ISAAC ASIMOV, RICHARD BERNARD,
JAMES E. GUNN, W. W. SHOLS,
LAN WRIGHT
Die Insel der Toten
und andere SF-Storys ...
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ISAAC ASIMOV, RICHARD BERNARD,
JAMES E. GUNN, W. W. SHOLS,
LAN WRIGHT
Die Insel der Toten
und andere SF-Storys
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Inhaltsverzeichnis
James E. Gunn
Werkzeug vom Sirius (These Things are Sirius) Übersetzt von Leni Sobez
Richard Bernard
Kinderspiel Isaac Asimov
Der Professor, dem man nicht glaubte (Belief) Übersetzt von Axel Melhardt
W. W. Shols
Die Insel der Toten Lan Wright
Endstation (The End of the Line) Übersetzt von Heinz Rehwald
von unserem argentinischen Leser F. S. Fuelbro er hielten wir einen weiteren Zeitungsausschnitt, der sich mit UFOs beschäftigt und der Sie ebenfalls in teressieren dürfte. Auch dieser Artikel stammt, wie die letzten (siehe Utopia-Zukunft 540) aus der deutschsprachigen Zeitung FREIE PRESSE, Buenos Aires. „Astronom fotografiert fliegende Teller.“ Der Di rektor der Sternwarte Antares in Montevideo, Juan Reyes Febles, hat am hellen Tage 21 Farbaufnahmen von einem fliegenden Teller gemacht, der sich 6000 Meter hoch befand und plötzlich eine Anzahl kleine rer fliegender Teller ausstieß. Das „Mutterschiff“ war sehr groß, während die anderen zwar die gleiche Form wie das große Objekt hatten, jedoch viel klei ner waren. Das Mutterschiff hatte ovale Form und leuchtete so hell, daß man es mit bloßem Auge sehen konnte. Der Rand war gezackt, die Kuppel hatte eine dunklere Färbung, ihr Rand war jedoch strahlend weiß. Im Zentrum leuchtete ein violettes Licht, und
oben schien eine Luke geöffnet zu sein, die vom Rand bis fast zum Zentrum reichte. Das erstaunlichste war, daß aus dem großen Ge genstand andere, kleinere herauskamen, die in den verschiedensten Farben leuchteten. Diese kleinen Objekte bewegten sich mit ungeheurer Geschwin digkeit. Der Astronom konnte die Erscheinung eine Stunde und 40 Minuten lang beobachten, bis schließlich alle Objekte verschwanden. (UPI, 26. 2. 1967). Vielleicht handelt es sich bei diesem Mutterschiff um einen Raumer der Fremden, auf die Ben Carter gestoßen ist. Ach so, davon wissen Sie ja noch gar nichts. Ben Carter ist der vom Pech verfolgte Held unseres näch sten Romans Utopia-Zukunft 544
Grenze im All Begegnung mit den Fremden von E. J. Zwerger Carter scheint endlich am Ziel seiner Wünsche ange langt zu sein. Er hat einen Planeten entdeckt, wie es ihn für eine Besiedlung durch Menschen gar nicht idealer geben könnte. Aber schon im Orbit geht alles schief. Carter verliert nicht nur sein Schiff, sondern auch seine Kameraden. Und obwohl er Glück im Unglück hat und schließlich doch zur Erde zurück
kehren kann, beginnt seine eigentliche Pechsträhne erst. – Diese rasante Space Opera wird Ihnen sicher gefallen. Zum Schluß noch ein Leserwunsch: Herr Raimund Schenk, 67 Ludwigshafen-Edigheim, Uhlandstraße 5, sieht sich aus Platzmangel gezwungen, seine sehr umfangreiche Sammlung von SF-Romanen – darun ter längst vergriffene Utopia-Bände – abzugeben. Interessenten mögen sich bitte direkt an Herrn Schenk wenden. Mit herzlichen Grüßen Ihre Utopia-Redaktion
Werkzeug vom Sirius
von James E. Gunn Dunkel, verlassen und geheimnisvoll lagen die Stra ßen. Brodelnde Atmosphäre füllte den ganzen Be zirk, aber Gilbert Davis war nicht in der Laune, sie zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht nahm er sie aber nur allzu gut wahr. Unheil war in der Luft. Davis fröstelte und warf einen Blick zurück. Die lange, leere Straße verlor sich in der Dunkelheit der Nacht, Von Minute zu Minute fühlte er sich mehr wie ein Dieb. Wo ist nur diese Adresse? Unter einer Laterne blieb er stehen und sah auf einem Stück Papier in seiner Hand nach. Dann ging er zurück, um die Nummer des schäbigen Hauses zu entziffern. Seinem Ziel mußte er schon ganz nahe sein. Gil ging weiter, und seine Schritte dröhnten gei sterhaft hohl und unwirklich durch die Stille. Warum liege ich als ehrenhafter Mann jetzt nicht zu Hause im Bett? fragte er sich selbst. Aber bin ich denn ein ehrenhafter Mann? Ja, wenigstens noch eine Weile. Hinter sich hörte er ein Geräusch; diesmal gab es keinen Zweifel, Er huschte unter ein Vordach in einer 7
Seitenstraße; sein Herz klopfte hart gegen die Rippen. Es war das Geräusch näher kommender Schritte. Davis sah sich rasch um, aber nirgends war ein Fleckchen, das ihm ein Versteck bot, kein Tor, kein Spalt, nichts. Und rannte er die Straße entlang – die Verfolger blieben ihm sicher auf den Fersen. Die Schritte waren nun ganz nah, nur um die Ecke herum. Gil preßte sich an die Mauer und hielt den Atem an. Zwei Füße schoben sich in sein Blickfeld. Sie gehörten zu einem großen Mann in Uniform, der den Strahl einer Taschenlampe über die Straße tan zen ließ und weiterging. Davis atmete auf, als die Schritte in der Ferne ver klangen und blieb einen Augenblick ruhig stehen, bis die Kraft wieder in seine Glieder zurückströmte. Für solche Dinge war er nicht geschaffen. Beim ersten Schritt in die Straße hinein schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er richtete den Strahl seiner kleinen Taschenlampe auf die Straßenecke. Er fand den Straßennamen, gerade den, nach dem er suchte. Er wandte sich um und schritt rasch die Seitenstraße entlang. Endlich glomm ein fahler Lichtschimmer durch die Nacht, eine Insel in der Düsternis. Es war ein schmutziges Schaufenster, da hinter eine bunt zusammengewürfelte Sammlung von Metallgegenständen, wahllos und ohne jeden Sinn für Ordnung verstreut. Eine abgenützte Tafel an der Tür kündigte an: Geöffnet. 8
Davis stieß die Tür auf und ging hinein. Das La deninnere war genauso verwahrlost und schäbig wie das Schaufenster, und ein stechender Geruch stieg ihm in die Nase. Von irgendwoher klang ein halb verwehte Musikfetzen. Gil erkannte sie sofort: Tschaikowskys Fünfte. Angewidert rümpfte er die Nase und räusperte sich. In der nahezu vollkommenen Stille des Ladens klang es laut und aufreizend, aber niemand kam. Of fensichtlich war er allein hier. Er wollte aber nicht allein sein; er mochte weder diese Stille, noch den schmutzigen Laden. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte das Geschäft hinter sich gehabt und wäre mög lichst weit weg. Der stechende Geruch wurde durchdringend. Im Hintergrund des Ladens teilte sich ein Vorhang, und der Sirianer erschien. „Ja?“ fragte er mit harter, metallener Stimme. Für ihn sah der Sirianer genauso unangenehm aus wie alle anderen. Die graue, runzelige Haut wirkte wie tot, und die Augen unter den vielschichtigen Li dern waren fremdartig und undurchdringlich. „Ja?“ fragte der Sirianer wieder. Gil räusperte sich. „Ich möchte einen Schraubenschlüssel kaufen“, sagte er. Schweigend brachte der Sirianer einige Stahl werkzeuge und legte sie auf den Ladentisch. 9
„Diese hier sind gut“, sagte er. Davis schüttelte den Kopf. „Ich möchte einen mit Garantie“, sagte er lang sam. Der Sirianer sah ihn lange an. Gil bewegte sich unbehaglich unter dem prüfenden Blick und wünsch te, er wäre nicht hergekommen. „Sie möchten also ein sirianisches Werkzeug kau fen“, sagte der Sirianer endlich. „Ja.“ „Sie wissen, daß das verboten ist?“ fragte der Si rianer. „Ja“, antwortete Davis und wünschte verzweifelt, der Mann möge sich beeilen. „Sie kennen doch die Strafe, die auf Kauf und Verkauf eines solchen Werkzeugs liegt?“ fuhr der Fremde unerbittlich fort. „Ein Jahr Gefängnis und eine Strafe von tausend Dollar“, antwortete Gil ungeduldig. „Ich möchte ei nen Schraubenschlüssel mit Garantie kaufen.“ „Ich kann Ihnen keinen verkaufen“, antwortete der Sirianer. Davis schimpfte vor sich hin und wandte sich zum Gehen. „Moment“, forderte ihn der Sirianer auf. Gil drehte sich wieder zu ihm um. Der Sirianer verschwand in dem Raum hinter dem Laden. Einen Augenblick später war er wieder zurück und trug ein 10
kleines Kästchen in der Hand. Er stellte es auf den Ladentisch und öffnete es. Davis starrte auf die glitzernden Gegenstände. Selbst in diesem trüb beleuchteten Laden strahlten diese Schraubenschlüssel in einem farbigen inneren Feuer. Es waren Juwelen, keine Schraubenschlüssel, in allen Formen und Größen – und alle mit Garantie. „Welchen hätten Sie gern, falls Sie einen kaufen könnten?“ fragte der Sirianer mechanisch. Gil nahm einen kleinen Schraubenschlüssel aus dem Kästchen und hielt ihn in der Hand. Er fühlte sich warm, fast lebendig an. „Diesen hier“, sagte er. „Ich kann ihn nicht an Sie verkaufen“, antwortete der Sirianer, „aber ich kann ihn Ihnen schenken. Er gehört Ihnen.“ Davis schnappte nach Luft. So machte man doch keine Geschäfte? Wie konnten die Leute so jemals Geld verdienen? Die Dinge mußten doch hergestellt und vom Sirius unter hohen Kosten hergebracht wer den. „Wenn Sie mir ein Gegengeschenk machen wol len“, fuhr der Sirianer fort, „können Sie eine Münze in die Schachtel an der Tür werfen. Aber nicht mehr als fünfzig Cents.“ So machten sie es also – eine kleine Geste, zu ih rem eigenen Schutz gedacht, aber im Grunde dazu bestimmt, ihren Gehorsam dem Gesetz gegenüber zu 11
beweisen. Und selbst dieser Preis war unglaublich niedrig. „Dieses Werkzeug ist mit ewiger Garantie ausge stattet“, erklärte der Sirianer, „Garantie gegen Bruch. Hitzeeinwirkung und Veränderungen gleich welcher Form und Größe.“ Davis nickte benommen und sah das Instrument in seiner Hand an. „Haben Sie noch etwas anderes zu verkaufen als Werkzeuge?“ fragte er. Wieder verschwand der Sirianer im Nebenraum. Diesmal kam er mit einem kleinen, schillernden, ru binroten Würfel zurück, dessen Kanten etwa finger lang waren. Sorgfältig wischte er eine Tasse aus und legte den Würfel vorsichtig auf ihren Rand. Einen Augenblick später hob er ihn ab. Die Tasse war mit einer dampfenden, klarbraunen Flüssigkeit gefüllt. Davis sah sie prüfend an, und der Sirianer hob ihm die Tasse entgegen. Der Dampf kräuselte sich vor Gils Nase. Langsam und automatisch nahm er die Tasse und hob sie an seine Lippen. Ebenso langsam stellte er sie ab. Es war genauso wie er es erwartet hatte: Er hatte soeben den köstlichsten Kaffee seines Lebens gekostet. „Welche Art Kaffee verwenden Sie?“ fragte Gil. „Keinen Kaffee, Sir“, antwortete der Sirianer. „Diese Kaffeemaschine braucht keinen. Setzt man sie auf den Rand einer Tasse oder eines Glases, so 12
füllt sich das Gefäß bis auf weniger als Fingerbreite mit der heißen Flüssigkeit. Sie braucht keine Auf merksamkeit, keine Pflege, kein Wasser. Sie bricht, schmilzt, splittert nicht und hört niemals auf, erst klassigen Kaffee zu produzieren. Sie hat Garantie.“ „Schön“, antwortete Gil und hob das Gerät vor sichtig auf. „Dafür“, schlug der Sirianer vor, „können Sie et was hierlassen, aber nicht mehr als zwei Dollar.“ Zwei Dollar, dachte Gil, für all den wundervollen Kaffee, den man trinken, verkaufen oder verschen ken konnte; niemals mehr Arbeit und Mühe damit; niemals mehr. „Es gibt kein Gesetz, das den Besitz sirianischer Waren verbietet“, erklärte der Sirianer. „Erinnern sie sich immer daran, daß es ein Geschenk ist.“ Gil Davis wandte sich um und ging langsam, fast blind, mit den Geschenken in der Hand zur Tür. Er ließ zwei Banknoten und eine Münze in die Schach tel fallen und schritt in die Nacht hinaus. * Einen Augenblick sah Gil die Schrift an der Tür an, die von innen her erleuchtet war: Laboratorium Gilbert Davis
Industrieforschungen
13
Nachdenklich schüttelte er den Kopf, stieß die Tür auf und betrat das strahlend hell erleuchtete Warte zimmer. Es war leer. Zwar war es schon elf Uhr a bends, aber die Zeit hatte nichts damit zu tun. Er durchquerte den Raum, ging zu einer Innentür und betrat ein Büro. Hier zog er seinen Mantel aus und hängte ihn sorgfältig in einen Schrank. Er nahm die beiden Gegenstände aus den Taschen und blieb einen Augenblick stehen; er sah sie an. Seine Hand schloß sich krampfhaft um den Schraubenschlüssel. Gil öffnete eine andere Tür und kam in das Labo ratorium. Ein großer, magerer Mann in Schutzklei dung stand auf. Gil räusperte sich. „Hier sind sie, Pete“, sagte er mit heiserer Stimme. Pete trat zu ihm und nahm ihm den Schrauben schlüssel aus der Hand. „Schön“, erklärte er. Gil sah den Würfel an. „Schön und tödlich.“ „Garantie?“ fragte Pete. Davis nickte. Langsam traten sie an eine Werk bank. Gil griff nach einem kleinen Becher, spülte ihn aus und setzte den Würfel auf seinen Rand. Die klare braune Flüssigkeit sprudelte hinein. Er nahm den Würfel weg und reichte Pete den Becher. Pete kostete vorsichtig von der Flüssigkeit, kaute sie förmlich und ließ sie dann die Kehle hinabrinnen. „Nicht schlecht“, meinte er. 14
„Wir wollen uns nichts vormachen“, erklärte Gil bitter, „es gibt keinen besseren.“ „Ich möchte gern wissen, ob sie auch etwas haben, was Scotch und Soda erzeugt.“ „Warum nicht?“ antwortete Gil. Pete unterzog den Rest der Flüssigkeit im Becher rasch einigen Versuchen. Endlich sah er auf. „Das ist Kaffee“, bestätigte er, „nichts als Wasser mit dem Extrakt der Kaffeebohne.“ Davis fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar. „Aber wie?“ fragte er. „Man sieht keine Öffnung im Würfel. Außerdem – viel könnte er nicht fassen. Wie bringen sie das nur zustande?“ „Wie soll ich das wissen?“ erwiderte Pete. „Ich bin kein Genie. Vielleicht ist es Teleportation.“ „Selbst wenn das möglich wäre“, wandte Gil ein, „wären sie im Handumdrehen pleite, wenn sie all diesen Kaffee liefern müßten.“ „Vielleicht ist es die Ausfallung eines Konzen trats“, überlegte Pete, „aber ich kann mir nicht vor stellen, wie sie all diesen Kaffee da hineinkriegen.“ „Sie müssen irgendwie die Bestandteile der Luft kombinieren oder die atomare Struktur umwandeln“, meinte Gil. „Aber das erklärt auch noch nicht, wie sie es fertigbringen oder welche Energie sie dazu be nutzen, gar nicht davon zu reden, wie sie das alles in einem kaum fingerlangen Würfel unterbringen.“ 15
„Oder woraus er hergestellt ist“, fügte Pete hinzu. Seine Augen nahmen jenen konzentrierten Aus druck an, den sie immer bekamen, wenn er einem außergewöhnlichen Problem gegenüberstand. Früher hatte dieser Blick immer bedeutet, daß viel Geld bei der Bank eingehen würde. Davis war glücklich. „Fang mit dem Schraubenschlüssel an“, schlug er vor. Pete klemmte ihn in einen Schraubstock und be klopfte ihn mit einem Hammer. Es gab einen klaren, hellen Ton. Pete klopfte kräftiger, immer stärker, bis er schließlich seine ganze Kraft daran wandte. Der Hammer brach. Sie sahen den Schraubenschlüssel an. Er war noch immer in den Schraubstock eingespannt, ganz und völlig unversehrt. Pete seufzte schwer. „Nicht einmal ein Kratzer“, stellte er fest. Er ging ihn mit einem Bohrer an, aber der rutschte nur ab; nicht einmal ein Diamantbohrkopf machte Eindruck auf ihn. Pete untersuchte ihn durch ein Mi kroskop, dann stellte er es auf den Bohrkopf ein. Er sah hindurch und reichte Davis Mikroskop und Boh rer. „Schau mal“, sagte er. Gil sah hindurch. Der kleine Industriediamant war nachgeschliffen. „Nimm den großen Hammer“, bat er. Pete stellte den Schraubenschlüssel aufrecht unter 16
den großen Fallhammer und befestigte ihn. Dann fuhr er den Hammer hoch und ließ ihn herabsausen. Sie sprangen heran. Der Zwischenraum zwischen Hammer und Hammerbett war merklich kleiner als der Schraubenschlüssel. „Jetzt aber endgültig“, befahl Gil. Wieder fuhr Pete den Hammer hoch. Sie sahen einander an und seufzten. Das Ende des Schrauben schlüssels steckte etwa fingerbreit im Hammer. „Die härteste bekannte Legierung“, stellte Pete fest. „Unter Garantie. Garantiert unzerbrechlich“, be stätigte Gil mit verzerrtem Gesicht. Pete versuchte es nun noch mit dem Schneidbren ner. Der Schraubenschlüssel veränderte nicht einmal seine Farbe. Er klemmte den Schneidbrenner fest und ging das kleine Werkzeug nacheinander mit Ham mer, Meißel und Bohrer an, solange es noch heiß war. Aber es war noch immer so gerade, unverändert und unzerkratzt wie am Anfang. Sie erhitzten es und schleuderten es auf einen Block Trockeneis. Das Eis schmolz im Nu, aber der Schraubenschlüssel zeigte keinerlei physische Veränderung. Pete starrte ihn ungläubig an. „So ein Material gibt es doch gar nicht“, knurrte er. * 17
Davis ging die ganze chemische Skala durch. Er setzte ihn starken und schwachen Basen, starken und schwachen Säuren, Königswasser, allen anderen Chemikalien, die im Labor zu finden waren, extre mer Hitze und Kälte aus, mischte verschiedene Säu ren, unterwarf das Material künstlichen Alterungs prozessen und schickte starke Stromstöße hindurch. Am Ende der Prozedur hatte er einen völlig unverän derten Schraubenschlüssel, dessen Gewicht genau das gleiche geblieben war. Pete legte ihn unter das Spektroskop. Er stellte ein und sah durch das Okular Seine Schultern sanken. Er wandte sich ab. „Ich sage dir doch, daß es ein solches Material ü berhaupt nicht gibt.“ Gil lugte durchs Okular. Es war überhaupt keine Linie zu sehen, die auf bestimmte Substanzen hätten schließen lassen. Pete hatte recht. So etwas konnte es nicht geben – und doch war es da. Schweigend unterzogen sie ihn den übrigen Routi netests. Das Resultat war eindeutig Null. Das Mate rial lag außerhalb des Üblichen, war unzerbrechlich, keiner Alterung unterworfen, nicht zu zersetzen, nichtleitend, nicht zu analysieren. Verzweifelt gaben sie auf. Davis füllte zwei Be cher mit Kaffee und setzte sich; vor ihm lagen leere Berichtformulare; er starrte sie an. 18
Material? hieß es da. Gil schrieb das Wort „Kunst stoff“ nieder. Er sah Pete an. „Aber wie kann es sich um Kunststoff handeln?“ fragte er und dachte einen Augenblick nach. „Aber es muß Kunststoff sein.“ „Man kann es nicht einschmelzen“, gab Pete zu bedenken. „Vielleicht setzen sie die Elemente in der Form zusammen. Oder sie bearbeiten es mit Werk zeugen.“ „Mit einem Material, das härter ist?“ wandte Gil ein. Chemische Eigenschaften? Gil setzte ein großes Fragezeichen dahinter. Physikalische Eigenschaften? Hart, nicht schmelz bar, unzerbrechlich. Zusammensetzung? Fragezeichen. Es gab noch viele Fragezeichen auf dem Formular, bis Davis zum letzten Punkt kam. Zweck? Das schlechthin vollkommene Material für fast jeden Verwendungszweck, schrieb Gil und zögerte. Dann fügte er hinzu: Um die Erde zu narren, zu verwirren, zu ruinieren. Ärgerlich schob Gil die Blätter beiseite. Sein Blick fiel auf den rubinroten Würfel. „Und was ist mit der Kaffeemaschine?“ fragte er. Pete zuckte die Achseln. „Man wird ihre Arbeitsweise nicht feststellen kön nen, wenn man sie nicht auseinandernimmt. Und das kannst du bestimmt nicht tun. Auch nichts anderes.“ 19
„Wenn es eine Kraftquelle besitzt, dann muß sie atomarer Natur sein“, überlegte Davis. „Und ist sie atomar, dann muß sie strahlen.“ Pete nahm einen Geigerzähler und hielt ihn an den Würfel. Es war nicht das leiseste Ticken zu hören. Er stellte den Würfel auf einen Becher und legte den Geigerzähler daran. Kein Laut. Er stieß den Würfel vom Becher und fluchte entsetzlich. „Wenigstens haben wir jede Menge Kaffee“, sagte er schließlich. Jeder bekam wieder einen Becher Kaffee; sie tran ken schweigend. „Gut, Ralph“, sagte Davis ruhig. „Ich will ganz ehrlich sein. Wenn nicht sehr bald etwas geschieht, dann geht es bergab, dann bin ich ruiniert. Ich habe alle gehen lassen – bis auf Pete.“ Spielerisch warf er den Schraubenschlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf. „Du und eine Menge anderer Leute“, sagte Ralph. „Nun, du bist ja mein Rechtsanwalt“, erklärte Gil ungeduldig, „und was soll ich dagegen tun?“ Ralph hob die Schultern. „Das weißt du ebenso gut wie ich.“ „Dann meinst du also, wir können gar nichts tun?“ rief Gil aus. „Du hast dich so in dein Labor vergraben, daß dir eine ganze Menge entgangen ist“, meinte Ralph nachdenklich. „Aber vielleicht erinnerst du dich dar 20
an, daß wir vor etwa zwanzig Jahren ein Raumschiff zum Sirius gesandt haben.“ „Ja, natürlich“, bestätigte Gil. „Das war der übelste Fehler, den wir je gemacht, haben. Die Sirianer waren anderswo viel zu sehr be schäftigt, als daß sie hierherkommen konnten. Viel leicht hätte es noch sehr lange gedauert, bis sie ge kommen wären. Aber wir mußten sie natürlich wis sen lassen, daß wir bereit waren.“ „Ich kann ganz gut ohne deinen Leitartikel aus kommen.“ „Das hängt ganz von den Umständen ab“, erwider te Ralph. „Es wurden doch immer Spekulationen an gestellt über die Wirkung des Zusammentreffens zweier großer Zivilisationen. Man sprach von prak tisch unzähligen Vorteilen des Friedens: größter bei derseitiger Nutzen vom Austausch technischer In formationen, Anregungen, Handelsbeziehungen und so weiter.“ „Davon habe ich nichts gesehen“, antwortete Gil. „Und davon wirst du auch niemals etwas sehen“, bestätigte Ralph. „Die Philosophen hatten zu wenig Phantasie. Sie verschwendeten kaum einen Gedan ken darauf, wie die Lage werden könnte, wenn diese beiden Zivilisationen nicht gleichwertig waren. Sie sagten, die stärkere Seite würde siegen, aber damit hatten sie nicht recht. Im Krieg gewinnt wohl der Stärkere, im Frieden aber der Schlauere.“ 21
„Und wohin gehören wir?“ „Zu keinem von beiden“, meinte nun Ralph bitter. „Wir sind nur ein winziger Planet mit ein paar Stütz punkten auf einigen anderen Planeten unseres Sy stems. Der Sirius hat ein Reich, das sich über ich weiß nicht wie viele Sterne reicht. Sie sind zu stark, zu kämpfen und viel zu schlau, Handel zu treiben.“ „Na, und?“ „Sie waren am Ball“, fuhr Ralph fort, „und sie be schlossen, auf Frieden und Verhandlungen zu spie len. Sie bestanden auf zwei Dingen: dem Recht auf friedlichen Handel und dem Recht auf freien Aus tausch von Erfindungen und wissenschaftlichen Er kenntnissen, ohne Einschränkung durch Patentrechte.“ „Schön. Und?“ Ralph holte tief Atem. „Wir waren uns einig in der Vorstellung – ver rückt, wie ich zugeben muß –, daß wir von dem, was sie hatten, mehr für uns verwenden könnten als sie von dem, was wir hatten. Alles sah recht schön aus, bis …“ – Ralph machte eine beredte Geste zum Schraubenschlüssel in Gils Hand – „… vor etwas mehr als einem Jahr diese Dinge bei uns aufzutau chen begannen. Den Rest kennst du.“ Ralph betrachtete nachdenklich das Werkzeug. „Und was ist damit?“ „Das ist doch ganz klar“, erwiderte Ralph. „Haben wir denn etwas, das damit konkurrieren kann, von 22
den noch komplizierteren Dingen ganz zu schwei gen?“ Gil schüttelte den Kopf. „Sie verkaufen diese Werkzeuge sehr billig“, fuhr Ralph fort, „aber jedes Stück, das sie verkaufen, ko stet einen unserer Männer die Stellung. Dann kehren sie die Geschichte um und benutzen das Geld dazu, unsere wertvollen Minerale und unsere Kenntnisse zu kaufen. Sie genießen alle Vorteile eines Eroberers – ohne Ausgaben zu haben, ohne besondere Mühe aufwenden zu müssen. In ein paar Jahren sind wir nur noch so etwas wie eine Kolonie – völlig abge brannt, auf ihre Großzügigkeit angewiesen. Und was können wir dagegen tun?“ „Könnten wir nicht den Preis für unsere Minerali en heraufsetzen?“ „Was versprichst du dir davon?“ fragte Ralph. „Sie würden nur neue Lieferungen hereinbringen. Dann wären wir nur noch die Bergleute, die für die Sirianer arbeiten. Und man würde uns nur noch mit Werkzeugen bezahlen.“ „Es muß doch irgendeinen Ausweg geben“, wand te Gil ein. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, erklärte Ralph nachdenklich. „Aber du siehst selbst, daß beide nicht durchführbar sind. Wir können ihre Erfindungen nachmachen. Wirst du das fertigbringen?“ Davis wurde rot vor Ärger. „Wir können sie nicht 23
einmal zerlegen, um herauszukriegen, wie sie arbei ten“, knurrte er, „wie sollen wir sie dann nachma chen?“ „Siehst du“, antwortete Ralph. „Wir haben das ja auch versucht, seit die ersten Stücke davon hier auf tauchten. Die zweite Möglichkeit wäre die, ihnen etwas zu schicken, das sie zwar gern haben möchten, aber nicht nachzumachen imstande sind. Auch das haben wir versucht, aber sie nehmen diese Dinge auseinander und ziehen eine Massenproduktion auf. Für die Produktion der Erde gibt es keine Nachfrage mehr. Kannst du etwas herstellen, was sie nicht zer legen können?“ „Nein“, sagte Gil, „das ist unmöglich.“ „Dann gelingt es uns auch nicht, die ungünstige Handelsbilanz zu verbessern“, erwiderte Ralph. „Wir werden bis zum Weißbluten ausgesaugt – bis zum letzten Blutstropfen.“ „Können wir denn nicht verhindern, daß diese Dinge hereinkommen, oder daß sie wenigstens nicht verkauft werden?“ „Das haben wir doch versucht, wie du selbst weißt. Wir haben den Handel mit sirianischen Waren illegal erklärt, und das kommt praktisch einer Aufhe bung der Verträge gleich.“ „Aber es wird doch immer noch Handel getrie ben“, gab Gil zu bedenken, „weshalb gehst du dage gen nicht strenger vor?“ 24
„Aus zwei Gründen“, erklärte Ralph. „Die Leute brauchen sie, und sie verstehen ganz einfach nicht, wie nachteilig es für die Erde ist, sie zu bekommen. Das Verbot kommt einem Alkoholverbot gleich. Noch schlimmer, es gibt keine moralischen Einwän de dagegen. Man kann nicht drei Milliarden Men schen unter Polizeikontrolle stellen. Außerdem be steht immer die Gefahr eines Krieges, falls wir ver suchen, sie zu verbieten – und den Krieg könnten wir nicht gewinnen.“ „Ich sehe keinen Grund, weshalb ein Verbot den Krieg bedeuten würde“, murrte Gil. „Wenn wir alle Händler zusammenholten“, erklär te Ralph, „dann wären die meisten davon Sirianer. Was sollen wir mit ihnen anfangen? Sperren wir sie ins Gefängnis, dann könnte das zum Krieg führen –, wenn die Sirianer ihn wollen, besonders deshalb, weil wir dann diejenigen wären, die die Verträge ge brochen hätten. Und wenn die Sirianer der Meinung sind, daß sie uns nicht auf die sanfte Tour besiegen können, dann wäre es immerhin möglich, daß sie es mit Gewalt versuchen.“ Davis schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Es muß noch eine Möglichkeit geben!“ rief er verzweifelt. „Ich glaube nicht, daß die Sirianer den Krieg wol len“, antwortete Ralph. „Ihr Reich ist auf Frieden, Handel und guten Willen aufgebaut. Diese Grundla 25
gen könnten in Frage gestellt werden, wollten sie die arme, schwache Erde erobern. Ich bin noch gar nicht davon überzeugt, daß es der richtige Weg ist, wenn wir ihnen den Handel so weitgehend verbieten, wie wir es getan haben. Man könnte damit den Sirianern das Recht zuspielen. Es ist doch ganz einfach so, daß ihre Produkte damit nur an Anziehungskraft gewin nen und ihnen gleichzeitig Kriegsgründe in die Hand gegeben werden – falls sie gerade welche brauchen.“ „Dann können wir also nichts anderes tun, als he rumsitzen und warten, bis wir Hungers sterben“, be merkte Gil bitter. „Wenn wir nicht herausbekommen, woraus diese Dinge gemacht sind“, wandte Ralph ein. „Hast du eine Ahnung?“ Gil schüttelte den Kopf. „Es muß irgendeine Legierung, ein Kunststoff o der etwas Ähnliches sein, wahrscheinlich mit ir gendwelchen Elementen, deren Existenz wir nicht einmal vermuten. Schließlich haben die Sirianer eine ganz andere Sonne, und seit Jahrtausenden beherr schen sie die Galaxie, kundschaften sie aus. Ganz gleich, was es ist – nachmachen können wir es nicht.“ „Ich mache mir die meisten Sorgen um die schlechte Stimmung im Volk“, sagte Ralph. Er stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. „Weißt du, daß die Arbeitslosigkeit heute zehnmal so groß ist 26
wie noch vor einem Jahr, und daß der Prozentsatz von Tag zu Tag steigt? Es wird nicht ohne Blutver gießen abgehen, bis wir diese Geschichte hinter uns haben; und das könnte für die Sirianer auch die ge suchte Entschuldigung sein – falls sie eine brau chen.“ Er öffnete das Fenster. Aus der Ferne trieb eine Welle von Geschrei herein. „Wir könnten trotz all unserer Bemühungen in den Krieg getrieben werden“, bemerkte er. „Wenn sie darüber böse sind“, wandte Davis ein, „weshalb hören sie dann nicht auf, diese Dinge zu kaufen?“ „Die Erde ist doch voll von Narren, die niemals einem Apparat widerstehen können“, erklärte Ralph böse. „Sie wollen ein bequemes Leben führen, aber nichts dafür bezahlen.“ Plötzlich wandte er sich um. „Na, schön“, sagte er, „weshalb sollen wir heulen, wenn man uns ausgeschmiert hat? Es war doch ein großartiges Leben, und vielleicht werden wir sogar glücklich sterben … Wie wär’s mit einem Drink?“ „Klar, ich könnte auch einen vertragen.“ Ralph griff in seinen Schreibtisch und nahm ein paar Gläser heraus. Wieder griff er hinein und brach te einen rubinroten Würfel zum Vorschein, dessen Kanten etwa fingerlang waren. Gil Davis’ Gesicht wurde beinahe grün. 27
„Ich dachte, du meintest Alkohol“, sagte er hastig, „Kaffee mag ich nicht, danke.“ „Das ist kein Kaffee“, antwortete Ralph. Er stellte den Würfel erst auf den Rand des einen, dann auf den des anderen Glases und reichte Gil das eine. Es enthielt eine eiskalte, klare, bernsteinfarbene Flüssigkeit. „Scotch und Soda“, erklärte er und trank. * Die Straße quirlte vor Leben, als Gil sie betrat. Ziel los liefen die Menschen durcheinander, rastlose Au gen forschten nach etwas, das es nicht gab. Es waren in der Hauptsache Männer, größtenteils unrasiert und griesgrämig. Davis rannte mit einem zusammen. „He, du!“ knurrte der, „wo hast du denn deine Au gen?“ „Verzeihung“, murmelte Gil höflich. Das schien den Mann zu beruhigen. Vor sich hin brummend, ging er weiter. Gil wunderte sich über die Menge. Es war doch erst Mittwoch, ein Arbeitstag. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Waren alle diese Männer viel leicht arbeitslos? Ein untergründiger Strom von Gefühlen füllte die Straßen, ein dumpfes, gereiztes Brodeln, das kurz vor dem Siedepunkt stand. Gil fröstelte und ging rasch 28
weiter. Nach kurzer Zeit befand er sich in einem der ruhi geren Stadtviertel, obwohl auch hier Männer ziellos durch die Straßen schlenderten. Gil kam an einer Fa brik vorbei. Auf dem Schild über der Tür stand „Werkzeuge und Eisenwaren“, aber an dem ver schlossenen Tor hing ein Plakat „Bis auf weiteres geschlossen“. Eine Gruppe von Männern stand am Tor; eng an einandergedrängt schauten sie in den Werkshof. Sie sahen unsicher, ja verstört drein. Es waren keine streitsüchtigen Aufrührer; etwas hatte sie getroffen, das sie nicht verstanden. Etwas hatte in ihr Leben eingegriffen, sie arm gemacht. Einer der Männer blickte sich um, als Davis vor beikam. Ganz langsam wandte er sich um. „Sagen Sie, Mister“, bat er freundlich und ein we nig neugierig, „Sie sehen so aus, als wüßten Sie, was los ist. Weshalb ist die Fabrik geschlossen? Ist es eine Wirtschaftskrise, oder was sonst?“ Gil blieb stehen. Mitleid krampfte ihm das Herz zusammen. „Nein“, antwortete er, „nicht gerade eine Wirt schaftskrise.“ „Einige sagen, es ist wegen der Sirianer“, fuhr der Mann fort. „Sie behaupten, weil sie klüger sind als wir und schlauer. Stimmt das?“ „Nein“, sagte Gil, „es ist deshalb, weil wir zu 29
dumm sind.“ „Ja, Mister“, meinte der Mann nachdenklich, „ich glaube, da haben Sie recht.“ Er wandte sich wieder dem Tor zu. Gil ging wei ter. Und er hatte geglaubt, er habe nichts als Sorgen! Dabei verstanden diese Menschen nichts von dem, was vorging. Er mußte an eine Lösung des Problems denken, nicht nur, um sich selbst zu retten, sondern um alle jene Menschen zu schützen, die leben, arbeiten muß ten und denen man dieses Recht genommen hatte. Es gab eine Antwort auf diese Frage; denn es mußte sie geben. Immer, wenn es galt, Leben zu retten, wurden die Menschen erfinderisch. Und das konnten diese grauen, verschrumpelten Sirianern den Menschen nicht austreiben, nur weil es ihnen gerade so paßte. Wenn ihm nur etwas einfallen wollte, was die Siria ner brauchten und nicht selbst herstellen konnten! Das war der erste Schritt. Dann konnte man sich ausden ken, wie man es gegen Nachahmung schützte. Auch auf diese Frage mußte es eine Antwort geben, wenn er nur in der Verfassung wäre, darüber nachzudenken. Aber sie hatten doch alles. Sie lieferten alles, was die Erde brauchte, und nahmen selbst nichts ab – au ßer ein paar Rohstoffen. Natürlich konnte sich die Erde dagegen abschließen, sich auf eine primitivere Existenz einrichten, sich mit einem einfachen Le bensstandard begnügen. Die Regierung konnte etwas 30
tun für die Arbeitslosen. Aber hatten das die Sirianer nicht beabsichtigt? Konnte sich die Menschheit jemals wieder von die sem Rückschlag erholen, wenn erst einmal der Schat ten des Mißerfolges auf sie gefallen war, den Ehrgeiz ausgelöscht und das nagende Gefühl der Minderwer tigkeit in ihre Seelen gepflanzt hatte? Gil kannte die Antwort; sie hieß: nein. * Immer hatte die Menschheit nach Fortschritt gehun gert, denn sie war sich ihrer selbst so sicher gewesen. Er wußte, daß dies die große Hoffnung der Welt war. Das Universum war sein, wenn der Mensch es zu nehmen wünschte. Er glaubte, er sei der Auserwählte des Lebens; aber er war es nicht. Er war nur zweit klassig. Dieses Wissen würde sich ihm unauslösch lich einprägen. Es mußte eine Antwort geben. Der Mensch würde sich nicht einfach zusammenkrümmen und sterben. Er war elastisch. Er lachte und weinte. Er kämpfte und hatte Mitleid. Er haßte und liebte. Jetzt war es Haß, blinder, unvernünftiger Haß. Die Straßen waren voll davon. Bald schon konnte er überschäumen und zur Tat drängen. Aber das war keine Antwort, keine Lösung des Problems. Gil Davis schlenderte zurück in die belebteren 31
Straßen. Vor ihm bildete sich ein Menschenknäuel, es bewegte sich, wuchs. Stimmen wurden laut. Wü tende Schreie ertönten. Davis eilte auf die Gruppe zu. Er sah nicht, was in ihrem Mittelpunkt vorging; denn schon war die Menge zu dicht geworden. Aber allmählich wurde das Murmeln lauter, er verstand einige Worte und Sätze. „Das sind die dreckigen Diebe, die uns den ganzen Ärger gebracht haben!“ schrie einer. „Worauf warten wir noch?“ „Laß ihn nicht davonkommen!“ „Gebt’s ihm!“ Und Davis verstand plötzlich. Er versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, aber der Druck war zu stark. Er schrie, aber man beachtete sein Rufen nicht. Dann hörte er die Stimme, die seine Ängste bestätigte, eine Stimme, die spröde und mecha nisch klang. Gil gewahrte einen stechenden Geruch. „Das ist eine Beleidigung“, sagte der Sirianer ruhig. „Ich werde meinen Botschafter davon unterrichten.“ „Dazu wirst du kaum noch Gelegenheit haben!“ schrie einer. „Los, auf ihn!“ „So geht es nicht!“ brüllte Gil, „damit erreicht ihr nichts!“ Keiner hörte auf ihn. Fieberhaft überlegte er. Das konnte der zündende Funke sein; er mochte die Erde in einen hoffnungs- und aussichtslosen Kampf mit einer Zivilisation treiben, die fast die ganze Galaxie 32
beherrschte. „Polizei!“ schrie er, „die Polizei!“ Das wirkte. Ein paar Männer in seiner Nähe sahen sich unbehaglich um. Gil drückte die Leute weiter vorwärts und schrie immer noch „Polizei!“ Allmählich gelang es ihm, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, bis er neben dem grauen Si rianer stand. Er hob die Hand im Versuch, die Nach drängenden zurückzuhalten. „Wartet einen Moment!“ rief er. „Das hat keinen Sinn. Damit könnt ihr nichts besser machen!“ „Vielleicht nicht“, antwortete ein dicker Bursche, wohl einer der Anführer, „aber uns wird es wohltun, wenn wir Dampf ablassen!“ Er blies sich auf die Knö chel. „Das könnte Krieg bedeuten!“ brüllte Gil. „Und das wäre ein Krieg, den wir niemals gewinnen könn ten. Habt Vertrauen zu eurer Rasse! Wir können die anderen mit ihren eigenen Waffen besiegen!“ Das hielt sie einen Augenblick auf, aber wirklich nur einen Augenblick. „Ach, der Kerl gehört zu ihm!“ schrie der Dicke, „drauf auf die beiden!“ Er setzte zu einem rechten Schwinger an; Gil duckte sich und landete einen harten Faustschlag auf den Magen des Mannes. Der stöhnte und krümmte sich zusammen. Gil ließ einen linken Haken folgen, der den Mann zu Boden schickte. 33
„Will noch jemand?“ fragte er und sah ruhig von einem zum anderen. Sie murrten. Davis seufzte. Das mußte er nun durchstehen; es würde nicht leicht sein. Plötzlich brach eine strenge Stimme die Spannung. „Was ist hier los?“ Die Stimme kam von außer halb der Menschenansammlung. „Auseinander! Aus einander, sage ich!“ Das war ein Polizeibeamter in Person, und Gils Seufzer klang sehr nach Erleichterung. Die Menge begann sich in einzelne Gruppen aufzulösen. Der Mann am Boden kam langsam wieder auf die Beine, warf Gil noch einen wütenden Blick zu und rieb sich das Kinn. Langsam trollte er sich davon. Nach kurzer Zeit standen nur noch drei Männer beisammen: der Polizist, Gil und der Sirianer. Dieser strich sich bei läufig die Kleidung glatt. „Vielen Dank, Wachtmeister, besten Dank, Sir“, sagte er. „Ich werde meinem Botschafter von Ihrer Freundlichkeit berichten.“ „Wir wollen keine Gefälligkeiten“, antwortete der Polizist knurrend. „Wohin wollen Sie gehen?“ fragte Gil. „Brauchen Sie eine Begleitung?“ „Nein“, sagte der Sirianer. „Ich war schon fast am Ziel.“ Er ging die Straße hinunter. Gil sah ihm nach. Ei nige Häuser weiter betrat der Sirianer ein Theater. 34
„Sie haben der Erde einen großen Dienst erwie sen“, wandte sich der Polizist an Gil, „aber ich woll te, ich hätte ihn richtig vermöbeln können.“ „Ich weiß“, antwortete Davis geistesabwesend, „das täten wir alle gern.“ Wieder schweifte sein Blick die Straße entlang. Plötzlich schnalzte er mit den Fingern. „Das ist’s!“ rief er, „das ist die Antwort!“ „He!“ brüllte ihm der Polizist nach, als Gil plötz lich die Straße entlangrannte. * Gil raste durch das Wartezimmer in sein Büro. Er riß die Tür zum Labor auf. Pete saß auf einem Hocker vor der ersten Werkbank; er sah angewidert in einen Becher mit Kaffee. „Ich hab’s!“ jubelte Gil, „ich hab’s, Pete!“ „Ich hab’s auch“, meinte Pete säuerlich, „aber ich will’s gar nicht.“ „Nein, wirklich, Pete. Ich habe die Lösung!“ Petes Miene klärte sich. „Eine Möglichkeit zur Analyse des Materials?“ „Nein“, erklärte Gil, „aber ich habe mir etwas überlegt, das auch nicht schlechter ist. Vielleicht ist es sogar so gut, daß sie uns das Geheimnis ihres Kunststoffs verraten – oder vielleicht brauchen wir es gar nicht.“ 35
„Na, dann schieß los.“ „Schön“, sagte Gil, „hör gut zu. Was interessiert die Sirianer an der Erde am meisten?“ „Nichts“, behauptete Pete. „Sie sind mit sich selbst zufrieden.“ „Denke scharf nach! Es ist etwas, von dem sie selbst nur wenig haben.“ Pete dachte nach. Dann blickte er auf. „Meinst du – Unterhaltung?“ „In etwa“, antwortete Davis. „Sie sind als Mecha niker die reinsten Zauberer, aber Künstler haben sie niemals gehabt. Sie sind ganz versessen auf unsere Kunst: Musik, Theater, Literatur, Malerei. Sie kön nen davon gar nicht genug kriegen. Sieht man einen von ihnen auf der Straße, dann geht er bestimmt zu einer Ausstellung, zu einem Konzert oder in ein The ater.“ Pete sah gar nicht mehr so fröhlich drein. „Na, und?“ fragte er. „Sie können doch alles ha ben, was sie wollen.“ „Nicht, wenn wir es ihnen auf eine andere Art zu kommen lassen. Erinnerst du dich an das dreidimen sionale Filmmaterial, an dem wir vor ein paar Mona ten gearbeitet haben?“ Pete nickte. „Wir sind damals doch praktisch auf das Gebiet gestolpert, das es uns ermöglichte, überhaupt daran zu arbeiten. Schließlich war es ja ein Nebenprodukt. 36
Wir wären nie darauf gestoßen, wenn wir es gesucht hätten. Und wenn sie tausend Jahre lang selbst da nach geforscht hätten, sie hätten es nicht nachmachen können.“ „Aber es ist unpraktisch“, wandte Pete ein, „ich glaube, wir, haben das festgestellt.“ „So nicht, wie wir es jetzt anwenden werden“, er klärte Gil. „Wir werden ihnen das fertige Stück ge ben, und sie werden es nicht fertigbringen, ihm zu widerstehen oder etwas dagegen zu tun. Das wird reichen, unsere Handelsbilanz zu verbessern, wenn nicht sogar wieder aktiv zu machen.“ Pete sah zweifelnd drein. „Selbst wenn es uns gelingt“, meinte er, „werden sie in der Lage sein, es zu analysieren und dann selbst nachzubauen.“ Gil schüttelte den Kopf. „Nein, nein“, antwortete er spöttisch. „Analysieren können sie es bestimmt nicht.“ „Willst du damit sagen, daß du etwas gefunden hast, was ihrem Kunststoff ähnlich ist?“ fragte Pete. „Etwas, was sie nicht zerlegen können? Aber das ist doch unmöglich.“ „Natürlich“, sagte Gil. „Na, was ist es dann?“ drängte Pete, „sei doch nicht gar so geheimnisvoll.“ Gil erzählte. Zuerst ganz einfach und allgemein über die Leitidee, dann ging er in die Einzelheiten. In 37
Petes Augen leuchtete es auf. „Das könnte gehen“, meinte er dann schließlich. „Meinst du, daß du es machen kannst?“ fragte Gil. „Ich brauche sechs Stunden“, erklärte Pete. „Den Stoff dafür haben wir hier. Aber was werden wir als Arbeitsmaterial verwenden?“ „Das haben wir ja auch schon“, antwortete Gil. „Erinnerst du dich nicht daran? Darauf sind wir doch gekommen, als wir an der dreidimensionalen Ge schichte arbeiteten, bevor wir erkennen mußten, daß sie nicht durchführbar ist.“ Pete nickte und machte sich an die Arbeit. Die nächsten paar Stunden waren mit fieberhafter Tätigkeit angefüllt. Gil holte sämtliche Assistenten zurück und gab jedem von ihnen eine kleine Teilar beit. Allmählich begann es unter den rastlos tätigen Händen Gestalt anzunehmen. Davis arbeitete wie besessen, und endlich war das Ding fertig. Er sah auf die Uhr – sie hatten nur wenig mehr als fünfeinhalb Stunden gebraucht. „Gut gemacht“, lobte er. Sie sahen sich die fertige Arbeit an. Es war eine kleine Kristallkugel mit einem Durchmesser von nicht ganz Spannenlänge, die auf einem wolkigmil chigen Kristallfuß montiert war. Das Ganze erinnerte an jene Glaskugeln, die in früheren Jahrhunderten von Wahrsagern benützt worden waren. Aber sie wa ren doch anders. 38
„Gut“, sagte Gil, „fangt jetzt mit der zweiten an.“ „Was soll das heißen?“ beklagte sich Pete. „Soll das vielleicht eine Fließbandfertigung werden?“ „So ganz danebengegriffen hast du damit nicht“, antwortete Davis grinsend. „Ich brauche zwei Stück. Weshalb, das sage ich dir später.“ Das zweite Stück war in vier Stunden fertig. Man stellte die beiden Kugeln nebeneinander auf Gils Schreibtisch. Einer der Assistenten lachte. „Ob ich wohl einem großen, dunklen Fremden begegne?“ fragte er. „Vielleicht“, meinte Davis. Er sah in eine der Ku geln. „Ich sehe ein Vermögen. Es scheint auf unser Labor zuzukommen. Wir alle werden reich. Und ich sehe die Rettung für die Völker der Erde.“ Er sah auf. „Denkt an den Markt! Milliarden von Sirianern und anderen Rassen über die ganze Galaxie verteilt!“ „Wenn sie ihnen nur gefällt“, gab Pete düster zu bedenken, „und wenn sie diese Dinge nur nicht ko pieren können.“ „Das wollen sie natürlich, aber sie können es nicht“, erklärte Gil lachend. „Packt sie zusammen, Jungens, und packt sie sehr vorsichtig ein.“ * Der Laden war schmutzig und ruhig wie zuvor. Aber 39
diesmal war Gil weder ungeduldig, noch nervös oder von Gewissensbissen geplagt. Er war mutig zu dem Eisenwarenladen gegangen, stand jetzt keck da und wartete auf den Besitzer, nach dem er selbstbewußt gerufen hatte. Der stechende Geruch kam näher, und die Vor hänge teilten sich. Als der Sirianer hindurchspähte, konnte man denken, die Szene des vergangenen Abends würde sich wiederholen. „Ja?“ fragte er. Vorsichtig sah er sich um. „Wünschen Sie noch etwas? Ich habe ein …“ „Ganz im Gegenteil“, antwortete Gil. „Heute möchte ich Ihnen etwas verkaufen.“ „Wirklich?“ meinte der Sirianer höflich. Der Raum war dämmerig. Das Zwielicht war fast in Dunkelheit übergegangen, aber die Lichter brann ten noch nicht. Gil nahm vorsichtig eine der Kugeln aus der Tasche und stellte sie auf den Ladentisch. Der Sirianer kam näher und schaute sie neugierig an. Gil legte die Handfläche auf die Kugel und hob sie wieder ab. Die Kugel wurde schwarz. Es war eine wirbelnde, von Farben durchschossene Schwärze, und ein paar Takte Musik klangen im Laden auf. Die Melodie war klar und voll, die meisterliche Darbie tung einer Symphonie. Und jede Melodieführung ließ die Kugel in einem anderen Lichtmuster auf leuchten; Schatten in den seltsamsten Farbtönungen 40
schwammen geheimnisvoll durch den Raum. Allmählich wurde die Musik leiser, die Farben verblaßten, die Kugel wurde wieder schwarz und un scheinbar. „Ist das alles?“ fragte der Sirianer und tauchte auf aus der Inbrunst, mit der er die Kugel beobachtet hatte. „Sehen Sie“, befahl Gil und deutete auf die Kugel. Die Schwärze hob sich, und wieder begann die Musik, diesmal zarter. In der Kugel formten sich Ge stalten. Es erschien eine Bühne, und die verschwin dende Dunkelheit glich einem Vorhang. Auf der Bühne stand in einem altertümlichen Kostüm ein Schauspieler, ein winziges Figürchen auf einer win zigen Bühne. Er wurde größer, bis sein Gesichtsaus druck klar zu erkennen war. Dann begann er mit klarer, tönender Stimme zu sprechen, und seine Sprache füllte den Raum. Zwei Häuser in Verona, würdevoll, Wohin als Szene unser Spiel euch bannt, Erwecken neuen Streit aus altem Groll, Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand. Aus beider Feinde unheilvollem Schoß Entspringt ein Liebespaar, unsternbedroht Das Spiel ging weiter, untermalt von zarter Musik, die jede Bewegung, jedes Wort unterstrich und noch eindringlicher werden ließ. Der Sirianer war hingerissen, ganz gefangen von 41
der Aufführung. Endlich lächelte Gil und legte seine Hand auf die Kugel. Die Bühne verschwand, die Kugel war wieder glasklar. Der Sirianer sah ihn blinzelnd an. „Was kostet sie?“ fragte er. „Eintausend Dollar“, antwortete Gil ruhig. Des Sirianers vielschichtige Lider flatterten, er wandte sich um und ging in den anliegenden Raum. Gleich darauf kam er mit einer Handvoll Geld zu rück. Langsam und sorgfältig zählte er die Scheine auf den Tisch. Gil schob sie zusammen und steckte sie in die Ta sche. „Jetzt gehört sie mir“, sagte der Sirianer. Gil nickte. Als er sich zum Gehen anschickte, sah er, wie der Sirianer einige der glänzenden siriani schen Plastikwerkzeuge zurechtlegte. Gil stand gerade an der Tür, da hörte er ein recht erfreuliches „Ping“. Er wandte sich noch einmal um. Enttäuscht blickte der Sirianer auf ein hoffnungs loses Durcheinander von Flüssigkeiten, geschmolze nem Glas und Metall. Gil trat zu ihm und nahm vor sichtig die zweite Kugel aus der Tasche. „Oh“, rief der Sirianer überrascht, „hat sie Garan tie?“ „Kostet eintausend Dollar“, erklärte Gil vergnügt und lachte. „Sie ist garantiert, ganz richtig; garantiert zerbrechlich.“ 42
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Kinderspiel
von Richard Bernard Yartl erwachte. Die wulstigen Augenlider zuckten, schoben sich endgültig in die Höhe. Zwei riesige bernsteinfarbene Augen blinzelten träge in das grelle Licht der Sonne, die schon eine beträchtliche Strah lenflut auf Aldebaran V herunter schickte. Die gewaltige Leuchtkraft der roten Riesensonne verhinderte jede Entwicklung von Leben auf den er sten vier Planeten des Systems, aber das wußte Yartl nicht. Es hätte ihn auch wenig bekümmert. Wichtiger fand er das Problem, wo er heute Nahrung herbe kommen würde. Gähnend öffnete Yartl den riesigen Rachen, in dem zwei Reihen messerscharfer Zähne sichtbar wurden. Der kolossale Leib streckte sich, bog sich in die Höhe, bis die tonnenschwere Last auf den vorde ren Säulenbeinen ruhte. Ruckartig folgten die hinte ren Glieder. Mit stampfenden Schritten, unter denen der Boden erzitterte, verließ das Ungetüm die Mulde, in der es die Nacht verbracht hatte. Schritt um Schritt schob Yartl sich auf einen nahe gelegenen Hügel hinauf. Auf dem Gipfel erhob er sich zu seiner vollen 44
Größe auf die Hinterbeine, wobei ihm der lange, kräftige, mit Zacken besetzte Schwanz als Stütze diente. Forschend ließ Yartl seine Blicke über die wildzerklüftete Landschaft schweifen. Und da sah er sie wieder! Eine silberne Kugel senkte sich auf den Boden der Ebene hinab, die sich weit vor ihm aus dehnte. Es schien genau so eine kleine Kugel zu sein wie gestern. Befriedigt knurrend, wandte sich Yartl dem Abstieg zu. * Das Beiboot des terranischen Forschungsschiffes NOMAD setzte auf der weiten Ebene im nördlichen Teil des Planeten Aldebaran V auf. Das leise Sum men des Gravitationsneutralisators erstarb. Die Ku gel federte nur kurz auf den elastischen Standfüßen und blieb dann unbeweglich stehen. Leutnant Foster Jones lächelte befriedigt. „Das hat wieder mal hingehauen, Leutnant“, sagte Sergeant O’Rourke zu ihm. „Mit der Zeit lernt man’s“, entgegnete Jones. „Wenn man immer wieder auf fremden Planeten lan det, geht man mit einem Beiboot wie unserer POL LUX um wie ein Musiker mit seinem Instrument.“ Der rothaarige Sergeant kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. 45
„Möchte wissen, was uns hier wieder bevorsteht“, brummte er, „vor allem, ob wir die Männer von der CASTOR rasch finden, damit wir diesem riesigen Planeten, der einen so trostlosen Eindruck macht, bald wieder Lebewohl sagen können.“ Leutnant Jones griff nach seinem Raumhelm, der hinter ihm lag, und überprüfte die Verschlüsse sorg fältig, denn davon konnte sein Leben abhängen. „Wenn auf einem Planeten nicht gerade Ehren jungfrauen auf Sie warten, Sergeant, finden Sie ihn wohl immer trostlos, wie?“ Auch der Sergeant beschäftigte sich mit seinem Helm. Er grinste breit. „Auf jeden Fall habe ich es lieber mit netten Eh renjungfrauen zu tun als mit dem plötzlichen Ver schwinden von Kameraden, Leutnant“, erwiderte er. Da konnte Jones ihm allerdings nur beipflichten. Die CASTOR, das zweite Beiboot der NOMAD, war gestern unweit dieser Stelle gelandet. Die Besat zung sollte Luft- und Gesteinsproben entnehmen und möglichst noch einige Aufnahmen machen, die für eine spätere gründlichere Erforschung von Nutzen sein konnten. Die Landung war auch glatt vonstatten gegangen, danach war die Verbindung jedoch schlagartig abgerissen. Die Raumkugel konnte auch nicht mehr beobachtet werden. Es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Nun sollte Jones versuchen, die Verschollenen zu 46
entdecken, und wenn irgend möglich zu retten – so fern sie nicht schon tot waren. Es entzog sich ja noch aller Kenntnis, welche Gefahren dieser Planet barg. Leutnant Jones, Sergeant O’Rourke und die Raummatrosen Peters, Samirow und Svendsson leg ten die kleinen Schweber um. Diese arbeiteten auf dem selben Prinzip wie die Schwerkraftneutralisato ren der Raumschiffe. Nur so war es dem Menschen möglich, den ungeheuren Druck der Schwerkraft auszugleichen, der auf diesem Planeten bestand. Im merhin hatte Aldebaran, die rote Riesensonne, eine Leuchtkraft, die die irdische Sonne um ein Vielhun dertfaches übertraf. Der Riesenstern, eigentlich ein Doppelstern, besaß noch einen lichtschwächeren Be gleiter, der jedoch hinter Aldebaran stand, so daß er vom Planeten aus nicht gesehen werden konnte. Der riesige Feuerball Aldebarans mit dem sechsunddrei ßigfachen Durchmesser von Sol füllte fast den gan zen sichtbaren Teil des Himmeis aus. Im irdischen Maßstab gesehen, umkreiste Aldeba ran V seine Sonne etwa auf der Plutobahn. Die inne ren vier Planeten ähnelten dem Merkur beziehungs weise der Erde im Urzustand. Obwohl es nach Aldebaranzeit noch frühmorgens war, zeigte die Außentemperatur schon neunzig Grad Celsius an. Ein Aufenthalt ohne Raumanzug hätte jedem Menschen sofort den Tod gebracht. Schon die furchtbare Hitze, abgesehen von der Zu 47
sammensetzung der Atmosphäre, bedeutete ein ra sches Ende. Leutnant Jones verständigte sich kurz mit Sergeant Bertolino, der in seiner Abwesenheit das Schiff be fehligte. Viel gab es nicht zu sagen; die Besatzung der POLLUX war ein in vielen Unternehmen einge spieltes Team. Jeder wußte, worauf es ankam. An der Spitze seiner Leute verließ Jones die Schleuse der POLLUX. Er schwebte in östlicher Richtung davon. Die vier anderen folgten ihm. „Bis zum Landeplatz der CASTOR kann es nicht weit sei. Meiner Meinung nach müßte er sich bereits hinter dem Hügelkamm befinden, den wir genau vor uns haben.“ Die Worte des Leutnants drangen über den Helm sprechfunk zu seinen Gefährten. Eine weitere An weisung ermahnte sie zur Vorsicht. Sie schwärmten in einer Schützenlinie aus, um einem möglichen Gegner kein geschlossenes Ziel zu bieten. Obgleich auf einem solchen Planeten kaum Wesen mit einer entwickelten Technik erwartet werden konnten, muß te man damit rechnen, eventuell einer hier gelandeten anderen Rasse zu begegnen, wie damals auf Hurtax den Denebern. Doch kein Strahlenblitz züngelte ihnen entgegen, auch nicht der Feuerblitz einer Pulverwaffe. Nichts rührte sich. Aber kaum erreichten die die Kuppe des Hügels, da traf sie ein gewaltiger Schock! 48
Linker Hand erhob sich ein neuer Hügel, zu des sen Füßen ein kleiner See im Licht der Sonne glitzer te. Und an seinen Ufern lagen fünf reglose Körper! Der erste Blick verriet, daß sie ihre gesuchten Kameraden gefunden hatten! Langsam, vorsichtig nach allen Seiten sichernd, schwebten die fünf Raumfahrer zu den regungslosen Gestalten nieder. Jeder von ihnen eilte zu einem der Verschollenen. Überall aber konnten sie nur noch den Tod fest stellen. Fast siebzig Lichtjahre von der heimatlichen Erde entfernt, hatte ihre Kameraden ein grausames Geschick ereilt. Stumm versammelten sich die Männer um den Leutnant, der bewegt in das verzerrte Gesicht seines einstigen Crew-Gefährten in der Ausbildungszeit, Leutnant Fisher, sah. Behutsam schloß er die weit aufgerissenen Augen des Toten, aus denen stumm ein namenloses Grauen sprach. Bei allen Toten zeigten die Raumanzüge tiefe Ris se, wie von einem scharfen Gegenstand verursacht. Die unnatürlich verrenkte Lage der toten Raumfahrer deutete auf Knochenbrüche hin. Was mochte hier vorgegangen sein? So sehr die Männer der POLLUX nun auch noch nach der CASTOR Ausschau hielten, von ihr fehlte jede Spur! Lediglich die Abdrücke der vier Standfü ße am Rande des Sees bewiesen, daß die CASTOR 49
hier niedergegangen sein mußte. Hatte sie sich in Luft aufgelöst? Und wie sollte das geschehen sein? Diese Fragen beschäftigten den Leutnant, während seine Männer die Toten in einer kleinen Bodenmulde zur letzten Ruhe betteten. Fünf Raumhelme, auf ab gebrochene Äste eines bizarren Baumes gesteckt, kündeten davon, daß sich die Verluste der TerraFlotte unerwartet verlängert hatte. Unschlüssig verharrten die fünf Terraner noch an diesem traurigen Ort. Ihre Mission war damit erfüllt. Luft- und Gesteinsproben mußten die in der Raum kugel zurückgebliebenen Gefährten inzwischen ein geholt haben. Gerade wollte Jones den Befehl zum Rückmarsch geben, als er den entsetzten Aufschrei des Matrosen Samirows vernahm. „Da, seht, da oben, o mein Gott!“ Leutnant Jones fuhr herum. Seine Blicke folgten dem weisenden Arm des Russen. Was er sah, lähmte ihn förmlich: Am hinteren Ende eines kleinen Tals zwischen den beiden größeren Hügeln reckte sich eine unge heure Gestalt empor! Es mußte eine Ausgeburt der Hölle, ein lebendig gewordenes Fabelwesen sein! Der Koloß erreichte eine Größe von etwa sechzig Metern! Der ungeheure Kopf ähnelte dem eines irdi schen Krokodils, war mit zwei scharfen Zahnreihen bewehrt. Vom Kopf über den Rücken bis zur Spitze des wohl zwanzig Meter langen Schwanzes verlief 50
eine Reihe Zecken. Der gewaltige Leib ruhte auf zwei Hinterbeinen, die am ehesten denen eines Kän guruhs vergleichbar waren. Zwei Vorderfüße liefen in sechsgliedrigen Krallen aus, mit denen das Untier seine Beute packte. Den Leib bedeckten unzählige Panzerplatten. Diese Schuppen zeigten eine grünli che Färbung. Leicht vorgeneigt, blickte das Ungetüm mit schiefgelegtem Kopf auf die erstarrten Menschen herab. Es zögerte einen kurzen Moment, bevor er sich mit weitausgreifenden Sprüngen in Richtung auf die Menschengruppe in Bewegung setzte. Jones erwachte aus der Lähmung, die ihn beim Anblick dieses Giganten gefangen hielt. „Zurück, Leute!“ schrie er. „Sofort alles zum Raumschiff zurück!“ Pfeilschnell schossen die fünf Menschen über das hügelige Gelände hinweg, doch das Fabeltier folgte fast ebenso schnell. Die kolossalen Hinterbeine schleuderten das Schreckenswesen dieser Welt pro Sprung fast dreißig Meter weit. Und diese Distanz schien sich sogar noch zu vergrößern, je länger die wilde Jagd ging! Ein Rennen um Leben oder Tod spielte sich nun in der weiten Ebene von Aldebaran V ab, ein Rennen zwischen den technischen Mitteln der Menschheit und der Urkraft eines grotesk-schrecklichen Lebewe sens. 51
Über den Helmfunk veranlaßte Jones die sofortige Startbereitschaft des Beibootes. Er hörte die entsetz ten Ausrufe der Männer in der Raumkugel, die auf dem Bildschirm die Vorgänge verfolgten, ohne je doch eingreifen zu können. Die Beiboote dieser Klasse verfügten über keine Geschütze, und ob ge wöhnliche Strahler etwas gegen dieses Ungeheuer auszurichten vermochten, erschien mehr als fraglich! Bisher gelang es den Flüchtlingen, den gewonne nen Vorsprung zu halten, doch bestand durchaus noch kein Anlaß zum Frohlocken! Die größte Gefahr kam während des Einschleusens, da immer nur ein Mann den schmalen Einstieg betreten konnte. Das kostete Zeit, in der der Saurier herankommen konnte, um sich noch ein Opfer zu holen! Es ging um Sekunden! Jones legte per Sprechfunk die Reihenfolge des Einstiegs fest, um jede Verzöge rung zu vermeiden. Er selbst wollte als Letzter die Schleuse passieren. Dann erreichten sie das Beiboot. Samirow ver schwand in der Schleuse, gleich darauf Peters. Wäh rend Svendsson den Einstieg betrat, befand sich der furchterregende Gigant nur noch hundert Meter ent fernt. Sergeant O’Rourke und Leutnant Jones lehnten sich neben der Schleusentür mit dem Rücken an die Wand der POLLUX, mit den Füßen auf einem rings um die Kugel laufenden Vorsprung stehend. Beide 52
zogen ihre Strahler. Es war ein beklemmender Anblick, das Untier die Kugel weit überragen zu sehen; denn die Kugel maß nur zwanzig Meter im Durchmesser. Das Monster zögerte einen kurzen Augenblick, als es die Menschen in der Kugel verschwinden sah. Gleich darauf stampfte es jedoch weiter. Der Bo den erdröhnte. Selbst die Kugel, aus der nun das leise Brummen das Anlaufen des Startmechanismus’ an zeigte, vibrierte. „Los, verschwinden sie, Sergeant!“ schrie Jones, der bemerkte, wie O’Rourke zögerte, ihn allein zu rückzulassen. „Das ist ein Befehl!“ Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er den Einstieg des Sergeanten. Zugleich aber feuerte er den Strahler auf das Monster ab. Dieses richtete sich ei nen Moment steil in die Höhe, ein Zucken durchlief die mächtige Gestalt, darauf drang ein unheimliches Röhren aus seiner Kehle! Sonst zeigte sich keine Wirkung. Im Gegenteil, das Riesenwesen beugte sich erneut vor, die krallen bewehrten Vorderfüße schossen vor, direkt auf den Leutnant zu. In letzter Sekunde warf sich Jones in die Schleusentür. Erschöpft blieb er auf dem Boden lie gen. Er fühlte, daß das Schiff startete. * 53
Mißmutig blickte Yartl der verschwindenden Kugel nach. Der Schwanz peitschte zornig den Boden, wir belte Staub und Steine auf. Weshalb kam die Kugel nicht mehr zurück? Nachdem Yartl vergeblich gewartet hatte, drehte er schwerfällig um. Es machte ihm alles keinen Spaß mehr! Gestern war es viel schöner gewesen! Die kleinen Würmer, die vor der letzten Schlafperiode alle aus einer der hübschen blitzenden Kugeln gekro chen waren, hatten ihn viel länger mit diesen Strah len gekitzelt! Das hatte ihm zu gut gefallen! Aber die anderen Würmer heute verstanden überhaupt keinen Spaß, sie hatten ihn nur ganz kurz gekitzelt! Ob sie wohl böse waren, weil die anderen so schnell entz weigegangen waren? Yartl brummte unwillig, als er daran dachte. War es seine Schuld, wenn die Haut dieser Wesen so leicht zerriß, wenn er sie neugierig in die Pfoten nahm, um sie näher zu betrachten? Was sollte er da noch mit ihnen spielen? Achtlos hatte er sie wieder fortgeworfen. Auch den schönen blanken Ball wollten sie ihm nicht mehr geben. Haha, er hatte ja noch den von ge stern, sorgfältig in einem Felsspalt versteckt! Irgend etwas mußte ja schließlich auch ein kleiner Jungsaurier zum Spielen haben … Ob die Eltern wohl bald kamen? Yartl hatte schon solchen Hunger … 54
Der Professor, dem man
nicht glaubte
von Isaac Asimov „Hast du jemals geträumt, daß du fliegst?“ wollte Dr. Roger Toomey von seiner Frau wissen. Jane Toomey sah auf. „Natürlich!“ Ihre flinken Finger hörten nicht auf, ein buntes Garn zu einem komplizierten und ziemlich nutzlosen Tischdeckchen zu verweben. Der Fernsehapparat verbreitete im Raum ein gedämpftes Murmeln, während die Bilder auf seinem Schirm gewohnheitsmäßig kaum beachtet wurden. Roger sagte: „Jeder träumt irgendwann einmal vom Fliegen. Das ist allgemein bekannt. Mir ist es schon sehr oft so ergangen. Und das beunruhigt mich.“ Jane sagte: „Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.“ Mit leiser Stimme begann sie, Maschen zu zählen. „Wenn man es genauer überlegt, so beginnt man sich zu wundern. Man träumt eigentlich gar nicht vom Fliegen. Man hat keine Flügel – zumindest ich hatte niemals welche. Man muß sich nicht einmal 55
anstrengen. Man schwebt einfach. Das ist das richti ge Wort: schweben.“ „Wenn ich im Traum fliege“, sagte Jane, „erinnere ich mich nachher an keinerlei Einzelheiten. Außer daß ich einmal auf dem Dach des Rathauses gelandet bin und keinen Fetzen am Leib trug. Aber eigenarti gerweise kümmert sich nie jemand um einen, wenn man im Traum nackt ist. Ist dir das schon aufgefallen? Man möchte vor Scham am liebsten in den Erdboden versinken; aber die Leute gehen einfach vorbei.“ Sie zog an dem Garn, und das Wollknäuel kollerte aus dem Korb quer über den Fußboden. Sie achtete nicht darauf. Roger schüttelte langsam den Kopf. Im Moment war sein Gesicht bleich und abwesend. Es schien aus lauter Kanten und Ecken zu bestehen. Zumindest er weckten seine hohen Backenknochen, seine lange, gerade Nase und die Geheimratsecken, die Jahr für Jahr deutlicher hervortraten, diesen Eindruck. Er war fünfunddreißig Jahre alt. Er sagte: „Hast du dir schon jemals die Frage ge stellt, wieso man eigentlich vom Schweben träumt?“ „Nein, das habe ich noch nicht.“ Jane Toomey war blond und klein. Ihr gutes Aus sehen war von der Art, die einem nicht sofort auf fällt, sondern eher langsam und unauffällig bewußt wird. Sie hatte helle, blaue Augen und die rosigen Wangen einer Porzellanfigur. Sie war dreißig. 56
„Viele Träume“, bemerkte Roger, „sind nur die unfertige Interpretation des Unterbewußtseins und werden von nur unvollkommen verstandenen Ein drücken hervorgerufen. Diese Eindrücke werden in nerhalb des Bruchteils einer Sekunde zu einem an scheinend logischen Gebäude zusammengefügt.“ Jane sah ihn. an. „Was willst du damit sagen, Liebling?“ Roger sagte: „Paß auf: Einmal habe ich geträumt, ich sei in einem Hotel bei einem Physiker-Kongreß unter lauter alten Freunden. Alles schien völlig nor mal zu sein. Plötzlich entstand eine Verwirrung, auf geregtes Schreien, und ohne jeglichen Grund stieg in mir eine Panik auf. Ich lief zur Tür, aber ich konnte sie nicht öffnen. Nacheinander verschwanden meine Freunde. Sie hatten keinerlei Schwierigkeiten, diesen Raum zu verlassen, nur ich konnte nicht erkennen, wie sie es bewerkstelligten. Ich sprach sie an, doch sie beachteten mich einfach nicht. Und plötzlich wurde ich gewahr, daß das Hotel in hellen Flammen stand. Und doch roch ich keinen Rauch. Ich weiß einfach, daß es brannte. Ich lief zum Fenster und bemerkte eine Feuertreppe, die an der Außenseite des Gebäudes angebracht war. Ich rannte nun von einem Fester zum anderen, doch über keines hatte ich eine Chance, die Feuertreppe zu erreichen. Inzwischen war ich völlig allein in dem Zimmer. Ich lehnte mich aus einem Fenster und rief verzwei 57
felt um Hilfe. Doch niemand schien mich zu hören. Dann kamen die Wagen der Feuerwehr; kleine, ro te Flecken, die durch die Straßen schossen. Daran kann ich mich ganz deutlich erinnern. Die Alarm glocken schrillten hell, um die Autos an den Straßen rand zu drängen. Ich konnte sie klar vernehmen, im mer lauter, bis der Lärm meinen Schädel zu sprengen schien. Ich wachte auf, und – selbstverständlich – war es nur der Wecker, der neben meinem Bett schrillte. Ich kann unmöglich einen langen Traum gehabt haben, der nur darauf aus war, das Schrillen des We ckers als Höhepunkt und Ende zu verwerten. Es ist wesentlich vernünftiger, wenn man annimmt, der Traum begann erst mit dem Beginn des Läutens und preßte all das Erleben in den Bruchteil einer Sekun de. Es war nichts anderes als eine blitzschnelle Er klärung meines Unterbewußtseins, welcher Lärm nun plötzlich die Stille durchbrochen hatte.“ Jane hatte ihre Stirn in Falten gelegt. Sie ließ ihre Häkelarbeit sinken. „Roger! Du benimmst dich ziemlich eigenartig, , seitdem du vom College nach Hause gekommen bist. Du hast kaum etwas gegessen, und jetzt führst du diese sonderbare Konversation. So angekränkelt habe ich dich noch niemals erlebt. Ich glaube, etwas Na tron würde dir guttun.“ „Ich glaube, ich brauche etwas Stärkeres“, sagte Roger mit leiser, verhaltener Stimme. „Aber, was 58
verursacht einen Traum, in dem man schwebt?“ „Wenn es dir nichts ausmacht, wollen wir von et was anderem sprechen.“ Sie stand auf und drehte mit einer schnellen Bewe gung den Lautstärkeknopf des Fernsehapparates auf. Ein junger Mann mit eingefallenen Wangen und schmalzigem Tenor erhob plötzlich seine Stimme und versicherte ihr seelenvoll seine niemals endende Liebe. * Roger stellte den Ton wieder ab und blieb mit dem Rücken zum Bildschirm stehen. „Levitation!“ sagte er. „Das ist es. Es gibt diesen Weg, durch den menschliche Wesen schweben kön nen. Sie haben eine Veranlagung dafür. Sie wissen nur nicht, wie sie diese latente Fähigkeit in Anwen dung bringen können – außer wenn sie schlafen. Dann erheben sie sich manchmal, und wenn es nur um ein winziges Stück ist, vielleicht um einige Mil limeter. Das wäre zu wenig, als daß man es bemer ken könnte, selbst wenn jemand darauf achten sollte, aber es wäre ausreichend, um den Ausgangspunkt für einen Traum darzustellen, in dem man frei in der Luft schwebt.“ „Roger – du hast Fieber. Ich wollte, du würdest aufhören, so zu sprechen. Wirklich.“ Er fuhr fort. „Manchmal sinken wir ganz langsam 59
wieder nieder, und der Eindruck des Schwebens ist zu Ende. Aber andererseits kann man die Kontrolle über das eigene Schweben abrupt verlieren, und man fällt ungehindert herunter. Jane – hast du niemals geträumt, daß du fällst?“ „Ja, natürlich …“ „Man hängt an der Dachrinne eines Gebäudes oder sitzt am äußersten Rand eines Sessels, und plötzlich verliert man das Gleichgewicht. Und dann kommt der fürchterliche Schock des Fallens, und man wird mit einem Schlag wach. Man schnappt nach Luft, das Herz hämmert wie wild. Man ist gefallen. Es gibt keine andere vernünftige Erklärung.“ Janes Gesichtsausdruck war zuerst ein wenig be unruhigt gewesen, dann zeichnete sich echte Besorg nis ab. Plötzlich aber lösten sich ihre Züge in unge hemmtem Vergnügen. „Roger, du Teufel! Und du hast mich tatsächlich drangekriegt! Oh, du falscher Kerl!“ „Bitte?“ „Nein, mein Lieber! Jetzt kannst du es nicht mehr weitertreiben. Ich habe dich genau durchschaut. Du bist gerade dabei, die Handlung einer Geschichte zu entwickeln, und jetzt versuchst du an mir, ob es funktioniert. Ich sollte dich besser kennen. Ich sollte dir nicht einmal zuhören.“ Roger blickte seine Frau überrascht an; er war so gar ein wenig verwirrt. Er ging auf ihren Stuhl zu 60
und sah auf sie nieder. „Nein, Jane.“ „Ich sehe nicht ein, warum nicht. Seit ich dich kenne, schwärmst du davon, einmal Geschichten zu schreiben. Wenn du eine Idee hast, kannst du sie e benso gut gleich niederschreiben. Es besteht kein Grund, mich damit zu erschrecken.“ Ihre Finger be schäftigten sich wieder mit ihrer Handarbeit, wäh rend ihre Stimmung besser wurde. „Jane, es handelt sich um keine Geschichte.“ „Aber was soll es denn sonst …?“ „Als ich heute morgen erwachte, fiel ich auf die Matratze herunter.“ Er sah sie unverwandt ein. Nicht einmal seine Au genlider zuckten. „Ich träumte, daß ich flog“, sagte er. „Es war ganz deutlich und unmißverständlich. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Als ich auf wachte, lag ich auf dem Rücken. Ich fühlte mich ent spannt und ziemlich glücklich und wunderte mich nur ein wenig, wieso die Zimmerdecke so eigenartig aussah. Ich gähnte und streckte mich und berührte die Decke. Einen Augenblick starrte ich benommen auf meinen Arm, der in die Höhe langte und gegen die Decke drückte. Dann drehte ich mich um. Ich bewegte keinen Muskel, Jane. Ich drehte mich mühelos und ohne ein Glied zu bewegen um, einfach, weil ich es so wollte. Und da erkannte ich es. Ich schwebte vielleicht an derthalb Meter über dem Bett. Und du lagst schla 61
fend im Bett. Ich erschrak entsetzlich. Ich wußte nicht, wie ich wieder hinunterkommen sollte, doch im selben Augenblick, in dem ich an eine Möglich keit dachte, wieder in mein Bett zu kommen, fiel ich herunter. Ich fiel langsam. Der ganze Vorgang stand ununterbrochen unter völliger Kontrolle. Eine Viertelstunde lang lag ich bewegungslos im Bett und wagte nicht, mich zu rühren. Dann stand ich auf, wusch mich, zog mich an und ging zur Arbeit.“ Jane versuchte zu lachen. „Liebling, es wäre wirk lich besser, du würdest das alles aufschreiben. Aber es ist schon gut. Du hast in letzter Zeit einfach zuviel gearbeitet.“ „Bitte, Jane, komm mir nicht mit irgendwelchen Allgemeinplätzen.“ „Es gibt Menschen, die zuviel arbeiten, selbst wenn du sagst, daß es nur eine Banalität ist. Du hast ganz einfach eine Viertelstunde länger geträumt, als du jetzt glaubst.“ „Ich habe nicht geträumt.“ „Aber natürlich war es nur ein Traum. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich schon aufgewacht bin und mich angezogen habe, um das Frühstück herzu richten, und dann wurde ich noch einmal wach und stellte fest, daß ich alles noch einmal tun mußte. Ich habe geträumt, daß ich träume, wenn du weißt, was ich damit sagen will. Das alles kann schrecklich verwirrend sein.“ 62
*
„Paß auf, Jane. Ich belästige dich mit diesem Pro blem, weil ich glaube, daß du der einzige Mensch bist, zu dem ich damit kommen kann. Bitte, nimm mich ernst!“ Janes blaue Augen öffneten sich weit. „Liebling, ich nehme dich so ernst, wie ich es nur kann. Du bist doch Professor der Physik – nicht ich. Du kennst dich mit der Schwerkraft aus – nicht ich. Würdest du mich ernst nehmen, wenn ich dir eines Tages erzählte, daß ich morgens frei in der Luft ge schwebt wäre?“ „Nein, nein! Das ist ja gerade das Teuflische an der ganzen Angelegenheit. Ich will selbst nicht daran glauben, aber ich muß. Es war kein Traum, Jane. Ich versuchte, mir selbst einzureden, daß es nur ein Traum gewesen war. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich es versucht habe. Zu dem Zeitpunkt, als ich den Hörsaal betrat, war ich sogar davon überzeugt, nur geträumt zu haben. Du hast mir doch beim Frühstück nichts angemerkt – oder?“ „Oh, doch, aber erst jetzt, wo du mich darauf auf merksam machst.“ „Ich habe mich zumindest nicht sehr eigenartig benommen, sonst hättest du es erwähnt. Jedenfalls hielt ich vollkommen unbesorgt meine Neun-Uhr 63
Vorlesung. Gegen elf Uhr hatte ich den ganzen Vor fall vergessen. Und dann, knapp nach dem Mittages sen, brauchte ich ein Buch. Ich wollte den Paget – aber es ist ja egal, welches Buch ich suchte. Es stand auf einem der oberen Regale, aber ich konnte es trotzdem erreichen. Jane …“ Er brach ab. „Weiter, Roger, sprich weiter.“ „Paß auf! Hast du jemals versucht, nach etwas zu greifen, was gerade einen Schritt außerhalb deiner Reichweite ist? Du beugst dich vor und machst au tomatisch einen Schritt auf diesen Gegenstand zu. Das geschieht vollständig unbewußt. Es liegt in der automatischen Körperkoordination, die jeder Mensch besitzt.“ „Gut. Was soll das?“ „Ich langte nach dem Buch und machte automa tisch einen Schritt nach oben. In die Luft, Jane, in die leere Luft!“ „Ich werde Jim Sarle anrufen, Roger.“ „Ich bin nicht verrückt, verdammt noch mal.“ „Ich glaube aber doch, du solltest dich mit ihm un terhalten. Er ist ja schließlich unser Freund. Das hat nichts mit seiner Eigenschaft als Arzt zu tun. Er wird einfach ein wenig mit dir plaudern.“ „Und was soll mir das helfen?“ Roger wurde aus einem unvermittelten Zorngefühl heraus rot im Ge sicht. 64
„Das werden wir schon sehen. Nun setz dich hin, Roger – bitte.“ Sie ging zum Telefon. Er schnitt ihr den Weg ab und griff nach ihrem Handgelenk. „Du glaubst mir nicht?“ „O Roger.“ „Du glaubst mir nicht.“ „Ich glaube dir, natürlich glaube ich dir. Ich will nur …“ „Ja, du willst, daß sich Jim Sarle mit mir ein wenig unterhält. Soviel glaubst du mir also. Ich erzähle dir die reine Wahrheit, und du willst, daß ich mich mit einem Psychiater unterhalte. Paß auf, du brauchst ja nicht nur meinen Worten zu glauben: Ich kann es dir beweisen. Ich kann dir beweisen, daß ich imstande bin, in der freien Luft zu schweben.“ „Ich glaube dir.“ „Sei doch kein Narr. Ich weiß, wenn man mich an schwindelt. Bleib ganz ruhig stehen. Und jetzt beo bachte mich ganz genau.“ Er trat zur Mitte des Raumes zurück und erhob sich, ohne zu zögern, in die Luft. Er hing frei inmit ten des Zimmers, die Spitzen seiner Schuhe schweb ten zehn Zentimeter über dem Teppich. Mit weitaufgerissenen Augen und leicht geöffne tem Mund starrte Jane ihren Mann an. Sie flüsterte: „Komm herunter, Roger. Großer Gott, komm herun ter.“ 65
Er schwebte wieder herab. Seine Füße berührten geräuschlos den Boden. „Hast du es gesehen?“ „O Gott, großer Gott!“ Unverwandt starrte sie ihn an. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der halb panisch, halb wahnsinnig wirkte. Am Bildschirm sang eine voluminöse Dame mit rauher Stimme, daß das Fliegen mit einem jungen Mann hoch in der Luft ihrer Vorstellung von nichts Besonderem entspräche. * Roger Toomey starrte in die Finsternis des Schlaf zimmers. Er flüsterte: „Jane!“ „Was gibt’s?“ „Schläfst du schon?“ „Nein.“ „Ich kann auch nicht einschlafen. Ich halte mich ununterbrochen an der Matratze fest, um ganz si cherzugehen, daß ich nicht … Na, du weißt schon, was ich meine.“ Unruhig bewegte sich seine Hand auf sie zu und berührte ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen, schreckte zurück, als ob seine Hand elektrisch geladen wäre. Sie sagte: „Es tut mir leid. Ich glaube, ich bin ner vös.“ 66
„Ist schon gut. Ich muß sowieso aufstehen.“ „Was willst du tun? Du mußt schlafen.“ „Aber wenn ich dazu nicht imstande bin, so hat es keinen Sinn, auch dich vom Schlaf abzuhalten.“ „Vielleicht wird gar nichts geschehen. Es muß ja auch nicht jede Nacht passieren. Es geschah doch gestern zum erstenmal.“ „Woher soll ich das wissen? Vielleicht bin ich nur noch niemals so hoch aufgestiegen. Vielleicht bin ich einfach niemals aufgewacht und konnte es deshalb nicht bemerken. Auf alle Fälle liegt die Situation jetzt anders.“ Er setzte sich im Bett auf, die Beine im Türkensitz gefaltet, die Arme auf die Knie gestützt, die Stirn in die Handflächen gelegt. Er stieß die Decke beiseite und rieb sich die Wange am samtigen Stoff seines Pyjamas. Er sagte: „Es muß jetzt einfach anders sein. Meine Gedanken kreisen ununterbrochen um dieses Pro blem. Sobald ich eingeschlafen bin, sobald ich mich nicht mehr bewußt an meiner Unterlage anklammere, schwebe ich auch schon in die Höhe.“ „Ich sehe keinen Grund dafür. Es muß doch eine ziemliche Anstrengung sein.“ „Das ist es eben nicht.“ „Aber du kämpfst doch gegen die Schwerkraft an, oder etwa nicht?“ „Ich weiß, aber trotzdem – es ist keine Anstren gung damit verbunden. Schau, Jane, wenn ich das 67
alles verstehen könnte, würde es mir gar nicht mehr soviel Sorgen bereiten.“ Er ließ seine Beine aus dem Bett baumeln und stand endlich auf. „Ich möchte jetzt nicht mehr da von sprechen.“ Seine Frau flüsterte: „Ich auch nicht.“ Sie begann unterdrückt zu schluchzen, kämpfte gegen die Tränen; schließlich gelang es ihr, ihr Wei nen in ein ersticktes Klagen zu dämpfen, das noch viel schlimmer klang. Roger sagte: „Es tut mir leid, Jane, daß ich dich in einen solchen Zustand gebracht habe …“ „Nein, fasse mich nicht an. Laß – laß mich einfach in Ruhe.“ Mit zögernden, unsicheren Schritten entfernte er sich vom Bett. „Wohin gehst du?“ fragte sie. „Ich will mich auf die Couch in meinem Arbeits zimmer legen. Hilfst du mir?“ „Wobei?“ „Ich werde mich anbinden.“ „Anbinden?“ „Mit einigen Schnüren. Nur ganz leicht, damit ich mich umdrehen kann, wenn ich will. Macht es dir etwas aus?“ Ihre nackten Füße angelten bereits nach den Pan toffeln, die neben ihrem Bett standen. „Also gut“, seufzte sie. 68
*
Roger Tomey saß in dem kleinen Verschlag, den man allgemein als sein Büro bezeichnete, und starrte auf den Stoß von Prüfungen vor sich. Im Augenblick konnte er sich nicht vorstellen, wie er sie korrigieren sollte. Er hatte fünf Vorlesungen über Elektrizität und Magnetismus gehalten, seitdem er zum erstenmal über seinem Bett geschwebt war. Irgendwie hatte er die Vorträge hinter sich gebracht, ohne den Faden zu verlieren. Die Studenten stellten lächerliche Fragen; anscheinend war er nicht imstande, sich so klar aus zudrücken, wie er es einmal gekonnt hatte. Heute hatte er sich die Vorlesung durch eine über raschende Prüfung erspart. Er machte sich nicht ein mal die Mühe, neue Fragen zusammenzustellen. Er verwendete einfach eine Prüfung, die er vor Jahren schon einmal gestellt hatte. Jetzt lagen die Ergebnisse vor ihm, und er mußte sie benoten. Warum? Hatte das, was er sagte, eine Bedeutung? Oder was jemand anderer sagte? War es überhaupt wichtig, die Gesetze der Physik zu ken nen? Und wenn man schon soweit war, was waren eigentlich diese Gesetze? Gab es in Wirklichkeit überhaupt solche Gesetze? Oder war das alles nur ein Gewirr von unsinnigem 69
Zeug, aus dem man niemals eine wahrhafte Ordnung extrapolieren könnte? Wartete das Universum – ent gegen dem offensichtlichen Augenschein – noch immer auf den ordnenden Geist, der ihm sein Antlitz aus der Unendlichkeit zuwendete? Doch auch die Schlaflosigkeit brachte ihn keinen Schritt weiter. Obwohl er an seine Couch gefesselt war, fand er nur häufig unterbrochenen und von Alp träumen gepeinigten Schlaf. Es klopfte an seiner Tür. Ärgerlich rief Toomey aus: „Wer ist da?“ Zuerst eine Pause, dann eine unsichere Antwort: „Miß Harroway, Dr. Toomey. Ich habe die Briefe,, die Sie diktiert haben, abgetippt.“ „Gut – kommen Sie ‘rein, kommen Sie ‘rein. Blei ben Sie doch nicht wie festgenagelt vor der Tür ste hen.“ Die Sekretärin seiner Abteilung öffnete die Tür nur einen Spalt und zwängte ihren schlanken, reizlo sen Körper in sein Büro. In der Hand trug sie einige Papiere. An jedem Blatt hatte sie mit einer Büro klammer ein gelbes Durchschlagpapier und einen abgestempelten, adressierten Umschlag befestigt. Roger hatte nichts anderes im Sinn, als sie mög lichst schnell wieder loszuwerden. Und das war ein Fehler. Er beugte sich vor, um nach den Briefen zu greifen, während sie auf ihn zukam, und er fühlte, 70
wie er sich plötzlich vom Sessel erhob. Er bewegte sich vielleicht einen halben Meter auf sie zu – noch immer in sitzender Position –, ehe er sich wieder in der Gewalt hatte. Heftig fiel er auf seinen Sitz zurück und verlor die Balance, so daß er mitsamt seinem Sessel ins Taumeln kam. Es war zu spät. Es war absolut zu spät. Aus Miß Harroways zit ternden Fingern fielen die Papiere in unregelmäßiger Kaskade zu Boden. Sie schrie auf, drehte sich um ihre eigene Achse, stieß mit der Schulter gegen die Tür, rannte in die Halle hinaus und schoß unter dem Geknatter ihrer eigenen Stöckelschuhe den Korridor hinunter. Roger stand auf und massierte sich seine ange schlagene Hüfte. „Verdammt!“ knurrte er wütend. Doch er konnte sie verstehen. Er stellte sich vor, was sie gesehen haben mußte: ein vollkommen nor maler, ausgewachsener Mann erhob sich leicht und unbeschwert aus seinem Stuhl und schwebte ihr in einer vorher eingenommenen Stellung entgegen. Er sammelte die Briefe ein und schloß die Tür zu seinem Büro. Es war schon spät am Tag; die Gänge waren sicher ziemlich leer; ihr Bericht der Gescheh nisse mußte wahrscheinlich reichlich unzusammen hängend ausfallen. Und doch – gespannt wartete er darauf, daß sich rasch eine Menge ansammle. 71
Aber nichts geschah. Vielleicht war sie in irgend einer selten begangenen Ecke ohnmächtig zusam mengebrochen. Roger fand, daß es eigentlich seine Ehrenpflicht gewesen wäre, sie zu suchen und ihr nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen, aber er sagte seinem Gewissen, es solle sich zum Teufel scheren. Bis er endlich herausfand, was eigentlich mit ihm nicht in Ordnung war, ehe er nicht feststell te, woher dieser wilde Alptraum rührte, durfte er nichts unternehmen, was der Umwelt seine Schwie rigkeiten offenbaren konnte. Nichts – und das war wesentlich weniger, als er schon getan hatte. Er blätterte seine Briefe durch. Jeder einzelne ging an einen bedeutenden theoretischen Physiker des Landes. Die Kapazitäten seiner Universität reichten keinesfalls für einen derartigen Fall aus. Er fragte sich, ob Miß Harroway den tieferen In halt dieser Briefe verstanden hatte. Er hoffte, daß dies nicht der Fall war. Vorsichtigerweise hatte er sie in der Fachsprache der Physiker abgefaßt, sogar in einem stärkeren Maße, als es eigentlich notwendig gewesen wäre. Zum Teil, um sein Geheimnis zu wahren, zum Teil, um die Empfänger mit seinen, Toomeys, fachlichen und wissenschaftlichen Aus drücken ein wenig zu beeindrucken. Sorgfältig steckte er die einzelnen Briefe in die dazugehörigen Umschläge. Sie gingen an die besten 72
Köpfe des Landes. Konnten sie ihm Hilfe bringen? Er wußte es nicht. * Es war vollkommen still in der Bibliothek. Roger Toomey verschloß den Band der Zeitschrift für theo retische Physik, legte ihn auf einen bereits durchge arbeiteten Stoß und blickte gedankenverloren auf den eindrucksvollen Rücken. Die Zeitschrift für theoreti sche Physik! Was verstanden die Verfasser dieses gelehrten Gewäschs von der Wirklichkeit? Dieser Gedanke beschäftigte ihn unablässig. Bis vor kurzem waren es in seinen Augen noch die bedeutendsten Männer der Welt gewesen. Und noch immer versuchte er nach Kräften, nach ihren Gesetzen und ihrer Philosophie zu leben. Unter Janes immer widerwilliger gewährter Assistenz hatte er Messungen vorgenommen. Er hatte versucht, das Phänomen abzuwägen, Verbindungen herzustellen, die Maße abzuschätzen. Kurz gesagt: Er hatte ver sucht, diesem Rätsel auf die einzige Art und Weise beizukommen, die er kannte – indem er es in die Ge setze einzuordnen trachtete, denen ja das ganze Uni versum zu folgen hatte. (Denen es folgen mußte – die größten Gelehrten waren dieser Meinung!) Nur – es gab einfach nichts zu messen. Es schien 73
mit der Levitation nicht die geringste Anstrengung verbunden zu sein. Innerhalb seiner eigenen vier Wände – er wagte es nicht, eine Versuchsreihe unter freiem Himmel zu starten – konnte er sich bis zur Decke mit demselben Aufwand erheben, den er be nötigte, um den Teppich einen Millimeter unter sich zu lassen – wenn man davon absah, daß er mehr Zeit dazu brauchte. Er hatte das Gefühl, daß er sich un endlich weiter erheben könnte – notfalls bis zum Mond, wenn man ihm genug Zeit dazu ließ. Er konnte sich während der Levitation mit Ge wichten behängen. Das Tempo verlangsamte sich, aber er mußte sich nicht mehr als sonst anstrengen. Tags zuvor war er ohne vorherige Warnung zu Ja ne gekommen – mit einer Stoppuhr in der Hand. „Wieviel wiegst du?“ fragte er. „Fünfundfünfzig Kilogramm ungefähr“, antworte te sie. Sie blickte ihn unsicher an. Mit einer Hand umfaßte er ihre Taille. Sie ver suchte, ihn von sich zu stoßen, aber er beachtete es nicht. In schleichendem Tempo schwebten beide aufwärts. Sie klammerte sich an ihn – weiß und steif vor unaussprechlicher Angst. „Zweiundzwanzig Minuten und dreizehn Sekun den“, sagte er, als sein Kopf die Decke berührte. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hat ten, riß sich Jane von ihm los und hastete aus dem Zimmer. 74
Einige Tage vor diesem Ereignis war er an einer automatischen Waage vorbeigekommen, die unbe achtet und verwahrlost an einer Straßenecke gestan den hatte. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, so stieg er auf das Trittbrett und warf einen Groschen ein. Und obwohl er etwas Ähnliches eigentlich er wartet hatte, schockierte ihn die Tatsache, daß er nicht mehr als fünfzehn Kilogramm wog, gewaltig. Er begann, Groschenmünzen in größeren Mengen bei sich zu tragen, um sich bei jeder Gelegenheit zu wiegen. An Tagen, an denen ein heftiger Wind blies, war er schwerer, so als ob sich dieses Gewicht an sammelte, um ihn davor zu bewahren, von einer Bö weggeblasen zu werden. Die Anpassung erfolgte automatisch. Was es auch war, das ihn zum Schweben brachte – es stellte auch die Balance zwischen Bequemlichkeit und Sicherheit her. Aber genauso konnte er die Gabe der Levitation auch bewußt steuern, ebenso wie er bewußt Atem holen konnte. Er konnte sich auf eine Waage stellen und den Zeiger bis zu einem Punkt hinaufzwingen, der beinahe seinem ehemaligen Gewicht entsprach – oder sie, selbstverständlich, bis fast gegen Null hin absinken lassen. Vor zwei Tagen hatte er sich eine Waage gekauft und versuchte nun, die Geschwindigkeit zu messen, mit der er sein Gewicht verändern konnte. Aber das brachte keinerlei brauchbare Ergebnisse. Er konnte 75
sein Gewacht auf alle Fälle schneller verändern, als der Zeiger auspendeln konnte. Lediglich interessante Daten über Trägheitsmomente und Elastizitätsmo duln ergaben sich aus seiner Arbeit. Nun – worauf lief dies alles hinaus? Er stand auf und schlich mit hängenden Schultern aus der Bibliothek. Während er durch den Raum schritt, berührten seine Hände immer wieder Tische und Stühle und glitten unauffällig an der Wand ent lang. Er hatte das Gefühl, dies tun zu müssen. Sobald er körperlichen Kontakt mit irgendwelcher Materie hatte, wußte er immer, wie weit er vom Fußboden entfernt war. Sobald seine Hand nur den Kontakt mit der Tischoberfläche verlor oder sich die Wand ent lang nach oben bewegte … Deswegen also! In den Gängen hatten sich die üblichen Studenten grüppchen angesammelt. Er beachtete sie nicht wei ter. In den letzten Tagen hatten sie es gelernt, ihn nicht mehr zu grüßen. Roger stellte sich vor, daß ei nige ihn wohl langsam für einen eigenartigen Men schen hielten, während andere ihre Sympathie für ihn verloren. Er ging am Aufzug vorbei. Er benutzte ihn nicht mehr, besonders nicht bei einer Abwärtsfahrt. Sobald der Lift seine Bewegung aufnahm, war es beinahe unmöglich für ihn, sich nicht zumindest einen Au genblick lang in die Luft zu erheben. So sehr er auch auf diesen Moment warten konnte, schwebte er doch 76
Sekundenbruchteile, während sich die erstaunten Ge sichter der Umstehenden ihm zuwandten. Er langte nach dem Treppengeländer am Beginn der Stufen, doch ehe seine Hand noch zupacken konnte, stolperte er über seine eigenen Beine. Es war das wohl ungewöhnlichste Stolpern, das man sich überhaupt vorstellen kann. Noch vor drei Wochen wäre Roger wohl kopfüber die Stufen hinabgestürzt. Diesmal übernahm sein Unterbewußtsein die Kon trolle. Mit ausgebreiteten Armen, weit auseinander gespreizten Fingern, halb angezogenen Beinen segel te er wie ein Gleitflugzeug das Treppenhaus hinab. Es sah aus, als ob er von Schnüren gehalten würde. Er war zu benommen, um sich aufzurichten, zu sehr von hemmungslosem Erschrecken gelähmt, als daß er etwas unternehmen konnte. Vielleicht einen halben Meter vor dem Fenster am unteren Ende der Stiegen stoppte er seinen Flug und kam zu einem noch immer schwebenden Stillstand. Zwei Stundenten hatten sich auf den Stufen be funden; jetzt drückten sich beide gegen die Mauer, drei weitere standen oben an der Treppe, zwei hielten sich im unteren Stockwerk auf, während einer auf dem Absatz neben ihm stand – so nahe, daß sie sich ohne weiteres hätten berühren können. Es herrschte vollkommene Ruhe. Alle sahen ihn an. Roger richtete sich auf, ließ sich zu Boden sinken und rannte die Stufen hinauf, wobei er einen Studen 77
ten unsanft zur Seite stieß. Hinter seinem Rücken flammte erregte Konversa tion auf. * „Dr. Morton will mich sprechen?“ Roger drehte sich in seinem Stuhl um, wobei er sich krampfhaft an ei ner der Armlehnen anhielt. Die neue Sekretärin seiner Abteilung nickte. „Ja, Dr. Toomey.“ Rasch ging sie wieder aus dem Zimmer. In der kurzen Zeitspanne, die seit der Kündigung von Miß Harroway vergangen war, hatte sie bereits feststellen können, daß mit Dr. Toomey irgend etwas nicht stimmte. Die Studenten mieden ihn. In dem Hörsaal, in dem er heute seine Vorlesung gehalten hatte, wa ren die hinteren Bankreihen mit flüsternden Studen ten gefüllt gewesen, während unmittelbar in der Nä he des Podiums niemand gesessen hatte. Roger blickte in den kleinen Wandspiegel neben der Tür. Er zog seinen Sakko zurecht und bürstete sich ein paar Haare von der Schulter, was seine Ge samterscheinung aber kaum verbesserte. Seine Haut farbe hatte eine ungesunde Färbung angenommen; ungefähr fünf Kilo hatte er abgenommen, seitdem all dies angefangen hatte, wenn er auch den genauen Gewichtsverlust natürlich nicht exakt feststellen 78
konnte. Er wirkte ungesund – so als ob er in einem ununterbrochenen Zwiespalt mit seiner Verdauung lebte, wobei sein Magen-Darm-Trakt jede einzelne Auseinandersetzung für sich entschied. Er hatte keine Angst vor dieser Aussprache mit dem Leiter seiner Fakultät. Seine Einstellung zu all diesen Levitationserscheinungen war inzwischen rein zynisch geworden. Offensichtlich pflegten die Au genzeugen nicht darüber zu sprechen. Zumindest hat te Miß Harroway nichts ausgeplaudert. Und es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß es die Studenten an ders gehalten hätten. Er rückte die Krawatte zurecht und verließ sein Büro. Dr. Philip Mortons Amtsräume waren von seinem Büro nicht allzu weit entfernt; Roger war froh dar über. In der letzten Zeit hatte er sich angewöhnt, sich mit systematischer Konzentration fortzubewegen. Er hob einen Fuß und stellte ihn sorgfältig vor den an deren. Dann hob er wieder den nächsten und brachte ihn vor den ersten, immer noch angespannt. Er be wegte sich mit steifen Schritten vorwärts, während er ununterbrochen seine Beine unter Beobachtung hielt. Dr. Morton runzelte die Stirn, als Roger Toomey seine Räumlichkeiten betrat. Er hatte winzige Augen, trug einen schlecht gestutzten, ziemlich ausgefran sten Schnurrbart und einen schlecht gebügelten An zug. Er hatte sich einen bescheidenen Ruf in der wis 79
senschaftlichen Welt geschaffen und hielt es für we sentlich, die Lehrverpflichtungen vor allem den Mit gliedern seiner Abteilung zu überlassen. Er begann: „Hören Sie zu, Toomey, ich habe da einen sehr eigenartigen Brief von Linus Deering be kommen. Haben Sie ihm am …“ – er blickte auf ein Stück Papier, das vor ihm lag – „zweiundzwanzig sten des letzten Monats geschrieben? Ist das Ihre Un terschrift?“ Roger sah sich den Brief an und nickte dann. In teressiert versuchte er, Deerings Schreiben verkehrt herum zu lesen. Das hatte er nicht erwartet. Von den Briefen, die am Tage des Zwischenfalls mit Miß Harroway abgeschickt worden waren, waren erst vier beantwortet worden. Drei Antworten bestanden nur aus einem unper sönlichen Absatz, der – zumindest dem Sinne nach – folgendes aussagte: „Herzlichen Dank für Ihr ge schätztes Schreiben vom Zweiundzwanzigsten. Ich glaube nicht, daß ich Ihnen in der angeführten Ange legenheit von Nutzen sein kann.“ Ein vierter, er kam von Ballantine von einer Tech nischen Hochschule im Nordwesten, schlug wichtig tuerisch ein Institut für psychische Forschungen vor. Roger hatte sich noch nicht entschieden, ob dies be leidigend oder hilfreich zu verstehen war. Deering aus Princeton war der fünfte. Er hatte große Erwartungen in Deering gesetzt. 80
*
Dr, Morton räusperte sich geräuschvoll und rückte seine Brille zurecht. „Ich möchte Ihnen gern den Inhalt vorlesen. Neh men Sie Platz, Toomey, setzen Sie sich. Also: ,Lieber Phil …’“ Dr. Morton sah kurz auf und sagte mit einem et was einfältigen Lächeln auf den Lippen: „Linus und ich, wir haben einander letztes Jahr auf einem Kon greß kennengelernt. Wir haben uns gut unterhalten. Ein überaus sympathischer Mensch.“ Er rückte abermals seine Brille zurecht und wand te sich wieder dem Brief zu: „Lieber Phil! Gibt es in Deiner Abteilung einen Dr. Toomey? Vor einigen Tagen habe ich von ihm einen überaus eigenartigen Brief erhalten. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Zuerst wollte ich den Brief gleich in den Papierkorb werfen, doch dann dachte ich, daß Du, da der Brief den Kopf Dei ner Abteilung trägt, davon wissen solltest. Es könnte ja sein, daß irgend jemand Deine Abteilung für einen üblen Trick mißbrauchen will. In der Anlage findest Du Dr. Toomeys Brief zur etwaigen Verwendung. Ich hoffe, daß Du bald wieder in dieser Gegend …“ Umständlich faltete er den Brief wieder zusammen. „Der Rest ist persönlicher Natur.“ Dr. Morton 81
nahm seine Brille ab und verstaute sie in einem Le deretui, welches er schließlich in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Er schlang seine Finger ineinan der und beugte sich vor. „Nun“, sagte er. „Ich nehme nicht an, daß ich Ih nen Ihren eigenen Brief vorlesen muß. War es ein Spaß, ein Ulk?“ „Dr. Morton“, begann Roger mit bedeutungsvoller Stimme. „Der Brief war durchaus ernst gemeint. Ich kann an meinem Brief keinen Fehler finden. Ich habe ihn an einige Physiker im Land geschickt. Er sagt alles, was es zu sagen gibt. Ich habe einige Beobach tungen in der Sache – der Levitation – gemacht, und ich versuche, Informationen über eine mögliche theoretische Erklärung dieses Phänomens zu erhal ten.“ „Levitation? Tatsächlich?“ „Es handelt sich um eine wohlbegründete Frage, Dr. Morton.“ „Sie haben dieses Phänomen selbst beobachtet?“ „Natürlich.“ „Keine versteckten Fäden? Keine Spiegel? Passen Sie einmal auf, Toomey, Sie sind kein Experte bei solchen Schwindeleien.“ „Ich habe wissenschaftlich einwandfreie Versuche und Beobachtungen angestellt. Es besteht keine Mög lichkeit, daß es sich um einen Schwindel handelt.“ „Sie hätten mich verständigen sollen, ehe Sie diese 82
Briefe ausgeschickt haben.“ „Das hätte ich vielleicht tun sollen, Dr. Morton, aber wenn ich ehrlich sein soll, so nahm ich an, daß Sie nichts davon halten würden^“ „Vielen Dank, das will ich auch hoffen. Und auf dem Briefpapier unserer Abteilung mußten Sie schrei ben! Ich muß sagen, daß ich wirklich ein wenig über rascht bin, Toomey. Sehen Sie, Toomey, Sie führen Ihr eigenes Leben, Wenn Sie an die Levitation glauben wollen, so ist das Ihre Sache. Aber nur in Ihrer Freizeit. Um den guten Ruf unseres Colleges und unserer Abtei lung zu wahren, muß man solche Dinge sehr streng von unserer wissenschaftlichen Arbeit fernhalten. Nebenbei gesagt, Toomey, mir scheint, Sie haben in der letzten Zeit ziemlich stark abgenommen, oder irre ich mich? Und Sie sehen auch nicht besonders gut aus. An Ihrer Stelle würde ich einmal einen Arzt konsultieren. Vielleicht einen Nervenspezialisten.“ Roger sagte verärgert: „Sie meinen, ein Psychiater wäre das beste?“ „Nun, das ist vollkommen Ihre Angelegenheit. Auf jeden Fall würde etwas Ruhe …“ Das Telefon hatte geläutet, die Sekretärin hatte den Anruf entgegengenommen. Sie sah Dr. Morton bedeutungsvoll an, der daraufhin seinen Anschluß durch einen Knopfdruck einschaltete. Er sagte: „Hallo – ah, Dr. Smithers, ja – m-m-m. · – Ja. – Wen betrifft es? – Ja, zufällig ist er eben bei 83
mir. – Ja. – Ja, sofort.“ Er legte den Hörer wieder auf und sah Roger ge dankenschwer an. „Der Dekan will uns beide sofort sprechen.“ „Weswegen?“ „Das hat er nicht gesagt.“ Er stand auf und schritt auf die Tür zu. „Kommen Sie, Toomey?“ „Ja, Sir.“ Toomey stand langsam auf. Sorgfältig klemmte er seine große Zehe unter die Tischkante, als er auf die Beine kam. * Dekan Smithers war ein schlanker Mann mit einem schmalen, asketischen Gesicht. Zwischen seinen Lippen prangte ein Satz falscher Zähne, die gerade so schlecht paßten, daß sie seinen S-Lauten ein ei genartiges Zischen verliehen. „Schließen Sie die Tür, Miß Bryce“, bat er. „Stel len Sie für die nächste Zeit kein Telefongespräch zu mir durch. Nehmen Sie Platz, meine Herren.“ Er sah die beiden Wissenschaftler unheilverkün dend an und begann zu sprechen: „Ich glaube, wir sollten ohne Umschweife gleich zum Kernpunkt der Sache kommen. Ich weiß nicht genau, was Dr. Too mey in letzter Zeit treibt. Auf alle Fälle aber muß er damit Schluß machen.“ Dr. Morton wandte sich erstaunt zu Roger: „Was 84
haben Sie getrieben?“ Entmutigt zuckte Roger mit den Achseln. „Nichts, wogegen ich etwas tun könnte.“ Er hatte also doch das Mitteilungsbedürfnis der Studenten unterschätzt. „Aber, aber.“ Der Dekan zeigte Ungeduld. „Ich weiß sicherlich nicht allzu viel von der ganzen Ge schichte, aber es scheint mir offensichtlich, daß Sie sich in letzter Zeit mit Varieté-Tricks beschäftigen, mit dummen und kindischen Kunststücken, die abso lut nicht mit der Würde und dem Geist unserer Insti tution vereinbar sind.“ Dr. Morton sagte: „Das verstehe ich nicht.“ Der Dekan legte die Stirn in Falten. „Es scheint, daß Sie also noch nichts gehört haben. Es wird mir ewig unerklärlich bleiben, wie die Fakultät nicht Kenntnis von einer Angelegenheit haben kann, die die Studentenschaft in Aufruhr bringt. So etwas ist mir noch niemals aufgefallen. Ich selbst habe ja nur durch einen Zufall davon gehört; durch einen sehr unwahrscheinlichen Zufall sogar, da es mir gelang, einen Zeitungsmann abzufangen, der heute vormittag ankam, um nach einem Mann zu suchen, den er ,Dr. Toomey, den fliegenden Professor’ nannte.“ „Wie?“ rief Dr. Morton aus. Roger lauschte etwas verstört dieser Unterhaltung. „So nannte der Reporter unseren Dr. Toomey. Ich gebe nur weiter, was ich gehört habe. Anscheinend hat einer unserer Studenten die Zeitung angerufen. 85
Ich habe den Zeitungsmenschen wieder abgewim melt und ließ den Studenten zu mir kommen. Nach seiner Aussage flog – ich verwende das Wort ,flog’ absichtlich; denn der Student bestand darauf, sich so auszudrücken – flog Dr. Toomey ein Treppenhaus hinunter und dann wieder hinauf. Der Student be hauptet, daß es für diesen Vorgang ein Dutzend Zeu gen gibt.“ „Ich bin nur die Treppen hinunter“, murmelte Ro ger. Dekan Smithers wanderte inzwischen unruhig auf seinem dicken Teppich hin und her. Er hatte sich in einen fiebrigen Redefluß hineingesteigert. „Nichts gegen Sie, Toomey. Ich habe absolut nichts gegen Laienkunst. Seitdem ich dieses Amt über nommen habe, kämpfe ich unablässig gegen akade mische Steifheit und falsche Ehrbegriffe. Ich habe immer versucht, die Klassenunterschiede innerhalb der Fakultät aufzuheben und bin durchaus dafür, ein freundschaftliches Verhältnis – innerhalb gewisser Grenzen natürlich – zu den Studenten zu haben. Und so habe ich nichts dagegen, wenn Sie für Ihre Stu denten eine Show aufziehen – aber in Ihren eigenen vier Wänden! Sie werden doch sicher einsehen, wie schlecht es für unser College ist, wenn sich die verantwortungs lose Presse mit uns beschäftigt. Wenn wir erst einmal einen ,Fliegenden Professor’ haben, dann sind die 86
,Fliegenden Untertassen’ auch nicht mehr weit. Falls es Reportern gelingen sollte, sich mit Ihnen in Ver bindung zu setzen, so erwarte ich von Ihnen, daß Sie alle derartigen Gerüchte kategorisch dementieren!“ „Ich verstehe, Dekan Smithers.“ „Ich bin sicher, daß es uns gelingen wird, diesen Zwischenfall ohne bleibenden Schaden hinter uns zu bringen. Ich muß Ihnen mit all dem Gewicht, das mein Amt mir verleiht, verbieten, Ihre – hm – Vor stellung zu wiederholen. Falls es jemals dazu kom men sollte, muß ich Ihren Rücktritt verlangen. Ver stehen Sie mich, Dr. Toomey?“ „Ja“, sagte Roger. „Wenn das so ist, dann auf Wiedersehen, meine Herren.“ * Dr. Morton führte Roger in sein Büro zurück. Dies mal schickte er seine Sekretärin in den Vorraum und schloß sorgfältig die Tür hinter ihr. „Guter Gott, Toomey“, flüsterte er, „hat dieser Wahnsinn irgend etwas mit Ihrem Brief zu tun?“ „Liegt das nicht auf der Hand“, bellte Roger, dem die Nerven durchzugehen drohten. „Ich habe in die sen Briefen auf mich selbst Bezug genommen.“ „Sie können fliegen? Ich meine, Sie beherrschen die Levitation?“ 87
„Wie Sie es auch immer nennen wollen.“ „Ich habe noch niemals einen derartigen … Ver dammt noch mal, Toomey, hat Miß Harroway Sie jemals beobachtet, als Sie schwebten?“ „Nur einmal. Es war nichts als ein unglücklicher Zufall …“ „Natürlich! Jetzt ist mir alles klar. Sie war so hy sterisch, daß ich sie kaum verstehen konnte. Sie sag te, Sie wären auf sie zugesprungen. Es klang, als wollte sie Sie beschuldigen …“ Dr. Morton sah ziemlich verzweifelt aus. „Aber das glaubte ich oh nehin nicht. Sie war eine gute Sekretärin, aber ganz augenscheinlich nicht so gebaut, daß sie die Auf merksamkeit eines jungen Mannes hätte erregen kön nen, verstehen Sie? Ich war in Wirklichkeit einiger maßen erleichtert, als sie kündigte. Ich hatte immer den Eindruck, sie trüge einen kleinen Revolver in der Handtasche. Und vielleicht wäre ich der nächste ge wesen, der – Sie … Sie haben sich levitiert?“ „Ja.“ „Wie bringen Sie das fertig?“ Roger schüttelte den Kopf. „Das ist eben meine Schwierigkeit. Ich weiß es nicht.“ Dr. Morton erlaubte sich ein maliziöses Lächeln. „Sie wollen doch sicherlich nicht die Gesetze der Schwerkraft in Zweifel stellen?“ „Nun – ich glaube schon, daß ich das tun muß. Ir gendwie muß doch Antigravitation da mit hineinspie 88
len.“ Es war deutlich in Dr. Mortons Gesichtszügen zu merken, daß er einigermaßen indigniert war, einen Scherz einen Moment ernst genommen zu haben. Er sagte: „Sehen Sie, Dr. Toomey, darüber sollte man nicht lachen.“ „Lachen! Großer Gott, Dr. Morton, sehe ich so aus, als ob ich die ganze Angelegenheit als Scherz betrachte?“ „Nun – Sie brauchen Urlaub. Das steht außer Zweifel. Wenn Sie sich ein wenig ausruhen, dann wird all dieser Unsinn in einem anderen Licht er scheinen. Dessen bin ich sicher.“ „Es ist kein Unsinn.“ Roger beugte seinen Kopf einen Moment vor und sagte dann mit ruhigerer Stimme: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Dr. Morton. Wollen Sie mir bei dieser Sache helfen? Ich glaube, daß dies in gewisser Hinsicht der Physik neue Horizonte erschließen wird. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich kann einfach zu keinem Ergebnis kommen. Wir beide hingegen …“ Erst jetzt kam Roger der erschreckte Ausdruck in Mortons Gesicht zum Bewußtsein. Roger sagte: „Ich weiß, daß dies alles für Sie fremdartig klingen muß. Aber ich kann es Ihnen ja vorführen. Alles ist vollkommen einwandfrei. Ich wollte, es wäre nicht so.“ „Lassen Sie das“, rief Dr. Morton aus und sprang 89
von seinem Sitz hoch. „Bemühen Sie sich nicht. Sie brauchen dringend Urlaub. Ich glaube nicht, daß Sie bis Juni warten sollten. Gehen Sie gleich nach Hause. Ich werde anordnen, daß Ihr Gehalt pünktlich bei Ihnen eintrifft, und Ihre Vorlesung werde ich selbst übernehmen. Ich habe schon früher darüber gelesen.“ „Dr. Morton. Das ist wichtig!“ „Ich weiß, ich weiß!“ Dr. Morton klopfte Roger auf die Schulter. „Trotzdem, mein Junge. Sie sehen miserabel aus, offen gesprochen, ganz miserabel. Sie brauchen einen ausgedehnten Urlaub.“ „Ich kann levitieren!“ Rogers Stimme erhob sich wieder. „Sie wollen mich nur loswerden, weil Sie mir nicht glauben. Glauben Sie, daß ich Sie anlüge? Warum sollte ich das tun?“ „Sie regen sich ganz unnötig auf, mein Junge. Ich will nur schnell einen Anruf machen. Ich werde je manden verständigen, der sich bei Ihnen zu Hause in aller Ruhe darüber unterhalten kann.“ „Ich sage Ihnen, ich kann levitieren!“ schrie Ro ger. Dr. Morton lief rot an. „Passen Sie auf, Toomey, wir wollen uns jetzt nicht weiter darüber unterhalten. Es kümmert mich absolut nicht, und selbst wenn Sie sich jetzt vor meinen Augen in die Lüfte erheben sollten.“ „Sie wollen damit sagen, daß, was Ihre Person be trifft, das Sehen mit dem Glauben nichts zu tun hat?“ 90
„Levitation? Natürlich nicht!“ Der Direktor der Fakultät brüllte beinahe. „Wenn ich Sie fliegen sähe, würde ich einen Augenarzt oder einen Psychiater auf suchen. Ich würde mich eher für verrückt halten, als zu versuchen, an den Gesetzen der Physik zu rütteln …“ Er hatte sich wieder in der Gewalt, räusperte sich lautstark. „Nun – wie ich schon sagte, wir wollen uns nicht weiter darüber unterhalten. Ich werde nur die sen kleinen Anruf erledigen.“ „Ist nicht notwendig, wirklich nicht notwendig“, sagte Roger. „Ich werde jetzt gehen. Ich trete meinen Urlaub an. Leben Sie wohl!“ Rasch verließ er den Raum. Er bewegte sich jetzt schneller, als er es in den letzten Tagen getan hatte. Dr. Morton war aufgestanden und hatte die Hände flach auf den Tisch gestützt. Er sah Rogers Rücken mit offensichtlicher Erleichterung nach. * Dr. James Sarle wartete im Wohnzimmer, als Roger nach Hause kam. Er zündete gerade seine Pfeife an, als Roger durch die Tür kam. Mit der einen Hand hielt er den voluminösen Pfeifenkopf, mit der ande ren brachte er ein Streichholz zum Verlöschen; sein rötliches Gesicht war zu einem Lächeln verzogen. „Hallo, Roger. Hast du dich von der menschlichen Rasse zurückgezogen? Seit über einem Monat hat 91
man von dir nichts mehr gehört.“ Seine schwarzen Augenbrauen trafen sich über dem schmalen Rücken seiner Nase und verliehen ihm ein etwas strenges Aussehen, das ihm half, die richti ge Stimmung bei seinen Patienten hervorzurufen. Roger wandte sich zu Jane, die in einem Lehnses sel vergraben saß. Wie immer in letzter Zeit, schien ihr Gesicht fast völlige Erschöpfung auszudrücken. Roger sagte: „Warum hast du ihn herbestellt?“ „Halt, mein Freund, halt!“ sagte Sarle. „Niemand hat mich herbestellt. Ich habe heute morgen Jane in der Stadt getroffen und mich einfach selbst eingela den. Ich bin viel stärker als sie. Sie konnte mich nicht loswerden.“ „Du hast sie natürlich nur zufällig getroffen, he? Machst du für alle deine Zufälle Verabredungen?“ Sarle lachte« „Drücken wir es so aus: Sie hat mir etwas von dem erzählt, was hier vor geht.“ Schwach meldete sich Jane zu Wort: „Es tut mir leid, wenn du mit meinem Schritt nicht einverstanden bist, Roger, aber dies war die erste Chance für mich, mit jemandem zu sprechen, der mich vielleicht ver steht.“ „Woher nimmst du an, daß er dich versteht? Was ist, Jim, glaubst du ihre Geschichte?“ Sarle sagte: „Sie ist auf keinen Fall leicht zu glau ben. Das mußt du doch zugeben. Aber ich versuche 92
es.“ „Gut. Nehmen wir einmal an, ich würde fliegen. Nimm an, ich würde mich hier vor deinen Augen in die Luft erheben. Was würdest du tun?“ „Vielleicht in Ohnmacht fallen. Vielleicht würde ich einfach ,Herr im Himmel’ sagen. Vielleicht wür de ich auch in Gelächter ausbrechen. Warum ver suchst du nicht, auf direktem Weg herauszufinden, wie ich reagiere?“ Roger starrte ihn an: „Du willst es wirklich se hen?“ „Warum nicht?“ „Alle, die es bis jetzt gesehen haben, haben ent weder aufgeschrien, sind davongelaufen und vor Schreck erstarrt stehengeblieben. Kannst du es ver tragen, Jim?“ „Ich denke schon.“ „Also gut!“ Roger erhob sich einen halben Meter in die Luft und streckte sich dann zu einem turne risch perfekten Kreuzhang aus. So blieb er in der Luft, die Zehenspitzen dem Boden zugestreckt, die Beine aneinandergepreßt, die Arme in einer bitteren Parodie seiner selbst ausgestreckt. „Vollkommen, nicht wahr, Jim?“ Sarle tat nichts von dem, was er vorher erwähnt hatte. Außer daß er nach seiner herabgefallenen Pfei fe langte, tat er überhaupt nichts. Jane hatte die Augen geschlossen. Langsam quol 93
len stumme Tränen durch ihre Lider. Sarle sagte: „Komm wieder herunter, Roger.“ Roger folgte seiner Bitte. Er setzte sich nieder und sagte: „Ich habe an einige Physiker geschrieben, an Wissenschaftler mit ausgezeichnetem Ruf. Ohne mich selbst zu erwähnen, legte ich ihnen die Situation dar. Ich schrieb, ich sei der Meinung, daß dies untersucht werden müsse. Die meisten von ihnen ignorierten mich einfach. Einer von ihnen schrieb an den alten Morton und fragte an, ob ich verrückt oder ein Gau ner sei.“ „O Roger“, flüsterte Jane. „Das findest du schon schlimm? Heute ließ mich der Dekan in sein Büro bestellen. Ich solle meine Va rietéeinlagen in Hinkunft unterlassen, meinte er. Ich bin einmal auf der Treppe gestolpert und habe mich offensichtlich automatisch durch Levitation in Si cherheit gebracht. Morton sagte, er würde das Ganze nicht einmal glauben, wenn ich direkt vor seinen Augen, durch die Luft schwebte. In diesem Fall be deutet es noch lange nicht, daß Sehen auch Glauben ist, sagte er und befahl mir, Urlaub zu nehmen. Ich werde dieses College nicht mehr betreten.“ „Roger“, sagte Jane, und ihre Augen öffneten sich weit. „Meinst du das im Ernst?“ „Ich kann nicht mehr zurück. Sie machen mich al le krank. Wissenschaftler!“ „Was willst du tun?“ 94
„Ich weiß nicht.“ Roger verbarg das Gesicht in seinen Händen. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Gib mir eine Erklärung, Jim. Du bist der Seelendok tor. Warum wollen sie mir keinen Glauben schen ken?“ „Vielleicht ist das einfach eine Art Selbstschutz, Roger“, sagte Jim langsam. „Die Menschen mögen keine Dinge, die sie nicht verstehen können. Sogar vor einigen Jahrhunderten, als die Menschen wirk lich an die Existenz von paranormalen Eigenschaften glaubten, zum Beispiel an die Möglichkeit, auf ei nem Besenstiel zu reiten, wurde fast unweigerlich angenommen, daß dies nur durch die Kräfte des Bö sen möglich war. Und die Menschen denken das noch immer. Viel leicht glauben sie nicht mehr direkt an den Teufel, aber sie sind noch immer der Meinung, daß das Fremdartige automatisch böse ist. Sie wehren sich dagegen, an die Levitation zu glauben – oder sie er schrecken höllisch, wenn man sie dazu zwingt. So ist es nun einmal; damit muß man sich abfinden.“ Roger schüttelte den Kopf. „Du redest von Durch schnittsmenschen, und ich spreche von Wissen schaftlern.“ „Auch Wissenschaftler sind Menschen.“ „Du weißt, was ich damit sagen will. Ich beherr sche ein Phänomen. Es hat nichts mit Hexerei zu tun. Ich habe keinen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen. 95
Jim, es muß eine natürliche Erklärung geben. Wir wissen bei weitem noch nicht alles, was es über die Schwerkraft zu wissen gibt. In Wirklichkeit wissen wir darüber noch kaum etwas Greifbares. Nimmst du nicht auch an, daß es eben irgendeine biologische Kraft gibt, die der Schwerkraft entgegenwirkt? Oder daß dies zumindest vorstellbar ist? Vielleicht bin ich irgendeine Mutation? Ich besitze – nennen wir es ei nen Muskel –, der imstande ist, die Gravitation auf zuheben. Zumindest kann ich ihre Wirkung auf mei ne eigene Person variieren. Das sind die Tatsachen, die wir untersuchen sollten. Warum die Augen vor dem Offensichtlichen verschließen? Wenn es uns gelingen sollte, die Antigravitation zu finden; stelle dir einmal vor, was es für die Menschheit bedeuten würde?“ „Halt, Roger. Bleib mit den Füßen auf der Erde“, sagte Sarle und kicherte. „Warum bist du unglücklich deswegen? Wenn ich Jane Glauben schenken kann, so warst du am Tag, als es zum erstenmal passierte, beinahe verrückt vor Angst, ehe du noch auf irgend eine Art wissen konntest, daß die Wissenschaft dich nicht beachten würde und daß deine Vorgesetzten dein Treiben alles andere denn gern sehen.“ „Das stimmt“, murmelte Jane. Sarle sagte: „Und warum war das so? Du besitzt plötzlich eine wundervolle, neue Macht, die Freiheit von der hemmenden Last der Schwerkraft.“ 96
Roger sagte: „Sei doch kein Narr. Es war – es war einfach schrecklich. Ich konnte es nicht verstehen, das kann ich immer noch nicht.“ „Genau, mein Junge. Es war etwas, was du nicht verstehen konntest, und daher war es etwas Schreck liches. Du bist Naturwissenschaftler – Physiker. Du weißt, wie das Universum funktioniert. Oder wenn du es nicht weißt, so weißt du doch, daß es jemand weiß. Und selbst wenn noch niemand irgendein Ge setz bis jetzt verstanden hat, so ist es doch sehr wahr scheinlich, daß es einmal entdeckt wird. Der Schlüs sel zu allem ist Wissen. Das ist ein Teil deines Le bens. Und jetzt stößt du mit der Nase auf ein Phäno men, das – so nimmst du an – eine der grundlegen den Tatsachen der Wissenschaft umstößt. Die Wis senschaftler sagen: Zwei Massen ziehen sich mit ei ner bestimmten, mathematisch berechenbaren Kraft an. Das ist eine unwidersprochene Eigenschaft der Materie und des Raumes. Es gibt keine Ausnahme. Und jetzt bist du eine solche Ausnahme.“ „Aber wieso?“ sagte Roger brütend. „Paß einmal auf, Roger“, fuhr Jim Sarle fort. „Zum erstenmal in ihrer Geschichte besitzt die Menschheit Gesetze, die wirklich unwandelbar er scheinen. Und ich meine wirklich unwandelbar! In primitiven Kulturen mag ein Medizinmann diverse Sprüche verwenden, um Regen zu beschwören. Wenn es dann nicht funktionierte, so bedeutete das 97
nicht, daß der Zauber an und für sich nichts wert war. Es hieß nur, daß der Scharlatan irgendeinen Teil der Beschwörungsformel vergessen oder falsch aufge sagt hatte, daß durch ihn vielleicht ein Tabu gebro chen worden war, oder daß er gar einen Gott belei digt hatte, In den modernen theokratischen Kulturen sind die Gebote der Gottheit unwandelbar. Und doch, wenn ein Mann diese Gebote mißachtete und trotz dem Erfolg hatte, so bedeutete das noch lange nicht, daß die in Frage stehende Religion außer Kraft ge setzt wurde. Die Wege der Vorsehung sind für den Menschen dunkel, und irgendeine unsichtbare Be strafung liegt ja doch in der Zukunft. Heute allerdings haben wir Gesetze, die wirklich nicht gebrochen werden können. Und eines von ih nen ist die Existenz der Schwerkraft. Sie funktioniert – selbst wenn der einzelne Mensch vergißt, ununter brochen zu murmeln ,m mal m durch r2!“ Es gelang Roger, ein schwaches Lächeln hervor zubringen. „Du bist vollkommen auf dem Holzweg, Jim. Deine unwandelbaren Gesetze sind immer wie der übertreten worden, Die Radioaktivität zum Bei spiel war theoretisch unmöglich, als man sie entdeck te. Energie, die aus dem Nichts kam und noch dazu vollkommen unmöglich Größenordnungen. Das war damals ebenso lächerlich wie die Levitation.“ „Die Radioaktivität war ein objektiv meßbares Phänomen, das man prüfen und wiederholen konnte. 98
Uran schwärzt in allen Fällen, und für jeden fotogra fische Filme. Eine Wilsonsche Nebelkammer konnte jeder bauen, um darin die Bahnen der Alpha- und Beta-Teilchen zu verfolgen. Du aber …“ „Ich habe versucht, mich mit anderen Wissen schaftlern in Verbindung zu setzen.“ „Das weiß ich. Aber kannst du mir zum Beispiel sagen, wie ich schweben soll?“ „Natürlich nicht.“ „Das ist ein gewisses Hindernis. Deine Kollegen können nur beobachten, ohne selbst experimentieren zu können. Dies stellt deine Levitation auf eine Stufe mit der Entstehung des Weltalls als etwas, worüber man sich gelehrt unterhalten, womit man aber nicht experimentieren kann,“ „Und doch gibt es Wissenschaftler, die ihr Leben der Astrophysik weihen.“ „Wissenschaftler sind Menschen. Sie können die Sterne nicht erreichen, aber sie machen das Beste aus diesem Fehler. Du aber bist in ihrem Bereich. Deine Levitation aber nicht verstehen zu können, wäre für sie uner träglich.“ „Sie haben es aber doch nicht einmal versucht. Du sprichst, als ob man mich schon untersucht hätte. Jim, sie wollen nicht einmal über die Sache nachdenken!“ „Das müssen sie auch nicht. Deine Levitation ge hört zu einer ganzen Gruppe von Phänomen, die man 99
in ihrer Gesamtheit nicht beachtet. Telepathie, Hell sehen und Wahrsagerei und tausend andere Talente, die jenseits unserer fünf Sinne liegen, wurden nie mals sorgfältig untersucht, wenn sie von vollkom men seriösen Quellen berichtet wurden. Rhines Un tersuchungen der Parapsychologie haben die Wissen schaftler weit eher gelangweilt als zur eigenen For schung aufgerüttelt. Du siehst also selbst, daß sie deinen Fall gar nicht erst untersuchen müssen, um zu wissen, daß sie ihn nicht untersuchen wollen. Das wissen sie schon von allem Anfang an.“ „Und das alles macht dir wohl Spaß, Jim? Die Wissenschaftler weigern sich, Tatsachen zu untersu chen; sie wenden der Wahrheit ihren Rücken zu. Und du sitzt einfach hier, grinst und gibst banale Weishei ten von dir.“ „O nein, Roger, ich weiß, daß es sehr ernst ist. Und ich habe auch für dieses Problem keine Patent lösungen bei der Hand. Ich sage dir nur, was ich dar über denke. Aber merkst du nicht, worauf ich hinaus will? Ich versuche, die Sachlage nüchtern zu betrach ten. Und das solltest du auch versuchen. Vergiß dei ne Theorien, deine Ideale, deine Vorstellungen von dem, was die Menschen tun sollten. Betrachte nur, was sie tun. Sobald ein Mensch bereit ist, sich nur die Tatsachen anstatt seiner Vorstellungen vor Augen zu halten, haben viele Probleme die Tendenz, einfach zu verschwinden. Zumindest zeigen sie sich dann in 100
ihrem wirklichen Ausmaß und werden lösbar.“ Roger wetzte unruhig auf seinem Stuhl herum. „Das ist doch nur psychiatrisches Gewäsch. Das er innert mich daran, wenn man einem Kranken die Finger auf die Schläfen legt und sagt: ,Habe nur Mut und Gottvertrauen, und du wirst wieder gesund wer den! Und wenn der arme Teufel dann ins Gras beißt, dann hat er eben nicht genügend Gottvertrauen gehabt. Der Medizinmann kann einfach nicht verlieren.“ „Vielleicht hast du recht. Also gut: Wo liegt nun dein Problem?“ „Kein Katz-und-Maus-Spiel, bitte. Du weißt, wo mein Problem liegt. Wir wollen nicht lange herumre den.“ „Du beherrscht die Levitation. Ist das alles?“ „Nehmen war das einmal an. Es wird uns zumin dest als erster Anhaltspunkt dienen.“ „Du bist nicht ganz ernst, Roger, aber du hast wahrscheinlich recht. Es ist wirklich erst ein An haltspunkt. Schließlich versuchst du ja, dem Problem auf den Grund zu kommen. Jane hat mir erzählt, daß du Experimente angestellt hast.“ „Experimente? Daß ich nicht lache, Jim. Ich expe rimentiere nicht. Ich werde willenlos getrieben. Ich brauchte die besten Gehirne und die beste Ausrü stung. Ich brauche ein ganzes Untersuchungsteam – und das habe ich nicht.“ „Wo liegt dann also dein Problem? Zweiter An 101
haltspunkt.“ Roger sagte: „Ich sehe, was du meinst. Mein Pro blem ist, wie ich zu einem solchen Team komme. Und ich habe es versucht, mein Freund, so sehr, daß ich des Versuchens müde geworden bin.“ „Wie hast du es versucht?“ „Ich habe Briefe geschrieben. Ich habe versucht … Ach, Jim, ich habe nicht die Geduld, mich wie ein Patient auf deiner Couch zu benehmen. Du weißt, was ich probiert habe.“ „Ich weiß, daß du hingegangen bist und gesagt hast: ,Leute, ich habe ein Problem, los, helft mir.’ Hast du sonst etwas unternommen?“ „Schau, Jim, ich habe es mit reifen Wissenschaft lern zu tun.“ „Das weiß ich. Und daraus schließt du nun, daß ein einfacher Wunsch ausreichend sein müßte. Und wieder einmal stimmt die Theorie nicht mit der Pra xis überein. Ich habe dir die Schwierigkeiten darge legt. Wenn du an einer Straße per Autostopp reisen willst, so stellst du offen deinen Wunsch dar, aber trotzdem fahren die meisten Wagen an dir vorbei. Und jetzt stehst du vor der Tatsache, daß dein offen geäußerter Wunsch nicht zum Ziel geführt hat. Was ist also dein Problem? Der dritte Anhaltspunkt.“ „Ich muß also eine andere Möglichkeit finden, die nicht versagt? Ist es das, was du sagen willst?“ „Du hast es gesagt, oder?“ 102
„Ich bin also daraufgekommen, ohne daß du es ausgesprochen hast.“ „Hm? Du bist bereit, deine Karriere zu beenden, deinen Beruf aufzugeben, der Wissenschaft zu entsa gen. Wo ist deine Widerstandskraft, Rog? Gibst du ein Problem auf, wenn das erste Experiment fehl schlägt? Gibst du auf, weil sich eine Theorie als un richtig herausstellt? Dieselbe Philosophie der Expe rimentalphysik, die sich auf unbelebte Objekte an wenden läßt, sollte doch auch bei Menschen funktio nieren.“ „Also gut. Was schlägst du vor? Was soll ich als nächstes versuchen? Bestechung? Drohungen? Trä nen?“ James Sarle stand auf. „Willst du wirklich einen Rat?“ „Los!“ „Dann tu, was Dr. Morton vorgeschlagen hat. Ma che einmal Urlaub, richtige Ferien, und zum Teufel mit der Levitation. Das ist ein Problem für die Zu kunft. Schlafe in deinem Bett, ob du nun schwebst oder nicht schwebst. Was soll’s denn? Kümmere dich nicht darum, ignoriere dein Talent oder lache sogar darüber. Oder freue dich darüber. Mach alles, nur mach dir keine Sorgen; denn es ist nicht dein Problem. Und das ist der Kernpunkt. Die Levitation ist nicht unmittelbar dein Problem. Verbringe deine Zeit damit, zu überlegen, wie du die Wissenschaft 103
dazu bringen kannst, sich mit etwas zu beschäftigen, womit sie sich nicht beschäftigen will. Das ist dein Problem – und darüber hast du bisher noch nicht nachgedacht.“ Sarle ging zum Flurschrank und nahm seinen Mantel. Roger ging mit ihm. Einige Minuten vergin gen in vollkommener Stille. Dann sagte Roger, ohne aufzublicken: „Vielleicht hast du recht.“ „Vielleicht. Versuche es und sag es mir dann. Leb wohl, Roger.“ * Roger Toomey öffnete die Augen und blinzelte in die morgendliche Helle des Schlafzimmers. Er rief aus: „He, Jane, wo bist du?“ Janes Stimme antwortete: „In der Küche. Was glaubst du denn?“ „Komm zu mir.“ Sie kam herein. „Der Speck dreht sich nicht von selbst in der Pfanne um.“ „Bin ich heute nacht wieder geschwebt?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe geschlafen.“ „Du bist mir vielleicht eine schöne Hilfe!“ Er stieg aus dem Bett und fuhr mit den bloßen Füßen in die Pantoffeln. „Aber ich glaube nicht.“ „Glaubst du, daß du vergessen hast, wie es geht?“ 104
Eine plötzliche Hoffnung lag in ihrer Stimme. „Ich habe es nicht vergessen. Paß auf!“ Wie auf einem Luftpolster glitt er in das Speisezimmer. „Ich hatte einfach in den letzten drei Nächten nicht das Gefühl, geschwebt zu sein.“ „Das freut mich“, sagte Jane. Sie hatte sich wieder an den Herd gestellt. „Der Monat Ruhe hat dir gut getan. Wenn ich Jim gleich am Anfang gerufen hätte …“ „Bitte, laß das. Es ist weniger der Urlaub, ich weiß nur seit letztem Sonntag, was ich unternehmen werde. Seit diesem Moment bin ich entspannt. Das ist es.“ „Und was wirst du unternehmen?“ „Jedes Frühjahr findet am Northwestern Technical College ein Seminar statt. Ich werde daran teilneh men.“ „Du willst nach Seattle?“ „Natürlich.“ „Worüber wird man diskutieren?“ „Das ist egal. Ich will Linus Deering sehen.“ „Aber das ist doch der, der dich verrückt genannt hat?“ „Das ist er“, sagte Roger und nahm sich eine Ga bel voll mit Speck und Eiern. „Aber er ist außerdem der beste Mann unter den Wissenschaftlern.“ Er langte nach dem Salz und erhob sich dabei ei nige Zentimeter von seinem Sessel, ohne sich darum zu kümmern. 105
Er sagte: „Ich denke, ich weiß jetzt, wie ich mit ihm umgehen werde.“ * Seit Linus Deering am Institut war, gelangten die Seminare des Northwestern Technical College zu nationaler Geltung. Er leitete die Sitzung, stellte die einzelnen Redner vor, führte bei den Fragestunden den Vorsitz und war der Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins nach den Sitzungen. Davon wußte Roger durch viele Berichte. Jetzt konnte er diesen Mann persönlich beobachten. Pro fessor Deering war etwas unter der Durchschnitts größe, hatte eine dunkle Hautfarbe und lockiges, braunes Haar. Wenn – was selten vorkam – sein brei ter, schmallippiger Mund nicht in eine Diskussion verwickelt war, trug er immer die Andeutung eines Lächelns zur Schau. Deering sprach schnell und flie ßend, ohne ein Manuskript zu benutzen, und gab sei ne Kommentare immer ein wenig von oben herab, was aber niemanden zu stören schien. Zumindest am ersten Vormittag des Kongresses war dies so. Wäh rend der Nachmittagsstunden hingegen bemerkten die Hörer ein gewisses Zögern in seiner Stimme. Immer wieder wanderte sein Blick in die hinteren Bankreihen des Saales. Roger Toomey hatte in der letzten Reihe Platz ge 106
nommen und beobachtete alle Vorgänge mit ange spannter Aufmerksamkeit. Als er einen Weg gefun den zu haben glaubte, all seine Schwierigkeiten zu einem Ende zu bringen, hatte sich in ihm ein ent spanntes Gefühl breitgemacht, das nun allmählich wieder zu schwinden begann. Im Zug hatte er nicht schlafen können. Er stellte sich vor, er würde sich von seinem Sitz erheben, leise auf den Gang hinausschweben und durch die erschreckten Schreie eines Trägers aufgeweckt werden. Mit einer Sicherheitsnadel versuchte er, die Vorhänge zu ver schließen, aber das half auch nichts. Außer einigen un befriedigenden Nickerchen fand er keine Ruhe. Am späten Abend kam er in Seattle mit steifem Genick, schmerzenden Knochen und miserabler Stimmung an. Sein Entschluß, das Seminar zu besuchen, war zu spät gekommen, so daß er im Institut selbst kein Zimmer mehr bekommen hatte. Es stand ja auch au ßer Frage, daß er in einem Doppelzimmer hätte schlafen können. Er buchte ein Zimmer in einem Vororthotel, versperrte sorgfältig die Tür, schloß alle Fenster, schob sein Bett gegen die Wand, den Schreibtisch an die offene Seite – dann schlief er. Als er aufwachte, lag er noch immer in seinem provisorischen Verschlag. Er konnte sich an keine Träume erinnern. Er fühlte sich erleichtert. Als er ziemlich zeitig im Physiksaal des Instituts ankam, fand er ihn wie erwartet, ziemlich leer. Das 107
Seminar wurde traditionell über Ostern abgehalten, daher waren auch keine Studenten anwesend. Die kleine Versammlung von vielleicht fünfzig Wissen schaftlern hatte sich zu beiden Seiten des Mittelgan ges angesammelt. Roger setzte sich in die letzte Reihe, wo er von den zufälligen Blicken der an den Fenstern vorbeige henden Kollegen sicher war. Die anderen Teilnehmer der Sitzung mußten ihre Köpfe um hundertachtzig Grad drehen, um nach ihm zu sehen. Die Ausnahme waren der Redner am Podium – und Professor Deering. Kaum folgte er den Vorträgen. Gespannt wartete er auf den Augenblick, da nur noch Deering am Po dium stand und ihn sehen konnte. Während Deering offensichtlich immer verwirrter sprach, wurde Roger immer dreister. Während Dee ring die Ergebnisse des Nachmittags zusammenfaßte, schlug er zu. Professor Deering unterbrach sich inmitten eines vollkommen sinnlosen Satzes, seine Zuhörer, die be unruhigt auf ihren Sitzen hin und her gerutscht wa ren, starrten ihn an. Deering hob die Hand und stieß dann schwer at mend hervor: „Sie! Sie da hinten!“ Vollkommen entspannt hatte Roger Toomey dage sessen – mitten im Gang. Der Stuhl unter ihm be stand aus siebzig Zentimeter leerer Luft. Seine Beine 108
hatte er auf die Armlehnen eines ebenfalls aus Luft bestehenden Sessels gelegt. Im selben Augenblick, in dem Deering auf ihn zeigte, glitt er zur Seite, und als sich fünfzig Gesich ter ihm zugewandt hatten, saß er auf einem ganz ge wöhnlichen hölzernen Stuhl. Roger sah sich unschuldig um; dann stand er auf. „Meinen Sie mich, Professor Deering?“ fragte er. Nur ein leichtes Zittern in seiner Stimme verriet, wie sehr er sich beherrschen mußte. „Was treiben Sie?“ explodierte Deering. Die ganze Anspannung des Tages machte sich Luft. Einige Zuhörer waren aufgestanden, um besser se hen zu können. Eine unerwartete Wendung wird von Physikern ebenso begrüßt wie von den Besuchern eines Fußballspiels. „Ich treibe nichts“, sagte Roger. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ „Gehen Sie hinaus. Verlassen Sie diesen Raum!“ Deering war außer sich – sonst hatte er so etwas niemals gesagt. Auf jeden Fall ergriff Roger die Ge legenheit. Er sagte laut und deutlich über das auf kommende Gemurmel hinweg: „Ich bin Professor Roger Toomey vom Carson College. Ich bin Mit glied der Amerikanischen Physikalischen Gesell schaft. Ich habe um Mitgliedschaft bei diesem Kon greß nachgesucht, wurde angenommen und habe meinen Beitrag bezahlt. Ich sitze hier, so wie es mein 109
Recht ist, und ich werde es auch weiterhin tun.“ Deering sagte nur erstickt: „Hinaus!“ „Nein!“ sagte Roger. Er zitterte in künstlicher Wut. „Warum soll ich den Saal verlassen? Was habe ich verbrochen?“ Mit unsicherer Hand fuhr sich Deering durch die Haa re. Er war unfähig, eine passende Antwort zu finden. Roger nützte seinen Vorteil aus: „Wenn Sie mich ohne jeglichen Grund aus der Sit zung entfernen wollen, so werde ich mich an geeig neter Stelle beschweren.“ Deering sagte überhastet: „Hiermit erkläre ich die erste Sitzung unseres Seminars für beendet. Morgen früh beginnen wir um neun Uhr.“ Noch während Deering sprach, verließ Roger den Raum und eilte aus dem Institut. * Am späten Abend klopfte es an Rogers Tür. Über rascht erstarrte er in seinem Sessel. „Wer ist da?“ fragte er. Die Antwort kam leise und hastig: „Kann ich Sie sprechen?“ Es war Deerings Stimme. Natürlich hatte Roger sowohl sein Hotel als auch die Zimmernummer bei der Sekretärin im Institut hinterlassen. Roger hatte gehofft, wenn er es auch nicht erwartet hatte, daß die 110
Ereignisse des Tages den Verlauf der Dinge be schleunigen würden. Er öffnete die Tür und sagte steif: „Guten Abend, Professor Deering.“ Deering trat ein und sah sich um. Er trug einen leichten Mantel, dein er nicht ablegte. Er drehte sei nen Hut in der Hand. Er sagte: „Sie sind Professor Roger Toomey vom Carson College. Stimmt das?“ Er sprach diese Worte bedeutungsvoll. „Ja. Nehmen Sie Platz, Professor.“ Deering blieb stehen. „Was soll das Ganze? Wor auf sind Sie aus?“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Das können Sie mir nicht einreden. Sie vollfüh ren solche lächerlichen Tricks nicht ohne Grund. Wollen Sie mich zum Narren halten? Ich möchte Ih nen ein für allemal klarmachen, daß das bei mir nicht zieht. Und versuchen Sie nicht, Gewalt anzuwenden. Freunde von mir wissen genau, daß ich jetzt bei Ih nen bin. Ich verlange, daß Sie mir die Wahrheit sa gen und dann die Stadt verlassen.“ „Professor Deering. Dies ist mein Zimmer. Wenn Sie mich erpressen wollen, so muß ich Sie bitten, den Raum zu verlassen. Und wenn Sie das nicht freiwil lig tun, lasse ich Sie hinauswerfen!“ „Haben Sie die Absicht, diese – diese Verfolgung fortzusetzen?“ 111
„Ich habe Sie nicht verfolgt. Ich kenne Sie ja kaum, Sir.“ „Sind Sie nicht jener Dr. Toomey, der mir einen Brief über Levitation geschrieben hat und mich darin bat, mich damit zu beschäftigen?“ Roger starrte den Mann an. „Von welchem Brief sprechen Sie?“ „Wollen Sie das abstreiten?“ „Selbstverständlich. Worüber sprechen Sie? Ha ben Sie den Brief?“ Professor Deerings Lippen preßten sich zusammen. „Lassen wir das. Leugnen Sie auch, daß Sie sich heu te nachmittag an Drähten aufgehängt haben?“ „Drähten? Ich kann Ihnen nicht folgen.“ „Sie sind geschwebt!“ „Würden Sie mich jetzt bitte verlassen, Professor Deering? Ich fürchte, daß Sie sich nicht ganz wohl fühlen.“ Der Physiker hob die Stimme: „Wollen Sie leug nen, daß Sie geschwebt sind?“ „Ich glaube, Sie sind wahnsinnig. Wollen Sie be haupten, daß ich Zauberkunststücke im Hörsaal auf geführt habe? Ich habe diesen Raum niemals zuvor betreten, und als ich heute vormittag eintraf, waren Sie bereits anwesend. Haben Sie Drähte oder etwas Ähnliches gefunden, nachdem ich den Raum ver ließ?“ „Ich weiß nicht, wie Sie es gemacht haben, und es 112
kümmert mich auch nicht. Leugnen Sie, daß Sie ge schwebt sind?“ „Natürlich.“ „Aber ich habe Sie doch gesehen. Warum lügen Sie?“ „Sie sahen mich schweben? Können Sie mir viel leicht sagen, wie das möglich sein soll? Sie wissen genug von der Gravitation, um behaupten zu können, daß Levitation sinnlos ist, wenn man vom freien Raum absieht. Wollen Sie mich vielleicht zum Nar ren halten?“ „Großer Gott“, schrie Deering mit schriller Stim me, „warum sagen Sie nicht die Wahrheit?“ „Aber das tue ich doch. Glauben Sie vielleicht, daß ich mich, sobald ich nur die Hand ausstrecke – etwa so – in die Luft erheben kann?“ Und Roger schwebte in die Höhe, bis seine Haare die Decke be rührten. Deerings’ Kopf schnellte in den Nacken. „Ah – da!“ Roger kehrte auf den Fußboden zurück. Er lächel te: „Das können Sie einfach nicht ernst meinen.“ „Sie haben es wieder gemacht – eben!“ „Was?“ „Sie sind geschwebt. Eben sind Sie geschwebt. Das können Sie nicht leugnen.“ Rogers Augen nahmen einen besorgten Ausdruck an. „Ich glaube, Sir, Sie sind nicht ganz normal.“ „Ich weiß doch, was ich gesehen habe.“ 113
„Vielleicht brauchen Sie Ruhe. Überarbeitung …“ „Es war keine Halluzination!“ „Wollen Sie etwas trinken?“ Roger ging zu seinem Koffer, Deering beobachtete seine Schritte mit her vorquellenden Augen. Seine Sohlen blieben immer einige Zentimeter über dem Boden. Deering sank in den Stuhl, in dem früher Roger gesessen hatte. „Ja, bitte“, sagte er schwach. Roger gab ihm die Whiskyflasche, beobachtete, wie er trank. „Wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Passen Sie auf“, fing Deering wieder an. „Haben Sie vielleicht einen Weg gefunden, die Schwerkraft zu neutralisieren?“ Roger starrte sein Gegenüber an: „Fassen Sie sich, Professor. Wenn ich die Anti gravitation beherrschte, so würde ich nicht hier mit Ihnen herumalbern. Ich wäre längst in Washington. Ich wäre ein Militärgeheimnis – ich wäre – nun, ich wäre nicht hier. Das liegt doch auf der Hand.“ Deering sprang auf. „Haben Sie die Absicht, den kommenden Sitzungen beizuwohnen?“ „Natürlich!“ Deering nickte, setzte seinen Hut auf und eilte aus dem Zimmer. * 114
In den nächsten drei Tagen besuchte Deering das Seminar nicht, ohne daß ein Grund für seine Abwe senheit angegeben wurde. Zwischen Hoffnung und Furcht hin und her gerissen, versuchte Roger Too mey, nicht aufzufallen, was ihm nicht vollständig gelang, da er durch Deerings öffentlichen Angriff zu einer Art von David-kontra-Goliath-Popularität ge langt war. Am Donnerstagabend kehrte Roger nach einem nur mittelmäßigen Abendessen in sein Hotel zurück. Er hatte noch keinen Schritt in sein Zimmer getan, als ihn ein Fremder ansprach, der mit Deering in sei nem Zimmer saß. „Kommen Sie herein, Toomey!“ Roger machte die Tür hinter sich zu. „Was soll das?“ Der Fremde öffnete seine Brieftasche und zeigte ihm einen Ausweis in einem Zellophanumschlag. „Cannon vom FBI.“ Roger sagte: „Ich nehme an, Sie haben gute Ver bindungen zur Regierung, Professor Deering.“ „Es geht“, sagte Deering. „Bin ich verhaftet? Was habe ich verbrochen?“ „Lassen wir das“, sagte Cannon. „Wir haben uns ein wenig über Sie erkundigt, Toomey. Ist das Ihre Unterschrift?“ Er hielt den Brief zu weit von Roger weg, als daß er ihn hätte ergreifen können. Es war das Schreiben, 115
das er an Deering, und das dieser an Morton ge schickt hatte. „Ja“, sagte Roger. „Was ist mit diesen?“ Der Agent hielt einige Pa piere in der Hand. Roger hatte den Eindruck, daß man alle Briefe, die er damals verschickt hatte, eingesammelt hatte, wenn man von denen absah, die gleich in den Abfall ge wandert waren. „Ich habe sie geschrieben“, sagte er schwach. Deering stieß lautstark Luft durch die Nase. Cannon sagte: „Professor Deering hat uns darüber informiert, daß Sie schweben können.“ „Schweben? Was, zum Teufel, meinen Sie damit: schweben?“ „In der Luft frei schweben“, sagte Cannon beharr lich. „Glauben Sie an solchen Unsinn?“ „Ich bin nicht hier, um zu glauben oder nicht zu glauben, Dr. Toomey“, sagte Cannon. „Ich bin Be amter der Vereinigten Staaten von Amerika, und ich habe einen Auftrag. Ich würde an Ihrer Stelle mitar beiten.“ „Wie kann ich bei solch einer Sache mitarbeiten? Wenn ich zu Ihnen käme und behauptete, Professor Deering könne frei in der Luft schweben, so würden Sie mich unverzüglich auf die Couch eines Psychia ters bringen.“ 116
Cannon sagte: „Professor Deering wurde auf sei nen eigenen Wunsch von einem Psychiater unter sucht. Auf alle Fälle hat sich die Regierung in den letzten Jahren angewöhnt, auf ihn zu hören. Außer dem muß ich Ihnen mitteilen, daß wir andere, unab hängige Zeugenberichte besitzen.“ „Zum Beispiel?“ „Einige Studenten Ihres Colleges haben Sie schweben sehen. Ebenfalls eine ehemalige Sekretärin Ihrer Abteilung. Wir haben unterschriebene Aussa gen.“ „Aussagen?“ sagte Roger. „Können Sie diese viel leicht dem Kongreß vorlegen?“ Professor Deering unterbrach: „Dr. Toomey, was gewinnen Sie durch Ihr Leug nen? Sogar Ihr eigener Dekan gibt zu, daß Sie so et was vollbringen können. Er hat mich informiert, daß Sie mit Ende des Jahres aus dem Lehrkörper aus scheiden. Solch einen Schritt würde er nicht ohne Grund unternehmen.“ „Das ist unwichtig.“ „Aber warum geben Sie nicht zu, daß Sie schwe ben können?“ „Warum sollte ich?“ Cannon sagte: „Ich möchte darauf hinweisen, daß eine Vorrichtung, die der Schwerkraft entgegenwir ken kann, von großer Bedeutung für Ihr Land wäre.“ „Wirklich? Ich nehme an, Sie haben meine Ver 117
gangenheit nach verdächtigen Verbindungen ins Ausland durchleuchtet.“ „Diese Untersuchung“, sagte der FBI-Agent, „ist noch im Gange.“ „Also gut“, sagte Roger. „Nehmen wir einmal ei nen theoretischen Fall an. Stellen Sie sich vor, ich gäbe zu, schweben zu können. Nehmen wir weiter an, ich wüßte nicht, wie ich es mache. Nehmen wir an, ich hätte der Regierung nichts zu bieten außer meinem Körper und einem unlösbaren Problem.“ „Woher wollen Sie wissen, daß es unlösbar ist?“ fragte Deering erregt. „Ich habe Sie einmal gebeten, sich mit einem sol chen Problem zu beschäftigen“, sagte Roger freund lich. „Sie haben es abgelehnt.“ „Vergessen Sie das. Passen Sie auf“, sprach der Professor eindringlich. „Sie haben doch momentan keine Stelle. Ich kann Ihnen eine Stellung als Phy sikprofessor bei mir anbieten. Sie werden nicht viel unterrichten müssen. Wir wenden uns mit aller Kraft dem Problem der Levitation zu. Nun – wie steht’s?“ „Das klingt verlockend“, sagte Roger. „Ich glaube auch, daß unerschöpfliche Mittel der Regierung zur Verfügung stehen werden.“ „Und was muß ich tun? Nur zugeben, daß ich die Levitation beherrsche?“ „Das weiß ich schon. Ich habe Sie gesehen. Ich möchte, daß Sie es Mr. Cannon vorführen.“ 118
Rogers Beine bewegten sich in die Höhe, und er streckte sich auf einer Ebene mit Cannons Kopf in der Luft aus. Er drehte sich zur Seite und schien sich am rechten Ellbogen abzustützen. Cannon ließ sich nach hinten auf das Bett fallen. Er schrie; „Er schwebt!“ „Sehen Sie es, Mann?“ „Ich sehe es.“ „Dann legen Sie es in Ihrem Bericht nieder. Ma chen Sie eine vollständige Aufzeichnung. Jetzt wer den sie nicht mehr sagen, daß ich nicht ganz in Ord nung bin. Ich habe es vom ersten Moment an ge glaubt.“ Aber er wäre kaum so glücklich gewesen, wenn dies der Wahrheit entsprochen hätte. * „Ich weiß nicht einmal, welches Klima Seattle hat“, klagte Jane, „und ich hätte noch soviel zu erledigen.“ „Brauchst du Hilfe?“ fragte Jim Sarle von seinem bequemen Lehnsessel aus. „Nichts, wobei du helfen könntest. Oh, Liebling!“ rief sie aus und flog aus dem Zimmer – aber, im Ge gensatz zu ihrem Mann, nur im übertragenen, Sinn. Roger Toomey kam herein. „Jane, wo sind die Ki sten für die Bücher? Hallo, Jim. Wie bis du denn he reingekommen? Und wo ist Jane?“ 119
„Ich bin vor einer Minute gekommen. Jane ist ne benan. Ich mußte mich erst mit der Polizei herum schlagen, ehe ich in dein Haus hereinkam. Mann, die passen vielleicht auf dich auf.“ „Hm“, machte Roger abwesend. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dich durchlassen.“ „Das weiß ich. Sie haben mir sogar einen Eid ab genommen, damit ich den Mund halte. Dabei wäre dies sowieso Berufsgeheimnis gewesen. Warum läßt du nicht die Arbeiter die Packerei besorgen? Der Staat zahlt es sowieso, oder?“ „Die Arbeiter würden alles falsch machen“, sagte Jane und warf sich aufs Sofa. „Jetzt werde ich einmal in Ruhe eine Zigarette rauchen.“ „Erzähle mir doch einmal, wie das vor sich gegan gen ist, Roger?“ bat Sarle. „Du hattest recht“, lächelte Roger. „Ich habe mich einfach auf das wichtigste Problem konzentriert. Nach offizieller Ansicht war ich entweder verrückt oder ein Gauner. Nun nahm ich an, was passieren würde, sobald ich ihnen zeigte, daß ich levitieren kann. Morton meinte, entweder müßte ich dann schwindeln, oder der Zeuge müsse verrückt sein. Er sagte, er würde eher an seinem Verstand zweifeln als die Tatsachen anerkennen. Natürlich war das nur Rhetorik. Kein Mensch zweifelt aber an seinem Verstand, wenn es noch den geringsten Ausweg gibt. Darauf habe ich vertraut. 120
So änderte ich die Taktik. Ich besuchte Deerings Seminar. Ich sagte ihm nicht einfach, daß ich schwe ben könnte, ich zeigte es ihm und leugnete es dann ab. Die Alternative war eindeutig. Entweder log ich, oder er – nicht ich – er war verrückt. Sicherlich wür de er eher an die Levitation als an den eigenen Wahnsinn glauben. Sein Handeln, seine Reise nach Washington, sein Angebot, mir einen Job zu geben, das alles tat er nur, um seine eigene geistige Gesund heit zu beweisen, nicht um mir zu helfen!“ Sarle sagte: „Mit anderen Worten – du hast deine Levitation zu seinem Problem gemacht.“ Roger sagte: „Hattest du das bei unserer Unterre dung schon im Sinn, Jim?“ Sarle schüttelte den Kopf. „Ich hatte ungefähr eine Vorstellung. Aber ein Mensch muß seine Probleme selbst lösen, wenn es wirklich eine Lösung sein soll. Glaubst du, daß man jetzt das Prinzip der Levitation entdecken wird?“ „Ich weiß nicht, Jim. Ich kann meine subjektiven Eindrücke noch immer nicht weitergeben. Aber das macht nichts. Wir arbeiten daran – und das ist wich tig.“ Er schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche. „Was mich betrifft, so ist nur wesent lich, daß ich sie gezwungen habe, mir zu helfen.“ „Ist es das?“ fragte Jim Sarle sanft. „Ich würde eher sagen, das Wesentliche ist, daß du sie dazu ge bracht hast, daß du ihnen helfen darfst – und das ist etwas völlig anderes.“ 121
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Die Insel der Toten
von W.W.Shols „Mensch, Brixon, reiß dich zusammen! Es ist noch nicht aller Tage Abend.“ Derricks Worte klangen hart, aber sein Blick flehte den anderen geradezu an. „Es ist erst aus, wenn einer von uns abbaut.“ Die Verzweiflung in Brixons Augen verschwand hinter einem nervösen Blinzeln. Seine Hand fuhr in hektischer Bewegung über die Stirn, als wolle er da mit die Angst vertreiben, „Entschuldige, Derrick! Ich glaube, die Nerven sind mit mir durchgegangen.“ Derrick grinste schon wieder. „Und ich war bis heute der Meinung, daß du überhaupt keine hast.“ „Man kann sich eben täuschen“, versuchte Brixon, seinen Schwächeanfall zu rechtfertigen und starrte mißtrauisch auf den Bildschirm. Vor den Bug des havarierten Raumschiffes hatte sich ein Planet geschoben. Ein Planet der Sonne An tares, eine für die Menschen unbekannte Welt, die die Rettung oder das Ende bedeuten konnte. „Was willst du jetzt tun?“ wollte Brixon wissen. „Landen und den Antrieb wieder zusammenflik ken.“ Angesichts der Schwierigkeit des Vorhabens hörte 123
sich Derricks Antwort beinahe naiv an. Doch was blieb ihm anderes übrig als dieser nüchterne Pathos? Von der Verzweiflung hielt er nicht viel, bevor nicht die letzte Rettungsmöglichkeit dahin war. Und davon konnte trotz des Loches im Heck keine Rede sein. Eine Reparatur im freien Raum war in dem Au genblick illusorisch geworden, als sie in den Anzie hungsbereich des Planeten gerieten. Denn sie hätten aussteigen und von außen an das Leck herankommen müssen. Aber wenn die Landung glückte, wenn der Planet eine brauchbare Atmosphäre und eine erträg liche Gravitation hatte, mußte die Sache nicht unbe dingt schiefgehen. „Kannst du mal messen, wie groß der Brocken ist?“ fragte Derrick. „Ich bin gerade dabei“, nickte Brixon, der sich an scheinend wieder völlig in der Gewalt hatte. Er las die notwendigen Angaben von den Meßinstrumenten ab und kritzelte ein paar Zahlen aufs Papier. Nach zwei Minuten hob er den Kopf. „Durchmesser 36 000 Kilometer, Dichte in bezug auf die Erde 1,54, in bezug auf Wasser 2,97. Atmo sphäre vorhanden. Druck an der Oberfläche 890 Mil limeter. 27 Prozent Sauerstoff, 71 Prozent Stickstoff, Rest Edelgase,“ Derrick sah aus, als wolle er vor Freude in die Luft springen. „Mensch, das ist doch ideal! Die Gewichtsverhält 124
nisse dürften demnach auch so ziemlich in Ordnung sein. Oder …?“ „Eins Komma fünf zu eins. Bei deinen guten acht zig Kilo wirst du immerhin zweieinhalb Zentner schleppen müssen.“ Derrick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das sind kleine Fische, mein Junge. Ich habe schon einmal drei Tage lang an die zweihundert Kilo gewo gen, damals, als wir das Theater mit den Separatisten von den Plejaden hatten. Das war eine gute Gymnastik für meine Muskeln und hat mir nicht geschadet.“ Wenn Derrick von seinen Abenteuern sprach, hat te man stets die Gewißheit, daß er schon mit den schwierigsten Situationen fertig geworden war. Und wer ihn kannte, wußte, daß ihm das Aufschneiden nicht lag. Als das Schiff die erste Berührung mit der Atmo sphäre hatte, fuhr er die Tragflächen aus. Wenn sein guter Stern ihn jetzt nicht verließ, mußte mit einigen Bremsstößen aus den Bugrohren eine Notlandung gelingen. Sie gelang so gut, wie man es sich auf einem fremden, unbekannten Planeten nicht besser wün schen konnte. Freilich war die Hülle des Schiffes etwas ins Schwitzen geraten – man hätte jetzt in wenigen Se kunden ein Spiegelei darauf braten können; außer dem hatte sich die Kiste wegen ihres defekten An 125
triebs nicht dazu bewegen lassen, auf dem Heck auf zusetzen, sondern sich eigenwillig auf den Bauch gelegt. Das alles hinderte die beiden Schiffbrüchigen aber nicht daran, erleichtert aufzuatmen. Die Hitze draußen war tropisch. Sie betrug fünf unddreißig Grad Celsius und stand wie flimmerndes Glas über der rötlichen Ebene. Brixon stürzte sofort durch die Luftschleuse nach draußen und machte die ersten mißtrauischen Atem züge. „Komm ‘raus, Derrick! Hier kannst du deine Lun ge auf Vorrat vollpumpen. Es ist eine Sünde, daß in dieser gesegneten Atmosphäre kein Lebewesen zu Hause ist.“ „Bist du davon so sehr überzeugt?“ „Na, siehst du jemanden? Hier scheint sich ja nicht einmal der Wind zu bewegen.“ „Aber drüben am Horizont steht ein Wald. Wenn sich hier kein organisches Leben entwickelt hat, fres se ich eine Antriebsdüse quer!“ „Guten Appetit!“ Die Untersuchung des Schadens ergab, daß die Reparatur des Schiffes mit eigenen Mitteln ohne wei teres durchgeführt werden konnte. Sie brachten einen Satz Antigravplatten zu Boden, mit denen sie durch eine entsprechende Einstellung die Massenanziehung des Planeten nach Belieben mindern oder sogar ganz aufheben konnten. Auf diese Weise war es auch kei 126
ne Schwierigkeit, das ausgebesserte Raumschiff trotz seiner zweihundertfünfzig Tonnen Gewicht innerhalb von zwei Erdstunden wieder aufzurichten. Als die beiden Männer ihre Arbeit getan hatten, ließen sie sich im Schatten des Rumpfes nieder, um die knurrenden Mägen zu beruhigen. „Essen wir eigentlich Frühstück, zu Mittag oder zu Abend?“ wollte Brixon wissen. „Eine dümmere Frage kann ein Astronavigator wohl kaum stellen“, wich Derrick aus. „Sieh dir doch das Tagesgestirn an!“ „Mein Gott! Ich hatte heute wahrhaftig andere Sorgen, als für diesen Planeten einen Kalender einzu richten. Zudem weiß ich nicht, ob die hiesigen Ein wohner mit meinen Honorarforderungen einverstan den wären.“ „Ich gratuliere deinem Humor zu seiner Auferste hung. Aber du selbst warst doch schließlich neugie rig. Wie ich mit einem Seitenblick festgestellt habe, hat Antares jetzt in sechs Stunden kaum mehr als zwanzig Grad zurückgelegt.“ „Schönen Dank für deine Aufmerksamkeit. Dem nach dauert hier ein Tag etwa viermal solange wie auf unserer Erde.“ „Das habe ich inzwischen auch herausgefunden.“ „Wenn du mich ärgern willst, strafe ich dich mit Schweigen. Übrigens, wollen wir nicht einen Ver dauungsspaziergang machen?“ 127
„Vielen Dank! Zunächst fühle ich mich hier im Schatten auf den Antigravs ganz wohl. Mein norma les Erdgewicht ist mir immer noch am sympathisch sten.“ „Aber so ein Spaziergang trainiert die Muskeln. Du hast es selbst gesagt.“ „Freilich, zudem wäre es ein lohnender Anblick, dich als Zweieinhalbzentnerathleten daherstapfen zu sehen. Gute Nacht! Ich halte jetzt meinen Mittags schlaf.“ Ehe Brixon antworten konnte, markierte der ande re ein erschütterndes Schnarchen. Resigniert ließ sich der Astronavigator schließlich auf seiner Platte nie der und folgte Derricks Beispiel. Die Hitze machte müde, und es kostete in dieser gesättigten Luft keine Anstrengung, auf Anhieb einzuschlafen. * Als Derrick erwachte, fuhr ihm der Schreck in alle Glieder. Er hatte auf seinen Fahrten durch die Gala xie manche Begegnung mit unbekannten Rassen ge habt und dabei die Nerven behalten. Wenn man aber mit der friedlichsten Einstellung von der Welt aus einem zur Erholung bestimmten Nickerchen erwacht und plötzlich der Inkarnation des Häßlichen gegenü bersteht, kann es einen bösen Knacks im Gleichge wichtssystem geben. 128
Derrick konnte nicht länger als drei Sekunden hin sehen und schloß sofort wieder die Augen. Er dachte an Brixon, der noch neben ihm schlief, und an die Strahlwaffen, die oben im Schiff lagen. Intensives Denken war eines der wichtigsten Schulungsfächer auf der Weltraumakademie gewesen, und Derrick hatte für menschliche Begriffe immerhin eine gewis se Fertigkeit darin erlangt. Er dachte so konzentriert, daß der Anblick eines fremden Lebewesens seine Schockwirkung nicht bis zur letzten Konsequenz ausüben konnte. Er wußte, daß die Panik eine Erb schwäche des menschlichen Geschlechts ist und fast dafür verantwortlich war, wenn ein Bewohner der Erde bei ähnlichen Begegnungen im All den kürze ren zog. Die drei Sekunden waren ausreichend gewesen, um ihm ein genaues Bild seiner Umgebung zu ver mitteln. Sie war eigentlich unverändert geblieben – bis auf die etwa zehn häßlichen, aufrechtstehenden Gestalten, die sich kaum zu bewegen schienen. Waren es Tiere? Waren es Intelligenzwesen? Wa ren sie böswillig oder harmlos? Konnten sie Gedan ken lesen? Hastige Bewegungen können in solchen Situatio nen schon das Ende bedeuten. Deshalb ließ sich Der rick aufregend viel Zeit, um mit der rechten Hand den Schaltknopf für die Antigravplatte zu erreichen. Langsam drehte er die Scheibe auf Null. Das Einein 129
halbfache seines Gewichts mußte er in Kauf nehmen, denn in erster Linie kam es jetzt darauf an, die Ge heimnisse der menschlichen Technik den fremden Wesen gegenüber zu verbergen. Aber da war noch eine zweite Platte. Auf der lag Brixon. Und der wachte sicherlich sofort auf, wenn sich die volle Gravitation des Planeten über seinen Körper her machte. Derrick zögerte. Was sollte er tun? Die Entschei dung war nicht einfach. Wenn Brixon aufsprang, konnte er in seiner Aufregung sofort alles verderben. Und Brixon regte sich leicht auf. Leider! Derricks Hand hielt den Schaltknopf seines Nach barn, ohne ihn zu bewegen. Dann öffnete er die Au gen. Die fremden Wesen standen immer noch etwa zehn Schritte entfernt. Sie hatten Köpfe wie irdische Säugetiere, ohne daß man sagen konnte, ob sie mehr einem Bären oder einer Gazelle ähnelten. Doch sie hielten sich aufrecht auf zwei Beinen, und ihre Arme durfte man gewiß nicht mit Vorderfüßen verwech seln. Das monotone Brummen in der Luft erinnerte tatsächlich an eine neugierige Bärenfamilie, aber niemand gab Derrick die Garantie, daß es kein äu ßerst intellektuelles Streitgespräch war. Und plötzlich kam schon die Katastrophe. Noch während Derrick in seinen Gedanken nach einer geeigneten Annäherung forschte, fiel Brixon 130
auf einmal ein, von selbst aufzuwachen. Es war nicht anders zu erwarten gewesen, daß er genau so reagier te, wie es sein Freund befürchtet hatte. Der unerwar tete Anblick der Fremden riß ihn sofort hoch. Er ge riet dabei außerhalb des Bereichs der Antigravplatte und kam durch den stärkeren Andruck des Planeten schnell wieder zu Boden. Der Sturz unmittelbar vor die Füße der häßlichen Kreaturen brachte ihn zum Rasen. Es spielte dabei keine Rolle, ob er nun aus Furcht oder vor Wut brüllte, auf jeden Fall hielt man seine hektischen Bewegungen für eine unfreundliche Geste und reagierte entsprechend. Auch Derrick blieb nicht verschont. Nur, daß man ihm noch zwei Sekunden Zeit ließ, Brixons Platte auf Null zu stellen. * Diesmal erwachten die beiden Männer fast gleichzeitig. „Was habe ich nur für einen erbarmungslosen Un sinn geträumt“, murmelte Brixon und dehnte seinen Körper wie nach einem langen erholsamen Schlaf. Am Morgenhimmel stand die Sonne – die Sonne Antares. Es war angenehm warm, obgleich das gift grüne Gras noch einen Schimmer von Tau trug. Derrick machte ein ernstes Gesicht. „Du hast nicht geträumt, Brixon. Die häßlichen Brüder existieren wirklich.“ 131
„Mensch, wenn ich daran denke, kriege ich jetzt noch einen Schreck. Ich fürchte, ich habe etwas falsch gemacht.“ „Du Intelligenzbestie! Fürchtest du das?“ Brixon schämte sich. Derrick sah ihn kritisch an. Der Kerl schämte sich tatsächlich; denn sonst hätte er schon längst eine freche Antwort gegeben. Sie gingen über die Wiese bis ans Ufer. Vor ihnen lag ein klares, spiegelglattes Gewässer. „Sieh an, ein Teich!“ „Meinst du? Ich glaube eher, daß es ein Fluß ist.“ „Kann auch sein. Aber das Wasser ist ruhig.“ „Wir werden ja sehen. Komm!“ Brixon folgte. „Sag mal, Derrick, hast du einen großen Zorn auf mich?“ „Wieso?“ „Mensch, stell dich doch nicht dumm! Mir ist ein offener Vorwurf lieber als deine pädagogische Nach sicht.“ „Wenn dir an meiner Meinung liegt: Ich habe nicht den geringsten Zorn auf dich. Ich möchte jetzt nur wissen, in welcher Richtung wir gehen müssen, um das Schiff zu erreichen. Oder willst du hier eine Eremitage aufmachen?“ „Ich will nach Haus unter Mutters Schürze. Doch ich fürchte, da muß ich erst ein neues Raumschiff bauen.“ 132
„Wir wollen nicht gleich das Schlimmste anneh men. Ich glaube nicht, daß die Brüder der Häßlich keit etwas mit unserem Schlitten anzufangen wissen. Bis zum Einstieg ist es immerhin eine Höhe von zwanzig Metern, und die Antigravs habe ich abge stellt. Wenn sie daran herumspielen, werden sie zwar bald heraushaben, was sie bedeuten. Genausogut kann sie aber auch die Angst packen.“ „Ja, ja, wenn man nur wüßte, welchen Intelligenz grad sie haben, und ob sie technisch denken können.“ „Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf darüber, Brixon. Laß uns lieber überlegen, was zu tun ist!“ Sie gingen weiter, beobachteten die weite grüne Ebene vor sich und den Wald, der stellenweise den Horizont säumte, hier und da aber fast bis auf einen Kilometer herankam. Plötzlich faßte Brixon den Arm des Freundes. „Ich werde verrückt! Sieh mal da hinten!“ Derricks Blick folgte der Hand. „Bei Gott! Das ist der Bug unseres Schiffes!“ Keiner gab das Kommando zum Start. Aber zwei Hundertmeterläufer hätten auch nicht gleichzeitiger aus ihren Löchern herausschießen können als diese beiden Männer. Die Massenanziehung des Planeten zerrte wie wild an ihren Füßen, doch die Hoffnung auf das Leben machte ihre letzten Kräfte mobil, Sie liefen, als ginge es um einen Rekord, sie liefen – bis ans Wasser. 133
Brixon wäre hineingefallen, wenn Derrick ihn nicht zurückgerissen hätte. „Verflucht! Noch ein Fluß! Laß uns schwimmen. Bis ans andere Ufer sind es knapp zweihundert Me ter.“ „Langsam, Brixon! Weißt du überhaupt, ob du schwimmen kannst?“ „Na, hör mal! Schließlich habe ich . , .“ „Sprich jetzt nicht von deinen Medaillen! Die hast du auf der Erde geholt. Weißt du, ob du hier schwimmen kannst, hier auf diesem Planeten?“ Brixon schien zu verstehen. „Du meinst, wegen des Gewichts?“ „Allerdings.“ „Der Rettungsschwimmer schleppt auch den Er trinkenden ab.“! „Aber nicht auf dem Buckel. Hier mußt du dein Gewicht allein tragen. Und das wäre noch nicht alles. Weißt du, ob das hier wirklich Wasser ist?“ „Mensch, Derrick! Du kannst wahrhaftig verrückte Fragen stellen. Du kennst die Zusammensetzung der Atmosphäre hier. Du siehst das Chorophyll in der Vegetation. Der Kreislauf des Wassers ist also hier wahrscheinlich derselbe wie auf der Erde. Ich glaube bestimmt, daß es Wasser ist, und zwar gewöhnliches H2O.“ „Ich hoffe, daß du recht hast, Brixon. Trotzdem halte ich es für unvorsichtig, einfach hineinzusprin 134
gen. Gehen wir lieber am Ufer entlang. Vielleicht finden wir eine schmalere Stelle.“ Sie gingen weiter. Sie gingen bis an ihren Aus gangspunkt; denn die häßlichen Ungeheuer hatten sie auf einer Insel abgesetzt. Brixons Gesicht wurde weiß. „Jetzt glaube ich selbst, daß wir hier nicht schwimmen können. Jetzt durchschaue ich diese Be stien.“ Derrick nickte zähneknirschend. „Wir sind ihre Gefangenen. Und das Wasser ist unser Wächter.“ Einem Menschen, der den ganzen Tag immer nur einem Gedanken nachhängt, vergeht die Zeit mit dem Tempo der Schnecke. Wieviel schlimmer muß es auf einem Planeten sein, der unter der Sonne An tares nur einmal in hundert Stunden rotiert! – Als das Gestirn im Zenit stand, quälte sie die Hitze. Und dann kam der Hunger dazu. Brixon fing an, Gras zu kauen. Es war borstig und scharf. Noch scheute er sich, es hinunterzuschlucken. „Wir müssen eine Stange finden, um festzustellen, wie tief das Wasser ist. Vielleicht können wir hin durchwaten.“ „Woher soll hier eine Stange kommen? Hier ist nur Gras.“ „Mein Gott! Nur Gras! Nur Gras! Es muß doch auch etwas anderes geben. Sie haben uns herüberge bracht.“ 135
„Mit einem Boot wahrscheinlich. Ein Boot kannst du so bauen, daß es immer genügend Wasser ver drängt und schwimmen kann. Der Mensch dagegen hat nun einmal sein spezifisches Gewicht. Er kann es verringern, indem er tief einatmet. Aber das genügt hier nicht.“ „Ich versuch’s trotzdem!“ knurrte Brixon. „Wenn du meinst“, lenkte Derrick ein, der auch keinen anderen Rat mehr wußte. „Ich werde dich festhalten, dann kannst du es ausprobieren. Es müßte zu schaffen sein, dich wieder herauszuziehen, wenn es nicht klappt. Komm mit! Dort drüben scheint die schmälste Stelle zu sein.“ Sie gingen quer über die Insel, um ein Stück abzu schneiden. Und dabei trafen sie auf ein Skelett. Es lag im Gras, zusammengekrümmt und unmenschlich. Die Männer starrten einander an. Sie sagten nichts und wußten doch, daß sie beide dasselbe dachten. Wenige Schritte weiter lagen die Knochen von min destens drei der fremden Wesen. Dann fanden sie eine Leiche, die noch Aasgeruch verbreitete. Die fremde Physiognomie hatte etwas Erschütterndes an sich. Der letzte Verzweiflungsschrei des Verhungernden schien in dieses Gesicht gemeißelt zu sein. Und die beiden Menschen spürten, daß ihr Begriff vom Häßlichen doch nur eine sehr relative Sache war. Brixon wandte sich ab und zog den Freund mit sich. 136
„Sie haben uns zu ihren Verbrechern gesteckt, Derrick. Ist dir das klar? Wir sind zum Tode verur teilt.“ „Ich glaube, du hast recht.“ „Und warum hat keiner versucht, ans andere Ufer zu schwimmen? Für sie ist doch die Gravitation hier normal!“ „Frag mich nicht, Brixon! Ich weiß es doch auch nicht! Die Knochen hier beweisen höchstens, daß es nicht geht.“ Brixon stöhnte. Plötzlich stand der Haß in seinen Augen, und er sprang auf Derrick zu. „Du Hund! Du bist schuld! Du hast mich unbedingt zum Antares mithaben wollen!“ Sein Sprung war zu kurz; denn er hatte nicht die Schwerkraft einkalkuliert. Derrick sah zu, wie er sich wieder aufraffte. Aber der zweite Angriff blieb aus. Brixon lief einfach weg. Derrick fand ihn später am Wasser. „Wir wollten einen Schwimmversuch machen“, sagte er, als habe er die Anschuldigung des anderen schon wieder vergessen. Brixon aber wich zur Seite. „Faß mich nicht an! Ich pfeife auf deine Schwimmversuche.“ Dann lief er wieder davon, lief kreuz und quer über die Insel, bis er erneut vor einem Skelett stand. Er hätte damit rechnen müssen, noch mehr dieser stummen Zeugen einer unbekannten Ge richtsbarkeit zu finden, trotzdem drohte ihn der 137
Schreck zu ersticken. Aber der Tote reagierte nicht auf den starren Blick eines verzweifelnden Menschen. „Warum bist du nicht geschwommen, Menschens kind! Warum hast du dich hierhergelegt und bist ver hungert?“ Brixon steigerte sich in den Wahn der Verzweif lung. Er beugte sich über die Leiche und zischte im mer wieder dieselbe Frage. Er suchte den Kopf und die Stelle, wo ein Mensch das Ohr vermutet. „War um bist du nicht geschwommen? Warum bist du nicht geschwommen?“ Seine Frage klang beschwörend. Und der Schädel gab plötzlich Antwort. Er sprach zwar nicht. Er nickte nicht einmal; denn auch im Sternbild des Skorpion sind die Toten stumm. Aber dem armen Brixon ging trotzdem ein Licht auf. Er lachte und rannte zurück. „Derrick! Hallo, Derrick! Wo bist du?“ Der Angerufene erhob sich aus dem Gras und winkte. Brixon zeigte aufs Ufer. „Ans Wasser, Derrick! Los, komm ans Wasser!“ Er riß sich die Kleidung vom Leib und schnürte sie zu einem Bündel, das er sich auf den Rücken schnallte. Dann jagte er mit ei nem Kopfsprung in das unbekannte Element. Derrick wollte ihn zurückreißen. Doch es war zu spät. Brixon schwamm mit kräftigen Zügen. Er hatte das andere Ufer beinahe erreicht, ehe der Freund ihm 138
folgte. Dann standen sie drüben, und es war alles wie selbstverständlich. Sie suchten die Bugspitze des Raumschiffes, die den Wald etwas überragte, und rannten weiter. Die fremden Wesen waren verschwunden. Die Antigravplatten lagen noch da, wie sie sie verlassen hatten. Zehn Minuten später jagte das Schiff mit den bei den Menschen in das Gewirr der Milchstraße hinein. Aber erst als die Automatik arbeitete, fielen sich die beiden in die Arme und wagten wieder, normal zu atmen. Der Wettlauf nach dem Leben war zu Ende. „Was war ich doch für ein Hornochse!“ beschul digte sich Derrick. „Komisch, meist bin ich der Bes serwisser von uns beiden. Aber hier habe ich offen bar völlig danebengetippt.“ „Durchaus nicht, mein Lieber! Deine Schlüsse wa ren in jeder Hinsicht logisch.“ „Sonderbar, und trotzdem sind wir schließlich ins Wasser gesprungen und in die Freiheit geschwom men. Ich hatte zwar das Gefühl, daß das Wasser hier nicht so tragfähig ist wie auf der Erde. Aber die Lo gik muß da doch irgendwo ein Loch haben. Und du kennst das Geheimnis. Wie bist du plötzlich darauf gekommen?“ „Ich habe eines der Gerippe gefunden. Das hat mir einen Tip gegeben.“ 139
Derrick war sprachlos. Doch sein Blick konnte nur bedeuten, daß er keine Lust hatte, von Brixon ver höhnt zu werden. Und Brixon hütete sich, zu grinsen. „Ich habe dieses Gerippe angefaßt, weißt du. Ich hatte mich darübergebeugt und muß hingefallen sein. Dabei stieß ich an einen Knochen. Wir hätten diese Knochen schon viel eher anfassen sollen, dann wäre uns mancher Kummer erspart geblieben. Die sind nämlich so schwer wie Eisen. Tatsächlich, Derrick! Ich nahm ein Stück hoch, so groß wie ein Schlüssel bein. Es wog garantiert seine zwei Kilo. – Damit war für mich die Frage nach dem spezifischen Gewicht dieser Kreaturen hinreichend beantwortet. Denn wer ein solches Skelett mit sich herumschleppen muß, kommt nie im Leben auf den Gedanken, im Wasser schwimmen zu wollen.“
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Endstation
von Lan Wright Yorgen saß ruhig da und wartete. Der Raum um ihn war hell erleuchtet, aber von ei nem unangenehmen Geruch erfüllt, als strömten ein Dutzend verschiedene stark duftende Gewächse ih ren Gifthauch in die immer dicker werdende Atmo sphäre, gegen welche die einsame Klimaanlage einen vergeblichen Kampf führte. Yorgen rümpfte angewi dert die Nase; er vermißte das gute, reine Aroma von Tabak, an das er sich noch mit Mühe erinnerte. Mit ihm warteten seine ehemaligen Schiffskame raden mit der gleichen Geduld. Zu zweit, zu dritt und in größeren Gruppen, im ganzen etwa fünfzig Mann, unterhielten sie sich in gedämpftem erwartungsvol lem Flüstern – jede Gruppe eine Oase eigener ge heimer Gedanken, einer eigenen Geheimsprache. Nur Yorgen war allein. Er war groß, breitschultrig, mit schmalen Hüften, die jedoch durch das Alter schon etwas in die Breite gingen. Sein Haar war dicht und grau; sein Gesicht gebräunt und scharf gezeichnet; eine feine rote Linie verlief über dem rechten Auge, wo das alte vernarbte Gewebe – an den Rändern faltig – von oberflächli 141
cher, laienhafter Behandlung zeugte. Die Augen selbst waren tiefschwarz, umschattet und glommen in einem düsteren Leuchten, das die innere Spannung des Mannes widerspiegelte. Zu seiner Rechten mur melte ein paar kleiner, gutgekleideter, gelbhäutiger Männer in unverständlicher Sprache, und ihm ge genüber saßen vier schwarze, dicklippige Riesen in stummer Gemeinschaft, die nur manchmal von ei nem Flüstern und der dumpfen Antwort der anderen drei unterbrochen wurde. Die größte der ethnologi schen Gruppierungen bestand aus schlanken, hell häutigen Männern, die jenen Teil des Raumes erfüll ten, der am weitesten von Yorgens Winkel entfernt war. Insgesamt waren es dreiundzwanzig. Ihre Augen standen eng zusammen, und ihr Teint war bleich; der Mund war schmal und von einem grausamen Zug umspielt, der von den harten Jahren kündete, in de nen sie das Licht der Welt erblickt hatten. Diese Epoche war nun schon lange vorüber, drei Jahrhun derte in der Zeit und eine Unendlichkeit im Raum. Jene Männer waren das Vermächtnis dieser Zeit, und Yorgen haßte jeden einzelnen mit einem kalten, un beirrbaren Haß, der in verschiedenen Begebenheiten wurzelte, die er bei seinem einmaligen Aufenthalt auf der Erde während der harten Jahre gesehen, ge hört und erlebt hatte. Er saß abseits, weil er einmalig war. Jeder auf dem 142
Schiff hatte zumindest einen Kameraden aus seiner eigenen Zeit – einen Freund, der ihm durch so etwas wie eine nichtblutsmäßige Bruderschaft innig ver bunden war – jeder außer Yorgen. Er war allein, und er hielt an dieser Einsamkeit fest wie an einem Schutz gegenüber der feindlichen Umwelt. Sie war sein einziger Schirm gegen das fast fremdartige Miß trauen, das ihm die anderen entgegenbrachten. Die anderen, in deren unversöhnlicher Haltung seine ei gene eisige Ablehnung wurzelte. Für sie war er der Barbar. Am Ende des Raums öffnete sich eine Tür und gab den Blick auf einen kurzen Korridor frei. Eine Ge stalt zeichnete sich gegen die Öffnung ab. Der Mann überschritt die Schwelle, verharrte und rief dann in einer gutturalen, aber leicht verständlichen Sprache „Peter Yorgen!“ Endlich haben sie meinen Namen einmal richtig erfaßt, dachte Yorgen, während er sich langsam er hob. „Hier“, antwortete er. „Bitte, folgen Sie mir.“ Das Interlingua des Man nes ist gut, dachte Yorgen, offensichtlich besser als sein eigener Schiffsakzent. Das war jedoch nicht so überraschend, schließlich konnte man Hypnobänder und andere Hilfsmittel verwenden, die weitaus mehr leisteten als alles, was man zu seiner Zeit zur Verfü gung gehabt hatte. 143
Er durchquerte den Raum und bahnte sich einen Weg durch die Gruppen seiner fremdartigen Schiffs kameraden, als seien diese überhaupt nicht vorhan den. Als er vorüberging, höhnte einer der Weißhäuti gen: „Schlage keinem den Schädel ein, Barbar, sie könnten es dir übelnehmen!“ Yorgen hielt inne, und ohne sich umzuwenden, knurrte er: „Wenn ich jemandem den Schädel ein schlage, dann bist du es, Kleiner.“ Er fühlte den Haß der anderen mehr, als daß er ihn offen zu sehen be kam. Sie wußten, daß er nicht spaßte. * Die Tür glitt hinter ihm ins Schloß, und eine andere öffnete sich am Ende des Korridors, als sie dort an langten. Sein Führer bedeutete ihm mit einer eher einladenden als befehlenden Geste, einzutreten. Der Raum vor ihm war einfach, aber freundlich und wirkte durch seine gerundeten Ecken tiefer als er tat sächlich war. Die leuchtenden Pastellfarben zeugten von einer Architektur, die weiter entwickelt war als jede andere, die Yorgen bei seinen früheren Besu chen auf der Erde gesehen hatte. Das Inventar war geschmackvoll, durchscheinend und funktionsgebunden; da standen ein Schreibtisch und fünf Stühle. Hinter dem Schreibtisch saß ein 144
Mann, der seinem Begleiter wie ein Bruder dem an deren glich. Sein Gesicht wies keines der Merkmale seiner weit zurückliegenden Vorfahren aus dem Ter ror-Zeitalter auf, und Yorgen war dankbar dafür – vielleicht waren sie ebenso verschwunden wie alles andere. Die Züge seines Gegenübers waren ausgegli chen und regelmäßig, mit tiefen braunen Augen und einer zart golden getönten Haut. Feines gelocktes Haar umrahmte den Kopf wie eine Kappe; Yorgen vermochte nicht festzustellen, ob es natürlich oder synthetisch war. Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte grü ßend und bot ihm einen Stuhl an. „Sie sind Peter Yorgen?“ „Der bin ich.“ Er sank in die Sitzgelegenheit, die sich selbsttätig seinen Körperformen anpaßte. Er rückte seinen Körper zurecht, um den Komfort so richtig zu genießen. „Peter Yorgen, zu Diensten. Besser bekannt als ,der Barbar’.“ „Davon habe ich gehört.“ In den großen braunen Augen, die ihn voll anblickten, lag nichts Außerge wöhnliches, abgesehen von einem vagen Ausdruck des Mitleids, der Yorgen etwas beunruhigte. Das rauhe Benehmen der Schiffsmannschaft konnte er eventuell, wie seine zerschundenen Fäuste bewiesen, noch behandeln – aber Mitleid, das war neu und schmerzlich. 145
„Mein Name ist Florian. Meine Pflichten schlie ßen die Befragung der Mannschaften der Pionier schiffe mit ein.“ Yorgen winkte ärgerlich ab. „Ich weiß schon – das habe ich schon oft genug mitgemacht.“ Florian schüttelte nur traurig den Kopf. „Nein“, sagte er, „nein, Yorgen – nicht so!“ Dann, etwas brüsker: „Wie alt sind Sie eigentlich, Yorgen?“ Yorgens Lippen kräuselten sich zu einem kalten, höhnischen Grinsen. Das war die Art Annäherung, die ihm vertraut war. „Schiffszeit oder Erdzeit?“ Er beantwortete Frage um Frage mit der Gewandtheit langer Übung. „Irgendeine – oder beide. Ich werde die Fragen präziser stellen, wenn Sie ein wenig Geduld mit mir haben.“ „Ich bin am achten Juli des Jahres zweitausend unddreiundvierzig geboren. Ich bin achtunddreißig Jahre alt.“ Seine Worte klangen kühl und leiden schaftslos, wie er sie bereits oft gesprochen hatte. Diesmal jedoch grub jedes Wort eine Kerbe in sein Herz, die niemals wieder heilen konnte. „Ich glaubte, man schreibt jetzt das Jahr dreitau sendvierhundertneunundachtzig. Deshalb bin ich lo gischerweise vierzehnhundertsechsundvierzig Jahre alt.“ Er blickte Florian kalt an. „Deshalb nennt man mich ,Barbar’.“ Der alte vertraute Schmerz brannte wieder in ihm, 146
und er vermochte nicht zu erkennen, ob Florian nur deshalb mit gebeugtem Kopf schrieb, weil er es so gewohnt war, oder ob er dies tat, um sein Mitleid nicht offen zu zeigen. Während der vergangenen Jah re hatte Yorgen gelernt, die Reaktionen der anderen zu deuten. Am Anfang war es nicht so schlimm. Da war er nur einer von vielen Hunderten aus seiner Zeit. Aber später änderte sich die Situation, als der Prozentsatz seiner Zeitgenossen immer spärlicher wurde. Einige waren auf andere Schiffe übergewech selt, andere wieder siedelten sich auf einer der weit entfernten Kolonien an – ein verzweifeltes Bemühen, die wahnsinnige Jagd durch die Jahrhunderte der Zeit und die Parseks des Alls zu beenden. Yorgen hatte keinen Barbaren mehr getroffen seit – er lächelte verkrampft – seit Jahrhunderten. „Sie waren doch auf einem der ersten Pionierschif fe, wenn ich mich recht entsinne, Yorgen.“ Florians ruhige Stimme unterbrach seinen Rückblick und rief ihn in den sauberen, amtlichen Raum zurück. „Welches Schiff war das?“ Yorgen lachte plötzlich’ in wildem Stolz auf. Das war etwas, das ihm niemand nehmen konnte. Etwas, womit er selbst den abgebrühtesten Interviewer zum Schweigen bringen konnte. Er nahm ein kleines Pla stiketui aus seiner Brieftasche. Darin befand sich ein dickes Paket Papiere. Er warf es sorglos über den Tisch, so daß es knapp vor Florian landete. „Ich war 147
auf dem ersten“, sagte er, „auf dem ersten Pionier schiff, das je gebaut wurde – auf der EXODUS.“ Florians Augen spiegelten den Schock wider, den diese Worte ihm versetzten, und Yorgen fühlte eine etwas verdrehte Befriedigung, als er den Blick be merkte, den Florian seinem namenlosen Begleiter zuwarf. Ihre Reaktion war Balsam für seine Seele. Bedächtig zog Florian die Papiere aus ihrer Hülle und öffnete sie mit ehrfurchtsvoller Behutsamkeit. Die ersten Blätter waren vergilbt und trugen deutli che Spuren ihres Alters. Niemand konnte an ihrer Echtheit zweifeln; denn Papier wie dieses und selbst der Druck waren auf der Erde nun schon seit zehn Jahrhunderten nicht mehr bekannt – und Yorgen wußte es. Die Minuten tickten vorbei, während Florian jedes einzelne Blatt untersuchte. Das Papier änderte sich von Bogen zu Bogen, ebenso der Druck, und mit je dem Umwenden wurde eine neue Seite Geschichte lebendig, ein neuer Markstein im Ablauf der Zeit, immer weiter zurück bis in das Zeitalter der Barba rei, das nun selbst nur mehr ein Kapitel in der Ge schichte war. Schließlich steckte Florian die Dokumente in das Etui und gab sie über den Schreibtisch hinweg dem Eigentümer zurück. „Das sind wahrhaft Blätter der Geschichte“, mein te er. 148
„Ich weiß.“ „Warum?“ Diese Frage beinhaltete alles, was Florian wissen wollte; sie verlangte heftig und eindeutig nach mehr Informationen als in einem Dutzend komplizierter Sätze hätte ausgedrückt werden können. Yorgen wußte sie alle auswendig. Zu anderer Zeit hätte er sich geweigert, zu antworten – er wäre dem Frage steller nur mit Hohn und langgeübtem Zynismus be gegnet. Diesmal hatte dieses einfache, von Mitgefühl getragene Wort eine Saite in ihm angeschlagen, die ihn zu Antworten drängte. „Warum?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bezweifle, daß ich Ihnen das richtig klarmachen kann. Sagen wir fürs erste: Neugier. Ich wollte beispielsweise wissen, wie es ein Jahr später sein würde. Was sich ereignen würde, nachdem ich eigentlich schon tot gewesen wäre – und als ich es wußte, wollte ich mehr wissen, nur einige Jahre, einen weiteren Blick um jene Ecke des Universums werfen, um zu sehen, wie großartig die Menschheit werden würde – oder wie schlecht.“ Er unterbrach sich und dachte erneut an die „harten Jahre“ und ihre widerliche Brut im Zimmer nebenan. „Und später?“ wollte Florian wissen. „Später?“ Er lächelte bitter. „Später war es zu spät. Ich befand mich in einer Welt, die mir vollkommen fremd gegenüberstand. Es gab keinen Ort, wo ich zu 149
Hause sein konnte. Selbst die Kolonien waren so weit in Zeit und Raum voraus wie die Erde. Wo ich Freunde zurückließ, hatte der Lauf der Zeit alle da hingerafft, und ich wäre dort ebenso fremd gewe sen.“ Er zuckte die Achseln und blickte düster zu Florian. „Nun bin ich der letzte meiner Epoche. Es gibt keinen Gleichgesinnten mehr, niemanden, dem ich Kamerad sein könnte, keinen Ort, wo mir Ruhe vergönnt wäre, keine Welt, die ich mein eigen nen nen könnte. Diese Erde ist mir genauso fremd wie Ihnen meine wäre, Florian; das einzige, was mir bleibt, ist der Flug durch die Ewigkeit – mit dem Tod als Erlösung.“ * Die Stille, die den Worten folgte, währte länger, als Yorgen selbst empfand, so sehr war er mit seiner ei genen Hölle privater Gedanken beschäftigt. Dieses Gefühl war alt und ihm gut bekannt, aber trotzdem grausam. „Nein, Yorgen.“ Florian sprach schließlich, sanft und unendlich traurig: „Die Ewigkeit ist für Sie eben sowenig bestimmt wie für alle anderen. Das Ende für Sie kommt hier, jetzt. Sie sind ein Kapitel der Ge schichte, und für alle Dinge, die reiner Anachronis mus sind, muß das Ende früher oder später kommen. Sie sind jetzt am Ende angelangt.“ 150
Yorgen blickte auf, weil ihn eine Kälte, die er seit Jahren kannte, aus seinen Betrachtungen riß. Es lag viel Wahrheit in Florians Worten, dessen war er ge wiß, aber was war diese Wahrheit? „Die Pionierschiffe sind tot, Yorgen“, sagte Flori an. All die Jahre hatte er an diesen Moment gedacht und war vor der Vorstellung zurückgeschaudert. Die Träume und Alpträume des Nachts zählten zu den schlimmsten, wenn sie aus solchen Grübeleien gebo ren wurden. Und nun waren diese Aussichten zur Tatsache geworden, wie Florian gesagt hatte. „Die Fahrt mit den Pionierschiffen ist vorbei, Yor gen.“ Yorgen wußte, daß es wirklich so war. „Die Gleichungen sind gelöst“, sagte er tonlos. „Nein, sie sind nicht gelöst. Sie sind überflüssig.“ Florian schüttelte den Kopf. „Bereits seit hundert Jahren. Wir haben neue Schiffe mit einem neuartigen Antrieb, und die Sterne sind jetzt unsere Nachbarn. Ihr hattet einen alten Spruch auf den Pionierschiffen: Reise ein Jahr …“ „… und verliere ein Jahrhundert“, vervollständigte Yorgen matt. „Jawohl, so hieß es. Das ist vorbei. Es gibt keine subjektive Zeit mehr, und ein Mann kann in seiner eigenen Welt leben und sterben. Eure Schiffe gehö ren dem Zeitalter der Dinosaurier und Höhlenmen schen an. Sie sind nur mehr Geschichte, Yorgen, und 151
haben die Entfernungen in der einzigen damals be kannten Weise überbrückt. Sie ist veraltet, tot, und nichts wird sie zurückbringen.“ „Und mit mir ist es dasselbe“, flüsterte Yorgen. „Ich gehöre zu den Dinosauriern, zu den Höhlen menschen – nur sind die schon tot, ich aber lebe.“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen, um nicht das verhohlene Mitleid im goldfarbenen Antlitz Flo rians sehen zu müssen. * Yorgen wußte: In früheren Epochen hätte er an den Kreuzzügen teilgenommen, wäre Drake um die Welt gefolgt, mit Marco Polo oder Captain Cook gereist, hätte mit Scott der antarktischen Eiswüste getrotzt oder mit Jacobson den Mars erobert. Statt dessen hatte er starren Blicks den kalten Worten eines Beamten der Raumfahrtkommission gelauscht, der munter von einer einwöchigen Reise in den Raum plauderte, die ihn zwei Jahre in der Zu kunft wieder zur Erde zurückbringen sollte. Yorgen war damals noch recht jung; er hatte die Qualifikati on, aber nicht die Erfahrung; die unerbittlichen Glei chungen von Raum und Zeit waren ihm unverständ lich – und das einzig Wichtige schien ihm, in die Zu kunft zu blicken, die Zeit beim Schwanz zu nehmen und festzuhalten. Aber die Zeit wurde zum Tiger. 152
Die eine Woche hatte sich zu einer zweiten ausge dehnt – eigentlich nicht viel –, und schon waren vier Jahre Erdzeit vergangen, ehe die EXODUS und ihre Mannschaft wieder landete. Während dieser Zeit war Yorgens Vater gestorben, seine Mutter hatte wieder geheiratet, und sein älterer Bruder war auf dem dritten Pionierschiff verschwun den. Das Tor zur Zukunft hatte sich geöffnet, die Tür zur Vergangenheit war ins Schloß gefallen. Und Yorgen startete zu einer zweiten Reise. * Die EXODUS trug Siedler zu einem Planeten in der Centauren-Gruppe – ein kleiner Ausflug von nur vier Monaten Dauer. Der Planet hatte sich als geeignet erwiesen, die Auswanderer blieben, und die EX ODUS kehrte zu einer Erde zurück, die sechsund dreißig Jahre und einige Tage älter geworden war. Nichts konnte diese Jahre wiederbringen. Yorgens Verwandte waren gestorben oder weggezogen, und eine neue Generation war groß geworden, für die ein zwanzigjähriger Raumfahrer eine Besonderheit dar stellte, die man zwar eine Weile beachtete, aber dann wegen der verrückten Ideen und der verdrehten An schauungen wieder vergaß. Yorgens Bestürzung war die Bestürzung aller Mannschaftskameraden. Sie zo gen als Helden aus, um die Sterne für die Menschheit 153
zu erobern, und kehrten als verblichene Kuriositäten wieder, als Auswüchse einer alten, häßlichen Welt, die schnell inmitten der silbernen Türme des neuen Zeitalters verschwand. Die Pionierschiffe akzeptierte man noch als einen Teil der tapferen, neuen Welt – die Männer aber, die sie flogen, galten als reine Ana chronismen. Die nächsten bewohnbaren Planeten waren einen Monat Bordzeit entfernt, und es gab welche, die noch weiter weg lagen, drei Monate, sechs Monate, ein ganzes Jahr! Reise ein Jahr und gewinne ein Jahr hundert! Es gab nur ein Heilmittel für die Ernüchterung nach dieser zweiten Rückkehr: Eine weitere Reise zu einer Kolonie, die von einem anderen Schiff besie delt worden war, das sich nun bereits auf dem Rück weg befand – aber die Erde nicht vor Ablauf weiterer fünfzig Jahre erreichen würde. Nach dieser Reise war die EXODUS noch immer ein nagelneuer, glänzen der Flugkörper – aber auf der Erde schrieb man be reits das Jahr 2257! Reise ein Jahr und gewinne ein Jahrhundert! Soweit Yorgen sich erinnern konnte, war er da mals einundzwanzig. So eilte die Zeit voran. Zweimal versuchte er, das Verhängnis aufzuhalten und sich irgendwo anzusie deln, wie es andere taten; einmal auf Cleon und das zweite Mal auf Helger, aber die Kluft war bereits zu 154
groß – sowohl auf den Kolonien, als auch auf der Erde –, und sie wurde immer größer. Sprachen star ben aus, veränderten sich unter dem schwindelnden Flug der Jahrhunderte. Dann entstand das Interlingua der Raumfahrer, um die Kluft der Verständigung zu überbrücken. Fast zweihundert Pionierschiffe durch maßen bereits die Finsternis mit ihrer Fracht unsterb licher Männer, die ihre Welt verloren hatten. Die Mannschaften wechselten, und die kühnen Männer der ersten Schiffe verteilten sich und wurden spärlicher. Yorgen heuerte auf der EXODUS ab, um sich auf Cleon anzusiedeln. Als dieser Versuch scheiterte, war die EXODUS nur noch ein Stäubchen unter den Sternen, Millionen Jahre entfernt. Er sah sie niemals wieder. Er hörte von ihr in späteren Jahren, als er die Sterne bereiste, die nun zum Königreich der Men schen geworden waren. Es gab Erzählungen über ih re Besuche auf Malaga und Corbal, fünfzehn oder zwanzig Jahre in der Vergangenheit, aber zu dem Zeitpunkt, da Yorgen diese Welten erreichte, war sie bereits wieder entflohen, überbrückte die Jahrhunder te mit derselben Leichtigkeit wie die Lichtjahre. Die Männer wechselten; die ursprünglichen Mann schaften wurden seltener. Andere Männer aus späteren Epochen kamen hinzu; rastlose Geister suchten die Zukunft mit derselben Ungeduld zu erforschen wie es Yorgen tat. Und bald erkannte Yorgen, daß er verein 155
samte – unter Männern, die ihm so fremd waren, als gehörten sie einem anderen Volk an. So groß war die Kluft geworden. Er wußte, daß andere wahrscheinlich ebenso wie er irgendwo im Raum verlorengegangen waren, andere, die gleich ihm den Pfad in die Zukunft eingeschlagen hatten, ihn aber verließen, um einem eigenen Weg in ein eigenes Schicksal zu folgen. Er war vollkommen allein. O ja, er konnte mit seinen Mannschaftskameraden reden, aber nur zum Zweck der Verständigung, nicht, um Ideen auszutauschen. Das Denken dieser Männer war ihm so fremd wie ihre Körper menschlich waren – und sein Denken war für sie ebenso unverständlich. Seine Vorstellungen trugen den Stempel des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die folgenden Jahre hatten dafür soviel Verwendung wie das atomare Zeitalter für das Schwert. Er wurde zu dem, was er in Wirklichkeit auch war – zum Barbaren. * Yorgen fand zur Gegenwart zurück; er merkte, daß einige Zeit verflossen war. Seine Gedanken hatten die Jahre durcheilt und wieder in die Gegenwart zu rückgefunden. Florian saß ruhig hinter dem Schreib tisch und beobachtete ihn. Der unbekannte Begleiter hatte seinen Platz am anderen Ende des Tisches nicht verlassen. 156
„Jetzt also“, flüsterte Yorgen, „jetzt ist es vorüber. Ich wollte, bei Gott, es wäre früher geschehen.“ „Es hätte früher geschehen können“, warf Florian ein, „aber wir hatten Rückschläge.“ Yorgen kicherte schadenfroh. Ja, allerdings. Nur die Pionierschiffe hatten die klaffenden Lücken zwi schen den drei alles verwüstenden Kriegen schließen können. Er hatte viel über diese Kriege gehört und ihre Verwüstungen gesehen, als er Jahre später mehrmals die Erde besuchte. O ja, sie hatten Rück schläge einstecken müssen. „Und jetzt, was geschieht jetzt?“ Er blickte düster auf den Fremden. „Das liegt bei Ihnen. Die Erde hat ihre Schuld ge genüber den Besatzungen der Pionierschiffe erkannt und wird versuchen, alles Menschenmögliche für sie zu tun. Sie können eine Pension beziehen, ein Ge schäft aufbauen oder zu einer der Kolonien auswan dern. Wir werden Sie schulen und fit für ein neues Leben machen …“ „Rehabilitieren!“ Yorgen lachte hart. „Sie reden wie ein verdammter Bürokrat, Florian. Was bedeutet das schon? Nur das Mitleid der modernen Welt für den Wilden.“ „Wir haben unsere Verantwortung.“ Florian wink te rasch ab, um dem Hohn zuvorzukommen. „Nein. Es tut mir leid! Das war schon wieder eine bürokrati sche Redewendung. Aber sie stimmt. Sie müssen 157
sich nicht sofort entscheiden. Es gibt hier in der Stadt eine soziale Institution, in der Sie mit Ihresgleichen wohnen können, bis Sie sich für das eine oder andere entschlossen haben. Dort finden Sie Männer Ihrer eigenen Mannschaft und Leute von fremden Raum schiffen, die alle mit demselben Problem ringen. Vielleicht gelingt es Ihnen, gemeinsam mit den ande ren ein Ziel festzulegen.“ Yorgen nickte stumm. Niedergeschlagenheit saß ihm wie ein dicker Klumpen in der Kehle. Er erkann te erschrocken, daß er den Tränen näher war als je zuvor in seinem Leben. Ärgerlich drängte er seine Gefühle zurück und fragte mit belegter Stimme: „Wie viele Schiffe sind eigentlich eingetroffen?“ „Auf der Erde ungefähr zweihundertfünfzig …“ Der namenlose Führer verbesserte: „Zweihundert siebenundvierzig genau.“ „Danke, Murdo. Auf anderen Planeten weitere dreiundfünfzig“, fuhr Florian fort. „Wir wissen von vierzehn, die durch Unfälle verlorengingen, und von siebzehn, die sich noch auf Fahrt befinden. Nach un seren Informationen sind das alle.“ * So eine kleine Flotte, dachte Yorgen, Etwas über dreihundert Raketen, und doch hatten sie die Saat der Menschheit zu den Sternen hinausgetragen. Dreihun 158
dert nur, und doch hatten sie die gähnenden Abgrün de zwischen den Sternen überbrückt und die äußer sten Winkel der Galaxie in die Reichweite der Men schen gebracht. „Und die Mannschaften?“ fragte er. „Viele sind zu anderen, jüngeren Welten ausgewan dert“, erklärte Florian. „Einige haben sich hier auf der Erde angesiedelt, obwohl es hier, das werden Sie ver stehen, nicht so leicht ist – speziell für die Älteren. Ei nige …“, er zuckte mit den Schultern und schwieg. „Ich kann es mir denken.“ Yorgen rieb seine Hän de nachdenklich mit langsamen Bewegungen an den Schenkeln auf und ab. „Selbstmord oder Wahnsinn.“ „Nur einige, nicht viele. Es sind an die hundert siebzig, die noch nicht genau wissen, was sie begin nen sollen. Ihr Schiff war das vierte, das in den letz ten acht Monaten gelandet ist. Das ist auch der Grund, warum noch so viele unentschlossen sind.“ Die Zukunft! Eine plötzliche Angst packte Yor gen. Die Vergangenheit war schon schlimm genug gewesen, obwohl man sich wenigstens düstere Ge danken über zukünftige Landungen machen konnte. Nun gab es nichts mehr. „Und was geschieht mit den Schiffen?“ fragte er. Florian zuckte abermals die Schultern. „Die wer den verschrottet. Wir haben keine Verwendung mehr dafür, und Metall ist rar.“ Ein Messer drang in Yorgens Herz. Sollten diese 159
paar Worte die Grabrede für fünfzehn Jahrhunderte Geschichte sein? Konnte es ein derart ruhmloses En de für die silbernen Leiber geben, welche die Menschheit zu den Sternen getragen hatten? Offen sichtlich war so etwas möglich; denn Florian schien in keiner Weise über das Schicksal der Pionierschiffe bestürzt zu sein. Er war Beamter, Interviewer, Psy chologe, vielleicht einer, dessen einzige Aufgabe darin bestand, so schnell und so ruhig wie möglich mit Männern von Yorgens Schlag zu verhandeln. Yorgen war ein Schatten aus der Vergangenheit, den man besser aus dem Weg schaffte. Florians Job war es, ihn in eine dunkle Abgeschiedenheit fern der Empfindsamkeit des modernen Menschen abzu schieben. Mit wenigen Worten hatte Florian die Illu sion armseligen Mitleids weggewischt, die seit dem Eintreten Yorgens fühlbar Gewesen war. Mitleid mochte wohl vorhanden sein, aber Verständnis – nein! Er verhielt sich Yorgen gegenüber ebenso steril und kalt wie ein Elektronengehirn, das man für die gleiche Aufgabe hätte programmieren können. * Yorgen erhob sich abrupt. „Bringen Sie mich zu Ih rem verdammten Hospiz“, sagte er grob. „Ohne Zweifel ist es hoch genug, eine rasche Fahrt in die Ewigkeit zu gewährleisten.“ 160
Florian lächelte. „Hunde, die viel bellen, beißen nicht.“ Er nickte ermutigend. „Ich glaube, daß Sie es schaffen werden – wenn man Ihnen die richtige Ge legenheit bietet.“ * Einen langen Augenblick stand Yorgen und maß sein Gegenüber forschend und durchdringend. Dieser Mann war ein typischer Beamter, ein Federfuchser mit dem Verstand eines Karteikastens. Was wußte er schon von den Pionierschiffen und den Männern, die sie flogen? „Berührt es Sie?“ fragte er sanft. „Berührt es Sie ernstlich, ob ich lebe oder sterbe?“ Die Tür öffnete sich vor ihm, als er den Raum ver ließ, und schloß sich mit der gleichen Lautlosigkeit hinter ihm. Während er den kurzen Korridor entlangschritt, sagte sein Begleiter: „Draußen auf dem Dach wartet ein Hubschrauber, der Sie zu Ihrem Quartier bringen wird, sobald Sie Ihre Sachen gepackt haben.“ Yorgen knurrte: „Und ich vermute, Sie werden mich dahin begleiten.“ „Selbstverständlich.“ „Wenn wir schon dazu verurteilt sind, einander noch eine oder zwei Stunden Gesellschaft zu leisten, 161
können wir ebensogut ein paar Dinge klären. Wie nannte Sie Florian?“ „Ich heiße Murdo – Jaime Murdo.“ „Und ich bin Yorgen. So brauchen wir nicht im mer ,Hallo, Sie!’ zu sagen.“ Sie gingen zuerst zum Schiff. Murdo führte ihn aus dem Gebäude hinaus auf das kahle Plateau des Flugplatzes, Es erstreckte sich vor ihnen; eine endlo se, ebene Fläche weißen, makellosen und unzerstörba ren Betons, die sich schließlich im Dunst des fernen Horizonts verlor. Über das gesamte Areal verstreut, standen etwa zwanzig Schiffe, glänzenden Pfeilen gleich; einige klein und dunkel in der Entfernung, an dere näher und im grellen Sonnenlicht gleißend. Aber Yorgen hatte nur Augen für ein einziges. Es war kleiner als die übrigen, seine Hülle weniger glänzend, weniger glatt und weniger schlank als die seiner Nachbarn. Als er es mit den anderen verglich, fragte sich Yorgen, wie es kam, daß ihm nicht bereits bei der Landung aufgefallen war, wie sehr es sich von ihnen unterschied. Vielleicht war sein Gefühl für das Außergewöhnliche während der fünfzehn Jahr hunderte getrübt worden, und die Fragen kamen ihm nicht mehr mit derselben Leichtigkeit in den Sinn wie in früheren Tagen. Die Formen des Schiffes waren etwas plumper, die Rundungen nicht so fließend wie die der leuchtenden Riesen rundum. Während sie die paar hundert Meter 162
zurücklegten, die es vom Gebäude trennten, wandte er den Blick nicht ein einziges Mal ab und trank je des kleinste Detail des Schiffsrumpfes förmlich in sich hinein. Als sie näher kamen, erkannte er mitt schiffs den helleren Glanz der neuen Hüllenplatte, die sie auf Morgwin eingesetzt hatten; bugwärts, ein wenig unterhalb der durchscheinenden Verkleidung der Kommandobrücke, entdeckte er den tiefen Krat zer, den ein langsamer Meteorit in die Metallplatten gegraben hatte, bevor der Kapitän merkte, daß sein Deflektor nur mit halber Kraft arbeitete. Darunter stand in großen, goldenen Lettern, die in der Sonne hell leuchteten, der Name: BEAUVILLON. Die Einstiegluke war offen, die Rampe herabge lassen. Sie blieben an ihrem Fuß stehen, und Murdo sagte: „Ich werde auf Sie warten. Es sind noch ande re an Bord, um ihre Siebensachen zu packen. Viele werden Sie nicht wiedersehen – sie haben bereits ei ne Entscheidung gefällt.“ Es war auch keiner darunter, den er jemals wieder zusehen wünschte, überlegte Yorgen. Nicht einen von den rund zweihundert Männern würde er vermissen. Nur das Schiff, das elf Jahre lang sein Zuhause gewe sen war, das ihn durch die Jahrhunderte getragen hatte, würde er als schmerzlichen Verlust empfinden. Er eilte die Rampe empor und tauchte in der Dun kelheit der Schiffsschleuse unter. 163
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Murdo wandte dem Schiff den Rücken zu und warte te geduldig im Schatten des riesigen Rumpfes. Er war zu einer Stunde Warten verurteilt, während der Barbar seine Sachen packte und Lebewohl sagte. Das war schon so oft geschehen. Aber das Ende stand nun bevor. In den nächsten fünf Jahren sollte das letzte der Pionierschiffe landen – vielleicht hier auf der Erde, vielleicht irgendwo in der Galaxie. Dann wäre diese Aufgabe vollendet, die Schiffe wären ab gewrackt und verschrottet, die Mannschaften ver streut, und eine seltsame Ära der Menschheitsge schichte hätte endgültig ihren Abschluß gefunden. Hinter ihm auf der Rampe erklangen Schritte. Murdo wandte sich erstaunt um und sah Yorgen auf sich zukommen. Er hatte nichts weiter bei sich als einen schäbigen Kunststoffkoffer, den er achtlos auf der rechten Schulter trug. Yorgen war kaum sechs Minuten fortgewesen. „Ist das alles?“ fragte Murdo unsicher. Yorgen blickte ihn kalt an und ließ seine Last auf den Boden plumpsen. „Ja, das ist alles“, sagte er rauh und stieß mit den Zehen danach, „alles, was ich nach elf Jahren He rumfahren besitze.“ Er wandte sich um und blickte zum gähnenden Schlund der Einstiegluke zurück. Dann warf er den leichten Koffer wieder über die 164
Schulter und wandte sich an seinen Begleiter: „Ja, Murdo, in diesem kleinen Päckchen sind vierzehn Jahrhunderte Geschichte eingeschlossen. Jeder Hi storiker würde mir wahrscheinlich schon für ein ein ziges Stück ein kleines Vermögen bieten – und wis sen Sie, was?“ Murdo sah ihn erwartungsvoll an. „Wissen Sie, was? Ich pfeife darauf – ich schere mich den Teufel darum.“ Er schritt die staubige Lan debahn zurück in die Richtung, aus der sie kurz zu vor gekommen waren. Murdo folgte ihm erst langsam, dann rascher in der Absicht, die enteilende, gebeugte Gestalt seines Schützlings einzuholen. Als er mit dem Barbaren auf gleicher Höhe war, bückte er von der Seite verstoh len in das magere, kantige Gesicht. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung bemerkte er, daß der Mann weinte.
Utopia-Zukunftsroman erscheint 14täglich im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt, Pabel-Haus. Einzelpreis 0,80 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 18. Die Gesamtherstellung erfolgt im Druck- und Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt. Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik; Alleinvertrieb und -auslieferung in Österreich: Zeitschriftenvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Pflanzmannstr. 13. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Um tausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1958. Scan by Brrazo 07/2006. Isaac Asimov, BELIEF, © 1954 by Street & Smith Publ. by permission of The Conde Nast Publ. & Panorama; Richard Bernard, KINDERSPIEL, © 1966 by Richard Baumann; James E. Gunn, THESE THINGS ARE SIRIUS. (c) 1951 by Standard Magazines, Inc. by permission of Altshuler & Panorama; W. W. Shols, DIE INSEL DER TOTEN, © 1966 by Winfried Scholz; Lan Wright, THE END OF THE LINE, © 1961 by Nova Publ. Ltd, by permission of John Carnell and Walter Ernsting.
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