 158–253.
212 achtungsvoller Demut und verschleiertem Selbstbewusstsein ganz explizit zum Ausdruck: Durchleuchtigster Hertzog / Gnädigster Fürst und Herr. Als dorten der unglückseelige Orpheus nach erlittenem Verlust seiner werthgeliebtesten Euridice von dem Grimm der Bachus-priesterinnen aufgerieben worden / ist von selbigem nichts übrig geblieben als seine Leyer / die letzlich noch ihren Flug an das Gestirne genommen / und daselbst von dem Apollo unter selbiges versetzet / dadurch aber eben der Nahme dieses fürtrefflichen Sängers unsterblich gemacht worden. Nachdem nun derjenige so durch Ausbreitung der Bewundernswürdigen Fürtreflichkeiten / die man an Ew. Hoch-Fürstl. Durchl. Persohn gleichsam zum Muster und Beyspiel der Tugend und Vollkommenheiten vorleuchten sieht / sich bißhero zum berühmten Sänger gemacht / bey noch zu früher Zeit die allgemeine Schuld der Natur bezahlen müssen / und nichts mehr von sich übrig gelassen / als seine Leyer / seine Gedichte; So schickt er zu Folge diß Exempels / so er in seinem letzt verfertigten Sing-Spiel des Orpheus selbst noch fürgestellet / diß kleine Wercklein davon auf gleiche Weise an das Gezelt des Durchlauchtigen Teutschen Apollo / und untersteht sich dasselbe Ew. Hoch.-Fürstl. Durchl. so wie er vor diesen mit seinen Diensten / Leben / Gut und Blut gethan / in tieffster Unterthänigkeit zu widmen und zuzueignen; um dadurch / auch zugleich / obwol nur den geringsten Theil seiner unterthänigsten Danckbarkeit / vor so viel in seinem Leben genossene unverdiente Hoch-Fürstl. Gnaden abzustatten / davon das stete Andencken auch noch in der Asche seines erstorbenen Hertzens hervor grünet; In unterthänigster Zuversicht Ew. Hoch-Fürstl. Durchl. werden diß letzte Denckmahl seiner tieffergebensten Pflicht nicht verschmähen / also gnädig / als bißhero seine andere Gedichte aufzunehmen: Ja ihn weder schelten / daß er durch Vorsetzung Dero Durchleuchtigen Namens dasselbige / wie Orpheus Leyer zu einen gläntzenden Gestirn zu machen / die Vermessenheit hat / noch ihm viele letzte Ehre mißgönnen / daß wann eben dieser Ew. Hoch-Fürstl. Durchl. fürtrefflichster Nahme / vielen die Begierde erwecken solte / diß Wercklein zu durchlesen / die Gedächtnüß desjenigen dadurch noch einiger massen erhalten werde / welcher in seinem Leben unveränderlich gewesen. Ew. Hoch-Fürstl. Durchl. Unterthänigst und gantz gehorsamster Knecht F. C. Bressand.487
Die Tatsache, dass der Autor des Vorwortes genauso wie sein Vorbild als junger, frühzeitig verstorbener Dichter auftritt, verleiht der angesprochenen Parallele eine zusätzliche Brisanz. Die Besonderheiten von Bressands Biographie und die oben zitierte Widmung deuten auf eine bewusste poetologische Konzeption der Orpheus-Figur hin. Erleichtert wurde diese durch die spezifischen Wolfenbütteler Umstände, unter denen das Dichterlob nicht zuletzt auch als Huldigung an den dichtenden Fürsten verstanden werden konnte und sollte.
3.6.4. Fazit Die oben vorgestellte Analyse von Bressands Orpheus hat gezeigt, dass die zahlreichen Amplifikationen, die das wesentliche Charakteristikum von Bressands Verarbeitung des Orpheus-Mythos darstellen, in erster Linie auf die ––––––––––– 487
Bressand: Die sterbende Euridice, x2r–x2v. (Widmung). Die Kursivierung stammt von mir.
213 Anforderungen der bereits etablierten Gattung ›Oper‹ zurückzuführen sind. Am wichtigsten war die Erfindung einer Intrige, einer Verwirrung der Liebesbeziehungen, wofür die fiktiven Handlungsstränge in den Rahmen einer vorliegenden Verlaufsform des Mythos eingebaut werden mussten. Die meisterhafte kausale Verbindung der einzelnen Handlungselemente im Orpheus, die auf der inneren Wahrscheinlichkeit in der Charakter- und Handlungsgestaltung basiert, zeugt von der Virtuosität, mit welcher Bressand diese Aufgabe meisterte. Indem die Gattungsgesetze die »Arbeit am Mythos« beinahe völlig beherrschen, wird die Darstellung des als Intrige verstandenen Mythos zum Selbstzweck: weder ist eine Intention bemerkbar, den Mythos ›aus sich heraus‹ zu verstehen und zu deuten, noch ist das Bestreben zu erkennen, ihn zur Vermittlung ihm fremder Inhalte zu instrumentalisieren. Vor dem Hintergrund der verworrenen Handlung hebt sich die Figur des Orpheus klar ab. In gewissem Sinne kehrt Bressands Orpheus zu seinen Ursprüngen zurück: er ist wieder der im (Dichter)priestertum verwurzelter Archipoet, der Horazische Menschenerzieher und Zivilisationsgründer. Im Unterschied zu den Schriften des vorigen Jahrhunderts oder zu den zeitgenössischen Poetiken erscheint Bressands Orpheus allerdings in seiner Dichtergestalt nicht als bloße ferne Referenzfigur, auf welche man sich zum Zwecke der allgemeinen Aufwertung des dichterischen Status beruft. Vielmehr wird er vom Autor im gewissen Sinne als Chiffre für die eigene Person eingesetzt, als Medium der Selbstdeutung und Selbstdarstellung des Dichters. Aus dieser Reflexion der Rolle des Poeten heraus spricht Bressand als selbstbewusster professioneller Dichter und Librettist. Signifikanterweise erfolgt dies vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion um den auf die Aufstiegschancen im gesellschaftlichen Leben bezogenen Nutzen der humanistischen Bildung allgemein und der Dichtung überhaupt. Dieser Gegensatz von Geburts- und Geistesadel wird interessanterweise in der Person des Dichterfürsten Anton Ulrich aufgehoben, der, von Bressand als »deutscher Apoll« glorifiziert, getreu der humanistischen Tradition beide Pole in sich vereinigt. Für Bressand selbst gilt aber definitiv die Behauptung Hunolds: Also wird nicht erfordert / daß man eben promoviret / oder durch Recommendation oder auf andere Weise eine Opera zu machen / autorisirt worden / sondern man muß / Ein rechtschaffener Poet / Ein Kenner des Theatri / ein guter Quartiermeister der Personen wegen der Scenen / Und / Ein geschickter Intriguen-Macher seyn.488
Nach dem plötzlichen Tod Bressands wurde am Orpheus anonym ›weitergefeilt‹ und die Oper mehrmals auf den Bühnen in Braunschweig und in Hamburg aufgeführt. Dabei prägten die Aufführungsorte die Textüberarbeitungen. Für die Hamburger Szene lag der Schwerpunkt auf den inhaltlichen Innovationen Bressands, so dass die variablen Elemente des Mythos (Nebenstränge um Aristäus, Autonoe und Thya) Oberhand gewannen und in der Fassung F (vgl. Anhang 1) sogar die traditionelle Schlüsselszene aller Orpheus-Opern – die Überredung ––––––––––– 488
Christian Friedrich Hunold: Theatralische Galante Und Geistliche Gedichte Von Menantes. Hamburg1706, S. 87–88.
214 Plutos – ausgelassen wurde. In Braunschweig dagegen lässt sich eine Rückkehr zur idealtypischen Verlaufsform des Mythos und seinen konstanten Elementen beobachten, die auf Kosten des Schöpferischen des Autors ging. Diese Entwicklungen sind am wahrscheinlichsten auf die soziologisch verschiedenen Voraussetzungen in Hamburg und in Braunschweig zurückzuführen.489
3.7.
Orpheus Und Euridice (Naumburg 1701)
3.7.1. Einleitung. Literarische Mythos-Adaption in Orpheus Und Euridice Die Oper Orpheus Und Euridice490 wurde 1701 während der Peter-Pauls-Messe auf der Bühne des im selben Jahr erbauten Naumburger Opernhauses aufgeführt.491 Diese erste große Opernaufführung in Naumburg erfolgte auf den Befehl des musikliebenden Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz. Aus dem Verzeichnis von »Maschinen und Flügen«, das dem Librettotext vorangestellt ist, geht hervor, dass der Besuch des preußischen Königs Friedrich I. einen zusätzlichen besonderen Anlass für die Opernaufführung bot.492 Zu diesem ––––––––––– 489 490
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Vgl. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 151. Orpheus Und Euridice Wurden Auf Hoch-Fürstlichen Gnädigsten Befehl In einer Opera Auf den neu-erbaueten Naumburgischen Schau-Platze [...] vorgestellet. Naumburg 1701. Für diese Arbeit wurde das Exemplar der Universitätsbibliothek Jena benutzt (4 Art. lib. XIV, 9 (26)). Ein weiteres Exemplar ist in Berlin nachweisbar. Das auf Initiative des Herzogs Moritz Wilhelm zu Sachsen-Zeitz errichtete Theater diente für alle Arten dramatischer Aufführungen. Die Opern wurden aufgrund des hohen Aufwands nur unregelmäßig, meistens zu den Messezeiten gegeben. Sie wurden sowohl von den sich zur Messe in Naumburg aufhaltenden Kaufleuten als auch von den Mitgliedern der benachbarten Fürstenhäuser und von deren zahlreichem Gefolge besucht. Da es in Naumburg keine ständige Operntruppe gab, wurden die Sänger von anderen benachbarten Opernbühnen, v. a. aus Leipzig, Weißenfels und Merseburg, eingeladen. Die Komponisten wurden vom Herzog berufen. Über die Naumburger Oper informieren knapp: Böhme: Die frühdeutsche Oper in Thüringen, S. 139–148. Arno Werner: Städtische und fürstliche Musikpflege in Zeitz bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1922, S. 79–80. Friedrich Hoppe: Die Pflege der Musik in Naumburg, S. 25. Bernhard Engelke: Johann Friedrich Fasch, Versuch einer Biographie. In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 10 (1908–1909), S. 271–274. Der Zusammenkunft wurde offensichtlich im Prolog der Oper gehuldigt. Da in dem benutzten Exemplar des Librettos die Seiten des Vorredners fehlen, war nichts näheres zu erfahren. Ein Bild über die Gestaltung des Prologs, dessen Handlung in einem »Lust-Wald nebst dem Parnaß« spielt, vermittelt das Verzeichnis der »Machinen und Flügen«. Dort werden u. a. Gottheiten erwähnt, die im Haupttext nicht vorkommen: »Mercure durch die Lufft. Der Parnaß. Apollo in einer grossen Wolcke. Eine praesentation von den geschlungenen Nahmen Sr. Hochfürstl. Durchl. des gnädigsten Hertzogs / und Ihrer Königl. Hoheit. Mercuri Flug von Theatro in die Fürstl. Loge.« Orpheus Und Euridice, (A2)v.
215 Textbuch liegen bislang keine literaturwissenschaftlichen Untersuchungen vor. Lediglich erwähnt wird es von Gottsched in dessen Nöthigem Vorrat sowie von Böhme in dem der Opernpflege in Naumburg gewidmeten Kapitel seiner Untersuchung zur frühdeutschen Oper in Thüringen.493 Die Namen des Librettisten und des Komponisten sind nicht überliefert. Das Personenverzeichnis und die Inhaltswiedergabe des dreiaktigen Librettos verleiten auf den ersten Blick dazu, den Text Friedrich Christian Bressand zuzuschreiben. Die Figuren des Dramas sind Orpheus und die thrakische Nymphe Euridice, dessen Braut, der Bruder des Orpheus Aristäus, eine Tochter des thebanischen Königs Cadmos mit dem Namen Climene, eine weitere weibliche Figur namens Alibette, die »in Orpheus verliebt« ist, der Zauberer Sysrax sowie die Gottheiten Hymen, Cupido, Bacchus und Pluto. Auch der im »Inhalt« skizzierte Plot entspricht dem des Bressandschen Textbuchs. Darüber hinaus wird in dieser Inhaltswiedergabe Autonoe als der richtige Name der Climene genannt: Orpheus gewinnt mit seinen Singen das Hertze der Euridice, und diese ist hinwiederum dem Orpheus euserst ergeben. Zu allen Unglücke aber / wird Euridice von ihres Gemahles eignen Bruder geliebet / und das Hertz des Orpheus will gleichfalls mehr als ein Frauenzimmer eigenthümlich besitzen. Daraus entstehen viel Verwirrungen / und zuletzt durch hülffe eines Zauberers der Euridice Tod. Orpheus folgt Ihr bis in die Hölle nach / und beweget das unbarmhertzige Reich zum Mitleiden / daß Euridice wiederum in die Oberwelt nachfolgen darff. Er aber nimt die dabey ausgesetzten Bedingungen nicht in acht / und verliehret Sie also von neuen / da doch der gefährliche Weg aus der Hölle schon fast gantz vollendet ist. Weil auch das übrige Frauenzimmer nichts / als Verachtung von ihm erfähret / so wird er durch den rasenden Grimm dieses erhitzten Geschlechts der Euridice durch den Tod nachgeschickt / da hingegen sein Bruder Aristäus sich unverhofft mit Autonöen, die Ihm in verstellter Kleidung unter den Nahmen Climene nachgezogen / verbindet.
Im Vergleich zu Bressands Orpheus kommt folglich im anonymen Textbuch die lustige Person – Orpheus’ Diener Lessy – neu hinzu und es wird um »Veränderungen des Schauplatzes«, Ballette und Entrees bereichert. Jedoch handelt es sich bei diesem Libretto um einen selbständigen Text, dem allerdings Bressands Textbuch als Vorlage diente. Die folgende ausführlichere Inhaltswiedergabe soll dies veranschaulichen. Der erste Akt beginnt mit einer Arie des Orpheus, der mit dem Lobpreis seiner glücklichen Liebe zu Euridice und der bevorstehenden Vermählung Bäume und Felsen in Bewegung setzt (I.1). Zwischen den Szenen I.1 und I.13, in der die Hochzeitszeremonie stattfindet, konzentriert sich die Handlung auf die Hindernisse, die den Verliebten von anderen Figuren in Weg gestellt werden. Der in Orpheus verliebten Alibette gelingt es beinahe, das Paar auseinander zu bringen, indem sie Orpheus durch dessen bestechlichen Diener Lessy ihr Portrait überbringen lässt (I.2) und mit einer Erzählung von Orpheus’ angeblichem ––––––––––– 493
Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrat zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst: oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer-, Lust- und Singspiele, die in Druck erschienen [...]. 3 Bde. Leipzig 1757–1765. Bd. 1 (1757), S. 271. Böhme: Die frühdeutsche Oper in Thüringen, S. 141. Böhme verweist irrtümlich auf das in Kap. 3.3 der vorliegenden Arbeit behandelte Textbuch der Eisenberger Aufführung als mögliche Vorlage.
216 Vorhaben, die Verlobung aufzulösen, Euridice in Eifersucht versetzt (I.8). Während Lessy im Auftrag der Alibette Euridice vor Orpheus verlästert (I.2), versucht Aristäus, durch Verleumdung des Bruders, dem er eine Leidenschaft für Alibette unterstellt, die Liebe der Euridice zu gewinnen (I.4). Die Verlobten bleiben aber einander treu, obwohl Orpheus für einen Augenblick als Rache an Euridice eine Liebesintrige mit der schönen Alibette überlegt (I.3) und Euridice aus Eifersucht in einem Brief die Verlobung auflöst (I.11). Da der Brief Orpheus fast zum Tode erschüttert, verzeiht ihm Euridice und bittet selbst um Vergebung. Die durch Intrige zustande gekommene Trennung der Verliebten endet mit einer Versöhnung (I.12) und der Trauung (I.13), die den ersten Akt beschließt. Des weiteren wird im ersten Akt die Entwicklung der Handlung expositorisch vorbereitet: Aristäus erleidet den inneren Kampf zwischen den Vorwürfen des Gewissens und der Liebe zu Euridice (I.5) und wird im Schlaf von Furien geplagt, die als Warnung vom Gott der Ehe Hymen geschickt werden (I.6). Daraufhin sagt er der lasterhaften Liebe ab (I.6). Alibette beschließt den Tod Euridices (I.9) und bekommt Hilfe vom Zauberer Sysrax, der einer Schlange befiehlt, die Rivalin zu töten (I.10). Erst im zweiten Akt wird Climene/Autonoe, die thebanische Prinzessin und betrogene Braut des Aristäus, eingeführt. Ihre Arie über die Falschheit der Welt eröffnet den ersten Auftritt. Im Zentrum der Handlung des zweiten Aktes steht der Tod der Euridice. Der Autor nimmt in der Gestaltung dieser Sequenz erhebliche Innovationen im Vergleich sowohl zu Bressands Orpheus als auch zu den gängigen Mythos-Versionen vor: eine lyrische Szene zwischen Orpheus und Euridice in einem Garten (II.3) wird von Alibette und Sysrax einerseits und von Climene/Autonoe und dem Diener Lessy andererseits beobachtet. Sysrax trennt Orpheus und Euridice durch eine Wolke und verzaubert die beiden, so dass sie in Alibette und Lessy ihren jeweiligen Geliebten sehen (II.4, II.5; vgl. Anhang 2.3). In einem ›Kampf‹ zwischen Euridice, die ihren vermeintlichen Gatten umarmen will, und dem lebensklugen Diener, der in solchem Verhalten die tückische Absicht seines Herrn vermutet, ihn auf die Probe zu stellen, wird Euridice von der versteckten Schlange verwundet (II.5). Cupido als Deus ex machina verkündet Orpheus, der von den Göttern den Tod erbittet (II.7), deren Beschluss: er soll mit Hilfe seiner Musik Euridice zurück ins Leben holen (II.8). Die letzten Auftritte des zweiten Aktes zeigen die Reaktionen der Figuren: die moralisierende Arie der Climene/Autonoe, die angesichts von Orpheus’ Verzweiflung ihr Liebesunglück relativiert (II.9), das Bedauern des Dieners, die Verzauberung der Euridice nicht ausgenutzt zu haben (II.11) sowie die Trauer der Nymphen (II.10) und des Aristäus (II.12) und die Freude der Alibette (II.12). Der letzte Akt beginnt mit der Abschiedsszene von Orpheus und Cupido im Vorhof der Hölle (III.1). Orpheus verschafft sich Eintritt in die Unterwelt (III.2) und überredet Pluto, der nachgibt, weil er an seine Liebe zu Proserpina erinnert wird (III.3, III.4). Auf dem Rückweg wendet sich Orpheus, wegen Euridices Schweigen besorgt, zu früh um, und verliert die Gattin zum zweiten Mal. Seine Rückkehrversuche scheitern (III.6), der Geist Euridices prophezeit ihm aber das
217 baldige Wiedersehen im Elysium (III.7). Nachdem Orpheus der Frauenliebe abgesagt (III.8) und in der Einsamkeit eines locus amoenus, umgeben von Winden, Tieren, Bergen, Bäumen und Vöglen, ein Sterbelied für Euridice gespielt hat (III.12), wird er von den rasenden Nymphen unter Anführung der von ihm in III.8 abgewiesenen Alibette im Schlaf zerrissen (III.13). Die letzten zwei Szenen stehen unter Zeichen des Deus ex machina. Bacchus verwandelt die Nymphen zur Strafe in Bäume (III.14) und verkündet Aristäus den Beschluss der Götter, ihn zu strafen (III.15). Da Aristäus sich geschickt verteidigt und sich auf die unwiderstehliche Macht der Liebe beruft, wird er von seiner Schuld freigesprochen. Er soll den Geist des Orpheus mit Opfern besänftigen und Climene alias Autonoe heiraten, die ihr Einverständnis dazu gibt. Das Libretto endet mit der Verstirnung der Leier. Der Schlusschor der Tutti leitet die Oper in ein Grand Ballet über.
3.7.2. Orpheus-Rezeption in der stadtbürgerlichen Oper Der Vergleich des anonymen Librettos mit dem idealtypischen Mythosverlauf des Strukturmodells zeigt, dass dieses Textbuch alle Verlaufsstadien der Sequenzen II und III bis auf den Aspekt ›Unterweisung der Menschen in den göttlichen Lehren‹ des zehnten Verlaufsstadiums und das Verlaufsstadium dreizehn (Singen nach dem Tod) enthält. Darüber hinaus wird das vierte Verlaufsstadium (die Werbung des Rivalen) partiell reduziert: zwar stellt Aristäus Euridice nach, ist aber an ihrem Tod weder direkt noch indirekt beteiligt und in der ›Sterbensszene‹ nicht einmal anwesend. Der Verzicht auf diese konstituierenden Stadien hat eine deutliche Akzentverschiebung bei der Mythosdeutung zur Folge. Ähnlich wie in Bressands Libretto wird im Naumburger Orpheus die Mythos-Verarbeitung von den zahlreichen Amplifikationen der Verlaufstadien getragen. Diese gehen einerseits offensichtlich auf Bressands Prätext zurück, erfahren aber andererseits signifikante Änderungen. So wird vom Prätext in erster Linie die Figurenkonstellation übernommen. Allerdings behält lediglich Autonöe/Climene ihren königlichen Status, der übrigens an keiner Stelle zum Tragen kommt. Aristäus erscheint als »Erfinder des Feld- und Honig-Baues«, Alibette als eine lediglich durch ihre Verliebtheit in Orpheus charakterisierte Figur. Diese Änderungen, gepaart mit den Modifikationen des Handlungsablaufs, haben zur Folge, dass im Vergleich zu Bressands Libretto sowohl die kausale Verbindung der Handlungselemente als auch die innere Wahrscheinlichkeit der Charaktere verletzt wird. So bleibt der Strang um Aristäus und Autonöe im Grunde ausgespart. Da aus den zwei Arien der Autonöe/Climene (II.1 und II.9) auf die Entwicklung und Geschichte ihrer Liebesbeziehung mit Aristäus kaum geschlossen werden kann, erscheint die von Bacchus angeordnete und in der Schlussszene (III.15) vollzogene Vermählung der Beiden beinahe als eine dem Aristäus aufgebürdete Strafe für dessen Leidenschaft zu Euridice. Aber auch Aristäus selbst verliert seinen Einfluss auf die Haupthandlung, indem er in der für den Orpheus-Mythos genuinen ›Sterbens-
218 szene‹ der Euridice durch Lessy ersetzt wird. Damit wird der Aristäus-Strang für die Entwicklung der Handlung eigentlich überflüssig. Aristäus und Autonöe/Climene fungieren lediglich als ›Illustrationen‹ für Maximen der moralischen Grundhaltung in der Liebe. Der durch sie repräsentierte Kontrast zwischen der Treue und der Unbeständigkeit sowie das gattungsspezifische Gebot der Intrige sind wohl der Grund dafür, dass dieser Strang trotz der Reduktion und Abkoppelung von der Haupthandlung beibehalten wurde. Allerdings führt die ›Befreiung‹ des Aristäus von der Schuld am Tod Euridices sowie sein Verzicht auf Gewalt beim Werben um sie zu einer Umdeutung dieser Figur. In seinem Verhalten scheint er eine geänderte, im Sinne der Galanterie ausgearbeitete Auffassung der Liebe als Exzess zu repräsentieren.494 Die Liebe, verstanden als Passion, wird nun anthropologisch aufgewertet und befreit den Liebenden von der Rechtfertigung für seine Handlung. Signifikanterweise gilt ausgerechnet der Liebe die Dacapoarie des Aristäus in der letzten Szene. In ihr wird die Art, wie die Liebe und ihre Wirkung im Textbuch dargestellt wird, in Worte gefasst und die Liebe in ihrer Allmacht als Metapher der Verblendung entlarvt: Die Liebe von sich abzuwenden / Steht wol in keines Menschen händen. Denn das Vermögen ist zu schwach; Wenn sie bey den verwirten Räncken / Ihr zu entlauffen eyfrigst dencken / So gehn sie ihr am meisten nach. [(F2)v]
Auch der Kontrast zwischen dem richtigen und falschen Verhalten in der Liebe, bei Bressand durch Figuren der Autonoe und der Thya repräsentiert, verlagert sich auf die Gegenüberstellung von Euridice und Alibette als Verkörperungen der wahren und falschen Liebe. Obwohl dieses Thema im Textbuch nicht durchgehend reflektiert wird, lässt sich eine solche Interpretation erkennen. Am deutlichsten wird dies in der Szene im Garten (II.4), als Sysrax zwischen Orpheus und Euridice eine Wolke erzeugt, die Euridice, von einem »ungeheure[n] Monstrum« [(C3)v] gehindert, vergebens zu durchqueren versucht: Das jetzge Schücksaal dieser Welt Macht wahre Liebe trefflich theuer. Wird sonsten nichts in Weg gestellt / So thuts zuletzt ein Ungeheuer. [(C3)v]
Von allen in dieser Arbeit betrachteten Werken ist das anonyme Naumburger Libretto das einzige, in dem eine komische Person völlig zur Geltung kommt. Der tolpatschige, furchtsame und bodenständige Diener Lessy495 verspottet nicht nur in seinen Arien und rezitativischen Kommentaren von prak––––––––––– 494 495
Vgl. dazu Luhmann: Liebe als Passion, S. 73f. Trotz seines ausgeprägten gesunden Menschenverstandes schwankt Lessy in seinen Anschauungen über die Liebe: in III.11 versucht er sogar, die Katabasis des Orpheus zu wiederholen und dessen heroisches Abenteuer zu übertreffen, weil er hofft, dass Euridice für ihn noch »manche Schmeicheley aus Irrthum haben konte«. Orpheus Und Euridice, (E4)v.
219 tisch-volkstümlichem Standpunkt aus das affektgesteuerte Verhalten der Hauptfiguren, sondern er ›avanciert‹ sogar, indem er anstelle des Aristäus in der Zentralszene des Textbuchs (II.5) auftritt. Die an Shakespeares A MidsummerNight’s Dream erinnernde Verwechslung – es ist die in den sonstigen MythosVerarbeitungen ›gejagte‹ Euridice, die nun in ihrer Verblendung den erschrockenen Diener mit den Liebesbeteuerungen verfolgt – lässt die berühmte Szene des Sterbens in einem gewollt parodistischen Licht erscheinen. Dabei übernimmt der anonyme Autor Bressands Neuerung: die wahre Ursache von Euridices Tod bilden Neid und Eifersucht der Rivalin. Im Unterschied zu Bressands Thya erscheint aber die verbrecherische Alibette, die eines Priesterinnenstatus und damit einer logischen ›Einbettung‹ in den Mythos-Verlauf beraubt ist, lediglich als Repräsentantin des Typus der eifersüchtigen Nebenbuhlerin. Signifikanterweise wird durch die oben beschriebene Umwandlung der Nebenstränge das bei Bressand vorhandene ›geschlechtsspezifische‹ Gleichgewicht bei der Schuldzuweisung an Thya und Aristäus zugunsten einer latenten Misogynie verschoben. Damit ergibt sich folgende Konstellation: Im anonymen Naumburger Libretto wird die idealtypische Verlaufsform des Mythos zwar beinahe vollständig beibehalten, die Amplifikationen (Nebenstränge) erscheinen aber wegen der schwachen Verknüpfungen isoliert und teilweise unmotiviert. Diese Amplifikationen sind aber das einzig Neue des Stückes, die Ausführung der Schlüsselszenen der Haupthandlung ist dagegen stark Bressands Prätext verpflichtet. So gibt es eine starke Ähnlichkeit im Argumentationsgang von Orpheus’ Bitte vor Pluto.496 Auch die ›poetologische‹ Komponente wird übernommen, so z. B. in der Gegenüberstellung der Verdienste von Orpheus und Aristäus (I.4)497 oder in der Szene der Bestrafung der rasenden Nymphen durch Bacchus (III.14).498 Da ––––––––––– 496
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Dabei weisen beide Arien das gleiche Metrum auf. Die Wahl des lebhaften und beweglichen Trochäus als Metrum für das ›Überredungslied‹ des Orpheus durch Bressand ist höchst ungewöhnlich. Während Bressand aber acht- und vierhebige Trochäen in einer unregelmäßigen Abfolge alterniert und die Reime virtuos gestaltet, beschränkt sich der anonyme Autor auf meistens paargereimte achthebige Trochäen. »ARIST[ÄUS] Ich / der ich durch das Feld / und durch den Honigbau Ins Buch der Ewigkeit wil meinen Nahmen bringen / Bin gleichfals reich genug / daß künfftig eine Frau An meiner Seite kan vor Lust und Freude singen. Mein Bruder aber wird durch seinen Klang der Seiten Nach diesen nicht vor deine Nahrung stehn. Das Handwerck / so er treibt / nennt man die Dichterkunst; Und das trifft redlich ein; Denn alle Lieb und Gunst / So du von Ihm verhoffst / wird auch erdichtet seyn.« Orpheus Und Euridice, (A4)v–Br. Gerade in dieser Szene wird der intertextuelle Bezug zu Bressand besonders deutlich, da das anonyme Textbuch die Struktur des Prätextes unter Modifikation seiner Elemente übernimmt: »BACHUS Verkehrtes Volck / was fängstu an? Trägstu nicht Scheu / den Sänger und Poeten
220 Orpheus aber seine Eigenschaft als dichtender Priester und Einführer des Bacchus-Kultes eingebüßt hat, erzielen diese Szenen nicht die gleiche Wirkung. Die vom Autor von Orpheus Und Euridice als Folge von intertextueller Kommunikation499 vorgenommenen Modifikationen lassen sich wohl am besten mit den besonderen Bedingungen der Naumburger Bühne erklären. Die Naumburger Aufführungen waren ein kommerzielles Unternehmen. Die Ausgestaltung der Opernhandlungen war damit weniger durch das höfische Leben, sondern vielmehr durch den Geschmack des überwiegend stadtbürgerlichen Publikums bestimmt.500 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Bressands Handlung in ein bürgerliches Milieu versetzt zu sein scheint. Besonders auffallend ist in diesem Zusammenhang eine ›Verbürgerlichung‹ der Hauptfiguren durch das Weglassen ihres königlichen Status, womit die Handlung partiell ad absurdum geführt wird (z. B. durch die unstandesgemäße Vermählung der Autonoe als Tochter des thebanischen Königs Cadmos mit Aristäus). Die größtmögliche Treue gegenüber Mythos sowie plausible Gestaltung der neuen Nebenstränge, die für Bressand so wichtig gewesen waren, erscheinen im anonymen Textbuch zweitrangig. Auch die Argumentation, der sich Aristäus beim Werben um die Gunst Euridices bedient, spiegelt eher bürgerliche Werte wider: ging es bei Bressand in erster Linie um den dichterischen Ruhm sowie um Konfrontation von Geburts- und Bildungsadel, so steht für den Aristäus des Naumburger Librettos der Broterwerb im Vordergrund. Sowohl Acker- und Honigbau und als auch Dichtkunst werden von ihm als Handwerk aufgefasst; ihre Vorzüge werden am erbrachten Gewinn bemessen.501 Ein weiteres Charakteristikum des Naumburger Textbuchs ist der besondere Nachdruck, der auf die Wirkung visueller Effekte gelegt wird: neben acht Änderungen der Bühnenbilder (Schauplatzwechsel) kommen die aufwendige Theatermaschinerie (neun Göttererscheinungen in der Luft sowie »unterschiedene Geister in der Lufft / und von unten« [(A2)v]) und Verwandlungen zum Einsatz. Dieses Streben nach Spektakulärem führt dazu, dass sich die Effekte zu verselbständigen scheinen. Auch die Ausdehnung mancher Szenen trägt diesem Bestreben Rechnung. So wird die Szene der Beratung von Sysrax und Alibette –––––––––––
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Der mir gedienet hat / so unverschämt zu tödten?« Orpheus Und Euridice, F1v. »BACCHUS Verfluchte bleibt / sagt / was habt ihr gethan / daß meinen Sänger und Poeten/ ihr also ungescheut / euch untersteht zu tödten [...]«. Bressand: Die verwandelte Leyer des Orpheus, D3r–D3v. Neben dem Zitat wird die apostrophierte Form einer Interrogatio und der syntaktische Aufbau von Bressands Prätext übernommen. Zum Begriff der intertextuellen Kommunikation als produktionsästhetischem Faktor vgl. Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn u. a. 1998, S. 93f. Auch Bressand schrieb für ein kommerzielles Theater. Die Patronage des Herzogs Anton Ulrich und die teilweise andere Zusammensetzung des mehr höfisch orientierten Publikums erlaubten Bressand aber eine anspruchsvolle Gestaltung seiner Libretti. Vgl. Anm. 497 in diesem Kapitel.
221 (I.10) ausgenutzt, um eine Geisterbeschwörung, einen steigenden Rauch und schließlich eine riesige Schlange effektvoll zu präsentieren. Nicht zuletzt der starke Einsatz der komischen Person – des feigen, aber sich durch den gesunden Menschenverstand auszeichnenden Dieners Lessy – sowie die dadurch entstehende kritisch-parodistische Auseinandersetzung mit der höfischen mythologischen Orpheus-Oper sind deutliche Züge der Verwandtschaft des Naumburger Librettos mit der zeitgenössischen bürgerlichen Hamburger Opernbühne.502 Trotz dieser Tendenz, den Geschmack des überwiegend stadtbürgerlichen Publikums zu treffen, bleibt im Naumburger Textbuch die Balance zwischen bürgerlichen und höfischen Zügen erhalten. Dies zeigt sich u. a. in der Huldigung an den Herzog und seinen königlichen Besucher, dem höchstwahrscheinlich der Prolog des Librettos gewidmet war und für dessen Besuch die Präsentation eines mythologischen Sujets besonders geeignet gewesen sein dürfte.
3.7.3. Fazit Orpheus Und Euridice ist eine dem venezianischen Operntyp verpflichtete und am bürgerlichen Geschmack orientierte Oper. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Liebesthematik in den Vordergrund des anonymen Librettos rückt. Dabei begegnet man nicht mehr einer moralisierenden Lehre der Affektkontrolle, sondern eher einer – für die Opern des ausgehenden 17. Jahrhunderts charakteristischen – Darstellung der Allmacht der Liebe. Der Liebesaffekt wird nicht mehr einer kritischen Betrachtung unterzogen, sondern – als Nachahmung der Galanterie-Modelle des Adels – vielmehr bejaht und ausgelebt. So wird Haufes für die Hamburger Gänsemarktoper aufgestellte Behauptung bestätigt: was »ursprünglich und anfänglich noch deutliche Belehrung war, [wurde] sehr rasch zur ergötzlichen Belehrung und schließlich zum reinen Ergötzen«503. Auch Orpheus selbst wird in dieser Mythos-Verarbeitung – vor allem im Intrigenknoten des ersten Aktes – auf die simple Rolle eines galanten Liebhabers reduziert. Somit erweist sich das Naumburger Libretto als der einzige der ––––––––––– 502
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Zur Hamburger Gänsemarktoper vgl. u. a. Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678–1738). Wolfenbüttel 1957. Hans Joachim Marx: Geschichte der Hamburger Barockoper. Ein Forschungsbericht. In: Studien zur Barockoper. Hg. v. C. Floros, H. J. Marx u. P. Petersen. Hamburg 1978 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 3), S. 7–35. Hans Joachim Marx: Politische und wirtschaftliche Voraussetzungen der Hamburger Barockoper. In: Floros, Marx u. Petersen: Die frühdeutsche Oper und ihre Beziehungen zu Italien, England und Frankreich. Mozart und seine Zeit, S. 81–89. Zelm: Zur Verarbeitung italienischer Stoffe auf der Hamburger Gänsemarkt-Oper, S. 89–107. Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690–1745). Göttingen 1998 (Abhandlungen zur Musikgeschichte 2). Eberhard Haufe: Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678–1738. Frankfurt / Main u. Berlin 1994, S. 242.
222 hier untersuchten Texten, auf den der auf die Rezeption des Orpheus-Mythos in der Frühen Neuzeit bezogene Satz von Manuela Speiser zutrifft: »Die Opernlibrettisten formten den mythischen Stoff zu einer [...] Liebesgeschichte und verzichteten auf eine tiefgreifende Deutung.«504
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Speiser: Orpheusdarstellungen, S. 23.
4. Schlussbetrachtung Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die barocke Rezeption des Orpheus-Mythos in der neuen Gattung des Musikdramas zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Zeichen der Kontinuität steht, im Laufe des Jahrhunderts allerdings eine signifikante Entwicklung und Veränderung durchläuft. Dabei wird diese Rezeption entscheidend von der Intertextualiät und Interdiskursivität bestimmt. Vor allem die durch den Prozess der Formierung einer neuen Gattung hervorgerufene Dialogizität der Texte – insbesondere die Referenz auf die ersten Orpheus-Opern (L’Euridice von Ottavio Rinuccini und Jacopo Peri und L’Orfeo von Allessandro Striggio und Claudio Monteverdi) in der ersten und auf französische und italienische Libretti in der zweiten Jahrhunderthälfte – lässt eine Vernetzung entstehen, die bestimmte Aspekte der literarischen Mythos-Adaption (wie zum Beispiel die pastorale Entourage oder die Figurenkonstellation) im Musikdrama weiter tradiert. Die Dynamik in der Rezeption des Orpheus-Mythos korreliert mit der Etablierung der neuen Gattung. Der orphisch-mythologische Diskurs, die Reflexion über den Mythos innerhalb eines Werks, gibt zunehmend anderen spezifischen gesellschaftlichen Diskursen Platz. Die Anfänge dieser Tendenz machen sich bereits im ersten untersuchten Textbuch bemerkbar. Obwohl in August Buchners Orpheus und Eurydice die Mythos-Verarbeitung noch nicht über die in der zeitgenössischen Mythographie noch lebendige allegorische Tradition des Mittelalters und der Renaissance hinausgeht, manifestiert sich die neue Attitüde gegenüber dem Mythos in dem ersten Versuch, die traditionelle Deutung der Orpheus-Figur als prophetischen poeta theologus zu instrumentalisieren: Der Mythos dient als Vehikel der Implementierung einer neuen Gattung und der Aufwertung der Dichtung in deutscher Sprache. Auch Herzog Anton Ulrich zu Braunschweigs Singspiel Orpheus ist neben seinem Prätext, Monteverdis und Striggios L’Orfeo, in der Mythos-Deutung noch der Tradition der christlichen Allegorese und Typologie verpflichtet. Anton Ulrich bereichert diese aber bereits um neustoizistisches Gedankengut und integriert dadurch seine Mythos-Verarbeitung in den moralisch-theologischen Diskurs der Epoche. Im Laufe des 17. Jahrhunderts bleibt der produktive Traditionsbezug auf die Orpheus-Texte innerhalb der Gattung konstant, während er sich im Bereich der Mythosauslegung signifikant ändert. Zwar erscheint letztere offensichtlich noch als notwendig. Entgegen der Tradition, in der der Orpheus-Mythos nur auf besondere, christlich-moralisch begründete Art (entsprechend der Lehre vom vierfachen Schriftsinn) reflektiert werden durfte und als mythologisches Exem-
224 pel unter christlichem Vorzeichen betrachtet wurde, wird er jedoch im Rahmen der neuen, sich etablierenden Gattung zunehmend instrumentalisiert, um andere Diskurse wie den Ehe-, Liebes- oder Ethikdiskurs, oder den staatstheoretischen, poetologischen oder moral-theologischen Diskurs zu (re)integrieren und zu reflektieren. Wie am Beispiel von zwei anonymen Libretti – Der beständige Orpheus und Der Höllen-stürmende Liebs-Eiffer Orpheus und Eurydice – und dem Schuldrama Orpheus von Johann Valentin Merbitz deutlich wurde, macht eine solche Instrumentalisierung den Text mitunter zu einem Diskussionsangebot. Bei der Gattung des musikalischen Schuldramas ist diese Erscheinung am längsten zu beobachten. Diese Transformationen münden Ende des 17. Jahrhunderts in eine vollständige poetische Autonomisierung des Orpheus-Mythos. Mit der Festlegung der Gattung ›Oper‹ wird der Mythos zunehmend von seiner didaktischen, moralisch-religiösen Zielsetzung befreit und ausschließlich als Geschichte aufgefasst, die aus der in ihr enthaltenen Intrige heraus zu erzählen, zu erklären und zu vervollständigen ist. Diese kontextfreie Verfügbarkeit reduziert den Orpheus-Mythos auf seinen Grundbestand – die Macht der Dichtung und der Musik in der Gestalt des Orpheus –, und ermöglicht – wie in Friedrich Christian Bressands Orpheus – die dichterische Selbstidentifikation mit der Orpheus-Figur. Dabei muss die Dignität von Dichtung und Musik nicht mehr wie noch bei Buchner religiös vermittelt werden. Die mythologische Handlung steht völlig selbständig und verweist nur auf sich selbst. Die Kunst wird jedoch nicht zwangsläufig zum Hauptthema, wie das anonyme Naumburger Libretto Orpheus Und Euridice bezeugt. Vielmehr wird der emanzipierte Orpheus-Mythos um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert – entsprechend der dominierenden italienischen Opernästhetik – vor allem als Intrige- und Liebesgeschichte aufgefasst, amplifiziert, trivialisiert und dem Publikumsgeschmack angepasst. Die poetische Autonomisierung des Mythos kulminiert damit fast schon in dessen Verfremdung.
Anhang 1. Orpheus von Friedrich Christian Bressand. Überlieferungsgeschichte Das Libretto Orpheus von Friedrich Christian Bressand existiert in mehreren Fassungen. Zu Lebzeiten Bressands erfuhr die Oper eine Aufführung. Die zweite, noch vom Autor überarbeitete Fassung kam kurz nach dessen Tod auf die Braunschweiger Bühne. Später wurde das Textbuch mehrmals revidiert und überarbeitet und die Oper auf verschiedenen Bühnen aufgeführt. Da die einzelnen Fassungen des Librettos aufgrund tiefgreifender Überarbeitungen teilweise stark voneinander abweichen,1 soll im Folgenden dessen Überlieferungs- und Druckgeschichte verfolgt werden. Die Überarbeitungen, die mit einer neuen Drucklegung einhergingen, dokumentieren zugleich die Rezeptionsgeschichte dieses Textes. In der Forschungsliteratur sind die Angaben zur Quellenlage zum Teil widersprüchlich oder lückenhaft. Die Orte, an denen Orpheus mehrfach rezipiert und aufgeführt wurde, sind Braunschweig und Hamburg. Für die Hamburger Bühne sind immer noch die Angaben Johann Matthesons in seinem Musikalischen Patrioten maßgebend.2 Diese für die Geschichte der Hamburger Gänsemarktoper »wichtigste und verläßlichste Aufstellung«3 enthält sämtliche Opern und Gelegenheitsstücke, die zwischen 1678 und 1728 auf der Hamburger Opernbühne aufgeführt wurden.4 Allerdings werden in dieser Aufstellung meistens nur die Erstaufführungen und selten die Reprisen von Opern angegeben. Zu Bressands Orpheus macht Mattheson folgende Angaben: »101. Orpheus, erster Theil. 102. Orpheus andrer Theil. von Hn. Keisers Music und Hn. Bressands Poesie« für das Jahr 1702 und »130. Orpheus, in eines ge––––––––––– 1
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Über die Autoren der Überarbeitungen liegen keine Informationen vor. Allgemein wird vermutet, dass manche Überarbeitungen von Bressands Libretti von Ch. H. Postel stammen. Vgl. Rainer Wolf: [Artikel] Bressand. In: MGG2 3 (2000), Personenteil, Sp. 860–862. Reiner Wolf: [Artikel] Bressand. In: Killy 2 (1989), S. 210–211. Johann Mattheson: Der Musicalische Patriot. Hamburg 1728, S. 188. Klaus Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 39. Zwei weitere Register sind als Quellen zu nennen: Johann Christoph Gottscheds Nöthiger Vorrat von 1757, das weniger vollständig und zuverlässig als Matthesons Aufstellung ist, und die Kritische Einleitung von Friedrich Wilhelm Marpurg, der 1758 das Verzeichnis Gottscheds mit dem Register Matthesons zusammenführte. Gottsched: Nöthiger Vorrat. Friedrich Wilhelm Marpurg: Kritische Einleitung in die Geschichte der Musik. Berlin 1759. Vgl. Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 39.
226 bracht, von Herren Keiser und Bressand. Sonst wie oben No. 101. da es zween Theile waren.« für das Jahr 1709.5 Für das Braunschweiger Theater wurden die ersten Verzeichnisse von Friedrich Chrysander6 und Gustav Friedrich Schmidt7 vorgelegt. Beide stützten sich für ihre Forschungen auf die »bisher gänzlich unbenutzten handschriftlichen Quellen«8. In seiner Abhandlung verzeichnet Chrysander lediglich datierte Drucke, die einen sicheren Aufschluss über die Aufführungen auf der Braunschweiger Bühne erlauben. Folglich erwähnt er nur zwei Fassungen von Bressands Libretto. Zu der ersten unter der Nummer 87 (»Orpheus. Singspiel. (Braunschw., Grüber’s Witwe. 1698.)«9), bemerkt Chrysander: »Von Bressand, dem Landgrafen Friedrich von Hessen dedicirt. Das Werk wurde, wie schon manches frühere, zu lang befunden und deshalb im nächsten Jahre in zwei Theile zerlegt, die wir hier nun als die letzten Zeichen der Thätigkeit Bressand’s unmittelbar folgen lassen.«10 Die zweite Fassung in Chrysanders Verzeichnis ist das oben erwähnte zweiteilige Textbuch von 1699. Bei diesem Libretto erweitert Chrysander seine Angaben um eine ausführliche Inhaltswiedergabe und druckt einige Textpassagen ab. Allgemein finden sich bei Chrysander nur vereinzelt Angaben zu den Standorten der entsprechenden Drucke.11 Dagegen ordnet Schmidt den einzelnen Aufführungen meistens auch entsprechendes Textbuch mit genauer Signatur zu:
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Mattheson: Der Musicalische Patriot, S. 185, S. 188. Mattheson verzeichnet die Aufführungen, macht aber keine Angaben zu den Drucken der Textbücher. Friedrich Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper. Gustav Friedrich Schmidt: Neue Beiträge zur Geschichte der Musik und des Theaters am Herzoglichen Hofe zu Braunschweig-Wolfenbüttel. Ergänzungen und Berichtigungen zu Chrysanders Abhandlung: »Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert«. Erste Folge. Chronologisches Verzeichnis der in Wolfenbüttel, Braunschweig, Salzthal, Bevern und Blankenburg aufgeführten Opern, Ballette und Schauspiele (Komödien) mit Musik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nach den vorhandenen Textbüchern, Partituren und nach anderen gedruckten und handschriftlichen Quellenurkunden. München 1929. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 147. Chrysander gibt an, dass die in seiner Arbeit veröffentlichen Urkunden größtenteils aus dem herzoglichen Archiv zu Wolfenbüttel stammen. Das Verzeichnis von Schmidt ist als Ergänzung zu Chrysanders Abhandlung konzipiert und wurde gemäß dem Titel »nach den vorhandenen Textbüchern, Partituren und nach anderen gedruckten und handschriftlichen Quellenurkunden« erstellt. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 246. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 246. Eine Ausnahme bildet die Fassung von 1699: in einer Fußnote macht Chrysander Bemerkungen zu den handschriftlichen Notizen in einem gedruckten Exemplar und erwähnt, dass es sich um einen Druck »aus der Wolfenbüttelschen Bibliothek« handelt. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 248. In einer anderen Fußnote verzeichnet er Varianten eines Verses in Braunschweiger und »Hamburger Texte[n]«, ohne seine Angaben zu präzisieren. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 249.
227 Nr. 129. Orpheus. Singe-Spiel in fünf Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig 1698.12 Nr. 132. Die sterbende Euridice [Orpheus I Teil]. Singe-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Februar 1699. Textb. 274. Nr. 133. Die verwandelte Leyer des Orpheus [Orpheus II Teil]. Singe-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Februar 1699. Textb. 276. Nr. 147. Orpheus und Euridice (Vgl. Nr. 132/133). Sing-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Februar (?) (Wintermesse) 1700. Textb. 323. Nr. 174. Orpheus und Eurydice (Vgl. Nr. 132/133 u. Nr. 147). Sing-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Februar 1707 (?). Textb. 322. Nr. 308. Orpheus (Vgl. Nr. 132/133, 147 u. 174). Opera in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand (urspr. Doppeloper). Reinhard Keiser (?), G. C. Schürmann (?). Braunschweig. August (Sommermesse) 1727. Textb. 702.13
Von diesen bei Schmidt verzeichneten Drucken sind zwei (Nr. 147 und Nr. 174) undatiert. Aufgrund welcher Quellen Schmidt die Daten der Aufführungen bestimmt, war nicht festzustellen. Die Aufstellungen von Mattheson, Chrysander und Schmidt wurden von der späteren Forschung größtenteils übernommen. Auch die Zuordnung von weiteren Exemplaren und Fassungen von Bressands Orpheus geschah in Anlehnung an diese Verzeichnisse. In diesem Zusammenhang soll auf die Beiträge von Degen,14 Schulze,15 Zelm und Dünnhaupt16 ausführlicher eingegangen werden. Heinz Degen, von dem die bis jetzt einzige Monographie zu Bressand stammt, verzeichnet 23 Drucke des Orpheus, welche den Recherchen des Autors nach auf acht verschiedene Fassungen mit insgesamt fünf Titeln zurückgehen.17 Degens Angaben sind aber nicht vollständig und teilweise fehlerhaft. So ist ihm die Fassung von 1698 nicht bekannt, weswegen er das Textbuch der Hamburger Aufführung von 1702 als Kürzung der Fassung von 1699 ansieht. Auch dass der Braunschweiger Druck von Grubers Witwe (Orpheus und Euridice, In einem Sing-Spiel Auf der Braunschweigischen Schau-Bühne vorgestellet. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe und Er––––––––––– 12 13 14 15
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Die fehlende Signatur lässt vermuten, dass Schmidt dieses Exemplar nicht vorlag. Schmidt: Neue Beiträge, S. 12. Degen: Friedrich Christian Bressand. Walter Schulze: Die Quellen der Hamburger Oper (1678–1738). Eine bibliographisch-statistische Studie zur Geschichte der ersten stehenden deutschen Oper. Hamburg u. Oldenburg 1938. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographie zu den Drucken des Barock. 6 Bde. Stuttgart 21990–1993. Bd. 2 (1990), S. 795–798. Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 64, 310ff. Degen verzeichnet folgende Fassungen: die ›Doppeloper‹ »Die Sterbende Euridice« (zwei Fassungen: Braunschweig 1699 und Hamburg [1702?]) und »Die verwandelte Leyer des Orpheus« (Braunschweig 1699); »Orpheus und Euridice« (zwei Fassungen, beide Braunschweig, o. J.); »Orpheus« (zwei Fassungen: Hamburg [1702?] und Schwerin 1753); »Die Treue des Orpheus« (Hamburg 1709).
228 ben. von vermutlich 1702) ein Mischdruck ist, hat Degen nicht erkannt. Im Libretto zur Schweriner Aufführung von 1753 erblickt er »im Wesentlichen eine verkürzte Ausgabe der vorletzten Braunschweiger Fassung«18, während es sich bei diesem Textbuch um einen getreuen Nachdruck handelt. Walter Schulze verzeichnet in seiner bibliographisch-statistischen Studie Die Quellen der Hamburger Oper nicht nur die erhaltenen Partituren zu Bressands Orpheus, sondern macht auch Angaben zu den Textbüchern. Schulze erwähnt die Hamburger Fassungen von 1702 und 1709 und befasst sich ausführlicher mit dem Schweriner Druck von 175319, bei welchem er richtig dessen frühere Fehlidentifikation mit der Hamburger Fassung von 1702 feststellt. Klaus Zelm nennt in seiner Studie Die Opern Reinhard Keisers im Kapitel »Chronologie der Opern« in Anlehnung an die Aufstellungen von Mattheson, Chrysander und Schmidt folgende Aufführungen: »Orpheus« 1698 (fünf Akte), wiederaufgeführt als »Die sterbende Euridice« und »Die verwandelte Leyer des Orpheus«, jeweils 3 Akte (Braunschweig 1699); »Die sterbende Eurydice« »Orpheus ander Theil«, jeweils 3 Akte (Hamburg 1702); »Orpheus«, 5 Akte (Hamburg 1709).20 In den beiden zweiteiligen Fassungen sieht er eine gekürzte Textvariante der Fassung aus dem Jahr 1698.21 Gerhard Dünnhaupt schreibt in seiner Bibliographie Bressand eine anonyme deutsche Übersetzung der Oper L’Orfeo von Aurelio Aureli zur Musik von Antonio Sartorio zu, die 1690 in Braunschweig in italienischer Sprache aufgeführt und im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde. In dem bei Chrysander ohne Standortnachweis verzeichneten Textbuch »Orpheus« von 1698,22 das Dünnhaupt zur Autopsie nicht vorlag,23 vermutet Dünnhaupt einen zur nochmaligen Aufführung mit der italienischen Originalmusik von Antonio Sartorio veranlassten Nachdruck der Übersetzung von 1690. Des weiteren übernimmt er Chrysanders Angaben, dass die Fassung von 169824 für zu lang befunden und »daher im folgenden Jahr in zwei abendfüllende Teile zerlegt«25 wurde.
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Degen: Friedrich Christian Bressand, S. 74. »Orpheus. Ein Musical. Schauspiel auf dem Hamburg. Theatro aufgeführet Anno 1702 von Reinh. Keiser...und auf höchster Verordnung abermals zum Druck befördert worden. Schwerin, den 1ten Septemb. 1753«. Schulze: Die Quellen der Hamburger Oper, S. 35f. Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 44ff. Dies trifft allerdings nur für das Hamburger Textbuch zu. Nummer 87. Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 246. Bei diesem Druck macht Dünnhaupt auch keine Standortangaben. Vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 796. »Orpheus | in einer italiänischen Opera | auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet. – Braunschweig: Grubers Witwe, 1698.« Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 796. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 796. Dabei hat Dünnhaupt den Titel der Übersetzung (»Orpheus in einer Italiänischen Opera Auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet / und daraus in das Teusche übersetzt. – Braunschweig, 1690«) übernommen und mit Chrysanders Angaben zum Drucker versehen.
229 Von dieser zweiteiligen Fassung von 169926 verzeichnet Dünnhaupt Exemplare in Berlin, in der HAAB (nur Teil I), in der HAB (dieses Exemplar lag Dünnhaupt zur Autopsie vor) und in Niedersächsischen Staatsarchiv (nur Teil II). Als weitere Fassungen werden von Dünnhaupt festgestellt: eine zweiteilige Hamburger Fassung von vermutlich 1702;27 das dreiaktige Libretto von vermutlich 1702 (gedruckt bei Caspar Grubers Witwe28) und das dreiaktige Textbuch von 1707 (verlegt von Christoph Friedrich Fickel)29. Als dasselbe Werk unter neuem Titel verzeichnet Dünnhaupt die Hamburger Fassung von 1709,30 obwohl diese fünf Akte aufweist. Da er davon ausgeht, dass die deutsche Übersetzung von Aurelis Libretto allen Fassungen zugrunde liegt, gibt er an, dass bei vielen Arien in der Fassung von 1709 der italienische Originaltext mit abgedruckt ist.31 Die letzte Textfassung, die Dünnhaupt nennt, ist das Textbuch der Braunschweiger Aufführung von 1727.32 Dünnhaupt bezeichnet sie als dreiaktige Neufassung. ––––––––––– 26
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»Die sterbende | EURIDICE | Singe-Spiel/ | auf dem Braunschweigischen Schau-Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ | HERRN | Anthon Ulrichen | Hertzogen zu Braunschweig und | Lüneburg & c. & c. | Unterthänigst gewidmet. | Braunschweig/ | Jn Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. | Gedruckt bey Heinrich Keßlern/ 1699«; »Tl. II u. d. T. Die verwandelte Leyer des Orpheus.« Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 796–797. »Die Sterbende | EURYDICE | Oder: | ORPHEUS | Erster Theil. | Jn einem | Singe-Spiel/ | Auff dem | Hamburgischen Schau-Platz | vorgestellet. | HAMBURG, | Gedruckt bey Conrad Neumann/ E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. – o. J.«; »Tl. II jetzt unter dem Titel Orpheus Ander Theil.«, Druckexemplare in StaBi Berlin (nur Teil I), SUB Hamburg, CL USA (das Exemplar wurde autopsiert), HAAB und ÖN Wien. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 797. »ORPHEUS | Und | EURIDICE, | Jn einem Sing-Spiel | Auf der Braunschweigischen Schau-|Bühne | vorgestellet. | Braunschweig/ | Jn Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe/ | und Erben. – [1702].«, Exemplare in StaBi Berlin, CL USA, HAAB, HAB (das Exemplar wurde autopsiert) und im NSA. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 797. »ORPHEUS | Und | EURYDICE, | Jn einem | Sing-Spiel | Auf dem Braunschweigischen Schau-Platze | vorgestellet. | Mit Hochfürstl. Braunschw. und Lüneb. Special-Freyheit. | Braunschweig/ | Jn Verlegung Christoph Friedrich Fickels. – o. J.« (Exemplare in Washington CL USA und Wolfenbüttel HAB (autopsiert)). Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 797. »Die | Biß in/ und nach dem Todt/ unerhörte | Treue/ | Des | ORPHEUS. | Jn einem Singe-Spiel | auf dem | Grossen Hamburgischen Schau-Platze | vorzustellen. | Jm Jahr 1709. | Hamburg/ gedruckt bey Joh. Nic. Gennagel. – [1709].« Die Exemplare dieses Druckes befinden sich laut Dünnhaupts Angaben in SUB Hamburg, UI USA, CL USA, HAAB und ÖB Wien (das Exemplar wurde autopsiert). Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 797. Tatsächlich handelt es sich aber um Neutextierungen, die weder auf die Autorschaft Bressands noch auf die Übersetzung von 1690 zurückzuführen sind. Dünnhaupts fehlerhafte Bestimmung aller späteren Fassungen als Überarbeitungen der Übersetzung von 1690 wird in der Sekundärliteratur teilweise übernommen, z. B. von Christine Blanken in ihrem Artikel Reinhard Keiser, in: MGG2 9 (2000), Personenteil, S. 1605. »ORPHEUS | Jn einer | OPERA | vorgestellet | Auf dem grossen | Braunschweigischen THEATRO | Jn der Sommer-Messe 1727. | Wolffenbüttel/ | Druckts Christian Bartsch/ Herzogl. Hof- und Canzeley-Buchdr. – [1727].« Von den zwei Exemplaren in CL USA
230 Sara Smart erwähnt und interpretiert im Rahmen ihrer Untersuchung zu den Hoffestlichkeiten in Braunschweig-Wolfenbüttel die zweiteilige Fassung von 1699.33 Weitere Veröffentlichungen zu Bressand oder Keiser beschränken sich überwiegend auf die Nennung der Fassungen von 1698 und 1699 sowie auf die Hamburger Fassung von 1702. Die widersprüchlichen Angaben in der Forschungsliteratur machten im Rahmen dieser Arbeit eine Recherche nach vorhandenen Textzeugen, eine Sichtung der Exemplare sowie eine Rekonstruktion der Druckgeschichte notwendig. Eine vollständige Erfassung der Varianten war jedoch nicht möglich, so dass das Resultat die tatsächliche Überlieferung nur bedingt widerspiegelt. Die Ergebnisse der Sichtung werden mit Hilfe der Siglierung wiedergegeben und die Drucke in der chronologischen Reihenfolge ihres ermittelten Erscheinens mit Großbuchstaben in alphabetischen Reihenfolge gekennzeichnet. Eine neue Fassung weist die nächstfolgende Sigle auf. Bei den Mischexemplaren bzw. Drucken mit stellenweise neuem Bogensatz bei sonstiger Übereinstimmung erfolgt eine chronologische Unterordnung mit Index-Ziffern 1, 2, 3 usw. Die Teile der zweiteiligen Fassungen werden mit demselben Buchstaben gekennzeichnet und mit römischen Zahlen versehen. Der vollständige Text der Titelseite wird diplomatisch getreu, jedoch ohne Berücksichtigung von Fettund Sperrdruck wiedergegeben. Das Zeilenende wird durch den einfachen geraden Strich | markiert, die alte Schreibweise der Umlaute ersetzt. Der Buchschmuck der autopsierten Exemplare wird kurz beschrieben.34 Insgesamt konnten 17 Druckexemplare eingesehen werden, darunter zwei zweiteilige Libretti.35 Die Autopsie der verfügbaren Exemplare ergab folgenden Befund: Insgesamt konnten acht Fassungen identifiziert werden, die in unterschiedlichem Maße divergieren. Die Autopsie des Librettos ORPHEUS, | In | Einer Italiaenischen | OPERA | Auf dem Schau=Platz zu | Braunschweig | vorgestellet / | Und | Daraus in das Teutsche | übersetzet. | Braunschweig / | Gedruckt durch Christoph Friederich | Zilligern / Anno 1690.
(Exemplar des Niedersächsischen Staatsarchivs, Signatur S 2304,a) hat ergeben, dass der Text irrtümlicherweise von Dünnhaupt als Bressands Orpheus identifiziert wurde.36 Die Frage, ob der Text dieser Übersetzung Bressand zuzuschreiben ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. –––––––––––
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und HAB lag Dünnhaupt das letztere zur Autopsie vor. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 798. Smart: Doppelte Freude der Musen. ›Zierleiste‹ bezeichnet eine rechteckige Verzierung, die über die Breite des Satzspiegels gedruckt ist und gewöhnlich aus einzelnen Ornamenttypen oder figürlichen Darstellungen zusammengesetzt ist. Als ›Vignette‹ werden (kleinere) einzelne Ornamente bezeichnet. Standorte und Druckbesonderheiten können der Tabelle auf S. 235–236 entnommen werden. Allerdings weist Dünnhaupt darauf hin, dass seine Angaben zu diesem Druck nicht auf der Autopsie beruhen. Dünnhaupt: Personalbibliographie, S. 796.
231 Nicht alle Exemplare verzeichnen auf dem Titelblatt das Druckbzw. Aufführungsjahr. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, eine chronologische Reihenfolge der Drucke und der Aufführungen zu erstellen. Dabei werden in der Überlieferungsgeschichte dieses Orpheus-Textes zwei Stränge sichtbar, die auf die Erstfassung von 1698 zurückgehen: 1. die von Bressand selbst verfasste Textüberarbeitung für die Aufführungen in Braunschweig sowie spätere Drucke, deren Texteingriffe auf diese Fassungen zurückgehen, und 2. Librettofassungen für die Aufführungen in der Hamburger Gänsemarktoper. Erstfassung A (1698): A1: ORPHEUS, | Singe=Spiel / | auf dem Braunschw. Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und | Herrn / | Hn. Friderichen / | Landgrafen zu Hessen / Fürsten zu | Hirschfeld / Grafen zu Catzen Ellenbogen / Dietz / | Ziegenhahn / Nidda und Schaum= | berg / &c. | Unterthänigst gewidmet | Von | F. C. Bressand. | [Zierlinie] | Braunschweig / | In Verlegung Caspar Grubers sehl. nachgel. Wittwe. | Gedruckt daselbst bey Heinrich Keßlern. A2: ORPHEUS, | Singe=Spiel / | auf dem Braunschw. Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und | Herrn / | Hn. Friderichen / | Landgrafen zu Hessen / Fürsten zu | Hirschfeld / Grafen zu Catzen Ellenbogen / Dietz / | Ziegenhahn / Nidda und Schaum= | berg / &c. | Unterthänigst gewidmet | Von | F. C. Bressand. | [Zierlinie] | Braunschweig / | In Verlegung Caspar Grubers sehl. nachgel. Wittwe. | Gedruckt daselbst bey Heinrich Keßlern. 1698. Zur Autopsie lagen zwei Exemplare der Niedersächsischen Landesbibliothek vor (Op. 1,63a und Op. 1,63b), die im Folgenden als A1 und A2 bezeichnet werden. Beide Drucke sind mit Ausnahme der Jahresangabe auf dem Titelblatt (1698 auf A2, A1 o. J.) satzidentisch. Zelm hat in seiner Studie im Zusammenhang mit der Hamburger Bühne auf die Gängigkeit solcher Druckerpraxis hingewiesen: in der Geschichte der Hamburger Gänsemarktoper gibt es Beispiele, »wo zu einer Oper im gleichen Jahr eine zweite Textauflage erschien, die bisweilen nur in der äußeren Anlage des Titelblattes [...] von der ersten abwich.«37 Dem Druck A2 sind das Titelblatt und das Personenverzeichnis eines späteren Druckes – aller Wahrscheinlichkeit nach des Druckes der Fassung C (einer nach dem Tod Bressands erfolgten Überarbeitung der späteren Orpheus-Fassung von 1699) – vorgebunden, es handelt sich dabei allerdings nicht um einen zeitgenössischen Einband.
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Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 39.
232 Fassung B (1699) Die Fassung von 1698 liegt der zweiteiligen Überarbeitung zugrunde, welche auf 1699 datiert wird. Die Aufführung der Oper und der Druck erfolgten einige Monate nach dem plötzlichen Tod Bressands, wovon u. a. die Widmungen an den Herzog Anton Ulrich und seine Gemahlin Elisabeth Juliana zeugen. Chrysander behauptet, dass es sich bei diesem Textbuch um die Wiederaufführung der Oper nach dem Libretto von 1698 handelt, das wegen der Länge in zwei Teile geteilt wurde.38 Zelm vertritt in Anlehnung an die Widmung an die Herzogin die Auffassung, die Oper sei »eine gekürzte Fassung des ‚Orpheus’ aus dem Jahr 1698«39. Für diese Fassung ist Zelms Aussage aber nicht zutreffend. Bei seiner Beurteilung ist er möglicherweise vom Hamburger Textbuch der zweiteiligen Oper (Fassung D) ausgegangen, die vermutlich 1702 aufgeführt wurde und tatsächlich lediglich eine Kürzung der Fassung A von 1698 darstellt. Dagegen zeichnet sich die zweiteilige Fassung B von 1699 durch eine erhebliche Textaddition bei sonstiger Beibehaltung des Textes der Fassung A von 1698 aus. Der erste Teil (hier als BI bezeichnet) lag mit dem Exemplar der HAB (Signatur Textb. 274) zur Autopsie vor. Von dem zweiten Teil BII wurden drei Exemplare (HAB Textb. 276, GWLB Op. 1,67, NSI S 2372), autopsiert. Fassung BI: Die sterbende | EURIDICE | Singe=Spiel / | auf dem Braunschweigischen Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / | HERRN | Anthon Ulrichen | Hertzogen zu Braunschweig und | Lüneburg / &c. &c. | Unterthänigst gewidmet. | [Linie] | Braunschweig / | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. | Gedruckt bey Heinrich Keßlern / 1699. Auch wenn das Textbuch auf dem Titelblatt und in der Vorrede als Neufassung des Librettos von 1698 präsentiert wird, sind lediglich das Titelblatt, die Vorstücke und das Blatt A neu gedruckt. Ansonsten handelt es sich um eine Wiederverwendung der Bogen A–G (Blätter A2–G4) von der Druckauflage der Fassung A (1698). Der Text wird nach dem Abschluss der dritten Handlung unterbrochen, die Kustode »Vierte« auf G4 weist auf einen weiteren Textanschluss hin. Somit kann vermutet werden, dass sich Bressands Texteingriffe lediglich auf die letzten zwei Handlungen der Urfassung bezogen. Fassung BII: Die verwandelte | Leyer des OR- | PHEUS, | In einem | Singe=Spiel / | auf dem Braunschweigischen Schau=Platz | vorgestellet. | Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / | FRAUEN | ELISABETHA | JULIANA, | Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg / | gebohrner Hertzogin zu Schleßwig=Holstein / &c. | Unterthänigst gewidmet. | [Linie] | Braunschweig / | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. | Wittwe / 1699. ––––––––––– 38 39
Chrysander: Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper, S. 246. Zelm: Die Opern Reinhard Keisers, S. 46.
233 Die drei für eine Autopsie verfügbaren Exemplare der Fassung BII sind satzidentisch. Es handelt sich dabei um einen Erstdruck, der sich gegenüber BI und A durch eine verbesserte und vereinheitlichte Orthographie und Interpunktion auszeichnet. Bressands Neubearbeitung der Fassung A von 1698 beschränkte sich ausschließlich auf den zweiten Teil. Im Druck werden zweimal Auftritte falsch nummeriert. So sind in der ersten Handlung zwei Auftritte als ›Auftritt 3‹ gekennzeichnet (die Änderung der Nummerierung aufgrund der Hinzufügung eines neuen Auftritts wurde vergessen), danach wird allerdings die richtige Nummerierung wiederaufgenommen. In der dritten Handlung kommt zweimal der 2. Auftritt vor, wobei die falsche Nummerierung fortgesetzt wird. (Im Unterschied zur Fassung A von 1698 wird in BII das Lied des Orpheus in eine separate Szene (2. Auftritt) ausgegliedert, der nächste Auftritt behält irrtümlicherweise die Nummerierung der Fassung A von 1698 bei.) Die Textvarianten A und B können als autorisierte Fassungen betrachtet werden. Bei allen späteren Texteingriffen handelt es sich offensichtlich um postume Überarbeitungen. Ab hier lassen sich zwei Überlieferungsstränge erkennen, die separat betrachtet werden sollen. Die Drucke werden trotzdem weiterhin in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens alphabetisch gekennzeichnet. Bei der Datierung der Drucke bildet für den Hamburger Strang Matthesons Musikalischer Patriot die Orientierungsgrundlage, für den Braunschweiger Strang sind die Auflistungen von Chrysander und Schmidt maßgebend. Braunschweiger Überlieferungsstrang Bei Chrysander fehlen jegliche Angaben zum ›Weiterleben‹ des Orpheus nach 1699. Nach Schmidts Ermittlungen wurde die Oper Orpheus nach Bressands Tod in Braunschweig in den Wintermessen von 1700 und von 1707 aufgeführt.40 Diesen Aufführungen hat Schmidt jeweils einen Druck zugewiesen (Textb. 323 und Textb. 322 der HAB entsprechend).41 Die Zuweisung basiert offensichtlich auf den Druckerangaben: Textb. 323 wird noch von der Witwe des Braunschweiger Verlegers und Druckers Kaspar Gruber firmiert, deren Name auch auf den Drucken der zweiteiligen Fassung B von 1699 (BI, BII) ausgewiesen ist.42 1702 heiratete die Witwe Christoph Friedrich Fickel, der die ––––––––––– 40 41
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Aufgrund welcher Quellen die Zuweisungen erfolgten, war nicht festzustellen. »Nr. 147. Orpheus und Euridice (Vgl. Nr. 132/133). Sing-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Ferbruar (?) (Wintermesse) 1700. Textb. 323. Nr. 174. Orpheus und Euridice (Vgl. Nr. 132/133 u. Nr. 147). Sing-Spiel in 3 Handlungen. Fridrich Chr. Bressand. Reinhard Keiser. Braunschweig. Februar 1707 (?). Textb. 322.« Schmidt, S. 12. Caspar Gruber, vermutlich der Sohn des Braunschweiger Druckers und Verlegers Balthasar Gruber (1629–1645) firmierte gelegentlich mit Christoph Friedrich Zilliger, der 1645 die Witwe Balthasar Grubers heiratete und die Druckerei übernahm. Caspar Gruber »wird als Erbteil eine Presse erhalten haben, die nach den Druckvermerken (in der Druckerei Kaspar Grubers) wahrscheinlich durch Kauf oder Erbgang auf einen Heinrich Keßler über-
234 Druckerei weiterführte.43 Eine Datierung von Textb. 323 mit 1700 und Textb. 322 mit 1707, die hier als Fassungen C und E bezeichnet werden sollen, erweist sich somit als schlüssig. Eine genauere Untersuchung von beiden Fassungen wirft allerdings einige Fragen auf. Fassung C: ORPHEUS | Und | EURIDICE, | In einem | Sing=Spiel | Auf der Braunschweigischen Schau= | Bühne | vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Blumenvase] | [Linie] | Braunschweig / | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe / | und Erben. Von dieser Fassung waren drei Exemplare greifbar. Die Drucke befinden sich in der HAB (Textb. 323), im NSA (S 2374) und in der GWLB (Op. 15,3). Die Exemplare der HAB und des NSA sind satzidentisch und zeichnen sich durch eine fehlerhafte Bogensignatur aus. Von 28 Blättern tragen 20 eine Bogensignatur auf der recto-Seite (das vierte Blatt bleibt durchgehend unsigniert). Die Reihenfolge der Bogen vermittelt allerdings den Eindruck eines Zwitterdruckes: die Bogensignatur D sowie die Signaturen C–C4 kommen zweimal vor, wobei sich Klein- und Großbuchstaben abwechseln (A–D, unsigniertes Blatt, C–E4). Dies erklärt sich dadruch, dass ab dem zweiten C-Bogen die Bogen der Restauflage vom Druck der Fassung BII von 1699 benutzt wurden. Das Exemplar der GWLB unterscheidet sich auf den ersten Blick von den zwei oben beschriebenen Drucken: es fehlen das Titelblatt und das folgende Blatt ohne Bogensignatur, der Druck weist 22 Blätter auf und zeichnet sich durch die richtige Reihenfolge der Bogensignaturen aus.44 Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieses Exemplar allerdings als satzidentisch mit den Drucken der HAB und des NSA, bei dem lediglich die Bogen mit ›doppelten‹ Signaturen – die Lage C–C4 – entfernt worden sind. Außerdem konnten auch das Titelblatt und das Personenverzeichnis dieses Exemplars mit größter Wahrscheinlichkeit identifiziert werden: Sie sind dem Druck der Fassung A (Exemplar Op. 1,63b in der GWLB) vorgebunden. Die Fassung C kann aufgrund ihrer Überlieferung als Mischdruck nur bis zum vierten Auftritt der zweiten Handlung als selbständige Fassung betrachtet werden. Der Druck zeichnet sich vor allem durch eine Fülle von Druckfehlern aus.45 Als Vorlage für diese Fassung diente offensichtlich die Fassung von 1699 (BI und BII). –––––––––––
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gegangen ist.« David Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701– 1750. Wiesbaden 1988, S. 63. Der Name Keßlers (1699–1715) wird auf dem Druckexemplar der Fassung B2 erwähnt (»In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. Gedruckt bey Heinrich Keßlern / 1699«). Vgl. David Paisey: Catalogue of German printed books to 1900. London 2002. Vgl. auch C. L. Grotenfend: Geschichte der Buchdruckereien in den Hannoverischen und Braunschweigischen Landen. Hg. v. F. G. H. Eulemann. Hannover 1840. Allerdings lässt Paisey Fickels verlegerische Tätigkeit bereits mit dem Jahre 1701 beginnen. Dem Textbuch ist darüber hinaus eine vierblättrige Festbeschreibung aus dem Jahre 1732 vorgebunden. Z. B. »Freundin meines Wohlseyns« statt Feindin.
235 Fassung E: ORPHEUS | Und | EURYDICE, | In einem | Sing=Spiel | Auf dem Braunschweigischen Schau=Platze | vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Pferd] | Mit Hochfürstl. Braunschw. und Lüneb. Special-Freyheit. | [Linie] | Braunschweig / | In Verlegung Christoph Friedrich Fickels. Von dieser Fassung lagen zwei Exemplare vor (HAB, Textb. 322 und NSA, S 2404(3)). Dabei handelt es sich um einen neu gesetzten Druck, für den offensichtlich sowohl die Fassung A von 1698 als auch die Fassung B von 1699 als Vorlagen dienten, wobei der Anteil der Fassung A überwiegt. In den Handlungen I bis III wurden vor allem Umstellungen von Auftritten und einzelnen Passagen innerhalb der Auftritte vorgenommen. Hinzu kamen neue Auftritte, die eine erklärende Funktion haben: durch die Auslassung eines Nebenstranges bedurften die Zusammenhänge und Konstellationen des Sujets einer zusätzlichen Erläuterung. In den zwei letzten Handlungen weist der Text mehr Mischelemente der beiden Fassungen auf (überwiegend auf der lexikalischen Ebene). Ein Textvergleich der beiden Fassungen C und E wirft die Frage nach einer gemeinsamen Druckvorlage auf. Diese lässt sich allerdings nicht eindeutig beantworten. Auf eine gemeinsame handschriftliche Vorlage für C und E deuten vor allem die Komposition der beiden Fassungen, die gleiche Umstellung der Auftritte sowie die meist übereinstimmenden neugedichteten Arien und Auftritte hin. Dass der Druck der Fassung C eine korrupte Wiedergabe einer vermutlichen Satzvorlage ist, die im Druck der Fassung E korrekt wiedergegeben wurde, kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. C und E weisen neben vielen Gemeinsamkeiten auch erhebliche Differenzen auf. Unterschiede auf der lexikalischen Ebene lassen sich in den meisten Fällen auf die verschiedenen Vorlagen (A für E und BII für C) zurückführen. Die meisten Neutextierungen der Fassung E, die im Druck der Fassung C fehlen, betreffen die Arien. In C bleibt anstelle dieser Neuerungen die Textvariante von BII erhalten. Bemerkenswert ist auch, dass viele Passagen der Fassungen A und B (sowohl Arien als auch Rezitative), die in E fehlen, in C durch Anführungszeichen hervorgehoben sind.46 Allerdings weist C auch einige Textadditionen von größerem Umfang auf, die weder in A und B noch in E vorhanden sind. Ein Beispiel dafür ––––––––––– 46
Zwar wurden gewöhnlich die nicht zu vertonenden Verse mit Anführungsstrichen versehen, in diesem Textbuch sind aber auch die Arien damit gekennzeichnet. Eine mögliche Erläuterung bietet Bressands Vorwort zu Procris und Cephalus: »Weil man beförchtet / die Opera möchte ein wenig zu lang währen / als hat man hin und wieder in dem singen etwas ausgelassen / und solches in dem Drucke mit diesen Doppelstrichen „ bezeichnet / damit der Leser selbiges mit einem blikke gleich überschlagen / und die augen dem Sänger ohne hindernüs folgen mögen.« Friedrich Christian Bressand: Procris und Cephalus. Braunschweig 1694, Vorwort. Zelm weist auf den venezianischen Ursprung dieser Praxis hin. Die mit Anführungszeichen versehenen Zeilen wurden weder komponiert noch aufgeführt, sie dienten nicht nur als Verständnishilfe, sondern machten den Librettotext zu einem Lesedrama. Vgl. Zelm: Zur Verarbeitung italienischer Stoffe auf der Hamburger Gänsemarkt-Oper, S. 96, S. 106.
236 ist das neue Duett von Orpheus und Euridice im zweiten Auftritt der zweiten Handlung, das ein à part ersetzt. Es ist anzunehmen, dass nach Bressands Tod das zweiteilige Textbuch zu einem einteiligen stark gekürzten Libretto zusammengefasst wurde. In der Offizin von Kaspar Grubers Witwe wurden die Neuerungen als geringfügig wahrgenommen, weswegen ab dem Bogen D (Auftritt 4 der zweiten Handlung) die verbliebenen Bogen der Restauflage BII benutzt wurden.47 Dieselbe handschriftliche Textvorlage wurde 1707 geringfügig umgearbeitet, vor allem im Bezug auf Arien dem Publikumsgeschmack angepasst und neu gedruckt. Fassung G: ORPHEUS | In einer | OPERA | vorgestellet | Auf dem grossen | Braunschweigischen THEATRO | in der Sommer=Messe 1727. | [Holzschnittvignette] | [Doppellinie] / Wolffenbüttel / | Druckts Christian Bartsch / Herzogl. Hof= und Canzeley=Buchdr. Zum letzten Mal wurde Orpheus auf der Braunschweiger Bühne im Jahre 1727 aufgeführt. Die Fassung G stellt eine weitere Überarbeitung der Fassung E dar, wobei sich die Änderungen meist auf Arien beziehen. Darüber hinaus unterlag die Fassung E einer weiteren, obwohl geringen, Kürzung, die sich auf einige Rezitative bezog. Hamburger Überlieferungsstrang Nach den Angaben Matthesons wurde Orpheus in der Gänsemarktoper zweimal aufgeführt: 1702 und 1709.48 Fassung DI: Die Sterbende | EURYDICE | Oder: | ORPHEUS | Erster Theil. | In einem Singe=Spiel / | Auff dem | Hamburgischen Schau=Platz / vorgestellet. | [Linie] | HAMBURG, | Gedruckt bey Conrad Neumann / E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. Fassung DII: ORPHEUS | Ander Theil. | In einem Singe=Spiel / | Auff dem | Hamburgischen Schau=Platz | vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Ornament] | HAMBURG, | Gedruckt bey Conrad Neumann / E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. Bei der Fassung D handelt es sich um ein zweiteiliges Textbuch. Von dieser Fassung DI (Teil I) und DII (Teil II) konnten die Exemplare der Staatsbibliothek zu Berlin eingesehen werden. D stellt lediglich eine abgekürzte Textvari––––––––––– 47
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Die Praxis, nicht verkaufte Exemplare bis zur nächsten Aufführung des Stücks aufzubewahren, ist aus den Untersuchungen zurr Hamburger Gänsemarkt-Oper bekannt. Vgl. Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher. Laaber 1995, S. 16. »Fortsetzung des Opern-Verzeichnisses von Anno 1702. 101. Orpheus, erstes Theil. 102. Orpheus andrer Theil. von Hn. Keisers Music und Hn. Bressands Poesie.« S. 185; »1709 130. Orpheus, in eines gebracht, von Herren Keiser und Bressand. Sonst wie oben No. 101. da es zween Theile waren.« Mattheson: Der Musicalische Patriot, S. 188.
237 ante der Fassung A dar, die in zwei Teile aufgegliedert wurde.49 Eine handschriftliche Druckvorlage dieses Librettos befindet sich in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Fassung F: Die | Biß in / und nach dem Todt / unerhörte | Treue / | Des | ORPHEUS. | [Holzschnitt] | In einem Singe=Spiel | auf dem | Grossen Hamburgischen Schau=Platze | vorzustellen. | Im Jahr 1709. | [Linie] | Hamburg / gedruckt bey Joh. Nic. Gennagel. Auch die Fassung F von 1709 stellt eine gekürzte Variante der Fassung A dar. Das Exemplar der GWLB wurde autopsiert. Außer starker Textkürzungen zeichnet sich diese Fassung durch neu hinzugedichtete Arien in italienischer Sprache mit paralleler deutscher Prosaübersetzung aus. Fassung H: Orpheus. | Ein musicalisches Schauspiel. | auf | dem Hamburgischen Theatro aufgeführet | Anno 1702. | von | Reinhard Keiser, | Hochfürstl. Mecklenburgis. Capell=Meister. | [Linie] | Ludewig und H. Z. M. | auf höchster Verordnung | abermals zum Druck befordert worden. | Schwerin, den Iten September, | 1753. | [Linie] | Bey Wilhelm Bärensprung, | Herzoglich=Mecklenburgischer Hof=Buchdrucker. Einen interessanten Fall stellt die Fassung H dar. Der wohl einzige Druck befindet sich in der Schweriner Landesbibliothek. Das Titelblatt bezeichnet den Druck als Nachdruck des Textbuches für die Hamburger Aufführung von 1702: »auf höchster Verordnung abermals zum Druck befordert [...] Schwerin, den Iten September, 1753«. Bereits Schulze bezweifelt, dass es sich tatsächlich um denselben Text handelt. Da die erhaltene Schweriner Musik zu Orpheus »von der in der Berliner Ariensammlung 11 486 überlieferten Musik zur Hamburger Fassung von 1709 [Fassung D] vollkommen verschieden ist«50, nimmt er an, dass es sich um zwei verschiedene Opern handelt. Schulze betont ausdrücklich die Textunterschiede und vermutet, das Hamburger Libretto habe für den Schweriner Druck als Vorlage gedient.51 Tatsächlich aber stellt die Fassung H einen bis auf einige Stilkorrekturen getreuen Nachdruck des Mischdruckes der ––––––––––– 49
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Bemerkenswerterweise fehlen in DI und DII Textpassagen, die im Druck der Fassung A mit Anführungsstrichen markiert sind. Es könnte sich dabei um nicht zu vertonenden Partien handeln, allerdings sind darunter auch Arien. Somit ist auch möglich, dass die gekürzte Fassung für die Hamburger Bühne vom Autor bereits bei der Genese des Textes vorgesehen wurde. Schulze: Die Quellen der Hamburger Oper, S. 36. »Der besagte Schweriner Text von 1753 weicht von dem Hamburger Text von 1702 im Aufbau wie im Wortlaut so stark ab, daß sie zwei gänzlich voneinander verschiedene Opern darstellen. Allerdings ist das Hamburger Werk als Vorlage für das Schweriner benutzt worden. Aus dem Hamburger zweiteiligen Libretto wurde durch eine sehr freie Bearbeitung, d. h. durch Zusammenziehung, Kürzung und Hinzufügen neuer Textbestandteile eine einteiliges Stück geschmiedet. Die Arientexte wurden zwar zum Teil beibehalten, aber in ihrem Wortlaut großen Änderungen unterworfen. Schon aus dieser textlichen Verschiedenheit gilt es als ausgeschlossen daß die Keiserliche Musik für das Schweriner Stück auch nur zum Teil beibehalten wurde.« Schulze: Die Quellen der Hamburger Oper, S. 36.
238 Fassung C dar, der vermutlich zwei Jahre früher als das zweiteilige Hamburger Textbuch von 1702 (Fassung D) zu datieren ist. Der Frage, wer Schweriner Musik zu dieser Oper komponiert hat, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgegangen werden. Es ist aber bemerkenswert, dass im Jahre 1753 ausgerechnet der korrupte Braunschweiger Druck für die Hamburger Fassung von 1702 galt, welche der Erstfassung des Orpheus, obwohl gekürzt, aber noch ohne fremde Texteingriffe, am nächsten steht. Für eine mögliche Untersuchung der Rezeptionsgeschichte des Orpheus erweisen sich somit die Fassungen B (I und II), E und F als relevant. Für die Interpretation ist die Fassung B vorzuziehen, da sie im Vergleich zur Erstfassung von 1698 die wesentlich erweiterte definitive Fassung darstellt. Dagegen zeichnen sich sowohl die Fassung E als auch die Fassung F durch erhebliche Textüberarbeitungen aus, die in erster Linie durch die Praxis eines kommerziellen Theaters bedingt sind.
239 Die folgende Tabelle soll die Überlieferungsgeschichte von Bressands Orpheus veranschaulichen. Die Fundorte, an denen Exemplare eingesehen wurden, sind kursiviert. Fassung
A1
Titel und Fundorte ORPHEUS, | Singe=Spiel/ | auf dem Braunschw. Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und | Herrn/ | Hn. Friderichen/ | Landgrafen zu Hessen/ Fürsten zu | Hirschfeld/ Grafen zu Catzen Ellenbogen/ Dietz/ | Ziegenhahn/ Nidda und Schaum= | berg/ &c. | Unterthänigst gewidmet | Von | F. C. Bressand. | [Zierlinie] | Braunschweig/ | In Verlegung Caspar Grubers sehl. nachgel. Wittwe. | Gedruckt daselbst bey Heinrich Keßlern.
Jahr und Aufführungsort
1698 Braunschweig
45 Bl.; (x)–(x3), A–(L2) Titel – Widmung – Personen – Tänze – Veränderungen des Schau=Platzes. GWLB Op. 1, 63a ULB Halle, AB 53747
A2
ORPHEUS, | Singe=Spiel/ | auf dem Braunschw. Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und | Herrn/ | Hn. Friderichen/ | Landgrafen zu Hessen/ Fürsten zu | Hirschfeld/ Grafen zu Catzen Ellenbogen/ Dietz/ | Ziegenhahn/ Nidda und Schaum= | berg/ &c. | Unterthänigst gewidmet | Von | F. C. Bressand. | [Zierlinie] | Braunschweig/ | In Verlegung Caspar Grubers sehl. nachgel. Wittwe. | Gedruckt daselbst bey Heinrich Keßlern. 1698.
1698 Braunschweig
45 Bl.; (x)–(x3), A–(L2) Titel – Widmung – Personen – Tänze – Veränderungen des Schau=Platzes. GWLB Op. 1, 63b
BI
Die sterbende | EURIDICE | Singe=Spiel/ | auf dem Braunschweigischen Schau=Platz | vorgestellet. | Dem | Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ | HERRN | Anthon Ulrichen | Hertzogen zu Braunschweig und | Lüneburg/ &c. &c. | Unterthänigst gewidmet. | [Linie] | Braunschweig/ | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. | Gedruckt bey Heinrich Keßlern/ 1699.
1699 Braunschweig
31 Bl.; (x)–(x3), A–(G4) (satzidentisch mit A–(G4) von A1) HAB Textb. 274 ULB Halle, 67 A 4294 SUB Hamburg A/202775 Mus T15=MusR
BII
Die verwandelte | Leyer des OR- | PHEUS, | In einem | Singe=Spiel/ | auf dem Braunschweigischen Schau=Platz | vorgestellet. | Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen/ | FRAUEN | ELISABETHA | JULIANA, | Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg/ | gebohrner Hertzogin zu Schleßwig=Holstein/ &c. | Unterthänigst gewidmet. | [Linie] | Braunschweig/ | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. | Wittwe/ 1699.
1699 Braunschweig
240
Fassung
Titel und Fundorte
Jahr und Aufführungsort
23 Bl.; (x)–(x3), A–(E4) NSA S 2372 HAB Textb. 276 GWLB Op. 1, 67 ULB Halle, 67 A 4368 SUB Hamburg Mus T15=Mus R ORPHEUS | Und | EURIDICE, | In einem | Sing=Spiel | Auf der Braunschweigischen Schau= | Bühne/ vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Blumenvase] | [Linie] | Braunschweig/ | In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe/ | und Erben. C
28 Bl., (x)–(x2), A–D, [uns.], C–(E4) (Mischdruck, ab dem 2. C-Bogen satzidentisch mit BII. Im Exemplar der GWLB fehlt der zweite C-Bogen)
1700(?) Braunschweig
HAB Textb. 323 NSA S. 2374 GWLB Op 15, 3 ULB Halle 67 A 4305 Die Sterbende | EURYDICE | Oder: | ORPHEUS | Erster Theil. | In einem Singe-Spiel/ | Auff dem | Hamburgischen Schau=Platz | vorgestellet. | [Linie] | HAMBURG, | Gedruckt bey Conrad Neumann/ E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. DI
23 Bl.; (x)–(x2), A–(F2) (in der Zählung fehlt A2)
1702(?) Hamburg
StaBi Berlin 4'' Yp5223-no 21 HAAB 4° 14, 5: 75[d] SUB Hamburg 101 in MS 639/3:6 ÖB Wien 625.236 (in TS) ORPHEUS | Ander Theil. | In einem Singe=Spiel/ | Auff dem | Hamburgischen Schau=Platz | vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Ornament] | HAMBURG, | Gedruckt bey Conrad Neumann/ E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. 16 Bl.; (x)–(x2), A–(E3) (in der Zählung fehlt A2) DII
E
StaBi Berlin 4'' Yp 5223-no21 HAAB 4° 14, 5: 75[d] SUB Hamburg 102 in MS 639/3:6 StaBi Berlin 22 in Mus T 3 R ÖB Wien ch. XVIII.23 (HS; hs. Druckvorlage) 625.236 (in TS) CL USA Schatz 5107 ORPHEUS | Und | EURYDYCE, | In einem | Sing=Spiel | Auf dem Braunschweigischen Schau=Platze | vorgestellet. | [Holzschnittvignette: Pferd] | Mit Hochfürstl. Braunschw. und Lüneb. Special-Freyheit. | [Linie] | Braunschweig/ | In Verlegung Christoph Friedrich Fickels. 25 Bl.; (x)–(x2), A–F3
1702(?) Hamburg
1707(?) Hamburg
241
Fassung
Titel und Fundorte
Jahr und Aufführungsort
NSA S. 2303 (3) HAB Textb. 322 Die | Biß in/ und nach dem Todt/ unerhörte | Treue/ | Des | ORPHEUS. | [Holzschnitt] | In einem Singe=Spiel | auf dem | Grossen Hamburgischen Schau=Platze | vorzustellen. | Im Jahr 1709. | [Linie] | Hamburg/ gedruckt bey Joh. Nic. Gennagel. 24 Bl.; (x)–(x3), A–F
F
G
GWLB Op 2, 20 ULB Halle, Ed 1342 HAAB 138 in 4° 14,5: 75 [e] SUB Hamburg 1 in Scrin A/94 130 in MS639/3:8 48 in MS640/3:4 196 in MS639/3:13 StaBi Berlin 4'' Yp 5231-no 15 4'' 5224-no 20 ÖN Wien 4.325 (in MS) 625.238 (in TS) BR Brüssel Fétis 4520 A 5 Mus. Fétis 4520 A V, 8 Mus. UI USA x782.1 C 685/26 CL USA Schatz 5105 ORPHEUS | In einer | OPERA | vorgestellet | Auf dem grossen/ Braunschweigischen THEATRO | in der Sommer=Messe 1727. | [Holzschnittvignette] | [Doppellinie] | Wolffenbüttel/ | Druckts Christian Bartsch/ Herzogl. Hof= und Canzeley=Buchdr. 20 Bl., (x)–(x2), A–(E4)
1709 Hamburg
1727 Hamburg
HAB Textb. 702 GWLB Op 1, 122 SBB Brosch. I 20.506
H
ORPHEUS. | Ein musikalisches Schauspiel. | auf dem Hamburgischen Theatro aufgeführet | Anno 1702. | von | Reinhard Keiser, | Hochfürstl. Mecklenburgis. Capell=Meister. | [Linie] | LUDEWIG und H. Z. M. | auf höchster Verordnung | abermals zum Druck befordert worden. | Schwerin, den Iten September, | 1753. | [Linie] | Bey Wilhelm Bärensprung, | Herzoglich=Mecklenburgischer Hof=Buchdrucker. 29 Bl., (A)–(G4) LB Schwerin OB V5 1075
1753 Schwerin
242
2.
Textauszüge
2.1. August Buchner: Orpheus und Eurydice Der andere Act. [S. 23–24] Orpheus. Auf, Orpheus, du musst fort! Hier gehet Orpheus ein Mal oder etliche stillschweigend hin und wieder als bedächte er etwas bei ihm. Hernach fänget er an wie folget: Auf, auf! ermunter dich! fass Alles das zusammen Und zieh es in die Eng was du vermagst und bist! Wie? schrecken deinen Muth die blauen Schwefelflammen, Damit Cocytus schäumt, im Fall er grimmig ist? Mag dich was fechten an, ob in dem stummen Reiche, Das Plutons Hofestadt, nur lauter Tod und Leiche, Und grimme Nacht zu aller Zeit regiert? Kein Licht je wird gespürt? Ist doch Eurydice daselbst, dein Tag und Sonne, Dein Schatten für die Hitz und Leben für den Tod, Die Furchtbenehmerin, im Trauren deine Wonne, Dein Schutz und sicher Mal in allem Kreuz und Noth. Geh strackes Fußes zu, wo Tänarus sich zeiget Bei der Spartaner Stadt und bis in Himmel steiget, Da ist vorlängst ein Schlund gebrochen nab, In aller Welt ihr Grab. Hat der Alcmenen Sohn den Cerberus bezwungen, Das ungeheure Thier in unser Luft gebracht; Auch der Athener Prinz hat ritterlich getrungen Samt dem Pirithous durch alle Höllennacht, Dann wieder an das Licht des schönen Tags gekehret, Wird meiner Hoffnung nach mirs auch nicht sein verwehret; Stärk und Gewalt viel schaffet und bezwingt, Noch mehrers Glimpf verbringt. Was andere durch Krieg und strenge Schlacht verübet, Dass wo sie angesetzt bald ihre Fahnen bracht, Dies mir ein süßer Ton und güldne Leier giebet, Sie zwinget Herz und Sinn, und Waffen nur die Macht. Glimpf mehr als Eisen thut: dies raubet zwar die Güter, Und jagt das Leben aus, Glimpf aber die Gemüther. Sie zähmt den Sinn, nicht nur den Leib allein Und kann beliebt doch sein. Sind jene Götterart, so hat mich auch getragen Ein Leib, der himmlisch ist; ich habe gleichen Sinn, – Ein Held so gut als sie – was will man weiter sagen? – Nun ich auch bin, –
243 Der schärfet mir den Muth, legt alle Furcht bei Seite. Was steh ich an? er ist mein Führer und Geleite. Auf, Orpheus, auf! du brichts die güldne Frucht, Die viel umsonst gesucht. Du kühler Hebrusstrom und meine Lust, ihr Wälder, Du klares Taglicht auch, und allgemeine Wonn, Seid mir noch eins gegrüßt! Die schwarzen Trauerfelder Mich ziehen unterhin, und da scheint meine Sonn. Ich bleib, im Fall man will mein Seufzen ferne setzen, Und wird mein einig All mich reichlich da ergetzen. Komm ich, so kömmt sie wieder auch mit ein, Dann mag ich göttlich sein.
Der vierte Akt. [S. 32–34] Orpheus Lied. Du Wesen außer End, du Wurzel aller Dinge, Und selbst dein Same dir, doch ohne Tag und Zeit, Dass beides aus dir fleußt, von dir ich , König, singe Und rühme deine Macht und große Gütigkeit. Chor der Schäfer und Nymphen. Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! Orpheus. Dein frommes Herze hat, o Vater, dich bewogen, Dass du dies weite Rund so herrlich ausgebaut, Die Wasser rumgeführt, um die den Himmel zogen, Da man bei stiller Nacht viel schöne Feuer schaut. Chor. Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! Orpheus. Du hast der Erden Last ganz meisterlich gehangen Recht mitten in die Luft stet, fest und unbewegt, Mit Bergen hier und da als einen Wall umfangen, Mit Blumen ausgekränzt und Bäumen schön belegt. Chor. Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! Ballet der vier Bäume und zweien Felsen, unter welchem folgende Verse theils aus den Bäumen, theils aus den Felsen Art eines Echo erschallen können. Bäume: Felsen:
Wo ist den wir loben? Oben.
244 Bäume: Felsen:
Was für Nam ist ihm erkiest? Der ist.
Orpheus. Der Vögel leichtes Volk von deiner Hand sich schwinget Hin durch das blaue Feld, die ungestützte Bahn; Bald fliehet es Wald ein und auf den Ästen springet, Stimmt dann in deiner Ehr ein süßes Danklied an. Chor. Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! Ballet der Vögel. Orpheus. Der kluge Elephant dich seinen Meister ehret, Des starken Löwen Kraft von deinem Athem brüllt, Das wild und zahme Vieh durch deine Stimm sich mehret, Von Gaben deiner Hand ihm Durst und Hunger stillt. Chor. Was nur Wesen hat und Leben Soll sich seinem Lob ergeben! Ballet der Thiere. Orpheus. Dein Hauptwerk ist der Mensch, da hast du sehen lassen Was deine Hand vermag und du auch selber seist: Er ist dein Ebenbild, klug, witzig allermaßen, Wie du ein Herr der Welt und was dich Schöpfer heißt. Chor. Lasst uns alle die wir leben Unsers Meisters Güt erheben! Orpheus Er sinnet Alles aus, ihm ist kaum was verborgen; Was je dem Aug entgeht, das siehet der Verstand; Er bauet Stadt und Feld, weiß Alles zu besorgen, Spannt seinen Segel auf und schifft in fremde Land. Chor. Lasst uns alle die wir leben Unsers Meisters Güt erheben. Einfall und Ballet der Thracischen tollen Weiber.
245
2.2. Johann Valentin Merbitz: Orpheus [Widmungsgedicht S. 3] An einen seiner guten Freunde / Der Verfasser. Sieh da / mein Freund / darff sich mein Orpheus unterfangen / Vor der gelehrten Meng zu treten auf den Plan? So ist vornehmlich er beflissen zu erlangen Die Gunst / mit welcher du mir selbsten zugethan. Kan er nach ietzger Art sich eben nicht aüffführen / Wie hohe Geister thun / so tieff / Erfindung rühmt / Noch mit der Wörter-Pracht / was er ersonnen / zieren / So ists vielleicht gethan / wie seiner Zeit es ziemt. In übrigen / so ist er auch bereits gewohnet Daß Tadelns / ihn kränckt nicht / was der und jener spricht: Er achtet sich sehr wohl und reich sodenn belohnet / Wann er erhält / wohin sein Absehn ist gericht. Und hierbey bistu selbst mit grossen Ruhm bemühet / Mein Freund / vom kleinen Volck / und List an daß benennt: Versichert / daß hierdurch dein Lob zum schönsten blühet / So lang als Orpheus man und seine Leyer kennt. Dreßden / am Tage Michaelis / des 1696. Jahres.
Achter Aufftritt. [S. 36–40] ORPHEUS, spielend auff der Harffen / vorige und andere mehr treten hervor / und hören stille mit Andeutung ungleicher Gemüths-Bewegnüs zu. Hält die Vernunfft denn schnöde Eitelkeit Gefangen; Sind des Menschen Hertz und Sinnen Denn gantz bethört? Daß was der Ewigkeit Gewiedmet / will vergänglichs lieb gewinnen. Ists möglich / daß die Seele nicht empfind / Daß sie erhebt was göttlichs und gezieret Vor andern? Wenn sie diesen Trieb denn findt / Wie daß sie nichts zu wahrer Tugend führet. Soll denn allein diß sterbliche Gebäu Geachtet seyn der Zweck / so unserm Leben Wär vorgestellt; muß man so ohne Scheu Der Wollust sich zum Eigenthum ergeben. Es ist ein Dampff / ein Schatten der verschwindt / O Sterbliche: ein Rauch der euch verblendet: Ein süsser Traum / des man sich nicht versinnt / Wenn man erwacht: Ein Wind / der sich gewendet. Die Tugend weiß alleine vom Verstand / Und was sie schenckt / das machet recht ergetzen:
246 Ein edles Hertz / das sich zu ihr gewand / Empfindet erst / daß Tugend hoch zu schätzen. Die Tugend kan was niedrig ist erhöhn / Und machet gleich den Göttern / die sie lieben. Ihr grosser Ruhm kan nimmermehr vergehn; Der Ewigkeit ist er schon eingeschrieben. Durch Tugend wird allein der Zweck erlangt / Der dir / O Mensch / im Leben vorgestecket / So laß denn zu / daß dein Hertz an der hangt / Und sie vom Schlaff der Wollust dich erwecket. Wer nun vergnügt will leben / wem gefällt / Daß er sich kan in Wahrheit glücklich nennen / Der tret heran / wo Tugend Platz behält / Und lerne recht / was Tugend sey / erkennen. Aria Weich / was kluge Sinnen blendet: Falscher Schein Soll uns ferner nicht betrüben: Was Vernunfft soll lieben / üben / Muß gantz nichts / als Tugend seyn / So die Hertzen auff sich wendet. Wo Gerechtigkeit findt statt / Allda hat Man das höchste Gut erlanget / Das mit sichrer Ruhe pranget. Räub[er] Von was vor Glück redt der? Jäg[er] Was will der? Fisch[er] Ey er sagte Von Tugend. Waldbr[uder] Was ist das? Vogelst[eller] O! wer will sich ietzt viel Darum bekümmern. Galat[hea] Wenn ihn doch nur einer fragte? Fisch[er] Er meint die Tugend wär uns vorgesetzt zum Ziel. Gal[athea] Mein Freund / wolt ihr mich wohl was deutlicher berichten / Was vor Glückseligkeit ihr meint / und wie man sie Erlangt. Ackerm[ann] Ihr werdet uns auch damit sehr verpflichten. Waldbr[uder] Ich habe von dem Ding mein Lebens-Tag nie Gehört. Orph[eus] Wohlan / so kommt denn her / ich will euch zeigen Den rechten Weg / der euch zu wahrer Tugend führt / Wenn ihr nur euer Hertz zu selbiger wolt neigen / Und leben / wie es / als Vernünfftigen gebührt. Gal[athea] Wer wolte diß nicht thun? Ein ieder wird dir dancken / Daß er erlernet hab zu brauchen den Verstand / Der ihn verliehen ist. Ich will gewiß nicht wancken Von dem / was du befiehlst / so bißher unbekannt.
Neundter Aufftritt. [S. 40–45] Orpheus samt vorigen. Seht diesen Schau-Platz an / wo die Natur auffführet Was ihre Krafft vermag / und unbeschrenckte Macht: Wie schön diß Welt-Gebäu ist überall gezieret / Daß alles / was darinn / vor Schönheit lebt und lacht. Der Himmel ist erleucht / ihn zieren seine Flammen / Die selbst der Erden sind zur Nothdurfft angezündt:
247 Ihr goldner Glantz bey dem kommt alle Pracht zusammen / Auff diesen weiten Rund nicht seines gleichen findt. Wie ist die Erd erfüllt mit allen / was zu haben Man nur verlangen kan? Hier ist zur Noth und Lust Alls häuffig da; es sind die grossen Schätz und Gaben Nicht auszusprechen / ja das meist / uns unbewust. Mit tausenderley Zier / prangt Wasser / Erd und Wälder / Wo alles webt und lebt: die Felsen / Berg und Thal Sind häuffig angefüllt: die Gärten / Wiesen / Felder Stehn da in ihrer Pracht / als dort der Sternen Saal. Dieß alles nun / was nur am Himmel und auff Erden Zu finden / ist zu Nutz den Menschen vorgebracht: Ein grosser GOtt hat uns zu Herren lassen werden Des allen / welcher uns aus weisen Rath gemacht. Hier herrschet die Vernunfft / die alles kan erreichen / Die selbst noch übersteigt des Himmels Sternen-Plan: Ihr muß Gewalt und Stärck / so sich aufflehnet / weichen / Dem wildsten Löwen kömmt vor ihr Furcht / Schrecken an. Was ie verborgen liegt / kan die Vernunfft entdecken / Und ist / glaubt / nichts so tieff / das nicht Verstand ergründt. Verstand weiß allen Ding Weiß / Maas und Ziel zu stecken / Worzu sie denn auch bald Rath / Hülff und Mittel findt. Nur ist die Einsamkeit / was diß am meisten hasset / Als welche ihren Thun hierinnen widersieht: Denn ob gleich etwas ist zum klügsten abgefasset / Geschicht es doch / daß es durch diesen Zwang zergeht. Dem widersteht und schafft / daß worzu ihr gebohren / Man an euch spür und seh / daß die Vernunfft euch führt Zur Tugend / welche sich der Himmel hat erkohren / Die von nichts sterblichen / ich achte / hergerührt. Soll aber Tugend sich uns Sterblichen hier zeigen Auff ihren Götter-Thron / nicht so / wie vor / veracht / So muß auch unser Hertz sich zu derselben neigen / Und ehren ihren Glantz / und auserwehlte Pracht. Diß wird seyn / wenn forthin ihr erenstlich beflissen / Nicht so / als wie zuvor / nach eignen Wahn und Sinn Werdt wandeln / guten Rath und Recht zu folgen wissen / Viel höher schätzen Ruhm / als Reichthum und Gewinn. Was kan den Menschen wol vor wilden Thieren weisen / Wenn er wie diß zerstreut in Wald und Feldern geht / Ja wo man deren Stärck erheben kan und preisen / Geschichts / daß iener gantz entwehrt zum Spotte steht. Gesetze sind das Schloß / so alles fest verwahret / Und Ordnung ist das Band / welchs alles sich verbindt. Wo weder Lohn noch Straff verhindert / noch gesparet / Da ist der Ort / da man zu leben Ursach findt. Wolan / so last denn seyn diß unter euch beliebet / Und seht darbey allein auff Recht und Billigkeit: Erwehlt / was diesen sich zum Eigenthum ergiebet / So wird auch Wohlergehn euch blühen iederzeit. Sucht die mit klugen Rath / die Hertzen können lencken / Und sich gemeinen Nutz vor allen nehmen an / Die auff nichts mehr / als nur auff höchstes Wohlseyn dencken / Welchs / durch Gesetzes Hülff / die Stadt erhalten kan.
248 Theils den ein hoher Geist verliehen / mögen lehren: Es wehren Obrigkeit / und die darzu erwehlt: Den Feldbau warten die Lust haben sich zu nehren / Und lasset dieses drey beständig ihm vermählt. O Seelige / wenn ihr so werdet euer Leben Anstellen; was wird euch doch wahre Lieb und Treu Gesetz und Ordnung wol vor Nutz und Freude geben? Denckt selbst ein wenig nach. Ich kan euch ohne Scheu Versichern / daß was nur annehmlichs zu erdencken Und zuerlangen ist / das wird euch seyn gewährt. Wolan / ich sehe schon das harte Hertz sich lencken / Wie sichs von böser Art / zur Zucht und Tugend kehrt.
2.3. Orpheus Und Euridice, Naumburg 1701 Actus II. Scen. III. [C3r] Orpheus. Euridice. Beide
Gesegnet sind die Zeiten und die Stunden / Leben Da ich mit dir mein mich verbunden; Orpheus Und die Zufriedenheit / So ich von deinen Küssen Im hertzen kan genüssen / Wird wohl nach dieser Zeit Niemahls auff Erden Gefunden werden.
Orph[eus] Wir wollen uns hier in den grünen Der Kostbarkeit des Gartens doch bedienen. Setz dich hieher Euridice Und lasse zu / daß ich dir gegen über geh; Mein Hertze treibet mich zum Singen an / Da werd ich dich verliebte Dinge fragen / Du wirst mir schon darauff die Antwort sagen. (Orpheus setzet sich unter einen Baum an einer Ecke / Euridice unter einen andern gegen über.)
Scen. IV. [C3r–C3v] Die Vorigen. Alibet[te]. Clime[ne] hinter den Bäumen. Orph[eus] Liebster Engel! sage mir / fühlestu die Liebes-Pein? Eurid[ice] Ja; Doch lieb ich dich allein. Alibette Alibette saget nein. Clime[ne] Ich muß noch des todes seyn. Orph[eus] Sage ferner / werden wir unsre Lust auch lange treiben? Eurid[ice] Ewig wil ich mich verschreiben. Alibette Ich kan dieses schwerlich gläuben. Clime[ne] Meine Noth wird doch wol bleiben. Orph[eus] Komm doch näher zu mir her / meiner Seelen Trost und Licht.
249 (Sysrax stellt eine Wolcke vor.) Eurid[ice]
Komm zu mir / dich seh ich nicht.
(Alibette kommt auf Sysrax Wincken hinter den Bäumen hervor gegangen.) Alibet[te] Clime[ne]
Siehstu nun mein Angesicht? Sagt mir doch / was hier geschicht.
(Orpheus umfasset die Alibetten, in meinung es sey Euridice.) Orph[eus] Lege dich an diese Brust / du mein eintziges Vergnügen. Eurid[ice] Warum wilstu mich betrügen? Alibette Ja / hier kan ich ruhig liegen. Clime[ne] Ich bin bald in letzten Ziegen. Eurid[ice] Der Nebel suchet mich aus meiner Lust zu bringen / Allein ich will durch dessen Wolcken dringen. (Indem sie durchgehen will / stellet Sysrax ein ungeheures Monstrum dahin.) Eurid[ice] Das jetzge Schücksaal dieser Welt Macht wahre Liebe trefflich theuer. Wird sonsten nichts in Weg gestellt / So thuts zuletzt ein Ungeheuer.
Scen. V. [C3v–C4v] Die vorigen. Lessy. Sysrax (zu Alibetten) Dem Lessy will ich die Gestalt Des Orpheus geben / So wird Euridice In doppelten Betruge leben. (Er rühret Lessy mit den Zauberstäbgen an.) Eurid[ice] Komm Orpheus hilff mir bald / Ich werde sonst des todes seyn. Orph[eus] (Welcher in dessen auffgestanden / und in die mitten des Gartens gehen wil.) Mich deucht man ruffet mich. Alibette Der Wiederschall wil dich bethören / ich müste sonst ia auch was hören. Eurid[ice] (Siehet den Lessy vor Orpheus an.) Dem Himmel sey gedanckt / Er stellt sch ein. Einen eintzgen Augenblick Dich / mein Engel / zu entbehren / Kostet mich viel tausend Zähren / Und mein gröstes Ungelück Lasset sich alsdenn erklären / Wenn ich einen Augenblick Dich mein Engel soll entbehren. Lessy (Wil sich nicht umfassen lassen.) Ey seht mir doch die kluge Frau / die mich probiren will. Wenn ich mich nun vergreiffen wolte /
250 Denckt / wie mir wol mein Herr den Puckel gerben solte. Spart euch die Müh / Ihr liebe junge Frau; Von solcher Courtesie Halt ich nicht eben viel. Ich möchte zwar sehr gern aus fremden Taschen Zu meiner Lust bißweilen etwas naschen; Doch / weil man mich hernachmals dürffte haschen / Und auch wol gar mit ungebrandter Aschen / Fein säuberlich auff meinen Buckel waschen / So hüt ich mich vor den verbothnen Flaschen. Beide
Eurid[ice] Umarme mich. Lessy Ich darff nicht / schönstes Kind. Eurid[ice] Wer hindert dich? Lessy Mein Puckel und mein Grind.
(Sie streiten mit einander / Euridice sucht ihn zu umfassen / und Lessy gibt es nicht zu / da kömt die Schlange und sticht Euridicen. Lessy läufft davon / Sysrax winckt der Alibetten, die geht nebst ihn auch fort.)
Abb. 1:
Virgil Solis nach Bernard Salomon. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631.
252
Abb. 2:
Abraham Blooteling nach Antonio Tempesta. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel [...]. Amsterdam 1671.
Abb. 3:
Crispijn de Passe Sr. Illustration zum Buch 10 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati [...]. Köln 1602.
253
Abb. 4:
Sébastien Leclerc und François Chauveau. Radierung zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux [...]. Paris 1676.
Abb. 5:
Virgil Solis nach Bernard Salomon. Kupferstichillustration zum Buch 10: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631.
254
Abb. 6:
Crispijn de Passe Sr. Illustration zum Buch 10 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati [...]. Köln 1602.
Abb. 7:
Virgil Solis nach Bernard Salomon. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631.
255
Abb. 8:
Sébastien Leclerc und François Chauveau. Radierung zum Buch 10: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux [...]. Paris 1676.
Abb. 9:
Anon. Kopie nach Antonio Tempesta. Kupferstichillustration zum Buch 10: Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise [...]. Paris 1651.
256
Abb. 10:
Virgil Solis nach Bernard Salomon. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631.
Abb. 11:
Virgil Solis nach Bernard Salomon. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main 1631.
257
Abb. 12:
Crispijn de Passe Sr. Illustration zum Buch 11 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati [...]. Köln 1602.
Abb. 13:
Abraham Blooteling nach Antonio Tempesta. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel [...]. Amsterdam 1671.
258
Abb. 14:
Anon. Kopie nach Antonio Tempesta. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise [...]. Paris 1651.
Abb. 15:
Sébastien Leclerc und François Chauveau. Radierung zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux [...]. Paris 1676.
259
Abb. 16:
Léonard Gaultier. Sammelbild (Kupferstich) zum Buch 10 der MetamorphosenAusgabe: Les Metamorphoses D’Ovide. De nouueau traduittes en françois [...]. Paris 1612.
260
Abb. 17:
Léonard Gaultier. Sammelbild (Kupferstich) zum Buch 11 der MetamorphosenAusgabe: Les Metamorphoses D’Ovide. De nouueau traduittes en françois [...]. Paris 1612.
261
Abb. 18:
Franz Klein und Salomon Savrij. Sammelillustration (Radierung) zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Pvb. Ovidii Nasonis MetamorphoseȦn libri XV [...] Operà & studio Thomae Farnabii [...]. Paris 1637.
262
Abb. 19:
Franz Klein und Salomon Savrij. Sammelillustration (Radierung) zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Pvb. Ovidii Nasonis MetamorphoseȦn libri XV [...] Operà & studio Thomae Farnabii [...]. Paris 1637.
263
Abb. 20:
Anon. Titelkupfer zum Schuldrama von Johann Valentin Merbitz: Orpheus. Ein Lustspiel. Dresden 1696.
264
Abb. 21:
Claude Vignon und Jérôme Davide. Titelblatt (Kupferstich) zum Musikdrama von François de Chapoton: La grande Jovrnée des machines ov le mariage Dorphée e d’Evridice. Paris 1648.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4:
Abb. 5:
Abb. 6:
Abb. 7:
Abb. 8:
Abb. 9:
Abb. 10:
Virgil Solis nach Bernard Salomon: Orpheus unter den Tieren. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main: Tampach 1631, S. 329, 57x79 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 189] Abraham Blooteling nach Antonio Tempesta: Orpheus unter den Tieren. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel [...]. Amsterdam 1671, S. 298, 90x117 mm. [USB Köln, Sign.: 1 N 1474] Crispijn de Passe Sr.: Orpheus unter den Tieren. Illustration zum Buch 10 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati, ac in gratiam studiosae juuentutis editi per Crispianum Passaeum Zeelandum chalcographum Ano salutis humanĊ. Köln: Passaeus 1602, S. 86, 75x125 mm. [USB Köln, Sign.: 1 N 1018] Sébastien Leclerc und François Chauveau: Orpheus unter den Tieren. Radierung zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux imprimez et enrichis de figures par ordre de sa Majesté, Et dediez à Monseigneur Le Dauphin [...]. Paris 1676, S. 320, 64x78 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 187] Virgil Solis nach Bernard Salomon: Der Tod der Eurydice. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main: Tampach 1631, S. 325, 57x79 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 189] Crispijn de Passe Sr.: Der Tod der Eurydice; Orpheus vor Pluto und Proserpina. Illustration zum Buch 10 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati, ac in gratiam studiosae juuentutis editi per Crispianum Passaeum Zeelandum chalcographum Ano salutis humanĊ. Köln: Passaeus 1602, S. 85, 75x125 mm. [USB Köln, Sign.: 1 N 1018] Virgil Solis nach Bernard Salomon: Orpheus vor Pluto und Proserpina. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main: Tampach 1631, S. 326, 57x79 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 189] Sébastien Leclerc und François Chauveau: Orpheus vor Pluto und Proserpina. Radierung zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux imprimez et enrichis de figures par ordre de sa Majesté, Et dediez à Monseigneur Le Dauphin [...]. Paris 1676, S. 322, 64x78 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 187] Anon. Kopie nach Antonio Tempesta: Orpheus führt Eurydice aus dem Hades. Kupferstichillustration zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise, et de nouueau soigneusement reueuës, corrigees en infinis endroits, et enrichies de figures à chacune Fable [...]. Paris: Avgvstin Covrbé 1651, S 273, 116x136 mm. [USB Köln, Sign.: S 17 15031] Virgil Solis nach Bernard Salomon: Der Tod des Orpheus. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wun-
266
Abb. 11:
Abb. 12:
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Abb. 15:
Abb. 16:
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Abb. 18:
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Abb. 20:
Abb. 21:
derbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main: Tampach 1631, S. 359, 57x79 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 189] Virgil Solis nach Bernard Salomon: Musen beweinen Orpheus; Apollon und die Schlange. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung [...]. Frankfurt / Main: Tampach 1631, S. 360, 57x79 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 189] Crispijn de Passe Sr.: Der Tod des Orpheus; Apollon und die Schlange. Illustration zum Buch 11 der Metamorphosen. Erstausgabe der Kupferstichfolge: MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati, ac in gratiam studiosae juuentutis editi per Crispianum Passaeum Zeelandum chalcographum Ano salutis humanĊ. Köln: Passaeus 1602, S. 94, 75x125 mm. [USB Köln, Sign.: 1 N 1018] Abraham Blooteling nach Antonio Tempesta: Der Tod des Orpheus. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel [...]. Amsterdam 1671, S. 330, 90x117 mm. [USB Köln, Sign.: 1 N 1474] Anon. Kopie nach Antonio Tempesta: Der Tod des Orpheus. Kupferstichillustration zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise, et de nouueau soigneusement reueuës, corrigees en infinis endroits, et enrichies de figures à chacune Fable [...]. Paris: Avgvstin Covrbé 1651, S 303, 116x136 mm. [USB Köln, Sign.: S 17 15031] Sébastien Leclerc und François Chauveau: Orpheus vor Pluto und Proserpina. Radierung zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Métamorphoses d’Ovide en rondeaux imprimez et enrichis de figures par ordre de sa Majesté, Et dediez à Monseigneur Le Dauphin [...]. Paris 1676, S. 326, 64x78 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 187] Léonard Gaultier: Sammelbild (Kupferstich) zum Buch 10 der MetamorphosenAusgabe: Les Metamorphoses D’Ovide. De nouueau traduittes en françois [...]. Paris: Guillemot 1612, 139x86 mm. [GWBL Hannover, Sign.: Le 618] Léonard Gaultier: Sammelbild (Kupferstich) zum Buch 11 der MetamorphosenAusgabe: Les Metamorphoses D’Ovide. De nouueau traduittes en françois [...]. Paris: Guillemot 1612, 139x86 mm. [GWBL Hannover, Sign.: Le 618] Franz Klein und Salomon Savrij. Sammelillustration (Radierung) zum Buch 10 der Metamorphosen-Ausgabe: Pvb. Ovidii Nasonis MetamorphoseȦn libri XV [...] Operà & studio Thomae Farnabii [...]. Paris 1637, Zusatzblatt zwischen S. 54 u. S. 55, 236x172 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 183] Franz Klein und Salomon Savrij. Sammelillustration (Radierung) zum Buch 11 der Metamorphosen-Ausgabe: Pvb. Ovidii Nasonis MetamorphoseȦn libri XV [...] Operà & studio Thomae Farnabii [...]. Paris 1637, Zusatzblatt zwischen S. 60 u. S. 61, 236x172 mm. [USB Köln, Sign.: Wallraf A VI 183] Anon.: Orpheus unter den Tieren. Titelblatt (Kupferstich) zum Schuldrama von Johann Valentin Merbitz: Orpheus. Ein Lustspiel. Dresden: Riedel 1696, 140x90 mm. [SUB Göttingen, Sign.: 8 P DRAM III, 1251] Claude Vignon und Jérôme Davide: Orpheus und Eurydice. Titelblatt (Kupferstich) zum Musikdrama von François de Chapoton: La grande Jovrnée des machines ov le mariage Dorphée e d’Evridice. Paris: Quinet 1648, ca. 230x180 mm. [HAB Wolfenbüttel, Sign.: Lm 4446]
Literaturverzeichnis 1.
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268 Braunschweig und Lüneburg / etc. etc. Unterthänigst gewidmet. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. Gedruckt bey Heinrich Keßlern / 1699. – Die verwandelte Leyer des Orpheus, In einem Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platz vorgestellet. Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / Frauen Elisabetha Juliana, Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg / gebohrner Hertzogin zu Schleßwig-Holstein / etc. Unterthänigst gewidmet. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe / 1699. – Orpheus und Euridice, In einem Sing-Spiel Auf der Braunschweigischen Schau-Bühne vorgestellet. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe / und Erben. – Die Sterbende Eurydice Oder: Orpheus Erster Theil. In einem Singe-Spiel / Auff dem Hamburgischen Schau-Platz / vorgestellet. Hamburg, Gedruckt bey Conrad Neumann / E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. – Orpheus Ander Theil. In einem Singe-Spiel / Auff dem Hamburgischen Schau-Platz vorgestellet. Hamburg, Gedruckt bey Conrad Neumann / E. Edl. u. Hochw. Rahts Buchdr. – Orpheus und Eurydice, In einem Sing-Spiel Auf dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet. Mit Hochfürstl. Braunschw. Und Lüneb. Special-Freyheit. Braunschweig / In Verlegung Christoph Friedrich Fickels. – Die Biß in / und nach dem Todt / unerhörte Treue / Des Orpheus. In einem Singe-Spiel auf dem Grossen Hamburgischen Schau-Platze vorzustellen. Im Jahr 1709. Hamburg / gedruckt bey Joh. Nic. Gennagel. – Orpheus In einer Opera vorgestellet Auf dem grossen Braunschweigischen Theatro in der Sommer=Messe 1727. / Wolffenbüttel / Druckts Christian Bartsch / Herzogl. Hof- und Canzeley-Buchdr. – Orpheus. Ein musikalisches Schauspiel. auf dem Hamburgischen Theatro aufgeführet Anno 1702. von Reinhard Keiser, Hochfürstl. Mecklenburgis. Capell-Meister. Ludewig und H. Z. M. auf höchster Verordnung abermals zum Druck befordert worden. Schwerin, den Iten September, 1753. Bey Wilhelm Bärensprung, Herzoglich-Mecklenburgischer Hof-Buchdrucker. Buchner, August: Orpheus und Eurydice. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst. Hg. v. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Bd. 2. Hannover 1855, S. 13–39. Merbitz, Johann Valentin: Johann Valentin Merbitzens Orpheus. Lust-Spiel. 1696. Dresden / Druckts Johann Riedel / Churf. Sächß. Hoff-Buchdr.
1.2. Weitere Quellen Acta eruditorum Anno MDCLXXXX publicata, ac serenissimo principi ac domino Dn. Rudolfo Augusto, Brunsvicensium ac Lüneburgensium Duci, dicata. Cum S. Caesareae Majestatis & Potentissimi Electoris Saxoniae Privilegiis. Lipsiae. Prostant apud J. Grossium & J. F. Gleditschium. Excusa typis Christophori Guntheri. Anno MDCLXXXX. Aleandro, Girolamo: Antique Tabulae Marmoreae Solis effigie, sumbolique exculptae Accurata Explicattio Qua priscae quaedam mythologiae, ac nonnulla praeterea vetera monumenta marmorum, gemmarum, nomismatum illustrantur. Avctore Hieronymo Aleandro Ivniore Accessit non absimilis argumenti expositio sigillorum zonae veterem statuam marmoream cingentis. Romae, Ex Typographia Bartholomaei Zannetti. MDCXVI. Svperiorvm Permissiv. [Anon.:] Ursprung Der Römischen Monarchie in einem Singe-Spiele Bey Wieder-Erlebung Des Erfreuenden Geburths-Fests Der Durchlauchtigen Fürstin und Frauen / Frauen Sophien Marien / Vermählten Hertzogin zu Sachsen / Jülich / Cleve / und Berg / Gebohrnen Landgräfin zu Hessen / Fürstin zu Hersfeld / Land-Gräfin in Thüringen / Marck-Gräfin zu Meissen / Gefürsteten Gräfin zu Henneberg / Gräfin zu der Marck und Ravensberg / Frauen
269 zum Ravenstein / etc. Am 7. Maii / im Jahr 1684. Nach Hoch-Fürstlicher Anordnung Auff der neuen Schau-Bühnen Der Christiansburg zu Eisenberg Vorgestellet. Gedrukt bei Christian Herrgott / Fürstl. Sächs. Hof-Buchdrukker. Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Briefe an den Sohn August Wilhelm. NSA I Alt 22 285. Aratus: Arati Phainomena. Hoc est, In celo apparentia / Latino Carmine reddita ab Elia Schedio, Cada-Bohemo, philos. & Mathes. Studioso. Gustrovi: Venator 1631. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-Deutsch. Übers. v. Olof Gigon. Neu hg. v. Rainer Nickel. Düsseldorf u. Zürich 2001. – Politica. Übers. v. Eckart Schütrumpf. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 9. Darmstadt 1991. – Politik. In: Klassiker der Staatsphilosophie. Ausgewählte Texte. Hg. v. Arnold Bergstraesser u. Dieter Oberndörffer. Stuttgart 1962. Aureli, Aurelio: L’Orfeo, Drama per Musica, Rappresentato Nel Teatro di Braunsveic. Wolfenbuttel, Stampa di Gasparo Giovanni Bismarck. MDCXC. Bacon, Francis: Francisci Baconi Eqvitis Avrati, Procvratoris secvndi, Iacobi Regis Magnae Britanniae, De Sapientia Vetervm Liber, Ad Inclytam Academiam Cantabrigiensem. Londini, Excudebat Robertvs Barkervs, Serenissimae Regiae Maiestatis Typographus. Anno 1609. Beer, Johann: Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Hg. v. A. Schmiedecke. Göttingen 1965. Berchorius, Petrus (Pierre Bersuire): Reductorium morale 15, 2–25: Ovidius moralizatus. Hg. v. J. Engels. Utrecht 1962. Biblia Sacra vulgatae Editionis: Sixti V. Pont. Max. ivssv. recognita Et Clementis VIII. auctoritate edita, Colonae Agrippinae: Mertzenich 1609. Bressand, Friedrich Christian: Ariadne auf dem Braunschweigischen Schauplatz singend vorgestellet / im Jahr 1692. und Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn Herrn Anthon Ulrichen / Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg / etc. seinem gnädigsten Fürsten und Herrn / unterthänigst gewidmet von F. C. Bressand. Wolffenbüttel / gedruckt bey Caspar Johann Bißmarck. – Jason, Singe-Spiel / auf Dem Braunschw. Schauplatz vorgestellet im Jahr 1692. Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen / Frauen Christinen Charlotten / Fürstin zu Ost-Frießland / etc. etc. gebohrner Hertzogin zu Würtemberg etc. etc. unterthänigst gewidmet von F. C. Bressand. Mit Fürstl. Braunschw. Lüneb. Special-Freyheit. In Verlegung Caspar Grubers / Buchhändl. in Braunschw. Druckts Heinrich Hessen in Helmstadt. – Echo und Narcissus, in einem Sing-Spiele auf dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet / im Jahre 1693. entworffen von F. C. Bressand. Braunschweig / Druck Christoph Friedrich Zilligern. – Hercules unter denen Amazonen / Singe-Spiel / auf dem Schauplatze zu Braunschweig vorgestellet: Dem Hochgebohrnen Grafen und Herrn / Hn. Albrecht Anthon / Der Vier Grafen des Reichs / Grafen zu Schwartzburg und Hohnstein / Herrn zu Arnstadt / Sondershausen / Leutenberg / Lohra und Klettenberg / etc. etc. Und Der Hochgebohrnen Gräfin und Frauen / Fr. Emilia Juliana / Gräfin zu Schwartzburg und Hohnstein / etc. etc. gebohrner Gräfin zu Barby / etc. etc. unterthänig zugeschrieben von F. C. Bressand. Mit Fürstl. Braunschw. Lüneb. Special-Freyheit. In Verlegung Caspar Grubers / Buchhändl. in Braunschw. Wolffenbüttel / gedruckt durch Caspar Johann Bißmarck. 1693. – Die Plejades Oder das Sieben-Gestirne / in einem Sing-Spiele auf Dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet / im Jahr 1693. Dem Hochgebohrnen Grafen und Herrn / Hn. Anthon Günthern / Der vier Grafen des Reichs / Grafen zu Schwartzburg und Hohnstein / Herren zu Arnstadt / Sondershausen / Leutenberg / Lohra und Klettenberg / etc. etc. und Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen / Fr. Augusta Dorothea / Gebohrner Hertzogin zu Braunschw. und Lüneb. Vermählter Gräfin zu Schwartzburg und Hohnstein / etc. etc. unterthänigst zugeeignet von F. C. Bressand. Mit Fürstl. Braunschw. Lüneb. Special-Freyheit. In Verlegung Caspar Grubers / Buchhändl. in Braunschw.
270 –
Porus, Singe-Spiel / auf dem Braunschweigischen Schau-Platze vorgestellet im Jahr 1693. Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Hn. Hans Adolffen / Hertzogen zu Schleßwig und Holstein / der Stormaren und Ditmarschen / Grafen zu Oldenburg und Delmenhorst / Erben zu Norwegen / etc. etc. wie auch Höchstgedachter Seiner Durchl. Hoch-Fürstl. Frau Gemahlin / der gleichfalls Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen / Fr. Dorothea Sophia / Hertzogin zu Schleßwig und Holstein / etc. etc. Gebohrner Hertzogin zu Braunschw. und Lüneb. unterthänigst gewidmet von F. C. Bressand. Mit Fürstl. Braunschw. Lüneb. Special-Freyheit. In Verlegung Caspar Grubers / Buchhändl. in Braunschw. – Procris Und Cephalus, In einem Sing-Spiel vorgestellet auf dem Braunschweigischen Schau-Platz. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. Erben [1694]. – Salzthalischer Mäyen-Schluß: oder Beschreibung Der auf den höchsterfreulichen Geburts-Tag Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen / Frauen Elisabetha Juliana / Hertzogin zu Braunschweig und Lüneburg / gebohrner Hertzogin zu Schleßwig und Holstein / etc. etc. in Salzthal angestellter Lustbarkeiten / Im Jahr 1694. Wolffenbüttel / Gedruckt bey Caspar Johann Bißmarck. – Doppelte Freude der Musen / bey dem zwey und sechszigsten Geburts-Tage Des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Hn. Anthon Ulrichs / Hertzogens zu Braunschweig und Lüneburg / unsers gnädigsten Fürsten und Herrn / und dabey geschehener unvermuteter Ankunfft der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen / Frn. Sophia Amalia / Erbin zu Dännemarck und Norwegen / etc. wie auch zu Schleßwig und Holstein gebohrner / und zu Braunschweig und Lüneburg vermählter Hertzogin / unserer gnädigsten Erb-Prinzessin / etc. etc. in Salzthal / und darauf erfolgendem Fürstl. Heimführungs-Einzuge in Braunschweig. Wolffenbüttel / Gedruckt bey Caspar Johann Bißmarcks sehl. nachgel. Wittib. Im Jahr 1695. – Hochzeit-Briefe / An die Durchleuchtigste und gnädigste Herrschafften in Wolffenbüttel / Auf seine Den 24sten Jun. 1696. angestellte Ehe-Verbündniß / geschrieben / Und Auf wiederholten gnädigsten Befehl hernachmals in Druck gegeben / Von F. C. B. Wolffenbüttel / Gedruckt bey Caspar Johann Bißmarcks sehl. nachgel. Wittib. – Tempel der Tugend und Ehre / an dem Höchst-Feyerlichen Geburts-Tage Des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Anthon Ulrichs / Herzogens zu Braunschweig und Lüneburg / etc. als S. Hoch-Fürstl. Durchl. Das vier und sechszigste Jahr Dero Hoch-Fürstl. Alters zurück legeten / Den 4. October. MDCXCVII. vermittelst eines Ballets Auf dem Fürstlichen Schlosse zu Wolffenbüttel eröffnet und dargestellet. Nebst angehengter / folgenden tags gehaltener / Wirtschafft der VII. Planeten. Wolffenbüttel / Gedruckt bey Caspar Johann Bißmarcks sehl. nachgel. Wittib. – Atalanta, Oder die verirrten Liebhaber: Singe-Spiel / Auf dem Braunschweigischen Schau-Platz im Jahr 1698 vorgestellet / Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Albrecht Ernsten / Fürsten zu Oettingen / etc. etc. Unterthänigst gewidmet / von F. C. Bressand. Braunschweig / In Verlegung Caspar Grubers seel. nachgel. Wittwe. Bressand-Akten im Niedersächsischen Sttatsarchiv. NSA 4 Alt 25 Nr. 584. 4 Alt 25 Nr. 3672. 2 Alt Nr. 4441. Buchner, August: Anleitung zur Deutschen Poeterey. Anhang: A. Buchners Poet. Wittenberg 1665. Buti, Francesco: Orfeo. Tragicomedia Per Musica. Luigi Rossi (Musik) u. Francesco Buti (Text). Erstaufführung Paris 1647. Textheft zur Tonaufnahme. Arles 1991. C. Ivlii Hygini, Avgvsti liberti, fabularvm liber, Ad Omnivm Poetarvm lectionem mirè necessarius, & nunc denuò excusus. Eivsdem Poeticon Astronomicon Libri quatuor. Quibus accesserunt similis argumenti; Palaephati De fabulosis narrationibus Liber I. P. Fvlgentii Placiadu Episcopi Carthaginensis Mythologiarum Libri III. Eivsdem De vocum antiquarum interpretatione Liber I. Phornvti De natura deorum, siue poëticarum fabularum allegorijis, speculatio. Albrici Philosophi De deorum imagibinis Liber. Arati ĭĮȚȞȠȝİȞȦȞ fragmentum, Germanico Caesare interprete. Eivsdem Phaenomena Graece cum interpretatione Latina. Procli De sphaera libellus, Graece & Latine. Apollodori Biblioth. siue de Deorum origine. Lilii G. Giraldi De Musis Syntagma. Nunc primvm vero Ex Macrobio, Ficino in Plo-
271 tinum, Natali de Comitibus, & alijis Excerpta lectu dignißima, & Operis argumento conuentissima, subiuncta sunt. Index rerum, sententiarum, & fabularum, in his omnibus scitu dignarum, copiosissimus. Lvgdvni, Apvd Joannem Degabiano. MDCLXXXI. Chapoton, François de: La grande Jovrnée des machines ov le mariage Dorphée e d’Evridice. A Paris, Chez Tovssainct Quinet, au Palais, sous la montée de la Cour des Aydes. MDCXLVIII. Chesneau, Augustin: Orpheus eucharisticus sive Deus absconditus. Paris 1657. Clemens von Alexandrien: Mahnrede an die Heiden. In: Des Clemens von Alexandrien ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen übers. v. Otto Stählin. Bd. 1. München 1934 (Bibliothek der Kirchenväter. 2. Reihe. Bd. 7). Confessio oder Bekanntnus des Glaubens etlicher Fürsten und Städte uberantwort Kaiserlicher Majestat zu Augsburg Anno 1530. In: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 1930. Conti, Natale: Natalis Comitis Mythologiae sive Explictionis Fabvlarvm Libri Decem. In Quibus Omnia Prope Natvralis et Moralis Philosophiae dogmata in Veterum Fabulis contenta fuisse perspicuè demonstratur. Opus cuius vis Facultatis studiosis perutile ac propè necessarium. Accessit G. Linocerii Mvsarvm Mythologia, & Anonymi Obseruationum in totam de Dijs Gentium narrationem Libellvs. Adiectae sunt insuper nouissimae huic, post Germanicam & Gallicam, Editioni elegantissimae Deorum imagines, & eruditissimae Mythologiae M. Antonij Tritonij Vtinensis. Omnia summo studio, & exquisite labore denuo emendata. Patavii, Ex Typographia Pauli Frambotti. 1637. Superiorum Permissu. Du Boulay, Michel: Orphée, Tragedie en musique, représentée par l’Academie Royale de musique. Suivant la Copie imprimee a Paris MDCLXXXX. Edictum Poenale: Eines Hochweisen Rathes der Stadt Hamburg Edictum Poenale, Gegen die Vorkuppelung und Entführung der Weiber / Jungfrawen und Unmündige / Wie auch Kupler / Kupplerinnen / Heler und Verhelffer. Renoviret / Declariret und publiciret den 21. Septembris, und in den Haupt-Kirchen abgelesen den I. Octobr. 1676. Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines Christlichen Fürsten. Einführung, Übersetzung und Bearbeitung v. Anton J. Gail. Paderborn 1986. Eschenbach, Andreas Christian (Hg.): Orphei Argonautica, Hymni, et de Lapidibus; Curante Andrea Christiano Eschenbachio, cum ejusdem ad Argonautica notis & emendationibus. Accedunt Henrici Stephani in omnia & Josephi Scaligeri in Hymnos notae. Trajecti ad Rhenum. Apud Guil. van de Water 1689. Feind, Barthold: Barth. Feindes deutsche Gedichte: bestehend in musicalischen Schau-Spielen, Lob: Glückwünschungs-, verliebten und moralischen Gedichten, ernst- und schertzhafften Sinn- und Grabschrifften. Erster Theil. Sammt einer Vorrede von dem Temperament und Gemühts-Beschaffenheit eines Poeten und Gedancken von der Opera. Stade: Brummer 1708. FGrH: Jacoby, F. (Hg.): Die Fragmente der griechischen Historiker. 3 Teile in 14 Bänden. 1923–1958. Flemig, Christian, Conrad Peter Meister: Disquisitio academica de loquela Imaginum, quam deo duce et benevolo amplissimae facultatis philosophicae indultu in celeberrima Lipsiensium Academia die XXI. Jan. MDCCV. publico ȇǾǿȁȅȁȅīȅȊNȉȍȃ Examini praeside M. Christiano Flemig / Gubena-Lustato, proponit respondens Conradus Petrus Meister / Weissensea-Thuringus, S. S. Theol. Stud. Lipsiae, Literis Immanuelis Titii. Frank, Johann Nicolaus: Das von Gott geschikte / durch beständigkeit geschmükte mit Wunsch beglükte Fürstl. Eheband aus dem XXIV Cap. deß I. B. Mose. Alß Der Durchlauchtigste Fürst und Herr / Herr Christian / Herzog zu Sachsen / Jülich / Cleve und Berg / Landgraf in Thüringen / Markgraf zu Meissen / gefürsteter Graf zu Henneberg / Graf zu der Mark und Ravensperg / Herr zu Ravenstein / u. a. m. nach Hoch Fürstl. in Darmstadt geschehenen Trau- und Vermählung Die Durchlauchtigste Fürstin und Frau / Frau Sophien Marien Herzogin zu Sachsen / Jülich / Cleve und Berg gebohrne Landgräfin zu Hessen / Landgräfin in Thüringen / Markgräfin zu Meissen / gefürstete Gräfin / zu Henneberg / Gräfin zu der
272 Mark und Ravensperg / Frau zu Ravenstein u. a. m. zur Christiansburgk Dero Fürstl. Residenz- und Creiß Stadt Eisenberg den 6. Maj 1681. heimführete / betrachtet und izzo / bei abermahliger Gebuhrtstag-Freude hervor gegeben Von Jo. Nicolao Franken / Fürstl. Sächs. Beichtvatern / Hofpredigern / u. Superintendenten daselbsten. Gedrukt bei Christian Herrgott / Fürstl. Sächs. Hof-Buchdrukker / Gautruche, Pierre: Histoire Poétique pour l’intelligence des poètes et des auteurs anciens par le Père P. Gautruche. Lyon 1669. – Historia Poetica ad Faciliorem Poetarum et Veterum Auctorum Intelligentiam Gallice Conscripta à R. P. Gautruche Soc. Jesu Post Septimam Editionem Nunc Primum Latine Reddita ab Uno Ejusdem Societatis in Gratiam Poetices Candidatorum. Cum Permissu Superiorum. Lugduni Sumptibus Societatis. MDCCLVI. Giraldi, Lilio Gregorio: Lili Gregori Gyraldi Ferrariensis oper omnia duobus tomis distincta, Complectentia Historiam de deis gentium, musis et Hercule, rem nauticam, sepulcralia, et varios sepeliendi ritus, historiam poetarum graecorum et latinorum, kalendarium romanum et graecum cum libello de annis, mensibus, ac insuper alia: Quae omnia partim tabulis aeneis et nummis, partim Commentario Joannis Faes, Et Animadversionibus hactenus ineditis Pauli Colomesi, Nec non indicibus emendatioribus ac locupletioribus illustrata Exhibet Joannes Jensius. Lugduni Batavorum, Apud Hackium, Boutesteyn, Vivie, Vander Aa, & Luchtmans. MDCXCVI. Gracián, Baltasar: El criticȩn. In: Obras completas. Hg. v. A. del Hoyo. Madrid 1960. Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1668). Stuttgart 2001. Gryphius, Andreas: Gedichte. Eine Auswahl. Text nach der Ausgabe letzter Hand von 1663. Hg. v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 2000. Gschwend, Johann David: Eisenbergische Stadt- und Land-Chronika, darinnen von der Lage des Osterlandes, besonders der Fürstl. Sächs. Residenz- und Creisstadt Eisenberg, von denen hohen Landesregenten älterer und neuerer Zeiten, vom Fürstl. Creisamte, von E. E. Rahte, vom Kirchenstaate vor und nach der heilsamen Reformation, von der Schule, von gelehrten Eisenbergern, nicht weniger von sehr vielen Begebenheiten und Fällen in der Stadt und auf dem Lande ausführlich gehandelt, auch das nöthigste mit Urkunden belegt wird, welche auf Verlangen dem Drucke überlassen M. Johann David Gschwend, Rector in Eisenberg. Eisenberg, 1758. gedruckt und zu finden bei Christian Heinrich Walthern, Eisenberg 1758. Harsdörffer, Georg Philipp: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen. 3 Teile. Nürnberg 1648– 1650. Hofmann, Johann Jacob: Lexicon Universale Historico-Geographico-Chronologico-PoeticoPhilologicum continens Historiam Omnis Aevi, Geographiam omnium Locorum, Genealogiam principum Familiarum, addita ubique Chronologia tum veteri tum recentiore, Mythologiam insuper omnium Fabularum, Discussionem Philologicam illustrium circa haec occurentium Difficultatum; Aliaque plurima scitu dignissima. Cum Indicibus variis, Rerum imprimis locupletissimo, memorabilia huius Lexici per Locorum Communium titulos Lectori ullico spectanda exhibente. Opera et Studio Joh. Iacobi Hofmanni; Gr. Ling. In Acad. Basil. Profess. Publ. Cum Privilegiis S. Caesareae Maiestatis & Regis Christianissimi. Baliseae. Impensis Joahn. Herman. Widerhold, Bibliop. Genevensis. Typis Jacobi Bertschii & Joh. Rodolphi Genathii 1677–1683. Hunold, Christian Friedrich: Theatralische Galante Und Geistliche Gedichte Von Menantes. Hamburg Bey Gottfried Liebernickel im Dom. 1706. Hyginus, C. Iulius: Fabularum liber: ad omnium poëtarum lectionem mirè necessarius. Cum animadversiones et emendationes ex adversariis Barthii collectae. Lugd[uni] Bat[avorum]: Gaasbek 1670. – Hygini Fabulae Quae hodie extant, adcurante Joanne Scheffero Argentoratensi, Qui simul adjecit notas, hic admodum necessarias, cum indice verborum locutionumque rariorum, & dissertatione, de vero hujus operis auctore. Accedunt & Thomae Munckeri In Fabulas Hy-
273 ginis Annotationes. Hamburgi, Ex Officina Gothofredi Schultzen Prostant & Amsterodami, Apud Joannem Janssonium à Waesberge. MDCLXXIV. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. v. Walter Euchner. Wien 1967. Logau, Friedrich von: Von Orpheo und Eurydice. In: Ders.: Salomons von Golaw deutscher Sinn-Gedichte drei Tausend. Breslau 1654, S. 201. (Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke. CD-ROM-Ausgabe (Directmedia). Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 75)). Lohenstein, Daniel Casper von: Cleopatra. Trauerspiel. Text der Erstfassung von 1661. Hg. v. Ilse-Marie Barth. Stuttgart 1965. – Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Leipzig 1689–1690, Neudruck hg. v. E. Szarota. Hildesheim u. New York 1973. Ludwig, Gottfried: M. Godofredi Ludovici Historia Rectorum & Gymnasiorum Scholarumque Celebriorum: s Schul-Historie. Pars II. Leipzig 1709. Luther, Martin: D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Hg. v. Hans Volz u. Heinz Blanke. 2 Bde. München 1972. – Sermon von den guten Werken. Bd. 2. Leipzig 1992. Mander, Carel van: Het Schilder-Boeck Waerin Voor eerst de leerlustighe Iueght den grondt der Edel Vry Schilderconst in Verscheyden deelen Wort voorghedraghen: Daer nae in dry deelen t’Leuen der Vermaerde door luchtighe Schilders des ouden, en nieuwen tyds. Eyntlyck d’wtlegghinghe op den Metamorphoseon Pub. Ouidij Nasonis Oock daerbeneffens wtbeeldinghe der figuren [...], Haerlem: van Wesbusch 1604. Metamorphosen-Ausgaben des 17. Jahrhunderts: P. Ovidii Metamorphosis, seu Fabulae Poeticae: Opus omnibus poetices studiosis necessarium / Earumque Interpretatio Ethica, Physica, Et Historica, Georgii Sabini, poetae nostri seculi fere principis; Cum Indice verborum & rerum praecipuarum in Ovidio & Sabino comprehensarum. Acceßit etiam ex Natalis Comitis Mythologiis de fabularum utilitate, varietate, partibus & scriptoribus, deq apologorum, fabularum, anorumq differentia, tractatio. Francofurdi: Officina typographica Joannis Wecheli [1601]. MetamorphoseȦn Ouidianarum typi aliquot artificiosissimè delineati, ac in gratiam studiosae juuentutis editi per Crispianum Passaeum Zeelandum chalcographum Ano salutis humanĊ, Coloniae: Passaeus 1602. Les Metamorphoses d’Ovide. De nouueau traduittes en françois. Auec XV. Discvrs. Contenans l’explication morale des fables. A Paris Chez Matthieu Guillemot au palais en la gallerie des prisonniers. Avec privilege dv Roy. 1612. P. Ovid. Nasonis XV. Metamorphoseon Libroru[m] figurae elegantissime, a Crispiano Passaeo: laminis aeneis incisae: Quibus Subiuncta sunt Epigra[m]ata latine ac germanice conscripta, fabularum omnium summam breviter ac erudite comprehendentia autore Giulhelmo Salsmanno. Coloniae: Passaeus 1607. P. Ovidii Nasonis Opera Omnia in Tres Tomos Distributa: Ex postrema Jacobi Mycilli Recognitione. Et Nova Recensione Gregorii Bersmanni, Cum Eiusdem Aliorumq[ue] [...] Notationibus, Cumque omnium Fabularum in Libris Metamorphoseon Ethica, Physica & Historica Interpretatione. Georgii Sabini Quibus in Fine tandem accesset eiusdem Bersmani dudum desiderata Calligraphia Ovidiana, Germanica Paraphrasi illustrata, & in ceteros locos redacta [...]. Leipzig1620–1621. P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri XV. Selecti: Ab Omni Obscoenitate Purgati, Sectionibus & Argumentis novis illustrati; Ad vsum Studiosae Iuventutis. Coloniae Agrippinae: Johann Kinckius 1629. P. Ovidii Metamorphosis, Oder: Wunderbarliche und seltzame Beschreibung / von der Menschen / Thieren / und anderer Creaturen Veränderung / auch von den Wandeln / Leben und Thaten der Götter / Martis / Veneris / Mercurii / [et] c.: Allen Poeten / Malern / Goldtschmiden / Bildthawern / und Liebhabern der edlen Poesi [...] nützlich und lustig zu lesen. Jetzt widerumb auff ein neuwes mit schoenen Figuren auch deß Hochgelehrten Herrn Gerhardi Lorichii der Fabeln Außlegung / renoviert / corrigiert / und an Tag gegeben. Franckfurt am Mayn: Tampach 1631.
274 Pvb. Ovidii Nasonis metamorphoseȦn libri XV. Ad fidem editionvm optimarvm et codicvm Manuscriptorum examinati, animadversi, necnon Notis illustrati. Operâ & studio Thomae Farnabii. Editio nunc primum in Gallia & multis figuris aeneis adornata. Parisiis. Sumptibus Aegidii Morelli, viâ Iacobaeâ ad insigne Fontis. MDCXXXVII. Non sine Regis priuilegio. Les Metamorphoses d’Ovide Traduites en Prose Françoise, et de nouueau soigneusement reueuës, corrigees en infinis endroits, et enrichies de figures à chacune Fable. Avec XV. Discovrs Contenans l’Explication Morale et Historique. De plvs Outre le Jugement de PARIS, augmentees de la Metamorphose des Abeilles, traduite de Virgile, de quelques Epistres d’Ovide, et autres diuers traitez. 1651. A Paris, Chez Avgvstin Covrbé, Imprimeur et Libraire ordinaire de Monseigneur le Duc Dorleans dans la petite Sale du Palais à la Palme. Publius Ovidius Nazoos Herscheppinge. Vertaelt door J. V. Vondel. t’Amsterdam, Voor de weduwe van Abraham de Wees, op den Middeldam, in ’t nieuwe Testament. 1671. Met Privilegie voor vijftien jaren. Métamorphoses d’Ovide en rondeaux imprimez et enrichis de figures par ordre de sa Majesté, Et dediez à Monseigneur Le Dauphin. A Paris, de l’imprimerie Royale. MDCLXXVI. MSG: Jan, C. (Hg.): Musici scriptores Graeci. 1895. Suppl. 1899. Ndr. 1962. Muncker, Thomas (Hg.): Mythographi latini. C. Jul. Hyginus. Fab. Planciades Fulgentius. Lactantius Placidus. Albricus Philosophus. Thomas Munckerus omnes ex libris MSS. partim, partim conjecturis verisimilibus emendavit. Praemissa est dissertatio de auctore, stylo, & aetate Mythologiae, quae C. Jul. Hygini Aug Liberti nomen praefert. Amstelodami Ex Officina viduae Joannis à Someren. A. C. MDCLXXXI. Neumark, Georg: Georg Neumarks Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst: in funfzehen Tafeln zusammen gefasset. Jena: Bauhofer 1667. Nikodemus-Evangelium. In: Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Hg. v. Alfred Schindler. Zürich 2004, S. 489–543. Olivieri: Olivieri, D.: Dizionario di toponomastica lombarda. Nomi di comuni, frazioni, casali, monti, corsi d’aqua, ecc. della regione lombarda, studiati in rapporto alla loro origine. Milano 21961. Omeis, Magnus Daniel: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst / durch richtige Lehr-Art / deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet: worinnen erstlich von den Zeiten der Alten und Neuen Teutschen Poësie geredet / hernach / nebst andern Lehr-Sätzen / auch von den Symbolic Heroicis oder Devisen, Emblematibus, Rebus de Picardie, Romanen / Schau-Spielen / der Bilder-Kunst / Teutschen Stein- Schreib-Art u. a. curieusen Materien gehandelt wird; samt einem Beitrage von der T. Recht-Schreibung / worüber sich der Löbl. Pegnesische Blumen-Orden verglichen. Hierauf folget eine Teutsche Mythologie / darinnen die Poëtische Fabeln klärlich erzehlet / und derer Theologisch-Sittlich-Natürlich- und Historische Bedeutungen überall angefüget werden; wie auch eine Zugabe von etlich-gebundenen Ehr- Lehr- und Leich-Gedichten. Welches alles zu Nutzen und Ergetzen der Liebhaber T. Poësie verfaßet Magnus Daniel Omeis / Comes Pal. Caes. Moral. Orator. und Poes. Prof. P. zu Altdorf / der im Pegnesischen Blumen-Orden so benannte Damon. Nürnberg / in Verlegung Wolfgang Michahelles und Johann Adolph / Buchhändl. Gedruckt zu Altdorf / durch Heinr. Meyern / Acad. Buchdr. A. 1704. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002. Ovide moralisé en prose. Texte du quinzéme siècle. Hg. v. Ch. de Boer. Amsterdam 1954. Ovide moralisé. Hg. v. Ch. de Boer. 4 Bde. Amsterdam 1915–1938. Ovidius Naso, Publius: Metamorphoseon libri quindecim. Metamorphosen. Lateinisch / Deutsch, übers. u. hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994. Palaephatus: Palaephati De Incredibilibus / Cornelivs Tollivs in Latinum sermonem vertit, & Notis illustravit. Amstelodami Apud Ludovicum Elzevirum 1649.
275 –
Palaephati De Incredibilibus Historiis: Ad Illustres Wratislaviensium Praesides Scholarum. Et Excellentissimos Earundem Inspectores / Cum Interpretatione Cornelii Tollii, Et Annotatis Martini Brunneri, Novis Animadversionibus, Nec Non Doctrinis Moralibus, ut et Indicibus Necessariis, Inclytae Reip. Wratisl. Scholarum Praesidibus & Inspect. etc. inscripta, in Usum Gymnasiorum & Academiarum [...] digessitque Paulus Pater nunc primum in Germania Graece & Latine edidit. Francofurti Ex Officina Meyeriana 1686. Paufler, Christian Heinrich: De conrectoribus scholae dresdensis, prolusio qua ad orationes A. D. XXVI. April. A. C. Hora III. pomeridiana in schola ad aedem crucis benevole audiendas, humanissime et observatissime invitat Christianus Henricus Paufler Rector. Dresden 1816. Platon: Der Staat. Eingel. v. Olof Gigon. Übers. v. Rudolf Rufener. München 21973. Poliziano, Angelo: Orpheus. Tragödie. Übers. v. Werner Gebühr. In: Orpheus und Eurydice. Poliziano. Calderon. Gluck. Offenbach. Kokoschka. Cocteau. Anouilh. Hg. v. Joachim Schondorff. München u. a. 1963, S. 40–56. Pomey, François Antoine: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia, Hoc Epitomes eruditionis volumine breviter dilucideque comprehensa. Auctore P. Francisco Pomey e Societate JESU. Editio sexta, denuo recensita, a quamplurimis erroribus repurgata, & aeneis figuris ornata. Jultrajecti. Apud Guilielmum van de Water, Academiae Typographum. MDCCI. Pönmann, Daniel Friedrich: Vitae virorum Ex quasis Facultate Clarissimorum, Das ist: Lebens-Beschreibungen Etlicher vortrefflich- Gelehrter Männer in mancherley Wissenschafften / Darinnen Unterschiedene Particularia so wohl von ihren Leben / als Schrifften / dem geneigten Leser getreulich communiciret werden Von Dan. Friedr. Pönmannen Wittenberg / Verlegts Christian Gottlieb Ludwig / 1714. Pontanus, Jacobus (Hg.): Ex P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon libris XV. Electorum libri totidem ultimo integro / Ad eosdem novi commentarij, cum sectionibus & argumentis: Studio et opera Jacobi Pontani. Acc. obscurum Ovidii poemation in Ibin Valerii Andreae Desselij & Franc. Sanctii Brocensis uberiores notationes. Antverpiae: Nutius 1618. Postel, Christian Heinrich: Unverweßliche Ehren-Säule / Weche Dem Gedächtniß Des Wol-Edl. Best- und Hochgelahrten Herrn / Herrn Friedrich Christian Bressands / Hoch-Fürstl. Braunschweig- und Lüneburg: geheimen Kammer-Schreibers / Nachdem derselbige am 4. April dieses 1699sten Jahres in Wolffenbüttel durch einen zwar gar zu frühzeitigen / doch sanfft und seeligen Tod das Zeitliche gesegnet / Mit Leid-tragendem Gemühte in Hamburg auffgerichtet worden / Von C. H. Postel. Hamburg / Gedruckt bey Nicolaus Spieringk. Rinuccini, Ottavio: L’Euridice / Eurydike. Übers. v. Richard Bletschacher. In: Die Stimme des Lorbeers. Hg. v. Richard Bletschacher. Wien 1990, S. 42–99. Ronsard, Pierre de: Abbregé de l’Art Poetique Françoys, 1565. In: OEuvres Complètes de Ronsard. Hg. v. Vaganay. 7 Bde. Bd. 4: Les poèmes. Paris 1923. Sabinus, Georg: Fabularum P. Ovidii metamorphosis descriptarum Interpretatio ethica et physica historica. O. O 1614. Sandrart, Joachim von: P. Ovidii Nas. Metamorphosis, Oder: Des verblümten Sinns der Ovidianischen Wandlungs-Gedichte gründliche Auslegung: Aus dem Niederländischen Carls von Mander / Zu Behuf der Edlen Poesi-Kunst und Tugend Liebhabere ins Teutsche übersetzt. Und der Sandrartischen Academie einverleibet. Mit Röm. Käyser. Majest. Gnad und Freiyheit nicht nach zu drucken; Nürnberg / Gedruckt bey Christian Sigismund Froberger. Anno MDCLXXIX. In: Teutsche Akademie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste [...]. Teil 2.3. Nürnberg 1679. Schaevius, Heinrich: Heinrici Schaevii Chilonio-Cimbri Mythologia Deorum ac Heroum, Ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii Officina atque Poëtis Classicis, olim Methodice a dicto Autore contracta, Cum geographia Poetica & Mantissa materiae Poeticae. Stargardiae: Henningus 1660. Schottel, Justus Georg: Grausame Beschreibung und Vorstellung Der Hölle Und der Höllischen Qwal / Oder Des andern und ewigen Todes In Teutscher Sprache nachdenklich / und
276 also vor die Augen gelegt / daß einem gottlosen Menschen gleichsam die höllischen Funken an noch in dieser Welt ins Gewissen stieben / und Rükk-Gedanken zur Ewigkeit erwekken können. Mit etzlichen Schrekkniß-vollen Kupfferstükken zugleich vorgebildet. Wolfenbüttel / In Verlegung Conradi Busonis sell. Erben. Im Jahr 1676. – Ethica Die Sittenkunst oder Wollebenskunst / In Teutscher Sprache vernemlich beschrieben in dreyen Bücheren. Worin zugleich auf alle Capittel lateinische Summaria, auch sonst durch und durch die Definitiones lateinisch beygefügt werden. Wolfenbüttel / Gedruckt bey Paul Weiß / Fürstl. Br. Lüneb. Hof-Buchdrucker. Anno 1669. Sophokles: Antigone. Mit einem Nachwort, einem Aufsatz, Wirkungsgeschichte und Literatur-Hinweisen. Übers. und hg. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt / Main 101993. Specht: Antwort auf die Anfrage von Paul Zimmermann vom 30. Januar 1900. NSA 249 N 290. Striggio d. J., Alessandro: L’Orfeo. Favola in musica. Zweisprachiges Textbuch. Wortgetreue Übersetzung von Ursula Jürgens-Hasenmeyer. In Csampai, Attila u. Holland, Dietmar (Hg.): Claudio Monteverdi, S. 41–81. Syllabus: Subsidiorum Literariorum Syllabus, Junctum exhibes I. Mnemonicos Versus, ad Rerum & Verborum Copiam. II. Romanae Linguis Eruditionem è Graecorum Fontibus, & Proverbiis depromptam. III. Mythologiam Epitomen, Cum Expositione Morali. IV. Antiquitates Romano-Graecas. V Monarchiarum Sciagraphiam, cum Impp. Romanorum serie, carmine Mnemonico adornatâ. Juventutis Studiosae commodo. Friburgi, Anno MDCLXXXIV. Textor, Johannes Ravisius: Joh. Ravisii Textoris Nivernensis, Poetae Celeberrimi, Officina, sive Theatrum Histor. et Poeticum, ex Nat. Comite, Linocerio et Gyraldo, Cum gemino Indice, ad perfectionem illustratum, & nova hac editione A Jac. Grassero Civ. Romano cum augmento exornatum. Basileae; Sumptibus Ludovici Regis, MDCXXVI. Thalheim, Johann Christoph: Die / von den Himmel Beschlossene Heyrath / Wolte Bey ehlicher Verbindung Des WolEdlen / Best / und Hochgelahrten Herrn Friderich Christian Bressands / Seiner Hoch Fürstl. Durchl. zu Braunschweig und Lüneburg / wolverordneten geheimen Cammer-Schreibers / Mit der Wol Edlen / Hoch Ehr / und Tugendreichen Jungfer Anna Catharina Schöderin / Herrn Marcus Schröders / Gewesenen Predigers zu Pretz in Holstein / Hinterlassenen eheleiblichen Tochter / Welche den 24. Jun. 1696. in der Fürstl. Schloß-Kirche zu Wolffenbüttel vollzogen wurde / Zu Bezeugung willigster Dienste Vorstellen Johann Christoph Thalheim. Wolffenbüttel / Gedruckt bey Caspar Johann Bißmarcks sehl. nachgel. Wittib. Thomas de Aquino: In Aristoteles librum De anima commentarium. Hg. v. Angelo M. Pirotta. Torino 41959. Thomasius, Christian: Christian Thomasiens Von Der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen, Oder Einleitung zur Sitten Lehre. Halle 1692. Tscherning, Andreas: Orpheus. In: Gedichte des Barock. Hg. v. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 82. Vergilius, Publius Maro: Georgica. In: Ders.: Landleben. Catalepton. Bucolica. Georgica. Hg. v. Johannes und Maria Götte. Vergil-Viten. Hg. v. Karl Bayer. Lateinisch und deutsch. München u. Zürich 1987. Voss, Gerhard Johann: Gerardi Ioannis Vossii de Theologi gentili, et physiologia christiana, sive de origine ac progressv idolatriae, ad veterum gesta, ac rerum naturam, reductae; de qve natvrae mirandis, quibus homo adducitur ad Deum, liber I, et II. Amsterdami, Apud Ioh. & Cornelivm Blaev. MDCXXXXI. Vulpius, Christian August: Herzog Christian von Sachsen-Eisenberg und seine Unterhaltung mit Geistern. Nach handschriftlichen Aufzeichnungen desselben, in: Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt; zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser. Bd. 1. Weimar 1811, S. 449–487. Weck, Anton: Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitberuffenen Residentz- und HauptVestung Dresden Beschreib- und Vorstellung. Nürnberg 1680.
277 Weise, Christian: Christian Weisens Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen / Welcher Gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden soll / damit er Gute Verse vor sich erkennen / selbige leicht und geschickt nachmachen / endlich eine kluge Masse darinn halten kan: wie bißhero die vornehmsten Leute gethan haben / welche / von der klugen Welt nicht als Poeten / sondern als polite Redner sind aestimirt worden. [Leipzig]: Gleditsch 1693. – Christian Weisens Curiöse Gedancken von Deutschen Brieffen. Wie ein junger Mensch / sonderlich ein zukünfftiger Politicus, Die galante Welt wol vergnügen sol. In kurtzen und zulänglichen Regeln / so dann in anständigen und practicablen Exempeln ausführlich vorgestellet. Erster und Ander Theil. Dresden 1691. – Christian Weisens Politischer Redner / Das ist / Kurtze und eigentliche Nachricht / wie ein sorgfältiger Hofemeister seine Untergebene zu der Wolredenheit anführen sol / damit selbige lernen 1. Auf was vor ein Fund. eine Schul-Rede gesetzet ist / 2. Worinnen die Complimenten bestehen; 3. Was Bürgerliche Reden sind; 4. Was bey hohen Personen sonderlich zu Hofe vor Gelegenheit zu reden vorfällt. Alles mit gnugsamen Regeln / anständigen Exempeln / und endlich mit einem nützlichen Register ausgefertiget / Auch bey dieser 3ten Edition in vielen verbessert. Mit Churfl. Sächs. Privilegio. Leipzig / Bey Timoth. Ritschens sel. Erben zu finden. Druckts Gallus Niemann / 1681. Zesen, Philipp von: Der erdichteten Heidnischen Gottheiten / wie auch Als- und Halb-Gottheiten Herkunft und Begäbnisse / den Liebhabern nicht allein der Dicht- Bildund Mahler-Kunst / sonder auch der gantzen Welt- und Gottes-gelehrtheit zu erleuchtung ihres verstandes zu wissen nöthig / kurtzbündig beschrieben durch Filip von Zesen. Gedrückt zu Nürnberg / auf Kosten Johan Hofmans / Buchhändlers. Im Jahr MDCLXXXIIX. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Maché u. Volker Meid. Bd. 17.1. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1998. Zincgref, Julius Wilhelm: Emblematum Ethico-Politicorum Centuria Iulii Guilielmi Zincgrefii / Coelo Matth: Meriani, Frankfurt am Main: Johann Theodor de Bry 1619.
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Brüssel, Bibliotheque Royale Albert Ier (Musiksammlung) Washington, Congress Library Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek Weimar, Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia-Bibliothek Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Schwerin, Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Wolfenbüttel, Niedersächsisches Staatsarchiv Wien, Österreichische Nationalbibliothek (MS – Musiksammlung, TS – Theatersammlung, HS – Handschriftensammlung) Braunschweig, Stadtbibliothek Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Urbana-Champaign, University of Illinois, University Library Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek
Register Achilles 205 Admetos 99 Adonis 37 Aeacus 59, 192, 195 Aesculapius s. Asklepios Agriope 17 Aischylos 16 Akteon 204 Alberti, Valentin 154 Albrecht von Halberstadt 43 Albricus 32 Alciatus, Andreas 58 Aleandro, Girolamo 36 Amathonte 140 Amor s. Cupido Amphion 34, 153, 161 Anna Sophie, Markgräfin zu Baden-Durlach 182 Anton Günther I., Graf von SchwarzburgSondershausen 131 Anton Günther II., Graf von SchwarzburgSondershausen 131 Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 40, 75–95, 131–135, 138, 143–146, 152, 153, 182, 183, 201–207, 211, 213, 220, 223, 232 Apollodoros 15–19, 31, 35, 36 Apollon 16–19, 31, 34, 35, 37, 41, 46, 48, 80, 81, 90, 91, 93, 99, 100–102, 105, 125–127, 129, 134, 137, 139, 142, 143, 186, 199, 208, 209, 211–214 Apollonios Rhodios 15, 16, 17, 33 Aratus 31, 32, 35, 36, 37 Argo 16 Arion 34 Aristaios 6, 17, 29, 30, 49, 98–109, 116, 117, 118, 119, 120–126, 129, 130, 134– 136, 138, 141, 142, 147, 148, 150, 186, 188–190, 195, 196, 198, 199, 204–209, 213, 215–217, 219, 220 Aristophanes 3, 16, 33 Aristoteles 33, 71, 114, 120, 153, 159, 162, 172 Arkadien 84, 100
Artapanos 71 Asklepios 99, 205 Atalanta 140, 202, 203 Atis 140 August der Jüngere, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 75, 76, 93, 94, 132 August Wilhelm, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 135, 199, 202, 204 Augusta Dorothea, Gräfin von Schwarzburg-Sondershausen 131–133, 135 Augustinus 4, 7, 33, 71, 90, 127, 146 Aureli, Aurelio 133, 202, 204, 228 Autonoe 186–191, 196, 198, 199, 204, 205, 213, 215–218, 220 Bacchantinnen s. Mänaden Bacchus 18, 31, 35, 36, 38, 91, 134, 138, 141, 142, 185, 196, 197, 204, 205, 209, 212, 215, 217, 219 Bacon, Francis 33, 36 Bauer, Wolfgang 9 Beer, Johann 97, 131 Beliden s. Danaiden Benn, Gottfried 10 Benserade, Isaac de 42 Berchorius, Petrus (Pierre Bersuire) 5, 6 Bersmann, Gregor 28 Blootelig, Abraham 44, 46 Boccaccio, Giovanni 6, 38, 161, 203 Boethius 5, 82 Bohemus (Böhme), Johann 155 Bosporus 17 Bressand, Friedrich Christian 2, 132–134, 152, 153, 182–192, 194–196, 198–207, 210–220, 224, 225–233, 235, 236 Brueghel d. Ä, Jan 45 Brunner, Martin 32 Buchner, August 51–70, 72–75, 81, 83–85, 88, 90, 99, 207, 209, 210, 223, 224, 242 Buti, Francesco 11, 40, 105 Calderón de la Barca, Pedro 8–11, 72, 90
294 Caravaggio 49 Cerasten 140 Chapoton, François de 49, 189 Charon 17, 29, 30, 45, 59, 86, 134, 138, 191 Chauveau, François 42, 44–46 Chesneau, Augustin 72 Chiabrera, Gabriello 11 Chiron 7, 205 Christian, Herzog von Sachsen-Eisenberg 96, 97, 113 Christian, Markgraf von Brandenburg 51 Christiana, Prinzessin von SachsenEisenberg 97 Christiane, Prinzessin von SachsenMerseburg 96 Cicero 16 Claudius Claudianus 16 Clemens von Alexandrien 4, 72, 161, 180 Conti, Natale 29, 32–38, 203 Corneille, Pierre 80, 182, 201 Costalius, Petrus 168 Cupido 60, 86, 90, 113, 190, 191, 193, 215, 216 Cyane 128 Cyparissus 30, 140 Cyrill 71 Danaiden 30, 59, 192 Dante Alighieri 86 David 5, 7, 97 David, Jérôme 49 Diodorus Siculus 4, 16, 17, 18, 203 Diogenes Laertius 153 Dion 16, 18 Dionysios Skytobrachion 17 Dionysos s. Bacchus Dioskuren 17 Dryaden 106, 134 Du Bellay, Joachim 7 Du Boulay, Michel 206 Du Ryer, Pierre 47, 49 Echo 68, 69, 84, 85, 90, 102, 139, 164, 200–203, 207, 243 Elisabeth Juliana, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg 182, 183, 232 Elysium 19, 31, 91, 92, 107, 143, 144, 147, 150, 194, 195, 199, 206, 217 Erinnys s. Eumeniden Ernst, Landgraf von Hessen-Rheinfels 205 Eschenbach, Andreas Christian 35, 180 Eumeniden 17, 29, 30, 104–107, 109, 129
Euripides 3, 15–18 Eusebius 71, 72 Eva 6 Feind, Barthold 206 Ficino, Marsilio 6, 32, 71 Franco, Giacomo 11, 47, 48 Frank, Johann Nicolaus 113–115, 120 Friedrich I., König von Preußen 214 Fulgentius 5, 6, 31, 32, 36 Gastoldi, Giovanni Giacomo 77 Gaultier, Léonard 47, 48 Gautruche, Pierre 34, 36, 37 Gianettini, Antonio 204 Giordano, Luca 48 Giraldi, Lilio Gregorio 32, 35–37, 203, 204 Goltzius, Hendrik 42 Gonzaga, Francesco 56, 77 Gottsched, Johann Christoph 182, 215, 225 Göze, Georg 65 Gracián, Baltasar 72 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 40, 41, 121 Gruber, Balthasar 233 Gruber, Caspar (Kaspar) 227, 229, 231–234 Gryphius, Andreas 70, 113, 125 Guarini, Giovanni Battista 84, 95 Guelphis 134 Hades 3, 17, 50, 63, 86, 144, 194, 205 Haemus 30, 135 Hallmann, Johann Christian 157 Harsdörffer, Georg Philipp 25, 33, 75, 79, 81, 121, 122, 129 Hebros 19, 29, 31, 48, 199 Heinrich IV., König von Frankreich 56 Helicon 124 Helios 18 Henryson, Robert 5 Herakles 17, 28, 39, 64, 203, 205 Hercules s. Herakles Hermes s. Mercur Hermisianax 16, 17 Herodot 33, 203 Hesiod 33 Hesperiden 17 Hieronymus 33 Hippomenes 140 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 51, 52, 63 Hofmann, Johann Jacob 8, 34–37 Homer 33, 203
295 Horaz 3, 7, 16–18, 27, 33, 38, 153, 161, 168, 208, 213 Hunold, Christian Friedrich 213 Hyginus 16, 31, 32, 35–37 Hymen 30, 83, 188, 189, 193, 215, 216 Hymenaeus s. Hymen Hypseus 100 Iamblichos 15 Iason 16, 17 Invidia 10, 58 Irene 80, 93 Iris 58, 64 Ixion 29, 30, 59, 87, 123, 192 Jáuregui, Juan de 11 Johann Georg II, Kurfürst von Sachsen 51, 172 Jornandes 203 Justin 203 Kadmus 204, 205, 215, 220 Kallimachos 33 Kalliope 15, 34, 37, 51, 81, 134, 136–139, 142–145, 150, 208 Keiser, Reinhard 182, 184, 225, 227–233, 236, 237 Kentaurus 205 Kerberos 17, 29, 46, 50, 107, 124, 193, 242 Klein, Franz 48 Klopstock, Friedrich Gottlieb 9 Kolchis 17 Krieger, Johann 97, 98 Krieger, Johann Philipp 97, 182 Kusser, Johann Sigismund 182, 183, 201 Kyklopen 99 Kyrene 17, 29, 99–101, 104–109, 117, 121, 126, 127, 129, 130, 186, 198, 208 Kyros der Große, König von Persien 33 Lactantius 32, 35–37 Lakonien 136 Landi, Stefano 11 Le Fèvre de La Boderi, Guy 7 Leclerc, Sébastien 42, 44–46 Leibniz, Gottfried Wilhelm 205, 210 Lesbos 19, 31, 37 Lethe 86 Libethra 19 Libien 121 Linocier, Geoffroy 32 Lipsius, Justus 89 Locke, John 59, 172–176, 180 Logau, Friedrich von 195
Lohenstein, Daniel Casper von 80, 121, 122, 127, 187 Lorber, Johann Christoph 131 Löwe von Eisenach, Johann Jacob 75, 76 Ludwig Günther, Graf von SchwarzburgSondershausen 132 Ludwig Rudolf, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 135, 206 Lukianos 16–19, 33 Lukretia 127 Lully, Jean-Baptiste 201, 206 Lully, Louis de 206 Luther, Martin 73, 92, 98, 110, 114, 115, 159, 178, 195 Macrobius 32, 33 Magdalena Sibylla, Markgräfin von Brandenburg 51 Mänaden 18, 31, 34, 36, 40, 46, 48, 59, 60, 66, 70, 73, 74, 81, 82, 90, 91, 141, 142, 186, 196, 197, 203, 205, 206, 209, 244 Mander, Carel van 28, 29 Maria Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg 76 Mars 80, 94, 124 Marsias 34 Martianus Capella 16 Mattheson, Johann 182, 225–228, 233, 236 Medici, Maria de 56 Menaechmus 33 Merbitz, Johann Valentin 48–50, 153, 154– 164, 167–181, 224, 245 Mercur 16, 134, 138, 180, 214 Merian d. Ä., Matthaeus 47 Milton, John 8, 10 Minerva 58 Minos 59 Mitternacht, Johann Sebastian 157, 176, 179 Molière, Jean Baptiste 182 Monteverdi, Claudio 10, 53, 56, 57, 65, 70, 77, 79, 81–83, 85–87, 90, 105, 143, 223 Moritz Wilhelm, Herzog von Sachsen zu Zeitz 76, 214 Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel 75 Morpheus 134, 139, 145 Moses 4, 36, 71, 73, 180 Mousaios 71 Muncker, Thomas 32, 35, 36 Musaeus s. Musaios Muse 15, 16, 19, 35, 38, 46, 51, 53, 75–78, 90, 93, 94, 132, 134–37, 143, 183, 184, 202, 207, 211, 230 Mycillus, Jacob 28
296 Myrrha 140 Mythographi Vaticani 32 Naiaden 30, 134, 141 Nikandros 16 Nikomachos 16 Nonnos Dionysiaka 16 Novalis 9 Nymphen 17, 29, 48, 58, 59, 60, 67, 82–84, 93, 99, 100, 106, 128, 134, 136, 139, 142, 186, 188, 189, 196, 198, 205, 206, 215–217, 219, 243 Oiagros 16, 35, 137, 181 Olymp 18 Omeis, Magnus Daniel 35–38 Opitz, Martin 56, 57, 65, 66, 80, 110, 209, 210 Ovid 3, 5, 8, 14, 16–19, 27–30, 33, 34, 36– 38, 40–43, 45, 46, 48, 58, 61, 64, 77, 81, 85, 86, 88, 90, 91, 122, 127, 128, 129, 134, 138, 140, 142, 168, 192–194, 196, 197, 200, 203 Palaephatus 31, 32, 36 Pan 33, 34, 280 Parnass 143, 202, 211, 214 Passe Sr., Crispijn de 42, 44–46 Pausanias 16–19, 33 Peleus 99, 121 Peneus 100–103, 107, 116, 117 Pérez de Montalbán, Juan 11 Peri, Jacopo 10, 24, 56, 65, 223 Perrier, François 45 Persephone s. Proserpina Phanokles 15, 16, 18, 19 Pharos 106 Pherekydes 17 Philipp IV, König von Spanien 45 Philostratos 16, 19 Phoebus s. Apollon Phornutus 32 Pierien 16, 19 Pimpleia 18 Pindar 16, 17, 33 Plato 3, 6, 15–18, 33, 37, 85, 177, 178 Plinius 16 Plutarch 18, 33, 203 Pluto 29, 30, 37, 40, 45, 59, 67, 68, 86–89, 105, 107, 109, 119, 121, 126, 128, 129, 137, 144, 192–195, 205, 214–216, 219, 242 Poliziano, Angelo 7, 83, 84, 86, 87, 90 Pomey, François Antoine 33–37
Pontanus, Jacobus 28 Postel, Christian Heinrich 25, 202, 211, 225 Poussin, Nicolas 44 Pradon, Nicolas 182 Prätorius, Otto 65 Proklos 16, 32 Propertius 16 Propoetiden 140 Proserpina 18, 30, 37, 40, 45, 59, 87, 105– 107, 109, 119, 121, 126–129, 194, 201, 216 Proteus 30, 100, 106, 107 Pseude-Lactantius 31, 37 Pseudo-Albricus 31 Pseudo-Apollodoros 31 Pseudo-Eratosthenes 16, 18, 19 Pseudo-Justin 71 Pseudo-Lukianos 16 Pseudo-Plutarch 19 Quinet, Toussaint 49 Racine, Jean 182 Renouard, Nicolas 45 Rhadamantus 59, 200 Rhea 16 Rhodope 30, 85, 140, 196 Rilke, Rainer Maria 8, 195 Rinuccini, Ottavio 10, 11, 24, 56, 61, 65, 79, 83, 84, 87, 223 Ripa, Cesare 203 Ronsard, Pierre de 7, 71 Rosenmüller, Johann 132, 133 Rospigliosi, Giulio 109 Rossi, Luigi 105 Rotrou, Jean 49 Rubens, Peter Paul 45 Rudolf August, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 132, 135 Sabinus, Georg 28 Salomon, Bernard 41–46, 48, 49 Salsmann, Wilhelm 28 Samothrake 16, 17 Sandrart, Joachim von 28 Sandys, George 48 Sartorio, Antonio 11, 204, 228 Satyr 3, 122, 134 Savery, Jacob 43 Savery, Roelant 43 Savrij (Savery), Salomon 48 Schaevius, Heinrich 34–37, 39, 203 Scheffer, Johannes Gerhard 32 Schottel, Justus Georg 73, 104, 146–151
297 Schröder, Anna Catharina 182 Schürmann, Georg Caspar 146, 182, 227 Schütz, Heinrich 51–57, 75 Semele 204 Seneca 3, 8, 16–18, 28, 34, 64, 201, 203 Servius 16 Shakespeare, William 219 Sibylla Ursula, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg 76 Simonides 16 Sirenen 17, 36 Sisyphus 30, 45, 87, 192 Smyrna 19 Solis, Virgil 42–46 Sonnenhoff, Friedrich 97 Sophia Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg 75, 76, 81, 94, 95 Sophia Maria, Herzogin von SachsenEisenberg 96, 99 Sophie, Herzogin von Hannover 133 Sophokles 70, 87 Spes 86 Sthenelos 17 Stieler, Caspar 113 Striggio, Alessandro 10, 56, 65, 70, 77–79, 81–92, 95, 145, 223 Strymon 18 Styx 109, 121 Sueton 203 Tacitus 203 Taenarus 29, 30 Tainaron 17 Tantalus 30, 59, 87, 192 Tasso, Torquato 83, 122 Telonius, Michael 97 Tempesta, Antonio 42, 44–46 Textor, Johannes Ravisius 36, 39 Thalheim, Johann 202 Thanais 29 Theben 161, 186, 187
Theognis 33 Theokrit 33 Theseus 64, 100, 202 Thessalien 99, 121, 187 Thomas von Aquin 71, 73, 153 Thomasius, Christian 118, 185, 188, 210 Thrazien 18, 31, 36, 81, 135–137, 141, 142, 187, 188, 205 Thynias 16, 17 Timotheos 15, 16 Titus Livius 203 Tityos 30, 59, 87 Tollius, Cornelius 32 Tritonio, Marco Antonio 32 Tscherning, Andreas 195 Tzetzes 33 Uyttenbroeck, Moysesz van 43 Valerius Flaccus 16 Venus 34, 37, 40, 60, 124, 140 Vergil 3, 6, 8, 14, 17–19, 27, 29, 30, 33, 34, 36, 37, 49, 64, 98, 100, 134, 137, 196, 203 Vignon, Claude 49 Vockerodt, Gottfried 131 Vondel, Joost van den 44 Voss, Gerhard Johann 33, 34 Weck, Antonius 51 Weise, Christian 97, 155, 157, 158, 168, 169, 177, 179 Wentzel, Christoph 131 Wert, Giaches de 77 Wickram, Jörg 43 Willmann, Michael 43 Zesen, Philipp von 34–37 Zeus 19, 37, 60, 99 Ziegler, Caspar 79 Zilliger, Christoph Friedrich 233 Zincgref, Julius Wilhelm 63