Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Schlüsseltexte der Psychologie Herausgegeben von Helmut E. L...
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Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Schlüsseltexte der Psychologie Herausgegeben von Helmut E. Lück
Dem Lebenswerk und den Originalschriften der „großen Psychologen“ wie Wundt, Freud, Stern oder Münsterberg wird im Psychologiestudium und in der akademischen Psychologie wenig Aufmerksamkeit zuteil. Ziel dieser Reihe ist die Auswahl, Aufbereitung und Kommentierung klassischer Lektüre in einer Form, die für Studierende und Psychologie-Interessierte verständlich und anregend ist. Die Begegnung mit diesem klassischen Lesestoff und die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Faches sollen neue Perspektiven eröffnen und den Lesern einen breiteren Zugang zur Psychologie ermöglichen.
Bernd Nitzschke (Hrsg.)
Die Psychoanalyse Sigmund Freuds Konzepte und Begriffe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagfoto: Sigmund Freud Privatstiftung Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17000-8
Inhalt
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
1.
9
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
9
2.
Sigmund Freuds Kindheit und Jugend
12
3.
Der Student
13
4.
Von Wien nach Paris
16
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
18
6.
Zeit des Umbruchs
23
7.
Ein Ziel ist erreicht
26
8.
Das "wilde Heer" formiert sich
28
9.
Krankheit, später Ruhm und Tod
31
10. Was bleibt? Was kommt?
34
Psychischer Apparat und psychische Regulation Basiskonzepte der Psychoanalyse
39
1.1 Der psychische Apparat
41
1.2 Trieblehre
44
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
47
1.4 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)
52
1.5 Die Objektfindung
55
1.6 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
64
Inhalt
6
2.
3.
Wunsch - Traum - Zensur Freuds Methode der freien Assoziation
73
2.1 Der Traum ist eine Wunscherfüllung
75
2.2 Zur Psychologie der Traumvorgänge
82
Begehren und Verzicht Freuds Sexualitätskonzept ............................................................................... 97 3.1 [Ursprünge und Entwicklungslinien der Psychosexualität] Zusammenfassung
4.
5.
98
3.2 Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Genitalorganisation)
110
3.3 Über die weibliche Sexualität
114
Wunsch - Abwehr - Symptom Freuds Theorie der psychischen Erkrankung
133
4.1 Der Sinn der Symptome
135
4.2 Widerstand und Verdrängung
148
4.3 Neurose und Psychose
158
4.4 Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose
162
4.5 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
167
Übertragen - Erinnern - Bewältigen Freuds Behandlungskonzept
171
5.1 Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
172
5.2 Zur Dynamik der i.Tbertragung
181
5.3 Bemerkungen über die Übertragungsliebe
191
5.4 Wege der psychoanalytischen Therapie
203
5.5 Konstruktionen in der Analyse
213
Inhalt
6.
7
Die Stimme des Intellekts ist leise Freuds Kulturtheorie
223
6.1 Zeitgemäßes über Krieg und Tod
227
6.2 Die Zukunft einer illusion
241
6.3 Das Unbehagen in der Kultur
255
Literatur
279
Sachregister
291
1.
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
"Vom Jahre 1902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten. Ein Kollege [Wilhelm Stekel, s. unten - B. N.], welcher die gute Wirkung der analytischen Therapie an sich selbst erfahren hatte, gab die Anregung dazu. Man kam an bestimmten Abenden in meiner Wohnung zusammen, diskutierte nach gewissen Regeln, suchte sich in dem befremdlich neuen Forschungsgebiete zu orientieren und das Interesse anderer dafür zu gewinnen. [...] Die Schwierigkeiten der Unterweisung in der Ausübung der Psychoanalyse, die ganz besonders groß sind und an vielen der heutigen Zerwürfnisse die Schuld tragen, machten sich bereits in der privaten Wiener psychoanalytischen Vereinigung geltend. Ich selbst wagte es nicht, eine noch unfertige Technik und eine im steten fluß begriffene Theorie mit jener Autorität vorzutragen, die den anderen wahrscheinlich manche Irrwege und endliche Entgleisungen erspart hätte." Soweit Freud (1914d, S. 63 f.) im Rückblick auf die Auseinandersetzungen, die zum Bruch mit zwei seiner Wiener Anhänger führten: mit Alfred Adler (1870-1937), dem späteren Begründer der Individualpsychologie, und mit Wilhelm Stekel (1868-1940), der später die von ihm so benannte "Aktive Psychoanalyse" vertrat. Als sich dann auch noch Konflikte mit Carl Gustav Jung (1875-1961) anbahnten, der nach seiner Abkehr von Freud eine eigene Schule mit der Bezeichnung "Analytische Psychologie" ins Leben rief, kam es doch zu dem, was Freud bislang vermieden hatte: Ein "Geheimes Komitee", das 1912 auf Vorschlag von Ernest Jones (1879-1958), Otto Rank (1884-1939) und Sandor Ferenczi (1873-1933) gegründet wurde, sollte hinfort die Einhaltung der psychoanalytischen Standards überwachen (Freud & Jones, 1993, S. 146). Doch auch dieser Versuch scheiterte aufgrund von Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten. In den 1920er Jahren löste sich die Institution wieder auf (Wittenberger & Tögel, 1999-2006). Und das war gut so. Denn die "klassische" Psychoanalyse (Will, 2003), zu der auch die "reine" Behandlungstechnik (vgl. Eissler, 1953) gehört, mag
10
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
als idealtypische Konstruktion lehrreich sein, doch in der Praxis handelt es sich dabei um einen jener "Fliegenden Holländer" (vgl. Cremerius, 1993)/ von denen viel geredet wird, die aber niemand je zu Gesicht bekommen hat. Schließlich lebt die Psychoanalyse - wie jede Wissenschaft - vom offenen Diskurs. Und deshalb ist die psychoanalytische Theorie auch heute noch"im steten Fluss", und die psychoanalytische Behandlungstechnik ist wie zu Freuds Zeiten: noch immer "unfertig" (Heigl-Evers & Nitzschke, 1994). Die Theorie und Praxis der Psychoanalyse orientieren sich am Zuwachs klinischer Erfahrung, berücksichtigen die Ergebnisse der empirischen Forschung und zunehmend auch die Erkenntnisse der Nachbardisziplinen (vor allem der Neurowissenschaften). Das bedingt zwar eine gewisse Unübersichtlichkeit. Doch diese Vielfalt ist besser als die Einfalt, mit der man unter Berufung auf Dogmen zur Einheit verpflichten wollte. Wer Orientierung sucht, der findet sie dennoch - zum Beispiel im "Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe" (Mertens & Waldvogel, 2008). Im englischen Sprachraum erfüllt dieselbe Aufgabe "The Edinburgh International Encyclopaedia of Psychoanalysis" (Skelton, 2006). Und dem französischsprachigen Leser bietet das "Dictionnaire International de la Psychanalyse" (de Mijolla, 2002) ebenfalls einen profunden Überblick des psychoanalytischen Wissens. Dieses Wissen reicht inzwischen weit über Freud hinaus. Seine Entdeckungen stehen jedoch am Beginn dieser Wissenschaft. Und deshalb ist Freud ein Klassiker/ der von jeder Generation neu interpretiert werden kann. Er selbst hat die Psychoanalyse als work in progress aufgefasst. "In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben" (Freud, 1927a, S. 293 f.). Das psychoanalytische Wissen verdankt sich also nicht der "Offenbarung, Intuition oder Divination", vielmehr ist es das Ergebnis der "Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen" (Freud, 1933a, S. 171). Diesen fortschreitenden Prozess der Begriffsbildung und Konzeptentwicklung, der sich als "Vokabular der Psychoanalyse" niedergeschlagen hat, haben Laplanche und Pontalis (1973)/ zwei französische Psychoanalytiker, minutiös rekonstruiert. Doch die Rückbesinnung auf Freud ist nicht alles, denn die Anfänge der Psychoanalyse liegen"vor Freud" (Hemecker/1991). "Die Psychoanalyse ist [... l, wie selbstverständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie
1.
Vorbemerkung - zu diesem Buch
11
geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren [...]" (Freud 1924 f, S. 405). Freud hat auf solche Ursprünge selbst mehrfach hingewiesen, etwa auf den Hypnotismus, von dem er sich Schritt für Schritt löste. Und er hat wiederholt versucht, seine Grundauffassungen übersichtlich darzustellen. Das gilt für die Publikation der Vorträge, die er 1909 an der Clark University in Worcester, Massachusetts, hielt, nachdem er zu deren zwanzigjähriger Gründungsfeier eingeladen worden war (Freud, 1910a). Und am Ende seines Lebens hat er die Essentials seiner Lehre dann noch einmal in einem (unvollendet gebliebenen und erst posthum veröffentlichten) "Abriß der Psychoanalyse" (Freud, 1940a) zusammengefasst. Den umfangreichsten Versuch, den Leser in seine Gedankenwelt einzuführen, hat Freud jedoch mit den Vorlesungen (Freud, 1916-17a, 1933a) unternommen, deren Publikation in zwei (zeitlich weit auseinander liegenden) Etappen erfolgte. Im Vorwort des ersten Bandes bezieht sich Freud auf Überblicksarbeiten zur Psychoanalyse, die vor ihm Hitschmann (1913), Pfister (1913), Kaplan (1914) u. a. veröffentlicht hatten. Dort heißt es: "Was ich hier als ,Einführung in die Psychoanalyse' der Öffentlichkeit übergebe, will auf keine Weise in Wettbewerb mit den bereits vorliegenden Gesamtdarstellungen dieses Wissensgebietes treten" (1916-17a, S. 3). Was damals galt - gilt auch heute: Die vorliegende Auswahl will mit anderen Neuausgaben der Schriften Freuds nicht "in Wettbewerb" treten. Wohl aber will sie mit Hilfe der Anordnung und Kommentierung der Texte den Grundriss sichtbar machen, dem Freuds Denkgebäude folgt, in dem es genug Platz gibt für die Traumdeutung und das sexuelle Begehren, die Krankheitslehre, die Behandlungsstrategie und die Kulturtheorie. Und mag man Freuds Werk auch manchmal wie ein großes Labyrinth erleben - es gibt doch einen roten Faden: das ist der TriebWunsch, der affektvoll zur Wiederholung drängt, bis der Wunsch erfüllt oder der notwendige Triebverzicht geleistet ist (der die Modifikation des Wunsches hin zu einer kulturell akzeptablen Form einschließt). So oder so - das Ziel, das durch die Bewältigung der Erregung, die Verarbeitung der Reize, die Befriedigung der Bedürfnisse, die Erfüllung der Wünsche, die Beruhigung der Affekte und endlich durch die Aussöhnung mit der Tatsache erreicht werden soll, dass es kein Zurück in die Zeit vor dem nun einmal geschehenen Leid gibt, ist immer dasselbe: Ordnung im Chaos, also psychische Strukturbildung. Darauf beruhen die individuelle Reife und der kollektive Fortschritt: "Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee" (Freud, 1933a, S. 86).
12
2.
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
Sigmund Freuds Kindheit und Jugend
Freud meinte, Biographen seien versucht, "den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsch zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widersprüchen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer lllusion [...1" (Freud, 191Oc, S. 202 f.). Im Folgenden sei versucht, dem Wunsch nicht nachzugeben, den großen Mann zu idealisieren - aber auch der Versuchung zu widerstehen, ihn klein zu machen. Sigismund Schlomo Freud (so der Eintrag in der Familienbibel) kommt am 6. Mai 1856 in Freiberg, Mähren, zur Welt, damals eine Provinzstadt des Habsburger Reichs, heute ein Ort in Tschechien (Phoor). Er ist das erste Kind von Amalia Nathansohn (1835-1930), der zweiten (oder dritten?) Ehefrau des Wollhändlers Kallamon Jacob Freud (1815-1896). Später kommen weitere sieben Geschwister hinzu, von denen sechs (fünf Schwestern und ein Bruder) überleben, während der Zweitgeborene, Julius, ein halbes Jahr nach der Geburt (1857) stirbt. Aus der ersten Ehe des Vaters hat Sigmund zwei Halbbrüder: Emanuel (1833-1914) und Philipp (18351911). So kommt er als Onkel seines um ein Jahr älteren Neffen John, des Sohnes von Emanuel, zur Welt. "Bis zu meinem vollendeten dritten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, hatten einander geliebt und gerauft, und diese Kinderbeziehung hat [...] über all meine späteren Gefühle im Verkehr mit Altersgenossen entschieden" (Freud, 1900a, S. 427). John wandert mit seinem Vater und dessen Bruder 1859 nach England aus, während Jacob Freud mit seiner Familie nach Leipzig und dann, weil er dort als Jude keine Aufenthaltserlaubnis erhält, weiter nach Wien zieht. Die Bedeutung, die dieser Verlust der Heimat für ihn hatte, schilderte Sigmund Freud später in einer verdeckt autobiographischen Arbeit, in der er einem fiktiven Patienten die folgenden Worte in den Mund legte: "Ich bin das Kind von ursprünglich wohlhabenden Leuten, die, wie ich glaube, in jenem kleinen Provinznest behaglich gelebt hatten. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trat eine Katastrophe in dem Industriezweig ein, mit dem sich der Vater beschäftigte. Er verlor sein Vermögen, und wir verlie-
3.
Der Student
13
ßen den Ort notgedrungen, um in die große Stadt zu übersiedeln. Dann kamen lange harte Jahre [... 1" (1899a, S. 542). Die erwähnte "Katastrophe" scheint, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden haben sollte, allerdings nur den Wollhändler Jacob Freud betroffen zu haben, denn der Handel der befreundeten jüdischen Familie Fluß, die in Freiburg eine Tuchfabrik besaß, florierte weiter, und Freud war, als er später als Jugendlicher seine alte Heimat aufsuchte, auch wieder Gast dieser Familie. In Wien wohnt Jacob Freud mit seiner Familie in der Leopoldstadt, einem Viertel, in dem sich viele der Juden niederlassen, die aus den Ostprovinzen in die Hauptstadt des Habsburger Reichs ziehen (Hödl, 1994). Freuds Vater kann beruflich nicht mehr Fuß fassen. Es ist unklar, wie er seine Familie ernährt. Vermutlich wird er von Verwandten seiner Frau, aber auch von seinen jetzt in England lebenden Söhnen unterstützt. Als Sigmund Freud 1875 Urlaub in England macht und dort die Lebenssituation seiner Halbbrüder kennen lernt, malt er sich aus, "wie anders es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des Vaters, sondern des Bruders zur Welt gekommen wäre" (1901b, S. 245). Und noch im hohen Alter wird er auf die bitteren Jahre der Armut seiner Jugend zurückblickend schreiben: "Wer in seinen eigenen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen [...] zu bekämpfen" (1930a, S. 472/ Anm. 1). Unterrichtet wird der Sohn zunächst zu Hause, vom Vater. Möglicherweise hat er dann auch außer Haus Privatunterricht bekommen. Mit neun Jahren tritt er in das Leopoldstädter Realgymnasium ein und ist bald Klassenprimus. 1873 legt er das Abitur "mit Auszeichnung" ab.
3.
Der Student
Sigmund Freud immatrikuliert sich im Fach Medizin und wird bald Mitglied im Leseverein deutscher Studenten Wiens. Die Mitglieder des Vereins verehren Richard Wagner, Schopenhauer und Nietzsche und propagieren den Anschluss DeutschÖsterreichs an das Deutsche Kaiserreich. Freud bleibt Mitglied bis zum Verbot des Vereins wegen Staatsgefährdung der Donaumonarchie im Jahr 1878. Später wird er auf dieses deutsch-nationale Engagement wie auf alle anderen nationalen Überheblichkeiten kritisch zurückblicken: "Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn
14
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben" (Freud, 1960a, S. 381). Freud legt sein Studium sehr breit an. Er inskribiert die üblichen medizinischen Fächer, hört aber auch - gemeinsam mit seinem Freund Josef Paneth (18571890) - philosophische Vorlesungen bei Franz Brentano (1838-1917). Einige Jahre später wird Paneth der "Physiologe Zarathustras" (Hernecker, 1990) sein, das heißt, Paneth lernt anlässlich seines Forschungsaufenthalts in der Zoologischen Station Villefranche in der Nähe von Nizza Friedrich Nietzsche kennen, mit dem er sich intensiv über erkenntnistheoretische und naturwissenschaftliche Themen austauscht (Paneth, 2007). Über diese Gespräche berichtet er auch Freud, der auf philosophische Fragestellungen bestens vorbereitet ist, denn Brentano hatte dem jungen Studenten die nötigen Kenntnisse vermittelt. So steht es in einem Brief, den der 19jähdge Freud im März 1875 an seinen Freund Eduard Silberstein schreibt: "Bei Cartesius sollten wir beginnen, diesen ganz durchlesen, weil von ihm ein neuer Anstoß für die Philosophie ausgehe. Von seinen Nachfolgern Guelin[c]x, Malebranche, Spinoza sei keiner lesenswert. Sie knüpften alle an die verfehlte Seite in Cartesius' Philosophie an, seine vollständige Trennung von Seele und Leib. [...] Locke und Leibniz hingegen seien nicht zu umgehn [...]." Auch Hume und Kant wären zu lesen. Kant verdiene aber "das Ansehn durchaus nicht, das man ihm lasse, er sei voll von Sophismen, ein unausstehlicher Pedant und kindisch erfreut, wenn er etwas dreiteilen oder vierteilen" könne. "Kurz, Kant kommt bei ihm [Brentano - B. N.] sehr schlecht weg, was Kant hebt, das sind seine Nachfolger, Schelling, Fichte, Hegei", die Brentano als "Schwindler" bezeichnet habe. "Von diesen wollen Sie uns also dispensieren7" fragte der Student den Professor. "Im Gegenteil, ich will Sie warnen, sie zu lesen, begeben Sie sich nicht auf diese schlüpfrigen Wege des Verstandes, es geht einem wie dem Irrenarzt, der anfangs wohl merkt, daß es dort toll zugeht, aber sich später daran gewöhnt und nicht selten selbst einen Span holt''' (Freud, 1989a, S. 117 f.). Brentano kennt auch die "Philosophie des Unbewußten" (Hartmann, 1869) und geht darauf ausführlich ein, da dieses Buch zu Freuds Studentenzeit das literarisch-philosophische Salongespräch beherrscht. Doch Brentano kritisiert solche metaphysischen Spekulationen. Er ist ein Vertreter der Wissenschaft, der - wie später Freud sich selbst charakterisieren wird - die "Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen" (Freud, 1933a, S. 171) als Grundlage aller weiteren Schlüsse
3.
Der Student
15
betrachtet. Und deshalb fordert Brentano, es sei an der Zeit, ein Institut für experimentelle Psychologie an der Wiener Universität einzurichten. Der Plan wird von den zuständigen Behörden verworfen - und so entsteht das weltweit erste Institut dieser Art an der Universität Leipzig (Brauns & Schöpf, 1989, S. 44). "Für jetzt die Neuigkeit, daß zumal unter dem zeitigenden Einfluß Brentano's in mir der Entsch1uß gereift ist, das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben", heißt es im bereits zitierten Brief an den Freund weiter (Freud, 1989a, S. 109). Freud wendet sich also der Zoologie zu. Und earl Claus (1835-1899), der an der Wiener Universität für Darwins Evolutionstheorie eintritt, regt ihn zu einer Studie (Freud, 1877b) über den Bau der Hoden des Aals an. Dafür seziert Freud in der Zoologischen Station Triest vierhundert Fische. Zwei Jahre später beschäftigt sich Freud dann mit einem ganz anderen Thema: Für die deutsche Ausgabe der Werke von John Stuart Mill (1806-1873), die Theodor Gomperz (1832-1912), Professor für Klassische Philologie, herausgibt, übersetzt er einige Schriften dieses Philosophen. Sie behandeln die "Frauenemanzipation", die "Arbeiterfrage" und den "Sozialismus". Den stärksten Einfluss auf den jungen Studenten hat jedoch weder der Philosoph (Brentano) noch der Zoologe (Claus) noch der Philologe (Gomperz). Den stärksten Eindruck hinterlässt ein Physiologe: Ernst von Brücke (1819-1892). Er ist die "größte Autorität, die je auf mich gewirkt hat", schreibt Freud (1927a, S. 290) noch im hohen Alter. Da ist er bereits über Siebzig. Brücke lehnt die natu.rphilosophische Lehre von der Lebenskraft, den Vitalismus, entschieden ab. Zur Erklärung physiologischer Vorgänge genüge es, die physikalisch-chemischen Gesetze zu ermitteln, denen der Organismus unterliege. Das sei eine Aufgabe der Naturwissenschaften. Das ist Brückes Überzeugung. Freud übernimmt sie und überträgt sie auf die Psychologie. Im "Abriß der Psychoanalyse" heißt es: Die "Auffassung, das Psychische sei an sich unbewußt, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten. Die Vorgänge, mit denen sie sich beschäftigt, sind an sich ebenso unerkennbar wie die anderer Wissenschaften [...], aber es ist möglich die Gesetze festzustellen, denen sie gehorchen [...]. Es kann dabei nicht ohne neue Annahmen und die Schöpfung neuer Begriffe abgehen, aber diese [...] haben Anspruch auf denselben Annäherungswert wie die entsprechenden intellektuellen Hilfskonstruktionen in anderen Naturwissenschaften" (Freud, 1940a, S. 80 f.).
16
Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
"Ich werde Einsicht nehmen in die jahrtausendealten Akten der Natur, vielleicht selbst ihren ewigen Prozeß belauschen und meinen Gewinst mit jedermann teilen, der lernen will", hatte Freud (1969a, S. 116) bereits kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag geschrieben. Jetzt, als Student, arbeitet er am Physiologischen Institut bei Brücke, zunächst fünf Jahre als studentische Hilfskraft und dann, nach der Promotion 1881, noch ein Jahr als Demonstrator. Das ist eine lange Zeit (von 1876 bis 1882), die stets begleitet war von der Hoffnung, er, Freud, könne eines Tages Brückes Assistent und vielleicht sogar dessen Nachfolger werden. Brücke entscheidet anders: Sein Nachfolger wird Sigmund Exner (1846-1926). Und Freud versucht sein Glück andernorts. Noch während seines einjährigen Militärdienstes bewirbt er sich 1880 bei Alexander Rollett für eine Assistentenstelle am Physiologischen Institut der Universität Graz (Bewerbungsschreiben siehe: Hemecker, 1991, S. 141). Als er auch hier keinen Erfolg hat, fasst er zwei Jahre später den Entschluss, Arzt zu werden, anstatt Forscher zu bleiben. Als Arzt wird er dann Psychoanalytiker - und als Psychoanalytiker ist er wieder Forscher. Und so schreibt er, der Siebzigjährige, stolz: "Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht, und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wiedergefunden habe" (Freud, 1927a, S. 290).
4.
Von Wien nach Paris
1882 verlobt sich Sigmund Freud mit Martha Bernays (1861-1951), die er vier Jahre später heiraten und mit der er sechs Kinder bekommen wird: Mathilde (1887-1978), Martin (1889-1967), Oliver (1891-1969), Ernst (1892-1970), Sophie (1893-1920) und Anna (1895-1982), seine jüngste Tochter, die sehr viel später, nach dem Tod ihres Vaters, als Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) sein Erbe verwalten wird. Kurz nach der Verlobung tritt Freud als Aspirant in das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein, um hier die praktischen Kenntnisse zu erwerben und damit die Voraussetzungen für die Niederlassung als Arzt zu erfüllen. Er beginnt in der Chirurgie, wechselt aber schon nach wenigen Wochen in die Innere Medizin über, die Hermann Nothnagel (1841-1905) leitet. Dessen "Begriff von ärztlicher Pflichterfüllung war extrem streng. Er bedeutete seinen Studenten, wer mehr als fünf Stunden Schlaf brauche, tauge nicht zum Medizinstudium" (Bemfeld & Cassirer Bemfeld, 1981, S. 163). Freud wird später zehn bis zwölf Stunden am Tag Patien-
4.
Von Wien nach Paris
17
ten analysieren - und danach die Korrespondenz erledigen und die anstehenden wissenschaftlichen Publikationen betreuen. Da bleiben auch nicht mehr als fünf Stunden Schlaf übrig. Im Mai 1883 wird Freud Sekundararzt bei Theodor Meynert (1833-1892), einem der führenden Neuroanatomen der damaligen Zeit. Damit beginnt das knappe halbe Jahr Arbeit in der Psychiatrie. Freud verfasst entsprechende Krankengeschichten, die inzwischen auch publiziert worden sind (Hirschmüller, 1991). Danach ist er für wenige Wochen in der Dermatologie ("Zweite Abteilung für Syphilis") tätig, bevor er im Januar 1884 zur Internistischen Allgemeinstation überwechselt, wo er bis Mitte 1885 bleiben wird. Seit Mai 1883 forscht Freud neben seiner ärztlichen Tätigkeit im Krankenhaus noch zusätzlich in Meynerts himanatomischem Labor. Diese Arbeiten dienen der Vorbereitung der Habilitation, die Meynert gemeinsam mit Nothnagel und Brücke unterstützen wird. In ihrem Antrag an die Habilitationskomrnission heißt es u. a.: "Herr Dr. Freud ist ein Mann von guter Allgemeinbildung, ruhigem ernsten Charakter, ein vortrefflicher Arbeiter auf nervenanatomischem Gebiete, von feiner Geschicklichkeit, klarem Blicke, umfassender Literaturkenntnis und besonnener Schlußweise, [...] seine Vortragsweise ist durchsichtig und sicher" (Gicklhorn & Gicklhorn, 1960, S. 70). Dem Gesuch wird im September 1885 stattgegeben. Jetzt ist Freud "Privatdozenten für Nervenpathologie". Kurz darauf, im Oktober 1885 geht er, ausgestattet mit einem Reisestipendium, für das ihn seine akademischen Lehrer vorgeschlagen haben, nach Paris, um dort an der Klinik Salpetriere hirnanatomische Studien zu betreiben. Hier, im "Mekka der Neurologen" Gones, 1962, I, S. 248), lernt er Jean Martin Charcot (1825-1893), den Direktor der Klinik, kennen, von dem Freud in den kommenden Jahren zwei Bücher (Charcot, 1886 u. 1887/88) ins Deutsche übersetzen wird. Freud ist von Charcot fasziniert. Die "Autorität", mit der er gegen die verbreitete Auffassung angetreten sei, dass hysterische Patienten ihre Symptome nur simulierten, habe den Weg für eine "ernsthafte Beschäftigung" mit dieser Erkrankung überhaupt erst freigemacht, wird er später in einem Nachruf auf Charcot schreiben (Freud, 1893j, S. 30). Charcot ist ein genauer Beobachter der Ausdrucksformen der Gemütsbewegungen, die vor aller Sprache liegen. So öffnet er Freud die Augen für die Mimik und Gestik und die Ohren für das Gestammel der Hysteriker. Freud zieht daraus weit reichende Schlüsse: "Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde, der
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten/ dessen berechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind. Der Gesunde wäre dann imstande mitzuteilen, welcher Eindruck ihn peinigt, der Hysterische würde antworten, er wisse es nicht, und das Problem wäre sofort gegeben, woher es komme, daß der Hysterische einem Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er nichts zu wissen behauptet. Hält man nun an seinem Schlusse fest, daß ein entsprechender psychischer Vorgang" auch bei den psychisch Kranken"vorhanden sein müsse", so bleibe als "Lösung" nur die Auffassung, "daß der Kranke sich in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das Band des Zusammenhangs nicht mehr alle Eindrücke oder Erinnerungen als solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung möglich sei, ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu äußern, ohne daß die Gruppe der anderen seelischen Vorgänge, das Ich, darum wisse [... l" (Freud, 1893f, S. 30 f.). An dieser These wird Freud bis ans Ende seines Lebens festhalten: das Nichterinnernkönnen ist die Folge des Nichtwissenwollens. Und warum will man von vergangenen traumatischen und (oder) konflikthaften Erlebnissen nichts mehr wissen/ die doch in all den nonverbalen Ausdrucksformen gegenwärtig sind, die man "Symptome" nennt? Weil diese Erinnerungen eben die unlustvollen Affekte mit sich bringen könnten, die dort und damals abgewehrt werden mussten, weil sie anders nicht zu bewältigen waren. Das ist der Sinn der Symptome: sie sprechen - doch ihre Sprache versteht nur der, der die abgewehrten (unlustvollen) Affekte versteht.
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
Noch während er am Wiener Allgemeinen Krankenhaus angestellt ist, beginnt Freud - er ist gerade 28 Jahre alt - sich für das "damals wenig bekannte Alkaloid Kokain" der Firma Merck zu interessieren. Er bestellt die Substanz, um deren"physiologische Wirkungen zu studieren" (Freud, 1925d, S. 38). In der Folge veröffentlicht er eine Reihe von Arbeiten (Freud, 1884e, 1884f, 1885a, 1885b, 1887d - alle enthalten in: Freud, 1996)/ in denen er die euphorisierende und leistungssteigernde Wirkung des Mittels beschreibt. Am Ende der ersten Studie gibt er einen Hinweis auf den möglichen Nutzen des Mittels für die ärztliche Praxis: "Anwendungen, die auf der anästhesierenden Eigenschaft des Cocains beruhen, dürfen sich wohl noch mehrere ergeben" (Freud, 1884e, S. 83; die Seitenangabe folgt dem Neudruck
5.
Große Hoffnungen - und Enttäuschungen
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der Kokain-Studien in: Freud, 1996). Doch dann macht nicht Freud, sondern dessen Kollege, Carl Koller, die entscheidende Entdeckung "der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist" (Freud, 1925d, S. 39). Freud ist enttäuscht - und sucht nach einem anderen großen Wurf. Er glaubt, ihn gefunden zu haben. Da er meint, "daß der Coca eine direkt antagonistische Wirkung gegen das Morphin zukommt" (Freud, 1884e, S. 79), empfiehlt er das Mittel jetzt für die Morphinentziehung Süchtiger, ein Rat, den er bei der Behandlung seines Freundes Ernst von Fleischl auch gleich selbst beherzigt. Die Folgen sind verheerend: Fleisch! ist bald nicht nur morphiumsüchti~sondern auch noch kokainabhängig (Nitzschke, 2007b). Nichtsdestotrotz verschreibt Freud die Substanz Patienten weiterhin als Stimmungsaufheller (Antidepressivum), denn er hat damit selbst einschlägige Erfahrungen gemacht. Als er zum Beispiel bei Charcot zu einem Empfang eingeladen ist, hat er mit "etwas Cocain" seine Nervosität bekämpft, "um das Maul öffnen zu können" (Brief aus Paris an die Braut vom 18. Januar 1886 - Freud, 1960a, S. 199). Jetzt aber sieht er sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Albrecht Erlenmeyer (18491926), "zu jener Zeit vielleicht die größte deutsche Autorität auf dem Gebiet des Morphinismus" (Fichtner, Hirschmüller, 1988, S. 121), warnt seine Fachkollegen eindringlich vor den Schäden des Kokaingenusses (Erlenmeyer, 1885, 1886, 1887). Die Kokainsucht sei - neben der Trunksucht und der Morphiumsucht - die dritte Geißel der Menschheit. Freud bemerkt gegenüber einem Kollegen Jahrzehnte später: "Das Studium von Kokain war ein Allotrion, das ich gerne [rechtzeitig - B. N.] beendet hätte" (zit. n. Jones, 1960, I, S. 108). Als Freuds letzte Kokain-Studie (1887d) erscheint, ist er seit einem Jahr als Neuropathologe (Nervenarzt) in Wien niedergelassen. Im Apri11886 lautet seine Praxisanschrift: Rathausstraße 7. Kurz darauf wird er zu einer Wehrübung einberufen. Am 14. September kann er endlich heiraten. Unter der sexuellen Abstinenz, die er sich während der vierjährigen Verlobungszeit auferlegt, hat Freud sehr gelitten. Seiner Braut beschreibt er, was er beim Besuch einer Vorstellung der Oper "Carmen" gedacht hat: "Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen [...]und diese Gewohnheit der ständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. [...] warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und die Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrin-
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ken Lust schafft [...]. So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen [...]" (Freud, 1988, S. 42 f.). Eben dieser Zusammenhang zwischen dem Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip (Freud 1911b) und dem Unbehagen, das mit diesem Fortschritt verbunden ist, wird Freud in seinen psychoanalytischen Schriften später ausführlich beschäftigen - wobei er als Vermittler im Konflikt zwischen dem Es (die Lust sich zu "betrinken") und dem Über-Ich ("die Schande des Katzenjammers") das Ich proklamiert (Freud, 1923b), das wiederum Resultat des gelungenen Fortschritts zur "Kultur" ist. Kultur gewährt Sicherheit, die aber geht auf Kosten des intensiven Erlebens und damit des "Glückes", das die Befriedigung leidenschaftlichen Begehrens gewährt (Freud, 1930a). Carmen muss jung sterben - und Freud wird lebenslang an Martha gebunden sein. Neben seiner Praxistätigkeit arbeitet Freud auch noch als Leiter der neurologischenAbteilung des "Kinder-Krankeninstituts", dem Max Kassowitz (1842-1913), Professor für Kinderheilkunde an der Universität Wien, vorsteht. Bis 1897 kommt er zwei bis drei Mal wöchentlich (unentgeltlich) in die Klinik. Ein "Hauptvorteil" sei, so schreibt er an seine Frau, dass er sich damit einen "Namen als Spezialist" erwerben könne (Freud, 1960a, S. 216). Er publiziert weiterhin neurologische Aufsätze und verfasst noch zwei Bücher, in denen er sich mit traditionell medizinischen Themen beschäftigt: ein Buch über Aphasie (Freud, 1891b) und eins über Kinderlähmung (Freud, 1893b). Ab 1891 praktiziert er in der Berggasse 19. Hier befindet sich heute das Sigmund Freud Museum, eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt Wien. Sein Hauptinteresse gehört jetzt der Psychopathologie, speziell der Hysterie. Aus Paris hatte er an seine Braut geschrieben: "Nach manchen Vorlesungen [bei Charcot - B. N.] gehe ich fort wie aus Notre-Dame, mit neuen Empfindungen vom Vollkommenen" (Freud, 1960a, S. 189). Doch was für Freud neu war, ist für die Zuhörer, die 1886 in Wien seinen Vortrag über männliche Hysterie hören, längst bekannt. Vierzig Jahre später erinnert sich Freud allerdings anders. Er sei damals auf Unglauben gestoßen: "Wie können Sie solchen Unsinn reden! Hysteron (sic!) heißt doch Uterus. Wie kann denn ein Mann hysterisch sein?'" (Freud, 1925d, S. 39). Von der traditionellen Freud-Biographik wird diese Aussage repetiert (z. B. Lohmann, 2006, S. 24), obgleich aus den Berichten (1886/1988) über den Vortrag, die damals in ärztlichen Fachzeitschriften erschienen sind, ersichtlich wird, dass man Freud vorgeworfen hatte, dass er - anders als für einen Vortrag in der renommierten "Gesellschaft der Ärzte" verlangt - nichts Neues mitzuteilen hatte. In Meynerts Klinik
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war wenige Wochen zuvor ein "Fall von Dyschromatopsie bei einem hysterischen Manne" beschrieben worden (Luzenberger, 1886). Und die Hypothese Charcots, dass Hysterie (nicht nur) bei Männern traumatisch verursacht sei, kannte man auchnur zweifelte man, anders als Freud, der sie übernommen hatte, an ihrer Gültigkeit. Auch sonst ist die Situation, in der sich Freud nach der Praxisgründung befindet/ nicht einfach. Er sieht Patienten, die an gravierenden Symptomen leiden (Sprachstörungen, hysterische Lähmungen, Absenzen usw.) - und hat kaum Mittel, die Kranken zu kurieren. "Mein therapeutisches Arsenal umfaßte nur zwei Waffen, die Elektrotherapie und die Hypnose" (Freud, 1925d, S. 39 f.). Freud setzt jetzt alle Hoffnung in die Hypnose, die er bereits vor seiner Reise nach Paris in Wien kennen gelernt und deren Handhabung durch Charcot er bewundert hat. 1889 reist er in "der Absicht, meine hypnotische Technik zu vervollkommnen" (1925d, S. 41)/ ein zweites Mal nach Frankreich, diesmal nach Nancy zu Hippolyte Bemheim (18401919). Freud hat bereits ein Buch von Bernheim (1888) ins Deutsche übersetzt, der, anders als Charcot, hypnotische Zustände nicht als pathologische Sonderphänomene auffasste, sondern als normalpsychologische Phänomene, die auf Suggestion beruhten und bei (fast) allen Menschen hervorzurufen seien. Freud stellt Bernheim eine Patientin vor, die mit nach Nancy gekommen ist. Es ist Anna von Lieben (1847-1900)/ geborene Todesco, die in den "Studien über Hysterie" (Breuer & Freud, 1895) "Cäci1ie M." genannt wird. Sie leidet an einer schweren Hysterie. An den Berliner Arzt Wilhelm Fließ (1858-1928)/ den er in eben dem Jahr (1887) kennen lernt, in dem er mit der Behandlung Anna von Liebens beginnt, und mit dem ihn eine langjährige intensive Freundschaft verbinden wird, schreibt Freud: "Wenn Du Cäcilie M. kenntest, würdest Du keinen Moment zweifeln, daß nur dieses Weib meine Lehrmeisterin gewesen sein kann" (Freud, 1986/ S. 243). Vorerst bekommt es Freud aber mit seinem vormaligem Lehrmeister (und Förderer) Theodor Meynert zu tun/ der den Gebrauch der Hypnose zu Heilzwecken strikt ablehnt. Freud erwidert auf Meynerts Einwände: "Es fällt den meisten Menschen schwer anzunehmen, daß ein Forscher [gemeint ist Meynert - B. N.], der für einige Kapitel der Neuropathologie große Erfahrung erworben und viel Scharfblick bewiesen hat, für andere Probleme [gemeint ist die Neurosenbehandlung - B. N.] jeder Eignung, als Autorität angerufen zu werden, entbehren sollte; und der Respekt vor der Größe, besonders vor der intellektuellen Größe, gehört gewiß zu den besten Eigenschaften der menschlichen Natur. Aber er soll gegen den Respekt vor den Tatsachen zurücktreten" (Freud, 1889a, S. 127). Freud glaubt (zu dieser Zeit also noch) an die tatsäch1i-
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che Heilkraft der Hypnose - bis er eines Tages diesen Glauben verliert. Er habe die Hypnose aus zwei Gründen aufgegeben, wird er später sagen: Zum einen sei es ihm nicht gelungen, jeden Patienten zu hypnotisieren; und zweitens - das war für Freud der wichtigere Grund - könne man die verdrängten (und deshalb bewusst nicht verfügbaren) Erinnerungen in der Hypnose zwar mobilisieren, der Widerstand gegen sie sei nach der Hypnose aber noch immer derselbe wie vor der Hypnose. Die verdrängten Inhalte können dem Betroffenen auf diesem Wege also nicht verfügbar werden. Freud macht auch aus dieser Not eine Tugend. Er ersetzte die Hypnose durch die Methode der freien Assoziation. Und so kann der Patient nun, während er entspannt auf der Couch liegt, die Erinnerungen an die Kindheit bewusst verfolgen - und wenn er dann noch bereit ist, den Widerstand zu überwinden, den die aktivierten unIustvollen Affekte hervorrufen, die seinerzeit die Verdrängung in Gang gesetzt haben, können Kognitionen und Emotionen endlich in die seelische Organisation ("Ich" genannt) integriert werden, anstatt weiterhin voneinander abgespalten und ins Schattemeich verbannt zu bleiben. Es gab aber noch einen entscheidenden Zwischenschritt auf dem Weg von der Hypnotherapie zum psychoanalytischen Standardverfahren: Das war die "kathartische" - das heißt: eine die Seele reinigende - Behandlungsmethode, die Josef Breuer (1842-1925), Freuds väterlicher Freund und Mentor, bei einer Patientin angewandt (bzw. entdeckt) hatte, zu der er als Hausarzt gerufen worden war. Gemeint ist Berta Pappenheim (1859-1936), die in den "Studien über Hysterie" (Breuer & Freud, 1895) unter dem Pseudonym "Anna 0." vorgestellt wird. Sie war eine Freundin von Martha Bernays, Freuds Verlobter. Freud ist noch Student, als diese Behandlung durchgeführt wird - und erfährt erst Jahre später von Breuer genauere Einzelheiten: Demnach geriet die Patientin wiederholt in veränderte Bewusstseinszustände, in denen sie einzelne Worte murmelte, die keiner verstand, und die deshalb auch niemand ernst nahm - außer Breuer. Wenn er die Patientin danach in Hypnose versetzte, wiederholte er diese Worte, und die Patientin erzählte dazu eine passende Geschichte. "Es waren tieftraurige, oft poetisch schöne Phantasien", in denen die Patientin Inhalte reproduzierte, "die sie während der Absenzen beherrscht und sich in jenen vereinzelt geäußerten Worten verraten hatten" (Freud, 191Oa, S. 7). Hatte sie die so reproduzierten Erlebnisse affektiv abreagiert, kam die Patientin zur Ruhe. Die "hysterischen Phänomene [...] verschwanden, sobald in der Hypnose das Ereignis reproduziert war, welches das Symptom veranIaßt hatte" (Breuer & Freud, 1895, S. 55). An die Stelle dieses "Abreagierens" der Affekte
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wird im psychoanalytischen Standardverfahren das "Durcharbeiten" der Mfekte treten; und die Erzählung wird dann nicht nur einen, sondern zwei Autoren haben: den Analysanden und den Analytiker, dessen Deutungen helfen werden, die Leidens- und Lebensgeschichte sinnvoll zu strukturieren.
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"Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing [so unten - B. N.] die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili [= eine Quelle des Nils; die Nilquellen wurden damals gerade entdeckt - B. N.] aufgezeigt hat." Das schreibt Freud (1986, S. 193) entrüstet an seinen Freud Wilhelm Fließ, nachdem er im April 1896 - wie er es erinnert - bei den Wiener Ärzten abermals auf Unglauben gestoßen ist. Freud hatte ihnen das Geheimnis der Hysterie erklärt - und keiner wollte ihm glauben! Doch - was wollte man ihm nicht glauben? Er hatte eine Gesetzesaussage formuliert. In der schriftlichen Vortragsfassung liest sie sich so: "Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie [... 1" (Freud, 1896c, S. 439). In diesem Passus kommt es auf ein Wort an: zugrunde jedes Falles von Hysterie eines Erwachsenen sollte sich in dessen Kindheit ein Missbrauch - "Reizungen der Genitalien, koitusähnliche Handlungen usw." (1896c, S. 443) - aufzeigen lassen. Freud hatte dafür jedoch keinen Beweis nach einer empirisch anerkannten Methode erbracht, sich vielmehr auf das von ihm entwickelte Verfahren - "die analytische Arbeit" - berufen. Und es sollte auch nicht lange dauern, bis er die vermeintliche Gesetzmäßigkeit selbst wieder infrage stellte - und die Hoffnung aufgab, als großer Entdecker gefeiert zu werden: "Die Erwartung des ewigen Nachruhms war so schön und des sicheren Reichtums, die volle Unabhängigkeit, das Reisen, die Hebung der Kinder über die schweren Sorgen, die mich um meine Jugend gebracht haben. Das hing alles daran, ob die Hysterie aufgeht oder nicht" (Freud, 1986, S. 285). Und wieder machte Freud aus der Not eine Tugend. Er hatte in seinem Vortrag ja bereits ausgeführt, dass die Entstehung einer Hysterie (allgemeiner gespro-
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chen: einer Psychoneurose) nicht vom Missbrauch als solchem, dem realen Trauma als Ereignis, sondern vielmehr vom psychischen Trauma, dem Erlebnis und den damit verbundenen weiteren Konflikten abhängt. Werden diese Konflikte nicht gelöst, kann das Erlebnis nicht bewältigt und integriert werden. Statt dessen wird es abgewehrt, und damit wird der Weg einer neurotischen Weiterverarbeitung geöffnet, an dessen Ende das Symptom als Erinnerungssymbol steht, dessen Sinn wieder zu entschlüsseln wäre, damit das Erlebnis erinnert, verstanden und nachträglich in adäquater Weise verarbeitet (in die psychische Struktur integriert) werden kann. "Sie ersehen daraus, daß es auf die Existenz der infantilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt, sondern daß eine psychologische Bedingung noch dabei ist. Diese Szenen müssen als unbewußte Erinnerungen vorhanden sein; nur solange und insofern sie unbewußt sind, können sie hysterische Symptome erzeugen und unterhalten", hatte Freud (1896c, S. 448) seinen Zuhörern erklärt. Jetzt nimmt er die Gesetzesaussage zurück, der zufolge das Ausgangsereignis für die Entwicklung einer Hysterie immer ein real stattgefundener Missbrauch sein musste - und lässt auch andere Ereignisse gelten. Diese in der Literatur so genannte "Aufgabe der Verführungstheorie" bedeutet also keineswegs, wie spätere Kritiker (z. B. Masson, 1986) behauptet haben, dass Freud das Vorkommen realen Missbrauchs von Kindern durch Erwachsene hinfort bestritten hätte (das Gegenteil ist der Fall: s. Nitzschke, 1997). Freud ließ nun aber auch Phantasien als Ausgangspunkt innerseelischer Konflikte und der sich daran anschließenden neurotischen Entwicklung gelten. Mit anderen Worten: In der Außenwelt musste nicht notwendig ein handgreifliches Realereignis stattgefunden haben. Denn in der Innenwelt geschieht ja oft gerade dann Dramatisches, wenn in der Außenwelt nichts geschehen ist, sprich: wenn dort wichtige Wünsche nicht erfüllt worden sind. Das war der entscheidende Erkenntnisfortschritt - und das ist auch der Kern der Sexualtheorie Freuds: Psychische Erkrankung ist eine - wenn auch nicht die einzige - Möglichkeit, auf unerfüllte infantile Triebwünsche zu reagieren. Das gilt für die Wünsche, die in der frühen Beziehung zur Mutter auftreten (in der "präödipalen" Zeit), das gilt aber auch für die Wünsche, die sich im Zusammenhang mit der Geschlechter- und Generationendifferenzierung - Stichwort: "Ödipuskomplex [...] als der Kern der Neurose" (Freud, 1925d, S. 82) - später einstellen, auf die sich Freud vor allem deshalb konzentriert hat, weil die Erinnerungen daran durch das Sprachgedächtnis leichter zu rekonstruieren sind, während die Erinnerungen an die erste Lebenszeit überwiegend im nonverbalen Erfahrungs-
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schatz (sprich: im Körper) verankert sind und deshalb zunächst nicht sprachlich dargestellt, sondern nur gestisch-mimisch und "agierend" zum Ausdruck gebracht werden können. Freud hat Phantasien als Abkömmlinge verdeckter infantiler Wünsche verstanden, die neben einer Trieb- immer auch eine Beziehungsdimension auszeichnet. Und deshalb sind Missbrauch, Verführung und Deprivation nicht nur als handgreifliche, sondern auch als emotionale Ereignisse möglich. Wenngleich sie dann kognitiv und sprachlich schwerer zu fassen sind, hinterlassen sie doch auch in diesen Fällen drängende Wünsche, die nachträglich erfüllt werden sollen. "Es scheint mir, als ob mit der Theorie der Wunscherfüllung nur die psychologische Lösung gegeben wäre, nicht die biologische, oder besser, metapsychologische. (Ich werde Dich [Fließ - B. N.] übrigens ernsthaft fragen, ob ich für meine hinter das Bewußtsein führende Psychologie den Namen Metapsychologie gebrauchen darf.) Biologisch scheint mir das Traumleben durchwegs von den Resten der prähistorischen Lebenszeit (1-3 Jahre) auszugehen, derselben Zeit, welche die Quelle des Unbewußten ist und die Ätiologie aller Psychoneurosen allein erhält, der Zeit, für welche normalerweise eine der Hysterie analoge Amnesie besteht", heißt es in einem Brief Freuds (1986, S. 329 f.) an Fließ, aus dem ersichtlich wird, wie sehr ihm an einer naturwissenschaftlichen (biologisch-physiologischen) Grundlegung der Psychologie gelegen ist. Auf der Rückreise von einem Besuch bei Fließ beginnt er denn auch, den (erst posthum veröffentlichten) "Entwurf einer Psychologie" (1950c [1895]) niederzuschreiben. Im selben Jahr veröffentlicht Freud gemeinsam mit Breuer die "Studien über Hysterie" (1895), zu denen er vier Krankengeschichten und ein Kapitel über die Psychotherapie der Hysterie beiträgt. Ein Jahr zuvor hatte Sigmund Exner, der Nachfolger Brückes auf dem Lehrstuhl für Physiologie, den "Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen" (1894) publiziert. Das ist jetzt auch Freuds Anliegen: Er will den "Boden" finden, "auf dem ich aufhören kann, psychologisch zu erklären, und beginnen, physiologisch zu stützen" (1986, S. 204). Dabei soll ihm Fließ helfen, in dem Freud (1986, S. 350) den "Kepler der Biologie" verehrt, womit er auf den Astronomen Johannes Kepler (1571-1630) anspielt, der die Gesetze der Planetenbewegung formuliert hatte. Später wird sich Freud selbst zu den das Welt- und Menschenbild umstürzenden Entdeckern zählen. Die Reihenfolge lautet dann: Kopernikus - Darwin - Freud (1917a, S. 7 ff.). Freud will nun gemeinsam mit Fließ ein Projekt ausarbeiten, das er - nach dem Bruch der
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Freundschaft 1903/04 - dann aber doch alleine fertig stellen muss. Es erscheint unter dem Titel "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (Freud, 1905d). Darin spielt die Biologie der Sexualität, die auf Fließ zurückgeht (Sulloway, 1982), noch immer eine große Rolle, wenngleich in der verwandelten Gestalt der Libidotheorie und Metapsychologie. Freuds Zustand während der Zeit des Umbruchs hat Ellenberger als "schöpferische Krankheit" (1973, I, S. 613) gekennzeichnet. Freud schreibt im August 1897: "Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst" (1986, S. 281). Daher spricht er jetzt von seiner "Selbstanalyse" (1986, S. 281) - und schränkt kurz darauf schon wieder ein: ,,[...] eigentliche Selbstanalyse ist unmöglich" (1986, S. 305). Fließ ist als Dialogpartner weiterhin unentbehrlich. Zwei Jahre später heißt es an Fließ gewandt: "Glaubst Du eigentlich, daß an dem Haus dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird:? ,Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.''' (Freud, 1986, S. 458). Gemeint ist der Traum von Irmas Injektion, an dem in der"Traumdeutung" (1900a, S. 110-126) die Deutungstechnik und die Theorie der Wunscherfüllung erläutert werden. Freud hatte diesen Traum auf Schloss Bellevue, damals ein Kurhotel. Das Gebäude ist mittlerweile abgerissen worden. Heute findet man an dieser Stelle eine Bronzetafel, auf der jener Satz steht, von dem Freud hoffte, er könne dereinst "auf einer Marmortafel" zu lesen sein.
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Ein Ziel ist erreicht
1897 schlagen Hermann Nothnagel und Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), dessen "Psychopathia sexualis" (1886) als Grundlage der modernen Sexualpathologie gilt, Freud für die Ernennung zum "a. o. Professor der Neuropathologie" vor. Im Bericht an das Ministerium heißt es, Freud habe "seit seiner Habilitierung 21 kleinere Arbeiten und 5 selbständige Werke" vorgelegt und sei seiner Lehrtätigkeit mit Sorgfalt nachgegangen; zuerst las er "über Gehirnanatomie [...], dann über Nervenkrankheiten des Kindes, dann über ausgewählte Kapitel der Neuropathologie [... und] in den letzten Jahren: über die grossen Neurosen". Man halte ihn deshalb "für besonders würdig" ernannt zu werden (zit. n. Gicklhorn & Gickelhorn, 1960, S. 97 f.). Doch dann dauert es fünf Jahre, bis der Unterrichtsminister endlich zustimmt. Und es hätte wahrscheinlich noch etwas länger gedauert, wären nicht zwei promi-
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nente Patientinnen Freuds im Ministerium vorstellig geworden: Elise Gomperz, die Frau des Hofrats Gomperz, für den Freud als Student Schriften John Stuart Mills übersetzt hatte, und Baronin Marie von Ferstel, die ihrem Anliegen mit der Stiftung eines Gemäldes für ein Museum noch etwas Nachdruck verlieh. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Freud nach der Ernennung zum Privatdozenten 17 Jahre warten musste, bis er zum "ausserordentlichen Universitätsprofessor" ernannt wurde. Tatsächlich war die Wartezeit zwischen Habilitation und der nächsten Beförderungsstufe für jüdische Dozenten damals signifikant länger als für nicht-jüdische (Hubenstorf, 1988). Dennoch meint Kurt E. Eissler, langjähriger Sekretär der New Yorker Sigmund Freud Archives, antisemitische Gründe hätten in diesem Fall nicht die entscheidende Rolle gespielt, vielmehr habe "ein konservatives Mitglied des Parlaments" beim Unterrichtsminister "die Professur des anstößigen Dozenten" hintertrieben (1974, S. 111). Das ist eine durchaus realistische Vermutung. Man denke an die Kokain-Episode oder an Freuds Einstellung zur Sexualität, die inzwischen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist und keineswegs allgemeine Zustimmung findet. Wien ist prüde und lüstern zugleich - und huldigt einer Doppelmoral, die in Freuds Beschreibung der "allgemeine[n] Erniedrigung des Liebeslebens" (1912d) ihre tiefere Begründung findet. Und so liest man just in dem Jahr, in dem Freud ernannt wird, in der "Wiener Zeitung" diese harsche Anklage gegen die "obszöne Kunst" Gustav Klimts: "Was soll man denn zu dieser gemalten Pornographie sagen? [...] Für ein unterirdisches Lokal, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle [Klimt hat einen der Säle der Beethoven-Ausstellung 1902 in Wien ausgemalt - B.N.], zu deren Besichtigung die Künstler ehrsame Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, sicher nicht" (zit. n. Dienes, 2010, S. 241). Das macht Freud auch: Er führt Patienten durch unterirdische Lokale, in denen heidnische Orgien gefeiert werden, wenngleich er diese Stätten des Unbewussten nicht selbst ausschmückt. Das machen ehrsame Frauen wie "Cäcilie M.", junge Mädchen wie "Dora" (Freud, 1905e) oder Männer wie der "Rattenmann" (Freud, 1909d) und der"Wolfsmann" (Freud, 1918b) in ihren Träumen und Tagtraumphantasien selbst. Trotz aller Widerstände ist es am 5. März 1902 dann aber endlich soweit: Kaiser Franz Josef unterzeichnet die Ernennungsurkunde und Freud ist "außerordentlicher Professor" (und im Dezember 1919 wird ihm dann sogar noch der Titel, wenngleich nicht die bezahlte Stelle, eines "ordentlichen Professors" der Universität Wien zugestanden).
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Ironisch schreibt Freud an Fließ: "Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgegangen"(1986, S. 501). Und so nimmt er denn gemeinsam mit Oberbau-, Regierungs- und anderen Räten an einer Audienz beim Kaiser teil, um sich zu bedanken (Gicklhorn & Gicklhorn, 1960, S.127). Das Ziel ist erreicht: Freud ist die akademische Ehre zuteil geworden, auf die er solange gewartet hatte. Damit geht nun aber auch die "heroische Zeit" der "splendid isolation" (Freud, 1914d, S. 60) zu Ende, wie Freud den Lebensabschnitt im Rückblick nennt, in dem er sich von aller Welt unverstanden fühlte: "Durch mehr als ein Jahrzehnt [...] hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isoliert. In Wien wurde ich gemieden, das Ausland nahm von mir keine Notiz" (1925d, S. 74). Zwischen 1895 und 1905 hat Freud eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht, in denen er die aus der Hypnose und der Katharsis entwickelte Therapiemethode vorstellt und erstmals - zunächst französisch (Freud, 18900, S. 418) und kurz darauf deutsch (1896b, S. 379) - bei ihrem neuen Namen nennt: "Psychoanalyse". Außerdem erscheinen in dieser Dekade fünf Bücher, grundlegende Schriften über die Hysterie (1895d), den Traum (1900a), die Fehlleistungen des Alltagslebens (1901b), zu denen die "Freudschen Versprecher" gehören, den Witz (1905e) und die Sexualität (1905d). Ab 1902 treffen sich, wie zu Beginn dieser Einleitung erwähnt, dann die ersten Anhänger in Freuds Praxis, um mit ihm die "Wissenschaft vom Unbewußt-Seelischen" zu studieren, wie die Psychoanalyse von Freud (1925d, S. 96) genannt wird, der 1906 von ihnen zum 50. Geburtstag eine Medaille erhält, die auf der Vorderseite sein Portrait und auf der Rückseite König Ödipus und die Sphinx zeigt. Daneben steht in griechischer Schrift der Satz: "Der das berühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war!" Damit habe sich, so soll Freud gesagt haben, eine Phantasie erfüllt, die er als Student hatte: dass dereinst in den Arkaden der Wiener Universität seine Büste und darunter eben die Worte stehen würden, die jetzt auf der Medaille eingraviert seien Gones, 1962,11, S. 27).
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Das "wilde Heer" formiert sich
Auf die Frage, wer damals zu den Psychoanalytikern gehörte, gibt es eine einfache Antwort: Jeder, der sich dazu rechnete. Und so findet man im Kreis um Freud
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(Roazen, 1976) nicht nur Ärzte, die eine neue Behandlungsmethode erlernen wollen, sondern auch "Sonderlinge, Träumer, Sensitive" (Fallend, 1995) wie Herbert Silberer (1882-1923), die mehr an einer Selbstanalyse interessiert sind (Nitzschke, 1988). Zu den so genannten "Laien" (sprich: Nicht-Medizinern) gehören Hugo Heller (1870-1923), in dessen Verlag später Freuds Schriften erscheinen werden, und der Musikwissenschaftler Max Graf (1875-1958), dessen Sohn später als der "kleine Hans" in einer Krankengeschichte Freuds (1909b) auftaucht. Und "ein absolvierter Gewerbeschüler" (Freud, 1914d, S. 63) wird auch in die "Psychologische Mittwoch-Gesellschaft bei Professor Freud" aufgenommen: Otto Rank (1884-1939). Er wird erster Sekretär der (ab 1910 so genannten) "Wiener Psychoanalytische Vereinigung" und fertigt von deren Sitzungen die "Protokolle" an, die inzwischen in vier Bänden vorliegen (Nunberg & Federn, 1976-1981). Nach Ranks Einberufung zum Militärdienst übernimmt der Literaturwissenschaftler Theodor Reik (1888-1969) diese Aufgabe, der in den 1920er Jahren als "Laie" (sprich: Nicht-Mediziner) Patienten psychoanalytisch behandelt und deshalb wegen "Kurpfuscherei" angeklagt wird. Freud verteidigt daraufhin die "Laienanalyse" und die Psychoanalyse im umfassenden Sinn: "Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde [...]. Als ,Tiefenpsychologie', Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen. [...] Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt" (1926e, S. 283 f.). Die Frage, wer sich denn nun zu Recht als Psychoanalytiker bezeichnen dürfe, wird in den 1920er Jahren neu beantwortet: Von nun an sind die an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten geltenden Standards zu erfüllen, die u. a. eine Lehranalyse vorschreiben. Wenige Jahre zuvor, 1917, hatte Freud noch weniger strenge Voraussetzungen angeführt, als er an Georg Groddeck (1866-1934) schrieb: "Wer erkennt, daß Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer" (Freud & Groddeck, 1988, S. 14). Groddeck, der als Begründer der Psychosomatik gilt (Will, 1984), war
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ein besonders ungestümer Anhänger Freuds, der seine Abneigung gegen die Einführung der Lehranalyse drastisch zum Ausdruck brachte: "Wenn die psychoanalytische Vereinigung ihre Bedeutung behalten will [...], muß sie es aufgeben, nach Art des Tridentiner Konzils oder der Augsburger Konfession Glaubenssätze aufzustellen [...]" (Groddeck, 1966, S. 150). Dennoch tolerierte Freud Groddeck genauso wie den braven Oskar Pfister (1873-1956), den Pastor aus der Schweiz, dem er "ganz nebenbei" die scheinbar harmlose Frage stellte, warum "von all den Frommen [keiner] die Psychoanalyse geschaffen [habe], warum mußte man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?" (Freud & Pfister, 1963, S. 64). Als sich 1906 ein anderer Schweizer, Carl Gustav Jung, erstmals brieflich an Freud wendet, sieht der die Chance gekommen, dass die Psychoanalyse nun endlich den Weg aus der privaten Praxis in den öffentlichen Raum finden wird. Denn Jung ist Assistent an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli bei Eugen Bleuler (1857-1939), der als einer der führenden Psychiater seiner Zeit gilt. Kurze Zeit später wird Bleuler (1911) den Begriff "Schiwphrenie" prägen. "Ich habe die großen Verdienste der Züricher psychiatrischen Schule um die Ausbreitung der Psychoanalyse [...] wiederholt dankend anerkannt", schreibt Freud (1914d, S. 65). Mit Jung reist er 1909 in die USA, wo beide an der Gründungsfeier der Clark University teilnehmen - ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Psychoanalyse in der akademischen Welt. 1910 wird die "Internationale Psychoanalytische Vereinigung" gegründet - und C. G. Jung wird ihr erster Präsident. Damit erfüllt sich ein Wunsch, den Freud zwei Jahre zuvor in einem Brief an Jung so formuliert hat: Jung sollte der "Fortsetzer und Vollender meiner Arbeit" werden, weil er "als starke, unabhängige Persönlichkeit, als Germane, [...] leichter die Sympathien der Mitwelt" erhalten könne "als irgend ein anderer, den ich kenne" (Freud & Jung, 1974, S. 186). Im Klartext heißt das, Jungs "Auftreten" sollte die Psychoanalyse "der Gefahr" entziehen, als "eine jüdisch nationale Angelegenheit" betrachtet zu werden und damit antisemitischen Vorurteilen zum Opfer zu fallen (Freud, Abraham, 2009, S. 107). Es folgt ein Jahrzehnt, in dem die Institutionalisierung der Psychoanalyse, die mit Jung beginnt - und trotz des späteren Zerwürfnisses mit Jung, das 1914 zu dessen Ausscheiden aus der psychoanalytischen "Bewegung" führt -, in großen Schritten vorangeht: 1909 erscheint die erste Ausgabe des von Bleuler und Freud herausgegebenen und von Jung redigierten "Jahrbuch[s] für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen". 1910 wird das "Zentralblatt für Psycho-
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analyse" gegründet, das von Stekel redigiert und nach dessen Ausscheiden 1913 von der "Internationale[n] Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse" abgelöst wird. Zudem erscheint ab 1912 "Imago - Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften". Und hatte der 1. Internationale Psychoanalytische Kongress 1908 in Salzburg noch als privates Treffen gegolten (Freud & Abraham, 2009, S. 106), so erhält die Psychoanalyse am Ende des 1. Weltkriegs sogar staatliche Anerkennung: im September 1918 nehmen Regierungsvertreter aus ÖsterreichUngarn und dem deutschen Kaiserreich, die sich für die Therapie der so genannten Kriegsneurosen interessieren, am 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest teil. Doch dann ist Ruhe an allen Fronten - und Freud schreibt an Ferenczi: "Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren beginnt, nimmt der Krieg ein Ende [...]" (Freud & Ferenczi, 1996, S. 187). Es gibt aber auch noch Glück im Unglückund so kann 1919 dank einer Spende, die ein reicher ungarischer Bierbrauer, Anton von Freund, macht, der "Internationale Psychoanalytische Verlag" gegründet werden, in dem Freuds Werke und die Schriften seiner Anhänger hinfort erscheinen.
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Krankheit, später Ruhm und Tod
Im April 1923 unterzieht sich Freud einer ambulanten Gaumenoperation, um, wie er damals noch glaubt, eine schmerzhafte, aber nicht lebensgefährliche Geschwulst entfernen zu lassen. Kurz darauf stirbt sein vierjähriger Enkel Heinz Rudolf an Militartuberkulose. Dessen Mutter, Freuds Tochter Sophie, ist drei Jahre zuvor der Spanischen Grippe erlegen. Jetzt schreibt Freud angesichts des neuen Verlustes, "ich glaube, ich habe nie Schwereres erlebt, vielleicht wirkt die Erschütterung durch meine eigene Erkrankung mit" (1960a, S. 362). Im September 1923 erfährt er dann die ganze Wahrheit über seine eigene Erkrankung: Er leidet unter Gaumenkrebs. Freud muss sich einer zweiten Operation unterziehen, der in den kommenden Jahren über dreißig weitere Eingriffe folgen werden. Dabei wird ein Teil des Oberkiefers entfernt. Freud trägt jetzt eine Prothese im Mund, also an der Stelle seines Körpers, die für ihn von zentraler Bedeutung ist. Es gehe "nichts anderes" zwischen Arzt und Patient vor, "als daß sie miteinander reden", schreibt er (1926e, S. 213) - und kann sich nur noch unter großen Mühen artikulieren. Schmerzen sind Freud vertraut. Zeitlebens leidet er an Kopfschmerzen (Migräne) und an Magen-Darm-Beschwerden. Vom Rauchen, das jetzt zum Mundkrebs
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
geführt hat, riet ihm vor langer Zeit schon Fließ ab, der das Rauchen als Ursache von Freuds damaligen Herzbeschwerden angenommen hatte. Trotz mehrfacher Versuche konnte Freud seine Nikotinsucht nicht überwinden. Es handle sich um einen "Ersatz" der "Ursucht" (Freud, 1986, S. 312), womit er die infantile Masturbation meinte, schrieb er an Fließ. Und selbst jetzt, nach wiederholten Operationen im Mundbereich, kann Freud das Rauchen nicht lassen. "Ich begann mit 24 Jahren zu rauchen [1880 - möglicherweise während des Militärdienstes? - B. N.], rauche auch noch heute (72 lh J.) und schränke mich in diesem Genuß sehr ungern ein", schreibt er sechs Jahre nach der ersten Kieferoperation an Richard Rubens (zit. n. Schur, 1973, S. 81 f.). Freud war nicht nur leidenschaftlicher Raucher; er war auch leidenschaftlicher Leser. Als armer Student hat er sich wegen des Kaufs von Büchern verschuldet. Am Ende seines Lebens besitzt er dann eine Bibliothek von mehreren Tausend Bänden (Fichtner, 2006), ein Viertel davon sind Schriften über "Kultur" (Archäologie, Religion etc.). Das Sammeln antiker Fundstücke, vorzugsweise ägyptischer, griechischer und römischer Herkunft (Marinelli, 1998), ist Freuds dritte Leidenschaft. Im Laufe der Zeit erwirbt er etwa 2000 Figuren, Gemmen und Scherben, wobei ihm das Reisen - seine vierte Leidenschaft - sehr hilft. Denn auf Reisen macht Freud "großartige Antiquitäteneinkäufe" (Freud, 2002, S. 236), wie er aus Rom an die Familie in Wien schreibt. Das ist seine fünfte große Leidenschaft: das Schreiben von schätzungsweise 20.000 Briefen (Fichtner, 1989), ein Umfang, der sein wissenschaftliches Werk übertrifft. Die Arbeit setzt Freud wegen seiner Krebserkrankung nur noch in eingeschränkter Form fort. Er zieht sich von den organisatorischen Aufgaben in den psychoanalytischen Institutionen zurück, die seine Tochter Anna übernimmt; und er fehlt beim 7. Internationalen Psychoanalytischen Kongress, der 1924 in Salzburg stattfindet. Dessen Teilnehmer haben in einem Privatdruck in Gestalt liebevoll und doch prägnant gezeichneter Karikaturen überlebt (Neuauflage: Lück & Mühlleitner, 1993). Freud wird auch an keinem späteren Kongress mehr teilnehmen. Aber er verfasst weiterhin wegweisende Schriften - zum Beispiel über die religiösen Illusionen, die Erlösung im Jenseits versprechen und die Erlösung im Diesseits blockieren, weshalb sie überwunden werden sollten (Freud, 1927c, 1930a). In diesem Sinn äußert sich Freud auch gegenüber Albert Einstein, der 1932 vom Völkerbund aufgefordert wird, einen prominenten Denker auszuwählen, um mit ihm über ein frei bestimmtes Thema zu diskutieren.
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Der Begründer der Relativitätstheorie wählt den Begründer der Psychoanalyse und stellt ihm die Frage: "Warum Krieg?" Die Grundüberzeugung, die sein gesamtes Werk durchdringt, ist der Ausgangspunkt von Freuds Antwort: Der Fortschritt der "Kultur" ist an die zunehmende Beherrschung der Trieb-Natur gebunden. Davon hängt das Überleben der Menschheit ab. Und deshalb arbeitet "alles, was die Kulturentwicklung fördert, [...] auch gegen den Krieg". Denn die Bereitschaft zum Krieg ist in der Trieb-Natur verankert. Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Destruktions- oder gar vom Todestrieb. Er fordert die pazifizierung dieser Natur - und bekennt sich zum Pazifismus. Die "affektive Ablehnung" des Krieges sei "bei uns Pazifisten" - womit er sich und Einstein meint - bereits vorhanden. Doch: "Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden?" (Freud, 1933b, S. 26 f.). Einsteins Wahl zeigt, dass Freud spätestens jetzt ein von vielen geachteter Wissenschaftler ist. Das war nicht immer so. Freud hatte heftige Ablehnung und persönliche Verunglimpfungen zu ertragen. Das folgende Beispiel steht für solche Angriffe; es offenbart den Kern der Entrüstung: "Freudianer! [...] Zieht nicht unsere heiligsten Gefühle, unsere Liebe und Verehrung zu unsern Eltern, die uns beglückende Liebe unsrer Kinder in den Schmutz Eurer Phantasien hinab durch die fortwährende Unterschiebung widerlicher sexueller Motive!" Dieser Appell erschien 1910 im "Neurologischen Centralblatt" (Herv. im Original- zit. n. Köhler, 1996, S. 94). Eben diesen - in Variationen immer wieder neu vorgebrachten - Vorwurf hat Alfred Döblin, einer der Kuratoren, die 1930 Freud für den Goethepreis der Stadt Frankfurt vorschlagen, aufgegriffen - und in Lob verwandelt: Freud habe den "Lemuren", die in Träumen und Phantasien erscheinen, endlich "Gestalten und Namen" gegeben. "Dieses Namengeben scheint mir, hat die Menschheit, die Sprache bereichert" (zit. n. Plänkers, 1993, S. 169). Zum 80. Geburtstag erhält Freud Gratulationen aus aller Welt. Thomas Mann kommt am 6. Mai 1936 eigens nach Wien, um hier das von ihm verfasste Glückwunschschreiben zu verlesen, das knapp zweihundert Schriftsteller und Künstler unterzeichnet haben (u. a. Virginia Woolf, Stefan Zweig, Knut Hamsun, James Joyce, Robert Musil, Franz Werfel, Paul Klee und Pablo Picasso). Freud wird darin als "ein ganz auf sich gestellter Geist" vorgestellt, der "seinen Weg gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen [ist], die deshalb gefährlich erschienen, weil sie ängstlich Verdecktes enthüllten und Dunkelheiten durchleuchteten" (Mann, 1936, S. 65).
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Zwei Jahre später muss Freud die Stadt verlassen, in der er fast achtzig Jahre gelebt hat. Am 11. März 1938 notiert er in seinem - "Kürzeste Chronik" genannten - Tagebuch: "Finis Austriae". Österreich existiert nicht mehr. Am 14. März 1938 lautet der Eintrag: "Hitler in Wien" (Freud, 1992i, S. 270). Freud emigriert nach England, wo er in London, 20 Maresfield Gardens (heute ein Freud-Museum), sein letztes Lebensjahr verbringt. Am 23. September 1939/ drei Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, stirbt Freud von unerträglichen Schmerzen erlöst durch eine Überdosis Morphium, die ihm sein Arzt/ Max Schur (1897-1969)/ injiziert hat. Eine griechische Vase aus seiner Antikensammlung enthält Freuds Asche. In dieser Urne wird später auch die Asche der Frau aufgenommen/ mit der er 53 Jahre verheiratet war: Martha Freud. Sie stirbt zwölf Jahre später. Auf die Frage eines Journalisten, ob er Pessimist sei, hat Freud mit Anspielung auf den Schlusssatz in Voltaires Roman Candide geantwortet: "Nein, ich bin kein Pessimist, denn ich habe meine Kinder, meine Frau und meine Blumen" (Viereck/ 1927 - zit. n. Tichy & Zwettler-Otte, 1999/ S. 127). Die letzten Worte im Krematorium Golder's Green in London hat denn auch ein Dichter gesprochen. Stefan Zweig sagte: "Dank für die Welten, die Du uns erschlossen und die wir jetzt allein ohne Führung durchwandein, immer Dir treu/ immer Deiner in Ehrfurcht gedenkend, Du kostbarster Freund, Du geliebtester Meister/ Sigmund Freud" (Zweig, 1939/ S. 252).
10. Was bleibt? Was kommt? Freud hat sich in seiner Jugend und im Alter mit zwei - auf den ersten Blick - sehr unterschiedlichen Männern identifiziert. Hannibal, ein Feldherr und Eroberer, war der "Lieblingsheld meiner Gymnasialjahre" (Freud, 1900a, S. 202). Der Mann Moses, mit dem sich Freud (1939a) in seiner letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeit noch einmal eingehend auseinandergesetzt hat/ war ein Religionsstifter, ein Führer. An Hannibal bewunderte Freud den Mut, den er selbst benötigte, um einen unbekannten Kontinent - "Dieses wahre innere Afrika" (Lütkehaus, 1989) - zu erforschen und dabei lieb gewonnene Vorstellungen in Frage zu stellen: "Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ,kompakten Majorität' zu verzichten" (Freud, 1960a, S. 381 f.). Und an Moses bewunderte Freud "die höchste psy-
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chische Leistung, die einem Menschen möglich ist: das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrag einer Bestimmung, der man sich geweiht hat" (1914b, S. 198). Diese "psychische Leistung" setzt die Entwicklung innerer Strukturen voraus, die sich im Verlauf des Prozesses bilden, der mit der Modifikation der Natur der Trieb-Wünsche - in Freuds Worten: mit dem "Niederringen der eigenen Leidenschaften" - einhergeht. Das ist der Fortschritt zur Kultur. Das ist Freuds Bildungsideal. Es liegt seiner Auffassung von psychischer Erkrankung als Resultat von Entwicklungshemmungen ebenso zugrunde wie seiner Therapiekonzeption, die auf die Nachentwicklung innerer Strukturen im Kontext einer therapeutischen - das heißt: einer bei der nachträglichen Bewältigung von Traumata und Konflikten hilfreichen - Beziehung abzielt. In der Schrift über die "zwei Prinzipien des psychischen Geschehens" (1911b) wird dieses Bildungsideal auf das Individuum bezogen als Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip dargestellt; und in den kulturtheoretischen Schriften wird es von Freud auf die Geschichte des KJJllektivs übertragen. Der Mann Moses wird von Freud denn auch als Symbol für den "Fortschritt in der Geistigkeit" (1939a, S. 219 ff.) angeführt. Zwischen dem Kriegshelden Hannibal und dem Religionsstifter Moses gibt es, bei allen Unterschieden, auch eine Gemeinsamkeit: Beide Männer erreichen ihr Ziel nicht. Hannibal kann Rom nicht erobern - Moses stirbt, ohne das Gelobte Land betreten zu haben. Das gilt - im übertragenen Sinne - auch für Freud. Er hat einen Weg gefunden - doch er konnte ihn nicht zu Ende gehen. Das heißt: er hat kein abgeschlossenes und erst recht kein Werk hinterlassen, das sakrosankt wäre. In seinen Worten ausgedrückt, hat er "manche Anregungen ausgeteilt [...], woraus dann in der Zukunft etwas werden soll" (1925d, S. 96). Diese Zukunft dauert, lässt man sie mit Freuds Tod beginnen, nun schon fast ein Jahrhundert an, und die Psychoanalyse als "Lehre von den tieferen, dem Bewußtsein nicht direkt zugänglichen, seelischen Vorgängen", die Psychoanalyse als",Tiefenpsychologie'" (1924f, S. 422), ist noch immer gegenwärtig. Trotz Widerlegung einzelner Annahmen Freuds und vieler Modifikationen und Ergänzungen hat die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten also noch immer eine Zukunft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Freud an eine Maxime gehalten hat, die unterschiedlichen Autoren (u. a. Gustav Mahler) zugeordnet wird, und doch stets denselben Sinn hat: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
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Einleitung: Sigmund Freud - Leben und Werk
In diesem Sinn wären denn auch die für diesen Band ausgewählten Schriften zu lesen. Die Psychoanalyse, wie sie Freud aufgefasst hat, sollte so verständlich werden (1) als Theorie menschlichen Erlebens und Verhaltens und (2) als Methode zur Erforschung psychischer Prozesse im Kontext einer eigentümlichen Beziehung, die äußerlich durch das Couch-Arrangement und innerlich durch das Zulassen früher (assoziativer) Formen des Denkens gekennzeichnet ist. Das ist Freuds wichtigste Entdeckung: die Methode der freien Assoziation. Damit hat er an eine Diskussion angeknüpft und sie mit anderen als nur kognitiven Mitteln fortgesetzt, die in der neueren Philosophiegeschichte bei Descartes beginnt ("ich denke, also bin ich"), und an der sich u. a. Lichtenberg e,Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt") und Nietzsche ("Mythologie des SubjektBegriffs[:] der ,Blitz' leuchtet - Verdoppelung - die Wirkung verdinglicht") beteiligt haben (zu dieser Diskussion s. Nitzschke, 2007a). Zentrales Ergebnis dieses Disputs war schon bei den Philosophen die Erkenntnis, dass das Denken ursprünglich von den Affekten abhängig ist - und damit von den Wünschen, sprich: von den Bedürfnissen des Körpers, also von den"Trieben" gesteuert wird. Dieses Erbe der Philosophen hat Freud übernommen (Ellenberger, 1973, Zentner, 1995, Gödde, 1999) und mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden, die er im Labor bei Brücke und durch die Rezeption der damals neuen Entwicklungslehre Darwins (Burkholz, 1995) gewinnen konnte. Und so wandelte er den Vorsatz, den er als junger Student gefasst hatte ("das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben"), später ganz im Sinne Goethes in die Tat um: "Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Auf diese Weise entstand die Psychoanalyse, deren grundlegende Begriffe und Konzepte anhand der nachfolgend abgedruckten und einleitend kommentierten Schriften Freuds erläutert werden. Die Texte werden nach der international verbindlichen Freud-Bibliographie (1999) zitiert. Sie folgen - mit geringen Abweichungen (zum Beispiel: "gültig" anstatt "giItig") - der von Freud benutzten Rechtschreibung. Die psychoanalytischen Standardbegriffe werden in Übereinstimmung mit der heute in der Fachliteratur üblichen Schreibweise durchgängig einheitlich wiedergegeben ("ÜberIch" anstatt, wie gelegentlich in Freuds Gesammelten Werken, "Überich"). Freuds Fußnoten, die in den Gesammelten Werken auf jeder Seite mit neuer Zählung beginnen, sind im vorliegenden Band fortlaufend nummeriert. Vom Herausgeber vorgenommene Text-Kürzungen, Änderungen von Kapitel-Überschriften sowie bib-
10. Was bleibt? Was kommt?
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liographische Ergänzungen in den Fußnoten zu Freuds Texten sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Hemd Nitzschke Düsseldorf, im Juli 2010
1.
Psychischer Apparat und psychische Regulation Basiskonzepte der Psychoanalyse
"Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine Wissenschaft über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine WISsenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung der Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden" (Freud, 1915c, S. 210). ,
Jede Wissenschaft wird durch ihren Gegenstand und ihre Forschungsmethode(n) bestimmt. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Ihr ursprünglicher Gegenstand war die psychische Erkrankung von Menschen, die beobachtet wurden, während sie über ihr Leiden und die damit verbundenen Ereignisse und Erlebnisse, also über sich selbst, berichteten. Diese - scheinbar objektiven - Beobachtungen wurden durch die Beobachtungen ergänzt, die der Beobachter an sich selbst machen konnte, während er die Geschichten seiner Patienten anhörte. Er hörte also nicht nur mit seinen Ohren zu - er hörte auch auf seine Seele. Also achtete er auf die Gemütsbewegungen seiner Patienten - und auf seine eigenen Gefühle. So ließ sich Schritt für Schritt der Zusammenhang erkennen, in dem die eigenen und die fremden Affekte (ent-)stehen. Bei Freud heißt es, "das Wort Psychoanalyse" sei ursprünglich die "Bezeichnung eines bestimmten therapeutischen Verfahrens" gewesen. Später wurde daraus der "Name einer Wissenschaft", nämlich der "vom Unbewußt-Seelischen" (Freud, 1925d, S. 96). Diese neue Disziplin zeichnete sich durch die Methode der freien Assoziation - das heißt: durch die Gewinnung der Beobachtungsdaten unter der Bedingung des psychoanalytischen Settings - und durch die spezielle Methode der Interpretation dieser Daten aus. Freud sprach in diesem Zusammenhang von der Psychoanalyse als "Deutungskunst" (1923a, S. 215). Diese neue Disziplin beanspruchte, "ein Stück Psychologie" zu sein, "gewiß nicht das Ganze der Psycho-
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
logie, sondern ihr Unterbau, vielleicht überhaupt ihr Fundament" (Freud, 1927a, S. 289). Sie ist jedoch "nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren, und darf auch der Zeiten und der Zustände vor ihrer Schöpfung nicht vergessen" (Freud, 1924f, S. 405). Die Entdeckung des Unbewussten hat also lange vor Freud begonnen (Ellenberger, 1996) - und sie hat mit Freuds Weiterentwicklungen noch lange kein Ende gefunden (Ermann, 2008/ 2009/ 2010). Die Themen Wunsch und Traum, Affekt und Phantasie, Sexualität und Tod waren ein Erbe der Romantik, dem Freud, der seinem Selbstverständnis gemäß zeitlebens Naturwissenschaftler blieb (vgl. Freud, 1933a, xxxv. Vorlesung), als ein in der Tradition der Aufklärung erzogener Wissenschaftler zu Leibe rücken wollte. Dabei griff er auf Philosophen zurück, die sich bereits mit dem Unbewussten beschäftigt hatten (s. Nitzschke, 1978/ Hemecker, 1991/ Zentner/ 1995/ Gasser, 1997/ Gödde, 1999); er interessierte sich aber auch für die zeitgenössische Psychologie, die eng mit der Physiologie verwoben war. So beabsichtigte er, wie aus einem Brief an Fließ hervorgeht, am 3. Internationalen Kongress für Psychologie in München 1896 teilzunehmen (Nitzschke, 1989a, S. 10). Einige Jahre zuvor hatte er sich zum 1. Internationalen Kongress für Physiologische Psychologie in Paris 1889 angemeldet. Die im Folgenden dargestellten Basiskonzepte der Psychoanalyse sind der Metapsychologie zuzuordnen (mit Ausnahme der in Kap. 1.5. enthaltenen Annahmen/ die darüber hinausgehen und zeigen, dass die empirische Voraussetzung aller metapsychologischen Spekulationen die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen sind). Als Metapsychologie bezeichnete Freud die Theoretische Psychologie/ deren Grundstruktur er 1895 im "Entwurf einer Psychologie" (1950c) formuliert hatte. Mit Hilfe dieser (später stark erweiterten und modifizierten) Annahmen sollten die triebhaft-affektive und die davon abhängige kognitive Steuerung des Erlebens und Handelns erklärt werden. Und es sollte ersichtlich werden, wie Erlebnisse der Vergangenheit in der Gegenwart zu Erfahrungen umgeformt werden können, die in Bezug auf die Zukunft vernünftig geplantes Handeln ermöglichen. Darüber hinaus wollte Freud wissen, was die psycho-somatische Welt im Innersten zusammenhält (die Libido) und welche Konflikte diesen Zusammenhalt bedrohen oder gar unmöglich machen können. Mit anderen Worten: Es geht in diesem Kapitel um den psychischen Apparat und die Mittel, die ihm zur Verfügung
1.1 Der psychische Apparat
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stehen, um die von innen und außen kommenden Reize so zu verarbeiten, dass die (Trieb-)Wünsche unter Beachtung der Außenwelt wie des Gewissens zu erftillen sind und die Einheitlichkeit und Funktionsfähigkeit des Ich dabei bewahrt bleiben.
1.1 Der psychische Apparat Im Juli 1938 beginnt Freud., der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in England aufhält, wohin er nach der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs im März desselben
Jahres emigriert ist, mit der Niederschrift eines Textes, der unvollendet bleibt. Er wird ein Jahr nach Freuds Tod unter dem TItel "Abriß der Psychoanalyse" (1940a) veröffentlicht. Man kann diesen Text deshalb auch als das wissenschaftliche Testament Freuds auffassen. Darin verknüpft er die grundlegenden Begriffe und Konzepte der von ihm über ein halbes Jahrhundert hinweg entwickelten und immer wieder modifizierten Psychoanalyse so miteinander, dass die innere Einheit seines Werkes deutlich werden kann. Das gilt für den hier abgedruckten Abschnitt, in dem Freud den "psychischenApparat" vorstellt in ganz besonderer Weise. Mit Hilfe dieses "Instruments, welches den Seelenleistungen dient", sollen die Reize, die dem Körperinneren (Triebreize) entstammen, auf eine Art und Weise bewältigt werden, die sowohl der Triebbefriedigung als auch der Selbsterhaltung gerecht wird. Die Arbeit dieses Apparats erfolgt also im Dienste der Wunscherftillung. Das hat Freud in der"Traumdeutung" erstmals ausführlich begründet (s. Kap. 2. dieses Bandes), wenngleich er da noch recht unbestimmt von den "Instanzen" des psychischen Apparats spricht deren Zusammenwirken mit dem der "Linsensysteme eines Fernrohres" verglichen wird (1900a, S. 541 f.). Dieses Bild greift Freud im "Abriß der Psychoanalyse" wieder auf, doch jetzt tragen die Instanzen die Namen.. die für die Freudsche Psychoanalyse charakteristisch sind: Es, Ich und Über-Ich.
_~ Freud, S. (l940a). Abriß der Psychoanalyse. GW XVI~ S. 67-69. Die Psychoanalyse macht eine Grundvoraussetzung, deren Diskussion philosophischem Denken vorbehalten bleibt deren Rechtfertigung in ihren Resultaten liegt. Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen.. ist uns zweierlei bekannt. erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), anderseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
sind und uns durch keinerlei Beschreibung näher gebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußtseinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten. Unsere beiden Annahmen setzen an diesen Enden oder Anfängen unseres Wissens an. Die erste betrifft die Lokalisation. Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl. Der konsequente Ausbau einer solchen Vorstellung ist ungeachtet gewisser bereits versuchter Annäherung eine wissenschaftliche Neuheit. Zur Kenntnis dieses psychischen Apparates sind wir durch das Studium der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens gekommen. Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es: sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden.! Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahrne und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs.
Die hauptsächlichen Charaktere des Ichs. Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennen lernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen 1
Dieser älteste Teil des psychischen Apparates bleibt durchs ganze Leben der wichtigste. An ihm hat auch die Forschungsarbeit der Psychoanalyse eingesetzt.
1.1 Der psychische Apparat
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das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungen der in ihm vorhandenen oder in dasselbe eingetragenen Reizspannungen geleitet. Deren Erhöhung wird allgemein als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden. Wahrscheinlich sind es aber nicht die absoluten Höhen dieser Reizspannung, sondern etwas im Rhythmus ihrer Veränderung, was als Lust und Unlust empfunden wird. Das Ich strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. Eine erwartete, vorausgesehene Unluststeigerung wird mit dem Angstsignal beantwortet/ ihr Anlaß, ob er von außen oder innen droht, heißt eine Gefahr. Von Zeit zu Zeit löst das Ich seine Verbindung mit der Außenwelt und zieht sich in den Schlafzustand zurück, in dem es seine Organisation weitgehend verändert. Aus dem Schlafzustand ist zu schließen, daß diese Organisation in einer besonderen Verteilung der seelischen Energie besteht. Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluß fortsetzt. Sie hat den Namen des aber-Ichs erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert oder sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muß. Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß. Die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich werden durchwegs aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluß wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluß von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale. Man sieht, daß Es und Über-Ich bei all ihrer fundamentalen Verschiedenheit die eine Übereinstimmung zeigen, daß sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren, das Es den der ererbten, das Über-Ich im wesentlichen den der von Anderen übernommenen, während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird. [...]
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
1.2 Trieblehre Im zweiten Kapitel des "Abriß der Psychoanalyse" steIlt Freud die psychoanalytische "Trieblehre" dar, wobei er die "Triebe" hier noch einmal als die "Kräfte" des Körpers charakterisiert. An anderer Stelle hatte er den Körper bereits als Ort der "Triebquellen" (1905d, S. 67) bestimmt, dem er jetzt die "Bedürfnisspannungen des Es" zuordnet. Die Wünsche entspringen also dem Körper, doch aufgrund kultureller Forderungen (die zur Abwehr animalischer Ausdrucks- und Befriedigungsformen der Wünsche nötigen) und aufgrund individueller Anforderungen (die den Schutz vor der Wiederholung lebensgeschichtlich bedingter Kränkungen und vor den damit verbundenen unIustvollen Affekten verlangen) können Wünsche oft nur in umgeformter (zensierter) Gestalt bewusst werden. Das allen Wünschen gemeinsame Ziel besteht aber auch noch in der Endfassung der psychoanalytischen Triebtheorie in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Stabilität, wobei Eros (Sexualität) jetzt das psycho-somatische Gleichgewicht (Homöostase) anstrebt, während Thanatos (Aggression) letztendlich die Rückkehr zum anorganischen Ruhezustand will.
ifTli llJ:l
Freud, S. (1940a). Abriß der Psychoanalyse. GW XVII, S. 70-73.
[...] Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir 1Hebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben. Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Naturj aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, diesen Zustand wiederherzustellen, sobald er verlassen worden ist. Man kann also eine unbestimmte Anzahl von Trieben unterscheiden, tut es auch in der gewöhnlichen Übung. Für uns ist die Möglichkeit bedeutsam, ob man nicht all diese vielfachen Triebe auf einige wenige Grundtriebe zurückführen könne. WIr haben erfahren, daß die Triebe ihr Ziel verändern können (durch Verschiebung), auch daß sie einander ersetzen können,. indem die Energie des einen Triebs auf einen anderen übergeht. Der letztere Vorgang ist noch wenig gut verstanden. Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen,. nur zwei Grundtriebe anzunehmen,. den Eros und den Destruktionstrieb. (Der Gegensatz von SeIbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb sowie der andere von Ich1iebe und Objektliebe fällt noch innerhalb des Eros.) Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten
1.2 Trieblehre
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herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, daß als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen. Wir heißen ihn darum auch Todestrieb. Wenn wir annehmen, daß das Lebende später als das Leblose gekommen und aus ihm entstanden ist, so fügt sich der Todestrieb der erwähnten Formel, daß ein Trieb die Rückkehr zu einem früheren Zustand anstrebt. Für den Eros (oder Liebestrieb) können wir eine solche Anwendung nicht durchführen. Es würde voraussetzen, daß die lebende Substanz einmal eine Einheit war, die dann zerrissen wurde und die nun die Wiedervereinigung anstrebt. 2 In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen. Über den Bereich des Lebenden hinaus führt die Analogie unserer beiden Grundtriebe zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung und Abstoßung. 3 Veränderungen im Mischungsverhältnis der Triebe haben die greifbarsten Folgen. Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent. Es kann keine Rede davon sein, den einen oder anderen der Grundtriebe auf eine der seelischen Provinzen einzuschränken. Sie müssen überall anzutreffen sein. Einen Anfangszustand stellen wir uns in der Art vor, daß die gesamte verfügbare Energie des Eros, die wir von nun ab Libido heißen werden, im noch undifferenzierten Ich-Es vorhanden ist und dazu dient, die gleichzeitig vorhandenen Destruktionsneigungen zu neutralisieren. (Für die Energie des Destruktionstriebes fehlt uns ein der Libido analoger Terminus.) Späterhin wird es uns verhältnismäßig leicht, die Schicksale der Libido zu verfolgen, beim Destruktionstrieb ist es schwerer.
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Dichter haben Ähnliches phantasiert, aus der Geschichte der lebenden Substanz ist uns nichts Entsprechendes bekannt. Die Darstellung der Grundkräfte oder Triebe, gegen die sich die Analytiker noch vielfach sträuben, war bereits dem Philosophen Empedokles von Akragas vertraut.
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
Solange dieser Trieb als Todestrieb im Inneren wirkt, bleibt er stumm, er stellt sich uns erst wenn er als Destruktionstrieb nach außen gewendet wird. Daß dies geschehe, scheint eine Notwendigkeit für die Erhaltung des Individuums. Das Muskelsystem dient dieser Ableitung. Mit der Einsetzung des Über-Ichs werden ansehnliche Beträge des Aggressionstriebes im Innem des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstörend. Es ist eine der hygienischen Gefahren, die der Mensch auf seinem Weg zur Kulturentwicklung auf sich nimmt. Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend (Kränkung). Den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Aggression gegen die eigene Person demonstriert oft eine Person im Wutanfall, wenn sie sich die Haare rauft, mit den Fäusten ihr Gesicht bearbeitet, wobei sie offenbar diese Behandlung lieber einem anderen zugedacht hätte. Ein Anteil von Selbstzerstörung verbleibt unter allen Umständen im Inneren, bis es ihm endlich gelingt, das Individuum zu töten, vielleicht erst, wenn dessen Libido aufgebraucht oder unvorteilhaft fixiert ist. So kann man allgemein vermuten, das Individuum stirbt an seinen inneren Konflikten, die Art hingegen an ihrem erfolglosen Kampf gegen die Außenwelt, wenn diese sich in einer Weise geändert hat, für die die von der Art erworbenen Anpassungen nicht zureichen. Es ist schwer, etwas über das Verhalten der Libido im Es und im Über-Ich auszusagen. Alles, was wir darüber wissen, bezieht sich auf das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido aufgespeichert ist. Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzißmus. Er hält solange an, bis das Ich beginnt die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt. Nur im Zustand einer vollen Verliebtheit wird der Hauptbetrag der Libido auf das Objekt übertrage~ setzt sich das Objekt gewissermaßen an die Stelle des Ichs. Ein im Leben wichtiger Charakter ist die Beweglichkeit der Libido, die Leichtigkeit, mit der sie von einem Objekt auf andere Objekte übergeht. Im Gegensatz hierzu steht die Fixierung der Libido an bestimmte Objekte, die oft durchs Leben anhält. Es ist unverkennbar, daß die Libido somatische Quellen hat, daß sie von verschiedenen Organen und Körperstellen her dem Ich zuströmt. Man sieht das am deutlichsten an jenem Anteil der Libido, der nach seinem Triebziel als Sexu-
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
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alerregung bezeichnet wird. Die hervorragendsten der Körperstellen, von denen diese Libido ausgeht, zeichnet man durch den Namen erogene Zonen aus, aber eigentlich ist der ganze Körper eine solche erogene Zone. Das Beste was wir vom Eros, also von seinem Exponenten, der Libido, wissen, ist durch das Studium der Sexualfunktion gewonnen worden, die sich ja in der landläufigen Auffassung, wenn auch nicht in unserer Theorie, mit dem Eros deckt. Wir konnten uns ein Bild davon machen, wie das Sexualstreben, das dazu bestimmt ist, unser Leben entscheidend zu beeinflussen, sich allmählich entwickelt aus den aufeinanderfolgenden Beiträgen von mehreren Partialtrieben, die bestimmte erogene Zonen vertreten.
1.3 Bewusstsein und Unbewusstes
Freud fasste die "Annahme unbewußter seelischer Vorgänge" als "Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie" auf (1923a, S. 223). Empirischer Ausgangspunkt dieser Annahme waren Erfahrungen mit Hypnose, die Freud als niedergelassener Nervenarzt zunächst selbst praktizierte, wobei er seine bereits in Wien erworbenen Kenntnisse durch Studienaufenthalte bei Jean-Martin Charcot in Paris und Hippolyte Bernheim in Nancy vertiefte, zwei in der damaligen Zeit führende Neurologen, deren Bücher Freud ins Deutsche übersetzte (Charcot, 1886, Bernheim, 1888). "Man kann an hypnotisierten Personen experimentell nachweisen, daß es unbewußte psychische Akte gibt und daß die Bewußtheit keine unentbehrliche Bedingung der Aktivität ist. Wer einen solchen Versuch mitangesehen, hat von ihm einen unvergeßlichen Eindruck empfangen und eine unerschütterliche Überzeugung gewonnen", schreibt Freud noch am Ende seines Lebens (1940b, S. 145). Im hier abgedruckten Auszug aus der Schrift "Das Ich und das Es" wird das Unbewusste nun aber nicht mehr auf die Hypnose bezogen, vielmehr aus der psychoanalytischen Praxis abgeleitet, für die das dynamisch unbewusste Verdrängte entscheidend ist. Damit sind die Inhalte (Erinnerungen) gemeint, die schon einmal bewusst waren, infolge unlustvoller Affekte jedoch unmittelbar oder nachträglich wieder abgewehrt und dadurch unbewusst wurden. Das deskriptiv Unbewusste bezieht sich hingegen auf die Inhalte, die augenblicklich nicht verfügbar sind, jedoch ohne große Anstrengung wieder ins Bewusstsein gerufen (erinnert) werden können. Die dritte Bedeutung des Begriffs"Unbewusstes" bezieht sich auf Prozesse, die dem Betroffenen überhaupt nicht bewusst werden können, also zum Beispiel auf
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1. Psychischer Apparat und psychische Regulation
die den bewussten Wtllensentscheidungen vorausgehenden neuronalen Abläufe (ubet. 2005) oder auf die lebenslang andauernden Auswirkungen des spiegelnden Affektaustauschs, der in der ursprünglichen Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind stattfand - oder auch fehlte (Fonagy & Targe~ 2003). Zusammenfassend heißt es bei Freud: "Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns Mch seiner inneren Natur so unbekJmnt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Da-
ten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinne" (Freu