1.
»Diesmal werde ich diesen Cnossos vernichten!« sagte Dragon erbittert. Er starrte geradeaus auf den Hafen hinunter...
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1.
»Diesmal werde ich diesen Cnossos vernichten!« sagte Dragon erbittert. Er starrte geradeaus auf den Hafen hinunter. Dort wurden die Schiffe ausgerüstet. »Das Maß dessen, was er mir angetan hat, ist voll!« Trotz der greifbaren Spannung, die wie ein dünner Nebel über dem Hafen und dem Ort Barut lag, schienen die Männer an Land und auf den Schiffen guter Dinge zu sein. Seit Tagen war der Wind ungünstig gewesen; er wehte mit großer Stärke und in ständig wiederkehrenden Stößen vom Meer zur Küste hin und brachte Feuchtigkeit und Dunst mit sich und Geruch nach fauligem Wasser und stinkendem Fisch. Jetzt herrschte Windstille. Jedes Geräusch schien doppelt und dreifach zu dröhnen. Die sieben Schiffe, unter ihnen die Schwarze Wellenreiterin, wiegten sich leicht in der Dünung. Die Taue knirschten in den Verbindungen und bewegten sich an den Pollern. Die dicken, eisenhart gewordenen Baumstämme mit den eisernen Ringen, hielten die Schiffe fest. Zwischen den Felsbrocken und den Quadern der Hafenmole bogen sich die Laufplanken, wenn die Träger ihre Säcke und Ballen in die Bäuche der Segler und Galeeren brachten.
»Schneller!« schrie ein Kapitän vom Achterdeck der Galeere herunter. »Mehr Kraft, mehr Geschwindigkeit, ihr faulen Hunde!« »Du kannst ja mitschleppen!« brüllte ein Aufseher zurück. Gewaltiges Gelächter fuhr durch die langen Reihen der Träger und durch die Gaffer, die in kleinen Gruppen herumstanden. Dragon lächelte nicht. Er ging langsam entlang des Kais. Hinter ihm schwenkten die Ladebäume; lange Balkenkonstruktionen, ausgerüstet mit Seilen, eisernen Ringen und knarrenden, kreischenden Flaschenzügen. Sie drehten sich, schwenkten herum, entließen ihre schwere Ladung auf die Decks der Schiffe. Langsam schob sich Dragon, begleitet von Nabib, dem Händler aus Thinayda, durch die Menge. Nach den Abenteuern in den Kavernen des »Herrn der Kristalle« war die Gruppe seiner Freunde, insgesamt zwölf Menschen, hierher gelangt. Der Ort Barut an der Totenküste war groß genug, so daß sie hier ihre Schiffe ausrüsten konnten. Kapitän Jaggar hatte mit wachsender Ungeduld auf Dragons Rückkehr gewartet – jetzt rüsteten sie, um zum entscheidenden Schlag gegen den Feind auszuholen. »Beim Gott des Handels und der Diebe«, sagte Nabib bedauernd. »Diese Schiffe! Sieben Stück! Welche Handelswaren ließen sich hier verschiffen! Sklavinnen
und kostbare Waren, falsches Gold und Stoffe ... aber ihr habt ja nichts anderes vor, als Krieger damit zu befördern!« Er schlug vorwurfsvoll die Hände über dem Kopf zusammen. »Wenn wir Cnossos besiegt haben«, versprach Dragon leise, »dann wird auch dein Handel wieder blühen, Freund aus Thinayda!« »Das Leben ist voller ›Wenn‹ und ›Aber‹«, murmelte Nabib. »Aber wenigstens ist das Wetter schön. Der Wind wird morgen auf das Meer hinausblasen.« »Hoffen wir‘s!« meinte Dragon leise. Sie gingen weiter. Überall bildeten sich Gruppen und lösten sich wieder auf. Matrosen und Ruderer der Schiffe schäkerten mit Mädchen aus dem Ort und aus den Hafenschänken. Ununterbrochen ging der Strom der Waren zwischen den Lagerhäusern hin und her. Die Segelmacher hatten mitten auf dem Hafenplatz ihre Leinwände ausgebreitet und hantierten an den Nähten, befestigten Ösen und Taue daran. Ein schlankes Mädchen kam vorbei und balancierte einen Weinkrug auf dem Kopf. In den Händen trug sie metallene Becher. Sie setzte den Krug in der Nähe der Segelmacher ab und verteilte die Becher. Sie wurde mit groben Scherzen, Gelächter und lautem Beifallsgeschrei begrüßt.
»Wir sind in einer Stunde auf dem Achterdeck der Wellenreiterin verabredet, vergiß es nicht, Freund Dragon!« sagte Nabib, der die Zweifel und die schweren Gedanken Dragons sehr wohl kannte. Dragons Sohn war verschwunden, und in seinem Herzen war ein kalter Haß auf Cnossos. »Ich weiß es«, erwiderte Dragon. Über Barut spannte sich ein strahlend blauer Himmel. Nicht eine einzige kleine Wolke war zu sehen. Die Sonne loderte jetzt, in der Mitte des Mondes des Fisches, stechend herunter. Es war ein wenig schwül. Jede Wasserpfütze auf den weißen Steinen und dem Sand bedeutete eine Erleichterung. Die Männer drängten auf raschen Abschied vom Land. Draußen, auf dem stillen Spiegel des Meeres, gab es Wind aus wechselnden Richtungen; kraftlos und immer wieder unterbrochen durch Stunden der Flaute. Es war ein schlechter Tag, um in See zu stechen. »Wir müssen unsere Reise genau vorbereiten. Viel List wird nötig sein«, sagte Nabib, grinste eine vorübergehende Sklavin lüstern an und beobachtete dann fachmännisch das Verladen von Büscheln frischer Früchte. »Genau das tun wir hier«, antwortete Dragon nachdenklich. »Du hast recht. Es wird sehr viel Klugheit erfordern, die Insel anzulaufen und dort eine bestimmte Rolle zu spielen. Aber viele von uns sind
gute Schauspieler geworden.« »Das stimmt. Aber es geht nicht nur darum, die Herrin der Insel zu täuschen, sondern auch, einen furchtbaren Kampf zu bestehen.« Dragon drehte den Kopf und lächelte den kleinen, fetten Händler an. Er war ihm ein guter Freund geworden, dieser Mann von der Weißen Küste. Mutig und unerschrocken versuchte er alles, was sich ihm bot, zu einem guten Geschäft zu machen. Und er scheiterte meistens, so wie er, Dragon, bisher immer wieder gescheitert war, kurz vor dem entscheidenden Moment. Nabib sagte zögernd, als fühle er sich verantwortlich für den schlechten Wind: »Ich habe heute mit einem klugen Mann gesprochen. Er sagt, daß heute nacht der Wind umspringen und genau in die Richtung blasen wird, in die wir segeln wollen.« »Hoffentlich behält er recht!« Dragon fühlte sich schwach auf der einen, stark und wie neugeboren auf der anderen Seite. Er besaß, bis auf vermutlich geringfügige Einzelheiten alle seine Erinnerungen wieder. Er war schlagartig zu einem anderen Menschen geworden, zu einem Fremdling in einer Welt, die er sich erobern mußte. Einen Teil seiner Strecke hatte er bereits in schnellem Lauf zurückgelegt. Ein größerer Teil lag unzweifelhaft vor ihm. Er
schwankte zwischen Zuversicht und Skepsis. »Wir werden sehen«, meinte er nach einigen Schritten. »Wenn wir morgen früh ablegen können, dann kommen wir noch rechtzeitig genug vor Cnossos auf der Insel der Kyrace an.« »Er sagte, der Kenner der Winde, daß er sich noch niemals geirrt hat«, erklärte Nabib. »Oder fast niemals«, setzte er etwas zurückhaltender hinzu. »Und ich werde mich die ganze Reise über wieder mit dieser lüsternen Iwa herumärgern müssen.« Dragon lachte, obwohl ihm nicht recht danach zumute war. »Du kannst auf ein anderes Schiff ausweichen. Möchtest du nicht auf einer Galeere mitrudern? Das gibt starke Arme und einen flachen Bauch!« »Ein dicker Bauch ist mir lieber. Außerdem verleiht er mehr Würde!« erklärte Nabib im Brustton der Überzeugung. Ihr Vorhaben war zweifelsohne riskant und gefährlich. Es gab viele Klippen in ihrem Plan, an denen sie scheitern konnten. Deshalb wurden die Schiffe vom Kielraum bis zu den Mastspitzen durchgesehen und ausgebessert. Man lagerte Trinkwasser und Schlachttiere ebenso ein, wie eine Menge Ersatztaue aus bestem Hanf und den teuersten Sehnentauen. Die Segel wurden getrocknet und ausgebessert. Waffen wurden an Bord gebracht,
Ersatzanker und Rüstungen, Mäntel und alles, was man für eine lange Reise ins Ungewisse zu brauchen glaubte. Lange hatte Dragon mit den sechs anderen Kapitänen und Jaggar verhandelt. »An die Würde denke ich zuletzt!« erklärte Dragon und blieb im Schatten eines der Schiffshecks stehen. Ihre Ausrüstung war sicher in den Kammern und unter Deck der Schwarzen Wellenreiterin verstaut. Der Zeitpunkt, an dem sie sich zur letzten Beratung treffen würden, war allen bekannt. Nur ... sie kannten kaum etwas von dem, was sie auf dem Eiland der Kyrace und am Hof dieser angeblichen Zauberin vermutlich finden würden. Dies würde keine Auseinandersetzungen mit stählernen Waffen werden, sondern eher ein Kampf der Gedanken, der List und der Klugheit. Das ahnte Dragon im Augenblick. »Ich gehe in die Schenke und trinke ein Glas kalten Wein!« sagte Nabib und winkte dem dicken Mädchen zu, das neben dem Wirt in der offenen Tür stand. »Schon gut!« meinte Dragon zerstreut. Er wartete. Seine Augen nahmen das farbige Bild auf. Er dachte ununterbrochen an den verwegenen und kühnen Plan, den sie entwickelt hatten. Wo war der Fehler? Gab es einen Fehler? Alles, was sie hier im Hafen vergaßen, konnte sich auf See und an Ort und Stelle verhängnisvoll auswirken. Immer wieder dachte Dragon an Amee, an seine Königin, an seinen
verschwundenen Sohn und an die Rache. Dann wieder kamen ihm Einzelheiten der Bewaffnung in den Sinn, Ausrüstungen und die Goldstücke, die er bezahlt hatte, die Freunde, die mit ihm reisten und mit ihm gegen den Cnossos kämpfen werden ... und dann das Unbekannte, Fremde. »Kyrace!« sagte er leise. »Wer ist sie? Wie ist sie? Wie werde ich sie überzeugen und täuschen können?« Er hob die breiten, von der Sonne gebräunten Schultern. Noch wußte er es nicht. Über ihm entstand Bewegung. Ein langer Schatten schwebte vor seinen Augen über den Sand. Das Ende eines Taus schwang vom Heck der Wellenreiterin durch den Sand, ein Mann in dünnen Stiefeln und ausgefranster heller Hose stolperte und ließ das Tau los. Er kam auf ihn zu. »Taihara!« sagte Dragon. Es war der Steuermann des Schiffes. Ein junger Mann mit scharfen Gesichtszügen und den Augen eines Falken. »Ich grüße dich, Dragon!« sagte Taihara nicht im mindesten verlegen. »Mich schickt Kapitän Jaggar. Er möchte mit dir reden, denn er denkt, daß sein Schiff fertig beladen und bereit ist.« Dragon erwiderte den harten Händedruck. Taihara, ein Mann, der nicht viel redete und blitzschnell handelte, war ein begnadeter Steuermann. Er schien über einen zusätzlichen Sinn zu verfügen und war,
wenn er am Ruder stand, ein Teil des Schiffes. »Ich komme gleich«, antwortete Dragon. »Sind die anderen Freunde bereits alle an Bord?« »Bis auf Nabib. Yina ist ohnehin nicht von der Seite Jaggars wegzubekommen«, entgegnete der Steuermann. Sein nackter Oberkörper glänzte von Schweiß. Teer und die Spuren schmutzigen Ballastwassers zeichneten sich auf seinen kräftigen Oberarmen ab. »Gut. Ich gehe nur hinüber zu Nabib, er trinkt gerade einen Schluck. Komm mit mir, wir holen ihn.« Taihara grinste breit. »Dagegen ist nichts zu sagen. Verdammte Hitze. Und kein Wind. Da verkümmert eine Steuermannsseele!« »Das kann ich verstehen. Sie haben einen verdammt guten Wein hier in Barut«, sagte Dragon und schlug Taihara auf die Schulter. Zusammen gingen sie hinüber zur Schenke, schlugen den dünnen Vorhang zurück und traten in das Halbdunkel des Raumes. Nabib saß neben dem Weinfaß, hatte in einer Hand den Weinbecher und auf den Knien das dicke Mädchen, das in sein Ohr kicherte. »Hierher!« schrie er, als er Dragon und den Steuermann erkannte. »Hier ist es angenehm. Und dieser rote Wein ...« Er schmatzte begeistert. Nabib schien ein Naturtalent zu sein. Seine Art
gefiel offensichtlich jedem Mädchen, obwohl er nicht gerade das war, was man einen gutaussehenden Mann nannte. Dragon winkte ab und deutete auf das Faß. »Wirt! Zwei große Becher vom besten!« »Sofort, Herr!« rief der Wirt und watschelte durch den Raum, schnappte sich zwei Becher und zapfte aus dem Faß ab. Der Wein war stark, aber kühl. Dragon und Taihara tranken in vollen Zügen. Dann begann sich Dragon etwas zuversichtlicher zu fühlen. Er warf dem Wirt eine Münze zu, die sicher in den dicken Fingern landete. Schließlich, als der Becher leer war, sagte Dragon zu dem schäkernden Nabib: »Auf, Händler! Das Abenteuer wartet. Da muß die Liebe zurückstehen.« Nabib ließ das Mädchen von seinen Knien gleiten. »Mann des Schwertes und der Rache«, sagte er anklagend und stand auf. »Hin und wieder sagst du Dinge, die sich in Stein gemeißelt sehr gut ausnehmen würden. Besonders seit dem Augenblick, wo du deine Erinnerungen wiederbekommen hast.« Sie verließen zu dritt die Schenke und traten hinaus in die sengende Hitze des frühen Nachmittags. Die Lastenträger wurden gerade entlohnt. Die Ausrüstung der Schiffe schien dem Ende zuzugehen. Nur die Ladebäume drehten, hoben und senkten sich noch. Eine Menschengruppe aus alten Frauen und schläfrigen Fischern hielt die Freunde auf. Ein dichter
Kreis umstand jemanden, der mit schriller Stimme auf die Menschen einredete. Dragon schob sich zwischen den Stadtbewohnern hindurch und blieb stehen, hinter ihm Taihara und Nabib. Ein Mann mit langem, weißen Haar, bartlos und gebückt, blickte mit zerstörten Augen in seine Richtung. Er war blind, wie das Kind bewies, das zu seinen Füßen im Schatten des gebeugten Körpers saß. »Dich kann ich nicht sehen, starker Mann!« schrie der blinde Bettler und Wahrsager. »Aber ich spüre dich. Du ziehst aus, um einen schweren Kampf zu wagen.« Ein überraschtes Murmeln durchlief die Gruppe. Dragon kreuzte die Arme auf der Brust und murmelte: »Du hast recht, alter Mann.« Aufgeregt, als lodere in ihm ein inneres Feuer, das seine Worte formulierte, sprach der blinde Wahrsager weiter. »Du willst mit vielen Schiffen in See stechen und mit vielen Männern, die des Kämpfens wohl mächtig sind. Aber du wirst erkennen müssen, daß der unsichtbare Kampf des Geistes viel schwerer ist als eine Schlacht.« Es war Dragon, als berühre ihn eine eiskalte Hand zwischen den Schulterblättern. Auch Taihara und Nabib bewegten sich unruhig. Wieder murmelten die Fischer und Frauen auf. Sie starrten entsetzt auf den weißhaarigen Mann und auf Dragon, der sie alle um
Kopfeslänge überragte. »Eine unvorhergesehene Unterbrechung wird erfolgen, noch ehe die Taue gelöst sind!« prophezeite der Greis. Sein Gesicht war braungebrannt und voller tiefer Falten. Seine Augen waren gänzlich weiß. Ein gespenstischer Anblick. Seine zitternden Finger deuteten genau auf das Gesicht Dragons. »Und du wirst deinen Gegner bekämpfen, deinen ältesten und furchtbarsten Gegner. Du wirst siegen, aber dein Sieg wird niemals vollkommen werden. Das ist dein Schicksal.« Unruhig geworden, fragte Dragon zurück: »Was weißt du noch? Was kannst du uns noch sagen?« Der Bettler schüttelte den Kopf, daß die verfilzten Haare flogen. »Nichts mehr. Ich kann nicht mehr sehen. Die Zukunft ist dunkel. Sie ist hinter dem Schleier aus Schwärze verborgen. Lasse Milde walten, Herr. Ich bin ein armer Mann, und dieser junge Sklave ist noch viel ärmer als ich.« Dragon fischte eine silberne Münze aus dem Fach seines Gürtels und ließ sie in die hölzerne, abgegriffene Bettelschale fallen. Die Umstehenden waren verwundert über den Wert dieses Almosens, aber für Dragon war es mehr als ein Geschenk, denn dieser Mann dort im Zentrum des Kreises sprach aus, was er
dachte. Langsam bahnte er sich einen Weg rückwärts durch die Gaffenden und Wartenden und blieb neben der Schwarzen Wellenreiterin stehen. »Ihr habt gehört, was uns erwartet!« sagte er zu Taihara und Nabib. »Er sagte nichts von Unglück, Sturm oder Mastbruch«, widersprach der Steuermann. »Und über einen fehlgeschlagenen Handel sprach er auch nicht«, gab sich Nabib zufrieden. »Gehen wir«, meinte Dragon. Sie betraten die Planke, kamen seitlich vom Achterdeck auf die Wellenreiterin und sahen sich um. Die anderen Freunde warteten bereits, und unten auf dem Schiff herrschte die letzte Betriebsamkeit. Auch die Segelmacher rollten ihre Leinwandstücke ein und schleppten sie auf die Schiffe. Noch immer war das Meer von einer leichten, tiefhängenden Nebelschicht bedeckt. Der Horizont war unsichtbar. Dragon kletterte auf das Achterdeck hinauf und begrüßte die Freunde. Er setzte sich und blickte von einem der vertrauten Gesichter zum anderen. Jaggar, der Kapitän und der Verantwortliche dieses Zuges, hob die Hand. Neben ihm, irgendwie verwandelt und verändert, saß Yina, die »Maus«. Jeder wußte, daß Jaggar und sie sich liebten. Nabib lehnte sich gegen das Schanzkleid und murmelte:
»Aufbruchstimmung. Schwarze Gedanken breiten sich in den Seelen aus. Auch in meiner Seele, wenn ich die Kräuterschwester dort drüben sehe.« Er grinste und wartete auf das, was hier gesprochen werden würde. Es war eine Art Kriegsrat. »Zunächst Jaggar, der Kapitän«, sagte Dragon und lehnte sich bequem zurück. »Wie steht es mit den Schiffen?« Jaggar kraulte seinen Bart und erwiderte mit seiner kräftigen Stimme: »Wir haben lange auf dich gewartet, Herr! Diese Zeit ist von uns gut genutzt worden. Wir sind getaucht und haben den Bewuchs von den Schiffsrümpfen entfernt, haben fauliges Holz ersetzt und die Schiffe vom Bug bis ins Heck gesäubert und überprüft. Jedes der sieben Schiffe. Dann haben wir Proviant, Wasser und Waffen an Bord genommen. Ich kann sagen, daß selten ein Vorstoß ins Unbekannte so gut vorbereitet wurde. Alle sieben Schiffe sind von erstklassigen Kapitänen und Steuerleuten geführt. Meiner entert gerade den Großmast und versucht, durch den Nebel zu blicken.« Jaggar streichelte Yinas bloßen Oberarm und deutete schräg hinauf gegen die Sonne. Dort turnte Taihara in die Spitze des längsten Mastes und hob sich scharf gegen das gleißende Sonnenlicht ab. »Wir sind alle an Bord. Wir sind ausgerüstet und bereit«, sagte Iwa und nickte Dragon zu. »Die
schwerste Aufgabe wird dir zufallen, Dragon. Du sollst als fremder König unter falschem Namen der Kyrace gegenübertreten, mit deinem reichhaltigen und bizarren Gefolge. Und du mußt versuchen, den Balamiter auszuschalten. Hoffentlich kommen wir früh genug auf der Insel an!« Hegon, der Anführer der urgoritischen Soldaten, donnerte los: »Heute nacht springt der Wind um! Jeder sagt es. Morgen früh oder gar noch in der Nacht werfen wir die Taue los!« Der Troll Erbolix kicherte und bemerkte: »Oder wir lichten die Anker.« Sie alle wußten, was Dragon mit den sieben Schiffen vorhatte. Sie wollten unter falscher Flagge und unter falschen Namen auf der Insel landen, die Gastfreundschaft der Zauberin in Anspruch nehmen und Cnossos überfallen, sobald der Balamiter seinen Fuß auf den Strand des Eilands setzte. »Bisher«, führte Iwa aus, »hat Cnossos uns immer überfallen, wenn wir nicht auf ihn gefaßt waren. Wir sind in seine Falle gelaufen. Dieses Mal soll er in unsere Falle gehen.« »Das haben wir vor. Jeder von euch kennt seine Aufgabe?« fragte Dragon. Er konnte keinen besseren und genaueren Plan machen, denn sie kannten die genauen Umstände nicht, die sie erwarteten. Immerhin
würden sie nach Westen segeln, und die Reise versprach, weder besonders anstrengend noch lange zu werden. Plötzlich schrie eine Stimme hoch über ihnen: »Kapitän? Dragon! Ein großes Schiff! Es kommt direkt auf uns zu!« Jaggar sprang auf. Mit einem Satz schwang sich Dragon auf die Brüstung und spähte zwischen Tauwerk, Masten und Rahen nach vorn. Er sah etwas Großes, Undeutliches aus dem Nebel kommen. Jaggar brüllte zu Taihara hinauf: »Was siehst du, Steuermann?« Aus der Stimme des Mannes klangen Erschrecken und die Ahnung von großen Gefahren. Taihara brüllte zurück: »Kapitän! Ein großes Schiff mit schlaffen Segeln. Ich sehe niemanden an Bord. Aber es macht Fahrt. Es wird, wenn wir nichts tun, die Schiffe aus Myra rammen. Es hat einen eisernen Rammsporn.« Jaggar und Dragon wechselten einen Blick. »Los!« sagte Dragon. »Vielleicht Angreifer. Sehen wir nach. Ein Boot und die kräftigsten Ruderer!« Während der Kapitän, Dragon und Hegon auf das Boot zurannten, kletterte Taihara wie ein Wiesel die Wanten herunter. Ein fremdes Schiff fuhr langsam auf sie zu. Was brachte es mit sich? Soldaten, Piraten oder andere Gefahren? Niemand wußte es.
2.
Alles ging in rasender Eile. Zehn Männer sprangen auf das Boot zu, rissen es aus den breiten Bändern, mit denen es an Deck vertäut war. Sie schleppten es an die Reling und warfen es einfach ins Hafenwasser. Dann sprangen sie hinterher. Auch Dragon, der urgoritische Krieger und der Kapitän hechteten vom Bugspriet der Wellenreiterin in das warme, stinkende Wasser und ließen sich ins Boot ziehen. Der Steuermann ergriff ein Tau und schwang sich über das halbe Deck, wechselte blitzschnell die Griffe und landete federnd neben dem Ruder des Bootes. »Schnell! Auf das Schiff zu!« sagte Dragon. Jetzt sahen sie es deutlich. Auch auf den anderen Schiffen gab es Lärm, Füße rannten über die Decks, Stimmen brüllten Befehle. Nabib, der Händler, saß rittlings auf dem massigen Bugspriet und schrie, beide Hände trichterförmig an den Mund gelegt: »Dragon! Jaggar!« Die beiden Angerufenen drehten sich um. »Was gibt es?« schrie der Kapitän. Seine Augen funkelten, sein Bart sträubte sich kriegslustig. »Ich kenne das Schiff, Freunde! Es ist keine Gefahr!«
»Welches Schiff?« Ächzend ruderten die zehn Männer. Die langen, schlanken Riemen hoben und senkten sich, bogen sich und tauchten ins Wasser, trieben das Boot in schnellen Stößen vorwärts, auf das dickbauchige Schiff zu. »Es ist die Stolz von Sodok! Ein Handelsschiff. Vielleicht ist eine Seuche ausgebrochen. Seid vorsichtig.« »Das ist etwas anderes«, meinte Dragon erleichtert. Dann schrie er über die größer werdende Entfernung hinweg: »Wer ist der Schiffsherr?« »Gabor. Mein Freund.« Also kein Angreifer. Aber der gefährliche Eindruck blieb. Dragon kniff die Lider zusammen und spähte aus seinem Sitz im Bug des schmalen Bootes nach vorn. Der Anblick war merkwürdig genug. Das Schiff war ein dunkler und dickbäuchiger Dreimaster. Viele, aber nicht alle Segel waren gesetzt. Hin und wieder schlugen sie gegen die Masten und Rahen, und ein wenig Wind bewegte den schweren Rumpf, der tief im Wasser lag. Nicht ein einziger Mann war auf dem Deck oder in den Wanten des Handelsschiffes zu sehen. Lautlos trieb das Schiff näher, langsam, aber auf geradem Kurs. Es würde tatsächlich die Schwarze Wellenreiterin rammen. Jaggar drehte sich wieder um und beschattete die
Augen mit der flachen Hand. »Was ist mit diesem Schiff? Es wirkt wie ein Geisterschiff.« In schnellen Stößen durchschnitt das Boot die niedrigen, langen Wellen. Die Ruderer keuchten und schwitzten. Taihara steuerte das Boot nicht direkt auf den rostigen Rammsporn der Stolz von Sodok zu, sondern auf die Steuerbordseite des dickbauchigen Schiffes hin. »Tatsächlich! Niemand an Bord!« Wieder knallte dumpf ein Hauptsegel. Die Taue knirschten, das Holzwerk knarrte. Nichts und niemand bewegte sich. Nur einmal glaubte Dragon, ein kleines weißes Tier am Hauptmast zu sehen. Jetzt waren das Boot und das Schiff einander bis auf zwanzig Mannslängen näher gekommen. »Bei der ewigen Brandung!« sagte der Kapitän und federte in den Knien. »Das Schiff wird tatsächlich unsere kleine Flotte rammen. Wir müssen etwas unternehmen.« »Wir entern!« ordnete Jaggar an. »Einverstanden, Dragon?« »Natürlich.« Zehn, fünfzehn Schläge der exakt arbeitenden Ruderer. Das Boot schnitt schräg vor dem Bug und dem Rammsporn vorbei, fuhr eine vollkommene Wende und wurde dann genau neben die Bordwand gebracht. Fünf Riemen wurden senkrecht nach oben
gekippt. Das kleine Boot wurde langsamer, die Bordwand zog vorbei. Ein Tau hing herunter und schleifte im Wasser. Taihara zog sein Messer, nahm es zwischen die Zähne und überließ das Ruder einem der anderen Männer. Er stand auf, sprang schräg auf die Bordwand zu und klammerte sich mit Händen und Füßen an das Tau. Er kletterte behende nach oben. Dragon ergriff das Tauende und hielt es straff, hakte seine Waden unter eine Ruderbank und blieb sitzen. Der Steuermann erreichte die Reling, ließ mit einer Hand das Tau los und schob sich über die hölzerne Barriere. Dann war es einen Augenblick ruhig. Der Kopf tauchte wieder auf, als alle Insassen des Bootes nach oben starrten. »Ein Totenschiff! Kommt herauf, ich werfe eine Strickleiter. Hier liegen überall Sterbende und Leichen!« Dragon sagte scharf: »Hinauf, Freunde!« »Wirf das Steuer herum!« brüllte der Kapitän. »Wir kommen!« Kurze Zeit später fiel dicht neben dem Boot eine lange Strickleiter herunter und klatschte mit dem Ende ins Wasser. Taihara verknotete die Tauenden an der Reling und rannte über das Deck davon, nach achtern.
Nacheinander ergriffen Dragon, Jaggar und Hegon die Sprossen der Leiter. »Rudert nach vorn, Freunde. Wir schleppen das Schiff in den Hafen. Drüben, neben der Galeere, ist noch Platz!« rief der Kapitän. »Wirf uns ein Tau herunter!« »Von vorn, vom Bug!« sagte Jaggar. Sie kletterten so schnell hinauf, wie sie konnten. Je näher sie dem Deck kamen, desto deutlicher wurde ein Geruch nach Fäulnis und Tod. Es stank aus den Tiefen des Schiffes ebenso wie auf dem Deck. Mit einem Satz landete Dragon neben der Reling. Er blickte nach links; dort stemmte sich Taihara gerade gegen den Schaft des Steuerruders. Widerstrebend gehorchte das schwerbeladene Schiff dem Ruder. Dragon half Jaggar und Hegon, dann blieben sie stehen und sahen sich um. Das Bild war erschütternd. Das Deck in drei Ebenen war mit Abfall, Kleidern und Tauwerk übersät. Leere Flaschen aus schlaffem Leder lagen umher, einige Messer steckten im Holz, und überall lagen verkrümmte Gestalten. »Kümmert ihr euch um die Leute – falls sie noch leben!« sagte Hegon. »Ich suche ein Tau für das Boot.« Er rannte nach rechts davon. Dragon und Jaggar stiegen hinunter auf das mittlere Deck. Hier schlug ihnen noch stärkerer Gestank entgegen. Ein langgezogenes, qualvolles Stöhnen
ertönte aus dem Schatten neben einer großen Taurolle. Das Deck war voller verfaulter Früchte, um die sich summend Fliegenschwärme sammelten. Dragon umrundete den Mast, rutschte aus und fing sich wieder. Unter einem schlampig gespannten Stück Segeltuch lag ein langer, dünner Mann auf einigen Bündeln Kleidung, über die ein großer, weißer Mantel gebreitet worden war. Er öffnete die Augen. Es war nicht klar, ob er den Mann sah, der vor ihm stand. Dann stöhnte er wieder. Als Dragon neben dem Fremden auf die Knie ging und ihn genauer ansah, fiel ihm die bleiche, fleckige Hautfarbe auf. Die Finger des Fremden fuhren zitternd über seine Kehle. »Das Wasser ...«, röchelte er. »Wir sind alle ...« Dragon sah, daß er im Augenblick nicht helfen konnte. Er beugte sich über den Fremden und sagte langsam. »Wir sind in einem Hafen. Wir werden euch helfen. Du bist vielleicht Gabor aus Sodok?« Der Fremde nickte schwach. Er war todkrank. Dragon sprang auf die Beine und ließ den Mann im Schatten liegen. Drei Schritte weiter fand er einen Toten, der stark verwest war. Tausende Fliegen hatten sich versammelt, also mußte das Schiff schon seit Tagen in dieser Hitze dicht entlang der Küste getrieben sein, auf einem zufälligen Kurs. Dragon ging weiter.
Ein wimmernder, röchelnder Matrose, halbnackt und voller blasenbedeckter Haut – vermutlich hatte er nicht mehr die Kraft gehabt, aus der stechenden Sonne wegzukriechen –, lag neben der Reling. Als Dragon den Bug erreichte, sah er, daß die Stolz von Sodok von den Ruderern im kleinen Boot, das mit einem Tau am großen Schiff befestigt war, bereits geschleppt wurde. Am Ufer machten sich die Matrosen, einige Soldaten und Fischer bereit, das Schiff heranzuziehen und die Taue zu belegen. »Dragon!« schrie Jaggar vom Heck her. Dragon richtete sich auf. Er hatte einen zweiten Toten und zwei weitere Kranke gefunden. »Ja? Was gibt es?« »Ich habe gezählt. Hier leben noch sechs Männer. Aber sie fiebern und werden sterben.« Dragon schüttelte den Kopf und rief: »Sie müssen nicht sterben. Wir können helfen. Ich denke an Iwa und ihr Können.« »Gleich werden wir es sehen.« Als das Schiff mit einem dumpfen Dröhnen am Kai anstieß und mit großer Eile belegt wurde, hatten die drei Männer das Schiff durchstreift. Sie fanden insgesamt zwölf lebende Männer. Sie waren krank, durstig und fieberten. Neun der Matrosen waren tot. Von ihnen konnte man vier nicht mehr erkennen, weil ihre Körper bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen und
ihre Gesichtszüge entstellt waren. Die erste Laufplanke krachte auf das Deck herunter. »Hierher! Bringt Iwa her!« schrie Dragon. In den nächsten zwei Stunden wimmelte das fremde Schiff von Menschen. Eine fieberhafte Tätigkeit brach aus. Matrosen enterten die drei Masten und schlugen die Segel an, spannten die Taue neu und fingen ein weißes Baumhörnchen mit roten Augen, das in der Takelage herumturnte und vor Angst halb wahnsinnig war. Frauen kamen an Bord und brachten Sand und Wasser mit. Sie begannen das Schiff vom Bug her zu säubern. Vorsichtig schaffte man die zwölf todkranken Männer auf die Schwarze Wellenreiterin. Man schleppte sie auf Bahren und großen Mänteln vom Schiff, über den Sand des Hafens und unter das große Sonnensegel, das sich über dem Heck des ehemaligen Piratenschiffes spannte. Iwa warf nur einen langen Blick auf Gabor, den Nabib wie eine Glucke umschwänzelte, dann winkte sie einige Frauen heran und redete wild auf sie ein. Die Frauen begriffen und rannten davon. Dragon hielt sie fest, als sie über die Laufplanke zum Schiff zurückrennen wollte. »Was willst du tun, Iwa?« fragte er ruhig. »Kannst du sie heilen?« »Wahrscheinlich. Ich habe sie nur um einige Dinge
geschickt. Die Männer müssen viel trinken und kräftige Nahrung zu sich nehmen. Und einen Tee von mir, einen ganz bestimmten Tee!« Sie grinste Dragon an, schob ihn zur Seite und lief behende zurück ins Schiff. Dragon lächelte und sah zu, wie das Schiff gereinigt wurde. Yina kam vorbei. Sie hielt das weiße Tierchen mit dem langen, buschigen Schwanz im Arm und streichelte es. Zweifellos hatte das Baumhörnchen seine Angst verloren. »Wenn du Erbolix findest, den Troll«, sagte Dragon, »dann bitte ihn, er soll den zwölf kranken Männern ein bißchen helfen.« »Ich suche ihn!« versprach Yina. Seit sie Jaggar liebte, strahlte sie den ganzen Tag. Sie schien sich verändert zu haben. »Gut.« Einige Freunde von Nabib inspizierten das Schiff und seine Ladung. Sie stellten fest, daß die Ladung unangetastet war und – wertvoll. Aber das Wasser in den Fässern und den ledernen Säcken war verdorben und ungenießbar. Es stank, und in den Säcken hatte sich ein schleimiger Belag gebildet. In großer Eile wurden sie aus dem Schiff geschleppt. War das die Störung, von der jener blinde Bettler gesprochen hatte? Dragon hob die Schultern und ging zurück ins Schiff. Eine neue Möglichkeit für die Fahrt nach der Insel
der Kyrace kam ihm in den Sinn. Er lehnte sich an den Mast und schaute hinüber zu den Fremden. Man entkleidete die Männer und wusch sie. Die Haut wurde mit Öl und Salben behandelt. Iwa kochte aus ihren undefinierbaren Kräutern einen Tee, der sehr merkwürdig roch. Sie hatte einen runden Kessel an einem Dreifuß aufgehängt und ein kleines Feuer in einer Mulde aus Ton entfacht. Sie hockte vor ihrem Gebräu und träufelte aus ihren Tonfläschchen schillernde Flüssigkeiten in den dampfenden Sud. Dem Matrosen, dessen Haut verbrannt war, wurden breite Binden angelegt. Der Steuermann Taihara blieb neben Dragon stehen und fragte leise: »Wird Iwa die Männer tatsächlich retten?« Dragon dachte an die vielen Zeichen ihres Könnens, die er miterlebt hatte, dann erwiderte er zuversichtlich: »Ich bin überzeugt davon, Taihara. Morgen früh, nach einem langen Schlaf, sieht alles ganz anders aus!« »Ich hoffe es für diesen mageren Kaufmann!« murmelte der Steuermann und half einigen jungen Männern, Eimer mit Meerwasser an Deck zu hieven. Zuerst hatte man den zwölf Überlebenden den abgekühlten Trank Iwas eingeflößt. Einige hatten sich erbrochen, aber den zweiten großen Schluck hatten ihre Mägen behalten. Dann schliefen die Männer ein, im
kühlen Schatten unter der Leinwand. Man weckte sie einige Stunden später und flößte ihnen einen Krafttrunk ein, der aus den wertvollsten Bestandteilen der besten Nahrungsmittel bestand. Wieder schliefen sie. Das weiße Baumhörnchen war aus Yinas Händen gesprungen und schlief, in seinen Schweif gerollt, auf der Brust Gabors. Iwa hatte festgestellt, daß die Männer an dem verdorbenen Wasser erkrankt waren. Ihr Trank schien den körperlichen Verfall schlagartig angehalten zu haben. Der stärkende Trunk und der Schlaf hatten weiterhin heilend gewirkt, und Dragon wußte, daß auch der Troll mitgeholfen hatte. Nur noch einige Fackeln und Öllampen brannten im Hafen. Einige späte Gäste torkelten jetzt, es war fast Mitternacht, aus der Schenke. Auch das Heck der Wellenreiterin war erleuchtet. Nabib hatte Gabor nicht verlassen; er war rührend und ohne jede Absicht, ein gutes Geschäft damit zu verbinden, um Gabor bemüht. Aber bei Nabib konnte man das nicht so genau sagen. Vielleicht witterte er doch etwas, das er mit Gewinn verwerten konnte. Langsam ging Dragon auf Nabib zu, der leise mit seinem Bekannten sprach. Als der Händler aus Thinayda die Schritte hörte, wandte er sich um und erkannte im schwachen Licht der Öllämpchen Dragon. Die kleinen Flämmchen flackerten stark. Es war
wieder Wind aufgekommen. »Er ist wach, Dragon!« sagte er leise, um die anderen Schlafenden nicht zu stören. Dragon setzte sich auf einen Schemel neben den Fremden. »Ich habe ihm schon von uns erzählt. Er kennt dich natürlich – dem Namen nach!« sagte Nabib. Dragon streckte die Hand aus. »Ich bin Dragon!« sagte er halblaut. »Und du bist Gabor, der reiche Freund Nabibs aus Sodok?« »So ist es. Herr. Ich danke dir für alles. Wir wären wohl gestorben ohne eure schnelle Hilfe. Dieser bittere Tee hat ein Wunder bewirkt.« Dragon betrachtete Gabor von Sodok genauer. Es war ein großer, hagerer Mann. Er schien aus nicht viel mehr, als aus Muskeln und Knochen und wettergegerbter Haut zu bestehen. Sein Kopf war in der vorderen Hälfte haarlos, aber der andere Teil des Kopfes war mit langem, an den Spitzen ergrautem Haar bedeckt, das bis weit auf die Schultern fiel. Schwarzes Haar, dunkle Brauen und ein Schnurrbart, dessen lange Enden weit nach unten hingen, umrahmten die Gesichtszüge. An den Fingern glänzten wertvolle Ringe. Die Augen waren von einem strahlenden Blau, die Falten um Nase und Mund verrieten einen merkwürdigen, gegensätzlichen Charakter. »Danke nicht mir. Meine Freunde haben dir viel mehr geholfen. Woher kommst du? Wohin wolltest
du mit dem Schiff?« Gabor lächelte leicht und erwiderte: »Wir wollten zur Insel der Kyrace segeln, Herr.« Dragon sprang auf. Ihm war, als habe ihm jemand eine glühende Nadel in den Rücken gestoßen. »Zur Kyrace?« flüsterte er ungläubig. Das war schon kein Zufall mehr. Das war ein ... ein unerwarteter Glücksfall. »Ich komme aus einer Handelsstation der südlichen Küste«, sagte Gabor mit leiser, aber fieberfreier Stimme. »Ich habe dort eine Menge von Gütern und Waren eingekauft, die Kyrace bei mir bestellt hat.« »Du kennst die Zauberin gut?« erkundigte sich Dragon lauernd. Nabib verfolgte die Unterhaltung gebannt, aber schweigend. Seine Augen sahen wieselflink zwischen Dragon und Gabor hin und her. »Kaum ein Händler kennt sie besser als ich. Eine wunderbare Frau. Jeder begehrt sie, aber niemand bekommt sie wirklich.« Dragon hob die Hand und stellte eine Frage. »Du willst also zur Insel der Kyrace. Die Krankheit hat euch davon abgehalten. Was würdest du dazu sagen, wenn wir mit deinem Schiff und mit dir und den genesenden Matrosen dorthin segelten?« Gabor grinste schwach und erklärte: »Dann würde ich euch lobpreisen. Man findet seines Lebens keine solch großzügigen Freunde.«
»Und vielleicht«, mutmaßte Nabib listig, »würdest du auch einen Teil deines Gewinns an uns abgeben?« Gabor hob abwehrend beide Hände. »Vielleicht!« meinte er verdrossen.
3.
»... habe Kyrace schon ein halbes Dutzend Male besucht«, sagte Gabor und drehte einen seiner Ringe in einer monotonen Bewegung um den Finger. »Ich kenne sie ziemlich gut. Eine hinreißende Frau! Sie bestellt bei mir teure Handelswaren und zahlt mit Gold und Edelsteinen. Wahrscheinlich kommt das Gold aus den Geschenken, die sie von ihren Anbetern erhält.« »Viele Anbeter?« fragte Nabib. Das weiße Baumhörnchen zuckte im Schlaf und wickelte sich noch tiefer in seinen Schwanz. »Sehr viele. Bei meinem letzten Besuch erfuhr ich, daß sie sich ernsthaft zu binden gedenkt.« Dragon zuckte zusammen. »Sie will heiraten? Wen?« Der reiche Händler aus Sodok hob seine schmalen Schultern und knurrte: »Ich weiß es nicht genau. Jemanden, der sich Herr des Südens nennt. Ich kenne ihn nicht, habe niemals
etwas von ihm gehört. Jedenfalls erhielt ich den Auftrag, kostbare Stoffe zu kaufen und nach bestimmten Schönheitsspezereien zu suchen, teure Weine einzuhandeln und andere Dinge mehr. Das alles habe ich gekauft, und dann, als wir die Insel ansegeln wollten, passierte das mit dem Wasser. Ich weiß auch, wo wir dieses verdammte Wasser an Bord genommen haben. Eines Tages werde ich dorthin zurücksegeln und sie alle strafen.« Nabib ließ ein fettes Gelächter hören. »Freund des Goldes«, meinte er versöhnlich. »Segle zu ihnen und betrüge sie tüchtig. Das ist, auf die Dauer gesehen, für den Geschädigten viel schmerzhafter als Prügel.« Kraftlos sank Gabor wieder zurück. »Also war dein Ziel ohnehin das Eiland der Kyrace?« erkundigte sich Dragon gespannt. Ein kühner Plan reifte in seinem Kopf. Das, was er vorhin angedeutet hatte, nahm jetzt feste Umrisse an. »Ja, natürlich.« Dragon stand auf und sagte beschwörend: »Kapitän Jaggar wird dein Schiff lenken. Taihara soll die Wellenreiterin übernehmen. Wir bringen unsere Ausrüstung an Bord und segeln mit dir. So ist beiden geholfen – dir und uns. Einverstanden?« »Aber natürlich! Ich bin schwach, und die Überlebenden könnten das Schiff niemals steuern und
versorgen.« Die Flammen der Öllämpchen flackerten stärker und stärker. Der Wind nahm zu. Es war ein gleichmäßiger ablandiger Wind, der gegen Morgen noch stärker auffrischen würde. »Ich gehe sofort zu Jaggar!« versprach Dragon. Er hatte es nicht weit. Der Kapitän schlief unterhalb des Decks hinter den weit geöffneten Luken in der geräumigen Achterkabine. Nur die Ausrüstung, die Kranken und ein paar ausgesucht gute Männer waren auf das andere Schiff zu bringen, dann konnte man starten. Das erste Sonnenlicht würden sie schon auf See sehen. Knallend entfaltete sich das Hauptsegel. Die Stolz von Sodok nahm Fahrt auf. Die schlafenden Überlebenden der Wasserkrankheit waren unter Deck, und erfahrene Matrosen hingen in den Wanten und setzten die Segel. Jaggar stand auf dem Heck des Dreimasters und gab seine Befehle. Die Taue wurden zu flachen, tellerförmigen Bündeln zusammengelegt. Der schwere Anker wurde festgezurrt. Andere Segel blähten sich. Der achterliche Wind fuhr durch die Takelage und schob das Schiff vor sich her. Er wehte nach Westen, genau dorthin, wo das Eiland der Kyrace lag. Der Tag begann.
Ehe Dragon einschlief, überlegte er noch einmal seine weiteren Befehle. Er hatte den sechs Schiffen aus Myra beziehungsweise deren Kapitänen, eindeutige Anordnungen erteilt. Sie würden zurück nach Myra segeln und dort einen genauen Bericht abliefern, was geschehen war, und zu welchem Ziel Dragon und seine Freunde nun aufgebrochen waren. Amee mußte ein ausführliches Bild aller Vorfälle erhalten. Taihara führte die Schwarze Wellenreiterin. Kein anderer Mann, darauf bestand Kapitän Jaggar, sollte das Kommando haben. Das ehemalige Piratenschiff würde etwas später in See gehen und dem Kauffahrer in gebührender Entfernung folgen. Es würde Gabors Schiff schützen und sollte in der Nähe der Insel der Zauberin vor Anker gehen; versteckt und als zusätzliche Sicherheit konnte die Mannschaft und das Schiff, Dragon und seinen Freunden entscheidend helfen. »Und außerdem können wir mit diesem Schiff flüchten, falls unsere Pläne fehlschlagen«, murmelte Dragon, wickelte sich in seinen Mantel und gähnte. Er war rechtschaffen müde und kannte einige Plätze, – an denen er lieber geschlafen hätte als hier. Aber er mußte diesen letzten, entscheidenden Kampf eingehen. Er mußte Cnossos vernichten. Das verderbliche Erbe der Vergangenheit mußte
beseitigt werden. Sonst kam diese Welt niemals zur Ruhe. Das Schiff verließ die Bucht. Der Wind wurde stärker. Alle die restlichen üblen Gerüche wurden hinweggeblasen. Sie hatten frisches Wasser in den neuen Fässern, Schlachttiere und Früchte, Gemüse und eßbare Knollen. Sie würden keinen Hunger leiden. Und die Weinfässer und Schläuche, die Nabib eingehandelt hatte, würden sicher auch nicht mehr ganz voll ihren Bestimmungsort erreichen. Dafür wollten die Matrosen und die Krieger sorgen. Die Sonne stieg höher und vertrieb die nächtlichen Nebel. Man segelte nach Westen und blieb ständig in der Sichtweite der Küste. Das langgestreckte Panorama wechselte von Stunde zu Stunde. Wälder und kahle Felsen, sandige Buchten und Fischerdörfer, die an die Hänge geklebt erschienen, eine Flußmündung und dann wieder Wälder zogen vorbei. Ein stetiger Wechsel. Der Schatten des Schiffes tanzte vor dem Bug in den Wellen. Fliegende Fische sprangen. Die letzten Vögel, die das Schiff begleitet hatten, blieben zurück und kehrten zurück an Land. Die Hälfte der bunt zusammengewürfelten Mannschaft schlief, aber der Rest genügte, um das Schiff hervorragend zu führen. Sämtliche Leinwände waren gesetzt. Das Schiff wurde schneller und
schneller. Endlich war der Kapitän zufrieden und ließ eine Ration Wein austeilen. Fünf oder sechs Tage mit dieser Geschwindigkeit, und das Ziel würde in Sichtweite liegen. Irgendwann erwachte Nabib, der Händler. Er richtete sich auf, wickelte sich aus dem Mantel und blickte um sich. Er sah nur das Meer mit seinen Wellen, die weiße Schaumkronen trugen. Auf der anderen Seite des Schiffes konnte er weit in der Ferne, undeutlich und vom Dunst verhüllt, das Land sehen. Nabib gähnte und fühlte Hunger und Durst. Vorbei an den prallen Segeln sah er nach dem Stand der Sonne. Es war früher Abend. Wieder ein Tag vorbei! Wieder näher an der Insel der Kyrace. »Und vielleicht näher an einem Platz, wo ich handeln kann. In der letzten Zeit habe ich nicht viel Glück gehabt.« Nabib träumte davon, mit einem Schiff oder einer großen Karawane durch das Land zu ziehen und zu handeln. Tauschen, einkaufen, nachdenken und kalkulieren, etwas schwindeln und die billige Ware durch lange Reden teurer machen – das war sein Ziel. Einmal wieder zurück nach Sodok, wo sein Haus vermutlich verfiel. Aber er war ohne Anhang und ohne Verpflichtungen, und König Dragon und seine Gemahlin Amee würden ihm helfen. Er konnte also
dieses abenteuerliche Leben voller Farben und bewegter Augenblicke noch einige Zeit genießen. Vielleicht traf er auf der Insel der Kyrace jemanden, mit dem er über sich und seine Probleme reden konnte. Ein zwitscherndes Geräusch riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf die Bohlen des Decks herunter und sah Nalto, das weiße Baumhörnchen mit den rötlichen Augen. Nalto war das Maskottchen von Gabor, der sich noch immer in der Kabine des eigenen Schiffes erholte. Dort schlief er vermutlich auch jetzt und wurde von Iwa und Yina gepflegt, wie seine Männer auch. »Komm her, Kleines!« lockte Nabib. »Hast du auch Hunger wie ich?« Das Baumhörnchen fiepte und sprang auf seine Hand. Es hob die zierlichen Vorderpfoten und schien zu betteln. »Wir sind schon eine seltsame Gruppe, nicht wahr?« murmelte Nabib, erhob sich leise und blieb stehen, an die Reling gelehnt. Der breite Rumpf des Schiffes war kein Hindernis für Schnelligkeit; die gute Mannschaft und der erfahrene Kapitän holten aus der Stolz von Sodok heraus, was sie hergab. Jedes Stück Leinwand, das sich in den Segelkammern gefunden hatte, war gesetzt worden. Der Wind sang in der Takelage, der Bug, des Schiffes spaltete das aufgischtende Wasser,
hinter dem Heck zeichnete sich ein breiter, doppelter Schaumstreifen ab. Die Sonne spielte auf den Wellen und dem Schaum, der schnell verging. Nabib tappte, das Baumhörnchen auf der Hand, einen breiten Niedergang hinunter. Neben dem hinteren Mast stand Hegon. »Nun, Soldatenführer ... du bist arbeitslos?« scherzte Nabib. Hegon schenkte ihm ein breites Grinsen. »Sicher nicht mehr lange, Händler. Wie ich in deinen lüsternen Augen lesen kann, hast du schon wieder Hunger.« »Hunger und Durst!« bestätigte Nabib lachend. »Gibt es hier einen Ort, an dem wir etwas bekommen?« »Ja, am Bugdeck!« Es war alles andere als eine lustige Fahrt. Dafür war die Zielsetzung zu ernst und zu gefährlich. Aber auf dem Schiff herrschte eine gelockerte Heiterkeit. Auf dem fast waagrechten Deck über dem Bug und dem rostigen Rammsporn hatten sich alle Teilnehmer der Fahrt versammelt. Wirklich eine gemischte Gruppe. Dragon saß in dem spitzen Winkel der zusammenlaufenden Reling. Er war in seinen großen Mantel gehüllt, aber der zauberische Umhang war nicht zu sehen. Dragon erkannte Hegon und Nabib und hob grüßend die Hand und deutete auf den freien Platz neben sich. Iwa kauerte in der Mitte des Kreises und schnitt
Schinken auf, säbelte dicke Scheiben von einem mächtigen Braten. Auf weißen Tüchern und sauber gescheuerten Brettern lagen Butter und Käse. Salz war in kleinen Schälchen aufgehäuft. Yina, die Maus – die weniger denn je ihrem Spitznamen gerecht wurde –, schenkte Wein aus. »Hat der Ausguck eigentlich die Schwarze Wellenreiterin gesehen?« fragte der Kapitän. Er kauerte in einem windgeschützten Winkel und ließ es sich schmecken. »Nein, nichts gesehen!« erwiderte Gaunth kauend. Er war, wie er sagte, vor einer Stunde im Ausguck des mittleren, höchsten Mastes gewesen und hatte mit seinen scharfen Augen Ausschau gehalten. »Sie werden uns nicht verfehlen! Taihara weiß genau, was er zu tun hat!« erwiderte Jaggar. Yina warf ihm einen langen Blick zu. Jaggar und Yina, Nabib und Iwa, der Troll, der auf der obersten Stufe eines Niedergangs hockte und die kurzen Beinchen schlenkerte, Ubali und das Gauklerpaar. Bei den Sternen! Wirklich eine seltsame Gruppe. Ubali fragte mit seiner dunklen Stimme: »Wollen wir Cnossos gleich überfallen, wenn er auf der Insel landet?« Da war es wieder: die Konfrontation mit der drohenden Gefahr.
»Das weiß ich nicht!« gab Dragon zurück. »Es ist zu früh, irgendwelche Pläne zu machen. Wir werden erst auf der Insel entscheiden können, wie wir vorgehen.« »Jedenfalls sind meine Männer bereit!« versicherte Hegon grimmig. Seit der Seneschall As Sallad, der Hofmeister der Kyrace, sterbend Dragon gewisse Dinge berichtet hatte, waren die Mitglieder der Gruppe unruhig und warteten. Sie waren unentschlossen und aufgeregt, bis die Stolz von Sodok das Inselchen der Kyrace erreicht haben würde. Noch waren sie Cnossos keineswegs gewachsen, weil sie zu wenig von der Insel wußten. »Wie war das mit Cnossos? Mit dem Gott der vielen Namen oder dem König des Südens, Dragon?« fragte der Troll Erbolix und biß von seiner kleinen Scheibe Braten ab. »Es ist das, was ich von As Sallad weiß«, erklärte Dragon laut. »Kyrace, die Zauberin, soll sich endlich bereiterklärt haben, dem Werben eines mächtigen Mannes nachzugeben. Und ausgerechnet Cnossos! Vermutlich ist Cnossos an diesem Ort und in der für ihn sicher auch neuen Lage besonders verwundbar. Zu dem, was uns der sterbende Seneschall sagte, paßt auch, was Gabor ausführte, ebenso die Ladung seines Schiffes. Es ist sinnlos, jetzt schon etwas zu planen.« »Warum?« fragte Hegon. »Weil«, führte Dragon aus, »wir erst die Insel
kennenlernen müssen. Erst dort können wir entscheiden, wie wir mit Cnossos fertig werden.« Jaggar schlug sich auf die Schenkel. »Pläne machen ist gut«, dröhnte er. »Aber die Ausführung ist wichtiger!« Die Gruppe, verstärkt durch ein paar Leute vom Schiff, aß und trank und sah dem Sonnenuntergang zu. Die beiden Gaukler Mainala und Gaunth schwiegen. Sie standen noch immer unter dem Eindruck der fürchterlichen Zeit, die sie in Alesch durchgemacht hatten. Und außerdem waren sie befangen, hauptsächlich Dragon gegenüber, weil sie es gewesen waren, die ihm die Nachricht vom Verlust seines Sohnes gebracht hatten. »Mit der Ausführung müssen wir jedenfalls warten, bis wir an Land gegangen sind und uns umgesehen haben!« schloß Dragon. Er nickte und trank seinen Becher leer. Nur noch ein paar Tage und Nächte, dann wußten sie mehr. Sie alle standen, seit sie in dem Fischerhafen von Barut eingetroffen waren, unter einer großen Spannung. Sie waren unruhig und sehnten sich nach Frieden und nach der Möglichkeit, sich auszuruhen. Aber sie wußten im gleichen Augenblick, daß sie, wenn überhaupt, erst nach dem Tod von Cnossos Ruhe finden konnten. Also schlossen sie sich Dragon an, der im Augenblick nur seine Rache vor Augen hatte. Sie
bildeten eine verschworene Gruppe und folgten ihm, weil er eine Schlüsselfigur geworden war. Er verkörperte gleichermaßen Schnelligkeit und Klugheit, echtes Kämpfertum und das Wissen eines Mannes, der ihnen allen überlegen war. Der Tod des Seneschalls war ausschlaggebend gewesen. Er hatte jetzt ein neues Ziel, das in Wirklichkeit ein altes Ziel war: Tod dem Balamiter! »Jaggar?« fragte er leise. »Ja, Herr?« »Wie lange brauchen wir noch bis zur Insel?« »Nach allem, was ich weiß – zwei Tage. Bei diesem Wind vielleicht eineinhalb Tage.« »Ausgezeichnet. Also noch zwei Tage bis zum großen Augenblick.« Dragon stand auf und warf Yina den leeren Becher zu. Dann drehte er sich um und starrte in das letzte Sonnenlicht. Dort vorn irgendwo, jenseits des Horizonts, lag die Insel der Zauberin. Es war mitten in der Nacht, als Kapitän Jaggar aufwachte. Es hatte ihn nicht ein unbekanntes Geräusch geweckt, sondern mehr eine Ahnung. Er konnte nicht schlafen ohne das Knarren des Tauwerks und des Holzes, nicht ohne die vielfältigen Laute von Wind und Wellen. Er bewegte sich unruhig, stieß das
Fenster auf, das über dem riesigen Ruderblatt der Heckkabine sich öffnete, beugte sich weit über Yina und spähte hinaus. Einige Zeit verging. Die scharfen Augen des ehemaligen Piraten suchten über das Wasser. Er sah das schwache Licht der Sterne und des sichelförmigen Mondes. Die Wellen trugen sichelförmige Flecke aus silberner Helligkeit. War dort hinten, jenseits des Kielwassers der vorwärtsstürmenden Stolz von Sodok, nicht ein dunkler Schatten? Ein anderes Schiff? Etwa Taihara mit der Wellenreiterin? »Das ist unmöglich!« murmelte er. Yina bewegte sich, öffnete die Augen und flüsterte: »Hast du etwas gesagt, Liebster?« Jaggar strich ihr über das Haar, küßte sie auf die Stirn und brummte beruhigend: »Es ist nichts. Schlaf weiter.« Sie drehte sich halb herum und schlief wieder ein. Jaggar fuhr in die Hose und huschte auf nackten Sohlen durch die kleine Kammer. Er kam an der Tür vorbei, hinter der Gabor den Schlaf der Genesung schlief, und war dann auf dem Mitteldeck. Er lief leichtfüßig hinauf zum Steuermann. »Kapitän!« sagte der Mann am Ruder überrascht. »Ich bin auf meinem Posten. Alles ist in Ordnung!« Jaggar deutete nach hinten.
»Offensichtlich nicht. Ich glaube, ein Schiff gesehen zu haben. Dort, in unserem Kielwasser. Vielleicht ist es Taihara.« »Das kann kaum sein. Wir haben doch ausgemacht ...« »Genau das meine ich auch!« bestätigte Jaggar und lehnte sich an die Brüstung. Er versuchte, das schwache Licht auszunutzen und spähte angestrengt und konzentriert nach hinten. Langsam schälte sich aus der Dunkelheit tatsächlich der Umriß eines Schiffes. Sorgfältig suchte Jaggar nach vertrauten Einzelheiten. Die Segel, der Umriß ... das war nicht sein Schiff. »Steuermann!« »Ja, Kapitän?« »Ich löse dich ab. Sieh nach hinten und sage mir, was du siehst?« »Einen Augenblick.« Sie wechselten die Plätze. Der Steuermann starrte nach hinten und bewegte sich nicht. Schließlich, nach langer Zeit, kam er langsam zurück zum Kapitän. Er sagte leise: »Ohne Zweifel. Das ist ein fremdes Schiff. Es fährt in unserer Kielspur. Es ist nur die Frage, ob es zufällig den gleichen Kurs hat oder uns verfolgt. Es gibt viele Piraten in diesem Meer!« »Du sagst es!« bestätigte der einstige Pirat grollend. »Und sollten sie vorhaben, uns zu überfallen, dann
werden wir ihnen eine Lektion erteilen.« Bis das Schiff sie eingeholt hatte, würde die Nacht vollends vergehen. Falls es zu einem Kampf kam, würde er am Tag stattfinden. Also lag kein Grund zur Beunruhigung vor. »Ich gehe wieder schlafen. Wecke mich, wenn das Schiff in interessanter Entfernung ist.« »So werden wir es halten.« Der Kapitän schlug seinem Steuermann auf die Schultern, huschte über das Deck und verschwand wieder in seiner Kabine. In sechs Stunden war die Nacht vorbei. Jaggar wurde vom Lärm geweckt. Er brauchte nicht mehr aus dem Fenster zu sehen um zu wissen, warum das Lärmen ausgebrochen war. »Also doch!« sagte er. In aller Ruhe zog er sich an. Am meisten überraschte sie alle der Kaufmann, von dem sie glaubten, er sei noch immer krank. Plötzlich tauchte er auf Deck auf – aber in welchem Aufzug! Überall wurde mit hektischer Betriebsamkeit versucht, dem zu erwartenden Kampf zu begegnen. Das Schiff war jetzt deutlich zu sehen. Und es schien immer schneller zu werden. »Ein stolzer Segler!« bemerkte Dragon. Die Matrosen rüsteten sich aus. Immer wieder warfen sie einen langen Blick auf die gelben Segel und
den hochbordigen, schlanken Körper des Schiffes. Der messerscharfe Bug teilte das Wasser mit Leichtigkeit. Das Schiff schien nur zu einem Drittel im Wasser zu liegen. Immer wieder wurde der Kiel sichtbar. Ein schneller Piratensegler. »Nicht mehr lange!« fuhr die Stimme des Kaufmanns durch das Murmeln der anderen. Er trat aus der Kabine, in schwarzes Leder gekleidet, was seiner hageren Gestalt unzweifelhaft etwas Dämonisches verlieh. Ein glänzender Brustharnisch, lange Metallröhren an den Unterarmen, runde Schulterkappen aus Metall und ein ebenfalls runder, schmuckloser Helm mit Nasen- und Kinnschutz gaben ihm den Eindruck eines erfahrenen Kriegers. Überrascht wandten sich Dragon und Jaggar ihm zu. Ein Piratenschiff war sonst eine gefährliche Bedrohung und rief Panik unter der Besatzung eines Kauffahrers hervor – nicht hier, nicht heute. »Wie ...?« Gabor schnitt Jaggar mit einer herrischen Handbewegung die Rede ab. Er wirkte unerschrocken und angriffslustig. »Wir haben unsere eigenen Methoden, uns auf hoher See zu wehren. Bolugi! Fatola! Tau Holt das Geschütz aus der Kammer! Macht Feuer. Bringt die Ketten!« Stirnrunzelnd sahen sich Dragon und der Kapitän
an. Hegon stieß zu ihnen. Er war in voller Bewaffnung. »Was ist los? Ist dieser Handelsmann plötzlich zum Kriegsgewaltigen geworden?« »So scheint es!« sagte Dragon. Das fremde Schiff scherte nun aus dem direkten Verfolgungskurs und ging an die Steuerbordseite des schweren Handelsschiffes. Noch war es fünfzehn Bogenschußweiten entfernt. Es würde eine Stunde oder mehr dauern, bis es heran war. Aber als sie sahen, welche Vorbereitungen die Matrosen Gabors trafen, glaubten sie daran, daß der Kampf nicht lange dauern würde. Ungewöhnliche Dinge geschahen.
4.
Jedermann, der das Meer befuhr, mußte damit rechnen, daß er früher oder später von Piraten überfallen und zu ihrer Beute gemacht werden konnte. Meist wurden die Opfer in die Gefangenschaft verschleppt und als Sklaven verkauft. Die Schiffe verbrannten oder wurden versenkt, nachdem man sie ausgeplündert hatte. Und aus den küstennahen Schlupfwinkeln kamen immer wieder die leichten und schnellen Piratensegler. Ihre
Taktik war unterschiedlich: Einmal war es eine besonders geschickte Form von Überfällen, dann wieder eine lange Verfolgung, die dann in Kampf überging, wenn die Verfolgten erschöpft waren. Auf alle Fälle waren die Kaperkapitäne hervorragende Segelkünstler. Und ihre Schiffe waren die richtigen Instrumente für deren Tätigkeit. Natürlich konnte niemand auf dem weißen Schiff mit den prallen, gelben Segeln wissen, daß sich zwei hervorragende Gegner auf dem langsameren Kauffahrer befanden. Kapitän Jaggar und Gabor, dieser exzentrische Händler. Auf dem Heck der Stolz von Sodok wurde ein ballistisches Geschütz, zusammengesetzt aus einem Dutzend Einzelheiten, befestigt. Riesige Schrauben mit grobem Gewinde hielten die vier Ausleger der Schleuder an den Decksplanken fest. Seile wurden gespannt, die Matrosen unter dem Kommando Gabors arbeiteten geschickt und geradezu beängstigend schnell. Eine deutliche Spannung ergriff die Insassen des Schiffes. Kapitän Jaggar stand neben dem Steuermann und gab seine Befehle. Aber das schwerbeladene Schiff konnte nicht mehr schneller gemacht werden. »Es ist eine gute Waffe!« erklärte Gabor. Seine Augen funkelten. Auf seiner Schulter turnte das weiße Baumhörnchen. »Wir haben sie schon mehrmals
angewendet.« Dragon sah noch nicht ganz klar, wie diese Schleuder funktionieren sollte. »Mit Erfolg?« Gabor versicherte lakonisch: »Noch lebe ich. Wir sind niemals gekapert worden!« »Welch ein Glück für einen Händler!« meinte Nabib. Alle Umstehenden brachen in Gelächter aus, aber es klang ein wenig gezwungen. Das fremde Schiff war um ein beträchtliches Stück nähergekommen. Auf seinem Deck sah man waffenstarrende Männer. Auch erkannte man eine Laufplanke, die in den Backbordwanten hing und mit wuchtigen Eisenzähnen bewehrt war. Sie würde sich in das Deck des überfallenen Schiffes bohren und eine kaum zu beseitigende Verbindung schaffen. Eine andere Gruppe von Gabors Leuten schleppte einen schweren Ofen herbei und entfachte ein wildes Feuer. In eine muldenförmige Vertiefung des Ofens wurden mannslange Ketten gelegt. Sie waren alt und verrostet, aber in die einzelnen Glieder hatte man tiefe Kerben gehackt. Die Metallteile bildeten Kanten und Risse, bogen sich scharf aufwärts. Langsam wurde die Mulde heiß und rotglühend. Das Deck begann zu schmoren, aber einige Eimer Seewasser beseitigten die Gefahr. »Alles bereit?« schrie Gabor und überreichte Yina
sein Maskottchen. Nabib hatte erzählt, daß Gabor früher niemals ohne die Begleitung von zwei ausgesucht schönen Konkubinen gereist sei, aber diesmal schien dies nicht zuzutreffen. »Bereit. Du gehst an die Hebel, Herr?« fragten die Matrosen. »Wie immer.« Jetzt glühten die Ketten hellrot. Das Holz des Decks dampfte, aber der Wind, der in dem Ofen heulte, trieb auch den Dampf zur Seite. Das fremde Schiff war inzwischen vier Schiffslängen hinter dem Kauffahrer, auf der Steuerbordseite. Dragon schrie, die Hände wie einen Trichter am Mund: »Alle Frauen unter Deck. Die Männer in Deckung! Nur die Segelmannschaft bleibt auf dem Posten!« »Verstanden!« klangen die Antworten aus den verschiedenen Teilen des Decks. Auf dem Heckdeck versammelten sich Kapitän und Steuermann, denen man eben in die Rüstungen half, Dragon und Gabor, einige Helfer und Hegon mit mehreren Soldaten aus Urgor, Männern, die sich mehrfach durch Umsicht und Schnelligkeit ausgezeichnet hatten. Federnde Seile aus Tiersehnen spannten sich zwischen dem kurzen Arm des löffelähnlichen Schleuderbalkens. Eine schwere eiserne Klinke hielt den langen Arm fest. Dort, wo der Querbalken gegen
das Widerlager krachen würde, waren Lederpolster angebracht. Zwischen den beiden Schiffen war nicht ein einziges Wort gewechselt worden – die Lage war völlig klar. Sieg oder Niederlage! Drei Schützen mit riesigen Bögen standen hinter hohen Schilden, die man an der Reling befestigt hatte. Zwischen ihnen steckte in einem Ledereimer voll Sand eine brennende Fackel. Neben der Fackel schwappte Wasser in einem weiteren Eimer. Die Spitzen von etwa einem Dutzend Pfeilen waren mit dicken, schwarzen Klumpen umwickelt. Brandpfeile waren es, mit lang brennendem Harz getränkt, das mit Wasser nur schwer zu löschen war. Gabor knurrte: »Noch nicht. Kapitän ... kannst du etwas näher heran?« Gabor hielt einen langen Hebel in beiden Händen. Er drehte prüfend das Geschütz und veränderte dann die Lage des Aufprallbalkens. Quietschend drehten sich Holz und Metallteile. Einige Kommandos, und die Stolz von Sodok änderte ihren Kurs und wurde langsamer. Es sah nach einem Fehler von Schiffsführer und Steuermann aus. Auf den Decks breitete sich ein fast entsetztes Schweigen aus. Gabor schnippte mit den Fingern. »Schnell!« flüsterte er.
Seine Männer hoben mit eisernen Zangen eine der weißglühenden Ketten von dem heißen Ofen und warfen sie rasselnd in den Löffel des Geschützes. Rauch stieg auf. Dann, als auch das Blech, mit dem der Löffel ausgekleidet war, glühend zu werden begann, zielte der Kaufmann sorgfältig. Er drehte das Geschütz, dann nickte er langsam und zog an einem hölzernen Hebel. Seile strafften sich, es ertönte ein hartes Schnappen, der Riegel wurde zurückgerissen, die federnden Seile ließen den Löffel nach oben schnellen. Die Vertiefung mit der Kette beschrieb einen knappen Viertelkreis und hämmerte krachend gegen die Polster. Die Kette verwandelte sich in ein Geschoß. Schweigend und atemlos sahen die Männer der Schiffsbesatzung der weißglühenden Kette nach. Zuerst flog sie einige Mannslängen weit als glühendes Bündel. Dann wickelte sie sich auseinander, begann sich zu drehen und wirbelte durch die Luft. Sie flog in einem leicht gekrümmten Bogen zwei Schiffslängen weit, noch immer drehend. Sie erzeugte ein hohl heulendes Geräusch. »Fabelhaft!« entfuhr es dem ehemaligen Piraten. Die Kette traf. Sie schlug in das große Segel des mittleren Mastes des Verfolgers ein. Die scharfen Kanten und der schwere Anprall trafen das gespannte Segel genau in der Mitte, bohrten sich sengend und mit den vorstehenden scharfen Teilen in die Leinwand,
zerrissen und verbrannten sie. Mit einem scharfen Geräusch riß das glimmende Hauptsegel von oben bis unten auseinander. Gabor brüllte: »Langsamer, Jaggar!« Der Steuermann fuhr ein vorsichtiges Zickzackmanöver. Das Segel des Piraten war zerstört und brannte in zwei langen Bahnen. Dadurch war das weiße Schiff langsamer geworden, also mußte die Stolz von Sodok noch mehr zurückfallen. Dies geschah jetzt, und wieder schnellte das Geschütz seine weißglühende Last durch die Luft. In der Zwischenzeit hatten die Männer an der mächtigen Kurbel gedreht, den Sperrhaken wieder hineingeschlagen und mit den Zangen die nächste Kette aus der glühenden Ofenmulde geholt. »Das zweite Segel! Ich bin froh, daß ich in meinen frühen Jahren niemals mit dir zusammengetroffen bin, Vater der Ketten!« rief Jaggar begeistert. Dann wurde er schlagartig nachdenklich. Noch immer war er in gewisser Weise Angehöriger der »Bruderschaft des Großen Meeres« – und also ein Pirat. Er bekämpfte einen Bruder aus den eigenen Reihen. Drei rauchende Brandpfeile, die lange Spuren hinter sich herzogen, heulten hinüber zum anderen Schiff und schlugen klatschend in das weit nach hinten gezogene Focksegel. Dann zischte die dritte Kette in das große Segel des hintersten Mastes. Auch dieses Segel barst glimmend
und brennend in zwei Teile. Jetzt war die Geschwindigkeit des anderen Schiffes so stark gesunken, daß der Kauffahrer langsam an ihr vorbeirauschte. Eine donnernde Stimme ließ die Männer aufhorchen, die eben die vierte Kette auflegen wollten, und auch die Kurbelspanner einhalten. »Halt, Freunde! Hört auf!« Dreißig Gesichter drehten sich und sahen Kapitän Jaggar an, der neben dem Geschütz stand und beide Arme hob. »Ihr wißt es alle!« schrie er. »Ich war vor kurzer Zeit noch selbst ein Pirat, ehe ich mich auf Dragons Seite schlug. Meine Wellenreiterin mit den schwarzen Segeln war berüchtigt. Der Pirat dort drüben, den ich nicht kenne, brennt bereits. Er wird uns niemals wieder zur Gefahr werden. Laßt ihn ziehen. Sie sind gestraft!« Er warf Dragon einen beinahe flehenden Blick zu. Nach kurzem Nachdenken nickte der Atlanter. »Ich bin einverstanden!« sagte er. »Aber vielleicht haben wir ihn bereits zum Tod verurteilt. Seht!« Er deutete auf das andere Schiff. Es machte fast keine Fahrt mehr. Alle Segel brannten. Die Mannschaft holte Eimer um Eimer Wasser aus der See und versuchte, die Brände zu löschen. Es gab schwarzen Qualm, der Wind fachte die Feuer immer wieder an. Je mehr sich die Schiffe
voneinander entfernten, desto schwächer wurden jedoch die Flammen. Wütendes Geschrei verhallte über dem Wasser. Das Handelsschiff nahm immer mehr Fahrt auf, wurde schneller, ging zurück auf den alten Kurs. »Sie werden in ihr Versteck zurückrudern müssen. Und sicher ist es nicht gerade in der Nähe«, sagte Dragon. Kapitän Jaggar brummte ihm sehr leise ins Ohr: »Ich danke dir, Freund Dragon. Ich mußte so handeln. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie dieser unbekannte Angehörige der Bruderschaft brannte wie eine elende Hütte.« »Schon gut. Vergessen wir es!« Die Bogenschützen löschten ihre Fackel. Einige Eimer Wasser wurden über die glühenden Ketten ausgeschüttet. Dann kam jemand auf den Einfall, Wein zu bringen. Die Frauen tauchten wieder an Deck auf. Gelächter war zu hören. Aufgeregt unterhielten sich die Besatzungsmitglieder über dieses unglaubliche Geschütz, das fremde Segel verbrannte. Man entspannte sich mehr und mehr. Nach aller Wahrscheinlichkeit war mit keinem weiteren Angriff mehr zu rechnen – das Meer war zu groß für eine Wiederholung dieses Vorfalls. Gabor nahm seinen Helm ab und löste seine Rüstungsteile von der Lederkleidung.
Dragon legte seine Hand auf Gabors Schulter. »Ich bin verblüfft, Freund Gabor!« gestand er mit einem breiten Grinsen. Gabor zog in unnachahmlicher Weise die Brauen hoch. »Warum?« Jetzt verstand Dragon die vielen Erzählungen Nabibs über Gabor ein wenig besser. Dieser Mann vor ihm schien viele Masken zu tragen, die er von Zeit zu Zeit wechselte und dann vollständig ausfüllte. »Ich kenne dich nur als Todkranken und sah dich jetzt als entschlossenen Kämpfer«, sagte er halblaut. »So schnell geht das.« Gabor nickte und setzte ein kaltes, berechnendes Lächeln auf. »Es geht immer dann schnell, wenn mein persönlicher Besitz in Gefahr ist. Ich hätte auch als Todkranker gekämpft, glaube mir, König.« »Ich zweifle nicht daran. Über welche Fähigkeiten verfügst du noch?« »Warum fragst du dies, Dragon?« »Weil ich wissen möchte, was meine Freunde können. Mag sein, daß ich sie bitte, mir ihre Hilfe zu leihen.« Gabor knöpfte seine lederne Jacke auf, lächelte und sah einige Augenblicke aufs Meer hinaus. Dann sagte er nachdenklich:
»Ich denke, ich bin ein Mann, der die Annehmlichkeiten des Lebens sehr zu schätzen weiß. Um so mehr deshalb, weil er sie sich vorher hart erarbeitet hatte. Mein Haus in Sodok ... nun, Nabib wird dir berichtet haben. Ich werde auf der Insel der Zauberin ein kleines Lager aufschlagen. Dort bitte ich dich Gast zu sein; ich habe etwas arrangiert, was auch nach deinem Geschmack sein wird. Kostbarkeiten aus allen Teilen des Landes, in denen ich gehandelt habe. Da die Insel ständig mit Freiern der Zauberin bevölkert ist, mithin mit reichen, einflußreichen Männern, ist dies ein vorzüglicher Umschlagplatz für Ideen, Waren und Gerüchte.« Yina kam herbei und trug das Baumhörnchen in beiden Händen. »Dein Maskottchen kratzt, Meister des Handels«, sagte sie. Dragon blickte sie an, und ihm schien, als sähe er sie erst heute zum erstenmal richtig. Sie erwiderte seinen Blick freundlich und abwartend. Sie las in seinen Gedanken, was er dachte, und dann versuchte sie, in die Gedanken des Kaufmanns neben ihr einzudringen. »Mein Maskottchen kratzt nur manchmal«, berichtigte Gabor. »Ich wundere mich, daß es dich nicht liebt, Yina.« »Vielleicht«, meinte Yina, »denkt Nalto ebenso wie sein Herr. Dann allerdings ...«
Langsam ging Dragon mit ihr in die Richtung auf den Bug. »Was ist Gabor in Wirklichkeit für ein Mensch?« fragte er. Sie überlegte lange, dann sagte sie: »Ein sonderbarer Mensch, Dragon. Innerlich zerrissen und kalt. Er hat viele Stellen, an denen er so verwundbar ist wie ein Kind. Wie ich, ehe ich wirklich erkannte, wer Jaggar ist. Gabor? Nun, etwas lasterhaft und berechnend, aber ein guter Freund für Männer. Als Frau möchte ich nicht viel mit ihm zu tun haben, es sei denn, ich wäre eine Hetäre. Aber er denkt sehr gut von dir. Beeindruckt hat ihn Jaggar, als er ihn anhielt, als er seine nächste Kette abschießen wollte. Und ein kluger Mann. Er hat unglaublich viel gesehen und dabei gelernt. Seine Gedanken sind schnell und ausgesprochen klar. Ich mag ihn trotzdem, aber ich kann mit ihm nicht so reden wie mit dir. Oder mit Parto. Oder mit Kim. Verstehst du?« Dragon nickte und mußte lachen. »Ich habe keine Fragen mehr. Du hast alles sehr gut erklärt. Übrigens hast du auch in meinen Gedanken gelesen. Du wirst darin festgestellt haben, daß ich über dich nachgedacht habe.« Sie strahlte ihn an. Plötzlich war sie eine junge Frau geworden. Ihre Kindheit lag endgültig hinter ihr. »Was du gedacht hast, war richtig, Dragon. Wir
lieben uns. Wenigstens jetzt. Was die Zukunft bringen wird – wer weiß?« Sie ließ ihn stehen und lief leichtfüßig davon. Zu Jaggar. Dragon sah ihr nach, machte ein ernstes Gesicht und knurrte: »Wer weiß, was die Zukunft bringen wird! Ich jedenfalls nicht.« Unverändert segelte das Schiff mit seiner wertvollen Fracht nach Westen, genau auf die Insel der Kirke zu. Bald war der Zwischenfall vergessen. Und als endlich das Eiland am Horizont auftauchte, bemächtigte sich eine fieberhafte Erregung der gesamten Schiffsbesatzung. Dort lag der Punkt, an dem sie Cnossos entscheidend schlagen wollten. Alles andere waren nur Mittel zum Zweck, Stationen auf einem schwierigen und langen Weg. Dragon stand im Bug und konnte seine Augen nicht von diesem Bild losreißen. Schroffe Felsen über der niedrigen, weißgekrönten Brandung. Zwischen den Felsen gerundete Berge, dunkelgrün von Wäldern. Der Eindruck von sandigen Stränden war flüchtig. Einige Rauchsäulen von Feuer und einige Gebäude, die weiß glänzten, mit langen, hochstrebenden Säulen. »Cnossos, du Ungeheuer«, flüsterte er heiser. »Cnossos, ich komme.«
5.
Gabor trat neben ihn. Seine Stimme klirrte wie ein Schwert, als er sagte: »Ein Mann der Tat ist gar nicht denkbar ohne ein starkes Maß an Selbstsucht, Hochmut, Härte und List. Bist du sicher, daß du über alle diese Eigenschaften verfügst, König Dragon?« Dragon warf ihm einen überraschten Blick zu und hob die Schultern. »Härte und List, ja. Aber Selbstsucht und Hochmut ... ich weiß es nicht. Wer erkennt sich selbst hinter dem Bild, das er im Spiegel sieht?« Gabor lachte freudlos. Er schien wirklich ein erfahrener Mann zu sein. »Nicht jeder erkennt sich!« bestätigte er. »Aber nach allem, was ich in den letzten Tagen erfragt und gehört habe, stehst du vor einer unerhört schwierigen Aufgabe.« »Ich weiß!« entgegnete der Atlanter kurz. »Zumal du es nicht nur mit dem Gott der vielen Namen zu tun hast, sondern mit einer Frau dazu. Einer Frau, die nicht nur verwirrend schön ist, sondern auch listig, zauberisch und rücksichtslos wie ein Tier. Glaube mir, ich kenne sie besser als du.« »Ich kenne sie gar nicht.«
»Ich warne dich. Du denkst doch nicht etwa daran, dich ihr mit deinem Namen zu nähern?« Dragon schüttelte den Kopf. »Ich bin für euch alle ab sofort der Edle Agon-Dra aus Lu‘ur. Unermeßlich reich und so fort. Den Namen Dragon kann sie vielleicht schon gehört haben.« Gabor schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. Er wußte, wie ein Mann denken mußte, der vor einer derartig schweren Aufgabe stand. »Ich werde ihr gegenüber bestätigen, da du AgonDra bist. Ich kenne dich schließlich bereits seit zwei Jahren. Deine Güte ist wie deine Klugheit, dein Reichtum ist so unermeßlich wie eine Menge deiner anderen Eigenschaften. Ich denke, wir werden diese Rolle gut spielen.« »Ich danke dir, Gabor!« sagte Dragon einfach. »Zeigst du bitte Jaggar und seinem Steuermann, an welcher Stelle wir vor Anker gehen sollen?« »Ich zeige ihnen den kleinen, aber schönen und sicheren Hafen«, versprach der reiche Händler. »Und wenn du einen Rat brauchst oder etwas, womit ich dir helfen kann, so zögere bitte keinen Augenblick.« Sie schüttelten sich die Hände. Dragon hätte gern von Yina gehört, woran der Händler jetzt dachte. Dem Händedruck nach hatte Dragon einen neuen Verbündeten gewonnen. »Einverstanden!« sagte er. Aber Gabor hielt ihn am
Arm fest und sagte in beschwörendem Ton: »Noch etwas! Schlagt euer Lager nicht auf der Insel selbst auf. Bleibt, so gut es geht, auf dem Schiff! Ihr entgeht vielen Gefahren, wenn ihr dies beherzigt.« »Genau das hatte ich vor!« bestätigte Dragon. Die Insel kam näher, aber das Schiff fuhr scheinbar an ihr vorbei; der Kaufmann hatte dem Kapitän den genauen Anlegeplatz gezeigt. Er lag auf der südlichen Seite der Insel, in einer tief eingeschnittenen Bucht. Die Stolz von Sodok, die in voller Fahrt vor dem Wind dahinsegelte, fuhr tatsächlich an der Insel vorbei. Dann wurde das Steuer herumgeworfen. Die Matrosen zogen an den Tauen. Das Schiff fuhr eine Kurve und stieß, von Süden kommend, auf die Insel vor. Jetzt änderte sich das Bild. Im Osten schien die Insel karg und unbewohnt, von hier aus betrachtet sah sie weitaus lieblicher aus. Ein baumbestandener Hang führte vom Mittelteil des Eilands bis hinunter an den Strand. Rechts und links des Hanges sahen die Reisenden hoch aufragende Felsen, in denen es viele Höhlen gab. Treppen und Balustraden verbanden die einzelnen Höhlen miteinander. Von dem kleinen, aber augenscheinlich sehr gut ausgebauten Hafen bis in die Tiefen des felsigen Inselchens führte in einem leichten Bogen eine weiße Treppe hinauf, die an beiden Seiten durch ein zierliches Geländer flankiert wurde. In bestimmten Abständen konnten die Freunde, die sich
an der Reling drängten, Statuen und Säulen erkennen. »Ein sehr schönes Bild!« sagte Dragon. Er vermochte seine Gedanken nicht zu steuern, aber gerade in diesem Augenblick mußte er an seinen Sohn denken. Lebte er noch, nachdem man ihn durch das geheimnisvolle Tor gebracht hatte? Er wußte es nicht. Das Schiff lag schräg im Wind und kämpfte sich, in Zickzacklinien fahrend, auf die Insel zu. Noch vier Bogenschußweiten Entfernung. Einige kleinere Schiffe ohne Segel lagen an den weißen Quadern des Hafens vertäut. »Keine Wappen, keine Fahnen. Niemand weiß, wer sich hier auf der Insel aufhält!« knurrte Jaggar. »Ich habe das nicht gern.« Gabor, inzwischen umgezogen und in kostbare, fließende Gewänder gehüllt, streichelte sein Baumhörnchen und klärte den Kapitän auf. »Es sind die Freier der Kyrace. Keine Konkurrenz für einen Kaperkapitän, und auch für mich keine echten Gegner.« »Das tröstet!« bemerkte der Kapitän. Er konnte sich denken, daß die Ankunft eines solch großen und schwer beladenen Schiffes nicht unbeobachtet vor sich gehen würde. Er ging zum Steuermann und sann darüber nach, welche Anordnungen er geben wollte. Das Schiff mußte in einem guten und gekonnten Manöver in den Hafen
gebracht und dort gesichert werden. Dann, als die Brandung um die Felsenklippen sichtbar wurde, gab er seine Befehle. Die Stolz von Sodok kreuzte noch einmal, ging dann voll in den Wind und wurde in einer weit geschwungenen Kurve in den Hafen gebracht. Hier war hinter den beiden natürlichen Wellenbrechern – riesigen Felsen, die Glutkörbe und Schutzdächer trugen – das Hafenwasser ruhig. Das Schiff verlor an Geschwindigkeit und fuhr ruhig und sicher auf den äußersten Anlegeplatz zu. »Segel ‚runter!« »Anker klar bei Fallen!« »Steuermann – neben das lange schwarze Schiff mit dem Schnabel am Bug!« »Verstanden, Kapitän!« »Schneller, ihr faulen Hunde!« Blöcke und Flaschenzüge knirschten und kreischten. Taue rollten über Deck. Rahen klapperten gegen die Masten. Die Matrosen turnten in den Dwarssalingen und schlugen die Segel an. Das Schiff wurde langsamer und fuhr sicher auf den Anlegeplatz zu. Einige Männer in weißen, kurzen Gewändern erschienen in der grellen Mittagssonne und winkten den Menschen im Bug des Handelsschiffs zu. Knatternd entfaltete sich der lange Wimpel mit den Farben von Sodok und dem Wappen des Händlers Gabor.
»Dragon!« rief Gabor und lief auf den König zu. »Ja, was gibt es?« »Sehr oft ist die Kyrace dort oben, am Ende der langen Treppe. Ich bin dein Freund und werde dich einführen. Überlasse die ersten Worte mir. Einverstanden?« »Mir fällt ein Felsklotz von der Seele!« bestätigte Dragon. Dann wandte er sich um und rief seine Getreuen zusammen. »Zieht die besten Gewänder an! Schmückt euch! Wir werden die Kyrace besuchen, und unser Eindruck soll gut sein. Schnell, meine Freunde!« Dragon war sich voll bewußt, daß er nicht mit Cnossos konkurrieren konnte und – wollte. Jeder brachte das mit, wovon er glaubte, es würde ihn selbst größer und besser erscheinen lassen. Ihm würden neun Freunde genügen. Er selbst war sein Geschenk an Kyrace. Unter Umständen ein verderbliches Geschenk! Die Segel waren an den Rahen und den Tauen befestigt. Dünne Leinen flogen in die Richtung der wartenden Männer. Dicke Taue wurden mit diesen Leinen nachgezogen und um die riesigen Steinbrocken geschlungen und belegt. Im Heck des Schiffes fiel klatschend der Anker, die Leine straffte sich. Sie waren angekommen.
Der erste Eindruck war der einer lieblichen Ruhe. Der milde Wind, der um die Felsen herum kam und aus Westen wehte, brachte Vogelstimmen und den Geruch nach Blüten und duftenden Sträuchern mit sich. Die acht oder zehn Männer, die darauf warteten, daß die Insassen des Schiffes an Land gingen, machten weniger einen kriegerischen als mehr einen verwöhnten und etwas gelangweilten Eindruck. Dragon zog sich in seiner Kabine um. Er zog die weichen, hellen Stiefel aus dem feinen Leder an, darüber eine enge weiße Hose aus kostbarem Leinen. Sein Amulett, mit dessen Hilfe er mit anderen Wesen hatte reden können, gab es nicht mehr. Dann legte er einen schöngearbeiteten Gürtel um, ein Hemd aus weichem Leder von wilden Tieren. Um die Schultern befestigte er den Tarnumhang, den er vom »Namenlosen« geschenkt bekommen hatte. Ein kurzes Schwert aus Myra und sein kostbarer Dolch aus Urgor vervollständigten seine Ausrüstung. Schließlich war er ein Gast und mußte zuerst die Kyrace um Gastfreundschaft bitten und darum, mit seinem Schiff eine bestimmte Weile auf der Insel bleiben zu dürfen. »Ich bin nur gespannt darauf, wen ich hier treffen werde. Es gibt zu viele Gerüchte ...«, murmelte er. Eine Spannung, die ihn fast krank machte, erfüllte ihn. Nicht wegen der Kyrace, sondern mehr wegen der Ungewißheit, was Cnossos betraf. Mit der Frau würde
er vermutlich leichter zurechtkommen. Er vergewisserte sich, daß er alles bei sich hatte, was er zu brauchen glaubte, dann ging er hinaus auf das Deck. Zwischen dem Schiff und dem Kai waren bereits drei breite Laufplanken ausgebracht worden. Langsam ging Dragon, den Umhang noch über den Schultern, also für jeden deutlich sichtbar, nach draußen und blieb vor dem Schiff stehen. Langsam drehte er sich, um das Bild in sich aufzunehmen. Ehrlich beeindruckt flüsterte er: »Das ist wunderbar!« Alles, was sie von See aus und während der Fahrt durch das stille Wasser der Bucht undeutlich gesehen hatten, erkannte er nun deutlich. Er erkannte, daß die Insel ein Juwel in der Flachen See war. Über allem wölbte sich ein wolkenloser, blauer Himmel. Die Sonnenhitze wurde durch den Wind gemildert. Die Bucht und der lange, schmale Hafen waren blitzsauber und rochen nicht einmal nach Brackwasser. Dort, wo die ebene Fläche des Kais in die Felsen überging, sah er zierliche Mäuerchen und schlanke Säulen, die Fels und künstliche Steinplattformen verbanden. Alles war mit vielfarbigen und blühenden Pflanzen überwuchert. Die Treppe schien aus weißem Marmor zu bestehen und führte in einen Teil der Insel, der von hier aus nicht zu erkennen
war. Die trichterförmigen Felswände waren voller Höhlen. Das hatten sie bereits gesehen. Aber nun erkannte er, daß aus dem Fels Rampen und Bogengänge zierlich herausgearbeitet waren. Alle Treppen und Gänge vereinigten sich außerhalb seines Blickfelds. Vermutlich liefen sie auf einem kleinen Platz zusammen. »Wer immer diese Kyrace ist – sie versteht es, aus einer kargen Felseninsel ein zauberhaftes Eiland zu machen. Hier können sich arme Seelen und kranke Herzen erholen!« sagte Dragon und sah zu, wie Gabor über die Laufplanke kam. Er trug jetzt einen merkwürdig geschnittenen Anzug aus kostbarem weißem Stoff. Einzelne Muster und Streifen schienen aus fadenförmig gesponnenem Gold zu bestehen. Hinter ihm gingen zwei seiner Leute, ebenfalls auffallend, kostbar und weiß gekleidet. Sie trugen längliche Kästchen in wertvoller Einlegearbeit in den Händen. Der Eindruck störte – Dragon hatte beide Männer in Erinnerung, wie sie an der Kurbel des Geschützes beziehungsweise am Ofen mit den weißglühenden Ketten geschuftet hatten. Jetzt wirkten die Männer ganz anders; gelöster und geradezu friedlich. Er verstand plötzlich wieder ein wenig mehr von der komplizierten Philosophie dieses Händlers von der
weißen Küste. »Gastgeschenke!« sagte Gabor kurz und streichelte sein Maskottchen, das sich an seiner Schulter festklammerte. »Ich verstehe!« gab Dragon zurück. »Welch ein wunderschöner Anblick.« »Bis auf wenige Ausschnitte ist die gesamte Insel so oder ähnlich. Warte, bis du den ›Grottenpalast‹ siehst. Er befindet sich oberhalb der Treppe, im Innern des Eilands. »Ich verstehe. In kurzer Zeit werden wir wohl dort sein.« Gabor lachte grimmig. »Nachdem wir die vierhundert Stufen bezwungen haben. In der Mittagshitze keine leichte Arbeit.« Gabor ging auf die wartenden Männer zu und sprach mit ihnen. Was und worüber – das konnten weder Dragon noch die beiden Männer aus Gabors Begleitung verstehen. Zwei der Männer nickten ihm zu, lachten und bewegten sich dann gemessenen Schrittes auf den Fuß der Treppe zu und begannen den Aufstieg. Nichts rührte sich. Niemand bewegte sich innerhalb dieses Hafens. Dragon warf einen Blick auf das lange, schlanke Boot mit dem hochgezogenen Bugsteven, an dessen Ende eine grausam grinsende Dämonenfratze in Holzschnitzerei und mit Metalleinlegearbeit zu sehen war. Es schien ein Gesicht zu sein, vor dem die Wellen erschrecken sollten.
Runde, feurig glänzende Schilde bildeten vom Bug bis zum Heck eine Art Reling. Sie schienen aus einem Metall zu bestehen, das dem Seewasser trotzte. Keines dieser Schiffe konnte dem Cnossos gehören! Also hatten sie ihn überholt oder überrundet. Sie konnten hier auf sein Erscheinen warten. Er, war noch nicht da, und die Falle, die ihm Dragon und seine Freunde stellen wollten, würde wohl funktionieren. »Wir werden es sehen. Wir alle werden es erleben!« sagte sich Dragon. Jetzt kamen die anderen. Seine Freunde, diese zusammengewürfelte Gruppe, von denen jeder Angehörige über eine besondere Begabung verfügte. Als erster kam Ubali, der riesenhafte Schwarze, über die Planke. Er war bewaffnet und wirkte allein durch seine Größe und den Ausdruck von Kraft, den er verströmte. »Herr, dies ist einer der schönsten Plätze, die ich in meinem Leben je gesehen habe!« sagte er mit seiner dunklen, heiseren Stimme. Er legte die Hand an den Griff des mächtigen Schwertes, das nicht einmal Dragon richtig führen konnte; es war zu lang und zu schwer für ihn. »Aber hinter der Schönheit und der Stille lauern die Gefahren!« schränkte Dragon ein. »Das ist allgemein so. Ich erinnere mich an viele Plätze, an denen ich gekämpft habe!« sagte der Schwarze. Er blieb dicht neben Dragon stehen und
blickte auf die Laufplanke. Jetzt kamen sie alle. Nabib, in seine etwas schmuddeligen, aber prächtigen Gewänder gekleidet. Er drehte den Kopf suchend hin und her. Vermutlich blickte er deswegen so gierig, weil er Händler oder Chancen suchte. Iwa folgte; sie wirkte in ihren guten Gewändern, ausgeschlafen und ausgeruht, viel jünger, als sie wirklich war. Sie warf Nabib einen berechnenden Blick zu und näherte sich ihm wie eine brünstige Katze. »Schätzchen!« sagte sie leise. »Wir sind schon ein schönes Paar.« »Wie ein Esel und ein Kamel, das man vor einen Karren spannte!« gab Nabib ungerührt zurück. »Und ebenso zänkisch. Bleib mir vom Leib, Weib! Geh zu Hegon!« Sie kicherte und zuckte die Schultern. Schließlich hatte sich der Zug formiert. Dragon ging zwischen Hegon und Ubali auf die Treppe zu, alle anderen folgten. Noch immer lag eine lähmende Ruhe über der Szene. Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, vorbei an kupfernen Toren, die zwischen Säulen in den Berg führten, vorbei an den langen Ladebäumen und den Schalen, in denen noch vor kurzem große Feuer gebrannt hatten, vorbei an den Mauern und den wuchernden Gewächsen, blieb Dragon stehen.
»Ihr wißt es!« begann er. »Ich bin Agon-Dra, der Edle aus Lu‘ur. Und ihr seid mein Gefolge. Ich bin unermeßlich reich und einflußreich, aber ich ziehe es vor, leise und demütig aufzutreten. Das ist euch allen klar?« »Hältst du uns für Narren und Dumme?« begehrte Hegon auf. »Wir haben in den letzten Tagen nichts anderes getan als uns immer wieder deinen neuen Namen vorgesagt.« Dragon grinste breit. »Gut so! Suchen wir also Kyrace. Und ich sage euch, wir werden viele wunderbare Dinge finden.« Die Gruppe kletterte langsam die Treppe hinauf. Je höher sie kamen, je öfters sie sich umdrehten und das Panorama bewunderten, desto mehr erkannten sie von der Anlage der Insel. Vorausgesetzt, es gäbe keinen Cnossos, und es würden nicht alle die Verbrechen geschehen sein, die seit Dragons Erwachen verübt worden waren, so konnte man sich nichts Schöneres vorstellen, als ein Jahr auf diesem Eiland zu leben. Aber sie waren nicht hier, um sich zu erfreuen. Sie befanden sich auf dem Weg des Krieges. Sie suchten Cnossos und wollten ihn töten.
6.
Langsam ging Kyrace von der Terrasse, dem höchsten Punkt ihrer Insel, in den riesigen Wohnraum zurück. Zwischen den schlanken, dünnen Säulen aus weißem Stein wehten die Vorhänge im Wind. Sie schwangen hin und her wie flüchtige Gedanken. N‘succa, ihre Lieblingssklavin, wartete bereits. »Ein Schiff ist gekommen. Ich glaubte, den Wimpel dieses mageren Kaufmanns erkannt zu haben!« sagte Kyrace. N‘succa warf ihr einen bewundernden Blick zu. Kyrace war von jedem Mann, der in ihre Nähe kam, begehrt worden. Aber sie, obwohl sie ein sehr schönes und junges Mädchen war, wurde von niemandem begehrt. Natürlich, die Männer im Hafen und die Gärtner ... sie stellten ihr nach. Aber niemand, der von Rang und einem gewissen Reichtum war. »Du hast«, sagte N‘succa leise, »Kaufmann Gabor von Sodok beauftragt, alles einzukaufen, was du für die Hochzeit brauchst!« sagte die Sklavin. Vor zwei Jahren war sie als Geschenk eines der vielen Freier – die meisten waren längst von der Insel aus in See gegangen und vergessen! – hier ausgesetzt worden. Heute konnten sich weder Kyrace noch sie vorstellen,
wie es vor diesen Jahren gewesen war. »Hochzeit!« Kyrace stieß dieses Wort laut und verächtlich hervor. In der Tat! Sie verachtete alle die Männer, die hier mit ihren Schiffen landeten und sie beschworen, blind vor Leidenschaft und unfähig, sie selbst zu begreifen. Es waren alles Narren, geblendet von ihren eigenen Wünschen und von ihrer Schönheit. Gecken und aufgeblasene Schönlinge. Aber keine Männer. Keine Männer, die zugleich klug und kühl waren, gut aussahen und ihr etwas gaben. Sie waren wie die Rüden, die hinter einer Hündin her waren. Sie konnte ihnen gegenüber nichts anderes empfinden als Abscheu und Ablehnung. Und doch ... irgendwo gab es ihn. Den Einzigen, den sie mit dem ersten Blick erkennen würde. Vielleicht war es dieser Herr des Südens? Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. »Aber du hast ihm doch gesagt, daß du daran denkst, dich ernsthaft zu binden, Herrin!« beschwor die Sklavin die Zauberin. »Nichts als Worte!« stieß Kyrace hervor. Sie ließ sich in einer graziösen Bewegung in einen großen, mit Fellen und kostbaren Stoffen ausgeschlagenen Sessel nieder. Kyrace, die Tochter der Amarylla und die Enkelin der Anakyra, war eine außergewöhnliche Frau. Groß, schlank, schön und begehrenswert, daran bestand nicht der geringste Zweifel. N‘succa hatte noch
niemals eine Frau von solcher Schönheit gesehen. Dabei wußte sie, daß Kyrace keineswegs mehr ein junges Mädchen oder eine junge Frau, sondern schätzungsweise fünfmal zehn Sommer alt war. »Nichts als Worte, zugegeben, aber warum hast du dann dem Händler den Auftrag gegeben, alles für eine Hochzeit zu besorgen?« fragte N‘succa. »Ich weiß es selbst nicht. Sie langweilen mich alle. Alle. Alle Männer, die hier gelandet sind. Sie sind Gäste auf meiner Insel, singen mir die Ohren voll und sind allemal nichts Besonderes.« »Warum bleibst du dann nicht allein?« fragte die Sklavin und fürchtete sich etwas wegen ihrer Kühnheit. »Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt!« sagte Kyrace. »Ich suche, wie alle Frauen, nach dem Mann, nach dem Einzigen. Aber bisher ...« Sie ließ den Satz unbeendet. Von hier aus, dem langen Raum hinter der sonnenbeschienenen Terrasse, sahen sie einen großen Teil der Insel und auch den Hafen. Dort machte eben das fremde Schiff fest. N‘succa erkannte die Flagge, den Wimpel, der dem Kaufmann aus Sodok gehörte. Offensichtlich aber schien Gabor Gäste zu haben. Kyrace schwieg und blickte hinunter in den Hafen. Dort sah sie, wie die Hafenarbeiter und die Schiffsbesatzung die Laufplanken ausbrachten und somit Schiff und Land miteinander verbanden. Lange
Zeit geschah nichts, dann kamen einige Gestalten auf den Kai hinaus. Als der große, breitschultrige Mann stehenblieb und sich umsah, glaubte N‘succa, ein schwaches Interesse in den Augen Kyraces zu erkennen. Sie schwieg und widmete sich ihrer Arbeit. N‘succa überlegte, was sie über diese schöne Frau wußte, die alles andere als glücklich war. Seit sie hier war und Kyrace diente, ahnte sie, daß sie sich langweilte und trotz der Schönheit der Insel – und der eigenen Schönheit – sich keineswegs wohl fühlte. Wer war Kyrace? Warum befand sie sich hier? Was zeichnete sie und die Insel aus? Die Enkelin der Anakyra war das letzte Glied einer langen Geschichte. Sie war das Produkt der Vereinigung von Elfen und Elfennachkommen mit den Bewohnern dieser Welt. Auch anderes, dunkles Blut, vielfach das des Cnossos, war in ihr. Aus allen Elternteilen schien aber Kyrace immer nur die vorteilhaftesten Anlagen in sich vereinigt zu haben. Die Herkunft aus dem vergessenen Stamm der Elfen machte sie zur Künstlerin in Liebesdingen. Gerade, weil sie gern liebte und gern geliebt werden wollte, war Kyrace einsam und gelangweilt. Und deshalb launisch. Kein Mann, der noch seine Sinne besaß, konnte ihr widerstehen. Sie, N‘succa, die junge Sklavin,
Gastgeschenk eines der vielen Anbeter, hatte viele Freier kennengelernt. Reiche und arme, schöne und häßliche, unscheinbare und machterfüllte. Und alle waren sie nichts Besonderes. Nicht einer hätte ihr selbst gefallen. Sie waren in der Tat langweilig. Nichts anderes als Männer, die sich darauf etwas einbildeten, keine Frauen zu sein. Jedenfalls waren sie, als sie hierherkamen, glühend vor Leidenschaft und rasend vor Begierde. Als sie zurücksegelten, schien ihre Leidenschaft abgekühlt zu sein, aber immer wirkten sie irgendwie demaskiert und nackt. Was wußte sie noch? Das Erbe der dunklen Mächte schien Kyrace die Langlebigkeit verliehen zu haben und die Fähigkeit, nicht zu altern. Außerdem stand sie im Ruf, eine Zauberin zu sein. Was war richtig an dieser Legende? überlegte N‘succa. Viel oder wenig, je nachdem, was man darüber dachte. Sie hatte es selbst miterlebt. Kyrace besaß Kräfte der Illusion, die sehr groß waren. Sie konnte einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen vollkommen täuschen. Sie schaffte es, die Menschen, »das«, denken und sehen zu lassen, was sie selbst wollte. Alles, was sie wollte, sahen die anderen. Auch N‘succa hatte einmal unter dem Bann einer solchen
Illusion gestanden – sie erinnerte sich heute nur noch mit Schrecken daran. Sie war ungehorsam gewesen ... Damals ... Sie wußte es heute noch so genau, wie sie sich damals gefühlt hatte. Kyrace hatte angeordnet, daß zu einem Essen, das sie mit einem ihrer längst vergessenen Freier feierte, ein bestimmter feuriger Wein aufgetragen werden sollte. N‘succa hatte die Krüge verwechselt. Statt des dunklen, starken Weines, der die Sinne aufstachelte, erschien am Tisch ein heller, lieblicher Wein. Dann, plötzlich, schien sich der Himmel zu drehen. Die Sterne bewegten sich. Sie begannen einen wahnwitzigen Tanz. Gleichzeitig verwandelten sich die Gesichter des Mannes dort am Tisch und der Kyrace. Sie wurden zu Grimassen des Wahnsinns. Beide sprangen auf und kamen langsam, aber drohend, auf N‘succa zu. Ihre Gesichter waren die Fratzen von Dämonen. Die Hände verwandelten sich in lange Krallen, wie von Raubtieren. Die Fingernägel wurden zu spitzen, feuerroten Dreiecken, von denen Blut tropfte. Schweigend und drohend gingen diese Ungeheuer auf N‘succa zu. Das Mädchen wich Schritt um Schritt zurück, langsam, starr und schweigend vor Schrecken und Entsetzen. Dann stieß sie an die Brüstung der Terrasse. »Nein!« schrie sie gellend auf. Ihre Hüften preßten
sich an den kalten Stein. Schritt um Schritt kamen die beiden Ungeheuer näher. Sie waren Wesen zwischen Mensch und Tier mit den unbarmherzigen Augen von Wesen aus der tiefen See. Das Mädchen begann zu schreien und zu zittern. Dann beugte sich ihr Oberkörper nach hinten. Namenloses Entsetzen erfüllte sie. Ihre Furcht war so stark und so ausweglos, daß sie nicht mehr denken konnte. Unbarmherzig kamen die beiden Ungeheuer näher. Jetzt standen sie nur noch zwei Schritte vor ihr. Sie sah in die gierigen Augen, in die verzerrten Münder, dann hoben sich die spitzen Krallen. N‘succa schrie auf, verlor ihr Gleichgewicht und kippte nach hinten. Sie fiel und drehte sich. Sie schlug wild um sich und strampelte mit den Beinen, aber sie fühlte nur den Luftzug, der an ihr vorbeistrich. Sie fiel über die senkrechte Klippe hinunter in den Hafen. Sie schrie noch immer, als der Flug schneller und schneller wurde. Die Sterne drehten sich, einmal sah sie das Wasser, dann wieder die Felsen, die Sterne, etwas Grünes huschte an ihr vorbei nach oben, und sie wartete auf den endgültigen Aufprall, der sie umbringen würde. Der Aufprall kam nicht. Dann, als sie halb wahnsinnig war, hörten der Flug und die rasende Drehung auf. Sie schlug die Augen auf und sah, daß der Mann und Kyrace am Tisch saßen
und sie ruhig anblickten. »Der Wein!« erinnerte Kyrace ihre Sklavin. »Ja, Herrin, sofort ...«, flüsterte sie und rannte davon. Niemals wieder vergaß sie etwas. Aber seit diesem Tag wußte N‘succa, was Kyrace konnte. Sie verdarb jeden Menschen, wenn sie es wollte. Er würde sich sogar mit Freude selbst umbringen. Das war damals gewesen. Bis heute hatte sie niemals wieder einen solchen Einfluß gespürt ... Ihre Gedanken kamen wieder in die Gegenwart zurück, und sie sah Kyrace an, die regungslos in dem Sessel hingestreckt lag und nachzudenken schien. Oder träumte sie nur? »Herrin?« »Ja?« Kyrace wandte der Sklavin das Gesicht zu. Durch das Erbteil der Irdischen besaß die Herrin einen ausgesprochen praktischen Verstand und einen untrüglichen Instinkt für die Wirklichkeit und alles, was sie machen und erreichen konnte. Sie konnte viel erreichen, ebenso wie ihre Großmutter und ihre Mutter, die jeweils Verbindungen mit Erdmännern eingegangen waren und Töchter geboren hatten. Aber einmal mußte auch Cnossos sich mit diesen Frauen eingelassen haben, oder ein anderer aus der schwarzen Seite des Universums.
»Ich glaube, ein neuer Freier ist soeben angekommen. Mit dem Schiff des Händlers aus Sodok.« »Langweilig«, seufzte Kyrace. »Wieder ein solcher Rohling wie Arric. Oder jemand wie Nabuab-Ser, der nun glücklicherweise abgereist ist.« Beide brachen in helles Gelächter aus. Kyrace stand auf, ging an die Brüstung und schaute hinunter. Sie sah, winzig wie Ameisen, eine Reihe von Menschen auf den Fuß der Treppe zugehen. Sie zuckte mit den schmalen Schultern und sagte: »Sie werden wohl hierher kommen. Fange sie bitte am Eingang ab und weise sie zurück. Sie sollen warten.« »Das alte Geduldsspiel?« erkundigte sich die Sklavin. »As Sallad hat es besser beherrscht als ich.« »Der Seneschall ist verschwunden, also wirst du an seiner Stelle handeln«, erwiderte Kyrace. Ihr Wesen war zwiespältig und unausgeglichen. Einerseits, dachte die Sklavin, als sie durch die Säulenkolonnaden und die ausgehöhlten Felsen ging, sammelte Kyrace Freier und Anbeter um sich wie ein Hirt seine Schafe, andererseits langweilte sie sich. Sie genoß den fragwürdigen Glanz der Verehrung, von dem sie wußte, wie sinnlos er war. Sie gab den Freiern zu verstehen, daß sie von ihren Schwüren und Beteuerungen gelangweilt wurde und legte ihnen nahe,
die Insel bald wieder zu verlassen. Und sie peinigte sie mit ihren Spielen, die alle reine Illusion waren, Bruchstücke aus Träumen, die teilweise böse waren. Dann fanden sich die Männer mitsamt ihrem Gefolge als Schweine wieder, als Schafe oder als Vögel. Sie verhielten sich dann so wie Tiere und bildeten den Grund für langes Gelächter. Kyrace und ihre Sklavinnen, Zofen und Mägde lachten dann darüber ... aber auf die Dauer wurde auch dieses Vergnügen langweilig und schal. »Ich werde es schon richtig machen!« sagte die Sklavin, ehe sie den Raum aus Teilen von Höhlen und Säulen verließ. »Ich weiß es!« flüsterte Kyrace. Sie schloß die Augen. Sie war alt und gelangweilt. Sie lebte auf einem wundervollen Inselchen, auf dem alles gedieh und wuchs und blühte. Sie selbst hatte die Arbeit ihrer Mutter fortgeführt und aus den kahlen Felsen ein kleines Paradies hervorgebracht. Es schien eine Insel des ewigen Lebens zu sein. Niemand starb, niemand wurde krank. Nur manchmal einer der Freier, der zu lästig wurde. Jeden Tag Sonne, jeden Tag milder Wind, Brot und Wein und Früchte und Braten im Übermaß. Genügend Dienerinnen und Diener. Sogar eigene Fischer hatte sie. Es fehlte ihr an Abwechslung. An echter Abwechslung, denn alle Spiele, die auf ihrem Eiland
stattfinden konnten, waren nichts anderes als eine Wiederholung längst geschehener Dinge. Nicht einmal die Versuche, die Freier und ihre Begleitung durch die Erzeugung mitunter tödlicher Illusionen zu erschrecken, konnten sie mehr begeistern. »Ich brauche einen Mann«, flüsterte sie und verkrampfte die schlanken Finger um die Armlehnen des Sessels. »Einen Mann, der sich nicht meinen Launen ausliefert!« Und solch ein Mann war schwer zu finden. Sehr schwer. Sie lockerte ihren Griff, als sie merkte, wie die Ringe in die Finger einschnitten. Die Dienerin kam in großer Eile herbeigelaufen und blieb vor ihr stehen. Sie kauerte sich nieder und berührte das Knie Kyraces. »Es ist tatsächlich der Kaufmann Gabor. Er hat einen Freund mitgebracht. Ein großer Mann, er sieht aus wie ein ... wie ein Gott!« stieß sie aufgeregt hervor und lächelte. Kyrace starrte sie prüfend an. »Solche Götter gibt es nicht«, sagte sie leise. »Du meinst, ich sollte ihn mir ansehen?« »Ja«, flüsterte N‘succa. »Unbedingt. Er ist sehenswert! Blaue Augen, die wie das Meer leuchten. Er strahlt Macht und Stärke aus.« »Klugheit?« »Ja. Auch Klugheit!« bestätigte die Dienerin. Kyrace blieb einen Moment lang unschlüssig, dann schüttelte
sie den Kopf und sagte: »Geh an die Tür des Palastes und weise ihn ab. Wenn er so gut ist, wie du sagst, wird er etwas unternehmen. Auf alle Fälle ist dies eine Prüfung. Lassen wir ihn warten!« Die Dienerin nickte und huschte wieder davon. Kyrace war allein. Ubali blieb stehen und schaute sich verblüfft um. Er nickte anerkennend und sagte: »Nur Höhlen, Säulen und Gänge – aber welch eine Schönheit!« »Du hast recht, Ubali. Ich bin nicht weniger beeindruckt! Kyrace ist eine Künstlerin.« Nachdem sie das obere Ende der geschwungenen Treppe und dort einen kleinen, halb in einer offenen Höhle befindlichen Platz erreicht hatten, übernahm der Kaufmann die Führung. Er kannte den Weg zum Palasttor, sagte aber im gleichen Atemzug, daß es hier weniger Bauwerke und dafür mehr ausgebaute Höhlen und labyrinthische Gänge gäbe. Hier oben schien die Insel ein einziges System von Gängen und Höhlen zu sein, seit langer Zeit ausgebaut. Licht fiel von allen Seiten in die Schächte und auf die vielen Pflanzen. Kunst und Natur waren eine glückliche und schöne Verbindung eingegangen. »Amarylla, Kyraces Mutter, hat angefangen, die
Insel auszubauen. Kyrace hat es vollendet!« erklärte ein Mann aus Gabors Begleitung. Sie gingen weiter. Eine Treppe aufwärts, eine andere abwärts, vorbei an kleinen Gruppen von Sklavinnen, die alle möglichen Arten von Arbeiten betrieben, vorbei an großen, finster blickenden Eunuchen. »Sie hat mehr als zweihundert Sklavinnen. Es sind die schönsten Mädchen aus allen Inseln und der ganzen großen Umgebung!« sagte Gabor. Dragon hatte immer stärker das Gefühl, als ob unsichtbare Augen ihn und seine Begleiter beobachteten. Hinter den Mauern aus Filigran, hinter den leuchtenden Orchideen, in den dunklen Abschnitten – überall schien jemand auf die Ankommenden zu lauern und ihren Weg zu verfolgen. Ziervögel flatterten und stolzierten herum. Ubali schüttelte sich und sagte grollend: »Wir sind nicht die einzigen Besucher. Wo sind die, von denen wir die Schiffe gesehen haben?« Hegon, der mit der Miene eines Kenners die Sklavinnen betrachtete, zuckte die Schultern. Gabor, sein Baumhörnchen streichelnd, erklärte kurz: »Wir werden sie gleich sehen.« »Haben sie Quartiere hier?« »Ja.« Die magische Ausstrahlung der gepflegten Anlagen zog sie alle in ihren Bann. Jetzt schienen sie zu wissen,
warum dieses Eiland die Insel der Zauberin genannt wurde. Je länger man sich hier aufhielt, desto mehr wurde man verzaubert. Natur, Kunst und alle Eindrücke zwangen dazu. Schließlich kamen sie alle auf einen Hof, der aus Mauern, Treppen und Höhleneingängen beziehungsweise Grotten gebildet wurde. Hier befanden sie sich plötzlich mitten in dem bunten Leben, das sie bisher vergeblich gesucht hatten. Viele Menschen in farbenfrohen Kleidern, fremde Gesichter, fremde Waffen. Dragon und seine Freunde blieben stehen. »Hier sind die Quartiere der Gäste«, erklärte Gabor. »Und dort drüben ist das Tor des Palastes.« Er deutete auf eine breite, kurze Treppe, von Säulen flankiert. Sie führte auf ein doppeltes Tor aus Bronze zu, das in eine Mauer eingelassen war. Die Mauer, mit Luftlöchern und zierlicher Steinmetzarbeit verschönert, schloß den unregelmäßigen Grotteneingang ab. Nur einen schmalen Spalt öffnete sich das Tor, Dragon erkannte dahinter ein schmales Frauengesicht und schwarzes Haar. Dann schloß sich das Tor wieder. »Was jetzt? Ich möchte mit Kyrace sprechen!« sagte Dragon. »Es ist noch nicht die Zeit, Agon-Dra!« sagte Gabor. »Sie wird dich empfangen, wenn sie es will. Zuerst lasse mich die ersten Schritte tun. Übrigens – dort
drüben halte ich mich auf, wenn ich hier handle.« Er deutete auf eine geräumige Höhle, die ebenfalls ausgebaut, verziert und abgeteilt war. Eine Mischung zwischen einem Haus, einem Garten und einer Grotte mit kleinem Brunnen. Das Wasser rieselte über Steine und Felsen und verlief sich irgendwo im Rasen. »Einverstanden. Wir lagern hier!« sagte Dragon oder »Agon-Dra«. Gabor ging mit seinen zwei Begleitern auf das Tor zu und klopfte mehrmals. Er wartete geduldig. Dragon setzte sich auf eine der vielen Stufen und nahm das Bild der Umgebung auf. Er war hier, um auf Cnossos zu warten, und er mußte die Eigenarten von Insel und Kyrace aufspüren und genau kennenlernen. Er lehnte sich an die Mauer und sah nach kurzer Zeit, wie ihm gegenüber sich ein riesenhafter Mann aus einer Gruppe wilder Gestalten hervorschob und langsam auf ihn zukam. Dragon hob den Kopf. Er glaubte, diese Art zu kennen. Der Mann war ein wenig zu nachlässig, etwas zu stark und viel zu eingebildet. Seine Kraft schien ungeheuer zu sein. Er war in kostbare Felle gekleidet. Die ledernen Gurte und Stiefel waren mit runden Eisenstücken beschlagen. Der Besitzer dieses Langschiffes mit einem Mast und dem riesigen Segel, fuhr es Dragon durch den Kopf. Der Fremde mit langem, rotem Haar blieb breitbeinig
vor Dragon stehen. »Wer bist du, Fremder?« fragte er. Dragon legte den Kopf in den Nacken und sagte halblaut: »Ich bin der Edle Agon-Dra aus Lu‘ur. Wer bist du, Rothaariger?« Der andere holte tief Atem und sagte drohend: »Ich bin Arric. Man nennt mich ›den Roten‹. Ich bin der Mann, der Kyrace erobern wird.« »Ich verstehe«, erwiderte Dragon und blickte an Arric vorbei auf dessen Gefolge. »Du glaubst, daß Kyrace sich erobern läßt?« Großspurig versicherte Arric: »Nicht von dir, Agon-Dra, aber von mir bestimmt!« Dragons Begleitung, die im Halbkreis um ihn herum Platz genommen hatte, brach in lautes Gelächter aus. Die Hand des Rothaarigen fuhr an den Schwertgriff, und er war sehr verwirrt, als er statt dessen einen stinkenden alten Knochen in der Hand hielt. Erbolix‘ Gesicht ließ nicht erkennen, daß wieder eines seiner »kleinen Wunder« gewirkt hatte.
7.
Zunächst ließ Kyrace sie einen Tag lang warten. Nur einige Dienerinnen erschienen und wiesen Gabor und seinen Leuten sowie Agon-Dras Gefolge genügende und schöne Quartiere an; es waren zwei geräumige Grotten, mit allem ausgestattet, was die Freunde brauchten. Sie richteten sich ein, und Agon-Dra dachte immer wieder an die Warnung Gabors. »Dort! N‘succa! Die Leibsklavin der Kyrace!« zischte Hegon, dessen Augen schier aus den Höhlen quollen. Dragon und Gabor gingen auf das schwarzhaarige Mädchen zu. Sie wirkte selbstsicher und war außergewöhnlich hübsch – wie fast alle Menschen und alles andere auf diesem Inselchen. Agon-Dra spürte, daß etwas Besonderes in der Luft lag. Eine gewisse Spannung breitete sich aus. Gabor und er gingen auf N‘succa zu. Agon-Dra eröffnete das Gespräch. »Deine Herrin scheint unhöflich zu sein. Wir segeln lange über das gefährliche Meer, um deine Herrin kennenzulernen. Und sie läßt uns warten.« N‘succa zuckte schnippisch mit den Schultern. »Sie läßt jeden und alle warten. Auch Arric. Aber mit Gabor hat sie gehandelt, und mit ihm hat sie gesprochen, ohne ihn warten zu lassen. Ihr seid seine Freunde, also hat sie auch euch ihre Gastfreundschaft angeboten. Habt ihr euch zu beschweren?« »Nein!« erwiderte Gabor. Er trug wieder eines seiner
phantastischen Gewänder und war aufgeputzt wie eine alternde Fürstin. »Aber mein Freund und Gönner Agon-Dra hat von mir und anderen soviel über die Schönheit und die Klugheit Kyraces gehört, daß er vor Ungeduld fiebert.« »Was verständlich ist!« stimmte N‘succa zu. Hegon ergriff ihre Hand und sagte leise: »Wenn sie auch nur halb so schön ist wie du, N‘succa, dann sind wir nicht vergebens gereist und haben Tausende von Abenteuern bestanden, die jeder Beschreibung spotten!« »Morgen abend wird ein Fest stattfinden«, versicherte N‘succa und sandte Hegon einen glühenden Blick zu. »Ihr alle seid eingeladen. Aber ich muß euch warnen.« »Warum?« »Kyrace ist mißgelaunt. Sie langweilt sich. Vermutlich wird sie, um sich zu zerstreuen, ein bißchen zaubern.« »Recht so«, sagte Dragon leise. »Darauf habe ich bereits gewartet. Und wann wird der Herr des Südens eintreffen?« Kyrace, das hatten sie inzwischen erfahren können – denn es wurde an den langen Tagen viel gesprochen und geklatscht –, hatte von ihrem Seneschall As Sallad sehr viel über den Herrn des Südens erfahren, also über Cnossos. Auch waren viele
kostbare Geschenke übersandt und angenommen worden; der Anfang des Werbens um Kyrace. Kyrace sprach viel von ihm. »In wenigen Tagen. Er hat aber wissen lassen, daß wichtige Staatsgeschäfte ihn etwas länger aufhalten können. Auf alle Fälle will er noch im Mond des Raben hier an Land gehen. Mit großem Prunk und zahlreichem Gefolge.« Auch stand es fest, daß Kyrace zunächst keineswegs mit diesen Gästen gerechnet hatte. Aber Dragon mußte auf alle Fälle warten und sich die Handlungsfreiheit sichern. Ganz gleich, was hier geschah. »Wird sie ihn heiraten?« fragte Hegon. »Ihn oder Arric. Oder Agon-Dra, nachdem sie ihn gesehen hat«, meinte N‘succa leichthin. Sie warf ihr Haar in den Nacken und ging davon. Nun waren sie alle etwas klüger, aber mit diesem Wissen war nicht viel anzufangen. Der Kaufmann, der inzwischen nahezu alle die teuren Waren aus dem Schiff hier herauf geschafft hatte, drehte Agon-Dra an der Schulter herum und sagte eindringlich: »Alles ist offen. Jedenfalls habe ich meinen Handel beendet. Ich könnte wieder in See stechen. Aber ich bleibe hier und warte darauf, wie deine Vorhaben enden, Agon-Dra.« »Einverstanden.« Inzwischen hatte sich auf dem kleinen Platz eine Menschenmenge zusammengefunden. Es war Arric
und seine Begleitung, die ebenfalls warteten und sich langweilten, etwa fünfzig Dienerinnen und einige Eunuchen, Dragons und Gabors Begleitung. Es wurde Essen aufgetragen, daß sowohl aus der Palastküche kam als auch aus den Vorräten der Wartenden. Wein wurde ausgeschenkt, die Männer prahlten voreinander mit ihren Abenteuern, und die Mädchen schäkerten mit ihnen. Trotzdem blieb die Spannung. Langsam gingen Dragon, Hegon und Ubali durch die Menge, unruhig und suchend. Dragon zog seinen Tarnmantel um eine Schulter, aber dann lockerte sich sein Griff wieder. Arric stand unten im Kreis seiner Ruderer oder Seeleute und trank. Seine Stimme beherrschte mindestens die Hälfte des Platzes. Plötzlich stieß Ubali Dragon an. »Dort drüben! Der Seneschall! Der tote Seneschall!« sagte er alarmiert. Dragon wandte den Kopf. Das konnte nicht sein. Langsam zog Dragon den Umhang über den Kopf. Das Bild, das von drei Reihen Lampen und Fackeln erhellt wurde, flimmerte etwas und klärte sich wieder. Es war nicht der Seneschall ... »... es ist Kyrace! Ohne Zweifel!« flüsterte er. Ubali verschwand und bahnte sich einen Weg zu Erbolix, der sich in den Arm Yinas schmiegte. Es war Kyrace! Agon-Dra starrte sie an. Sie übertraf alle
Schilderungen. Groß, schlank, eine junge Frau von großer Schönheit. Sie trug ihr langes Haar hochgesteckt. Ein weißes, enges Gewand zeigte mehr von ihrem makellosen Körper als es verhüllte. Breite Schmuckbänder, ein auffallender Halsschmuck und tropfenförmige Ohrgehänge, die in allen Farben funkelten. Zweifellos hatte sie soeben eine Illusion erzeugt, der alle anderen zum Opfer gefallen waren. Als Dragon kurz seinen Schleier hob, sah er lächelnd, daß sich Kyrace augenblicklich wieder in den toten Seneschall verwandelte. »Und gleichzeitig ... das ist die Verwirrung!« stöhnte er auf. Er bemerkte die Unruhe und Unsicherheit unter den Versammelten. Nur seine eigenen Leute schienen gegen die Illusion gefeit zu sein. Denn alle Sklavinnen hatten sich in Kyrace verwandelt. Mindestens vier dutzendmal erschien Kyrace, überall ... es war tatsächlich mehr als ein Scherz. Dragon zog das Gespinst wieder über die Augen. Sofort sah er klar. Er sah auch, daß Erbolix ihm winkte. Also stemmte sich der Zauber des Trolls gegen die Illusion der Kyrace. Dragon ging langsam, außerhalb der Menge, auf die junge Frau zu, von der er wußte, daß sie nicht jünger als fünfzig Sommer war. Drei Schritte vor ihr blieb er stehen. Sie befanden sich direkt in dem Kreis größter Helligkeit. Dragon spürte den Schlag seines Herzens – die Frau war das Schönste,
das er je gesehen hatte. Mit schmerzlichen Gedanken sah er ein, daß selbst Amee nicht so schön, nicht so vollkommen war. »Du also bist Kyrace!« sagte er. Sie zuckte zusammen, erkannte im selben Augenblick, daß er gegen die Illusion sicher war, und dann sagte sie spöttisch: »Agon-Dra! Der Edle aus Lu‘ur ist gegen meinen Zauber gefeit?« »So ist es!« Sie blickten einander an. Zweifellos war sie beeindruckend. Aber sie war auch verblüfft, denn bisher hatte ihr noch niemand widerstehen können. »Ich habe viel von dir gehört«, sagte Dragon. »Aber die Wirklichkeit ist mehr als alle Erzählungen. Sicherlich langweile ich dich, wenn ich dir sage, wie schön du bist.« »Nicht unbedingt«, meinte sie verblüfft. »Aber wie kommt es, daß du mich nicht als As Sallad, meinem Seneschall, erkennst, sondern mich selbst siehst?« Dragon lachte, hütete sich aber, seine Gegenzauber zu schildern. Er murmelte in nebensächlichem Ton: »Wir in Lu‘ur sind etwas anders als viele andere Stämme. Wir sehen nur das, was wir glauben. Aber ich bin sicher, daß du stärkere Zauber kennst, denen wir uns beugen müßten. Einer der Zauber liegt in deiner Ausstrahlung. Gegen sie ist selbst ein Edler aus Lu‘ur
machtlos.« Langsam erwachte ihr Interesse. Jetzt war drei, vier Schritte unter ihnen die Aufregung an ihrem Höhepunkt angelangt. Die Mädchen waren Mittelpunkt von Gruppen, die sie anstaunten. Dragon verdeckte den Blick der Menge auf Kyrace. Seine Freunde drängten sich zusammen und hatten den Troll in ihrer Mitte. Auch Gabor stand bei Erbolix. »Du sprichst anders und liebenswürdiger als Arric!« stellte Kyrace fest. Ihre langfingrigen Hände spielten nervös mit den Schmuckstücken. »Wer ist Arric?« fragte Agon-Dra spöttisch. »Ein Mann, dessen Blut angeblich kocht«, erwiderte sie. »Wenn ein Frauenkörper spricht«, entgegnete Dragon, »haben die Männer nicht genug Augen, um zuzuhören.« Kyrace lachte. Ihre schlechte Laune schien hinweggefegt zu sein. Sie blickte auf die Versammlung und sagte nachdenklich: »Wer verführen will, darf es nicht eilig haben. Arric brennt vor Ungeduld.« »Und auch der Herr des Südens, hörte ich, ist besessen darauf, dich kennenzulernen. Wenn seine Leidenschaft seinen Geschenken entspricht ...« »... dann ist er ein feuerspeiender Berg. Und du?« Dragon überlegte, aber dann antwortete er:
»Ich sehe, daß du eine schöne Frau bist. Ich weiß, daß du eine Zauberin bist, nicht besonders böse, aber launisch. Ich muß mehr von dir wissen und dich besser kennenlernen, ehe ich etwas sage. Du solltest das nicht als Beleidigung auffassen, aber ich denke, bevor ich handle.« Sie blickte hinauf zu den Sternen und sagte: »Ich glaube, ich habe noch Zeit, ehe der Herr des Südens kommt. Ich will diesen Barbaren Arric nicht. Und ich gebe dir eine Chance, mich zu beeindrucken. Kämpfe morgen mit Arric dem Roten und besiege ihn. Dann haben wir beide mehr Zeit, uns kennenzulernen.« Sie lachte kehlig, drehte sich um und warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu, das seine Knie weich werden ließ. Agon-Dra rief ihr leise nach: »Eifersucht ist nur dann ein Vergnügen, wenn man sie erregt. Ich bin nicht eifersüchtig auf Arric.« »Dann«, erklärte sie aufreizend, »wirst du besser kämpfen.« Hinter ihr schlossen sich die Bronzeflügel des Tores. Kurz nachdem Kyrace hinter sich die Portale geschlossen hatte, wurde der Bann der Illusion von den Anwesenden genommen. Für Hegon hatte sie von Anfang an nicht gegolten – er hatte sich auf eine Balustrade gestützt, legte die Unterarme auf und hielt
einen Becher halb voll Wein in den Fingern. Vor ihm, auf der anderen Seite des Mäuerchens, stand N‘succa. Auch sie trank Wein. »Morgen«, sagte Hegon. »Morgen kämpft mein mächtiger Herr gegen den Rothaarigen im Pelz.« N‘succa betrachtete interessiert Hegons Hand, die an ihrem bloßen Arm entlangglitt und immer höher kroch. »Morgen habe ich auch ein wenig Zeit für dich, Hegon!« versprach sie. »Wollen wir uns am Strand treffen?« »Ich treffe dich dort, wo du mich treffen willst«, versicherte Hegon. Langsam hob er seinen Becher. »Was denkt deine Herrin über meinen Herren und Freund Agon-Dra?« N‘succa wußte keine rechte Antwort. Sie überlegte ein wenig, biß sich auf die Lippen und erklärte schließlich: »Arric stinkt aus dem Mund. Sie mag ihn nicht. Er ist zu rauh, zu wild, ein einfacher Kriegerprinz aus den Eisländern! Ich glaube, Agon-Dra wird ihn vertreiben.« Hegon murmelte, von diesem einfachen Verfahren beeindruckt: »Das bedeutet, daß Arric absegelt. Aber was ist mit diesem Herrn des Südens?« »Das liegt an deinem Herrn. Aber er scheint nicht so groß und mächtig zu sein wie der Herr des Südens?«
Hegon versicherte mit einem selbstbewußten Lachen: »Du wirst dich wundern, Schönste, wenn du wüßtest, wie mächtig mein Herr ist. Ich muß zu ihm. Wann treffen wir uns morgen?« Er hob sie mühelos auf seine Seite der Mauer. »Wenn die Sonne am höchsten steht, Hegon! Dann werde ich dir ein wenig mehr von der Insel zeigen.« Er grinste breit. »Vielleicht zeigst du mir auch ein wenig von dir, Schönste.« »Vielleicht«, sagte sie, preßte sich kurz gegen ihn und lief weg. »Vielleicht auch nicht.« Er trank den Wein aus und suchte nach Agon-Dra. Er fand ihn nicht, denn der angebliche Edle aus Lu‘ur hatte das improvisierte Fest verlassen und saß auf dem Deck des Schiffes unten im Hafen. Er dachte: Als Kyrace gemerkt hatte, daß er und seine Freunde der Illusion nicht erlegen waren, war sie aufmerksam geworden. Sie konnte nichts vom Tarnumhang und dessen Wirkung wissen und nicht ahnen, was Erbolix vermochte. Vermutlich hatte das ihn, Dragon, interessant gemacht. Sie würde sich, nachdem er auf ihre Veranlassung den fellgekleideten Prinzen aus einem der fernen und unbekannten Felsländer besiegt und vertrieben hatte, mehr und mehr ihm widmen.
Das gab ihm entscheidende Vorteile gegenüber Cnossos – er mußte sie nur zu nützen wissen. Bis zur Ankunft seines Gegners und Nebenbuhlers würde er es schwer haben, denn zweifellos war er ganz anders als die üblichen Freier. Und sie würde auf alle Fälle versuchen, ihn auszuhorchen und mehr über ihn zu erfahren. »Dies ist mein Risiko«, sagte sich Dragon, wickelte sich in seinen Mantel und schlief ein. Seine letzten Gedanken galten Amee und seinem verschwundenen oder toten Sohn. Von unten kam der letzte Lärm, den die Krieger des rothaarigen Prinzen und die Männer von der Stolz von Sodok verursachten. Die beiden Frauen standen auf der obersten Terrasse des Palastes. »Was weißt du über diesen Fremden?« fragte Kyrace. Sie schien gelöster und etwas vom Weingenuß erhitzt zu sein. »Ich habe dir alles berichtet. Morgen werde ich ein wenig mit dem Anführer seiner Soldaten tändeln. Vielleicht verrät er mir mehr.« »Das bezweifle ich«, erklärte Kyrace. »Ein kluger Mann. Er sieht tatsächlich sehr gut aus. Und seine Freunde sind alles sehr merkwürdige Leute.« N‘succa lachte hell auf. »Endlich wirst du ein wenig Abwechslung erleben,
Herrin! Nicht immer diese langweiligen Freier! Du läßt sie morgen miteinander kämpfen?« »Ja. Meine Geduld mit Arric ist vorbei. Außerdem erfahre ich dann, wie kräftig der Fremde ist. Meinst du, daß er siegen wird?« »Sein Freund sagte, er sei listenreich und stark. Aber denkst du auch an den Herrn des Südens?« Kyrace war unschlüssig. Sie wußte vom Seneschall und aus den überaus kostbaren Geschenken, daß er der König eines mächtigen und großen Reiches in der Mitte des »Landes der schwarzen Menschen« war. Sie hatte eigentlich mit dem Gedanken gespielt, den Rothaarigen mit Cnossos kämpfen zu lassen; deswegen hatte sie Arric überhaupt so lange ertragen. Aber diese neue Lösung schien weitaus besser zu sein. Langsam begann sie sich auf das Schauspiel zu freuen. Agon-Dra als ihr Geliebter? Und dann würde er es sein, der seine Kräfte mit denen Cnossos‘ messen mußte. Sie klatschte in die Hände. »Morgen, kurz nach Mittag, sollen sie kämpfen. Sorge dafür, daß alle zusehen. Ich werde ihnen sagen, worum es geht!« N‘succa dachte an ihre Verabredung mit Hegon und nickte mehrmals. »Die Tage des Einerleis sind vorbei. Das Leben wird wieder abwechslungsreich auf deiner Insel, Herrin!«
versprach sie. »Nichts anderes habe ich vor!« bestätigte Kyrace und zog sich in ihr riesiges Schlafgemach zurück. Sie würde alles einsetzen, um Agon-Dra zu ihrem Geliebten zu machen. Aber was war, wenn Arric der Rote diesen Kampf gewann? Gewaltsam verdrängte sie die Gedanken an diese Möglichkeit aus ihrem Kopf und fand endlich Ruhe. Stiller und ruhiger wurde es überall auf der Insel. Nur noch das Rauschen der Brandungswellen blieb und schläferte die Menschen ein.
8.
Anakyra hatte mit dem Bau begonnen, Amarylla hatte ihn fortgeführt und um einige Einrichtungen erweitert, und Kyrace hatte die kleine Arena vollendet. Mehrere Kreise aus weißem, geglättetem Stein umzogen die Sandfläche, die fünfzehn Mannslängen durchmaß. Zwischen dem Halbrund der Säulen und der hochragenden Wand aus Quadern, geschmückt mit einem zierlichen Fries, spannte sich jetzt ein riesiges weißes Sonnensegel. Die Nachricht hatte sich in rasender Eile herumgesprochen. Nur die beiden Helden dieses
Kampfes waren noch nicht offiziell aufgefordert worden. Trotzdem waren sie gerüstet – sie gehorchten, ohne sich zu wundern oder zu fragen, den Sitten dieser Insel. Die Ränge waren gefüllt. Selbst die Fischer der Insel saßen hier und schienen sich auf den bevorstehenden Kampf zu freuen. Mägde, Diener, Sklavinnen, Beschnittene, sämtliche Gäste und Matrosen – sie alle saßen hier in dem lichterfüllten Schatten und warteten. Das aufgeregte Murmeln vieler Unterhaltungen war zu hören. »Ich sage dir, es ist deiner unwürdig, König!« flüsterte Ubali, aber dennoch trug er Dragons Schild, den Helm und das Schwert. »Mag sein«, gab Dragon zurück. »Aber dadurch schaffe ich mir zusätzliche Freiheit. Der Kampf wird nicht lange dauern.« Ubali und Dragon standen dicht neben dem warmen Sand der Arena. Ihnen gegenüber stand Arric mit zwei seiner Getreuen. Sie trugen seine Rüstung. Hin und wieder warf er finstere Blicke zu Dragon und Ubali. Die beiden Männer kannten sich kaum, hatten eigentlich keinen Grund zum Kampf, und die Szene war einigermaßen eigentümlich. Sklaven und Sklavinnen hantierten mit Musikinstrumenten und spielten einige einfache, aber aufreizende Melodien. Trommeln, Flöten und
harfenähnliche Instrumente waren zu sehen. Dann schwiegen die Flöten, und nur die Trommeln pochten dumpf weiter. In der Mitte der vielen Plätze, auf einer Art Kanzel über dem Sand, öffnete sich eine Tür. Zuerst kam N‘succa, nur mit einer Art Mieder und einem Lendenschurz bekleidet. Sie trug ein Tablett mit auserlesenen Kostbarkeiten, setzte es neben dem hochlehnigen, gepolsterten Sessel ab und blieb stehen, bis Kyrace an ihr vorbei bis an die Brüstung der Kanzel ging. Dort blieb die Zauberin stehen und sah lange auf die Zuschauer hinunter. Schließlich sagte sie: »Freunde! Wir sind hier, um einen Kampf zu sehen. Zwei mächtige Männer buhlen um meine Gunst. Sie haben beide gewußt, was sie erwartet, denn ich bin wählerisch und phantasievoll. Beide wollen sie meine Geliebten werden, aber dies kann nur einer sein. Seit jeher war es Sitte, daß die Männer um den Besitz einer Frau kämpfen. Der Sieger erhält die Beute, so ist es Gesetz. Darum werden heute Arric der Rote, Prinz eines Volkes aus den fernen und unbekannten Nordländern, und Agon-Dra, der Edle aus dem mächtigen und großen Land Lu‘ur, um meine Gunst kämpfen. Der Sieger wird hierbleiben dürfen. Derjenige, der diesen Kampf verliert, genießt nicht mehr länger die Gastfreundschaft der Kyrace und wird
die Insel verlassen.« Arric hob den Kopf und schrie: »Du bist eine hartherzige Frau, Kyrace. Wie soll gekämpft werden?« »Mit allen Kräften soll gekämpft werden«, gab sie kühl zurück. »Und daß ich hartherzig bin, wußtest du schon, als du hier landetest. Aber ich bin von weichem Herzen, dem Sieger gegenüber. Auch das ist jedermann hier bekannt.« Sie nickte der Dienerin zu, die langsam und unauffällig die Kanzel verließ und die Tür schloß. Dragon hob den Arm und rief: »Wie lange soll gekämpft werden, schönste Herrin der Insel?« »So lange, bis einer von euch aufgibt!« war die Antwort. »Und jetzt – beginnt!« Dragon nickte Ubali zu, schob seinen linken Unterarm durch die Griffe des Schildes, ließ sich den Helm aufsetzen und nahm das Schwert in die Rechte. Er lächelte zuversichtlich zu Kyrace hinauf, schwang sich über die niedrige Brüstung und blieb wartend stehen, in den Knien leicht federnd. »Musik!« rief Kyrace und klatschte in die Hände. Die Flöten, Pfeifen, Trommeln und Harfen vollführten einen wilden Lärm, dann gingen die Musikanten in eine liebliche Melodie über. Kyraces Stimme klang etwas schrill, als sie die
Musik überschrie: »Kämpft, Männer!« Sie beugte sich vor. Arric handelte zuerst. Während Dragon, der seinen Gegner konzentriert beobachtete, einige tastende Schritte vorwärts machte, riß der Rothaarige seinem Begleiter einen langen Speer aus der Hand, schwang ihn über dem Kopf und schleuderte ihn auf Dragon. Der Atlanter sprang augenblicklich zur Seite und hob den Arm mit dem Schild, kippte die runde Platte aus Holz, Leder und Metall. Die nadelfein geschliffene Spitze des Speeres prallte auf den Schild, schrammte darauf entlang, wurde abgelenkt. Der Speer wirbelte schräg aufwärts und summte über die Köpfe der Zuschauer, die sich kreischend zur Seite warfen. Dann landete er klappernd irgendwo auf Stein. Agon-Dra rief hallend: »Ich hoffe, es wird ein ehrlicher Kampf, Nordmann! Ich hasse dich nicht, noch haben wir Streit.« »Einer von uns wird Kyrace erobern!« schrie Arric zurück, riß den zweiten Speer an sich und zielte, diesmal etwas weniger stürmisch, nach Dragon. Der Atlanter bewegte sich unruhig hin und her, den Körper durch den Schild gedeckt, das Schwert abwehrbereit in der Hand. Er war bis zum Gürtel nackt, und der Schweiß glänzte auf seinen Armen und Schultern. Dann zischte der Speer quer durch die Arena. Arric der Rote hatte tiefer gezielt. Die Spitze bohrte
sich genau ins Zentrum des Schildes. Die Wucht des Geschosses trieb Agon-Dra mehrere Schritte zurück. Er stolperte – und fing sich wieder. Dann hob er blitzschnell das Schwert, schlug zu und hämmerte mit einem einzigen Hieb das Geschoß aus dem Schild. Dann ging er schnell in die Mitte der Kampfstätte und blieb dort stehen. Einen dritten Speer hatten die Begleiter des Nordmannes nicht mitgebracht. Arric stürmte wie ein rasender Stier auf ihn los. Agon-Dra wich seitlich aus, hob Schild und Schwert und fing einen furchtbaren Schlag der zweischneidigen Kampfaxt ab. Der Schlag dröhnte auf den Schild und schlug eine tiefe Kerbe. Dann prallten die Männer zusammen. »Ich bringe dich um, du Hund aus dem Süden!« keuchte Arric. Agon-Dra antwortete nicht. Die Gegner umkreisten sich wie lauernde Raubtiere. Unter dem spitzgerundeten Helm, mit breiten Bändern aus Nieten zusammengehalten, quoll das rotblonde Haar des Prinzen hervor. Die Pelze verströmten einen unangenehmen Duft, der Dragon an einen Pferdestall erinnerte. Der Kampf wogte hin und her. Dragon schätzte die Kräfte und die Kampfart des anderen ab. Immer wieder schlug das Kampfbeil auf den Schild, wurde abgewehrt, dann
sprang der Nordmann zurück, Dragon schlug zu und traf den Schild oder schlug vorbei. Die lauten Schläge hallten über die Hälfte der Insel. Die Musik und die aufgeregten Schreie der Zuschauer wurden übertönt. Dann änderte Dragon, der Arric langsam im Kreis rund um den Innenrand der Arena getrieben hatte, seine Taktik. Er handelte völlig unerwartet. Als der Nordmann ausholte und mit aller Kraft das Beil auf den Schild schmettern wollte, sprang der Atlanter zur Seite und kippte den Schild. Die Schneide wurde abgelenkt und fuhr in den Sand. Einige
Augenblicke lang waren Kopf und Nacken des Kämpfers völlig ungeschützt. Die Zuschauer sprangen von den Sitzen auf, rissen die Hände vor die Gesichter und stöhnten auf. Agon-Dras Schwert fuhr herunter und ließ den Stiel des Beiles zersplittern. Das Holz, mit Leder umwickelt, splitterte und wurde Arric aus der Hand gerissen. Wieder sprang Agon-Dra zurück, hob sein Schwert und drang auf den breitschultrigen Mann ein, der abwehrend den Schild hob. Dragon lachte und rief leise, zwischen einzelnen keuchenden Atemzügen: »Mir scheint, ich werde die Zauberin besitzen, Mann des Eises!« »Fahr in die Unterwelt!« brüllte der Prinz, keuchte auf und hob dann den Schild mit beiden Händen. Er schleuderte ihn wie eine Platte nach Dragon, der sich duckte. Dicht über seinem Helm flog der Schild in den Sand und kollerte davon. Jetzt war der Nordmann bis auf den Helm waffenlos. Nicht ganz, denn er griff an den Gürtel, tauchte unter einigen Schlägen Agon-Dras hinweg und riß einen langen Dolch heraus. Die Schneide blitzte in einem verlorenen Sonnenstrahl auf. Dragon ließ den Schild fallen, packte das Schwert wie einen Dolch und drang auf Arric ein. Langsam und mit zusammengekniffenen Augen wich der Krieger zurück und täuschte mehrere Ausfälle vor, aber immer stieß sein Arm mit dem Dolch rechts oder links an
Dragon vorbei in die Luft. Agon-Dra sagte hart: »Gib auf, Prinz!« »Nicht, solange ich stehe!« war die Antwort. Die Gegner kreisten umeinander, belauerten sich, machten Ausfall über Ausfall, verteidigten sich. Bis jetzt trug jeder von ihnen nur einige lange Kratzer und Schürfwunden, in denen der Schweiß brannte wie flüssiges Feuer. Dann, als Arric wieder vorstieß, als sein Stoß neben dem Herzen Agon-Dras vorbeiging, schlug der Atlanter mit der flachen Seite des Schwertes hart auf das Handgelenk des Prinzen. Der Nordmann schrie auf wie ein wildes Tier. Der Dolch fiel aus den steifen Fingern, und der Gegner trat ihn mit einem wütenden Tritt des Stiefels vier Mannslängen weit aus dem inneren Kreis der Arena. Dann warf Dragon das Schwert in die Richtung, in der er aus dem Augenwinkel den Dolch liegen sah. Er griff mit bloßen Händen an. »Hierher!« sagte er. »Ich werde dich zurückschicken in den kalten Norden!« Mit geschwungenen Fäusten kam der andere näher. Seine Fäuste waren groß wie Felsen. Sie pfiffen förmlich durch die Luft, und hätte ein Schlag getroffen, würde er Dragons Schädel gespalten haben. Der andere kämpfte wie ein wütendes großes Tier. Wieder änderte Dragon seine Taktik. Ubali, der auf
seinen Fingern herumbiß, erinnerte sich daran, wie Dragon – oder der Edle Agon-Dra – ihn zwischen den Jurten der Unruhig Wandernden besiegt hatte. Ein Bein zuckte hoch, während der blauäugige Mann in die Luft sprang. Der Absatz traf den Hals des Nordmannes. Der Atlanter warf sich in der Luft herum, landete auf den Handflächen und spannte die Beine an. Als Arric auf ihn zutaumelte, trafen beide Fußsohlen mit einem dröhnenden Schlag gegen den Brustkasten des Rothaarigen und warfen den Mann mehrere Mannslängen weit rückwärts durch den Sand. Im Nu befand sich Dragon wieder auf den Beinen und streckte die Arme vor, die Finger eng aneinander gelegt. Er schlug mit den Kanten der Hände zu. Jeder Schlag traf. Einmal die Oberarme, dann den Hals, schließlich die Unterarme. Der Nordmann schrie schmerzerfüllt auf, senkte den Kopf und rannte auf den Atlanter zu. Wieder heulten die Zuschauer auf. Auch ihre Nerven waren zum zerreißen gespannt. Sie sahen zu, wie Arric der Rote vier Mannslängen weit rannte. Würde sein Schädel Agon-Dra getroffen haben, dann hätte AgonDra mit gebrochenem Brustkorb den Kampf und das Leben aufgegeben. Aber wieder wich der Fremde aus. Er sprang beiseite, ergriff den rechten Arm des Mannes, wirbelte abermals herum. Seine Bewegungen waren so schnell, daß man sie nicht mehr
unterscheiden konnte. Er wandte Arric den Rücken zu, der Schwung des Nordländers trug ihn weiter, sein Arm krachte auf die Schulter Agon-Dras herunter. Es gab, als sich Agon-Dra bückte, ein helles, knirschend knackendes Geräusch. Dann wirbelte der schwere Körper durch die Luft. Ein Gurt löste sich, das Wams aus Fell flog in den Sand. Als Arric mit Rücken und Kopf aufschlug, schrie er gellend auf. Er versuchte, sich aufzurichten, aber als er sah, daß sein Arm in einem unnormalen Winkel abstand, schrie er ein zweites Mal und dumpfer, dann fiel er zurück und verlor die Besinnung. Agon-Dra stand ruhig in der Mitte der Arena. Nur seine Brust hob und senkte sich. Seine Haut war sandbedeckt und von Schweißbächen durchzogen. Die Hosen waren zerrissen, aber jetzt lachte Agon-Dra. »Ich hoffe«, sagte er laut und deutlich, »daß dich das Schauspiel ein wenig abgelenkt hat, schönste Zauberin.« Er nickte ihr zu, ging auf Ubali zu und schwang sich aus der Arena. Er ließ sich von dem hünenhaften Schwarzen ein großes Tuch geben und ging langsam hinunter, die lange Treppe und an einen der kleinen, mondsichelförmigen Strande. Dort warf er sich ins Wasser und schwamm hinaus ins Meer. Er war nicht nur einen Schritt weitergekommen, sondern bereits eine Strecke des Weges gelaufen.
Aber er war ziemlich erschöpft, als er sich in den Sand fallen ließ und die Hitze der Sonne auf seinen Gliedern spürte. Jedenfalls war Arric weitaus übler dran. Sein Arm war gebrochen, und er würde ihn hassen, obwohl es dazu keinen rechten Grund gab. Hätte Agon-Dra gewußt, daß in seiner Nähe, nur durch eine Strecke Felsen getrennt, eben Hegon und N‘succa einen erstaunlichen Fund gemacht hatten, wäre er noch stärker erregt gewesen. So aber dachte er an Kyrace und die kommenden Tage bis zum Eintreffen Cnossos. Er würde ihn als Herr der Insel erwarten ... ohne Zweifel. Hegon zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß sein Herr und König den Kampf gewinnen würde. Als er sah, wie Ubali Dragon Schild und Schwert überreichte, sah er sich nach N‘succa, der schwarzhaarigen Lieblingssklavin um. Sie verließ gerade die steinerne Kanzel und gab ihm, der dicht hinter Ubali stand, einen verstohlenen Wink. Nur ein rundgesichtiger Beschnittener warf ihm einen neidischen Blick zu, als Hegon die halbrunde Treppe hinauflief und sich am oberen Rand der Arena mit der Sklavin traf. Sie sah ihn lange, schweigend und, wie es ihm schien, prüfend an.
»Du glaubst, daß dein Herr gewinnt?« fragte sie leise. Er nickte und legte die linke Hand an sein Schwert. »Sicherlich gewinnt er. Es ist nichts anderes denkbar. Gehen wir?« »Gehen wir.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern und sah, daß sie in einem ledernen Säckchen einen Weinkrug und irgendwelche Eßwaren trug. Das Säckchen baumelte an einem Riemen von ihrem Handgelenk. Als sich beim Gehen ihre Hüften und Schultern berührten, durchzuckte es ihn. Aber er blieb ein bißchen mißtrauisch, trotz des Entgegenkommens des Mädchens. Sie würde versuchen, ihn auszufragen. Viel durfte er ihr nicht verraten, denn niemand durfte erfahren, daß sie nur wegen Cnossos hier waren. »Ich möchte schwimmen!« sagte sie. »Unten, hinter dem Hafen!« »Einverstanden«, sagte er, denn er rechnete sich aus, daß sie schwerlich in Mieder und Lendenschurz baden würde. Sie liefen die lange Treppe halb hinunter, dann zog ihn N‘succa nach rechts. Sie kamen zwischen zwei eng beieinanderstehenden Wänden auf eine andere Treppe, die teilweise aus dem Felsen gehauen, teilweise im weichen Boden durch Steinplatten markiert wurde.
Zwischen duftenden Sträuchern, kleinen Herden von Ziegen und Schafen stiegen sie etwas aufwärts, dann wieder abwärts. Tief unter ihnen rauschte die kleine Brandung über einen Strand, der wie ein Geheimnis wirkte; klein, windgeschützt, sauber, mit dem Schatten eines breitkronigen Baumes. Er sah eine steinerne Bank dort und einen ebensolchen Tisch. Und einige Säulen, zwischen denen ein rundes Loch gähnte. »Dort hinunter, meine Schönste?« fragte er. Sie nickte und zog ihn mit sich. Flüchtig dachte Hegon an seine Kindheit, als sie schnell die vielen Stufen nach unten liefen und dann plötzlich, nach einigen Wendungen und Umgehungen, dicht über dem Sand standen. N‘succa blieb vor ihm stehen und legte ihm die Arme um den Hals. »Niemand wird uns sehen«, sagte sie in sein Ohr und kitzelte ihn dabei. »An diesem Strand dürfen sich nur die engsten Vertrauten Kyraces aufhalten. Es ist die Bucht des Kraken.« Er runzelte die Stirn und wühlte in ihrem langen Haar. »Die Bucht des Kraken? Das klingt geheimnisvoll, beim Drachen. Was hat das zu bedeuten?« Sie zuckte die Schultern. »Komm! Dort hinüber.« Sie wateten durch den Sand auf den Tisch zu. Dort
legte Hegon seine Waffen ab und warf die Jacke daneben. Er dehnte seine Muskeln und sah das Mädchen an. Sie lächelte und stellte den Weinkrug neben sein Schwert. »Man sagt, daß irgendwelche Schätze aus der Zeit Amaryllas oder der Anakyra dort verborgen sind. Aber ein Krake bewacht die Schatzkammer. Es ist sicher nichts dort, das sich zu holen lohnt, sonst hätte Kyrace schon einem Freier befohlen, den roten Kraken zu töten.« »Ich denke, ich werde einen Blick riskieren«, sagte er und faßte sie an den Schultern. Er drängte sich leidenschaftlich an sie und küßte das Mädchen. Zuerst erwiderte sie seinen Kuß, dann riß sie sich los und rannte auf das Wasser zu. Sie lachte, und er rannte ihr lachend nach. Ihr Haar flatterte, als sie sich das Mieder von den Schultern riß und sich ins Wasser stürzte. Hegon sprang ihr nach, und vorübergehend wurde seine Leidenschaft abgekühlt. Sie tauchte schräg vor ihm bis auf den sandigen Grund, und er hatte Mühe, ihr zu folgen. Endlich tauchten sie auf. »Du mußt einen Fisch als Vater gehabt haben«, sagte Hegon atemlos und wischte das salzige Wasser aus seinen Augen. »Du schwimmst besser als ich.« Sie schwamm auf ihn zu und spritzte Wasser in sein Gesicht.
»Aber ich habe kein Fischblut!« versicherte sie lachend. Zusammen wateten sie an den Strand hinaus. Dort fanden sie sich zu einem zweiten, langen Kuß. Langsam sanken sie in den Sand. Die Hitze hatte ihn müde gemacht, und er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, kniete N‘succa neben ihm und hielt ihm den Weinkrug an die Lippen. Er trank einen langen Schluck und zog das Mädchen wieder an sich. »Im Leben eines Kriegers gibt es wenige schöne Stunden«, sagte er rauh und setzte sich halb auf. »Aber an diese Stunden mit dir werde ich lange denken.« Sie streichelte sein Gesicht und flüsterte: »Die Stunden sind noch nicht vorbei. Dein Herr wird noch lange bleiben, denke ich!« Sie trank ebenfalls und setzte sich auf seinen Schoß. »Mußt du nicht zurück zu Kyrace?« fragte er nach einer Weile, in der nur ihre Atemzüge und das Brandungsgeräusch zu hören war. Sie erwiderte, noch immer atemlos: »Nein. Sie hat mir freigegeben. Sie hat über zweihundert Sklavinnen. Ich soll versuchen, etwas über deinen Herren zu erfahren. Erzählst du mir etwas? Wenn ich ihr etwas berichten kann, wird sie mir noch mehr Vergünstigungen gewähren.« »Nun«, sagte Hegon, überrascht von dieser Menge
Ehrlichkeit, »da ist nicht viel zu erzählen. Dra ... AgonDra ist in seinem Land ein Mächtiger, aber er haßt Prunk und Aufwand. Sein Volk ist sehr groß, und ...« Er sprach vielleicht eine halbe Stunde, dann hatte er alles berichtet, was er sagen durfte. Alles andere verschwieg er oder hielt es so unbestimmt, daß niemand auf die wahre Identität Dragons schließen konnte. Endlich schloß er damit, daß sie den halbtoten Gabor getroffen und mit ihm hierher gesegelt waren. Er griff nach dem Weinkrug, trank, zog das Mädchen hoch und sagte: »Jetzt werfen wir einen Blick in diese unglaubliche Schatzkammer. Keine Angst, ich werde nichts stehlen!« Sie folgte ihm zögernd, als er zum Tisch ging und sein Schwert an sich nahm. Langsam wateten sie durch den heißen Sand auf die Säulen zu, deren Füße von moosartigem Gewächs dunkelgrün gefärbt waren. Das Loch führte gerade in den Felsen hinein. Von oben fiel Licht durch einen Schacht. »Ich fürchte mich!« sagte N‘succa nach einigen dreißig Schritten. Hegon stolperte, bückte sich und hob einen langen Speer auf. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin da!« sagte er und zog sie mit sich. Sie kamen durch Sand, über verwitterte Steinplatten, gingen durch eine Pfütze mit abgestandenem Seewasser. In Nischen neben dem Gang schien sich das Meer zu bewegen; sicher standen
diese Löcher mit der See in unterirdischer Verbindung. Wieder ein Licht von oben. Der Gang machte ein paar Windungen, und dann stieg das Gelände leicht an. Unter den Sohlen raschelten vertrocknete Algen, die wie Zwergenbärte aussahen, ein Beweis dafür, daß das Wasser bis hierher vorgedrungen war. Die Hand des Mädchens begann zu zittern. Hegon lachte kurz und zog sie dicht an sich heran. »Ich sehe keine Gefahren!« meinte er, aber nach wenigen Schritten, als sich der Gang schnell zu einer röhrenförmigen Höhle erweiterte, schrie N‘succa laut auf. Vor ihnen bewegte sich eine dicke, rote Schlange. Hegon handelte schnell und überlegt. Er ließ das Mädchen los, wechselte den Speer in die andere Hand und hob das Schwert. Die Schlange ... sie war anders als alle Schlangen und Nattern, die er kannte. »Nein!« sagte er, und schon sauste sein Schwert herunter. »Das war der Arm des Kraken.« Mit dem ersten wuchtigen Hieb trennte er eine Mannslänge von dem Tentakel ab, schleuderte den zuckenden Stumpf mit einem Fußtritt zur Seite und drang weiter in den Raum hinein. Vor ihm glühte plötzlich ein düsteres rotes Auge auf, dann ein zweites, und schließlich sah er den Kraken. Er blieb stehen. Das Mädchen flüchtete durch den Gang zurück in den schützenden, hellen Bereich der
Bucht. Hegon hob den Speer und wandte blitzschnell den Kopf. Im Boden der großen Kammer, die genau vor ihm ein Loch aufwies und also erhellt wurde, befand sich ein großes Loch. Auch hier Meerwasser aus unterirdischen Kanälen. Das Loch reichte mit der Kante bis zu seinen Füßen. Ein schmaler Steg aus gewachsenem Fels spannte sich von hier bis in den Hintergrund der Höhle. Wollte er hinein, mußte er diesen Steg überqueren, es sei denn, er wäre ein Vogel. Stand jemand auf dem Steg, so würden ihn die Schlangenarme des Kraken in das salzige Grab hinunterreißen. Hegon lachte abermals und sprang mit einem Satz rückwärts, als er den Kraken wieder auftauchen sah. Mehrere Tentakel wurden wie Seile auf ihn geschleudert und rollten sich in der Luft auf. Hegon schrie: »Gefahren sind überall! Aber das ist ein Kinderspiel für einen Mann aus Urgor!« Sein Schwert pfiff durch die Luft. Mit dem ersten Hieb durchtrennte er den Tentakel, mit dem zweiten Schlag fügte er dem zweiten Arm dicht an der Stelle, an der er sich auffallend verdickte, eine handtiefe Wunde bei. Dann brachte er sich wieder in Sicherheit und hob den gefundenen Speer. Er zielte genau in den Mittelpunkt aus weißer Gischt, sich bewegender und ineinander knäuelnder Arme. Dann verließ der Speer, mit äußerster Kraft
abgefeuert, seinen Arm. Er bohrte sich genau in das Auge des Polypen. Das Tier verfärbte sich und stieß eine Wolke von schleimigem, feuerrotem Zeug aus. Das Wasser wechselte seine Farbe von Grün zu einem häßlichen Braun. Dann warf sich das Tier, dessen Tentakel sich rasend bewegten und den Speer abbrachen, nach vorn, halb über den Rand des Beckens. Wütend schlug Hegon um sich. Er sprang zwischen den Tentakeln hin und her. Sein Schwert zuckte auf und nieder. Lange Stücke wurden von den Armen abgehackt und bewegten sich noch immer, wenn sie schon lange vom Körper getrennt waren. Nur das Rauschen und Plätschern des Wassers, die Laute, wenn das Eisen auf Stein traf, seine Schritte und seine Atemzüge waren zu hören. Immer weniger Arme versuchten, ihn zu umfassen und ins Wasser zu ziehen. Schließlich erlahmten die hastigen Bewegungen des Kraken. Mit Tritten beförderte Hegon schaudernd die schleimigen und blutenden Tentakelstücke mit den Saugnäpfen, die wie gierige Münder aussahen und sich auch so bewegten, zurück ins Wasser. Schließlich durchlief ein krampfhaftes Zucken den sackähnlichen Körper, und langsam sank er in das Wasser hinunter. Klatschend folgten ihm die letzten
abgetrennten Gliedmaßen. »Die Welt ist reich an Ungeheuern. Du, Abkömmling des Cnossos oder eines anderen Oberschurken, wirst niemanden mehr ärgern!« sagte Hegon zufrieden und ging wieder bis an den Rand des Beckens. Er blickte in die halb dunkle »Schatzkammer« hinein, und, abgesehen von Tonkrügen und uralten Truhen, fesselte ein einziges Ding seine Aufmerksamkeit. Es mußte aus den alten, legendären Tagen stammen, an die sich der »Schlafende Gott« erinnerte. Ein langgestrecktes, helles Ding in einer Form, die er noch niemals gesehen hatte. Es sah aus wie eine Mischung zwischen einem silbernen Fisch und einem Käfer. Auch von dem Körper eines Vogels war etwas dabei. Eine verschmutzte Kuppel wie aus Glas wölbte sich über dem Körper, der kaum Kanten oder Ecken auf wies. Hegon knurrte: »Darum soll sich mein Freund und König kümmern, wenn ihm die Kyrace genügend Zeit läßt!« Er reinigte sein Schwert und seine Hände, dann lief er schnell zurück in die Bucht, wo N‘succa ängstlich auf ihn wartete. Sie saß auf der Bank und sah ihm entgegen. Als sie ihn erblickte, blutbespritzt, mit zerwühltem Haar und naß von oben bis unten, mit Dreck und Sand bedeckt, schrie sie auf. Er warf das Schwert neben seine Füße und sagte ruhig: »Es ist nicht
mein Blut, Liebste.« Er rannte und warf sich in die aufschäumende Brandung. Als er zurückkam, hatte sie sich beruhigt und war nach all den Schrecken sehr zärtlichkeitsbedürftig.
9.
Zwei Tage später war die Gefahr für Agon-Dra am größten. Er stand am Scheideweg. Er konnte nachgeben oder sich weiterhin widerspenstig zeigen. Bisher hatte er, mit beträchtlicher Beherrschung allerdings, den widerstrebenden und abwartenden Mann gespielt. Und natürlich auch mit der Hilfe des Tarnumhanges und des Trolls, der bisher immer in der Nähe gewesen war. Heute schien sich Erbolix versteckt zu haben. AgonDra hatte über jeden der beiden Wege nachgedacht und Vorteile wie Nachteile klug und lange gegeneinander aufgerechnet und abgewogen. Er kam, in seinen einsamen und teilweise schlaflosen Nächten, zu folgender Erkenntnis: Hatte er Kyrace als Freund beziehungsweise als
Geliebte, dann wuchsen seine Kräfte, wenn er Cnossos zum letzten Kampf entgegentrat. Bisher hatte sein liebenswürdiges, aber nichtsdestoweniger beharrliches Weigern Kyrace halb wahnsinnig gemacht. Sie haßte die Männer, die ihre leichte Beute wurden, und sie würde ihn hassen, wenn er ihr den Sieg allzu schwer machte. Jetzt warb sie um ihn, nicht er um sie. Dies war ein Umstand, der seinen erklärten Reiz, aber auch sehr große Gefahren hatte. »Ich weiß nicht viel von dir. Du bist rätselhafter als alle Männer, die hier je landeten«, meinte Kyrace. »Und es waren nicht wenige, die die Taue ihrer Schiffe dort unten um die Steine schlangen!« erwiderte er. »Ich zögere selten, aber ich zögere, dir meine Liebe zu gestehen.« »Warum, Agon-Dra?« »Ich stand neben dir, als Arric der Rote mit seinem Langschiff und seiner Mannschaft ablegte. Ich höre noch jetzt die Flüche des Nordmannes in meinen Ohren gellen.« Er erinnerte sich deutlich an die Szene ... Früher Morgen. Dunst auf dem Wasser. Erste Sonnenstrahlen, die von den Felsen des Hafens verschluckt wurden. Eine Kette von Männern – sie schleppten die Waffen und die Ausrüstung und luden sie ins Schiff. Dann, als einer der letzten, kam Arric der Rote. Sein rechter Arm war von oben bis unten voller
Binden und war mit Iwas Verband über den erhitzenden und heilenden Salben und Blättern an einen schweren Holzknüppel gebunden. Als er AgonDra sah, verfärbte er sich. Seine Lippen waren blutleer, als er die linke Hand hob und zur Faust ballte. »Sei verflucht, Agon-Dra. Ich vergesse dich nie!« zischte er. Dragon breitete die Arme aus und machte eine Geste voller Ratlosigkeit. »Warum? Wir haben uns einen ehrlichen Kampf geliefert. Ich hätte dich töten können, und du hättest mich, wenn ich nicht schneller gewesen wäre, getötet. Du bist ein guter Krieger, Arric! Ich habe keinen Haß!« Arric spuckte Dragon vor die Füße. »Eines Tages werde ich dich treffen. Irgendwo wird sich unser Weg kreuzen, und dann vernichte ich dich. Wir Nordmänner kennen keine Furcht. Wir trinken den Met aus den Hirnschalen unserer erschlagenen Feinde.« »Das«, erwiderte Dragon höflich, »hörte ich irgendwo. Wenn du es nicht anders willst – ich stelle mich jedem guten Kampf.« Der andere fauchte: »Danke dieser alten Vettel für den Verband. Er hilft. Ich habe ihr einen Dolch geschenkt.« Ohne Kyrace oder Dragon noch eines Blickes zu würdigen, stampfte der hünenhafte Prinz in seinen
muffigen Fellen auf das Schiff, warf sich stöhnend ins Heck und brüllte einige Befehle. Kurz darauf ruderten seine Leute das Langschiff mit den leuchtenden Schilden aus der Bucht und in den sonnendurchfluteten Dunst hinaus, wo es alsbald verschwand. Agon-Dra behielt ein ungutes Gefühl zurück; es konnte sein, daß sie sich wieder trafen, und dann hieß es wieder einmal: Kampf! Zögernd kehrten seine Gedanken zu dem idyllischen Platz zurück, an dem er mit dieser schönen Frau saß und sprach. Sie verzehrte sich förmlich vor Ungeduld. »Du gibst etwas auf die Flüche eines kleinen Prinzen aus einem unbekannten Land, in dem man vor Kälte zittert?« »Nur ungern«, schränkte er ein, »lasse ich mich als Trinkschale verwenden.« »Verständlich. Trotzdem wird der Prinz aus den Nordländern keine Gefahr für dich!« sagte sie. Agon-Dra schüttelte den Kopf. »Du mißverstehst mich. Ich meine nicht diese Gefahr, sondern eine andere. Ich möchte die Insel nicht so verlassen wie Arric. Nicht auf diese Weise. Ich bin nicht Arric.« Sie senkte den Kopf. »Auch das kann ich verstehen.«
Sie waren allein in dieser Nacht. Kyrace und er saßen auf einer kleinen Terrassenfläche hoch über dem Meer. Niemand konnte sie hier sehen, es sei denn, der Kapitän eines vorbeifahrenden Schiffes mit den Augen eines Adlers. Säulen und rankende Pflanzen bildeten den Rahmen für die beiden Sessel und den Tisch, auf dem Kerzen standen. Die Tischplatte bog sich schier unter den Schüsseln und Tellern. Kein Beschnittener und keine Sklavin war in der Nähe. Über der Insel war der schwarze Nachthimmel mit den unzähligen Sternen. Dragons Erinnerung schweifte ab; wieder dachte er an die Zeit von Atlantis und an alles, was davon verloren war. »Sieh!« sagte Agon-Dra und griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, daß in wenigen Tagen der mächtige Herr des Südens hierher kommt. Er wird um dich werben. Und ebenso wie Arric deine Insel in Schimpf und Schande verlassen hat, werde ich sie verlassen müssen! Das ist bitter, wenn man von der Frau vertrieben wird, die man liebt.« Sie schien zu merken, daß er sie – in gewissem Rahmen – durchschaut hatte. »Ein ruhmreicher Mann wie du wird sich nicht von Cnossos vertreiben lassen«, meinte Kyrace. Sie sah ihn schmelzend an. Für diesen Abend hatte sie sich besonders geschmückt. Sie war mehr als nur verführerisch – sie wirkte hinreißend.
»Ruhm ist nichts weiter als die Summe von Mißverständnissen, die sich um einen Namen sammeln«, erwiderte Dragon leise. »Du weißt alles von mir und kannst mich gegen den Herrn des Südens ausspielen.« »Ich könnte es, ja«, gab sie zu. Es war eine herrliche, warme Nacht. Die Brandung und die zirpenden Grillen verwandelten die Felseninsel in ein Bild aus Agon-Dras Erinnerungen. Es schien ein Teil von Atlantis zu werden. Er schloß die Augen und lehnte sich zurück. Er ließ die Stimmung auf sich einwirken und beruhigte sich ein wenig. »Erzähle mir ein Märchen«, bat Kyrace mit überraschend weicher Stimme. »Erzähle mir etwas von dir.« »N‘succa hat dir alles berichtet, was es zu berichten gibt«, wich er aus. »Darüber hinaus gibt es nichts zu sagen. Ich bin ein Mann ohne Geheimnisse.« Kyrace kannte Agon-Dra ziemlich gut, rechnete man die kurze Zeit und die wenigen Gelegenheiten zusammen. Aber Agon-Dra war der erste und einzige Mann, bei dem ihre Gabe der Illusionen nicht wirkte. Woran lag es? Besaß er Zaubermittel oder war er einfach nur so viel besser als die anderen Männer? Kyraces Lebenserfahrung war nicht klein, aber hier versagte ihre Vorstellungskraft. »Du hast mehr Geheimnisse als alle anderen
Männer«, sagte sie, stand auf und begann, langsam zwischen ihm und den Lichtschalen im Hintergrund hin und her zu gehen. Ihr vollkommener Körper zeichnete sich unter den Schleiern ihrer Gewänder ab. Dragons Entschluß, sich von ihr einfangen zu lassen, wurde immer stärker. Aber noch zögerte er. Die Unterhaltungen und das Unausgesprochene ähnelten einem Zweikampf, der mit ungewohnten Waffen ausgetragen wurde. Nur der Umstand, daß er Herr seines Wissens und seiner Erinnerungen war, befähigte ihn dazu, diesen schweigenden Kampf vielleicht zu gewinnen. Schließlich trat er gegen vier Jahrzehnte Erfahrung einer ungewöhnlichen Frau mit ebensolchen Begabungen an. »Mein Geheimnis liegt darin, daß mein Wille stärker ist als der anderer Männer«, sagte er leise. Sie blieb neben seinem Sessel stehen, goß Wein in zwei goldene Pokale und reichte ihm einen davon. Ihre Finger berührten sich. »Danke«, sagte er. Kyrace blickte auf ihn herunter. Es war schwer zu deuten, was ihre Blicke aussagten. Sie begriff nicht, was mit ihr geschehen war. Vermutlich hatte sie sich ernsthaft verliebt. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Einen Geliebten zu nehmen – das bedeutete ihr nicht viel. Es gab Heere von Männern, die bis zu dieser Insel
schwimmen würden, wenn sie rief. Eine Heirat mit einem Mächtigen – das bedeutete mehr, war aber nicht unbedingt eine Sache der Liebe. Der Mann, der hier neben ihr saß, forderte sie mehr heraus als alle ihre Geliebten bisher. Sie mußte ihn haben. Nur so kam sie hinter seine Geheimnisse. Andererseits ... Ein Mann, den sie mit ihren zauberischen Mitteln in ihren Bann zog, war und blieb ein Werkzeug, nichts mehr. Das wollte sie nicht, denn das würde sie nicht befriedigen. Was konnte sie tun? Sie war einigermaßen ratlos. »Der Wein«, sagte Agon-Dra, der die Spannung und ihren beginnenden Ärger bemerkte, »ist köstlich. Aber er kann mit dir nicht wetteifern.« Kyraces Ärger kam aus ihrer Unsicherheit. »Du redest zuviel und handelst zu wenig«, erwiderte sie. Dragon trank einen Schluck und stand auf. »Wenn ich mich zum Handeln entschließe«, sagte er, »dann ist es immer eine sehr gründliche Sache.« Sie blickten sich an und schwiegen. Agon-Dra hatte sich entschlossen, zu tun, was Kyrace erwartete. Es fiel ihm leicht, sehr leicht. Er streckte seine Hände aus, umfaßte ihr Gesicht. Dann zog er sie langsam zu sich heran und küßte sie. Es war ein leichter Kuß, der immer erregender und leidenschaftlicher wurde.
Schließlich riß er sie in seine Arme, hob sie auf und trug sie in den Schlafraum. Es wurde eine leidenschaftliche Nacht. Kyrace war mehr als ihr Ruf. Sie vereinte in sich die Erfahrung einer reifen Frau mit der Art eines jungen Mädchens. Sie war wild und zärtlich zugleich. Dragon vergaß alles: Weshalb er hierher gekommen war, er dachte nicht mehr an Cnossos, vergaß seine Freunde, Amee und auch Maratha, er vergaß alles. In den Armen von Kyrace erlebte er einen Taumel der Leidenschaften und der Sinne. Langsam verging die Nacht. Die Sterne versanken unter den Horizont, das Mondlicht schwand dahin. Als die erste Morgendämmerung aufstieg, flüsterte Kyrace: »Ich habe es gewußt, seit ich dich zum erstenmal gesehen habe, Agon-Dra. Du bist ein ungewöhnlicher Mann!« Er tastete nach dem Weinpokal, der neben dem Lager auf dem dicken Teppich stand. »Darüber werden wir wieder sprechen, wenn Cnossos hier anlegt mit seinem gewaltigen Gefolge!« murmelte er schläfrig. Jetzt hatte er sich in ihren Bannkreis begeben. Dadurch hatte er sich gegenüber Cnossos mit Sicherheit einige Vorteile geschaffen, aber sie alle würden in dem Augenblick ins Gegenteil umschlagen,
wenn er versuchte, die Insel zu verlassen. Die nächsten dreißig Tage würden aufregend werden. Und sehr strapazierend, dachte er. Er schloß die Augen und schlief weiter.
10.
Erst jetzt, einige Tage nach der Landung, zeigte Gabor, was er wirklich war. Nabib, sein Freund und Konkurrent, war hingerissen von der Art, wie Gabor aus Sodok seine Geschäfte betrieb. Gabor hatte sich aus der ausgebauten Grotte zurückgezogen und residierte auf seinem Schiff, der Stolz von Sodok. Das Schiff war hervorragend aufgeräumt, sämtliche Segel waren gerefft und belegt, und zwischen dem hintersten Mast und beiden Auslegern des Achterdecks war ein seidenes Sonnensegel gespannt. Das Segel war mit langen Fransen aus kostbarer Stickerei gesäumt. Auf Deck lagen große und kleine Teppiche mit farbensprühenden Mustern. Sessel und Stühle, die Dragon von der Reise her kannte, standen umher und
waren mit teuren Pelzen belegt. Auf niedrigen Tischen aus Einlegearbeit standen Pokale und Zuckerzeug. »Welch ein Prunk! Mit dieser Zurschaustellung seines Reichtums muß er etwas bezwecken!« sagte sich Dragon. Langsam ging er auf die Laufplanken zu, die nunmehr die Breitseite des Schiffes mit dem Kai verbanden. Auch sie waren mit Kordeln als Geländer und mit Teppichen geschmückt. In metallenen Schalen wurde Räucherwerk verbrannt. Dragon beschlich ein merkwürdiges Gefühl – alles hatte sich unwirklich verändert. Dragon blieb stehen. Wieder fehlte ein Schiff. Er hatte erfahren, daß Gabor nur einer von drei Kaufleuten war, die Kyrace beauftragt hatte. Zweifellos der reichste und derjenige mit den besten und teuersten Waren. Dragon blinzelte ungläubig, als er auf die Planken trat. Gabor trug abermals ein phantastisches Gewand. Es leuchtete in vielen Farben. Jede Bewegung bewirkte, daß der Eindruck entstand, der Kaufmann stünde in Flammen. Tische waren aufgestellt worden; Platten mit kostbaren Tüchern darauf, die man auf Böcke gestellt hatte. Zwei seiner Leute, die als Matrosen nicht mehr zu erkennen waren, schrieben Zahlen auf lange, aufgeschlagene Rollen. Handelswaren lagen ausgebreitet.
Die Planken federten, als Dragon über sie hinwegschritt und das Schiff betrat. Er kam in den Schatten des Segels, roch die verbrannten Harze und sah Gabor, der in einen niedrigen Sessel hingegossen lag und die Zeichen auf einer Rolle studierte. »Gabor!« sagte er überrascht. »Was sehe ich? Du hast all deinen Prunk entfaltet! Was soll das?« Gabor sprang auf die Füße, warf die Rolle einer Sklavin zu – woher gab es plötzlich Sklavinnen oder Konkubinen? – und kam mit ausgestreckten Armen auf Dragon zu. »Wir haben uns schon vier Tage lang nicht gesehen!« sagte er. »Viel ist geschehen, mein Freund.« Er strahlte und lachte. Agon-Dra sah sich um, bemerkte andere Einzelheiten und bestätigte halblaut: »In der Tat. Es hat sich einiges verändert.« Gabor sagte leise und in beschwörendem Ton: »Ich habe diesen kleinen Kaufleuten gezeigt, wie man handelt. Es sind schöne Verträge geschlossen worden. Das nächste Jahr wird ausgesprochen gewinnreich werden.« Er setzte nachdenklicher hinzu: »Wenn mein Schiff oder meine vielen Karawanen nicht überfallen werden. Ich habe auch mit Nabib gesprochen. Er wird für mich handeln.« Das weiße Baumhörnchen turnte zwischen den Waren umher. Auch die beiden anderen Schiffe schienen zur Abreise zu rüsten. Gabor berichtete Agon
Dra, daß er von den Kaufleuten zwei bezaubernde Sklavinnen gekauft habe, für den persönlichen Gebrauch. »Ich verstehe«, meinte Agon-Dra. »Du bist wieder völlig in deinem Element.« »Pah!« brummte Gabor. »Das ist alles in wenigen Tagen vorbei. Übrigens hat einer meiner Leute von einem Felsengipfel aus die Schwarze Wellenreiterin gesehen. Oder er glaubt wenigstens, sie gesehen zu haben.« »Gut so.« Noch war alles offen. Auch der Kaufmann wußte nicht, obwohl er mit den anderen Handelsleuten gesprochen hatte, wann Cnossos, der Gott der vielen Namen, hier erscheinen wollte. Wenn Cnossos erschien, war nur die Wellenreiterin hier, die Stolz von Sodok und die Freunde von Dragon. Dragon betrachtete die ausgesucht jungen und hübschen Mädchen und fragte zerstreut: »Du hast auch nichts über Cnossos erfahren, was uns weiterbringen könnte, Freund Gabor?« Gabor schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, nichts«, erwiderte er, »denn Wenn ich etwas erfahren hätte, dann Würdest du es bereits wissen. Kyrace und auch meine Kollegen kennen zwar Cnossos unter diesem Namen, aber sie wissen offensichtlich nicht mehr, als daß er sich auch Herr des Südens nennt. Von seinen schändlichen Taten haben sie alle keine
Ahnung.« Gabor blickte Dragon scharf an. »Du wirst es schwer haben, Agon-Dra, trotz der Tatsache, daß du augenblicklich der Favorit unserer schönen und bezaubernden Gastgeberin bist, sie davon zu überzeugen, daß Cnossos ein Verbrecher ist. Du solltest jetzt schon beginnen, sich ihrer Hilfe zu versichern. Eine schwere Arbeit, ohne Zweifel!« Dragon nickte und setzte sich auf die Kante eines Tisches. »Zugegeben«, meinte er. »Wirklich eine schwere Arbeit. Aber ich werde mein Bestes versuchen.« Er deutete hinaus auf die weiße Fläche des Hafens. Dort erkannte er die Sklavin N‘succa, Hegon und Yina. Er winkte, und sie winkten zurück. In kurzer Zeit sollte er sich mit Kyrace treffen. Sie wollten eine Bootsfahrt unternehmen. »Ich gehe hinaus zu meinen anderen Freunden«, sagte Dragon. »Ich kann mich darauf verlassen, daß du mich in meinem Kampf gegen Cnossos unterstützt?« Gabor schlug ihm auf die Schulter und sagte laut: »Ich vergesse selten etwas. Weder Zahlen noch Schulden noch Guthaben. Und ich vergesse sicher nicht, daß du mein Leben gerettet hast. Du bist meiner sehr sicher!« »Das zu hören, freut mich!« sagte Agon-Dra, schüttelte Gabors Hand und verließ das Schiff. Er ging
schnell über die heiße Fläche und traf sich mit den beiden Begleitern und der Lieblingssklavin. »Herr«, sagte Hegon. »Du bist abgelenkt, wir wissen es. Aber daß du nicht einmal zuhörst, wenn ich dir berichte, was in dem Versteck des Kraken war, das enttäuscht mich.« Blitzartig erinnerte sich Dragon. Hegon hatte ihn angesprochen. Aber er, von Gedanken und Empfindungen an Kyrace erfüllt, hatte abgewinkt und es nicht recht beachtet. Er sah von Hegon zu N‘succa und lächelte Yina an. »Berichte«, sagte er ruhig. »Ich war, zufällig, mit diesem entzückenden Mädchen unten am Strand. Wir fanden einen Stollen, der in den Berg führt. Dort gab es einen Kraken – ich sage, es gab ihn, denn er griff mich an, und ich mußte mich wehren. Jedenfalls ist in der Höhle ein Ding, das N‘succa als ›Himmelswagen‹ bezeichnet. Ein Ding aus den alten Tagen. Niemand weiß, woher es ist – und was es ist.« Dragon bemühte sich, seine Verblüffung nicht zu zeigen. »Ein Himmelswagen«, staunte er. »Wie sieht er aus?« Wieder erinnerte er sich an die Fahrzeuge, die er selbst im versunkenen Atlantis benutzt hatte. Deutlich stand das Bild des Fahrzeugs vor seinen Augen. Natürlich rechnete er noch immer mit gewissen Lücken in seiner Erinnerung; es konnte sein, daß es auch um
den Himmelswagen oder diesen alten Gleiter ein Geheimnis gab. Hegon beschrieb den seltsamen Fund. Dragon dachte nach und wußte, daß Hegon tatsächlich einen Gleiter gefunden hatte. Ein Gleiter aus seiner Zeit? War dieser Mechanismus noch gebrauchsfähig? Oder handelte es sich um ein inzwischen energetisch totes Gerät? Was sollte er tun? »Also, Hegon ... du kennst den Weg in diese Höhle?« Hegon zog N‘succa an sich und wechselte mit ihr einen tiefen, langen Blick voller Einverständnis. »Ich kenne ihn ... wir kennen ihn ziemlich gut.« »Dann wirst du mich eines Tages dorthin führen. Vielleicht haben wir ein Geheimnis dieser Insel aufgeklärt. Ihr seid auf dem Weg zu Gabor?« »Ja, das wollten wir. Es gibt immer Abwechslung auf dem Schiff.« »Ich habe noch mit Yina zu sprechen«, sagte AgonDra. »Laßt euch von mir nicht aufhalten.« Hegon und N‘succa liefen auf das prächtige Schiff zu, und Dragon nahm Yina zur Seite. Sie gingen nebeneinander auf die Treppe zu. »Du weißt, Yina, daß wir versuchen, den letzten Kampf gegen Cnossos zu gewinnen«, begann Dragon. »Jedenfalls sollte es der letzte Kampf werden, wenn es nach unseren Wünschen geht.«
»Das wissen wir alle, Dragon!« bestätigte die Maus. Sie schien von Tag zu Tag hübscher zu werden. Natürlich war sie keine Schönheit, aber ihr Gesicht war weniger spitz, ihr Körper war ein wenig voller geworden. Lauter Änderungen, die sie hübscher gemacht hatten. »Was denkt Kyrace? Und was tut der Troll?« Sie hakte sich bei ihm ein und hüpfte neben ihm her. »Erbolix verfolgt dich, denn er ist geradezu rührend um dich besorgt. Er tut immer dann, wenn Kyrace dich verzaubern will, ein kleines Wunder. Schon mehrmals hat sie versucht, uns alle von dir zu trennen. Die Männer wurden in ihren eigenen Gedanken zu Vögeln oder Tieren, aber nur für wenige Augenblicke, Erbolix verhinderte, daß sie verrückt wurden. Und immer dann, wenn du bei Kyrace bist, versteckt er sich irgendwo in deiner Nähe und wehrt alle Angriffe ab.« Dragon war betroffen. Er hatte sich zu stark ablenken lassen. Das hatte er nicht gewußt! Aber die Gefahr war richtig erkannt worden. »Ich höre das nicht gern, aber ich habe es bisher nicht gewußt, daß ich unter dem Schutz von Erbolix stehe. Ich kann ja nicht gut meinen Tarnumhang Tag und Nacht tragen. Sage ihm, daß es nur noch einige Tage dauern wird.« »Er weiß es.« Inzwischen hatte ihm Kyrace erzählt – in einer ihrer
gemeinsamen Nächte –, daß es einen unumstößlichen Brauch gab auf dieser Insel. Der Geliebte galt nichts und hatte keinerlei Rechte. Aber nur derjenige durfte zum Ehemann genommen werden, der sich im Kampf gegen einen anderen Nebenbuhler auszeichnete und Sieger blieb. Dieses Verfahren würde sich auch fortsetzen, wenn der Herr des Südens hier erschien. Dragon fürchtete, daß er mit einer großen Mannschaft seiner schwarzen Kreaturen erscheinen würde, mit den Uh-toth oder noch furchtbareren Helfern. Je mehr er über seinen Plan nachdachte, desto verwegener erschien er ihm. Nur seine Freunde und Kyrace – sie waren die einzigen Helfer, die er besaß. Und er konnte sich nicht darauf verlassen, daß ihm diese Frau half. »Und was denkt meine Freundin Kyrace?« fragte er, ein wenig ernüchtert. »Nichts, was dich beunruhigen müßte. Du rechnest selbst mit dem, was sie in ihren Gedanken hat.« »Ich möchte es trotzdem von dir hören, Yina.« »Sie hat uns gebeten – sehr dringend gebeten, allerdings –, sie nicht zu stören. Wir dürfen nur auf dem Schiff oder in tiefer gelegenen Grotten wohnen, aber sie hat eingewilligt, daß sich Erbolix in deiner Nähe aufhalten darf. Iwa hat ihr klargemacht, daß er dein persönliches Maskottchen ist, dein Glücksbringer. Sie ahnt nicht, was er wirklich kann. Sie ist sehr klug
und erfahren, aber einige Dinge kennt sie wirklich nicht.« Dragon nickte und sah, daß ein prunkvolles Boot in den Hafen gerudert wurde. Das Segel war um den einzigen Mast gewickelt, und im Heck befand sich eine Art Haus, ein Aufbau mit Vorhängen und einem Baldachin. Er hatte nicht mehr viel Zeit. »Weiter!« drängte er. »In den beiden letzten Tagen hat sie freiwillig auf Illusionen oder Zauber verzichtet. Sie weiß, daß sie dich nicht verzaubern kann. Sie will dich ohne jede Beeinflussung. Ich glaube, sie hat noch niemals einen Mann so geliebt wie dich. Denkst du manchmal auch an Königin Amee?« Dragon erwiderte betroffen: »Ich denke sehr häufig an Amee. Aber ich will diese Welt von Cnossos befreien, und hierfür ist kein Opfer zu groß. Du weißt, daß es das ist, was ich denke. Was weiß Kyrace über Cnossos?« Yina zögerte mit der Auskunft, aber dann sagte sie langsam: »Sie weiß weniger als wir. Sie kennt ihn tatsächlich nur als mächtigen Herrn des Südens. Aber sie ist sich selbst gegenüber nicht ehrlich. Wenn Cnossos kommt, dann wird sie sich entscheiden, das denkt sie. Wenn ihr dieser Herr des Südens mehr zusagt, wird sie dich verstoßen. Denn zweifellos ist in ihren Augen Cnossos
viel mächtiger als du.« Dragon setzte sich auf die unterste Stufe und blickte Yina ernst an. Diese Wahrheit hatte er immer befürchtet, wenigstens in den letzten Tagen. Er hatte auch mit Kyrace gesprochen, aber ihr war es gelungen, seine Bedenken zu zerstreuen. »Was weißt du noch? Du hast in ihren Gedanken gelesen!« erkundigte er sich drängend. »Sie ist nicht sicher. Sie weiß das alles, was ich eben berichtet habe, sehr genau. Aber sie ahnt, daß du mehr und anders bist als der Mann, als den sie dich inzwischen kennt. Du hast alle Möglichkeiten, oder doch zumindest sehr viele. Wenn es dir gelingt, sie weiterhin zu bezaubern und zu beeindrucken, wird sie sich kampflos dir überlassen und Cnossos abweisen. Mehr kann ich nicht sagen. Das ist alles, was ich dir sagen kann, Dragon.« Dragon nickte und sah, wie die beiden Besatzungsmitglieder das schlanke, prachtvolle Boot in den äußersten Einschnitt der Bucht hineinsteuerten und dort am Ende einer zweiten Treppe festmachten. »Ich danke dir, Yina«, sagte er. »Ich hoffe, wir überstehen dieses Abenteuer lebend.« »Das ist auch unser Wunsch. Ich denke, wir sind, außer dir und Erbolix, ab jetzt im Schiff zu finden.« Dragon deutete auf das Boot und sagte: »Ich bin in den nächsten Stunden dort zu finden.
Hoffentlich rammen wir nicht die Schwarze Wellenreiterin.« Er drückte Yina kurz und brüderlich an sich und rannte dann mit langen Sprüngen die weiße, breite Treppe hinauf. Ein Glück, dachte Dragon nicht ohne gewisse Belustigung, daß Kyrace die Kunst des Gedankenlesens nicht beherrscht wie Yina. Sonst würde sie mich erdolchen! Allerdings konnte er sich vorstellen, daß Yina, falls sie in den Gedanken der Kyrace lauschte, Dinge »hörte«, die sie rot und bleich werden lassen würden. Er lag auf den seidenen Polstern und wurde von Kyrace mit süßen Trauben und ebensolchem Backwerk gefüttert. Die schweren Vorhänge waren heruntergelassen, also wußte er nur, daß es dunkelte, nicht aber, wo sie sich befanden. Sie flüsterte: »Mein Geliebter. Wir haben noch viele einsame Tage vor uns. Du wirkst unruhig?« Er schüttelte sanft den Kopf und erwiderte leichthin: »Ich bin nicht unruhig. Ich bin ermattet und erschöpft und ein bißchen schläfrig. Aber immer dann, wenn ich in deine Augen blicke, bin ich wieder beunruhigt.« Sie lachte.
Das Boot steuerte mit geblähtem Segel rund um die Insel. Sie hatten die Wellenreiterin nicht gesehen. »Ich glaube«, sagte er leise, »ich habe mich ernsthaft in dich verliebt. Ich habe noch niemals eine Frau wie dich getroffen. Ich weiß, daß es keine zweite von deiner Art gibt. Du bist alles: Mädchen, Geliebte, Klugheit und Wissen. Und deine Schönheit übertrifft alle Beispiele.« Kyrace neigte sich über ihn. Ihr Haar umgab sein Gesicht wie ein seidener Vorhang. »Ich bin dir verfallen«, sagte sie und küßte ihn. »Ich werde dich niemals wieder loslassen. Du gehörst mir für alle Zeiten. Und ... ich werde niemals älter.« Dragon war schläfrig, aber als er diese Worte hörte, begann er sich zu fürchten. Er schien in einer Falle gefangen zu sein, die er nicht nur selbst aufgesucht, sondern auch noch eigenhändig zugeklappt hatte. Er wartete auf das Ende dieses Tages. Und auf Cnossos. Diesmal werde ich Cnossos vernichten, dachte er. Das Maß dessen, was er mir angetan und wozu er mich gezwungen hat, ist übergeflossen. Und Kyrace wird mir helfen. Vielleicht ... ENDE Der Atlanter, der sich als Edelmann aus dem fernen
Lu‘ur ausgibt, hat den paradiesischen Ort erreicht, an dem auch Cnossos in Kürze auftauchen wird. Dragon alias Agon-Dra ist Gast der berückend schönen Kyrace, die bisher noch Jeden Mann, der ihr gefiel, in ihren Zauberbann geschlagen hat. Auch Dragon scheint diesem Bann zu erliegen – dabei wartet ein tödlicher Zweikampf auf ihn: der KAMPF AUF DEM VULKAN ... KAMPF AUF DEM VULKAN so lautet auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist ebenfalls Hans Kneifel.