Seewölfe 32 1
John Roscoe Craig 1.
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Seewölfe 32 1
John Roscoe Craig 1.
„Land voraus!“ brüllte Donegal Daniel O'Flynn vom Vormars. „Eine Insel!“ Neben ihm keckerte Arwenack, der Schimpanse, und balancierte aufrecht über die Fockrah, sprang von dort in die Leewanten und sauste wie ein Blitz abwärts. Sonst sahen ihm die Männer auf der „Golden Hind“ begeistert zu, wenn er über Wanten, Stage, Rahen und Masten turnte, aber jetzt starrten sie alle voraus. Land! Das war endlich wieder etwas Greifbares, etwas Festes, auf das man seinen Fuß setzen konnte. Das bedeutete süßes Frischwasser, Frischfleisch, Früchte, Erde, grüne Gewächse, Blumen, ja, auch Blumen, exotische in den seltsamsten Formen. Die Hölle südlich von Feuerland hatte sie wieder ausgespuckt und in den Pazifischen Ozean entlassen. Stürme und Orkane hatten sich an ihnen die Zähne ausgebissen, sie hatten den Männern der „Golden Hind“ das Letzte abverlangt, sie durchgeschüttelt, die Segel zerfetzt, sie mit Eis und Schnee und Hagel überschüttet, aber die Männer hatten nicht aufgegeben. Von den Besatzungen der fünf Schiffe, die vor einem Jahr – im Dezember 1577 – aus Plymouth, land, ausgelaufen waren, hatten sie bewiesen, daß sie die zähesten und härtesten waren. Kapitän Francis Drakes ehemaliger Verband von fünf Schiffen bestand nur noch aus der „Golden Hind“. In den Stürmen unten am Westausgang der Magellanstraße waren, die „Marygold“ und die „Elizabeth“ außer Sicht geraten. Sie hatten nach ihnen gesucht, sie aber nicht mehr gefunden. Die „Swan“, das Versorgungsschiff, war verrottet, und sie hätten es an der Ostküste Südamerikas zurückgelassen. Die kleine „Benedict“ hingegen mochte noch unter Segel sein, aber wenn, dann wurde sie von Portugiesen gesegelt, denen sie ihr Schiff querab von Marokko weggenommen hatten. Dieses Schiff der Portugiesen war unter dem
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neuen Namen „Isabella II.“ in Drakes Verband eingegliedert und von Philip Hasard Killigrew und seinen Männern übernommen worden. Sie hatten die „Isabella II.“ wieder aufgeben müssen - sie leckte wie ein verrotteter Eimer. So waren die Männer des Seewolfes, wie Philip Hasard Killigrew genannt wurde, wieder auf die „Golden Hind“ übergestiegen. Und Kapitän Drake war froh gewesen, diese Teufelsbraten an Bord zu haben. Das hatte sich unten am Kap gezeigt. Der Seewolf und seine Männer, die kapitulieren nicht, die mußte man erst totschlagen - und auch da war es denkbar, daß sie wieder aufstanden. Sie drängten sich auf dem Vorschiff und versuchten, voraus etwas zu erkennen vergeblich. Dan O'Flynn hatte eben doch die besten Augen an Bord. Arwenack turnte über die Blinde weg hinaus auf den Bugspriet und zeigte fletschend seine Zähne. Er sah aus, als grinse er über die Männer. „Ist das ein dämlicher Affe“, sagte Mac Pellew, der abwechselnd mit dem Kutscher aus Hasards Crew für das leibliche Wohl der Männer sorgte. Mac Pellew, schlaksig, dürr und ausgemergelt, war an Bord der „Golden Hind“ der Miesgram vom Dienst. Smoky, der Decksälteste -auch aus Hasards Crew -, sah ihn schief an. „Sei ja friedlich, Mac“, sagte er. „Wir meckern ja auch nicht über deine dämlichen Kakerlaken, die du heute statt des Salzfleisches in die Suppe getan hast.“ „Die hab ich nicht reingetan, sondern die sind reingefallen“, sagte Mac Pellew. Dann kriegte er plötzlich starre Augen. „Nun sieh dir das an!“ Arwenack hing schaukelnd an einem Arm unter der Verstagung des Bugspriets und planschte mit den Füßen in der schäumenden Bugsee. Dabei gab er Laute von sich, die sein Wohlbehagen ausdrückten. Es klang wie das Kichern und Glucksen einer Quelle. Smoky grinste breit. „Der tut das, was ich dir auch empfehlen möchte, Mac.“
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Mac Pellew starrte Smoky irritiert an. „Mir? Soll ich da etwa auch herumturnen?“ „Nein“, sagte Smoky, „aber mal deine stinkigen Füße waschen!“ Mac Pellew machte: „Pfff!“ und verschwand wie ein Geist vom Vorschiff. Auf dem Deck des Achterkastells stand Philip Hasard Killigrew neben Kapitän Drake, den er über die Sichtmeldung Dan O'Flynns informiert hatte. Drake war unter Deck gewesen. „Das muß die Mocha-Insel sein“, sagte Hasard. „Nach der Seekarte der Spanier liegt sie etwa zwanzig Seemeilen querab der Küste und nördlich von Valdivia.“ Er schaute fragend zu Nuno da Silva, dem portugiesischen Lotsen, hinüber, den sie von einer portugiesischen Prise auf die „Golden Hind“ übernommen hatten. Nuno da Silva, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mit Knebelbart, nickte. „Senor Killigrew hat recht, Capitan.“ Er lächelte dünn. „Manchmal habe ich den Eindruck, daß Sie eigentlich auf mich verzichten könnten. Senor Killigrew ist ein erstklassiger Pilot, von seinen seemännischen und“, er räusperte sich, „kämpferischen Qualitäten ganz zu schweigen.“ Hasard verbeugte sich leicht. „Danke für das Kompliment, Senor da Silva.“ Er lächelte. „Es ehrt mich, daß Sie das in Gegenwart des Kapitäns sagen. Manchmal denke ich, er hält mich für ...“ „ ...ziemlich frech“, ergänzte Kapitän Drake und wippte auf den Fußballen. Er mußte zu Hasard hochschauen, der ihn um fast zwei Köpfe überragte. Drake selbst war untersetzt und stämmig. Hasard verkniff sich ein Grinsen. Drake legte die Hände auf den Rücken, marschierte zum Backbordschanzkleid, starrte über die See, drehte sich um und kehrte wieder zurück. Vor dem Portugiesen blieb er stehen. „Valdivia wurde von Pedro de Valdivia gegründet, nicht wahr, Senor da Silva?“ Der Portugiese nickte. „Si, Capitan.“
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Drake blickte ihn nachdenklich an. „Wissen Sie noch mehr über diesen Mann, Senor da Silva?“ „Nun“, der Portugiese schien sich unbehaglich zu fühlen, „viel weiß ich auch nicht über ihn. Er gehörte zu den spanischen Conquistadoren unter Pizarro. Nach der Eroberung Perus führte er eine spanische Expedition nach Chile. Er kämpfte sich entlang der Küste nach Süden vor ...“ Der Portugiese verstummte, als er das Aufblitzen in den grauen Augen Drakes sah. „Er kämpfte sich nach Süden vor“, wiederholte Kapitän Drake fast etwas ironisch. „Das heißt, wie Pizarro und die anderen sorgte er zunächst einmal dafür, die einheimische Bevölkerung auszurotten, nicht wahr?“ „Ich bin weder Pizarro noch de Valdivia, Capitan“, sagte der Portugiese ärgerlich. „Für das, was sie taten, bin ich nicht verantwortlich.“ „Nein, natürlich nicht, Senor da Silva. Ich wollte Sie mit meiner Bemerkung auch keineswegs kränken.“ Er dachte einen Moment nach und fragte ganz überraschend: „Sie wissen, daß ich vor fünf Jahren oben in Panama mit den Spaniern aneinandergeriet?“ „El Draque“, sagte Nuno da Silva. „Ein Kriegsname, der schnell bekannt wurde.“ Drake lächelte. „Mag sein, aber das meine ich nicht. Ich wollte etwas anderes damit sagen. Sehen Sie, Senor da Silva, im Gegensatz zu den spanischen und portugiesischen Eroberern kämpfte ich nicht gegen die einheimische Bevölkerung, sondern stellte mich auf ihre Seite. Die Cimarronen zum Beispiel, jene von den spanischen Plantagen entlaufenen Negersklaven, die Indianerfrauen geheiratet hatten, wußten das zu schätzen und kämpften an meiner Seite gegen die Spanier. Das gleiche Rezept dürfte auch hier, an der Westküste Südamerikas, erfolgreich sein. Wir sprachen über Pedro de Valdivia. Hier an der chilenischen Küste leben die Araukaner. Sie wehren sich gegen das Vordringen der Spanier, die
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ihnen ihr Land wegnehmen wollen. Sie wissen, was mit de Valdivia passierte?“ Der Portugiese nickte. „Er fiel in die Hände aufständischer Araukaner und wurde zu Tode gefoltert.“ „Richtig“, sagte Drake. „Genau das. Die Indianer zahlten mit gleicher Münze zurück.' Die Spanier haben Wind gesät und Sturm geerntet. Ich bin sicher, daß die Araukaner meine Bundesgenossen werden.“ „Sie sind ein Fuchs, Capitan“, sagte der Portugiese. Drake grinste. „Auch richtig. Der Fuchs im spanischen Hühnerstall. Wir werden sehen.“ Er wurde wieder ernst und starrte über das Schiff voraus. „Sind Sie informiert, ob es auf der Mocha-Insel eine spanische Siedlung gibt?“ Der Portugiese wiegte den Kopf. „Darüber ist mir nichts bekannt Logisch erscheint mir, daß sich die Spanier zunächst auf dem Festland durchzusetzen versuchen, und da haben sie auch jetzt noch, nach über dreißig Jahren seit Pedro de Valdivia, Schwierigkeiten genug. Ich glaube nicht, daß die Insel von den Spaniern besetzt ist.“ „Der Meinung bin ich auch.“ Drake nickte zufrieden. Hasard räusperte sich. Drake wandte sich um und blickte ihn von unten herauf an. „Sind Sie anderer Ansicht, Mister Killigrew?“ „Im Grunde genommen nicht, Sir. Nur sind unsere Ansichten nichts anderes als Spekulationen oder Wunschträume. Realistischer wäre es, davon auszugehen, daß eben doch Spanier auf der Insel sind.“ „Aha“, sagte Kapitän Drake. Er wechselte den Blick und zwinkerte Nuno da Silva zu. „Sie sehen, Senor da Silva, hier ist noch ein zweiter Fuchs an Bord.“ „Ein Seewolf — wie ich hörte.“ Der hagere Portugiese lächelte. Gut, die Engländer waren zwar so etwas wie Freibeuter, sie hatten ihm das eigene Schiff weggenommen und ihn an Bord der „Golden Hind“ übernommen, als „Gast“, wie sich Capitan Drake ausgedrückt hatte, aber sie waren auch Kavaliere. besonders dieser breitschultrige, schlanke Riese mit
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den eisblauen Augen und dem schwarzen Haar. Ein Teufelskerl! Nuno da Silva gestand sich ein, daß er sich wohl, sehr wohl an Bord der „Golden Hind“ fühlte. Und im stillen bewunderte er diese verwegenen Männer. Die würden den Spaniern noch ganz verdammte Nüsse zu knacken geben, das war mal sicher. Drakes Stimme unterbrach seine Gedanken. „Schön, Mister Seewolf, die Männer sollen sich gefechtsklar halten.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Hasard. Innerhalb von knapp sechs Minuten waren die achtzehn Demi-Culverinen auf der Backbordund Steuerbordseite gefechtsklar. Die Männer, die nicht zu den Geschützbedienungen gehörten, hatten aus der Waffenkammer Pistolen und Musketen empfangen. Dort regierten der alte Barry Burnaby, Drakes früherer Stückmeister von der „Marygold“, und der junge Al Conroy, der unter Hasards Crew als Stückmeister gefahren war. Beide Männer waren nicht mit Gold aufzuwiegen. Hasard war in den Vormars aufgeentert. Die „Golden Hind“ segelte über Steuerbordbug bei einem leichten Westbis Südwestwind. Die Mocha-Insel war jetzt klar zu erkennen. Hasard kniff die Augen zusammen. Neben ihm spähte Dan O'Flynn mit seinen scharfen Augen auf die Insel, die noch gut anderthalb Meilen entfernt war. „Erkennst du irgendetwas, Dan?“ fragte Hasard. Dan O'Flynn, stupsnasig, sommersprossig, blauäugig, ein sehniges, energiegeladenes Bürschchen von knapp sechzehn Jahren, schniefte und sagte kurz und präzise: „Westlich und östlich der Insel Klippen und Riffs, auf der Südseite ruhiges Wasser.“ Hasard lächelte still. „Wer sagt dir denn, daß wir Nordkurs steuern?“ „Die Sonne. Außerdem hab ich mir vor der Wache den Kompaß angeschaut.“ „In Ordnung. Bist du sicher, daß die Südseite der Insel wirklich frei von Klippen und Riffs ist?“ „Aye, Sir.“ Aber Dan O'Flynn schränkte ein. „Soweit ich das von hier aus beurteilen
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kann. Westlich und östlich der Insel sehe ich kabbeliges Wasser, vor allem an den dunklen Punkten, die sich ganz klar aus der See abzeichnen. Die Südseite dagegen erscheint flach wie ein Teller.“ „Da spielt sich nichts ab, wie?“ „Gar nichts, ein Ententeich wie hinter der Feste von Arwenack.“ „Arwenack, mein Junge“, sagte Philip Hasard Killigrew, „ist zur Zeit ein Traum und von uns so Weit entfernt wie der Mond.“ Das Bürschchen blickte zu dem großen Mann hoch, dessen schwarzes Haar vom Wind zerzaust wurde. Andächtig sagte Dan O'Flynn: „Und da steht die dumme Kuh und wartet!“ Hasard blickte ihn irritiert an. „Kuh? Wie bitte? Auf was wartet die?“ „Auf dich.“ Hasards Augen wurden tellergroß, dann besorgt. „Bist du übergeschnappt, Junge?“ Dan O'Flynn seufzte und sagte leise: „Wer stand denn auf der Pier unten im Hafen von Falmouth und schrie drei Hurras für den Seewolf, nachdem du deinem Alten den Marsch geblasen hattest?“ Hasard zuckte fast zurück. Da war sie wieder, die Erinnerung. Und hier, vor dieser verdammten Insel, auf der der Teufel oder sonst wer hausen mochte, rief sie der Bengel wieder wach. Gwendolyn Bernice O'Flynn, Schwester Dan O'Flynns, grünäugig, rotblond, schlank und groß, stolz und dennoch ein Weib, und was für eins! „Sagtest du dumme Kuh, du Hundesohn?“ knurrte Hasard. „Und wieso wartet sie auf mich?“ Das Bürschchen grinste. „Frag doch mal den Abendwind, Sir.“ Hasard verschwand vom Vormars. Bevor er auf den Webeleinen nach unten enterte, schaute er noch einmal hoch. „Paß gefälligst auf, was sich da vorn tut, verstanden? Vielleicht sind Spanier auf der Insel.“ „Aye, aye, Sir. Warum hast du eigentlich so einen roten Kopf?“ Hasard fluchte und sauste nach unten. Das Bild der schönen Gwen stand vor seinen
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Augen, und er fluchte noch, als er auf die Kuhl sprang und dem bulligen Profos Edwin Carberry auf die Füße trat. Der wollte schon zulangen, ließ aber die Pranke wieder sinken, als er Hasard erkannte. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er verblüfft. „Mit mir? Nichts!“ sagte Hasard wütend. „Was soll denn mit mir los sein?“ „Das frag ich ja gerade.“ „Frag mal den Abendwind!“ knurrte ihn Hasard an. Er wurde so richtig biestig. „Und grins mich nicht so blöd an.“ Er fuhr herum. „Ben!“ Ben Brighton, der Bootsmann, enterte vom Vorschiff. „Ja?“ . „Kümmere dich um das Ankerspill.“ „Ist bereits klar“, sagte Ben Brighton. „So? Dann laß die Blinde wegnehmen.“ „Bin ich gerade dabei.“ Hasard murmelte etwas Unverständliches und stiefelte mit seinen langen Beinen zurück aufs Deck des Achterkastells. Der Bootsmann und der Profos blickten sich an und grinsten. „Der hat heut 'ne Kröte verschluckt“, sagte der Profos. 2. Dicht unter Land auf der Südseite der Insel wurde der Buganker geworfen. Die Insel schien unbewohnt zu sein. Vor ihnen zog sich ein heller Sandstreifen entlang, auf dem träge ein paar Schildkröten lagen, zwischen denen Seevögel herumspazierten und mit ihren spitzen Schnäbeln nach Beute suchten. Der Strand schwang in einem Bogen nach Osten. Hinter dem Strand erhob sich ein dichter Waldgürtel und versperrte die weitere Sicht. Flach war die Mocha-Insel keinesfalls. Stellenweise vorkommende Erhebungen mochten bis zu zweihundert Yards über dem Meeresspiegel liegen. Francis Fletcher, der Kaplan an Bord der „Golden Hind“, ein schlitzohriger Posaunenengel, breitete auf dem Achterdeck die Arme aus und rief: „Dies ist das gelobte Land, Männer der ,Golden
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Hind'! Lasset uns beten, daß Gott der Allmächtige in seiner unendlichen Güte uns den rechten Weg gewiesen hat.“ Kapitän Drake drehte sich verärgert zu ihm um. „Wir können später beten, Mister Fletcher. Jetzt müssen erst einmal die Segel geborgen und die Decks aufgeklart werden. Im übrigen darf ich Sie darauf hinweisen, daß Gottesdienste und Betzeiten von mir bestimmt werden.“ Er räusperte sich. „Ob diese Insel das gelobte Land ist, wird sich noch herausstellen.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, da gellte Dan O'Flynns helle Stimme vom Vormars. „Deck ! Ein Kanu - nein, mehrere Kanus Steuerbord achteraus!' Die „Golden Hind“ lag vor Anker im Wind, den Bug seewärts, das Heck schräg zum Land gerichtet. Francis Drake, Hasard und die Männer auf dem Achterdeck fuhren herum und starrten achteraus. Um die Ostseite des langen Strandes schossen mehrere Kanus über das Wasser und wurden mit kurzen, raschen Paddelschlägen auf die „Golden Hind“ zugetrieben. „Araukaner!“ sagte Nuno da Silva. „Ihre Verbündeten, Senor Capitan.“ Seine Stimme hatte einen etwas ironischen Klang. Es waren sechs Kanus, jeweils mit zwölf hellbraunen, schwarzhaarigen Männern besetzt. Sie trugen als einzige Kleidungsstücke Durchziehschurze und hatten kräftige, stämmige Körper. Der Kaplan ächzte. Geradezu fassungslos sagte er: „Das sind ja nackte Wilde!“ „Halbnackt, Mister Fletcher“, sagte Hasard, der neben ihm stand. „Sie bemerken hoffentlich den feinen Unterschied.“ Der Kaplan warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und biß sich auf die Lippen: Die Kanus teilten sich und umkreisten die „Golden Hind“. Die Mienen der Araukaner waren alles andere als freundlich. Finster betrachteten sie das fremde Schiff und die bärtigen Männer mit der hellen Haut. Drake schwang sich auf das Backbordschanzkleid und winkte ihnen zu. Er lachte breit und lud durch
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Handbewegungen ein, doch ruhig näher zu kommen. Gestenreich und mit eindrucksvoller Mimik tat er kund, friedliche Absichten zu hegen, ließ ein leeres Wasserfaß zeigen, sagte „gluckgluck“, um anzudeuten, daß sie Wasser brauchten, klopfte sich auf den Bauch und kaute zum Zeichen des Hungers, verbeugte sich mehrere Male und legte immer wieder seine Rechte aufs Herz. Ein Kanu löste sich von den anderen und wurde langsam herangepaddelt. Achtern thronte hochaufgerichtet ein breitschultriger, muskulöser Mann. Um den kräftigen Hals trug er eine Silberkette. In den Fäusten hielt er eine Steinaxt - ein Ding, das geeignet erschien, Felsen zu zertrümmern. Dieser beeindruckende Mann schien so etwas wie ein Häuptling zu sein. Er sagte etwas Unverständliches, und die Indianer stoppten das Kanu mit den Paddeln. Sie taten. es sehr geschickt und drehten das leichte Fahrzeug, so daß es parallel zum Achterkastell lag. Der Mann achtern starrte zu Francis Drake hinauf, wies mit dem Stiel seiner Steinaxt zu ihm hoch und sagte mit einer dunklen Stimme: „Du -Philipp?“ Drake blickte ihn verblüfft an, dann begriff er und lachte schallend. Auf spanisch sagte er: „Nein - kein Philipp! Ich bin Engländer, und dem verdammten Philipp wünsche ich die Pest an den Hals, mein Junge, verstehst du?“ Die Araukaner schnatterten durcheinander. Der Häuptling runzelte finster die Brauen und blieb weiterhin mißtrauisch. Mit einer schroffen Handbewegung brachte er seine Männer zum Schweigen. „Wir sind keine Spanier!“ rief Drake hinunter. „Wir sind Engländer und eure Freunde!“ Er wandte sich zu seinem Trompeter, dem jungen Tim Brewer, um. „Lauf in meine Kammer, Tim, und hol den Zierdegen aus dem Schapp links neben der Koje. Ich will ihn dem Häuptling als Geschenk überreichen, los, ah mit dir!“ „Aye, aye, Sir.“ Der Junge flitzte los. „Ogottogott“, murmelte der dicke Kaplan und wischte sich den Schweiß von der
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Stirn. „Sie wollen diesem Heiden eine Waffe schenken, Kapitän?“ „Allerdings“, sagte Drake spitz. „Ich würde ihm ja gern eine Bibel verehren, aber ich befürchte, daß er sie nicht zu lesen versteht.“ „Das sind doch Menschenfresser“, sagte der Kaplan. „Sollten sie es sein“, erwiderte Drake mit makabrem Humor, „dann werde ich dem Häuptling empfehlen, Sie als ersten von uns zu schlachten, Mister Fletcher. Das wird bestimmt eine fettreiche Suppe.“ Der Kaplan wurde schneeweiß und sah sich hilfesuchend um. Er blickte nur in grinsende Gesichter. Stotternd sagte er: „Sie — Sie versündigen sich, Kapitän.“ „Unfug“, sagte der Kapitän schroff und winkte Carberry zu: „Profos, lassen Sie bitte die Jakobsleiter ausbringen.“ „Aye, aye, Sir.“ Die Jakobsleiter wurde auf der Backbordseite ausgebracht. Welchen Zweck sie hatte, mußte auch den Indianern klar sein, aber sie verhielten sich eher erschreckt. Francis Drake winkte einladend, kletterte selbst die Leiter hinunter, enterte wieder auf und winkte erneut dem Häuptling zu, es ihm gleichzutun. Der zögerte immer noch und schien sich mit seinen Männern zu beraten. Hasard sah, daß die Indianer Speere sowie Pfeile und Bogen im Kanu liegen hatten. Sechs mal zwölf Indianer ergaben zweiundsiebzig Kämpfer —eine stolze Zahl, auch wenn sie keine Feuerwaffen hatten. „Ben, paß auf, was die Brüder drüben auf der Steuerbordseite tun“, flüsterte er dem Bootsmann zu. „Behalte die Kanus dort im Auge.“ Ben Brighton nickte nur und schlenderte zum Steuerbordschanzkleid hinüber. Hasard blickte zum Vormars hoch. Es war, wie er es gedacht hatte: Dan O'Flynn hing halb über der Segeltuchverkleidung und starrte fasziniert auf die Männer in den Kanus.
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Hasard flankte über die Balustrade des Achterkastells, glitt über die Kuhl, blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute schweigend zum Vormars hoch. Der Blick aus seinen eisblauen Augen sprach Bände. Das Bürschchen zuckte zusammen und bezog sofort wieder seinen Ausguckposten, das heißt, unaufhörlich rundum Ausschau zu halten. Als Hasard sich wieder umwandte, sah er, daß Kapitän Drake es geschafft hatte. Das Kanu wurde an die Jakobsleiter herangepaddelt, und der Häuptling enterte wie eine Katze hoch. Mit einem geschmeidigen Satz landete er auf der Kuhl fast direkt vor Hasard. Hasard lächelte ihn an und verbeugte sich leicht, die Rechte auf dem Herzen. Der Häuptling blickte ihn irritiert an. Offensichtlich hatte er so blaue Augen noch nie in seinem Leben gesehen. Er trat noch näher, hob die Rechte und zog vorsichtig mit dem Zeigefinger Hasards linkes Unterlid nach unten. Hasard verzog keine Miene. Der Häuptling grunzte, als sein Blick auf Stenmark, den großen, blonden Schweden fiel. Der hatte auch blaue Augen – na, und das Haar! Er mußte es sich gefallen lassen, daß der Häuptling ihm eins auszupfte und hastig unter dem Schurz verschwinden ließ. Dann war der Riese Ferris Tucker, Hasards Schiffszimmermann, an der Reihe. Sein rotes Haar leuchtete in der Nachmittagssonne wie eine Fackel. Er beugte den Kopf und bot dem Häuptling sein Haar zum Zupfen dar. Er verlor mehr als nur ein Haar. Das Büschel verschwand ebenfalls unter dem Schurz. Von magischer Anziehungskraft erwies sich im weiteren die Hakenprothese von Matt Davies. Dem Häuptling fielen fast die Augen aus dem Kopf, und er sagte etwas zu Matt. Matt Davies grinste so freundlich wie ein Haifisch und sagte: „Damit kann ich Holz hacken, in der Nase bohren, Schädel spalten, Spundlöcher verdübeln, Lasten heben und dir den Arsch aufreißen!“
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Der Häuptling nickte bewundernd. Daß ein Mensch statt einer Hand einen scharfgeschliffenen, metallenen Haken hatte, war großer Zauber. Kapitän Drake räusperte sich diskret, und der Häuptling drehte sich um. Drake hielt ihm auf den offenen Händen den Zierdegen entgegen. „Für dich, mein Junge.“ Der Häuptling mochte sogar älter als Kapitän Francis Drake sein. Dennoch sagte Drake „mein Junge“. Das war so seine Art, dem Partner sein Vertrauen zu zeigen. Der Häuptling hätte das nie begriffen, auch wenn er die Sprache des Kapitäns verstanden hätte. „Mein Junge“ bedeutete einfach, du bist ein patenter Kerl, und deswegen sind wir ganz schlicht Freunde. „Mein Junge“ reckte die mächtige Brust, schob den Kopf vor und starrte auf den Zierdegen. Das war so ein ziseliertes, geradezu höchst empfindsam wirkendes Mordinstrument, das dennoch von stählender Biegsamkeit war. Vielleicht war es sogar eine Toledaner Klinge. Der Häuptling grunzte wieder und klemmte sich seine wüste Steinaxt zwischen die mächtigen Schenkel. Dabei mußte er etwas in die Knie gehen. Die Männer um ihn herum grinsten verstohlen. Zum Glück bemerkte er das nicht. Er starrte auf den Zierdegen und nahm ihn vorsichtig entgegen. Mit beiden Händen. Er. spreizte dabei sogar die beiden kleinen Finger weit ab. Er wog den Zierdegen. Nach dem Gewicht der Steinaxt mußte der Degen so leicht wie eine Feder sein. Das brachte ihn sichtlich durcheinander. Mißtrauisch starrte er den Kapitän an, der lächelnd vor ihm stand. Drake nahm den Degen zurück, lächelte immer noch, zog blank und stieß die Spitze in die Holzplanken der Kuhl. Dann drückte er. Die Klinge bog sich halbkreisförmig. Er verminderte den Druck, riß die Klinge wieder aus dem Holz und ließ sie durch die Luft pfeifen. Er trat an die Nagelbank, packte die Klinge mit beiden Händen und zog die Schneidefläche über das Holz. Ein haardünner Span flatterte aufs Deck. Demonstrativ stieß Drake die Klinge in die
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Scheide zurück, die er unter den Arm geklemmt hatte. Es zischte metallen. „Na; was sagst du jetzt, mein Junge?“ Lächelnd gab Drake dem Häuptling den Zierdegen zurück. Der nahm ihn entgegen, roch daran, zog die Klinge, ließ sie pfeifen, grinste und merkte nicht, daß ihm inzwischen die Steinaxt aus den Schenkeln gerutscht und aufs Deck gefallen war. Er säbelte durch die Luft und freute sich, mit welcher sirrenden Musik die schmale Klinge die Luft durchschnitt. Der Kaplan, der vorn Achterdeck aus alles beobachtete, kriegte das Zittern in den Knien. Die Männer auf der „Golden Hind“ grinsten breit. Hasard hatte etwas Angst, daß der Häuptling den Kapitän im Eifer der Spiegelfechterei aufspießen könnte. Aber Drake war vorsichtshalber ein paar Schritte zurückgetreten. Der Häuptling schnaufte und grunzte und ließ die Klinge durch die Luft pfeifen. Er schien sehr glücklich zu sein. „Mein Junge“, sagte Drake, „morgen laß ich an Land Wasser holen, ist das klar?“ Er deutete auf das leere Wasserfaß. das am Backbordschanzkleid stand. Der Häuptling senkte die Waffe und sagte etwas, das wie „kwakkwak“ klang. „In Ordnung“, sagte Drake. „Proviant müssen wir auch fassen. Fleisch zum Beispiel.“ Er begann zu kauen und zeigte dabei auf den Sandstrand. Mit der anderen Hand deutete er auf seinen Magen. Ob der Häuptling das begriff oder nicht, war nicht mehr festzustellen. Er wurde geschockt, und zwar durch den Schimpansen Arwenack. Der stand rechts von ihm an. der Hand von Batuti, dem riesigen Gambianeger, hüpfte auf und nieder, fletschte die Zähne 'und schwenkte wie wild die freie Hand. Die beiden sahen aus wie Vater und Sohn, vielleicht etwas grotesk, aber dennoch irgendwie lustig. Der Häuptling schien das nicht zu finden. Er erschrak, starrte voller Entsetzen auf den hüpfenden Arwenack, und als der loskeckerte, raste er mit zwei langen
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Sätzen über die Kuhl, schwang sich über das Schanzkleid und sauste die Jakobsleiter hinunter. Sekunden später peitschten die Paddel das Wasser, und die Kanus schossen davon. Die Indianer stießen schrille Schreie aus, die ziemlich bösartig klangen. Die Kanus umrundeten die Landzunge weiter östlich und verschwanden. Die Männer an Bord der „Golden Hind“ sahen nicht sehr schlau aus. Den Zierdegen hatte der Häuptling mitgenommen. Seine Steinaxt lag noch an Deck. Hasard bückte sich und hob sie auf. Prüfend wog er sie in der Hand. Ja, mit diesem Ding konnte man Schädel spalten. Die Waffe war griffig und gut ausbalanciert. Drake war ziemlich wütend und funkelte Batuti an. „Das nächste Mal wird der Affe eingesperrt, verstanden?“ „Aye, Sir.“ Der schwarze Herkules hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Batuti konnte nicht wissen, daß Häuptling vor kleinem Arwenack wegrennt. Tut Batuti leid, Sir, sehr viel leid.“ „Die Indianer hier müßten doch eigentlich Affen kennen“, sagte Hasard. „Ja, aber keine Schimpansen!“ fauchte Drake und schlug die rechte Faust in die linke Handfläche. „Euer Arwenack hat sich ja auch wie ein kleiner Irrer aufgeführt.“ Hasard verbiß sich eine Antwort. Er starrte den Kapitän nur schweigend an, aber die Härte in seinem Blick sagte alles. Drake begriff, daß er ein kleines Stück zu weit gegangen war. Batuti war weiß Gott kein Vorwurf zu machen, dem Schimpansen noch viel weniger. Er war so etwas wie ein Maskottchen der „Golden Hind“ und ihrer Besatzung geworden, und das hatte sogar ein Kapitän zu respektieren. Er räusperte sich und sagte fast entschuldigend: „Gut, gut, natürlich konnte niemand die Reaktion des Häuptlings voraussehen. Ich hoffe nur, daß er kapiert hat, was wir wollen. Schließlich hat er den Zierdegen vereinnahmt ...“ „Und ein paar Haare von Stenmark und Ferris Tucker“, sagte Thomas Moone, der frühere Kapitän der kleinen „Benedict“.
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Die Männer grinsten, und der Bordfrieden war wieder hergestellt. Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien. „Lassen Sie eine Ankerwache aufziehen, Mister Killigrew“, sagte Kapitän Drake, „einen Posten Achterdeck ebenfalls, damit wir vor Überraschungen sicher sind. Morgen früh statten wir der Insel einen Besuch ab. Mac Pellew soll die leeren Trinkwasserfässer bereitstellen.“ „Aye, aye, Sir.“ 3. Die Nacht verlief ruhig. Hasard hatte die Posten zweimal kontrolliert. Es war völlig unnötig. Die meisten Männer schliefen an Deck und wären in Sekunden kampfbereit gewesen, falls die Indianer einen Überfall versucht hätten. Aber Hasard war unruhig. Die Insel lag dunkel und geheimnisvoll unter dem glitzernden Sternenhimmel. Nur der weiße Sandstrand leuchtete herüber. Ein stetiger, sanfter Südwest strich durch die Takelage der „Golden Hind'„, die kaum merklich um den Buganker schwoite. Wellen gluckerten längs der Bordwand. Es war eine herrliche Nacht - und dennoch empfand Hasard etwas Bedrohliches, das sich am Morgen noch verstärkt hatte. Die Männer an Bord waren guter Dinge. Mac Pellew hatte zum Frühstück doppelte Rationen herausgerückt. Der Däne Big Niels, ein riesiger Kanonier aus der alten „Marygold“- Crew, schwadronierte im Vordeck, was er mit den „Inselweibern“ alles anstellen werde. Es war eine ganze Menge, was er vorhatte - nur nichts Keusches. Er sollte mit an Land. Hasard hatte die Männer bereits ausgesucht und auf Wunsch Drakes auch dessen schwarzen Diener Diego mit eingeteilt. Edwin Carberry, der Profos, sollte dabei sein, ferner aus Hasards alter Crew Batuti, Stenmark, Pete Ballie, Smoky, Matt Davies, Gary Andrews und Al Conroy.
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Auch der alte Miesgram Mac Pellew würde zum Landkommando gehören. „Du bist ein alter Sauigel“, sagte Mac Pellew, nachdem Big Niels seine unzüchtigen Reden beendet hatte. „Ich?“ schrie Big Niels. „Da laust mich doch der Affe, du alter Hurenbock! Wer hat denn die Tante in der ,Bloody Mary' befummelt und halb ausgezogen, während wir uns mit Carberry und den anderen Idioten herumschlugen; he?“ Das war vor einem Jahr gewesen, kurz bevor Drakes Verband zum ersten Male aus Plymouth zur großen Fahrt ausgelaufen war. Mac Pellew erinnerte sich genau und grinste. „Ich hab eben Chancen bei den Weibern“, sagte er. Big Niels schnappte nach Luft. „Du? O Mann! Habt ihr das gehört? Mac hat Chancen bei den Weibern! Ist das ein Witz?“ „Die Tante war ganz wild auf mich“, sagte Mac Pellew ungerührt. „Nur der Seewolf hat mir dann alles vermasselt, sonst wär ich voll bei der Tante gelandet, jawohl, da beißt keine Maus den Faden ab. Ich war schon so richtig dran bei der Tante.“ Mac Pellew kriegte direkt lüsterne Augen. Smoky und Hasards Männer lachten schallend. Big Niels wurde dafür umso wütender. Denn die „Tante“, von der die Rede war, hatte zuerst mit ihm geschäkert. Als die Keilerei losgegangen war, hatte Mac Pellew, der Hundesohn, die „Tante“ unter einen Tisch gezogen – nicht zum Händchenhalten! Big Niels kochte. Es war an der Zeit, daß die Sache mal bereinigt wurde. Er krempelte seine Ärmel hoch. „Dir werd ich's zeigen! Ehrlichen Männern die Tanten ausspannen! Du brauchst mal 'ne Abreibung, du verlauster Kombüsenhengst!“ Die Abreibung fand nicht statt. Mac Pellew kriegte das Türschott ins Kreuz, das der Profos aufgestoßen hatte. „Die Rübenschweine, die mit an Land sollen – raus mit euch!' schrie er. „Soll ich
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den Kapitän vielleicht allein an Land pullen, was, wie? Mac, steh nicht so dämlich in der Gegend! Sind die Wasserfässer klar?“ „Die sind längst im Boot verstaut“, sagte Mac verdrossen, „und schrei mich nicht so an!“ Er rieb sich den Rücken. „Wenn du mir noch mal 'ne Tür ins Kreuz rammst, schütte ich dir Gift in die Suppe, an dem du drei Tage lang krepierst.“ Carberry langte einfach zu, packte Mac Pellew am Kragen und Hosenboden und warf ihn nach draußen. Zu einer handfesten Auseinandersetzung war zum Bedauern Carberrys keine Zeit. Kapitän Drake wartete bereits auf dem Achterdeck. Aber später würde er mit dem alten Miesgram noch ein Hühnchen rupfen. Mac Pellew sammelte sich auf der Kuhl auf und fluchte. Carberry drehte sich wieder um, Big Niels schob sich grinsend an ihm vorbei. Hasards Männer folgten. Alle grinsten. Smoky verließ als letzter das Vordeck. „Du hast Mac vor dem Tode gerettet, Ed“, sagte er zu dem Profos. „Was, wie?“ „Big Niels wollte ihn gerade auseinandernehmen – wegen damals. Du weißt doch – in der ,Bloody Mary' vor einem Jahr, als Mac mit der schwarzhaarigen Tante unter dem Tisch in Gange war, während wir uns die Köpfe einschlugen. Auf die Tante war doch Big Niels scharf gewesen.“ Ed Carberry lachte dröhnend. Auch er erinnerte sich genau. Beide prusteten noch, als sie auf die Kuhl traten und dann in das Boot hinunterenterten, in dem bereits die anderen Männer saßen – auch Mac Pellew. Drake, gefolgt von Hasard, stieg den Niedergang hinunter. „Ihre Männer sind heute morgen ziemlich aufgedreht, Mister Killigrew“, sagte er über die Schulter. „Ihre auch, Sir“, erwiderte Hasard lächelnd, „jedenfalls Carberry und Big Niels. Mac Pellew allerdings sieht aus, als habe er in einem Essigfaß übernachtet.“ Drake lachte. „Möchte wissen, über was sich die Kerls so amüsieren.“ Er blieb stehen und drehte sich zu Hasard um.
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„Nein, wir brauchen nicht alles zu wissen, oder?“ Hasard nickte. „Solange sie lachen, ist das Schiff in Ordnung.“ Drake schaute überrascht zu ihm hoch. „He! Woher haben Sie denn diese Weisheit, Hasard?“' Der Seewolf war selbst überrascht. Zum ersten Male hatte Drake „Hasard“ gesagt, und zum anderen war ihm seine Bemerkung fast wie selbstverständlich herausgerutscht. Er hatte über seine Antwort keine Sekunde nachgedacht. Fast schroff erwiderte er: „Von meinem Alten auf Arwenack bestimmt nicht, Sir.“ Dann stutzte er. „Oder doch? Ja, vielleicht. Er hat seine Leute geschunden und tyrannisiert, sie waren nie fröhlich. Was sie taten, taten sie widerwillig. Vielleicht ging mir das eben durch den Kopf. Entschuldigung, Sir.“ Er drehte sich zu Ben Brighton um. „Ben, die Männer sollen scharf Ausguck halten, wenn wir an Land sind. Mister Moone ist stellvertretender Kapitän, aber du bist sein Erster Offizier.“ „Aye, aye, Sir.“ Der Bootsmann räusperte sich. „Sei vorsichtig, Hasard.“ Hasard lächelte und enterte ab. Der Kapitän folgte als letzter. * Knirschend lief das Boot auf den Strand, der tatsächlich so blendend weiß war, wie sie es von Bord aus gesehen hatten. Ein paar der Seevögel stoben erschreckt auf und strichen seewärts ab. Zwei, drei Schildkröten in unmittelbarer Nähe der Landungsstelle schaufelten sich träge ins Wasser und tauchten weg. Die anderen blinzelten blöd und zogen nur ihre eckigen Köpfe unter den mächtigen Rückenpanzer. Stenmark, Carberry, Batuti und Matt Davies jumpten an Land und zogen das Boot höher auf den Strand. Hasard beobachtete den Waldgürtel, der etwa zwanzig Yards vor ihnen lag. Irgendetwas war ihm nicht geheuer, und er hätte verdammt gern gewußt, was es war. Menschliche Spuren entdeckte er nicht in dem Sand, drüben, in dem Wald, der
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verfilzt und undurchdringlich erschien, rührte sich nichts. Kapitän Drake kletterte über die Duchten nach vorn und sprang in den Sand. Hasard folgte ihm. Drake bückte sich und ließ den feinen Sand durch seine Finger rieseln. Als er sich wieder aufrichtete, atmete er tief durch und lächelte Hasard an. „Land“, sagte er, „ein Paradies.“ Er spitzte die Lippen und deutete auf eine der Riesenschildkröten in der Nähe. „Ein Leckerbissen nach all dem Pökelfleisch der letzten Monate.“ Hasard blickte ihn skeptisch an. Er hatte zwar schon davon gehört, daß das Fleisch der Schildkröten sehr schmackhaft sei, aber dennoch hatte er so seine Zweifel. Allerdings war der Kapitän ein Feinschmecker, das wußte er. „Sie werden sehen, Mister Killigrew“, sagte Drake. „Heute abend gibt's an Bord ein Festessen. Mac Pellew kennt sich in der Zubereitung aus, nicht wahr, Mac?“ „Aye, aye, Sir. Werde sofort ein paar der lieben Tierchen schlachten.“ „Tun Sie das, Mac. Und bitte heben Sie die Rückenpanzer auf. Ich möchte sie mit nach England nehmen.“ „Geht klar, Sir.“ Zusammen mit Stenmark wälzte Mac Pellew ein paar der Schildkröten auf den Rücken. Damit waren sie mattgesetzt und konnten nicht mehr fliehen. Pete Ballie, Hasards alter Rudergänger, ein stämmiger Kerl, grauäugig und blondhaarig, hatte ein Stück Strand nach Osten erforscht und einen Bach entdeckt, der in die sanft geschwungene Bucht mündete. Süßwasser! Hasard befahl, die leeren Fässer dorthin zu mannen. Dann blieben Matt Davies und Pete Ballie zurück, um die Fässer zu füllen. Stenmark half inzwischen Mac Pellew, die Schildkröten zu schlachten. Mit den anderen Männern brachen Drake und Hasard auf, um die Insel zu erkunden. Sie stießen in das Dickicht vor, das sich hinter dem Sandstrand erhob. Ja, der herrliche Sand war paradiesisch gewesen,
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aber der Wald, ein lianenverfilzter Verhau, erwies sich feindlich. Der bullige Carberry hackte mit dem Entermesser eine Gasse durch das urwaldähnliche Gehölz, begleitet von dem wütenden Gekreisch fremdartiger bunter Vögel. Nach fünf Minuten war er schweißgebadet, zerquetschte eine Spinne, die an seinem Hals hing, und sparte nicht mit kräftigen Flüchen. Insekten tanzten um sie herum, unter dem dichten Dach der Baumriesen war es schwül, es roch modrig, und nur wenige Sonnenstrahlen durchbrachen das dämmerige Halbdunkel. Batuti löste Carberry ab. Der herkulische Schwarze fand sich in diesem Irrgarten besser zurecht. Nach einer Viertelstunde entdeckte er einen Wildpfad, der durch eine Lichtung führte und schräg an einer Anhöhe entlang nach oben verlief. Zu dieser Zeit waren sie alle durchschwitzt und mit Insektenstichen übersät Hasard wandte sich zu Kapitän Drake um, als sie alle verschnauften. Aber das Stehenbleiben war fast noch schlimmer als das Vorwärtskämpfen. Alle schlugen um sich, um .die Quälgeister zu vertreiben. „Ich würde umkehren, Sir“, sagte Hasard. Drake fluchte; was sonst nicht seine Art war. „Vorwärts!“ sagte er keuchend. „Oben ist es immer besser als unten, das weiß ich. Damals, oben in Panama, war es das gleiche. Man muß erst einmal aus den Niederungen heraus, das ist alles.“ Batuti nickte. „Kapitän hat recht. Oben nicht mehr so schlimm, Sir.“ Hasard knirschte mit den Zähnen und schlug ein Insekt platt, das sich auf seinem linken Handrücken festgesetzt hatte. Das Biest war bereits mit Blut vollgesogen, und dementsprechend sah jetzt sein Handrücken aus - blutbespritzt. Verbissen setzten sie sich wieder in Marsch. Hasard schwor sich, niemals auf diese Art in ein unbekanntes Land einzudringen. Sie hätten am Strand entlanggehen können. Da war zum Beispiel der Bach, den Pete entdeckt hatte. Wenn er flach war, konnte man in dem
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Bach selbst hochsteigen und hatte dabei noch den Vorteil, zumindest kühle Füße zu haben. Hasard erinnerte sich an die Bergbäche daheim in Cornwall, in denen er Forellen mit der Hand gefangen hatte. Aber England und Cornwall und Falmouth und Arwenack waren jetzt weiter weg als der Mond. Gwendolyn Bernice O'Flynn auch. O du armer Irrer, dachte Philip Hasard Killigrew. Der gefiederte Pfeil war plötzlich Wirklichkeit. Er sah ihn nur als ein huschendes Etwas, das dicht vor seinen Augen vorbeiraste. Noch während Hasard das sah, lag er flach. Er starrte nach rechts hoch. Dort steckte der Pfeil mit den Vogelfedern am Schaftende und wippte federnd im Holz eines Baumes. Sekunden später steckte unter ihm ein zweiter. Männer brüllten. Hasard warf sich im Liegen herum. Big Niels stand breitbeinig und nach hinten gekrümmt zwei Schritte neben ihm. Seine Arme waren gespreizt, als solle er ans Kreuz genagelt werden. Mitten in seiner Brust steckte ein Pfeil. Mehr als eine Handbreite tief, schätzte Hasard und wunderte sich, daß die Spitze nicht schon am Rücken des Dänen herausschaute. Francis Drake brach mit einem Pfeil in der Hüfte zusammen. Ein zweiter, offensichtlich abgebrochen, steckte unter seinem rechten Auge in der Wange. Außerdem blutete er aus einer Oberarmwunde. Hasard schnellte sich im Liegen auf Big Niels zu und riß ihn zu Boden. Dabei raste ein zweiter Pfeil durch dessen Schulter. Big Niels keuchte und bäumte sich auf. „Runter!“ brüllte ihn Hasard an. Big Niels sackte zusammen. Hasard schrie vor Wut, als er sich umsah. Keiner seiner Männer schien unverletzt. Dort lag Smoky und zerrte sich einen Pfeil aus dem Arm. Da krümmte sich Batuti und umklammerte seinen Unterschenkel. In der Schulter von Gary Andrews steckte ein Pfeil. Al Conroy hatte ein blutüberströmtes Gesicht. Diego, der
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schwarze Diener Francis Drakes, war nur so gespickt mit Pfeilen. Edwin Carberry lag auf dem Bauch und versuchte einen Pfeil aus seinem linken Schulterblatt zu ziehen. Diese verdammte Insel! Hasard zog den Dänen zu sich heran und drückte ihn in eine Bodenfalte. Big Niels röchelte. Pfeile zischten links, rechts vor und hinter Hasard durch die Luft, schlugen in den Boden oder klatschten in Holz. Hasard spähte nach oben. Sie hockten dort im Gehölz, fast unsichtbar, nur die Blätter der Zweige bewegten sich, wenn die Pfeile abgefeuert wurden. Hasard zog die doppelläufige Radschloßpistole aus dem Gürtel und machte sie schußfertig. Eine halbe Minute später visierte er die Oberkante eines Bogens an, der aus den Blättern herausragte. Und dann zog er durch. Oben schrie jemand auf. Eine Gestalt brach durch das Gehölz, überschlug sich und rollte den Abhang hinunter. „Sind Sie wahnsinnig?“, schrie Francis Drake. „Leck mich am Arsch“, murmelte Hasard und peilte einen Strauch an, hinter dem sich etwas heftig bewegte. Jemand warf sich neben Hasard zu Boden. Smoky. Er grinste verzerrt. „Greifen wir an, Hasard?“ Noch jemand prallte fast zwischen sie — Ed Carberry. '„Die Schweine mach ich fertig!“ keuchte er. „Ich auch!“ stieß Hasard hervor. Er richtete sich etwas auf, und genau in diesem Moment erwischte ihn ein Pfeil, den einer der Araukaner von oben abgefeuert hatte. Der Pfeil streifte sein Gesicht und schlitzte die Haut von Hasards oberer rechter Stirnhälfte nach unten über die linke Augenbraue und linke Wange auf. Unter seiner Achsel hindurch schlug der Pfeil in den Boden. Eine Blutfurche platzte schräg über Hasards Gesicht auf. Ein Hautlappen hing über seinem linken Auge, aus dem Riß schoß im Nu Blut und strömte über sein Gesicht.
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Hasard fluchte, wischte sich das Blut aus dem Auge und feuerte einen zweiten Schuß ab. Gleichzeitig krachten die Musketen Smokys und Carberrys. „Zurück!“ brüllte Francis Drake. „Das ist ein Befehl, Mister Killigrew!“ „Scheiße“, sagte Ed Carberry sehr laut und deutlich. Er grinste Hasard an, während er seine Muskete nachlud. „Hauen wir die Kaffer da oben in die Pfanne?“ „Witzlos, Ed“, sagte Hasard. „Bevor wir oben sind, spicken die uns mit ihren Pfeilen zu Igeln. Es hat keinen Zweck. Wir sitzen am schlechteren Ende. Der Alte hat recht — Rückzug.“ Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht. „Los, hau ab. Nimm auch den Alten mit, er hat einen Pfeil in der Hüfte. Paß auf ihn auf.“ „Und du?“ „Ich schnapp mir Big Niels. Smoky bleibt bei mir. Was ist mit Diego?“ Er blickte sich um und sah, daß sich bereits Batuti um ihn gekümmert hatte – auf Batuti war Verlaß. Diego hing über seinem Rücken, und Batuti stürmte den Pfad, den sie geschlagen hatten, hinunter. Drake humpelte hinter ihnen her. „Vorwärts Ed, hau ab. Der Alte ist schon auf dem Weg!“ Carberry nickte, schnellte hoch und raste los. Gary Andrews und Al Conroy zögerten noch. Sie wollten Hasard nicht im Stich lassen. „Al! Gary! Ab mit euch!“ schrie Hasard ihnen zu. Sie zeigten klar. Gary Andrews riß noch seine Muskete hoch und feuerte nach oben. Dem Gebrüll nach hatte er einen Treffer erzielt. Für einen Moment stockte der Pfeilregen. Sie nutzten die Gelegenheit und hetzten den Pfad hinunter. Hasard wuchtete sich mit Hilfe Smokys den schweren Dänen auf die Schulter, stemmte sich hoch und lief geduckt los. Hinter sich hörte er Smoky keuchen. Unterhalb des Hanges warf er einen kurzen Blick nach oben. Da wimmelte es von Araukanern. Offensichtlich zögerten sie, ihnen nachzusetzen. Sie schienen Angst vor den Feuerwaffen zu haben.
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Wieder nahm sie die stickige Schwüle des Urwalddickichts auf. Hasard sah nur mit dem rechten Auge. Links störte ihn das verdammte Blut. Die blutgierigen Insekten fielen in dichten, ekelhaften Schwaden über ihn her. Immer wieder fuhr er sich mit der Rechten über das Gesicht, streifte sie ab, schlug um sich. Der Schweiß lief ihm in Strömen vom Körper und stand ihm regelrecht in den Langschäftigen. Carberry wartete und blickte ihm entsetzt entgegen. „Mann, du siehst ja fürchterlich aus. Ist dein Auge verletzt?“ „Nur Blut.“ Hasard pumpte keuchend nach Luft. „Gib Big Niels her“, sagte Ed Carberry, „los, mach schon!“ „Und deine Schulter?“ „Scheiß auf die Schulter, Sir.“ Carberry übernahm den dänischen Brocken von Mann, der jetzt bewußtlos war, und lief los. Hasard spähte zurück und lud seine sächsische Reiterschloßpistole. Durch die Gasse, die sie sich geschlagen hatten, konnten ihnen die Indianer nur einzeln folgen. Sie war zu schmal. Hasard schmiegte sich hinter einen mächtigen Baum. Smoky hockte hinter einem gestürzten Urwaldriesen, die Muskete nachgeladen und im Anschlag. Er ahnte, was Hasard vorhatte –zumindest noch einmal zurückzuschießen. Ein Killigrew ließ sich nicht auf die Füße treten, ohne zurückzuzahlen. Außerdem mußte der Rückzug gedeckt werden, falls die Araukaner tatsächlich folgen sollten, und jetzt hatten sie hier den Vorteil der besseren Position. Hasard dachte ähnlich wie Smoky. Und er dachte daran, daß dieser Inselbesuch für sie alle hätte tödlich ausgehen können. Drakes Liebeswerben um die Araukaner war mit Feindschaft beantwortet worden. Hasard vermutete, warum. Die Indianer hielten sie tatsächlich für Spanier. Bärtige, weißhäutige Männer auf Segelschiffen konnten nur Spanier sein. Was wußten sie von Europa und den Mächten, die dort um die Herrschaft rangen! Nichts, sie konnten
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es nicht wissen. Engländer? Was war das für ein Stamm? Die Pfeilwunde brannte wie Feuer. Hasard hatte die Pfeilspitze gesehen – scharfkantige, gezackte Knochen. Wenigstens waren sie nicht vergiftet. Davon hatte er auch schon gehört. Ein Schatten tauchte hinten in der Gasse auf, sicherte einen Moment und glitt weiter. Smoky wandte den Kopf und blickte Hasard an. Hasard schwankte einen Augenblick. Sie konnten den Kerl glatt abschießen. Aber dann schüttelte er den Kopf. Er packte die Reiterschloßpistole am Lauf und hob sie etwas an. Smoky nickte verstehend. Er würde aufpassen, ob weitere Indianer folgten und sich um sie kümmern. Der Indianer hatte ein breitflächiges Gesicht und eine Knopfnase. Ein Pfeil lag auf der Sehne seines Bogens. Er pirschte sichernd näher, lautlos wie eine Katze. Erst als er schon ganz dicht heran war, hörte Hasard ein leises Knacken unter einer Fußsohle des muskulösen Mannes. Eine Stechmücke saugte sich auf Hasards linker Wange mit Blut voll. Er hielt still. Innerlich kochte er. Der Indianer glitt an Hasards Baum vorbei. Hasard sprang ihn wie ein Panther an und donnerte ihm den Pistolengriff auf den Schädel. Wie vom Blitz getroffen brach der Indianer zusammen. Hasard zerschlug seinen Bogen an einem Baum und warf ihn neben den Indianer. Smoky grinste breit. Die Gasse blieb leer. „Weg!“ zischte Hasard. Sie liefen weiter und erreichten zehn Minuten später den Strand. Das Boot schwamm bereits. Hasard 'stürzte sich ins Wasser und tauchte, Smoky planschte neben ihm. „Jetzt baden die noch!“ rief Francis Drake. „Beeilung, Mister Killigrew, wir haben zwei schwerverletzte Männer!“ Hasard und Smoky wateten an das Boot heran und jumpten hinein. In der Bilge schwappte blutiges Seewasser. Diego und Big Niels lagen achtern, bewußtlos,
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blutüberströmt. Keiner der Männer war unverletzt. Carberry stieß den Bootshaken in den Grund und schob das Boot in tieferes Wasser. Dabei blickte er Hasard beschwörend an und zwinkerte mit dem rechten Auge. Mit dem Kopf deutete er zum Strand. Hasard sah sich um. Da war nichts. Der Profos stöhnte, als habe er Schmerzen. Hasard kletterte über eine Ducht, um ihm den Bootshaken abzunehmen. „Idiot!“ flüsterte Carberry kaum vernehmbar. „Pete ...“ Die Stimme Kapitän Drakes war scharf wie eine Degenklinge: „Könnte dieser Kahn nun endlich in Bewegung gesetzt werden?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Hasard und stieß das Boot mit einem gewaltigen Ruck in das Tiefwasser. „Klar bei Riemen, Männer!“ Er stieg nach achtern, um die Ruderpinne zu übernehmen. Als er sich umdrehte, erstarrte er. Jetzt wußte er, was Carberry hatte sagen wollen. Pete Ballie und Matt Davies fehlten! Er fuhr zu Kapitän Drake herum, der achtern neben ihm auf der Steuerbordseite der Ducht saß. „Zwei meiner Männer fehlen, Sir!“ „Weiß ich.“ Drakes Gesicht mit der Wunde unter dem rechten Auge war grau und steinern unter den Blutstreifen. „Und?“ schrie ihn Hasard an. „Schauen Sie mal zum Strand, Mister Killigrew.“ Sie brachen gerade aus dem Wald hervor — mindestens fünfzig, sechzig Indianer. Ein Pfeilregen schwirrte los. Aber da krachten auch schon Musketenschüsse von der „Golden Hind“. Drei, vier Indianer taumelten und liefen schreiend in die Deckung des Waldes zurück. „Feuer einstellen!“ brüllte Kapitän Drake zur „Golden Hind“ hinüber. Hasard biß die Zähne zusammen. „Ruder an!“ befahl er. Es ruderten nur noch Carberry, Al Conroy, Gary Andrews, Batuti, Stenmark, Mac Pellew und Smoky.
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Hasard blickte über die Schulter zurück. Die Indianer hatten den Strand wieder geräumt und waren im Wald verschwunden. „Sie haben sich ziemlich Zeit gelassen, Mister Killigrew“, sagte Kapitän Drake scharf. „Richtig“, erwiderte Hasard fast ebenso scharf. „Ich habe mir erlaubt, einem Indianer, der uns folgte, meine Pistole über den Schädel zu schlagen.“ Der Kapitän zog es vor, dieses Mal zu schweigen. Verbissen starrte er vor sich hin. Hasard steuerte das Boot zur „Golden Hind“, ging um das Heck herum und auf der Backbordseite, die dem Land abgewandt war, längsseits: Big Niels und Diego wurden nach oben gemannt,. dann folgten zwei Wasserfässer und die geschlachteten Schildkröten mit den Rückenpanzern. Hasard verließ als letzter das Boot. Die Kuhl war zum Lazarettplatz geworden. Mac Pellew und der Kutscher kümmerten sich um die Verwundeten. Um den Neger Diego stand es schlimm. Drake kniete bei ihm und hielt seinen Kopf, während Mac Pellew versuchte, die Pfeile, die zum Teil abgebrochen in dessen Körper steckten, herauszuziehen. Blut lief über die Planken. Das Gesicht des Negers war grau und verzerrt. Er war aufgewacht und stöhnte vor Schmerzen. „Ruhig, mein Junge, ganz ruhig“, murmelte der Kapitän und strich dem Neger über die Stirn. Die Männer, die zurückgeblieben waren, standen bedrückt herum. Arwenack, der Schimpansenjunge, hockte zusammengekrümmt auf dem Kombüsendach und war ganz still, als spüre er die Nähe des Todes. Hasard goß sich einen Eimer Salzwasser über den Kopf. Ben Brighton säuberte ihm die Pfeilwunde mit einem sauberen Leinenlappen. Hasard verbiß sich die Schmerzen. „Das hätte ins Auge gehen können“, sagte Ben Brighton leise, „mein lieber Mann, direkt über die Augenbraue weg.“ Er
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drückte den Hautlappen fest und wickelte Hasard einen Leinenstreifen um Stirn und Schädel. An der Balustrade des Achterdecks über ihnen erschien Francis Fletcher, der Kaplan, und breitete die Arme aus. „Die Heiden sind über uns gekommen!“ rief er. „Ich aber sage euch aus der Offenbarung des Johannis die tröstlichen Worte: So jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden!“ Hasard starrte wütend zu ihm hoch: „Mister Fletcher, Ihr Geschick, am unpassenden Ort und zur unpassenden Zeit auch noch etwas Unpassendes zu verkünden ist bewundernswert. Im übrigen darf ich Sie darauf hinweisen, daß Kapitän Drake anordnet, wann Sie Sprüche klopfen dürfen. Das scheint Ihnen mal wieder entfallen zu sein.“ Zu dieser Zeit starb Diego. Acht Minuten später folgte ihm der Däne Big Niels auf dem dunklen Weg ins Jenseits, und Mac Pellew drückte ihm die Augen zu. Er dachte an ihren Disput wegen der „Tante“ und fluchte erbittert in sich hinein. Jetzt hatte er fast Gewissensbisse, daß er Big Niels vor einem Jahr die schwarzhaarige Lady mit dem prallen Busen ausgespannt hatte. „Der Herr sei dir gnädig“, murmelte Mac Pellew, und das klang ehrlicher und frommer als Kaplan Fletchers Bibelsprüche. Patrick Evarts, der Segelmacher, nähte die beiden Toten in grobes Segeltuch ein. Am Nachmittag sollten sie der See übergeben werden. Hasard stand am Schanzkleid und starrte finster zur Insel hinüber. Neben ihm räusperte sich Stenmark. Hasard drehte sich zu ihm um. Der Schwede war fast lautlos zu ihm getreten. Hasard sagte: „Du warst doch mit Mac beim Boot, nicht wahr, Stenmark?“ Der Schwede nickte. „Wir verstauten die Schildkröten und außerdem die Wasserfässer, die Matt und Pete Ballie bereits gefüllt hatten.“ „Etwas verstehe ich nicht“, sagte Hasard. „Sie müssen die Schüsse gehört haben.
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Warum sind sie nicht sofort zum Boot zurückgelaufen?“ „Das wollte ich dir gerade sagen“, erwiderte Stenmark. „Sie hatten festgestellt, daß das Wasser in der Strandnähe zu brackig gewesen war. Darum wollten sie weiter bachaufwärts die Fässer füllen.“ „Weiter bachaufwärts? Verdammt, dann haben sie wahrscheinlich den Rückzug nicht mehr geschafft ...“ So ungefähr hatte Hasard recht. 4. Das Wasser war immer klarer und erfrischender geworden, je weiter Matt Davies und Pete Ballie aufstiegen. Sie hatten jeder ein leeres Faß auf dem Buckel und balancierten über Steine und angeschwemmtes Geröll bachaufwärts. Das Wasser reichte ihnen an einigen Stellen über die Knie oder auch weiter, je nachdem, wie der Grund ausgespült war. Der Bachverlauf folgte dem Weg des geringsten Widerstandes. Das ergab ein sich schlängelndes Bachbett, das ständig die Richtung wechselte. Klar, die beiden hatten an einer tieferen Stelle bereits ein ausgiebiges Bad genommen, um endlich das klebrige Salzwasser der letzten Monate abzuspülen. Dabei hatten sie sich aufgeführt wie ausgelassene Jungen, die in den Waschzuber gesteckt werden. Für Matt Davies und Pete Ballie war die Welt rundum in Ordnung, wenn sie davon absahen — wie Pete Ballie grinsend feststellte —, daß in dem Bach leider keine nackten Nymphen herumhüpften. Das wäre natürlich die Krone der Glückseligkeit gewesen. „O Mann“, hatte er gesagt, „was, meinst du, wie ich's denen gegeben hätte!“ Dann hatten Sie die Schlucht erreicht, die der Bach in Jahrtausenden fleißig und unermüdlich gegraben hatte. Links und rechts von Ihnen hatte sich der Bach durch Felsen und Erdreich gefressen. Die Schluchtwände waren rissig und ragten an die sechs Yards hoch. Sie waren von
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bizarren Wurzeln durchsetzt, die das Erdreich zusammenhielten. Mitten in dieser Schlucht passierte es. Westlich von ihnen, seltsam verzerrt, wehte der Wind Schreie herüber, denen kurz darauf Schüsse folgten. Pete Ballie, der Matt Davies im Bachbett voranstieg, drehte sich um — gebückt, das Faß im Kreuz. „Hast du gehört? Ich glaub, wir kehren besser um.“ Matt Davies grunzte So etwas wie einen Fluch, setzte sein Faß auf einen rundgeschliffenen Stein im Bachbett und reckte aufatmend die breiten Schultern. Als er zurückblickte, erstarrte er. Hinter ihnen war die Schlucht abgeriegelt. Drei Indianer standen im Bach, zwei links auf dem Land und zwei auf der anderen Seite. Ihre Kriegsbogen waren angehoben und gespannt. Die Pfeile auf den Sehnen waren bereit zum Schuß und auf die Entfernung von etwa dreißig Yards bestimmt nicht harmlos. Also Flucht bachaufwärts. Matt Davies wirbelte herum, genau wie Pete Ballie, der zu dem gleichen Schluß gelangt war. Aber oberhalb der Schlucht standen sie ebenfalls mit gespannten Bogen. Deren Pfeile würden aus der Überhöhung nicht mehr harmlos, sondern tödlich sein. Aber sie schossen noch nicht. Sie standen wie Salzsäulen, die Waffen im Anschlag, lauernd, Auge und Pfeilspitze und Endpunkt der Sehne in genauer Schußlinie auf die Leiber der beiden Engländer gerichtet. „Das ist der Tag des Herrn“, sagte Matt Davies und setzte sich auf sein Faß. Pete Ballie, wie Matt mitten im Bachbett, schwang ebenfalls sein Faß von der Schulter und ließ sich darauf nieder. „Weißt du“, sagte Matt Davies, „wir tun überhaupt nichts. Wir bleiben hier sitzen und pulen in der Nase.“ „Dann pul man“, sagte Pete Ballie und hatte Mühe, das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. „Wir sitzen in der Scheiße, und gleich spicken die uns mit ihren
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verdammten Pfeilen und braten uns anschließend über dem Feuer.“ Matt Davies blickte zum Eingang und zum Ausgang der Schlucht und schüttelte den Kopf. „Bis jetzt haben sie uns noch nicht gespickt“, brummte er. „Die warten auf was.“ „Und auf was?“ Matt Davies zuckte mit den Schultern. „Vielleicht darauf, daß wir zu jammern anfangen und in die Hosen machen.“ Pete Ballie seufzte. „Ich glaub, davon bin ich gar nicht weit entfernt.“ „Untersteh dich. Paß auf, wir schmeißen denen da unten unsere Fässer vor die Schnauze und brechen durch.“ „Ha-ha“, sagte Pete Ballie. „Und von hinten ballern sie uns ihre Pfeile ins Kreuz, wie?“ „Da hast du auch wieder recht“, sagte Matt Davies verdrossen, stand auf und schüttelte seine Hakenprothese drohend gegen die Indianer unterhalb der Schlucht. „Haut bloß ab, ihr krummbeinigen Affenärsche, oder ich vergeß mich und reiß euch die Gurgeln auf!“ Die Indianer wichen zwei, drei Schritte zurück und starrten fasziniert zu ihm hoch. Dann schnatterten sie erregt. „Verstehst du das?“ fragte Pete Ballie verblüfft. „Nee“, sagte Matt Davies und brüllte: „Ihr Hurensöhne, ihr verlausten Rübenschweine, ihr Bettnässer, Hosentrompeter, Pißameisen, ihr verluderten Galgenvögel, stinkigen Miesmuscheln, vergammelten Puffmatratzen und verwanzten Vogelscheuchen, ihr Hurensöhne ...“ „Du wiederholst dich“, sagte Pete Ballie, „aber das kapieren die sowieso nicht. Zeig ihnen noch mal deinen Haken.“ Matt Davies reckte den Hakenarm hoch und schlug ihn in eine Baumwurzel in der Schluchtwand. Ein Ruck! Die Baumwurzel zerbrach, Erdreich löste sich und fiel klatschend in den Bach. „Ha!“ sagte Pete Ballie. „Schau mal, wie die glotzen! Die sind ganz. weg. Weißt du
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was? Die halten dich für einen Zauberer öder so was.“ „Das möchte ich den Idioten auch geraten haben“, sagte Matt Davies und fing an, seine Prothese, die mit Riemen an seinem Unterarm befestigt war, abzuschnallen. „Nicht, Matt“, sagte Pete Ballie schnell. „Laß sie dran, sonst merken sie den Schwindel, und wir werden doch noch am Spieß gebraten.“ Matt Davies setzte sich wieder. Sie hatten beide schon in vielen Klemmen gesteckt, aber diese hier war so verrückt wie noch nie.' Damals, auf der spanischen Galeere, waren sie angekettet worden und hatten, so war es ihnen erschienen, das Ende ihres Weges erreicht. Aber dann war der Seewolf dagewesen und hatte sie herausgeholt. Hier jedoch? Die Indianer hatten Drake und Hasard und die anderen Männer überfallen, das war mal sicher. Hatte einer von ihnen den Überfall überlebt? Matt Davies wagte nicht weiterzudenken. Er streichelte seine Prothese, die er oft verflucht hatte. Jetzt verfluchte er sie nicht. Wenn Pete recht hatte, hatte sie in der augenblicklichen Situation den Wert eines Rettungsankers. Sie hockten auf ihren Fässern und schauten mal nach oben zum Schluchtausgang und mal nach unten. Wenn Matt Davies den rechten Arm mit der Prothese bewegte, wurden die Indianer unruhig und begannen zu schnattern. Aber die Bogen mit den Pfeilen blieben gespannt und nagelten Matt und Pete fest. „Ich hab Hunger“, sagte Pete Ballie. „Ich auch“, sagte Matt Davies. „Heute abend sollte es an Bord Schildkrötenfleisch geben.“ „Hör auf“, sagte Pete Ballie verzweifelt Matt Davies sinnierte. „War eine gute Zeit mit dem Seewolf, wie?“ „Ja“, sagte Pete Ballie, „eine verdammt gute Zeit.“ Er schüttelte den Kopf. „Und jetzt soll auf einmal Schluß sein? Glaubst du, daß jetzt Schluß ist?“ „Weiß nicht.“ Matt Davies spuckte ins Bachwasser und hob seine Prothese.
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„Bevor Schluß ist, mach ich noch ein paar von den Brüdern hin.“ „Wenn sie dich heranlassen.“ „Hm.“ Matt Davies blickte Pete Ballie an. „Wollen wir's mal versuchen?“ Er grinste schief. „Wir tun ganz freundlich und gehen auf die Brüder da unten zu. Wenn wir ganz dicht an ihnen dran sind, können die hinter uns nicht schießen, weil sie's dann riskieren müssen, ihre eigenen Leute zu treffen.“ „Und dann?“ „Kriegen sie Zunder.“ „Ein paar von ihnen haben Steinäxte, Matt“, sagte Pete Ballie. „Und ich hab meinen Haken. Du mußt eben deine Fäuste einsetzen. Ein Mist, daß wir unsere Waffen beim Boot gelassen haben. Du kannst ja einem von den Affen so eine Axt entreißen. Also, erst werfen wir ihnen die Fässer vor die Beine, und dann legen wir los.“ Pete Ballie seufzte. „Wenn das man gut geht.“ „Es muß“, sagte Matt Davies entschlossen und stand auf. „Ich hab den Zirkus hier satt, sonst sitzen wir morgen früh noch hier und müssen uns anglotzen lassen.“ Er schulterte das Faß und nickte Pete aufmunternd zu und setzte sich bachabwärts in Bewegung. Pete Ballie folgte ihm, das Faß unter dem Arm. In seiner riesigen rechten Faust verbarg er einen runden, handlichen Stein. Wenn er ordentlich zuschlug, war das so gut wie ein Hammer. Matt Davies begann zu palavern. Er erzählte den Araukanern, sie seien von Affen gezeugte Suffköppe und grinste dabei fröhlich. Die Indianer wurden ziemlich erregt. Matt Davies' Taktik klappte nicht. Die Indianer gingen zurück und ließen sie nicht näher als etwa fünfzehn Schritte heran. „Nun bleibt doch mal stehen, ihr blöden Säcke!“ sagte Matt Davies. Aber die Indianer dachten gar nicht daran. „Die haben Lunte gerochen“, sagte Pete Ballie. Er blieb stehen und drehte sich um. „Du meine Güte!“ rief er. „Matt, stopp mal, es hat keinen Zweck!“
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Matt Davies setzte das Faß ab und wandte sich um. Die Indianer vom Schluchtausgang waren ihnen gefolgt. Es waren acht, wie er erbittert feststellte. Es war alles wie vorher, nichts hatte sich verändert — die einen wichen zurück, die anderen folgten, und sie beide blieben immer in der Mitte, bedroht von auf den Sehnen liegenden Pfeilen. Matt Davies fluchte lange und ausgiebig. Zu allem Überfluß tauchten aus den Büschen und dem Gehölz beidseits der unteren Schlucht noch mehr Indianer auf und begannen so etwas wie einen Halbkreis zu bilden. „Was jetzt?“ fragte Pete Ballie. „Setzen!“ sagte Matt Davies und ließ sich auf sein Faß nieder. „Außerdem ist mir heiß geworden.“ Er zog sich mit dem Haken die Langschäfter aus und planschte mit den nackten Füßen im Bachwasser. „Das ist gut“, sagte Pete Ballie, „mir ist auch heiß.“ Aber er zog sich nicht die Stiefel aus, sondern das Hemd. Dann schöpfte er mit den hohlen Händen Wasser und warf es sich über den nackten Oberkörper. Er war nicht sehr groß, aber breit und stämmig gebaut. Unter seiner Haut spielten die Muskeln. „Ah!“ Er grunzte wollüstig, trank, gurgelte, spritzte und schaufelte sich immer neue Wassermassen über den Schädel und den Nacken. Die Indianer schauten zu. Ob sie die beiden weißhäutigen Männer für verrückt hielten, war ihren Mienen nicht zu entnehmen. Die Situation veränderte sich, als plötzlich der Häuptling aus den Büschen trat - jener Mann, dem Kapitän Drake den Zierdegen geschenkt hatte. Matt stieß Pete an. „He! Hör auf, Pete! Der Oberaffe ist aufgekreuzt.“ Pete wischte sich über das nasse Haar und trocknete sich mit dem Hemd ab. „Was der wohl will?“ Matt zog seine Stiefel wieder an und blickte dem Häuptling stirnrunzelnd und mißtrauisch entgegen. Die Miene des
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Häuptlings war keineswegs feindlich. Er trat näher und verbeugte sich. Matt Davies stand auf und verbeugte sich ebenfalls. „Du auch“, flüsterte er Pete Ballie zu. Pete zelebrierte einen Kratzfuß. Der Häuptling begann zu gestikulieren; Aus seinen Gesten wurde deutlich, daß Matt und Pete ihm folgen sollten. Beiden entging nicht, daß der Häuptling fasziniert Matts Prothese betrachtete. „Der ist auf deinen Haken scharf“, sagte Pete Ballie leise. „Deswegen haben uns die anderen Affen auch nicht abgeschossen. Sie sollten uns hier festhalten, bis er erscheint. Vielleicht wollen sie dich als großen Zauberer anheuern.“ Der Häuptling lächelte und winkte. „Wenn das so ist.“ Matt Davies nahm das Faß auf und packte es sich auf die Schulter. „Dann wollen wir mal.“ Der Häuptling strahlte und setzte sich in Bewegung. Matt Davies und Pete Ballie folgten ihm. Sie erreichten einen Trampelpfad, der ins Innere der Insel führte. Die Indianer schlossen sich ihnen an. Mißbilligend stellte Matt fest, daß ihre Pfeile immer noch auf den Sehnen lagen. Nach einer halben Stunde Fuß - marsch, wobei sie allmählich höher gestiegen waren, verließen sie den Waldgürtel.. Matt und Pete staunten. Sie gingen an Maisfeldern und kultiviertem Land vorbei. Stellenweise war der Urwald gerodet, aber noch nicht bebaut. Ein paar Indianer eilten voraus. Kurz darauf liefen ihnen Hunde und Kinder entgegen, dann tauchten auch Frauen auf. Pete und Matt zeigten grinsend die Zähne. Das war ja ganz hübsch, was ihnen da präsentiert wurde. In England zeigten die Ladys nicht soviel von dem, was Männerherzen erfreut. „Oh, oh“, sagte Matt Davies. „Vielleicht schenkt uns der Oberaffe so eine Tante. Schau mal, die links mit dem Krug auf dem Kopf! Ist das was? Da könnte ich glatt reinbeißen.“ Er winkte dem Mädchen zu. Das Mädchen kicherte, und Pete Ballie sah mit Entzücken, wie die Brüste der Indianerin wippten.
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Vor ihnen tauchte ein Hüttendorf auf. Immer mehr Indianer strömten zusammen, flachbrüstige alte Weiber mit ledernen Gesichtern, junge, schön gewachsene Mädchen, Kinder, Krieger, alte Männer, die zahnlos grinsten, und überall in einer Vielzahl kläffende Hunde. Matts Prothesenhaken war der große Magnet. Sie zeigten darauf und schnatterten durcheinander. Nichts Bösartiges war in ihren Mienen. Sie verhielten sich wie Kinder, die ein neues Spielzeug erhalten haben. Der Zug mit dem Häuptling und den beiden faßschleppenden Engländern an der Spitze erreichte einen bewässerten Schutzgraben, über dessen erhebliche Breite ein Steg führte. Der Häuptling winkte und ging voraus. Sie überquerten den Steg, der so gebaut war, daß er jederzeit eingeholt werden konnte. Aber das war nicht die einzige Sicherheitsmaßnahme. Etwa zehn Yards hinter dem Wassergraben standen dicht an dicht in den Boden gerammt Pfahlpalisaden, etwa mannshoch, und umgaben das Hüttendorf. Dieser Ort war eine kleine Festung, wie Matt und Pete feststellten. Matt wurde wieder mißtrauisch. Wenn es den Indianern so paßte, konnten sie ihn und Pete bis ans Ende aller Tage in dem Hüttendorf festhalten. Der Eintritt durch die Palisaden war schmal und konnte ebenfalls jederzeit mit einem Pfeilgitter, das innen an den Palisaden lehnte, geschlossen werden. Der Häuptling führte sie in die Mitte des Hüttendorfes - einem freien Platz - und klatschte in die Hände. Aus einer Hütte brachten Frauen winzige Schemel mit eigenartigen Verzierungen. Matt und Pete mußten sich setzen. Dann ließ sich auch der Häuptling nieder. Die Indianer hockten sich um sie herum. Als der Häuptling die Rechte hob, trat Schweigen ein. Der Häuptling begann eine Rede zu halten. Immer wieder deutete er auf Matts Hakenprothese, rollte mit den Augen und erzählte etwas, das Matt und Pete nicht
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verstanden. Sie begriffen nur, daß Matts Prothese großer Zauber war. Matt schnallte die Prothese ab und zeigte seinen Unterarmstumpf. Die Indianer rissen Mund und Augen auf. Ihre Mienen drückten ehrfürchtiges Staunen aus. Mit ein paar Griffen befestigte Matt die Prothese wieder, erhob sich und wies auf einen Holzklotz, der vor einer Hütte stand. „Herbringen!“ befahl er und winkte herrisch. „Nun bewegt euch schon, ihr faulen Säcke, sonst reißt euch Onkel Matt mit diesem Ding hier die Bäuche auf!“ Matt wurde ziemlich pampig, fand Pete. Zwar wurden sie nicht mehr von Pfeilen bedroht, aber heikel war die Situation trotzdem. Wenn Matt zu dick auftrug, konnte das übel ausgehen. Der Häuptling sagte etwas, und zwei Indianer sprangen auf, holten den Holzklotz, der sein Gewicht zu haben schien, und schleppten ihn zu Matt. Sie setzten ihn vor ihm ab und zogen sich hastig wieder zurück. Offensichtlich war ihnen Matts Haken nicht geheuer. Matt Davies rüstete sich zu einem Kraftakt. Er war ein kräftiger, breitschultriger Kerl, hart, zäh und von strotzender Gesundheit wie alle Männer, die Drakes Reise bis zu diesem Punkt der Erde durchgestanden hatten. „Was hast du vor?“ fragte Pete besorgt. „Zwei von den Affen haben den Klotz geschleppt“, sagte Matt. „Ich heb ihn allein hoch.“ „Mann, das schaffst du doch nicht. Wenn du uns blamierst, stecken die uns kleingeschnitten und gewürfelt in ihre Fleischtöpfe.“ „Pfff!“ machte Matt Davies und rief: „So, ihr verlausten Nußknacker, jetzt wird euch Onkel Matt mal zeigen, wo der Wind herpfeift!“ Er spreizte die Beine, schlug den Prothesenhaken mit einem kräftigen Hieb in den Klotz, ging etwas in die Knie, stemmte die Linke auf den Oberschenkel und lüftete den Klotz mit ausgestrecktem Arm an — bis in Schulterhöhe. So trug er ihn zu der Hütte zurück und schüttelte ihn dort wie einen lästigen Wattebausch vom
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Haken. Als der Klotz auf die Erde plumpste, dröhnte der Boden. Ein bewunderndes Murmeln lief durch die Reihen der Indianer. „Jawohl!“ rief Matt Davies. „Und jetzt stellt euch vor, dieser Klotz sei die Rübe eures Oberaffen!“ Matt holte weit aus, als schwinge er einer Axt. Dann blitzte der Haken nach unten und krachte in den Klotz. Das Holz wurde in zwei Teile gespalten, die nach links und rechts wegkippten. Jetzt brüllten die Männer vor Begeisterung. Matt grinste und kehrte zu seinem Hocker zurück. Der Häuptling stand auf und verbeugte sich mehrere Male. Dann klatschte er in die Hände und rief etwas. Minuten später mußten sich Matt Davies und Pete Ballie der Völlerei hingeben. Ein paar Frauen brachten Maisfladen, Maiskuchen, gebratenen Fisch, heiße Maniokknollen sowie Yamswurzeln. Aus einem Krug schenkte der Häuptling eine Flüssigkeit in Holzschalen und bot sie den beiden zum Trinken an. „Chicha“, sagte er dabei und verdrehte die Augen. „Chicha.“ Er rieb sich den Magen, spitzte den Mund, grinste und schenkte sich selbst ein. Pete roch an der Schale und begann ebenfalls zu grinsen. „Das ist irgendein Schnapsgebräu, Junge“, sagte er. „Ho-ho?“ schrie Matt Davies und hob die Schale. „Auf Ihre Majestät, die königliche Lissy!“ „Auf die alte Lissy!“ schrie auch Pete Ballie. Sie kippten das Gebräu auf einen Zug hinunter. Was sie nicht wußten, war dies: Chicha war ein hochprozentiger, sehr scharfer Maisschnaps. Der Schnaps sengte durch ihre Kehlen und explodierte in ihren Mägen wie ein Musketenschuß. „Uaahhh“, röchelte Pete Ballie und schnappte nach Luft. Seine Augen wurden so groß wie Spiegeleier. Matt Davies erging es nicht viel besser. Die Indianer lachten sich halbtot und klatschten sich auf die Schenkel. Der
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Häuptling wieherte wie ein altes Schlachtroß, bis ihm das Wasser aus den Augen lief und er sich den Bauch halten mußte. Zum Trotz trank Matt Davies noch einen und noch einen, und Pete zog ordentlich mit. Das Zeug schmeckte von Mal zu Mal besser, und so blieb es nicht bei fünf und auch nicht bei zehn Schnäpsen. Matt sah den Häuptling doppelt und dreifach, stopfte sich gebratene Fische in den Mund und goß mit Chicha nach. Pete hielt immer kräftig mit. Als das Dorf auf dem Kopf stand, wußte Matt in seinem vernebelten Gehirn, daß er voll wie noch nie war. Außerdem versuchte er auf seinem Haken Handstand, und deswegen war das Dorf verdreht. Pete Ballie sang zwischendurch ein unanständiges Lied, das von einem Seemann handelte, der morgens in einem Hurenhaus erwachte. Zu der Zeit war der Häuptling auch nicht mehr nüchtern. Arm in Arm torkelte er mit Matt und Pete zum Gaudium seines Stammes zu einer Hütte, wo die beiden untergebracht wurden, um ihren Vollrausch auszuschlafen. Immerhin -sie lebten noch. 5. Am Nachmittag desselben Tages ging die „Golden Hind“ kurz ankerauf und lief ein Stück nach Westen von der Insel ab. Big Niels und Diego wurden der See übergeben. Mit aufgegeiten Segeln dümpelte die „Golden Hind“ auf den Wellen, während Francis Fletcher predigte und die beiden Segeltuchhüllen tiefer und tiefer sanken.“ „Männer der ‚Golden Hind` „, sagte er, während der Wind mit seinen dünnen, blonden Haaren spielte, „höret, was im Buch Sirach, im achtunddreißigsten Kapitel steht: Mein Kind, wenn einer stirbt, so beweine ihn, und klage ihn, als sei dir groß Leid geschehen, und verhülle seinen Leib gebührender Weise, und bestatte ihn ehrlich zum Grabe. Du sollst bitterlich weinen und herzlich betrübt sein und Leid tragen ... Gedenke an ihn; wie er
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gestorben, so mußt du auch sterben. Gestern war's an mir, heute ist's an dir.“ Der Kaplan räusperte sich. „Lasset uns beten und sprecht mir nach: Vater unser, der du bist im Himmel ...“ Der Chor der Männerstimmen hallte über das Schiff, während der Wind in den Wanten und Stagen sein Halleluja sang. Dieses Mal, so schien es, hatte der Kaplan die richtigen Worte gefunden. Aber als das Gebet verstummt war und die Männer zu Francis Fletcher aufschauten, erhob er noch einmal seine Stimme. Dabei stieß er seine rechte Faust in den Himmel. „Höret aus der Epistel des Paulus an die Epheser das sechste Kapitel, in dem da steht: Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in. der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ Der Kaplan senkte die Faust und klopfte auf das Holz der Querbalustrade. „Ich aber sage euch, wo die bösen Geister, von denen Paulus sprach, zu finden sind. Dort auf dieser verfluchten Insel!“ Er fuhr herum und zeigte mit ausgestrecktem Arm zur MochaInsel, die in der Nachmittagssonne lag. „Dort durchbohrten hinterlistige Pfeile der Mächte der Finsternis unsere teuren Kameraden. Dort aber schmachten auch zwei Männer von uns und erdulden die, Qualen, die- heidnische Geister für sie ersonnen haben!“ Fletchers Augen glühten. „Die Heiden fressen Menschenfleisch, sie ...“ „Amen!“ sagte Kapitän Drake scharf und deutlich. „Setzt die Segel. Wir laufen zu unserem alten Ankerplatz zurück. Mister Brighton, bitte klar zum Ankermanöver. Alle Männer auf ihre Stationen. Bitte, Mister Killigrew, übernehmen Sie das Schiff.“ „Aye, aye, Sir.“ Kommandos schallten über die Decks, die Männer eilten auf ihre Stationen. Stenmark übernahm das Ruder.
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Irgendwo in der Tiefe hinter ihnen blieben zwei Tote zurück. Francis Drake stand an der Reling des Achterdecks und starrte westwärts, dorthin, wo die Wellen des Pazifik über jene Stelle wanderten, an der die beiden Toten versunken waren. Niemand sah das Gesicht des einsamen Mannes, dessen Schultern gebeugt waren. Trauerte er? Der weiße Strand war so unberührt wie am Vortag, als die Ankertrosse ausrauschte und der Buganker ins Wasser klatschte. Nichts hatte sich verändert. Die Schildkröten waren wieder da und ebenso die Seevögel, Hasard ließ die Stationen aufklaren und die Ankerwache aufziehen. Dann ging er zu Kapitän Drake, der immer noch an der Achterreling stand. ' „Schiff liegt vor Anker, Sir“, sagte er. „Haben Sie irgendwelche Befehle?“ „Danke, Mister Killigrew. Die Männer sollen sich ausruhen. Ich lasse Mister Carberry, Mister Brighton, Mister Tucker und Mister Evarts in meine Kammer bitten. Sie natürlich auch und Mister Fletcher, Kapitän Moone, Mister Doughty. Sagen Sie den Gentlemen, daß ich sie in zehn Minuten erwarte.“ „Aye, aye, Sir.“ Kapitän Drake humpelte zum Niedergang. Anscheinend bereitete ihm die Pfeilwunde in der Hüfte Schwierigkeiten. Hasard rief Stenmark und ließ durch ihn die Männer benachrichtigen, die Kapitän Drake sprechen wollte. Zehn Minuten später waren sie alle in der Kammer Drakes versammelt. Der Kapitän saß in einem lederbezogenen Sessel und ließ von dem jungen Tim Brewer aus einer Karaffe roten Wein in silberne Becher einschenken und servieren. Er trank den Männern zu und eröffnete das Gespräch, indem er sich an den Kaplan wandte. „Mister Fletcher“, sagte er sehr ruhig. „Ich danke Ihnen für die Bibelworte und das Gebet für die beiden Toten. Ich bewahre mich aber gegen die Verteufelung der Heiden, wie Sie es taten. Die Indianer haben sich nicht anders verhalten, wie wir
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es 'auch tun würden, wenn zum Beispiel die Spanier über die Küsten Englands herfielen. Indianer sind Menschen wie wir. Ich betone an dieser Stelle noch einmal, daß ich nicht die Absicht habe, diesen Menschen gegenüber Gewalt anzuwenden. Ist das klar?“ Der Kaplan lächelte spitz. „Zwei Tote, zwei Vermißte samt den Verwundeten Sie einbezogen, Kapitän - sind wohl eine sehr deutliche Sprache, nicht wahr?“ Drake lächelte. „Die Sprache von Männern, die ihre Heimat verteidigen, Mister Fletcher. Eine Sprache, die ich achte und verstehe. Sie sprachen - was die Indianer betraf - von Mächten der Finsternis und Menschenfressern. Können Sie das beweisen?“ „Aber Kapitän!“ empörte sich' Francis Fletcher. „Das ist doch klar. Man braucht sich diese halbnackten Wilden doch nur anzusehen, um sofort zu wissen, daß sie daß sie ...“ „Na?“ fragte Drake sanft. „Daß sie Teufel sind!“ Vor Erregung verschüttete der Kaplan Wein. „Ist ein völlig Nackter Ihrer Meinung nach dann ein Oberteufel, Mister Fletcher?“ fragte der Kapitän. „Natürlich!“ „Wie baden Sie eigentlich, Mister Fletcher? Steigen Sie mit Stiefeln und Hosen und Hemd und allem anderen in die Wanne?“ „Was für eine Frage! Natürlich nicht!“ „Sie Oberteufel“, sagte Kapitän Drake spöttisch. Der Kaplan fuhr zurück. „Aber das ist doch etwas ganz anderes, ich meine - ich also, das ist doch wirklich die Höhe. Sie können mich doch nicht mit diesen Wilden vergleichen! Das ist empörend!“ Der Kaplan schaute sich in der Runde um. „Gentlemen, ist das nicht empörend?“ Alle Männer grinsten ihn an - bis auf John Doughty, den Bruder des geköpften Thomas Doughty. Der saß da, als hätte er eine Qualle verschluckt. Der Kapitän wischte mit der Rechten durch die Luft. „Beenden wir dieses Thema. Es gibt Wichtigeres zu besprechen als die
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läppische Frage, ob Nackte Oberteufel sind.“ Er blickte Hasard an. „Es geht um Matt Davies und Pete Ballie. Sie sind nicht zu dem Boot zurückgekehrt. Dafür gibt es nur zwei Erklärungen. Entweder wurden sie daran gehindert, das heißt, gefangengenommen, oder aber sie wurden umgebracht. Wenn ich letzteres annehme, erübrigt sich jede weitere Maßnahme. Wir könnten sofort ankerauf gehen und weiter nordwärts segeln. Wurden die beiden aber gefangengenommen, stellt sich die Frage, was wir tun sollen. Deswegen habe ich Sie alle hierhergebeten. Mister Killigrew, möchten Sie sich dazu äußern?“ „Jawohl, danke, Sir. Ihre beiden Erklärungen über die Vermißten sind Hypothesen. Weder das eine noch das andere ist beweisbar. Weil es nicht beweisbar ist, bleibt meiner Ansicht nach nur eine Lösung, es nachzuprüfen. Die Frage, ob die beiden noch leben oder bereits umgebracht wurden, ist völlig nebensächlich für unsere Entscheidungen. Zwei Männer werden vermißt, das ist die Situation. Also müssen sie gesucht werden.“ „Eine klare Antwort“, sagte der Kapitän und nickte. „Eine Zusatzfrage, Mister Killigrew. Sollen wir wegen der beiden Vermißten weitere Menschenleben aufs Spiel setzen?“ Das war eine Kardinalfrage, und Hasard hatte gewußt, daß Kapitän Drake sie stellen würde. Damals, bei ihrem Landeunternehmen in Irland, hatten sie sich fast in der gleichen Situation befunden. Da war Batuti plötzlich verschwunden gewesen, und er, Hasard, war mit Drake aneinandergeraten. „Sir“, sagte Hasard, „Sie erinnern sich an die ähnliche Situation in Irland?“ „Allerdings.“ „Dann kann ich jetzt nur wiederholen, was ich damals sagte. Wir dürfen unsere Männer nicht im Stich lassen. Tun wir es, dann untergraben wir das Vertrauen, das sie uns entgegenbringen - von der Kampfmoral möchte ich erst gar nicht sprechen. Wir müssen uns auf Biegen und
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Brechen aufeinander verlassen können. Wird diese Maxime einmal verletzt, können wir abmustern. Wir wären es nicht wert, diese Männer zu führen. Daß es gute Männer sind, wissen Sie, Sir. An ihrer Treue und Loyalität haben Sie nie zu zweifeln brauchen. Genau darum ist es unsere Pflicht, nach Matt Davies und Pete Ballie zu suchen.“ „Danke, Mister Killigrew. Thomas, Ihre Meinung bitte.“ Thomas .Moone, der ehemalige Kapitän der kleinen „Benedict“, ein alter Vertrauter und Freund Drakes aus den Jahren ihrer ersten Freibeuterzüge in der Karibik, sagte kurz und knapp: „Mister Killigrew hat recht.“ Ed Carberry, Ben Brighton, Patrick Evarts und Ferris Tucker nickten bestätigend. Francis Fletcher schwieg beleidigt. Wahrscheinlich dachte er noch über die nackten Oberteufel nach. John Doughty, blaß und farblos, meldete sich zu Wort. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, die Augenbrauen arrogant hochgezogen. Er blickte den Kapitän an - die anderen waren führ ihn Luft. „Dieser Dingsda - äh - Davies ist doch der Kerl mit dem Haken, nicht wahr?“ „Allerdings“, sagte Kapitän Drake. „Ein widerlicher, roher Patron, genau wie der andere, dieser Tallie ...“ „Ballie, Pete Ballie“, unterbrach ihn der Kapitän. Seine Miene war eisig geworden. „Einer der besten Rudergänger, die je auf unseren Schiffen gefahren sind.“ „Nun ja, das mag schon sein.“ John Doughty wedelte wegwerfend mit der Hand, als verscheuche er eine Mücke. „Ich verstehe nicht, warum das Verschwinden dieser beiden Kerle ein solches Problem sein soll. Schließlich gehören sie ja zum niedersten Pöbel. Ich würde diesem Gesindel keine Träne nachweinen ...“ Hasard ging hoch wie eine Rakete. Stein Stuhl prallte hinter ihm gegen eine Querwand der Kapitänskammer und krachte zu Boden. Mit einem Satz war
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Hasard bei John Doughty, packte zu und riß ihn hoch. „Sie miese Ratte!“ schrie er ihn an. „Sie Jammerlappen! Unten in den Eisstürmen des Kaps haben Sie Ihre Koje vollgekotzt, während die Männer, die Sie hier zu verunglimpfen wagen, oben an Deck kämpften und ihr Letztes einsetzten, um das Schiff und damit auch Ihr dreckiges Leben zu retten. Ich schlage Ihnen die Zähne ...“ „Mister Killigrew!“ Drakes Stimme peitschte durch den Raum. „Dürfte ich Sie bitten, sich wieder zu setzen!“ Hasard stieß den zitternden Doughty in den Stuhl zurück und wirbelte herum. „Sir“, sagte er dann mit eisiger Schärfe, „ich verlange, daß sich dieser Mann entschuldigt.“ Drake lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. Seine Augen waren schmal geworden. „Sind Sie der Kapitän der ,Golden Hind', Mister Killigrew?“ „Nein.“ „Dann darf ich Sie bitten, sich zu mäßigen. Sie haben nichts zu verlangen. Eins möchte ich bei dieser Gelegenheit klarstellen. Heute vormittag, als wir mit dem Boot nach dem Überfall vom Strand ablegten und Sie bemerkten, daß Matt Davies und Pete Ballie nicht im Boot saßen, da sagten Sie wörtlich: Zwei meiner Männer fehlen, Sir! Ich darf Sie berichtigen. Nicht Ihre Männer fehlten, sondern meine Männer. Allenfalls hätten. sie von unseren Männern sprechen können. Diese Männer sind nicht Ihr Besitz, mein Besitz allerdings auch nicht, aber sie fahren hier an Bord der ,Golden Hind' unter meinem Kommando, nicht unter Ihrem. Ist das klar, Mister Killigrew?“ „Sehr klar, Sir”, sagte Hasard bissig. „Entschuldigen Sie meine Empörung darüber, daß Ihre Männer beleidigt wurden. Ich dachte auch an die beiden Toten. Wie sagte Mister Doughty? Gesindel, dem er keine Träne nachweinen würde. Big Niels -und Diego, Ihr persönlicher Diener, Sir, gehörten zu dem Gesindel. Als ein Mann, den Sie vom
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Vordeck aufs Achterdeck holten, darf ich mich wohl auch zum Gesindel rechnen.“ Er trat einen Schritt vor, berstende Wut schüttelte ihn. „Auch ich wurde damit beleidigt, Sir. Ich hätte nichts zu verlangen, sagten Sie? Da täuschen Sie sich. Mich nennt niemand Gesindel. Entscheiden Sie sich, ob Sie diese Beleidigung akzeptieren. Sie sind ja der Kapitän dieses Schiffes. Ihre Männer wurden von diesem Höfling beleidigt. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, dann steht es mir als freier Mann zu, mir Genugtuung zu verschaffen. Und das werde ich tun, so wahr mir Gott helfe!“ Das war eine Herausforderung. Philip Hasard Killigrew zwang Francis Drake, sich für seine Männer einzusetzen und die Beleidigungen Doughtys zurückzuweisen. Das bedeutete nach höfischem Ritus, daß er sich Doughty vor die Klinge holen würde. Das war sein Recht nach einer solchen Beleidigung. Die Zeit schien stillzustehen. Ein eisiges Schweigen herrschte in der Kammer des Kapitäns. Die grauen Augen Drakes wanderten von einem Mann zum anderen und hefteten sich schließlich auf John Doughty. „Sie haben jetzt die Gelegenheit, sich zu entschuldigen, Mister Doughty“, sagte er ruhig. „Aber - aber ich wollte doch niemand beleidigen“, sagte John Doughty. Seine Stimme zitterte. „Sie haben es aber“, sagte Francis Drake. „Dann - dann bitte ich vielmals um Verzeihung, es war wirklich nicht meine Absicht.“ Auf der Stirn Doughtys sammelten sich Schweißperlen. Der Kapitän nickte und blickte Hasard an. „Genügt Ihnen das, Mister Killigrew?“ „Danke“, sagte Hasard knapp und verächtlich. Er drehte sich um, hob seinen Stuhl auf und setzte sich. „Mister Doughty“, sagte der Kapitän. „Ich möchte Sie bitten, den Raum zu verlassen und im weiteren darüber nachzudenken, ob Ihr Verhalten gegenüber den Männern dieses Schiffes richtig ist. Vor allem sollten Sie endlich begreifen, daß auf See andere Gesetze gelten als an Land.
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Männer, die im Kampf gegen die Elemente und gegen den Feind ihr Leben einsetzen, und zwar an Bord eines Schiffes Ihrer Majestät, der Königin von England, sind weder niederster Pöbel noch Gesindel.“ John Doughty schlich aus der Kapitänskammer wie ein geprügelter Hund. „Zurück zu unserem Thema“, sagte der Kapitän. „Sie alle scheinen der Ansicht zu sein, Matt Davies und Pete Ballie müßten gesucht werden -Verzeihung, Mister Fletcher, Sie wollten etwas sagen?“ „Jawohl, Kapitän.“ Der Kaplan blähte sich auf. „Ich meine, wir müßten eine Strafexpedition auf die Insel schicken.“ Drake seufzte. „Mister Fletcher, Sie scheinen schwer von Begriff zu sein. Ich will Frieden mit den Indianern. Eine Strafexpedition, wie Sie es nennen, lehne ich ab. Sie kostet Menschenleben. Außerdem gibt es nichts zu bestrafen. Ich sagte vorhin bereits, daß die Indianer lediglich ihr Land verteidigen, was nach meiner Rechtsauffassung nicht strafbar ist.“ Er blickte in die Runde, die Finger seiner Rechten trommelten auf der Sessellehne. „Hat einer der Gentlemen noch etwas zu dem Thema der Vermißten zu sagen?“ Hasard nickte. „Bitte, Mister Killigrew.“ „Mir ist gestern beim Besuch des Häuptlings hier an Bord aufgefallen, wie fasziniert er von Matt Davies' Hakenprothese war.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Ich stelle eine Gegenfrage“, erwiderte Hasard. „Würden Sie einen Menschen, der so eine Prothese trägt und Sie damit fasziniert, totschlagen, Sir?“ „Nein, aber ich bin kein Indianer. Ah, jetzt verstehe ich. Sie meinen, Matt Davies und seine Prothese sind für die Indianer so etwas Ähnliches wie ein Zauber, nicht wahr?“ „Ja, das meine ich. Und deswegen glaube ich, daß beide noch leben.“ Der Kapitän starrte nachdenklich vor sich hin. „Wir müssen die beiden herausholen“, sagte Hasard.
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„Ich will keinen Kampf. Zwei Tote sind schon zuviel“, erwiderte Drake verbissen. „Ich behalte mir die endgültige Entscheidung vor und ordne an“, er warf Hasard einen scharfen Blick zu, „daß niemand - ich wiederhole: niemand - ohne meine Genehmigung das Schiff verlassen darf. Haben Sie mich verstanden, Mister Killigrew?“ „Aye, aye, Sir.“ Hasard wußte, daß der Kapitän ihn damit an die Kette legen wollte. Ergrimmt mußte er sich fügen. Die Besprechung war beendet. 6. Zehn Minuten später stampfte Edwin Carberry ins Vordeck, bullig und grimmig wie eh und je. „Herhören!“ raunzte er. „Befehl des Kapitäns! Niemand darf ohne seine Genehmigung von Bord. Geht das in eure Affengehirne, ihr Rübenschweine?“ „Ha-ha“, sagte Smoky, „niemand darf von Bord! Soll das ein Witz sein? Wo sollen wir denn hin, wenn wir von Bord gehen? Etwa auf diese verdammte Insel da? Denkt der Alte vielleicht, wir wär'n scharf auf die Indianerweiber?“ „Der denkt an ganz was anderes.“ Carberrys Augen glitzerten. „So? An was denn?“ „Er ringt mit sich — wegen Matt und Pete. Der Seewolf will sie herausholen, er meint, daß sie noch leben. Aber der Alte hat nicht angebissen. Er hat sich die Entscheidung, was geschehen soll, vorbehalten. lind deswegen darf keiner von Bord, oder ich zieh ihm die Haut vom Hintern.“ Smoky saß an der Back auf der Steuerbordseite. Er blickte zu Stenmark, zu Blacky, Gary Andrews, Al Conroy, Dan O'Flynn, dem Kutscher und Batuti auf, die herangetreten waren und ihn umringten. „Schöne Scheiße, was?“ sagte er. „Hasard wollte Matt und Pete herausholen, aber der Alte hat abgeriegelt, verflucht, ist das hier ein bekackter Laden.“ Er stutzte und starrte Carberry an. „Der Seewolf meint, Matt und Pete leben noch?“ Carberry nickte.
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„Woher weiß er das?“ „Natürlich weiß er das nicht sicher, aber er meint, Matt mit seiner Prothese sei so etwas wie ein Zauber für die Indianer, und deswegen würden sie ihn nicht abmurksen.“ Smoky schnaufte erbittert. „Mann, und da überlegt der Alte noch lange, ob er Matt und Pete herausholen soll?“ „Er will keinen Kampf.“ Carberry grinste. „Also, keiner darf von Bord, oder ich zieh ihm die Haut vom Hintern.“ „Ja doch, du Büffel, das hast du schon mal gesagt und uns hängt's aus den Ohren raus.“ Carberry grinste immer noch und wiederholte ein drittes Mal „Ohne die Genehmigung des Alten darf niemand von Bord.“ Die Männer schauten sich an. Al Conroy tippte sich an die Stirn. Fast träumerisch sagte der Profos: „Ich frag mich, ob einer, der aus Versehen außenbords fällt, sich dafür vorher die Genehmigung des Kapitäns holen muß. Eigentlich nicht, oder? Also kann ich ihm nicht die Haut vom Hintern ziehen, er ist ja nicht mit Absicht von Bord gegangen, sondern unversehens gefallen. Niemand könnte einen solchen Menschen bestrafen, niemand, so wahr ich Edwin Carberry heiße.“ Jetzt begannen die Männer zu lauern. Der Profos, das alte Schlitzohr, wollte doch etwas ganz Bestimmtes. Carberry spann seinen Faden weiter und fixierte den Kutscher. „Der Mensch, der unversehens über Bord fällt, sollte tunlichst nicht schwimmen können, woraus folgert, daß ihm natürlich sofort zwei geübte Schwimmer hinterher springen, um ihn zu retten. Jemanden zu retten, ist auch nicht strafbar, so wahr ich Edwin Carberry heiße. Weil ja sofort gehandelt werden muß, können sich die beiden geübten Schwimmer auch gar nicht erst die Genehmigung des Kapitäns holen, ob sie außenbords springen dürfen. Sie springen einfach hinterher, nicht wahr?“ Die Männer nickten und lauschten verblüfft. Schau einer an, der alte Carberry,
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der schien da ein ganz verteufeltes Ding ausgeheckt zu haben. „Wie bekannt“, sagte Edwin Carberry, „setzt ein Strom nordwärts auf die Insel zu. Also, Männer, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß die beiden Schwimmer solche Idioten sind, mit dem Kutscher - ich meine, mit dem Nichtschwimmer, Verzeihung, gegen den Strom zurückzuschwimmen. Nein, solche Idioten sind das bestimmt nicht. Was tun sie also? Sie lassen sich mit dem Nichtschwimmer, den sie unter ihre Arme nehmen, zur Insel treiben.“ Carberry grinste breit. „Ja, und was passiert jetzt? Jetzt muß ein Boot die drei wieder vom Strand abholen. Leider dunkelt es zu der Zeit schon, wenn das Boot auf dem Strand aufläuft. Man könnte annehmen, daß man sich verfehlt. Wenn man sich verfehlt, sucht man sich - und schon ist man gemeinsam weg vom Strand! Hat man jetzt ohne Genehmigung des Kapitäns das Schiff verlassen? Ich sage nein, so wahr ich Edwin Carberry heiße.“ Hasards Männer begannen zu grinsen. Carberry sagte: „Da ich natürlich ganz zufällig auf der Kuhl wäre, wenn der Nichtschwimmer außenbords fällt, besetze ich auch gleich das Boot und erwarte, daß ein paar Kerle, die sich nicht in die Hose machen, sofort zu mir stoßen ...“ „Vorsicht, der Alte!“ flüsterte Dan O'Flynn scharf. Carberry donnerte die Faust direkt vor Smoky auf die Back, daß es nur so krachte. „Und jedem verdammten Hurensohn, der es wagt, wegen der beiden anderen verdammten Hurensöhne aufzumucken oder Nachforschungen anzustellen, dem schlag ich die Zähne ein!“ brüllte er. „Der Befehl des Kapitäns lautet, daß niemand von euch Affenärschen ohne seine Genehmigung das Schiff verlassen darf. Wer dem zuwiderhandelt, wird ausgepeitscht, gekielholt und an der höchsten Rahnock zum Zappeln gebracht! Ist das klar, ihr verlausten Stockfische?“ „Aye, aye, Sir, alles klar“, sagte Smoky und grinste.
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„Grins nicht so dämlich!“ fuhr ihn Carberry an. „Du siehst schon blöd genug aus.“ „Aye, aye, Sir.“ Smoky beugte sich über die Backskiste und fummelte in ihr herum, um nicht vor Lachen zu bersten. Der Kapitän stand im Vordeckschott und schüttelte den Kopf. „Mister Carberry, Sie sind etwas sehr laut, finden Sie nicht auch?“ „Manchmal sind die Bäckerburschen schwerhörig“, brummte der Profos. „So?“ fragte der Kapitän spitz. „Merkwürdig, daß ich kaum zu schreien brauche, wenn ich mich durchsetzen will.“ „Das ist ja auch was anderes, Sir.“ „Möchte wissen, was daran anders sein soll.“ Der Kapitän schüttelte wieder den Kopf und trat auf die Kuhl zurück. Carberry seufzte erleichtert. Der Kelch war an ihm vorübergegangen. Er hatte schon gedacht, der Kapitän hätte vielleicht mehr gehört, als zu vertreten war. Aber Dan O'Flynn hatte rechtzeitig gewarnt. Er zwinkerte den Männern zu und verließ das Vordeck. * Es ging auf den Spätnachmittag zu, als Hasards Männer in der Kombüse zusammenhockten. „Hör zu, Kutscher“, sagte Smoky, „es bleibt wie besprochen. Du fällst mit dem Holzkübel, in den ihr eure Abfälle tut, vom Schanzkleid und brüllst ordentlich. Dann springen Batuti und Dan hinter dir her. Da kann gar nichts passieren, verstehst du?“ „Aber wenn ich untergehe ...“ „Mann, wie oft soll ich dir das noch vorkauen. Du gehst nicht unter. Du umarmst einfach den Holzkübel. Holz schwimmt oben. Was meinst du wohl, warum unsere Schiffe aus Holz gebaut sind, he? Du umarmst also den Holzkübel genauso, wie du eine Tante umarmst, die du besteigen willst. Mac, gib mal den Kübel her.“ Mac Pellew war wieder miesgrämig. „Mit meinem Kübel? Und wo krieg ich 'n neuen her?“
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„Aus der Bottlerei, du Affe“, sagte Smoky. „Soll der Kutscher vielleicht ohne Kübel springen?“ „Mir doch egal, mit was der springt. Er kann sich ja ordentlich in die Hosen furzen, Luft trägt auch, sogar noch besser als Holz. Nein, meinen Holzkübel rück ich nicht raus, das ist gegen die Schiffsordnung.“ Smoky stöhnte. „Der redet von Schiffsordnung, wenn wir Matt und Pete von der Insel holen wollen, ist das noch zu fassen?“ „Das ist auch gegen die Schiffsordnung, das ist Meuterei, das ist eine Verschwörung gegen den Kapitän. Niemand darf von Bord. Der Kapitän hat das angeordnet.“ Mac Pellew wurde so richtig giftig. „Überhaupt, was habt ihr in meiner Kombüse zu suchen? Hier ist kein Platz für Rädelsführer und Meuterer. Los, verschwindet, oder ich rufe den Profos!“ Smoky grinste. „Na, dann ruf ihn mal, du dämlicher Hund. Und wenn dir der alte Carberry nicht die Knochen zerbricht, dann erledige ich das. Und dann zerstampf ich dich in dem Mörser da zu Fleischmus und füttere mit dir die Möwen.“ Smoky, der auf einer Kiste saß, stand auf und krempelte sich die Ärmel hoch. Dan O'Flynn, der am Kombüsenschott lehnte, purzelte plötzlich zurück, weil jemand das Schott geöffnet hatte. Carberry!. Grinsend schob er sich in die Kombüse und knallte das Schott hinter sich zu. „Hat mich jemand gerufen? Mir war so. Ich ging gerade draußen auf der Kuhl vorbei“, sagte er. Mac Pellew kriegte das Stottern. „Die - die wollen meutern, Profos.“ „Wer?“ Mac Pellew zeigte auf Smoky und die anderen. Carberry schob sich noch näher an Mac Pellew heran. „Hast du dich da nicht verhört, Mac?“ fragte er sanft. „Bestimmt nicht. Mit meinem Holzkübel soll der Kutscher außenbords springen. Mit meinem Holzkübel! Und der schwarze Affe .und die Rotznase sollen hinterher
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springen, um ihn zu retten. Das ist eine Verschwörung, Ed, eine Verschwörung, an der mein Holzkübel teilnehmen soll, aber ich bin kein Verschwörer, verdammt!“ „Nein, aber dämlich bist du, so dämlich, daß ich davon Zahnschmerzen kriege. Holzkübel! Du jammerst um deinen Holzkübel, deinen verdammten, und es kümmert dich einen Scheiß, ob Matt und Pete auf der Insel vielleicht verrecken!“ Carberrys Pranke schoß vor, verkrallte sich in Mac Pellews Hemd und drückte ihn zum Herd, wo über einer Kochstelle in einem Kessel ein Teil des Schildkrötenfleisches brodelte. „Smoky, rück mal den Kessel beiseite“, sagte Carberry brutal. „Ich glaub, der Hintern von diesem Affenarsch paßt genau in die Kochstelle.“ Smoky sprang vor, nahm einen Lappen und schob den Kessel zur Seite. In Carberrys eisernem Griff zappelte Mac Pellew. „Den Lappen!“ befahl Carberry. Smoky reichte ihm den Fetzen. Carberry griff mit der Linken zu. „Schrei mal, Mac“, sagte er. Mac Pellew riß den Mund auf. Carberrys Linke zuckte hoch. Noch bevor Mac Pellew losbrüllen konnte, stopfte ihm Carberry den Lappen in den Mund. „So, jetzt schrei, wenn du kannst!“ knurrte Carberry, lüftete den zuckenden und um sich schlagenden Mac Pellew an und setzte ihn schwungvoll auf die Kochstelle. Mac Pellew bäumte sich auf. Seine Äugen quollen hervor. Carberry hielt ihn wie in einem Schraubstock fest, bis Mac Pellews Hose zu qualmen begann. Carberry grinste, als er Mac Pellew wieder vom Herd hob. Er ließ ihn nicht los. „Du warst mal fällig, Mac“, sagte Ed Carberry. „Big Niels konnte es dir nicht mehr besorgen, aber ich. Erinnerst du dich, wie du mir deine Stiefelspitze unters Kinn geschlagen hast, als ich in der ,Bloody Mary' unter dem Tisch landete, unter dem du die schwarzhaarige Tante besteigen wolltest, du verlauster Hurenbock? Erinnerst du dich?“ Mac Pellew nickte.
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„Das war nicht sehr fein von dir, Mac“, sagte Ed Carberry. „Aber jetzt hier noch herumzumeckern und das Maul aufzureißen, weil Smoky und die anderen Matt und Pete suchen und von der Insel holen wollen, das ist so das Mieseste, was es unter Männern im Vordeck geben kann. Der Kutscher wird mit deinem Holzkübel ins Wasser fallen, ist das klar?“ Mac Pellew nickte wieder und rieb sich den Hintern. „Und du wirst deine Schnauze darüber halten, oder möchtest du noch einmal schmoren?“ Mac Pellew schüttelte den Kopf. Ed Carberry nickte zufrieden und zog mit der Linken den Lappen aus Mac Pellews Mund. „Dan“, sagte Ed Carberry, „flitz mal los und hol eine Pütz Seewasser, damit wir Macs Hintern wieder abkühlen können.“ Dan O'Flynn grinste, jagte los und kehrte nach vier Minuten mit einem Holzeimer zurück, der bis zum Rand mit Seewasser gefüllt war. Vorsichtig stellte er ihn ab. „Setz dich ,Mac“, sagte Carberry. Mac Pellew biß die Zähne zusammen und hockte sich auf die Holzpütz. Ed Carberry schaute sich um. „Sonst alles klar, Leute?“ „Alles klar, Ed“, erwiderte Smoky. Ed Carberry verließ die Kombüse, und Smoky zeigte dem Kutscher, wie er den Holzkübel umarmen sollte. Mac Pellew war es zum Heulen zumute – nicht wegen seines verbrannten Hinterns. Nein, er hatte begriffen, daß er sich wie ein Tölpel benommen hatte. Es ging um Matt Davies und Pete Ballie. Und er hatte wegen seines Holzkübels gezetert! Smoky blickte ihn einmal an. Aber er sah durch ihn hindurch, als sei er Luft. Ja, jetzt schnitten sie ihn, und das war schlimmer als die Hölle. 7. Im Westen neigte sich die Sonne als rote Scheibe dem weiten Horizont zu. Ihre letzten Strahlen warfen eine rote Bahn über den Pazifik.
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Die „Golden Hind“ schwoite sanft an ihrem Buganker. Der Abendwind fächerte von Südwesten heran. Das Heck des Schiffes zeigte schräg zur Insel. Auf der Backbordseite in Höhe der Kuhl dümpelte das Boot an der Vorleine. Carberry stand am Schanzkleid, die Unterarme aufgestützt, und starrte über die weite See. Ab und zu drehte er sich um, und sein Blick wanderte über die Decks. Sein sowieso hartes Gesicht wirkte wie aus Stein gehauen. Auf der Kuhl spielten Dan O'Flynn und Batuti mit dem Schimpansen Arwenack, der an ihnen herumturnte und unaufhörlich jene keckernden Laute ausstieß, die grenzenloses Wohlbehagen ausdrückten. Auf dem Vordeck lungerten Smoky, Al Conroy, Gary Andrews, Stenmark und Blacky herum. An der Pumpe mittschiffs beim Großmast schmierte Ferris Tucker ein paar Teile mit Fett. Ben Brighton kontrollierte ganz vorn bei der Galion den Stand der Ankertrosse. Ein verstohlenes Grinsen huschte über Carberrys Gesicht und verschwand wieder. Der eisenharte Mann wußte, daß er heute zum ersten Male etwas tat, das gegen die ungeschriebenen Gesetze an Bord eines Schiffes verstieß. Er handelte gegen die Anordnung seines Kapitäns – er, der Profos. Carberry wunderte sich über sich selbst. Aber er wußte genau, was ihn zu dem Entschluß bewogen hatte, die Befehle des Kapitäns zu umgehen. Es waren die Worte des Seewolfes gewesen, die ihn aufgerüttelt hatten. So wie er hatte es noch niemand ausgedrückt, solange er, Carberry, zur See fuhr. Er hatte gesagt: Wir müssen uns auf Biegen und Brechen aufeinander verlassen können. Wird diese Maxime einmal verletzt, können wir abmustern. Wir wären es nicht wert, diese Männer zu führen. Das war ein Kerl, der Seewolf. Carberry gestand sich ein, daß er die Männer, die über ein Jahr mit dem Seewolf gefahren waren, beneidete. Sie alle hingen an diesem Teufelsbraten. Und warum? Weil er sich rückhaltlos für sie einsetzte. Den Kapitän hatte er ganz schön in die
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Zange genommen, nachdem dieser Bastard Doughty sich so hundsgemein geäußert hatte. Ja, auch er, Carberry, zählte sich zu dem „Gesindel“. Und auch das war mit ein Grund, den Kapitän zum Handeln zu zwingen. Denn der Kapitän zögerte. Also mußte das „Gesindel“ die Initiative ergreifen und für- einander einstehen. Carberry wälzte schwere Gedanken in seinem Schädel. Indessen sackte die rote Scheibe tiefer und tiefer. Fast unbewußt kniff Carberry die Augen zusammen und visierte Kimm und unterste Kante der Sonnenscheibe an. Er meinte fast zu sehen, wie sich Kimm und Sonne einander näherten. Auf dem Achterdeck erschien Francis Fletcher, der Kaplan, und wanderte, die Hände auf dem Rücken, auf und ab. Dann tauchte auch John Doughty auf. Die Herren schienen Luft schnappen zu wollen. Die Sonne stieß an die Kimm. Carberry schluckte und spürte plötzlich, wie sein Herz zu hämmern begann. Ferris Tucker hatte sich aufgerichtet und starrte nach Westen, wo die Sonne wegsackte. Auch Ben Brighton vorn bei der Galion blickte westwärts. Das Kombüsenschott flog auf, und der Kutscher erschien. Er blinzelte über das Deck und umklammerte den hölzernen Abfallkübel wie eine Geliebte. Batuti und Dan O'Flynn schienen auf einmal etwas Interessantes oben im Fockmast entdeckt zu haben. Die Köpfe im Genick starrten sie nach oben. Arwenack hüpfte aufgeregt zwischen ihnen auf und ab und schwenkte seine Arme. Aber der große Neger und der kleine Weiße starrten unentwegt weiter. Smoky sprang wie unabsichtlich vom Vordeck zur Kuhl hinunter und schlenderte hinüber zur Backbordseite. Al Conroy und Gary Andrews folgten ihm. Der Kutscher überquerte die Kuhl und stolperte hinüber zur Steuerbordseite. Seine Miene war eine seltene Mischung heroischer Entschlossenheit und erbarmungswürdiger Angst. Die Angst
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flackerte in seinen Augen, die Entschlossenheit bewiesen sein zusammengepreßter Mund und die Knoten seiner Wangenmuskeln. Im Kombüsenschott tauchte Mac Pellew auf. Carberry hielt den Atem an. War Mac auf Ärger aus? Aber Mac Pellew schrie: „Kipp den Mist ja weit genug außenbords! Steig aufs Schanzkleid, verdammt noch mal! Hier werden keine Bordwände bekleckert, verstanden?“ Carberry grinste und drehte sich um, demonstrativ, denn oben auf dem Achterdeck waren der Kaplan und John Doughty aufmerksam geworden. Jetzt konnte die Sache rollen, die er so schön eingefädelt hatte. Und sie rollte. Der Kutscher stieg knickebeinig und umständlich aufs Schanzkleid, balancierte, schüttete den Holzkübel freihändig stehend aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem wilden Schrei in die Tiefe. Die Sonne stand zur Hälfte unter der Kimm. „Mann über Bord!“ gellte Dan O'Flynns Stimme wie eine Fanfare über das Deck. Köpfe und Körper fuhren herum. „Mann über Bord!“ grölte Edwin Carberry, schwang sich über das Schanzkleid und rutschte an der Jakobsleiter zum Boot hinunter. Fast augenblicklich folgte ihm Smoky. Dan O'Flynn raste über das Deck und hechtete über das Steuerbordschanzkleid. Hinter ihm flog Batuti als schwarzer Schatten durch die Luft. Sie klatschten kurz hintereinander ins Wasser. „Hilfe!“ brüllte der Kutscher. „Hilfe!“ Wer genau hingesehen hätte, wäre erstaunt gewesen. Die Haare des Kutschers waren noch völlig trocken. Aber er brüllte: „Ich ertrinke, zu Hilfe!“ Dabei strampelte er mit den Beinen und sah zu, von der Bordwand wegzukommen. Den Holzkübel hielt er eisern fest. Er lag auf dem Rücken, den Kübel auf dem Bauch. Dan und Batuti erreichten ihn, griffen unter seine Arme und markierten tote Männer.
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Das heißt, auch sie legten sich auf den Rücken und ließen sich treiben. Der nach Norden ziehende Strom nahm sie mit. „Schneller, schneller!“ drängte Carberry unten im Boot an der Backbordwand der „Golden Hind“. Al Conroy und Gary Andrews ließen sich ins Boot fallen. Ben Brighton und Ferris Tucker folgten, dann rasten Blacky und Stenmark an der Jakobsleiter nach unten. Über ihnen erschien der Kopf des Seewolfes. Mit einem Satz war er auf dem Schanzkleid, riß die Augen auf, als er seine Männer in dem Boot da unten erkannte und Carberry ihm verschwörend zuzwinkerte, erkannte, daß hier ein abgekartetes Spiel im Gang war und fegte wie der Blitz an der Jakobsleiter hinunter. Genau zu diesem Zeitpunkt stürzte Kapitän Drake aufs Achterdeck. „Der - der Kutscher ist über Bord gefallen, Kapitän!“ rief der Kaplan völlig verstört. „Wo?“ Der Kaplan zeigte zur Steuerbordseite. Drake sprang zum Schanzkleid. Etwa achtzig Yards schräg achteraus sah er Batuti und Dan O'Flynn, die den Kutscher, der einen Kübel auf dem Bauch festhielt, unterfangen hatten und zur Insel trieben. Die Sonne zeigte sich nur noch als schmale Sichel über der Kimm. „Klar bei Boot!“ schrie Kapitän Drake. „Wo ist Mister Killigrew?“ „Do-dort!“ stotterte der Kaplan und zeigte über die Achterreling. Drake fuhr herum und stieß verblüfft den Kopf vor - da war die ganze Bande von dem Seewolf versammelt: Brighton, Tucker, Smoky, Stenmark, Conroy, Andrews! Bis auf Carberry alles Männer, die unter dem Seewolf gefahren waren. Drakes Blick flog zu den drei schwimmenden Männern, die nur noch als Klumpen zu erkennen waren: der Kutscher, Batuti, Dan O'Flynn -ebenfalls Killigrews Männer. Drake knallte die rechte Faust in die linke Handfläche. So war das also. Er sprang an die Balustrade über die Kuhl. „Wie ist das passiert?“ fragte er schneidend.
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Die Männer starrten ratlos zu ihm hoch und zuckten mit den Schultern. „Das ging alles so schnell, Sir“, sagte Patrick Evarts, der Segelmacher, und kratzte sich den Kopf. „Ich hörte den Jungen ,Mann über Bord!' schreien, und dann war hier auf der Kuhl der Teufel los.“ Mac Pellew schlurfte über die Kuhl, mit Leichenbittermiene und hängenden Schultern. Unter Drake blieb er stehen und schaute zu ihm hoch. „Es ist alles meine Schuld, Sir“, sagte er quengelig, „aber konnte ich wissen, daß er sich so blöd anstellt?“ „Wer?“ fragte der Kapitän scharf. „Der Kutscher, Sir. Er sollte den Abfallkübel außenbords schütten. Sie wissen ja, wie das ist, Sir. Da wird der Kübel einfach aufs Schanzkleid gestellt und umgekippt. Und der ganze Mist hängt dann an der Bordwand - wie in einem Schweinestall. So was gibt's bei mir nicht, nicht bei Mac Pellew. Ich sag dem Kutscher also, er soll gefälligst aufs Schanzkleid steigen, wenn er den Dreck ins Wasser kippt. Und was tut dieser Sackträger? Statt sich mit der einen Hand festzuhalten, wie das üblich ist, schüttet er den Kübel beidhändig aus, verliert das Gleichgewicht und geht auf Tiefe.“ Mac Pellew schniefte und schüttelte den Kopf. „So was hab ich noch nicht erlebt.“ „Ja, so war es“, sagte Francis Fletcher, der neben den Kapitän getreten war. „Der Kutscher hat sich wirklich sehr dumm angestellt.“ „Merkwürdig, merkwürdig“, murmelte der Kapitän. „Wo befand sich, denn Mister Killigrew, als das hier passierte?“ Francis Fletcher und John Doughty sahen sich verwundert an. Dann sagte der Kaplan: „Na, unter Deck, Kapitän. Kurz nach dem Schrei ‚Mann über Bord!' schoß er aus dem Niedergang, sah, daß bereits zwei Männer hinter dem Kutscher hergesprungen waren, um ihn zu retten, und raste hinunter zur Kuhl und zur Backbordseite, wo das Boot lag. Ich muß schon sagen - einfach toll. Die Männer haben blitzschnell reagiert.“
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„Richtig, Mister Fletcher, aber nur bestimmte Männer.“ „Bestimmte Männer? Wie darf ich das verstehen?“ „Ach, nichts.“ Drake wandte sich wieder zur Kuhl und sah, wie Mac Pellew zurück zur Kombüse schlurfte. Der ging aber komisch. Er schlurfte 'zwar immer, aber jetzt schlurfte er anders. „Was ist denn mit Ihnen los, Mac?“ rief er dem Koch hinterher. Mac Pellew drehte sich um „Sir?“ „Sie gehen ja so merkwürdig. Haben Sie irgendwo Schmerzen?“ „Ich? Nein, Sir. Ich - ich bin nur sehr bekümmert.“ Und damit verschwand Mac Pellew in der Kombüse. Drake schüttelte den Kopf. Hier 'passierten Dinge an Bord, die zumindest recht eigenartig waren. Oder sah er das falsch? Vielleicht reagierten die Männer des Seewolfes eben doch schneller als die anderen Seeleute. Die Sache mit dem Kutscher klang ganz plausibel. Es konnte so gewesen sein, wie es Mac Pellew geschildert hatte. Die Dämmerung ging in Dunkelheit über. Drüben auf der Insel war nichts mehr zu erkennen, weder von den drei Männern, die sich im Wasser befunden hatten, noch von dem Boot. Der Kapitän knirschte mit den Zähnen - die Kerle gingen jetzt eigenmächtig auf die Suche nach Matt Davies und Pete Ballie. Und ihm fehlten jetzt die besten Männer an Bord. Eine Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. „Soll ich gefechtsklar machen lassen, Sir?“ Drake drehte sich um. Sein alter Stückmeister stand vor ihm – Barry Burnaby. Hinter ihm tauchte Thomas Moone, der frühere Kapitän der kleinen „Benedict“, auf. Beide waren Männer, auf die er sich verlassen konnte. Drake nickte dem Stückmeister zu. „Ja, bitte, Mister Burnaby. Lassen Sie die Gefechtsstationen besetzen, und geben Sie die Waffen aus. Tim Brewer soll den Ausguck im Hauptmars besetzen.“ „Aye, aye, Sir.“ Der Stückmeister verschwand.
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Drake blickte seinen alten Vertrauten Thomas Moone an. „Was sagen Sie zu dem, Ganzen, Thomas?“ Der breitschultrige, braunhaarige Mann mit dem verwitterten Gesicht lächelte. „Wurde Zeit, daß was passierte. Wie ich den Seewolf inzwischen einschätze, holt der Matt Davies und Pete Ballie sogar aus der Hölle, wenn es sein muß.“ „So?“ Drakes Stimme knurrte. „Na ja. Der Witz ist nur, daß ich heute nacht sowieso ein Suchkommando an Land geschickt hätte.“ „Mit dem Seewolf ?“ „Mit dem Seewolf.“ Drake nickte. „Dann ist ja alles klar“, sagte Thomas Moone. Und jetzt lächelte er nicht mehr, sondern grinste breit. * Um diese Zeit verteilte Edwin Carberry die Pistolen und Musketen, die er bereits am Nachmittag im Boot versteckt hatte. Hasard sah zu und schüttelte den Kopf. „Ihr seid doch eine ganz verfluchte Bande. Darf ich vielleicht mal fragen, wer das ausgeheckt hat?“ Die Männer grinsten, aber keiner sagte etwas. Hasard blickte sie der Reihe nach an, zuletzt Ed Carberry. „Und du bist also auch dabei, Profos. Ich muß mich doch sehr wundern. Der Kapitän reißt dir den Kopf ab.“ Ed Carberry tat unschuldig. „Hab ich was Verbotenes getan? Der Kutscher fiel ins Wasser, und das ist keine unerlaubte Entfernung von Bord, oder? Und als ihm Dan O'Flynn und Batuti nachsprangen, um ihn zu retten, war das auch keine unerlaubte Entfernung von Bord. Weil sie der Strom zur Insel versetzte, mußte das Boot her, um sie zu holen. Ist doch logisch, oder?“ „Genauso logisch wie die Waffen, die du gerade verteilst, nicht wahr?“ „Ach die.“ Carberry kratzte sich am Schädel. „Da fällt mir sicher auch noch was ein. Ja, ich weiß schon was. Die hab ich vorsorglich bereits ins Boot gemannt,
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weil ich damit rechnete, daß der Kapitän heute nacht einen Suchtrupp losschicken würde.“ Dan O'Flynn kicherte. Hasard blieb todernst. „Da der Kutscher, Batuti und Dan O'Flynn wohlbehalten die Insel erreicht haben“, sagte er, „können wir sie nun ja zurück an Bord bringen.“ „Aber nicht doch“, sagte Carberry. „Wir müssen sie doch erst noch suchen. Wir haben uns in der Dunkelheit verfehlt. Ist doch auch logisch, oder?“ „Du hast das Ding ausgeheckt, nicht wahr, Ed?“ Ed Carberry fummelte an seiner Muskete herum, und das war auch eine Antwort. „Ja, dann müssen wir wohl in der Dunkelheit nach Batuti, Dan und dem Kutscher suchen“, sagte Hasard. „Vielleicht finden wir bei der Suche auch Matt und Pete, wie?“ Carberry strahlte. „Genauso hab ich's mir ausgedacht.“ „Erzähl das bloß nicht dem Kapitän“, sagte Hasard. „So, seid ihr klar?“ Die Männer nickten. „Ab jetzt ist Sprechpause“, sagte Hasard. „Batuti übernimmt die Spitze, Ben den Schluß. Bleibt auf Tuchfühlung, damit wir uns nicht verlieren. Wir schleichen uns den Pfad hoch, den wir heute morgen geschlagen haben. Wo der Überfall erfolgte, finden wir vielleicht Spuren der Indianer. Von da sehen wir weiter. Haltet eure Waffen klar. Vorwärts, Batuti!“ Sie tauchten im Dunkel des Waldes unter. 8. Weder Drake und seine Männer noch die Araukaner auf der Mocha-Insel konnten etwas von jenem Beschluß wissen, der Tage zuvor im Stadtrat von Valdivia — jener Gründung des 1553 von den Araukanern zu Tode gemarterten Pedro de Valdivia —gefaßt worden war. Der Stadtrat hatte am 22. November 1578 getagt. Der Alkalde, der den Vorsitz im Stadtrat führte, weilte seit über fünfzehn Jahren in
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Chile und war mit List, Schläue und einer gehörigen Portion Machtgier vom kleinen Provinzschreiber zu seiner jetzigen Position gelangt. Sein Ehrgeiz reichte indessen weiter. Valparaiso, wo der Gouverneur saß, war weit. Und hier unten im südlichen Chile krähte kein Hahn danach, wieweit ein Alkalde seinen Machtbereich ausdehnte. Juan de Montoya war in den satten Alkaldenjahren ein fettes Mastschwein geworden, hatte drei indianische Mätressen und von ihnen dreizehn Bastarde beiderlei Geschlechts. Skrupel hatte er nicht, aber seit einem Vierteljahr wachsende Bedenken wegen eines Typen mit den Allüren eines Konquistadoren, den ihm der Gouverneur wie eine Laus in den Pelz gesetzt hatte. Im übrigen war Don Miguel Lopez de Valdivia auch noch ausgerechnet der Neffe des Stadtgründers, und so führte er sich auch auf — ein arroganter, auf geblasener Gockel, dabei rachsüchtig, brutal und verschlagen und — wie er Juan de Montoya im betrunkenen Zustand verkündet hatte — mächtig scharf darauf, sich in den Gouverneurssessel von Chile und Peru zu setzen. Darum also hatte Juan de Montoya mit List und Tücke den Stadtrat einberufen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, das heißt, zwei Probleme zu lösen. Das eine Problem waren die rebellischen Araukaner, die im zähen Guerillakrieg entlegene spanische Siedlungen oder die Küstenstraße überfielen, auf denen die Transportkolonnen zwischen Valdivia und Valparaiso verkehrten. Juan de Montoya hatte im ganzen Land Späher. Einer von ihnen, ein Halbblut, hatte ihm berichtet, es seien vornehmlich junge Krieger des Araukanerstammes auf der Mocha-Insel, die zur Erprobung ihrer kämpferischen Tugenden aufs Festland übersetzten und mit Vorliebe über die Transportkolonnen herfielen. Die Mocha-Insel war wie ein Krebsgeschwür vor der chilenischen Küste, das beseitigt, sprich ausgerottet werden mußte.
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Das war das eine Problem. Das andere Problem, wie gesagt, stellte der Gockel Miguel Lopez de Valdivia dar. Beide Probleme ließen sich lösen, wenn man einen auf den anderen hetzte. Dabei hegte Juan de Montoya die stille Hoffnung, daß der Heißsporn de Valdivia bei der „Befriedigungs“-Aktion das Zeitliche segnen möge. Dann war er die Laus im Pelz los, und niemand schnüffelte mehr in seiner, de Montoyas, Machtsphäre herum. Im Stadtrat schmiedete Juan de Montoya das Eisen. Die Mitglieder des Stadtrates waren zum Teil von dem Alkalden abhängig. Da wusch eine Hand die andere nach dem Motto: „Gibst du mir, so geb ich dir.“ Der Alkalde Juan de Montoya vergab Gebiete zur Besiedelung und verlangte dafür Loyalität und unter der Hand prozentuale Anteile am Gewinn der landwirtschaftlichen Erträge. Am 22. November 1578 saßen die Senores des Stadtrates in dem festungsartigen Bau des Alkalden in Valdivia und lauschten den Worten des Alkalden. Juan de Montoya saß am Stirnende eines langen, rechteckigen Tisches, vor sich einen bedeutenden Stoß von Akten, Feder, Tintenfaß und Streubüchse, links neben sich am Boden einen Bluthund und rechts neben sich, aber devot etwas zurückgezogen, einen indianischen Sklaven. Dieser Sklave war taubstumm, diente als Dekor des Alkalden, versah die Aufgaben eines Mundschenks, verscheuchte des weiteren Mücken und Fliegen und sorgte dafür, daß der fettleibige Alkalde beim Hinsetzen den dicken Hintern bequem in den Sessel und beim Aufstehen auch wieder heraus kriegte. An der gegenüberliegenden Stirnseite saß Don Miguel Lopez de Valdivia, eigentlich ein Mann in den besten Jahren, aber bereits verlebt, dennoch hager, mit knochigem Gesicht, etwas hervorquellenden, dunklen Augen, spitzbärtig und schmallippig. Die Senores des Stadtrates saßen links und rechts an der Längsseite des Tisches und
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waren unbedeutende Marionetten im Spiel des Alkalden. Juan de Montoya sagte: „Die Nachrichten meiner Gewährsleute beweisen eindeutig, daß die Überfälle auf unsere Transportkolonnen von einem bestimmten Stamm der Araukaner durchgeführt werden.“ „Interessant“, sagte Don Miguel Lopez de Valdivia. Er hatte eine näselnde Stimme. „Das ist es auch“, sagte Juan de Montoya und faltete die Wurstfinger über seinem feisten Bauch. „Und zwar ist es deswegen interessant, weil damit das Rätsel geklärt ist, warum diese Wilden nach den Überfällen stets spurlos verschwunden waren - als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Wir hatten immer - wie Sie wissen, Senores - angenommen, sie verschwänden in für uns unzugängliche Bergverstecke, und das mag für den einen oder anderen Fall auch zutreffen. Wir waren uns bisher auch darüber einig, einen Kampf mit den Araukanern zu vermeiden, solange der Feind in den Bergen die bessere Position hat. Aber durch die Meldungen meiner Gewährsleute hat sich eine neue Situation ergeben, über die wir beraten müssen.“ Mit Genugtuung beobachtete der Alkalde, wie sein Gegenüber unruhig mit den knochigen Fingern auf den Tisch trommelte. Der Fisch interessierte sich für den Köder! Der Alkalde verbiß sich ein Grinsen und nickte bedeutsam. „Ich will mich kurz fassen“, fuhr er fort. „Diese räuberischen Wilden verschwinden nicht in den Bergen, sondern auf dem Wasser, auf dem bekanntlich keine Spuren zu finden sind.“ Er meckerte, als habe er einen köstlichen Witz erzählt. „Unmöglich!“ sagte Don Miguel Lopez de Valdivia. „Völlig unmöglich! Absurd!“ „Mitnichten, mein lieber Freund.“ Der Alkalde winkte seinem indianischen Sklaven und ließ sich ächzend und schnaufend aus dem Sessel wuchten. Dann watschelte er unter Mitnahme der Gänsefeder zu einer Landkarte des chilenischen Küstengebiets, die entrollt an der Wand hing.
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Mit dem Federkiel tippte er auf Valdivia und sagte: „Hier sind wir.“ Der Federkiel glitt nordwärts und deutete auf einen Punkt. „Hier liegt Imperial. Und hier“, der Federkiel fuhr nach links und bohrte sich auf eine Stelle vor der Küste, „liegt die Mocha-Insel.“ Er schnaufte befriedigt und drehte sich um. Seine listigen Augen funkelten und fixierten Miguel Lopez de Valdivia. Der fuhr vom Sessel hoch. „Wollen Sie damit sagen, daß sich diese Wilden auf die Insel zurückziehen?“ „Erraten.“ Der Alkalde strahlte. „Sie ziehen sich nicht nur dorthin zurück, sondern sie leben und wohnen da. Nach meinen Informationen haben sie auf der Insel sogar Maisfelder angelegt.“ Er watschelte wieder zurück und ließ sich von dem Sklaven den Sessel in die Kniekehlen schieben. Ächzend sackte er auf das Sitzpolster und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie de Valdivia zu der Karte stelzte und sie studierte. Einer der Senores des Stadtrates räusperte sich und sagte: „Das würde auch erklären, warum die Überfälle immer mehr oder weniger im Umkreis von Imperial stattfanden.“ „Eine kluge Beobachtung, Senor Quiros“, sagte der Alkalde mit gesalbter Stimme. „Oh, danke, Senor de Montoya.“ Quiros verbeugte sich im Sitzen. „Darf ich mir noch eine Bemerkung erlauben?“ „Aber gewiß, mein Lieber. Wir sind ja hier, um uns zu beraten, nicht wahr?“ Das war reiner Hohn, denn der Alkalde hatte sich mit Felipe Quiros bereits beraten, und der wußte genau, welche Karten er jetzt auszuspielen hatte. Felipe Quiros sagte: „Ich schlage vor, daß ich mit unserer Truppe von Imperial aus übersetze und den Indianern aufs Haupt schlage.“ Don Miguel Lopez de Valdivia drehte sich abrupt um, stelzte zum Tisch zurück und stützte die Finger auf die Platte. Es war eine arrogante Pose. Mit seiner näselnden Stimme sagte er: „Es dürfte doch wohl kein Zweifel daran
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bestehen, daß ich dieses Unternehmen leite, nicht wahr?“ Felipe Quiros hüstelte und tat pikiert. „Verzeihung, Senor de Valdivia, eine solche Entscheidung trifft der Stadtrat unter Vorsitz des Alkalden. Ich darf mir bei allem Respekt Ihnen gegenüber die Bemerkung erlauben, daß ich seit über zehn Jahren hier im Lande bin und meine Erfahrungen im Kampf gegen die Wilden sammeln konnte.“ „Und ich“, erklärte de Valdivia von oben herab, „bin ausgebildeter Soldat, Senor, und habe mir bereits meine Meriten unter Herzog Alba im Kampf gegen die ketzerischen Geusen erworben. Zweifelsohne dürfte doch wohl der kämpferische Wert der Geusen tausendfach höher sein als der dieser primitiven Wilden, die ich wie schäbige Wanzen zerquetschen werde.“ Juan de Montoya frohlockte innerlich. Das klappte ja besser, als er gedacht hatte. Dieser Gockel war zwar ehrgeizig, aber dazu von einer grenzenlosen Dummheit und Selbstüberheblichkeit. Daß die Araukaner zu kämpfen verstanden, hatten sie seit über drei Jahrzehnten bewiesen – und sie waren noch immer nicht besiegt. Im Gegenteil. Sie kämpften, wenn auch in Einzelaktionen, hart und erbarmungslos und mit unvorstellbarer Tapferkeit. Er, der Alkalde, würde den Teufel tun, diesem aufgeblasenen Fant etwas von den kämpferischen Qualitäten der Araukaner zu erzählen. Um so eher rannte er ins offene Messer. Beschwichtigend hob er seine beiden Hände und sagte: „Aber Senores, wir wollen doch nicht streiten, wer nun geeigneter ist, unsere Truppe gegen die Wilden auf der Insel zu führen. Ich halte Sie, Senor de Valdivia, für einen sehr fähigen und mutigen Soldaten und ebenso Sie, Senor Quiros. Natürlich müssen wir insgesamt entscheiden, wer die Mission übernimmt, dennoch muß ich Ihnen etwas zu bedenken geben, was mich veranlaßt, Ihnen Senor de Valdivia als Führer der Truppe vorzuschlagen.“
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Er schwieg einen Moment und blickte seine Stadträte der Reihe nach an. Dann fuhr er fort: „Sie wissen alle, daß Senor de Valdivia der Neffe unseres verehrten Stadtgründers ist. Als solcher hat er das Recht, seinen auf grausame Weise von den Araukanern gemeuchelten Onkel zu rächen. Vielleicht nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht.“ Er blickte Miguel Lopez de Valdivia an. „Sehe ich das richtig, Senor de Valdivia? Ich meine, habe ich das Motiv für Ihren Wunsch, diese Aktion zu übernehmen, richtig formuliert?“ „Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen, Senor de Montoya. Mein Onkel Pedro de Valdivia, dessen edles Blut auch in meinen Adern pulst, muß gerächt werden. Das verlangt die Familienehre.“ Felipe Quiros war ein guter Schauspieler. Er senkte den Kopf und sagte gepreßt: „Wer wäre würdiger, Pedro de Valdivia zu rächen? Ich beuge mich und trete zurück.“ Juan de Montoya nickte. „Das ist sehr anständig von Ihnen, Senor Quiros. Wir alle wissen, wie schwer Ihnen dieser Entschluß fällt.“ „Danke, Senor de Montoya“, sagte der Heuchler Quiros und wußte, daß demnächst seine Ländereien südlich von Valdivia um ein erkleckliches Stück vergrößert werden würden. „Senores, lassen Sie uns abstimmen“, sagte der Alkalde. Der Stadtrat beschloß, Don Miguel Lopez de Valdivia mit der ehrenvollen Aufgabe zu betrauen, die Mocha-Insel zu befriedigen. Der feiste Alkalde hatte sein Ziel erreicht. Ging der aufgeblasene Gockel dabei drauf, um so besser. Wenn nicht, würde er wohl begreifen, daß die Araukaner vielleicht sogar besser als die Geusen waren. Entweder forderte diese Tatsache de Valdivia dann heraus, sich in neue Abenteuer zu stürzen, oder aber er zog es vor, Chile Lebewohl zu sagen, zumindest aus Valdivia zu verschwinden. Jetzt jedenfalls war er erst einmal beschäftigt und würde keine Zeit mehr haben, seine arrogante Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen.
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Eins war mal sicher: Dieser Neffe Pedro de Valdivias mochte vielleicht das Blut seines Onkels in den Adern haben, aber dessen Qualitäten erreichte er bei weitem nicht. Mit arroganter Selbstüberschätzung und Dummheit war keine Schlacht zu gewinnen. Da mußte es schon mit dem Teufel zugehen. Schließlich war sogar der große Pedro de Valdivia an seiner Aufgabe gescheitert – wie viel eher dann der Neffe! Der ließ sich in den zwei nächsten Tagen die Truppe vorführen, die aus drei Garnisonen zusammengetrommelt worden war. Insgesamt einhundertfünfzig Soldaten sollten auf fünf Segelpinassen zur MochaInsel übergesetzt werden, landen und die Indianer zum Kampf stellen beziehungsweise überfallen. Ein HalbblutSpäher würde die Truppe an die indianische Siedlung heranführen. Don Miguel Lopez de Valdivia ließ die Truppe exerzieren, das heißt, im Karree marschieren, ausschwärmen, wieder Karree bilden, wieder ausschwärmen. Was das mit einer Kampfführung im Dickicht und Verhau zu tun haben sollte, wußte kein Mensch. Aber de Valdivia hatte ja unter Herzog Alba gedient und mußte es wissen. Die Soldaten und Unterführer in Brustharnisch, behelmt und mit Musketen und Arkebusen bewaffnet, marschierten vor Valdivia auf einem staubigen Geröllfeld hin und her und rauf und runter, bis ihnen das Wasser im Hintern kochte. Der „General“ saß derweil auf einer Schimmelstute, die Rechte lässig in die Hüfte gestützt, und schnarrte seine Kommandos. Die Soldaten hatten bereits am ersten Tag dieser sinnlosen Schleiferei nach den ersten fünf Minuten spitz, daß dieser blasierte Neffe des Stadtgründers ein elender Schinder und Sadist war. Als ein Flügelmann des Karrees am Vormittag des ersten Tages über einen Stein stolperte und die Reihe seiner Hintermänner durcheinanderbrachte, erlitt Don Miguel Lopez de Valdivia einen Tobsuchtsanfall, weil er der Ansicht war, dieser Flügelmann sei absichtlich gestolpert.
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Der Soldat, ein schnauzbärtiger Krieger, der bereits einige Gefechte gegen die Indianer überstanden hatte, wurde zu de Valdivia befohlen. „Name?“ schnarrte de Valdivia. Dieser Krieger war ein ausgekochter Hund. Er fragte: „Wie bitte?“ „Wie Sie heißen!“ brüllte de Valdivia. Der Krieger schaute treuherzig zu de Valdivia hoch. „Man nennt mich Blaubart, General.“ De Valdivia glaubte, sich verhört zu haben. „Blaubart? Das ist doch kein Name.“ „Doch. Einen anderen Namen habe ich nicht.“ „Wieso nicht?“ schrie de Valdivia. Der Krieger zuckte mit den Schultern. „Mich haben Mönche auf der Schwelle des Klosters der ‚Barmherzigen Brüder' in Cartagena aufgesammelt. Vermutlich war mein Alter ein Prinz und meine Alte eine Hafenhure.“ De Valdivia wäre fast von seiner Schimmelstute gefallen, denn er fuhr im Sattel hoch, hieb der Stute unabsichtlich die Sporen in die Weichen, und die ging wie eine Rakete los. Zehn Minuten war er damit beschäftigt, die bockende Stute wieder zur Räson zu bringen. Als er das endlich geschafft hatte, war das Maul der Stute blutig zerrissen und ihr Fell an den Flanken von den Sporen aufgeschlitzt. Auch dort troff das Blut. Das Pferd röhrte wie ein ausgedienter Blasebalg. Einige Soldaten grinsten, andere hatten ablehnende bis verächtliche Mienen. Der Krieger Blaubart grinste auch, aber das verging ihm, als Don Miguel Lopez de Valdivia vom Pferd stieg, auf ihn zustelzte und ihm die Reitgerte über das Gesicht zog. Das war de Valdivias Einstand bei der Truppe. Am Abend oblag es dem Profos, im Beisein des „Generals“ und vor versammelter Mannschaft an dem Soldaten Blaubart und dreizehn anderen Soldaten, die nach Meinung des „Generals“ Widersetzlichkeit gezeigt hatten, die Prügelstrafe zu vollziehen. Am Abend des nächsten Tages wurden vierundzwanzig Soldaten ausgepeitscht.
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Und noch in der Nacht brach die Truppe auf und marschierte auf der Küstenstraße nach Imperial. Am Spätnachmittag des 26. November 1578 segelten die einhundertfünfzig Soldaten, verteilt auf fünf Pinassen, von Imperial los und erreichten in der Dunkelheit die Insel, wo sie an der Ostseite an Land gesetzt wurden. Die fünf Segelpinassen ankerten dicht unter Land. So geschah es, daß zwei Gruppen fast zur selben Zeit in das Innere der Insel vorstießen - Hasards Männer auf der Suche nach Matt Davies und Pete Ballie, und die Truppe des Don Miguel Lopez de Valdivia, „um die Wilden vom Erdboden zu vertilgen“, wie sich der „General“ ausdrückte.. 9. In dieser Nacht zum 27. November wachte Pete Ballie aus seinem schweren ChichaRausch auf und hatte zunächst den Eindruck, er befände sich im Vorhof zur Hölle, wo das Holz fürs Höllenfeuer zurechtgesägt wird. Er lauschte eine Weile, lag ganz still, stierte in die Dunkelheit, vernahm die Höllentöne und kehrte erst ganz allmählich in die Wirklichkeit zurück. Als er sie begriff, fuhr er hoch. Insel, Indianer, großer Zauber, Chicha! Neben ihm schnarchte Matt Davies, wie ein Mann schnarcht, der zuviel von einem höllischen Gebräu getrunken hat. „O verflucht“, stöhnte Pete Ballie und tastete sich in der Dunkelheit zu Matt Davies. Er kroch über den Boden, hatte ein Rappeln im Kopf, wenn er ihn senkte, und suchte mit langen Armen, bis er mit der Rechten in den Prothesenhaken griff und erneut zu fluchen begann. Das Ding war wirklich spitz und scharf. „Matt!“ Pete Ballie hatte die Schulter von Matt Davies gefunden und rüttelte sie. Das Schnarchen starb ab, Luft blubberte über Matt Davies' Lippen, dann ging das Konzert wieder los. Pete Ballie stöhnte und kriegte fast das Heulen. Seine Hand tastete sich über Hals,
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Kinn und Mund von Matt zur Nase, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie zu. Matt gurgelte und holte durch den Mund Luft wie ein Ertrinkender. Pete nahm die andere Hand zu Hilfe - immerhin eine Pranke so groß wie eine Ankerklüse - und preßte sie Matt auf den Mund. Matt Davies riß den Kopf zur Seite und schnarchte weiter. Pete verabreichte ihm eine Ohrfeige, die Matt lediglich zum Grunzen brachte. Bei der nächsten Ohrfeige bäumte er sich auf, und Pete kriegte den verdammten Prothesenhaken an den Schädel. Über Matt verlor Pete Ballie das Bewußtsein und legte sich quer über dessen Bauch. Nach einer Viertelstunde wurde Matt Davies munter und lauschte. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, eingeklemmt zu sein. In rhythmischen Abständen wehte ihm Luft ins Gesicht, die nicht nach Veilchen roch. Matt Davies brauchte eine Weile, bis er begriff, daß die Zugluft ausgestoßener Atem war - von Pete, der über ihm lag. „Du Idiot“, sagte er. Aber Pete blies ihm weiter Luft ins Gesicht. Oder war das gar nicht Pete? Matt kriegte das Gruseln und tastete das Bündel ab, das über ihm lag - Muskeln, Sehnen, ein Arm. Matt griff in Haare und zerrte daran. Jemand stöhnte und sagte: „Laß das doch, du Affenarsch.“ Ja, es war Pete. Matt Davies wälzte sich unter ihm weg und richtete sich auf. Gleichzeitig hörte er, wie sich Pete bewegte. „Pete?“ „Matt?“ „Mann, hab ich einen Brummschädel“, sagte Matt Davies. „Ich auch“, sagte Pete Ballie. Sie stöhnten beide und hielten sich die Köpfe. „Dieses Gesöff ist das reinste Gift“, sagte Matt Davies. Er gähnte und rülpste anschließend.
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Pete Ballie war indessen auf Entdeckungsreise. Er kroch durch die Hütte und stieß gegen Wände, die aus biegsamen Ästen bestanden. Sie schienen kuppelförmig angebracht und oben verbunden zu sein. Zwischen den Ästen ertasteten seine Hände Queräste, die mit den Längsästen verflochten waren. Dazwischen war alles mit Gras und Lehm verstopft. „Diese Bude muß doch einen Ausgang haben“, murmelte er. Jetzt wurde auch Matt Davies so richtig wach. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, was sich alles ereignet hatte. Waren sie Gefangene des Häuptlings? Nach dem fürchterlichen Besäufnis doch eigentlich nicht, oder? Immerhin waren Pete und er nicht abgemurkst worden oder im Suppentopf der Indianer gelandet. Nein, sie waren bewirtet worden. Die Fische hatten herrlich geschmeckt —na ja, nur dieses Chicha-Zeugs hatte sie dann schließlich flachgelegt. O verdammt! Matt Davies dachte an die „Golden Hind“, an Hasard —den Seewolf, an Kapitän Drake und die Crew. „Pete?“ „Ja?“ „Wir müssen hier raus.“ „Klar“, sagte Pete Ballie, „deswegen untersuche ich ja auch gerade diese verdammte Bude. Diese Affen haben den Eingang irgendwie dichtgemacht. Mann, mein Kopf platzt bald. Kannst du mal bleiben, wo du bist? Dann krieche ich noch mal die Wände ab, ob ich den Ausgang finde. Ich mag nur nicht in dieser Dunkelheit dauernd im Kreis suchen.“ „Geht klar“, sagte Matt Davies. „Ich bin hier.“ Pete Ballie tastete sich zu ihm und begann Zoll für Zoll die Wände abzusuchen, bis er wieder auf Matt stieß. „Na?“ fragte Matt Davies. „Alles dicht“, erwiderte Pete Ballie. „Die Affen haben uns irgendwie eingeschlossen.“ Matt Davies brummte einen obszönen Fluch, in den er den Häuptling einschloß,
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von dem er sagte, er sei der Enkel eines Ziegenbockes und einer verdammten Hure. Dann schlug er seinen Haken zwischen die verflochtenen Äste und begann zu zerren. Die ganze Hütte wackelte. Grassoden und Lehm brachen heraus und fielen zu Boden. „Still mal“, zischte Pete Ballie. Matt Davies hörte auf und lauschte. „Hast du was gehört?“ flüsterte er. „Ich weiß nicht“, flüsterte Pete zurück, „aber bei dem Krach muß das ganze Dorf aufwachen.“ „Na und?“ Matt Davies hieb seinen Haken erneut in die Hüttenwand. „Die sollen mir nur kommen, diese verlausten Affen, denen bringe ich das Fürchten bei, weil ich der große Zauberer bin.“ „Matt, nicht so laut!“ flehte Pete Ballie. „Scheiße“, sagte Matt Davies und hackte weiter. Zwei Minuten später starrten sie beide durch ein Loch in der Hüttenwand nach draußen in die Nacht. Am Himmel flimmerten Tausende von Sternen. Im Dorf war alles still. „Na also”, sagte Matt Davies und begann das Loch zu vergrößern, bis es Schulterbreite hatte. Er steckte den Kopf und die Schultern hindurch und schaute sich um. Das ganze Dorf schlief, soweit er das beurteilen konnte. Nicht einmal die Hunde meldeten sich. Aus einer Hütte in der Nähe erklangen Schnarchtöne. Matt spähte zu der Hütte. Sie war größer als die anderen. Schlief dort der Häuptling? „Was ist los?“ wisperte Pete Ballie im Inneren der Hütte. Matt nahm noch einmal den Kopf zurück. „Nichts, Junge. Wir können türmen. Das ganze Dorf pennt. Wachen haben sie nicht aufgestellt. Ich hab jedenfalls nichts gesehen.“ „Dann nichts wie weg.“ Matt Davies nickte und flutschte wie ein Aal nach draußen. Sekunden später folgte ihm Pete Ballie. Sie lagen nebeneinander im Gras und lauschten wieder. Nichts. Das Dorf schlief. Die Indianer mußten sich sehr sicher fühlen. Oder hatten sie Posten außerhalb des Dorfes?
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Vielleicht. Aber bisher war auch dort alles ruhig geblieben. Matt Davies und Pete Ballie standen auf und huschten gebückt durch die Hüttengassen zu dem Palisadenzaun und an ihm entlang zu dem schmalen Tor, durch das sie das Hüttendorf betreten hatten. Es war das Osttor. Sie hängten es aus, stellten es innen an die Palisaden und liefen an den Wassergraben. „Schwimmen wir durch?“ flüsterte Pete. „Und wenn da giftige Schlangen drin sind?“ fragte Matt. Pete nickte. Gemeinsam zerrten sie den Brückensteg, der bei den Palisaden lag, an den Wassergraben und schoben ihn auf die andere Seite hinüber. Matt Davies fand, daß das alles fast reibungslos klappte. Hatten die Indianer gedacht, Pete und er brauchten so an die zwei Tage, um aus dem Rausch aufzuwachen? Sie mußten doch auch damit rechnen, daß die Männer auf dem Schiff Pete und ihn vermißten und nach ihnen suchen würden. Oder war die „Golden Hind“ etwa ankerauf gegangen und von der Insel weggesegelt? Matt Davies erstarrte, als er daran dachte. „Was ist?“ fragte Pete Ballie. Matt starrte ihn an. „Glaubst du, daß uns der Seewolf auf dieser verdammten Insel zurücklassen würde?“ Pete tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. „Der Seewolf doch nicht. Bist du blöd?“ Matt Davies wurde wütend. „Diese indianischen Affen hier' scheinen sich so verdammt sicher zu fühlen. Würden sie das tun, wenn die ‚Golden Hind' noch irgendwo da unten vor der Insel läge?“ Pete Ballie stutzte, dann grinste er. „Bin ich der Häuptling oder ein Indianer? Die fühlen sich sicher, weil sie meinen, daß sie dein dusseliger Haken beschützt. Du bist der große Zauberer, ganz einfach.“ Matt blieb skeptisch und bereitete sich innerlich darauf vor, unten vor der Insel keine „Golden Hind“ mehr vorzufinden.
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„Du spinnst“, sagte er zu Pete und huschte über den Brückensteg. Pete folgte ihm. Sie ließen den Wassergraben hinter sich zurück und nahmen den Weg, auf dem die Indianer sie von dem Bach zum Dorf geführt hatten. An den Maisfeldern konnten sie sich orientieren. Dann stießen sie in den Wald und brauchten eine Weile, um den Pfad zu finden, der zu dem Bach führte. An einer Gabelung zweigte dieser Pfad jedoch ab, und sie wurden unsicher, welchen Weg sie nehmen sollten. Sie palaverten eine Weile herum, Matt wollte nach rechts, Pete nach links. Schließlich rupfte Matt zwei Grashalme heraus, verkürzte den einen, verbarg beide in der Linken und sagte: „Zieh einen heraus. ist es der kürzere, geht's nach links. Ist es der längere, nehmen wir den rechten Weg.“ Pete zog. Es war der kürzere Halm. Also hasteten sie auf dem linken Pfad weiter. Und der erschien ihnen beiden bereits nach zehn Minuten irgendwie verkehrt. Gewiß, es war Nacht, und da sah sowieso alles anders aus als bei Tage. Aber dieser Pfad führte schnurgerade nach Osten, wie Pete jetzt entgegen seiner vorherigen Meinung feststellte. Pete war schließlich Rudergänger, und zwar einer der besten, wie auch Matt wußte. Pete blieb stehen und sagte: „Hier liegt der verkehrte Kurs an, Matt. Wenn ich das richtig sehe, steuern wir Ost, müssen aber nach Süd.“ „Hab ich doch gesagt“, brummte Matt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Aber du Ochse mußtest ja unbedingt nach Backbord steuern.“ Pete Ballie holte schon tief Luft, um Matt einen Vortrag über Kurse und Wege bei Nacht zu halten, als er entfernt ein Klirren hörte. „Was ist das?“ stieß er hervor. Matt lauschte mit vorgeneigtem Kopf und drehte ihn dann zu Pete. „Klingt verdächtig, wie?“
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Pete nickte. „Das kommt auf uns zu, Matt.“ Matt Davies wurde etwas nervös. „Ja, verflucht, das hör ich auch. Los, weg vom Pfad! Wir hauen uns dort unter den Busch.“ Sie hasteten in das Dickicht und warfen sich zu Boden. Das Klirren rückte näher, sie hörten Schritte, die wie Marschtritte klangen, leise Flüche und immer wieder das Scheppern. Die leisen Flüche waren einwandfrei spanische Flüche. Pete packte Matts Arm. „Spanier!“ „Hör ich auch“, flüsterte Matt und spähte durch das Blattwerk. Ja, das waren spanische Soldaten. Sie zogen in Doppelreihe den Pfad hoch, immer mehr tauchten auf, bis an die Zähne bewaffnet. Das war kein friedlicher Mondscheinspaziergang — eine absurde Idee, und Matt mußte unwillkürlich grinsen. Er wurde schnell wieder ernst und zählte zwei mal zwei zusammen. Diese spanischen Soldaten wollten den Indianern ans Leder, das war mal sicher. Wo sie herkamen, war Matt Davies schleierhaft, aber sie waren nun mal da — und nicht in friedlicher Absicht. „Laß uns abhauen“, flüsterte Pete neben ihm. Matt schüttelte den Kopf. „Wir müssen die Indianer warnen, Pete. Schließlich waren wir ihre Gäste.“ Pete Ballie schnaufte erbittert. „Gäste? Wenn ich daran denke, wie sie uns in der Schlucht in der Mangel hatten! Die haben uns gezwungen, ihre Gäste zu sein. In der verdammten Hütte waren wir eingesperrt, Mann!“ „Egal. Sie haben uns nichts getan —na ja, bis auf den verfluchten Chicha. Aber überleg mal. Der Kapitän will Frieden mit den Indianern. Das bedeutet, daß wir ihnen helfen müssen.“ „O Mann“, flüsterte Pete Ballie ergeben, „Du bist vielleicht ein sturer Bock!“ „Los!“ flüsterte Matt Davies. „Und sei ja leise.“
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Sie robbten noch weiter vom Pfad weg, bis sie sicher waren, weder gehört noch gesehen zu werden und hetzten durch das Dickicht zurück. Matt fand durch Zufall einen Wildpfad, auf dem sie sich im Laufschritt bewegen konnten. Irgendwann verstummte hinter ihnen das Scheppern und Klirren. Sie stießen wieder auf den richtigen Pfad und liefen an den Feldern vorbei auf das Dorf zu. Der Brückensteg lag immer noch über dem Wassergraben. Nichts war im Dorf gemerkt worden. Sie überquerten ihn und zogen ihn ein. Sicherheitshalber schleppten sie den Steg bis hinter die Palisaden. Das Osttor wurde wieder eingehängt und abgesichert. 10. Der Häuptling lag neben einer halbnackten Hübschen und fuhr hoch, als Matt ihn anstieß. Fast automatisch langte er nach dem Zierdegen, den ihm Kapitän Drake geschenkt hatte. „Langsam, langsam“, sagte Matt Davies. „Ich tu dir nichts, Junge, laß den Zahnstocher beiseite. Jetzt hör mir gut zu. Da sind Dons im Anmarsch, Philipps, Spanier, verstehst du? Von Osten her, Soldaten! O verdammt, kapierst du das, du hirnrissiger Ochse? Dons! Spanier! Philipps! Ein ganzer Haufen!“ Der Häuptling starrte ihn verwirrt an. Matt Davies redete mit Händen und Füßen, beschrieb die Helme, die Waffen Lind wiederholte immer wieder: „Philipps! Dons! Spanier!“ Die Hübsche kicherte, weil sie das alles für einen herrlichen Scherz des Mannes mit dem Zauberhaken hielt. Matt Davies stöhnte und hätte der Hübschen am liebsten eine gescheuert. Aber da begriff der Häuptling endlich. Wie ein Blitz schoß er aus der Hütte, hinein in die nächste, Sekunden später wieder heraus und in die übernächste Hütte. Nur knapp drei Minuten später wimmelte es von Kriegern im Dorf. Matt und Pete liefen mit dem Häuptling an die Ostflanke des Hüttendorfes. Matt
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deutete auf den Pfad und erklärte gestenreich, daß die „Philipps“ von dort wahrscheinlich heranmarschieren würden. Der Häuptling nickte und wandte sich seinen Kriegern zu. Sie bezogen hinter den Palisaden Stellung. Fast alle waren mit Pfeilen und Bogen, Wurfspeeren und Steinschleudern ausgerüstet. Pete Ballie bat um Pfeil und Bogen, Matt empfing eine Steinschleuder. Der Häuptling ließ große Tongefäße mit Wasser bereitstellen. Matt beobachtete, wie souverän der Häuptling die Verteidigung seines Dorfes organisierte. Die Indianer waren von einer stoischen Ruhe, die über ihre Gefährlichkeit hinwegtäuschte. Sie bewegten sich mit geschmeidiger Eleganz und wußten ihre Waffen sicherlich perfekt zu handhaben. Lanzen, Pfeile und Steine gegen Pulver und Blei - Matt war dennoch etwas skeptisch, Pete anscheinend auch, denn er sagte: „Hoffentlich hauen uns die Dons nicht in die Pfanne.“ „Abwarten“, sagte Matt Davies. „Wenn hier was schiefgeht, türme ich“, sagte Pete Ballie. „Stell dir mal vor, die Dons schnappen uns und merken, daß wir Engländer sind.“ „Du brauchst es ihnen ja nicht zu sagen.“ „Und wenn sie uns foltern?“ Matt Davies grinste. „Ich denk, du willst vorher türmen?“ „Tu ich auch.“ Sie hatten sich flüsternd unterhalten. Der Häuptling tauchte neben ihnen auf und klopfte erst Matt und dann Pete auf die Schulter, wohl um sich zu bedanken, daß die beiden ihn gewarnt hatten. Zum Glück konnte er nicht fragen, woher Matt und Pete wußten, daß die Spanier anmarschierten. Vielleicht aber auch hielt er Matt tatsächlich für einen großen Zauberer. „Wenn der wüßte“, sagte Pete Ballie und legte einen Pfeil auf die Sehne. Probehalter hob er den Bogen und zog die Sehne zurück. Er nickte anerkennend - eine sauber gebaute Waffe. Stille senkte sich über das Hüttendorf. Die Krieger lauerten hinter den Palisaden,
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bereit, die Spanier zu empfangen. Jetzt trug der Nachtwind die ersten Geräusche zu ihnen hin. Es war wieder das unvermeidliche Klirren, wenn Waffen gegen Metall schlagen. Die Krieger wirkten wie Statuen. Das Klirren wurde lauter, gleichzeitig wurde auch der Marschtritt hörbar. Matt Davies schüttelte den Kopf. Diese Dons taten ja gerade so, als seien Sie die Herren auf der Mocha-Insel. Jedenfalls waren sie alles andere als vorsichtig. Im Licht der Sterne wurden die Spanier sichtbar. Matt hielt den Atem an. Das war doch nicht zu fassen! Auch sie mußten das Hüttendorf jetzt sehen, aber sie verteilten sich nicht, sondern marschierten in einer Fünferkolonne auf das Dorf zu. Seitlich, nach rechts abgesetzt, stelzte ein einzelner, hagerer Mann, der ein schnarrendes Kommando gab. Jetzt erst stoppte die Kolonne. Sie befand sich etwa fünfzig Yards vom Wassergraben entfernt. Der Hagere - wie die anderen in Brustharnisch und behelmt sagte etwas. Fünf Männer lösten sich aus der Kolonne und näherten sich mit ihm dem Wassergraben. Matt blickte den Häuptling an und hob seine Schleuder. Aber der Häuptling schüttelte den Kopf und deutete mit der Hand an, noch abzuwarten. Die sechs Spanier standen jetzt am Wassergraben. Der Hagere befahl einem von ihnen, in den Graben zu steigen, wahrscheinlich, um die Tiefe feststellen zu lassen. Matt sah, wie der Häuptling grinste. Der Spanier hielt sich an der Böschung fest und ließ sich hinunter - es ging etwas zu schnell, plötzlich war er weg, nur seine Hände ragten noch aus dem Wasser und krallten sich an der Böschung fest. Der Hagere zischte etwas, und die vier anderen sprangen hinzu, packten die Handgelenke ihres abgesoffenen Kameraden und zogen ihn ächzend hoch. Der Mann schnaufte und prustete und schnappte nach Luft. Der Hagere fluchte - es war Don Miguel Lopez de Valdivia. Unsinnigerweise befahl
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er, die Truppe näher an das Dorf zu führen, die Soldaten sollten es einkreisen. Auf den Moment schien der Häuptling gewartet zu haben. Er hob Pfeil und Bogen, schrie etwas, und dann brach die Hölle los. Die Indianer schossen ihre Pfeile ab, warfen ihre Speere, schleuderten die Steine. Ein Hagel von Geschossen prallte in die Reihen der Spanier. Sie wurden völlig überrascht. Schreie gellten durch die Nacht, drei, vier Spanier torkelten am Wassergraben entlang, gurgelten, denn in ihren Kehlen steckten Pfeile. Einer kippte ins Wasser und sackte weg wie ein Stein. Mehrere Spanier wälzten sich am Boden, von den Speeren an den Beinen verletzt. Pete Ballie jagte Pfeil auf Pfeil von der Sehne und schoß sich ein. Sein fünfter Pfeil traf die Kehle eines Spaniers und durchbohrte sie. An den Brustharnischen prallten die Pfeile ab.“ Der Hagere tobte wie ein Irrer, schrie und brüllte und fuchtelte mit seinem Degen herum. Er war noch unverletzt. Matt Davies benutzte die Steinschleuder mit seinem Haken, traf aber ungenau, weil er die Schleuder nicht so gut handhaben konnte. Dennoch erzielte er einen Zufallstreffer. Der Stein, etwa faustgroß, prallte in das Gesicht eines Spaniers und zertrümmerte dessen Nasenbein. Brüllend und mit vors Gesicht geschlagenen Händen rannte der Mann zurück. Das war der Anfang. Ein paar Sekunden Später setzte sich der nächste ab, dann noch einer, immer mehr wandten sich zur Flucht, einige halfen den Verletzten und schleppten sie mit. Und schließlich gab auch Don Miguel Lopez de Valdivia auf und eilte hinter seinen Soldaten her. Erst jetzt fiel Matt auf, daß die Spanier nicht eine einziges Mal zurückgeschossen hatten. Sie waren völlig überrascht worden. Draußen vor dem Wassergraben lagen dreizehn Spanier, zwei bewegten sich noch und wurden mit Lanzen gespickt. Die Indianer veranstalteten ein Zielwerfen auf sie. Als sich die beiden nicht mehr rührten, befahl der Häuptling, ihre Waffen zu
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holen. Das wurde innerhalb von vier Minuten erledigt – jetzt hätten die Spanier angreifen können, weil der Brückensteg über dem Wassergraben lag, aber sie taten es nicht. Der Häuptling überreichte Matt Davies und Pete Ballie zwei Musketen mit Pulver und Blei sowie zwei Stoßdegen. Jetzt fühlte sich Matt Davies schon etwas wohler. „Werden sie wieder angreifen?“ fragte Pete Ballie. „Was dachtest du denn, dazu sind sie ja schließlich hier“, erwiderte Matt. „Der Tanz ist bestimmt noch nicht zu Ende.“ Und er war es nicht. * Don Miguel Lopez de Valdivia brachte seine Truppe mit Hilfe seiner Unterführer und brutaler Rücksichtslosigkeit zum Stehen. Einen Mann, der sich empörte, schoß er einfach mit der Pistole nieder. , Dann beorderte er Scharfschützen in die Bäume und ließ von ihnen wahllos das Dorf unter Feuer nehmen. Von diesem Zeitpunkt an begannen die Musketen und Arkebusen zu krachen. Als weitere Maßnahme befahl er die Maisfelder in Brand zu stecken. Immerhin brachte er es fertig, die Soldaten zu beschäftigen. Innerhalb von zehn Minuten brannten die Felder lichterloh. Die Nacht wurde zum Tage. Jetzt forderten die Schüsse der Scharfschützen ihre ersten Opfer –leider Frauen, die so unvorsichtig gewesen waren, sich zu zeigen. Die besten Bogenschützen setzte daraufhin der Häuptling auf die Baumschützen an. Zwei Spanier wurden getroffen und brachen wie überreife Kokosnüsse durch das Geäst. Jetzt wurde Don Miguel Lopez de Valdivia doch vorsichtiger. Außerhalb der Reichweite der Pfeile ließ er sich in der Gabelung eines hohen Baumes einen Gefechtsstand bauen. Er trieb die Männer unbarmherzig an. Bäume wurden gefällt, aus denen provisorische Stege hergestellt
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werden sollten. Die Soldaten mußten schanzen und Erdlöcher ausheben. Über das Gelände der Felder strich stinkender Qualm. Am Waldrand krachten die ersten gefällten Bäume zu Boden. Lagerfeuer wurden entzündet. Zehn Soldaten waren damit beschäftigt, die Plattform in der Gabelung für den Gefechtsstand des „Generals“ zu zimmern. Natürlich mußte auch eine Brustwehr hergerichtet werden. Zwei Soldaten bauten eine primitive Leiter, de Valdivia konnte ja schließlich nicht wie ein Affe den Baum erklimmen. Der Soldat Blaubart mokierte sich darüber — er war einer der beiden Leiterkonstrukteure. Boshafterweise und im stillen Einverständnis mit seinem Kameraden kerbte er die zwölfte Sprosse so ein, daß sie durch krachen mußte, wenn man drauf trat. Als die Leiter fertig war, wurde sie an den Baum gelehnt. Der Soldat Blaubart führte seinem „General“ die Leiter vor. Er erklomm sie sehr behend, vermied es aber natürlich, auf die bewußte Sprosse zu treten. Die Plattform war bereits errichtet. Don Miguel Lopez de Valdivia — der Meinung, sich um alles kümmern zu müssen — wollte sofort seinen werdenden Gefechtsstand besichtigen. Also stieg er die Leiter hoch. Der Soldat Blaubart oben auf der Plattform trat feixend zurück. Der „General“ setzte den rechten Fuß prompt auf die angekerbte Sprosse und raste wie ein Mehlsack bodenwärts. Unten schlug er auf und blieb ein paar Minuten benommen liegen. Der Feldscher wurde gerufen. Er ließ de Valdivia an einer Flasche riechen. Sie enthielt Riechsalz, und das brachte den „General“ wieder auf die Beine. Und nun war der Teufel los. Der Soldat Blaubart mußte vor ihm erscheinen und ebenso dessen Kamerad. Dann wurde die Leiter besichtigt, vor allem die zwölfte Sprosse. De Valdivia erstarrte, als er die angekerbte Stelle entdeckte. Seine Quellaugen quollen noch weiter hervor. Für einige Sekunden
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war er unfähig, einen Ton hervorzubringen. Aber dann explodierte er. „Sabotage!“ brüllte er. „Verrat!“ Er spuckte die Worte dem Soldaten Blaubart ins Gesicht. Der trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück und entschloß sich, ein dämliches Gesicht zu machen. Besser wäre gewesen, sich jäh herumzuwerfen und das Weite zu suchen. Das wäre zwar Fahnenflucht gewesen, aber immer noch besser als das, was nun folgte. „Sind Sie wahnsinnig?“ brüllte de Valdivia. „Nein“, sagte der Soldat Blaubart. Und der andere Soldat sagte auch: „Nein.“ Plötzlich wurde die Stimme de Valdivias sehr, sehr leise, gefährlich leise. „Sie wollten mich umbringen, nicht wahr?“ „Aber nicht doch, General“, sagte der Soldat Blaubart. „Ganz bestimmt nicht“, versicherte der andere. „Geben Sie's zu, Sie wollten, daß ich mir das Genick breche. Sie haben auf meuchlerische Weise nach meinem Leben getrachtet.“ Jetzt wurde es dem Soldaten Blaubart doch mulmig. Er wurde blaß und blickte sich hastig um. Auch der andere Soldat hatte ein beklemmendes Gefühl. Auch er suchte gehetzt nach einer Möglichkeit, mit einem Sprung in die Büsche dem Verhängnis zu entgehen. Aber sie waren beide eingekreist. Die Unterführer und Korporäle standen bereit, um jede Flucht zu verhindern. De Valdivia schnippste mit Daumen und Mittelfinger. Über die Schulter sagte er: „Pistole!“ „Nein!“ schrie der Soldat. Der Soldat Blaubart sagte gar nichts. Er hatte die Zähne zusammengebissen, seine Kaumuskeln an den Kinnecken bewegten sich. De Valdivia empfing die Pistole. Sie war schußfertig. „Hinknien!“ befahl de Valdivia. „Alle beide!“
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„Gnade“, wimmerte der Soldat und sank in die Knie. Der „General“ lächelte höhnisch, trat zur Seite, setzte dem Soldaten die Pistolenmündung ins Genick und zog durch. Der Soldat schlug vornüber. Sein Kopf war fast zur Hälfte vom Rumpf getrennt. Aus der Halsschlagader sprudelte das Blut. „Pistole!“ befahl de Valdivia. Die zweite Pistole wurde ihm gereicht, ebenfalls schußfertig. „Sie stehen ja immer noch“, sagte de Valdivia. „Ich habe befohlen, daß Sie sich hinknien sollen. Wird's bald?“ „Ich sterbe lieber stehend“, sagte der Soldat Blaubart kalt. „So? Sie sterben lieber stehend? Sie verweigern also auch noch die Ausführung eines Befehls, Sie Abschaum aus der Gosse von Cartagena, Blaubart war der Name, nicht wahr?“ Der Soldat Blaubart spuckte dem „General“ verächtlich vor die Füße. „Vor einem Scheißkerl, wie du es bist, Valdivia, knie ich nicht“, sagte der Soldat Blaubart. De Valdivia zuckte zurück, als habe er einen Peitschenhieb erhalten. „Du wirst knien!“ schrie er, richtete die Pistole auf das linke Knie des Soldaten Blaubart, visierte und drückte ab. Der Schuß dröhnte. Das Blei zerschmetterte die Kniescheibe des Soldaten Blaubart. Das linke Knie sackte unter ihm weg. Noch auf dem rechten Bein stehend warf sich der Soldat nach vorn. Gleichzeitig packten seine Hände zu, verkrallten sich in den Stiefeln de Valdivias und rissen ihn zu Boden. Mit übermenschlicher Kraft wälzte sich der Soldat Blaubart über de Valdivia, umklammerte dessen Hals und drückte zu. Er wurde auf dem zuckenden und röchelnden de Valdivia totgeschlagen wie ein toller Hund. Ein Kolbenhieb zerschmetterte seinen Kopf. Aber vor dem „General“ hatte er nicht gekniet. Auch Männer aus der Gosse von Cartagena hatten ihren Stolz.
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Pete Ballie hatte lange den Schützen in dem einen Baum anvisiert und gewartet, bis ein Schußblitz dessen genauen Standort verriet. Er feuerte in das Mündungsfeuer. Ein schriller Todesschrei brach aus dem Baum, ein Körper raste durch die Äste und schlug schwer auf dem Boden auf. Der Mann rührte sich nicht mehr. Die Indianer links und rechts neben Pete Ballie grinsten anerkennend. Dann erwischte Matt Davies einen weiteren Baumschützen und holte ihn herunter. Der lebte aber ‚noch. Jedenfalls kroch er in irgendeine Deckung. Diese beiden Treffer hatten den Erfolg, daß drei weitere Baumschützen fluchtartig von ihren Bäumen sprangen und verschwanden. Der Häuptling ließ ihnen Chicha bringen. Beide tranken – trotz ihres letzten Vollrausches. Aber das Zeug schmeckte schon wieder. Matt Davies wischte sich über den Mund und spähte über die Palisaden. „Die haben vorerst die Schnauze voll“, sagte er befriedigt. „Glaub ich auch“, sagte Pete Ballie. „Und wie geht's weiter? Wenn es hell wird, greifen sie an. Sie haben Bäume gefällt. Wahrscheinlich bauen sie jetzt Behelfsstege.“ Matt nickte. „Das gibt noch 'ne Menge dicke Luft.“ Es sollte recht behalten. * Auf der „Golden Hind“ marschierte Kapitän Drake unruhig von der Backbordseite zur Steuerbordseite und wieder zurück. Ab und zu wehte der Wind den schwachen Klang von Musketenschüssen zu ihnen herüber. Vor einer halben Stunde hatte Tim Brewer vom Hauptmars her Feuerschein auf der Insel gemeldet. Der Kapitän blieb vor Thomas Moone stehen.
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„Verdammt“, sagte er, „wenn ich nur wüßte, was da los ist. Der Seewolf muß an die Indianer geraten sein und schlägt sich jetzt mit ihnen herum. Und genau das habe ich vermeiden wollen. Jetzt haben wir den Dreck.“ Thomas Moone schüttelte den Kopf. „Das mit dem Feuerschein verstehe ich nicht. Der Seewolf ist doch kein Brandstifter oder einer, der mit Feuer und Brand kämpft. Irgendetwas paßt da nicht zusammen. Aber vielleicht braucht er Hilfe?“ „Wir müssen warten“, erwiderte Drake verbissen. „Wenn jetzt ein zweiter Trupp an Land geht und unter Umständen den Seewolf verfehlt, geht das Theater von vorn los. Einer sucht immer den anderen. Nein, das wäre keine Lösung.“ Er nahm seinen Marsch von der einen zur anderen Schiffsseite wieder auf. Die Ungeduld brannte in ihm. Ungeduld und Sorge. Dann durchblitzte ihn ein neuer Gedanke, und er blieb wieder vor Thomas Moone stehen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Thomas Moone an. „Da stimmt wirklich etwas nicht, Thomas“, sagte er. „Waren denn der Seewolf und seine Männer mit Musketen ausgerüstet, als sie an Land pullten, um den Kutscher, Batuti und O'Flynn zu holen?“ Thomas Moone blickte erstaunt auf. „Sie haben recht, Francis. Da stimmt was nicht. Aber ob sie Waffen dabei hatten, weiß ich nicht. Normalerweise packt man ja wohl bei einem Mann-über-Bord-Manöver keine Waffen in ein Boot.“ „Genau. Die Indianer haben keine Musketen, sonst hätten sie uns bei unserem ersten Landgang damit fertiggemacht: Und wenn der Seewolf und seine Männer unbewaffnet losgezogen sind, wer schießt dann auf der Insel?“ „O verdammt, wenn ich das wüßte“, sagte Thomas Moone unbehaglich. „Die Sache wird immer mysteriöser.“ Der Kaplan betrat das Achterdeck. „Wir sollten beten“, sagte er. „Beten, beten!“ fuhr Kapitän Drake auf. „Ich kann jetzt nicht beten, Mister
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Fletcher. Ich zerfresse mich vor Sorge um meine Männer, und da soll ich beten!“ „Im Gebet findet der Mensch seine Ruhe und Ausgeglichenheit wieder, Kapitän“, sagte der Kaplan. „Dann beten Sie“, sagte der Kapitän bissig. „Und bitte für mich gleich mit.“
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Der Kaplan nickte, ging an die Achterdeckreling und faltete die Hände. Kapitän Drake und Thomas Moone starrten auf seinen Rücken. „Ich wünschte, sein Gebet würde helfen“, sagte Kapitän Drake und nahm seinen unruhigen Marsch über das Achterdeck wieder auf.
ENDE