Astrid Baltruschat Die Dekoration der Institution Schule
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 35 Herausgegeb...
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Astrid Baltruschat Die Dekoration der Institution Schule
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 35 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Astrid Baltruschat
Die Dekoration der Institution Schule Filminterpretationen nach der dokumentarischen Methode
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation, Freie Universität Berlin, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz und Layout: Irma Stolz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17123-4
Meinen Eltern
6
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung .....................................................................................................9
2 2.1 2.2
Konzeption der empirischen Analyse ......................................................15 Fragestellung und Vorgehensweise der Studie............................................15 Grundbegriffe der empirischen Analyse: metatheoretische Kategorien ........20
3
Filminterpretation nach der dokumentarischen Methode ....................29
4 4.1 4.2
Der Schüler¿lm: Melanchthon – ¿nd ich super .....................................54 Überblick über den Film .............................................................................54 ›Theater‹-Szenen (GS 1– 4) ........................................................................58 4.2.1 Der Sportunterricht (GS 1) ...............................................................59 4.2.2 Der allgemeine Unterricht (GS 2) .....................................................63 4.2.3 Computerraum und traditionelles Schreiben (GS 3).........................71 4.2.4 Der Musikunterricht (GS 4) ..............................................................78 4.2.5 ReÀexion der ›Theater‹-Szenen ........................................................83 4.2.6 Die Meta-Gegenszene .......................................................................85 Das dekorative Spiel mit der persönlichen Meinung ..................................91 4.3.1 Die Szene Pinnwand .........................................................................91 4.3.2 Das ›Interview‹ .................................................................................95 4.3.3 Die Szene Baby ...............................................................................103 Rahmungen und Bühnen ........................................................................... 114 4.4.1 Der Rahmen des ›Films im Film‹ ................................................... 114 4.4.2 Der Nachspann des ›Films im Film‹ ............................................... 117 4.4.3 Die Outtakes ...................................................................................124 4.4.4 Die Rahmenhandlung .....................................................................131 4.4.5 Der Schlussteil des ›Schul-Aufsatzes‹ ............................................133
4.3
4.4
7
4.5 4.6
Der Filmtitel ..............................................................................................147 Zusammenfassung ....................................................................................150
5
5.5 5.6
Der Lehrer¿lm: Kammer des Schreckens oder Realschule in Zeiten der Revaluation ...................................................156 Überblick über den Film ...........................................................................156 Der Blick nach oben .................................................................................159 5.2.1 Die ›doppelköp¿ge‹ Strukturierungsmacht und das Kollektiv der Lehrer..................................................................................160 5.2.2 Aufblick und Aufstehen ..................................................................170 Der Blick nach unten ................................................................................180 5.3.1 ›Sich zum Affen machen‹ ...............................................................180 5.3.2 Der Weg ..........................................................................................184 BeruÀiche und persönliche Identität .........................................................192 5.4.1 Marianne .........................................................................................192 5.4.2 Die Form der Selbst-Satire .............................................................203 5.4.3 Die ›gelungene‹ Show ....................................................................205 5.4.4 Der Lehrervortrag ...........................................................................209 Der Filmtitel ..............................................................................................213 Zusammenfassung ....................................................................................219
6 6.1 6.2 6.3 6.4
Die Dekoration der Institution Schule ..................................................224 Die Dekoration ..........................................................................................224 Das zeremonielle Rollenspiel ...................................................................226 Das Engagement der Lehrer im zeremoniellen Rollenspiel .....................234 Das Engagement der Schüler im zeremoniellen Rollenspiel ....................239
7
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule und Schulpädagogik .............................................................248 Die Dekoration als generatives Muster im Feld der Schule .....................248 7.1.1 Wann ist die Schule eine Schule? ...................................................248 7.1.2 Die Schule als Institution ................................................................263 7.1.3 Die illusio ........................................................................................278 Entwicklung einer praxeologischen Schulpädagogik ...............................287 Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden? ...................294
5.1 5.2
5.3
5.4
7.1
7.2 7.3
8
Abbildungsverzeichnis.....................................................................................305 Literaturverzeichnis ........................................................................................308 Anhang Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................323 Sequenzverlauf des Schüler¿lms .......................................................................324 Strukturskizze des Schüler¿lms .........................................................................328 Strukturskizze des Lehrer¿lms ..........................................................................332
Die in Kapitel 4 und 5 besprochenen Filme sind im Internet einsehbar unter folgender Adresse: www.moviscript.net
9
1 Einleitung
Macht mit beim Melanchthon-Wettbewerb 2004 – Schulen im Wandel Das Wettbewerbsthema:
Schule überdenken! Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden? An dem Kreativ- und Ideenwettbewerb für Schulen und Hochschulen im Großraum Nürnberg können Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schülereltern, Studentinnen und Studenten, Hochschullehrer und interessierte Bürgerinnen und Bürger teilnehmen. Prämiert werden Einzel- oder Teamarbeiten in drei Altersgruppen. Zu gewinnen gibt’s Preise im Gesamtwert von 10.000 Euro. Quelle: Nürnberger Nachrichten, 28.01.2004
Während der Diskurs um die Gestalt der Schule in den 1980er und 90er Jahren fast ausschließlich in Fachkreisen geführt wurde, gewann er ab der Jahrtausendwende wieder zunehmend an allgemeinem Interesse. Einerseits spielte dabei die Veröffentlichung der Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien wie TIMSS oder PISA und das unerwartet schlechte Abschneiden der deutschen Schüler eine Rolle (der sog. PISA-Schock), andererseits aber auch die zunehmende Unzufriedenheit von Eltern mit dem Schulalltag und der Bildungskarriere ihrer Kinder oder von Arbeitgebern mit dem Bildungsstand der Schulabsolventen. Auch im weit gesteckten Adressatenkreis des Melanchthon-Wettbewerbs mit dem Thema »Schule überdenken! – Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden?« spiegelt sich die breite Resonanz für die Schulthematik wider und ein Blick auf dessen Veranstalter
10
Kapitel 1
Abb. 1
bestätigt dies ebenfalls: Bei den Initiatoren handelt es sich weder um fachwissenschaftliche Experten noch um ein Gremium, das mit der kultusministeriellen Schulaufsicht verbunden ist, sondern um einen freien, gemeinnützigen Verein, der allen interessierten Bürgern offen steht. Die »Freunde des Melanchthon-Gymnasiums e.V.« hatten sich 1976, anlässlich des 450. Geburtstags des Melanchthon-Gymnasiums Nürnberg, zu einem Verein zusammengeschlossen, um diese Schule zu unterstützen. Mit dem Melanchthon-Wettbewerb »Schulen im Wandel«, den sie im Jahr 2000 ins Leben riefen1, wollten sie daran erinnern, dass der berühmte Gründer und Namenspatron des Gymnasiums, Philipp Melanchthon (1497–1560), nicht nur ein bedeutender Reformator und Humanist, sondern seinerzeit auch als Schulreformer tätig war, was ihm den Ehrentitel Praeceptor Germaniae (Lehrer Deutschlands) einbrachte. Dieser schulreformerische Impetus sollte durch den Wettbewerb weitergeführt werden, indem hiermit ein Forum etabliert wurde, das nicht nur Fachleute, sondern alle von Schule Betroffenen und an Schule Interessierten zur Auseinandersetzung mit der Weiterentwicklung dieser Institution einladen sollte.2 Das Anliegen, gerade auch der Perspektive der (vermeintlichen) ›Laien‹ Geltung zu verschaffen, das durch diesen Wettbewerb zutage tritt, soll mit dieser Studie aufgegriffen und weitergeführt werden. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Reformvorschläge und -bemühungen seitens von Experten, Erziehungswissenschaftlern oder Bildungspolitikern interessierte mich, welche Antworten diejenigen Teilnehmer des Wettbewerbs, die tagtäglich mit Schule zu tun haben und direkt von ihr betroffen sind, auf die Themenfrage geben würden. Freundlicherweise erklärten sich die »Freunde des Melanchthon-Gymna-
1 Der erste Wettbewerbsdurchgang im Jahr 2000 stand unter dem Thema: »Humane Bildung und Neue Medien – Kontinuität und Wandel der Schule im Internet-Zeitalter«. Der Wettbewerb, der dieser Studie zugrunde liegt, wurde im Herbst 2003 ausgeschrieben. Seitdem wurden folgende weitere Wettbewerbsdurchgänge veranstaltet: »Schule in Bewegung« (2007); »Schule der Kulturen« (2009). 2 Für weitere Informationen: www.freunde-melanchthon-gymnasium.de
Einleitung
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siums« schnell bereit, mir Zugang zu allen eingehenden Beiträgen zu verschaffen. Und so tat sich nach Ende des Einsendeschlusses vor mir ein Kaleidoskop vielfältigster Themen auf, präsentiert in unterschiedlichsten Formen und auf z.T. sehr kreative und originelle Weise gestaltet. Es gingen 142 Beiträge ein, an denen insgesamt 307 Teilnehmer gearbeitet hatten (viele der Einsendungen waren in Teamarbeit entstanden). Neben einer Vielzahl kürzerer Beiträge in Form von Text (z.B. Aufsätze) und / oder Zeichnungen (vgl. Bsp. 4, Kap. 6.4) fanden sich: • 4 Kurz¿lme (vgl. Kap. 4 und 5) • 5 Multimediapräsentationen (eine davon als interaktives Programm: Bsp. 6, Kap. 6.4) • 8 gebastelte dreidimensionale Modelle von Klassenzimmern (vgl. Bsp. 5, Kap. 6.4) • 5 innovative Unterrichtsprojekte (vgl. Bsp. 1, Kap. 6.2) • 1 Gasbeton-Installation incl. Dokumentation des dazugehörigen Unterrichtsprojekts (vgl. Bsp. 3, Kap. 6.3) • 1 Dokumentation eines Schulentwicklungsprozesses (Bsp. 2, Kap. 6.2) • 1 großformatige Karikatur • 1 Theaterstück • 1 Portfolio (u.a. mit einer Phantasiegeschichte) • 7 thematische bzw. wissenschaftliche Arbeiten Die Mehrheit der Beiträge wurde von Schülern erstellt (meist im Rahmen von Unterrichtsprojekten), wobei die neunte Jahrgangsstufe am stärksten vertreten war, dicht gefolgt von der siebten. Die Beiträge der Erwachsenen stammten von Lehrern (z.B. der Film in Kap. 5 oder die Dokumentation, Bsp. 2, Kap. 6.2), von Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen und aus diversen außerschulischen Berufsgruppen. Aus der enormen Vielfalt der angesprochenen Themen (von der Drogenproblematik bis zu Neuen Medien) waren es insbesondere zwei, die immer wieder auftauchten: 1) die Ausgestaltung der Räumlichkeiten, angefangen bei den einzelnen Klassenzimmern über den Pausenhof bis hin zu Details wie dem Wunsch nach Schließfächern (vgl. Bsp. 4, Kap. 6.4), 2) Kritik an der Bildungspolitik3. 3 In jenem Jahr erhitzte die plötzliche Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) die Gemüter von Eltern, Lehrern, Schulleitern und Schülern und wurde dementsprechend häu¿g auch in den Wettbewerbsbeiträgen aufgegriffen und kritisiert.
12
Kapitel 1
Während das erste Thema bei den Schülern im Vordergrund stand, war das zweite der Spitzenreiter bei den Erwachsenen. Bei einer thematischen Inhaltsanalyse wollte ich allerdings nicht stehen bleiben. Mein Interesse galt insbesondere dem Wissen um Schule, das von den Produzenten nicht direkt expliziert wurde, sondern sich implizit, als latente Sinnstruktur, in den Wettbewerbsbeiträgen widerspiegelte. Dieses atheoretische Praxiswissen um Schule, über das nur diejenigen verfügen, die unmittelbar von ihr betroffen sind, gibt Aufschluss über handlungsleitende Muster, die im Feld der Schule wirksam sind, zu denen Außenstehende jedoch keinen umittelbaren Zugang haben (Näheres dazu: Kap. 2.1). Diese Wissensbestände erschließen sich allerdings nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Produkten der Akteure und so musste aufgrund der Anzahl und der Komplexität der Wettbewerbsbeiträge eine Auswahl getroffen werden. Dabei ¿el die Entscheidung, insbesondere zwei Filme ins Zentrum dieser Studie zu stellen (Weiteres dazu: Kap. 2.1). Nachdem zu Beginn meiner Analysearbeit noch keine umfassenderen Interpretationen von derartigem Filmmaterial in dieser spezi¿schen Erkenntnisabsicht vorlagen, betrat ich hier ein noch wenig bestelltes Feld. Während der Interpretation der beiden Filme wurde deshalb immer auch gleichzeitig die methodische Vorgehensweise reÀektiert und weiterentwickelt. Dabei spielte die Betreuung durch Prof. Dr. Ralf Bohnsack und die Diskussion meiner Interpretationen und des methodischen Vorgehens in seiner Berliner Forschungswerkstatt eine tragende Rolle. Bei der Analyse der beiden Filme wurden die anderen Beiträge, die ebenfalls von Lehrern oder Schülern erstellt worden waren, als Kontrastmaterial (komparative Analyse) herangezogen (vgl. z.B. Kap. 6), während die Beiträge außerschulischer Personen in den Hintergrund traten. Im Unterschied zu anderen Schulwettbewerben wie z.B. »i.s.i.« (vgl. Kap. 7.1.3, F 176) oder dem Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung4 geht es beim Melanchthon-Wettbewerb nicht darum, die eigene Schule oder die eigene Praxis herauszustellen (und ›herauszuputzen‹), sondern Ideen zu entwickeln, wie Schule generell verbessert werden könnte. Das Moment der idealisierenden Präsentation der eigenen Praxis taucht deshalb hier nur in einzelnen Beiträgen auf (vgl. Bsp. 1, Kap. 6.2) und bleibt eher im Hintergrund, während es umgekehrt eine ganze Reihe kritischer oder satirischer Beiträge gibt (z.B. der Lehrer¿lm, Kap. 5). Der für diese Arbeit gewählte Titel »Die Dekoration der Institution Schule« bezieht sich also nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, auf eine idealisierende 4 Vgl.: http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/language1/html/index.asp
Einleitung
13
Darstellung der Schule durch die Wettbewerbsbeiträge an sich, sondern auf eine Praxis, die im Feld der Schule auf vielfältige und z.T. subtile Weise eine bedeutsame Rolle zu spielen scheint (Kap. 7.1) und die aus diesen Beiträgen rekonstruiert wurde (Kap. 6). Lediglich in einzelnen Fällen, wie z.B. in der idealisierenden Darstellung der eigenen Unterrichtspraxis in Bsp. 1 (Kap. 6.2) kommt es zu einer Überlagerung, indem sich das Muster der Dekoration in der Präsentation des Beitrags wiederholt (vgl. dazu auch F 139). Zum Aufbau dieser Arbeit: Zunächst werden Fragestellung und Methodik, die dieser Studie zugrunde liegen, erläutert (Kap. 2). Der methodischen Vorgehensweise zur Interpretation von Filmen nach der dokumentarischen Methode wurde dabei ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 3). In Kap. 4 und 5 werden sodann die Interpretationen der beiden ausgewählten Filme ausführlich vorgestellt: Zunächst der Schüler¿lm »Melanchthon – ¿nd ich super«, der von einem Schülerinnen-Team einer 9. Klasse des MelanchthonGymnasiums gedreht wurde (Kap. 4), und danach der Lehrer¿lm »Kammer des Schreckens oder Realschule in Zeiten der Revaluation«, der von einem Lehrerteam einer Realschule im Landkreis Fürth produziert wurde (Kap. 5). Beide Perspektiven, die der Lehrer und die der Schüler, lassen sich in einem gemeinsamen Rahmen verorten, in dem ein Muster sichtbar wird, das sich, auf je unterschiedliche Weise, sowohl in den beiden Filmen als auch in weiteren Wettbewerbsbeiträgen von Lehrern und Schülern zeigte. Dieses Muster, für das der Begriff der Dekoration gewählt wurde, wird in Kap. 6 erläutert. Zu dessen näheren Veranschaulichung werden in diesem Kapitel außerdem weitere Wettbewerbsbeiträge vorgestellt (Bsp. 1–6). Nutzt man die in dieser Studie rekonstruierten empirischen Ergebnisse nun als verallgemeinerbare theoretische Perspektive, so eröffnen sie eine neue Sicht auf den Gesamtzusammenhang des aktuellen schulpädagogischen Diskurses und lassen Deutungs- und Argumentationsschemata fragwürdig werden, die derzeit weitgehend als selbstverständliche Maximen gelten, wie z.B. das Leitbild von der Schule als Lebens- und Erfahrungsraum (von Hentig) oder die erwünschte Etablierung einer »Neuen Lernkultur«, durch die die Lebensferne und die Fremdbestimmtheit des schulischen Lernens überwunden werden sollen. Dabei zeigt sich, dass das Muster der Dekoration für die Deutung der Handlungspraxis von Akteuren unterschiedlicher Ebenen im Feld der Schule fruchtbar gemacht werden kann und dass sich daraus weitere Erkenntnisse gewinnen lassen (Kap. 7.1).
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Kapitel 1
Eine Konsequenz, die sich aus diesen Einsichten ergibt, wäre die Entwicklung einer praxeologischen Schulpädagogik (im Anschluss an Pierre Bourdieu; vgl. Kap. 7.2) bzw. einer performativen Schulpädagogik (im Anschluss an Christoph Wulf; vgl. Kap. 7.2, b)5, die als eine Ergänzung bzw. als Korrektiv zu einer normativ-programmatisch orientierten Schulpädagogik hinzutreten könnte (Kap. 7.2). Zum Abschluss dieser Arbeit wird schließlich nochmals die Themenfrage des Wettbewerbs aufgegriffen (Kap. 7.3). Auf der Basis der in dieser Studie gewonnenen Ergebnisse wird nun eine eigene Antwort angedacht. Entsprechend dem Teilnehmerkreis des Wettbewerbs (Schüler ab der 7. Jahrgangsstufe und Lehrer der Sekundarstufe) liegt dabei das Augenmerk ausschließlich auf der Gestaltung der Sekundarstufe unseres Schulsystems.
5 In ihrer Fokussierung auf die Handlungspraxis der Akteure stellt die Forschungsperspektive auf das Performative in gewisser Weise eine spezi¿sche Form der praxeologischen Perspektive dar (vgl. Kap. 7.2).
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2
Konzeption der empirischen Analyse
2.1 Fragestellung und Vorgehensweise der Studie In der Formulierung des Wettbewerbsthemas (vgl. Kap. 1) dokumentiert sich ein grundlegender Zweifel in Bezug auf die heutige Gestalt unseres Schulwesens (»Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden?«). Die Institution Schule als solche wird ›frag-würdig‹. In der hier vorliegenden Studie soll an diese Frage, die auch für die Erstellung der Wettbewerbsbeiträge leitend war, angeknüpft werden. Hinweise, die zu einer vertieften ReÀexion dieser Fragwürdigkeit und damit zu Antworten führen könnten, werden dabei nicht lediglich vordergründig in den expliziten Antworten der Wettbewerbsteilnehmer gesucht, sondern insbesondere in deren handlungsleitendem Wissen um Schule, das sich durch ihre Beiträge dokumentiert, und in dem Spannungsverhältnis, das zwischen explizitem und handlungsleitendem Wissen sichtbar wird (vgl. Bohnsack 2009a: 17). Im Gegensatz zu dem Wissen theoretischer Art über Schule, das die Experten aus Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft besitzen, verfügen Schüler und Lehrer als Akteure der Schule durch ihre selbst erlebte Praxis im tagtäglichen Umgang mit und in dieser Institution über ein »atheoretisches Wissen« (Mannheim 1964: 97ff) um und innerhalb von Schule, zu dem jene Experten keinen direkten Zugang haben und das damit auch deren unmittelbarem Verstehen6 entzogen bleibt (vgl. Bohnsack 2009a: 17f). Die Akteure selbst wiederum verfügen zwar über dieses atheoretische Praxiswissen, sie explizieren dieses jedoch nicht, sondern es scheint implizit in ihren Äußerungen über Schule auf und damit auch in den Wettbewerbsbeiträgen, die sie erstellt haben: 6 Mannheim (1980) unterscheidet zwischen dem unmittelbaren Verstehen, das die Angehörigen eines gemeinsamen (»konjunktiven«) Erfahrungsraums verbindet, und dem Interpretieren, auf das notwendigerweise jede Verständigung über die Grenzen des eigenen Erfahrungsraums hinweg zurückgreifen muss (vgl. Bohnsack 2009a: 18).
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Kapitel 2
in ihren Erzählungen, Bildern, Plastiken und Filmen, aber auch in der Art ihres (subjektiven) Theoretisierens über Schule. Die Herausforderung, die sich dementsprechend dem Forschenden stellt, besteht darin, dieses »implizite Wissen« (Polanyi 1985) der Akteure zu rekonstruieren und begrifÀich-theoretisch zur Explikation zu bringen (vgl. Bohnsack 2009a: 19). Die von Lehrern und Schülern eingereichten Wettbewerbsbeiträge werden also im Sinne Bourdieus als ein opus operatum verstanden, als Produkte, die aus dem handlungsleitenden Wissen der Praktiker (der Akteure eines Praxisfeldes) heraus gestaltet wurden und dementsprechend dieses in der Art einer latenten Sinnstruktur in sich tragen im Sinne eines modus operandi (Bourdieu 1979: 209). Nach Pierre Bourdieus Konzept des Habitus, auf das hier zurückgegriffen wird, gibt das Praxiswissen der Akteure, und damit ihr Habitus, gleichzeitig Auskunft über Strukturen desjenigen Feldes, in dem sich dieses Wissen entwickelt hat. Das aus der eigenen Erfahrung entsprungene atheoretische Wissen wird als eine Art »geronnene Geschichte« zu einem inkorporierten Wissen bzw. zu einem Körper gewordenen Sozialen in den Akteuren eines Feldes (Bourdieu & Wacquant 1996: 161). Es stellt eine Art »strukturierte Struktur« dar, die ihrerseits wieder im Handeln der Akteure strukturierend wirkt als sog. »strukturierende Struktur« (vgl. Krais & Gebauer 2008: 22f). Die Positionen, die die Akteure in einem Feld inne haben, und die Erfahrungen, die mit ihren Positionen verbunden sind, kommen dabei in ihren jeweiligen Habitus7 zum Ausdruck. Bourdieu beschreibt das Feld als eine Art unsichtbares Kraftfeld, das erst durch das Handeln der Akteure in diesem Feld erkennbar wird (vgl. z.B. Bourdieu 2001: 49). Man könnte es vielleicht mit einem Magnetfeld vergleichen, das erst durch sich formierende Metallteile sichtbar wird. Dementsprechend richtet sich diese Studie auch nicht allein auf den Habitus, also das inkorporierte, handlungsleitende Praxiswissen der Produzenten der hier vorliegenden Dokumente, sondern darüber hinaus auch auf das Feld der Institution Schule, in dem und über das diese Dokumente produziert wurden, und auf Strukturen und generative Muster, die in diesem Feld wirksam sind und ihre Spuren in den Habitus der Produzenten hinterlassen. Dabei sind es gerade die Wettbewerbsbeiträge bildlich-gestalterischer Art, die – anders als die Beiträge theoretisierender Art (wie z.B. Aufsätze oder wissenschaftliche Abhandlungen) – einen ganz unmittelbaren Zugang zu eben jenen atheoretischen Wissensbeständen ermöglichen, da gerade im Medium des Bildhaften, des Ikonischen das vor-reÀexive Praxiswissen einen ungebroche7 Für den Plural wird hier die lateinische Form verwendet (vgl. dazu Krais & Gebauer 2008: 7).
Konzeption der empirischen Analyse
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nen Ausdruck ¿ndet (vgl. Bohnsack 2009a: 15f). Zudem eröffnet sich im Bildhaften eine Sinnkomplexität, die weit über sprachlich Explizierbares hinausgeht und damit Ambiguitäten (Eco) und Übergegensätzlichlichkeiten (Imdahl) in den Blick kommen lässt, die sonst verborgen bleiben würden (ebd.: 36; vgl. Kap. 3). Deshalb sollen insbesondere derartige Dokumente in dieser Studie ins Zentrum der empirischen Analyse gestellt werden. Um sie adäquat in ihrer Eigengesetzlichkeit erfassen zu können, wird ihnen derselbe Respekt wie Werken der Kunst entgegengebracht, und sie werden deshalb einer detaillierten, nahezu mikroskopischen Betrachtung unterzogen (ebd.: 11). Die hier angestrebte Tiefe der ReÀexion macht allerdings eine Begrenzung auf wenige Dokumente notwendig, und so ¿el schließlich die Entscheidung, sich insbesondere auf zwei Wettbewerbsbeiträge zu konzentrieren, die sich aufgrund ihres »Kontrasts in der Gemeinsamkeit« (Bohnsack et al. 2001: 236) besonders gut für eine komparative Analyse eignen: Bei beiden ausgewählten Dokumenten handelt es sich um Kurz¿lme. Ein Film ist von einem Schülerteam aus einer Klasse, der andere von einem Lehrerteam einer Schule gedreht worden. Beide Teams bestehen also aus Angehörigen eines gemeinsamen, konjunktiven Erfahrungsraums in Bezug auf die Schule. Beide Gruppen – und das ist im Gegensatz zu anderen Wettbewerbsbeiträgen das zusätzlich Verbindende dieser Dokumente – drehten diese Filme in ihrer und über ihre jeweilige Schule und spielten dabei auch noch gleichzeitig die Hauptrollen. Somit weisen die beiden Produkte eine Reihe von formalen Gemeinsamkeiten auf, repräsentieren dabei allerdings gleichzeitig zwei unterschiedliche, zueinander komplementäre Positionen im Feld der Schule. Nachdem die Produzenten dieser Filme in beiden Fällen nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera agierten, erlauben diese Produkte außerdem noch einen Blick auf die »Leibsprache« (Mannheim 1964: 136) der Beforschten, die, über die Gestaltung im Medium des Bildhaften hinaus, in einer unmittelbaren Weise Aufschluss über das inkorporierte, das Körper gewordene Wissen der Akteure zu geben vermag (Bohnsack 2009: 149f; vgl. Kap. 3). Trotz der Konzentration auf diese beiden Dokumente wurde das Potential der übrigen Wettbewerbsbeiträge (insbesondere derer, die die beiden unterschiedlichen Positionen von Lehrern und Schülern repräsentieren) weiterhin als Vergleichshintergrund und -horizont genutzt (siehe Kap. 6). Eine große Herausforderung für das forschungsmethodische Vorgehen dieser Studie stellte die Vielgestaltigkeit des Datenmaterials dar, insbesondere die Dominanz nicht-textförmiger Dokumente, die bislang in der empirischen Forschung eine eher marginale Rolle spielen. Im Rahmen der dokumentarischen Methode, die aufgrund ihrer Methodologie und ihrer Fokussierung auf das
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Kapitel 2
handlungsleitende Wissen der Akteure für die anvisierte Forschungsfragestellung in besonderem Maße geeignet erscheint, wurden bislang zwar Zugänge zur Interpretation von Texten und inzwischen auch von Bildern entwickelt, die Interpretation von Filmen stellt allerdings auch dort noch gewisses Neuland dar (vgl. Kap. 3). Das Datenmaterial der hier vorliegenden Studie wurde nicht, wie sonst üblich, systematisch erhoben unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität oder, im Sinne eines theoretical samplings, aufgrund forschungsstrategischer Überlegungen, sondern es stellt eine zufällige Sammlung unterschiedlichster Dokumente dar (aus der dann allerdings eine begründete Auswahl getroffen wurde). Die Reichweite der Ergebnisse dieser Studie ist deshalb begrenzt und kann nur kleine Einblicke in die Habitus der Akteure und in generative Muster des Feldes ermöglichen, die ihrerseits zu weiteren Untersuchungen anregen können. Für das rekonstruktive Vorgehen dieser Studie stellt allerdings die Besonderheit des zugrundeliegenden Datenpools auch einen Vorteil dar, da dieses Material nicht zielgerichtet für Forschungszwecke hergestellt wurde und damit auch nicht von vornherein von einer bestimmten Forschungsfragestellung beeinÀusst ist. Während der Interpretationsarbeit zeigte sich, dass sich das Begriffsinstrumentarium der interaktionistischen Theorie im Anschluss an George Herbert Mead, insbesondere in seiner weiteren Ausgestaltung durch Erving Goffman, für die Explikation der allmählich an Konturen gewinnenden Strukturen besonders gut zu eignen schien. So ¿el die Entscheidung, eingebettet in den übergeordneten metatheoretischen Rahmen der dokumentarischen Methode, insbesondere auf die Begriffe und Konzepte Goffmans als weitere metatheoretische Kategorien für die Interpretation zurückzugreifen (Kap. 2.2). Der Begriff des »Habitus« (Bourdieu) und die Begriffe in der Tradition des Interaktionismus wie die des »Selbst« (Mead; vgl. Kap. 7.1.2) oder der »persönlichen Identität« (Goffman, Kap. 2.2) lassen sich allerdings nicht ohne weiteres zur Deckung bringen, auch wenn Goffman aufgrund der Dimension des Nicht-Intentionalen und VorreÀexiven in seinem Verständnis des Handelns eine gewisse Nähe zum Habitus-Konzept zeigt.8 Im Kontext der 8 Dies kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher ausgeführt werden. Zur weiteren Auseinandersetzung dazu vgl. Krais & Gebauer 2008: 68ff; Raab 2008: 49f. Obwohl bei Goffmans Darstellungen immer wieder der Eindruck entsteht, er gehe von einem intentional strategisch handelnden Individuum aus, so ist dies doch wohl eher der präzisen Explikation geschuldet. Er selbst weist z.B. in der Einleitung zu »Wir alle spielen Theater« ganz explizit auf die Dimension des Nicht-Intentionalen hin: »Von den zwei genannten Kommunikationstypen – Ausdruck, den sich der einzelne gibt, und Ausdruck, den er ausstrahlt – wird sich die vorliegen-
Konzeption der empirischen Analyse
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dokumentarischen Methode können diese verschiedenen BegrifÀichkeiten jedoch als unterschiedliche Handlungsebenen verstanden werden, die aufeinander bezogen sind. Insofern leistet die Methodologie der dokumentarischen Methode eine Integration dieser unterschiedlichen Konzepte. Der Begriff der »Identität« (Mead; Goffman) zielt dabei auf eine Handlungsebene, auf der der Einzelne sich mit Erwartungen, Entwürfen und Fremdidenti¿zierungen anderer auseinandersetzt und diese in Form von »kommunikativen Ritualen« (Bohnsack 2004) verarbeitet. Mit dem Begriff des »Habitus« (Bourdieu) kommt darüber hinaus eine weitere Handlungsebene in den Blick, auf der jene Erwartungen an den Einzelnen nun mit der je von ihm zu bewältigenden Alltagspraxis vermittelt werden im Sinne von »konjunktiven Ritualen« (Bohnsack 2004: 81). Insofern kann das kommunikative Handeln als eine spezi¿sche Ausprägung habituellen Handelns betrachtet werden (vgl. Bohnsack 2009b; 2003c; Bohnsack & Nohl 2001). Auch wenn diese Studie aufgrund eines teilweise gemeinsamen Begriffsinstrumentariums und der gemeinsamen Thematik (Menschen im Feld der Institution Schule) in gewisser Weise an jene Studien anzuknüpfen scheint, die in der Tradition der interaktionistischen Theorie entstanden sind (Heinze 1976; 1980; Zinnecker 1978; vgl. Brumlik & Holtappels 1987) und auf die in Kap. 7.1.2 noch Bezug genommen wird, so darf dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Anschluss keineswegs bruchlos erfolgt. Neben den eben skizzierten Unterschieden zwischen den Konzepten der »Identität« und des »Habitus« folgen jene Studien einer prinzipiell anderen Vorgehensweise. Sie sind nicht rekonstruktiv angelegt, sondern nutzen die interaktionistischen Konzepte als theoretische Perspektive für die Analyse. Die empirische Realität wird dabei sozusagen durch die Brille des jeweiligen Konzeptes betrachtet. So wird beispielsweise bei Heinze (1976; 1980) die Beobachtung und Interpretation der Verhaltensweisen der Schüler durch das Konzept der »totalen Institution« (Goffman; vgl. Kap. 7.1.2) vorstrukturiert. Um zu vermeiden, dass bei einem rekonstruktiven Vorgehen an die Stelle einer theoretischen Perspektive nun die eigene Standortgebundenheit tritt, kommt in dieser Studie der komparativen Analyse und dem Fallvergleich für die Interpretationsarbeit eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Kap. 3), ergänzt durch die ReÀexion der eigenen Standortverbundenheit (vgl. Bohnsack 2003a: 193ff) und die Auseinandersetzung mit den Perspektiven anderer Forschender (z.B. in de Untersuchung primär mit dem zweiten Typ als dem bühnenmäßigeren und dem stärker in das Gesamtverhalten eingebundenen Typ beschäftigen, gleichgültig, ob diese Art der Kommunikation absichtlich hergestellt wurde oder nicht.« (Goffman 2003: 8; H. v. A. B.)
20
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einer Forschungswerkstatt). Während außerdem die Akteure in Studien interaktionistischer Tradition primär aus einer Beobachterperspektive wahrgenommen wurden, die auf deren Verhalten und die sichtbar werdenden Interaktionsprozesse gerichtet war, zielt die vorliegende Studie auf das handlungsleitende Wissen der Beforschten ab. Wenngleich sich dies auch im Handeln der Akteure (z.B. vor der Kamera) zeigt, wird es jedoch erst dann rekonstruierbar, wenn dieses Handeln in seiner Doppelstruktur als Darstellungsmodus und als Existenzweise in den Blick genommen wird (Bohnsack 2007a: 204; vgl. auch Kap. 7.2b). Schließlich verbleibt der Interaktionismus durch seine Fokussierung auf einzelne Interaktionen auf der Ebene der Mikrosoziologie, während demgegenüber der Rückgriff auf Bourdieus Habitus-Konzept Übergänge zu übergeordneten Strukturen eröffnet (vgl. Kap. 7.2).
2.2 Grundbegriffe der empirischen Analyse: metatheoretische Kategorien Auf Begriffe und Konzepte Goffmans zurückzugreifen ist nicht ganz unproblematisch. Sie sind klärungsbedürftig, da man aufgrund einer Vielfalt unterschiedlicher Lesarten und Rezeptionsweisen kein einheitliches Verständnis von ihnen voraussetzen kann. Die Ursache dafür liegt darin, dass es Goffman selbst gar nicht daran gelegen war, eine in sich geschlossene Theorie oder ein einheitliches Begriffssystem zu entwickeln (Lenz 1991: 27). Allerdings begnügte er sich auch nicht einfach mit einer deskriptiven Ethnogra¿e der von ihm beforschten Felder, sondern entwickelte aus den jeweiligen Gegenstandsbereichen heraus dazu passende Begriffe und Kategorien (Knoblauch 2001: 17). Er bewegt sich, mit den Worten Bourdieus, zwischen »object-less theoreticans and concept-less observers« (Bourdieu 1983: 112). Zur Analyse und zur Explikation der sozialen Situationen verwendet er eine Reihe von Metaphern und Analogien, die aufgrund ihrer Homologien zu den Strukturen der jeweiligen sozialen Situation und ihres gleichzeitigen Kontrasts zum jeweiligen Gegenstandsfeld eine neue Perspektive und gleichzeitig ein tieferes Verständnis ermöglichen (Knoblauch 2001: 15; Willems 2003: 44f). Dabei verschränken sich Metaphern und Konzepte, indem er zur Präzisierung der Konzepte auf Metaphern zurückgreift und umgekehrt (z.B. in der Vorstellung der zweiteiligen Struktur des Selbst, in der er das Individuum als »Darsteller« und als »Schauspiel¿gur« beschreibt; Goffman 2003: 230; s.u.). Nicht der einheitliche Gebrauch seiner Begriffe, sondern eine möglichst präzise Beschreibung des jeweiligen spezi¿schen Gegenstandsbereichs scheint
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also für Goffman erstrebenswert zu sein. Dazu entwickelt er Begriffe, die er aus dem einen Feld gewinnt, an anderen Feldern weiter und passt sie dementsprechend immer wieder neu an, differenziert sie bei Bedarf weiter aus oder variiert sie. So erfährt z.B. der Begriff der »persönlichen Identität«, den Goffman bereits in »Asyle« (1961) verwendet, durch die weitere Ausdifferenzierung zwischen der »persönlichen Identität« und der »sozialen Identität«, die er erst in »Stigma« (1963) vornimmt, eine gewisse Bedeutungsverschiebung. Der Versuch, aus Goffmans Werk ein einheitliches Begriffsinstrumentarium zu rekonstruieren, ist dadurch zum Scheitern verurteilt und wird seinem besonderen Forschungsstil auch gar nicht gerecht. Dagegen kann es allerdings aufschlussreich sein, seine BegrifÀichkeiten aus der Chronologie seiner Studien in ihrer Genese zu betrachten, wie es beispielsweise Jürgen Raab in Bezug auf den Begriff der »Identität« durchführt (Raab 2008: 76ff). Die Rezeption Goffmans in Deutschland wurde vermutlich stark von der Reihenfolge der Übersetzungen ins Deutsche beeinÀusst. Das Werk »Stigma« (1963/ dt. 1967), in dem Goffman jene eben erwähnte Unterscheidung zwischen »sozialer Identität« und »persönlicher Identität« trifft, war die erste deutschsprachige Veröffentlichung (Lenz 1991: 70) und trug sicherlich zu dem Missverständnis bei, Goffman benutze ein festes Begriffssystem. Schließlich führte insbesondere auch die Lesart Habermas’ noch zu weiteren Umdeutungen (vgl. Lenz 1991: 70ff). Nachdem es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, eine umfassende Goffman-Interpretation zu entwickeln, sollen im Folgenden nur diejenigen Konzepte und Aspekte vorgestellt und klar umgrenzt werden, die für die Interpretation relevant wurden. Sie stammen im Wesentlichen aus drei Veröffentlichungen Goffmans aus den Jahren 1959–1963 und werden hier auch primär im Sinne dieser Studien verstanden.
Schutz des Selbst – Theatermetaphorik (Goffman 1959/2003) Unter Rückgriff auf die Theatermetaphorik beschreibt Goffman in seinem bekanntesten Werk »The Presentation of Self in Everyday Life« das Verhalten der Individuen, die – wie Schauspieler – manchmal im Rampenlicht der Bühne (»Vorderbühne«) und dann wieder hinter der öffentlich sichtbaren Kulisse (auf der »Hinterbühne«) agieren und dabei jeweils unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Während sie auf der Vorderbühne am Aufrechterhalten von (gesellschaftlichen) Rollenvorstellungen orientiert sind, zeigt sich auf der
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Hinterbühne, dass dies eben nur Rollen sind, die sie gespielt haben und nun ungeniert fallen lassen (Goffman, 2003): Die Hinterbühne kann de¿niert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich widerlegt wird. (...) Hier kann der Darsteller entspannen; er kann die Maske fallen lassen, vom Textbuch abweichen und aus der Rolle fallen. (ebd.: 104f) Da die entscheidenden Geheimnisse des Schauspiels hinter der Bühne sichtbar werden, und weil Darsteller aus der Rolle fallen, solange sie dort sind, muß man erwarten, daß der Zugang von der Vorderbühne zur Hinterbühne dem Publikum verschlossen ist oder daß der gesamte Bereich hinter der Bühne vor dem Publikum verborgen wird. Das ist eine weitverbreitete Technik der Manipulation9 von Eindrücken [i. O.: »technique of impression management«], und sie muß weiter erörtert werden. (ebd.: 105f) Goffman wurde häu¿g der Vorwurf gemacht, er stelle den Menschen als einen zynischen Rollenspieler dar, der seine Mitmenschen täuscht und hintergeht (Abels 2007: 163ff). Selbst Ralf Dahrendorf, der das (rezeptionsanleitende) Vorwort für die deutsche Ausgabe schrieb, interpretiert Goffman auf eine Weise, die ihn zu der Formulierung des »totalen Rollenverdachts«10 veranlasste. Und der Titel, den die deutsche Übersetzung bekam (»Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag«) leistet derart missverständlichen Interpretationen auch noch zusätzlich Vorschub. Betrachtet man jedoch dieses Werk vor dem Vergleichshorizont der Rollentheorie des Strukturfunktionalismus (vgl. Raab 2008: 71f), die sich zu jener Zeit etabliert hatte (vgl. Kap. 7.1.2), so entsteht ein völlig anderes Bild: Goffman zeigt mit Hilfe der Theatermetaphorik, dass das Individuum eben nicht einfach ausführendes Organ gesellschaftlich determinierter Rollenerwartungen ist und dass in der Vorstellung, Gesellschaft funktioniere auf eine derartige Weise, letztlich ein Schauspiel für die ganze Wahrheit gehalten wird. Diese Vorstellung übersieht nämlich, dass im Verhalten und Handeln der Individuen noch andere Dimensionen mit ins Spiel kommen, die Goffman mit
9 Die deutsche Übersetzung »Manipulation« suggeriert hier eine intentionale Irreführung des Publikums, die im Original so nicht angelegt ist. »Impression management« ist demgegenüber eine wertneutrale Formulierung. 10 In Anlehnung an Karl Mannheims Formulierung des »totalen Ideologieverdachts« (Dahrendorf in: Goffman 2003: VIII).
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Hilfe der Region der Hinterbühne beschreibt, und dass das Individuum nicht in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit aufgeht, was Goffman durch die Metapher des Schauspielers verdeutlicht, der eben nicht nur eine Schauspiel¿gur ist, sondern dass hinter dieser ein Darsteller, also eine ›echte‹ Person, steht (vgl. Goffman 2003: 230ff). Gleichzeitig stellt er heraus, wie differenziert und teilweise subtil die Individuen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen jonglieren, um selbst nicht vollständig von diesen Ansprüchen vereinnahmt zu werden, sondern ihr eigenes Selbst darin behaupten zu können. Die Techniken, Strategien und Täuschungen, die er dabei nachzeichnet, sind jedoch nicht das Hauptthema seiner Arbeit, sondern eher dessen Begleitmusik. Durch ihre Beschreibung macht Goffman deutlich, wie sehr die Individuen darauf bedacht sind, inmitten gesellschaftlicher Vereinnahmungstendenzen selber die Kontrolle zu bewahren, indem sie versuchen, mittels jener Techniken, die jeweilige »Situation [ihrerseits zu] de¿nieren« (ebd.: 5, 23311). Den Schutz, den sie sich selbst damit vor unkontrollierter Übergrif¿gkeit aufbauen, gewähren sie umgekehrt auch anderen in Form von Takt und Respekt, der sie davon abhält, in die persönliche Sphäre eines Anderen einzudringen. Der Rückzug auf die Hinterbühne wird damit zur Metapher für den Selbstschutz vor deterministischen Ansprüchen (vgl. ebd.: 106) und für das Refugium des persönlichen Selbst als einer Sphäre, die sich dem öffentlichen Zugriff entzieht. Die Bedrohung der Identität des Menschen durch exteriore Ansprüche und dessen Schutzmaßnahmen stellt also das eigentliche Hauptthema seines Werks dar. Diese Thematik zieht sich darüber hinaus wie ein roter Faden auch noch durch weitere seiner Studien (insbes. »Stigma« und »Asyle«; vgl. Abels 2007: 157, 165). Ein Teilaspekt, den Goffman im Rahmen des ›gesellschaftlichen Schauspiels‹ beschreibt, wurde ebenfalls für die Interpretation in dieser Arbeit genutzt und soll noch kurz skizziert werden: Mittels der sog. Idealisierung (Goffman 2003: 35–48) wird der Eindruck hergestellt und aufrechterhalten, dass bestimmte Ideale, die in einem gesellschaftlichen Umfeld von Bedeutung sind, tatsächlich verwirklicht werden. So werden in Form von zeremoniellen Inszenierungen (in der Art von kommunikativen Ritualen; vgl. Bohnsack 2004: 83) oder bereits mittels einer entsprechenden »Phraseologie« (Goffman 2003: 35) die of¿ziell anerkannten Werte zum Ausdruck gebracht. Die Enaktierung derartiger Zeremonien weist allerdings 11 Goffman expliziert diesen seinen Fokus bereits zu Beginn seines Buches und führt auch nochmals am Ende darauf zurück.
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darauf hin, dass es sich bei den dargestellten Idealen um normative Orientierungen handelt, von denen die Alltagspraxis der Akteure mehr oder weniger weit abweicht. Exterioren Ansprüchen wird auf diese Weise Genüge getan, ohne vollständig darin aufgehen zu müssen und sich diesen als ganze Person beugen zu müssen. Jürgen Zinnecker hat die Metapher von der Vorder- und Hinterbühne, die diesem Werk Goffmans zugrunde liegt, aufgegriffen und auf die Institution Schule angewandt (Zinnecker 1978). Im Unterschied zum gesellschaftlichen Raum jenseits der Schule stellt diese allerdings eine Institution dar, in der sich die meisten Akteure nicht freiwillig aufhalten, nicht über die Zeiten und Orte, an die sie sich begeben dürfen, frei verfügen können und darüber hinaus unter permanenter Aufsicht stehen (vgl. Kap. 7.1.2). Das Recht auf eine eigene »Hinterbühne« wird ihnen damit weitgehend entzogen. Indem Zinnecker nun beschreibt, wie Schüler und Lehrer mit dieser Situation umgehen, verschiebt sich die Bedeutung dieser Metapher im Vergleich zu ihrer Verwendung bei Goffman. Sie wird nun nicht mehr für die Explikation der Struktur des Selbst der Individuen verwendet, sondern mit ihrer Hilfe werden die Anpassungsstrategien der Akteure an die Institution Schule charakterisiert (vgl. Kap. 7.1.2). Zinneckers Studie rückt damit in die Nähe von Goffmans Studien zu »totalen Institutionen« (Goffman: 1961/1973a). Die Verhaltensweisen der Akteure, die Zinnecker dabei fokussiert und analysiert, bezeichnet Goffman dort als »sekundäre Anpassung«12 (Goffman 1961/1973a: 185ff). Analog zum oben besprochenen Werk Goffmans, wird allerdings auch bei Zinnecker jener Aspekt, der bei Goffman im Zentrum stand, sichtbar, nämlich dass die Darsteller, insbesondere die Jugendlichen, nicht in ihrer (institutionellen) Rolle (als Schüler) völlig aufgehen und dass sie Mittel und Wege ¿nden, sich den institutionellen Ansprüchen an ihre Person zu entziehen.
Soziale und persönliche Identität (Goffman 1963/1967) Ähnlich wie bei Mead ¿ndet sich auch bei Goffman die Vorstellung, dass jeder Mensch in sich unterschiedliche soziale Identitäten (bzw. unterschiedliche (sozia12 »Darunter verstehe ich ein Verhalten, bei welchem das Mitglied einer Organisation unerlaubte Mittel anwendet oder unerlaubte Ziele verfolgt, oder beides tut, um auf diese Weise die Erwartungen der Organisation hinsichtlich dessen, was er tun sollte und folglich was er sein sollte, zu umgehen. Sekundäre Anpassung stellt eine Möglichkeit dar, wie das Individuum sich der Rolle und dem Selbst entziehen kann, welche die Institution für es für verbindlich hält.« (Goffman 1961/1973: 185f)
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le) ›Selbste‹ oder ›Me’s‹, im Sinne Meads; vgl. Kap. 7.1.2) vereint, in denen sich (Rollen-) Erwartungen (seitens der Anderen) und Erwartungserwartungen (die das Individuum den Anderen zuschreibt) aus jeweils unterschiedlichen Handlungssystemen widerspiegeln (vgl. das Beispiel des Strebers in Kap. 7.1.2). In der Art, wie der Einzelne diese verschiedenen sozialen Identitäten ausbalanciert und miteinander in Beziehung setzt, wird seine persönliche Identität sichtbar.13
Rollendistanz (Goffman 1961/1973b) Den Begriff Rollendistanz bezeichnet Goffman selbst als eine »Abkürzung« (Goffman 1973b: 121), die die Gefahr birgt, missverstanden zu werden und er erläutert deshalb: »Das Individuum leugnet tatsächlich nicht die Rolle, sondern das faktische Selbst, das in der Rolle für alle Darsteller enthalten ist, die die Rolle akzeptieren.« (ebd.: 121) Durch die verschiedenen Formen von Rollendistanz trennt sich das Individuum also nicht von der jeweiligen Rolle, sondern es distanziert sich von dem Selbst, das mit dieser Rolle verbunden ist. Es macht, insbesondere im Rückgriff auf andere soziale Identitäten, die dabei ins Spiel gebracht werden, deutlich, dass es seinem Selbstverständnis nach mehr ist, bzw. anderes ist als das mit der Rolle verbundene Selbst. Es geht also nicht um eine prinzipielle Zurückweisung und Ablehnung der rollenförmigen Erwartungen, die im Kontext eines bestimmten Handlungssystems an ein Individuum gestellt werden, sondern um die Distanzierung von bestimmten Attributen, die damit verbunden sind und die für die eigene Selbstde¿nition nicht akzeptiert werden. Goffman beschreibt dies am Beispiel eines Sommerjobs, der den studierten Arbeitnehmer in eine Berufsumgebung versetzt, die dieser als unter seiner Würde emp¿ndet. Inmitten der schweißtreibenden, schlecht bezahlten Arbeit als Ausrufer macht er auf seine Bildung aufmerksam, indem er Zitate von T.S. Eliot in sein Geschwätz mischt und sich dazu auch noch durch ein ironisches Sich-Gebärden von dem verächtlichen Image löst, das mit dieser Tätigkeit verbunden ist: Es war (…) absolut unerläßlich, sich innerlich von dem Job zu lösen – ein kleines Podest aufzubauen, auf dem man ganz allein stehen konnte; sonst ging man zugrunde. Ich baute das Podest sehr hoch auf. Je höher ich stand, 13 Bezüglich des Verständnisses von »sozialer Identität«, »persönlicher Identität« und »IchIdentität« gibt es unterschiedliche Goffman-Interpretationen. Im hier dargestellten Verständnis folge ich Bohnsack (1992: 42). Eine andere Interpretation stellt beispielsweise Habermas vor (1968/1973: 131).
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desto größer war meine Verachtung und desto kostbarer waren die Augenblicke der Freiheit, die ich für mich durch diesen Trick gewann, über der Menge zu balancieren. (I. Rosenfeld zitiert nach Goffman 1973b: 128f) Ein weiteres vielzitiertes Beispiel, an dem Goffman verschiedene Aspekte der Rollendistanz erläutert, ist jener Junge, der auf einem Karussellpferd sitzt, derartigen Freizeitbeschäftigungen aber eigentlich schon entwachsen ist: In der Art, wie der Junge dieses Pferd ›reitet‹ und wie er sich amüsiert, macht er deutlich, dass er sich einen Spaß daraus macht, etwas Kindisches zu tun, und stellt damit klar, dass das Kinderkarussellfahren nicht zu dem Reifegrad passt, den er sich selbst zuschreibt (ebd.: 122ff, 109ff). In beiden Fällen wird hier die Rollendistanz dazu genutzt, um die sozial de¿nierende Kraft der Umgebung von sich selbst fern zu halten. Goffman geht außerdem auch auf das Verhältnis zwischen Rollendistanz und sozialem Rang innerhalb eines Handlungssystems ein. So kann durch die spezi¿sche Art der Ausgestaltung der Interaktion zwischen einem Untergebenem und einem Vorgesetzten entweder die statusgemäße Distanz stabilisiert werden, z.B. durch ein striktes (demonstratives) Festhalten an den Normen, die den Statusunterschied garantieren, oder aber die Distanz kann verringert werden, indem diese Normen durch die besondere Art ihrer Ausführung in Frage gestellt oder relativiert werden. Die Rollendistanz kann dabei ganz verschiedene Bedeutungen annehmen, je nachdem ob derjenige, der sie ausübt, der statusgemäß Überlegene ist oder der Unterlegene (ebd.: 144). So kann ein Untergebener in der Art, wie er eine Anordnung ausführt, beispielsweise durch »[m]ürrisches Wesen, Brummen, Ironie, Scherzen und Sarkasmus« etc., zum Ausdruck bringen, »daß ein Teil des eigenen Selbst außerhalb der Zwänge des Augenblicks und außerhalb der Rolle liegt, unter deren Zuständigkeit sich dieser Augenblick ereignet« (ebd.: 129; H. v. A. B.): In solchen Fällen stellen wir oft fest, daß der Untergebene, obwohl er sorgfältig bemüht ist, denen nicht zu drohen, die in gewisser Weise die Lage beherrschen, er doch für jeden, der das sehen will, genauso vorsichtig zum Ausdruck bringt, daß er nicht völlig vor der Arbeitsanordnung kapituliert, in der er sich be¿ndet. (ebd.: 129) Eine gänzlich andere Bedeutung hat dagegen die Rollendistanz, durch die ein statusgemäß Überlegener die Distanz zu dem of¿ziell Unterlegenen verringert. Goffman erläutert dies am Beispiel der Berufsrolle eines Chirurgen (vgl. Goffman 1973b: 135ff): Während die Rollendistanz eines Untergebenen eher als Zurückweisung einer durch den abhängigen Status bedingten Erniedrigung verstanden
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werden kann, bringt die Rollendistanz eines Vorgesetzten dessen Bereitschaft zum Ausdruck, den Status quo zu lockern und dadurch das Handlungssystem, für das er verantwortlich ist, so zu gestalten, dass die Team-Mitglieder, denen er vorsteht, angstfrei oder ohne Gesichtsverlust agieren können. So wird er beispielsweise einen Tadel eher als Scherz tarnen oder einen Befehl als Bitte formulieren (Goffman 1973b: 138). Goffman beschreibt ihn als »eine Art Gastgeber für Partygäste und Leiter seines Operationsteams« gleichzeitig (ebd.: 143), der u.U. auch einmal selbst die »Clownrolle« (ebd.: 144) spielen kann, damit sich die Personen an seinem Tisch wohlfühlen und »ihre jeweiligen Fähigkeiten nach besten Kräften einsetzen können.« (ebd.) Aufgrund seiner Verantwortung für das Handlungssystem ist er herausgefordert, »seine eigenen Forderungen und seine Erwartungen über das, was ihm zusteht, zu modulieren.« (ebd.: 137) Indem er nicht die vollen Rechte seiner Position einfordert, ¿ndet eine Art »Rollengeschäft« statt, wobei er »dafür, daß er ›ein netter Kerl ist‹, von seinem Team als Ausgleich eine Garantie für Balance erhält« (ebd.). Seine »‹Netter-Junge‹-Formlosigkeit« (ebd.: 147) kann auch die Funktion einer »‹stellvertretende[n]‹ AuÀehnung« (ebd.) haben, die seinen Untergebenen das Gefühl vermittelt, »daß sie nicht zu denen gehören, die sich strikt unterordnen« (ebd.) müssen. Die situationsabhängige Rolle in einem Handlungssystem (z.B. im Operationsteam) kann es u.U. sogar erforderlich machen, dass ein Chirurg Handlungen ausführt, die für ihn (bzw. für seinen formalen Status) unangemessen sind. Aufgrund seiner VerpÀichtung gegenüber dem Handlungssystem und seiner Bindung daran kann es dadurch zu einem KonÀikt oder einer Diskrepanz kommen zwischen seinem gesellschaftlichen Status und der situationsabhängigen Rolle bzw. zwischen dem Selbst der sozialen Rolle (hier der Berufsrolle) und dem Selbst der situationsabhängigen Rolle, die er im Rahmen des institutionellen Komplexes innehat (ebd.: 151). Am Ende seiner Abhandlung über die verschiedenen Formen und Bedeutungen, die die Distanzierung von einem rollenförmigen Erwartungssystem annehmen kann, stellt Goffman fest: »Genau hier, in den Manifestationen der Rollendistanz ist der persönliche Stil des Individuums zu ¿nden.« (ebd.: 171; H. v. A. B.) Der Habitus14 eines Individuums wird also darin sichtbar, wie dieses mit den Erwartungen, die es an sich gerichtet sieht, umgeht, wie es diese kunstvoll ausjongliert und dabei »alle anderen Möglichkeiten seines Selbst in der Schwebe hält« (ebd.: 156), 14 Goffman spricht dann von »Stil«, wenn er im Gegensatz zu (mehr oder weniger intendierten) Selbstpräsentationen auf eine habitualisierte Form des Ausdrucks abzielt (vgl. dazu Bohnsack 2003a: 67).
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um weder festgelegt noch durchschaut zu werden und so über seine Identität zu wachen weiß. Ebenso können auch Gruppen oder Milieus gemeinsame, für sie typische und sie verbindende Formen und Varianten von Rollendistanz ausbilden, die aus ihrer gemeinsamen Praxis (ihrem »konjunktiven Erfahrungsraum« im Sinne Mannheims) entwachsen. Die Ansprüche, mit denen sie sich (gemeinsam) konfrontiert sehen und die sie verbindenden Begrenzungen in den Möglichkeiten, mit diesen Ansprüchen umzugehen, lassen gemeinsame Muster der Bewältigung entstehen, die auch als »konjunktive Rituale« (Bohnsack 2004: 84) bezeichnet werden können, durch die die Differenz zwischen normativen Ansprüchen und der situativen Praxis bearbeitet wird. So spiegelt sich beispielsweise in der provokativ widerwillig lässigen Art bestimmten Ansprüchen nachzukommen, ein Habitus wider, der üblicherweise mit Schülern in Verbindung gebracht wird und dementsprechend als eine Art ›Schülerhabitus‹ identi¿ziert wird. Er entspringt offensichtlich ihrer gemeinsamen Lage, in der sie mit bestimmten Ansprüchen konfrontiert werden und in der ihnen lediglich ein begrenztes, spezi¿sches Spektrum an Möglichkeiten offen steht, diese zu bearbeiten. Die Analyse derartiger konjunktiver »Manifestationen der Rollendistanz« (Goffman 1973b: 171) kann daher für die Rekonstruktion des Habitus der Akteure, auf die die hier vorliegende Studie abzielt, einen wichtigen Beitrag leisten.
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Filminterpretation nach der dokumentarischen Methode
Bislang kam die dokumentarische Methode fast ausschließlich bei Filmen zum Einsatz, die von Wissenschaftlern (Wagner-Willi 2005; Klambeck 2007; Nentwig-Gesemann 2006) oder auf deren Anregung hin (Bausch 2006) zu Forschungszwecken produziert wurden. Das Medium Film wurde in diesen Fällen als Erhebungsinstrument genutzt um gezielt Daten zu gewinnen. Davon zu unterscheiden sind Filme, die von den Beforschten selbst (auf eigene Initiative) produziert wurden, um beispielsweise familiäre oder kulturelle Ereignisse festzuhalten. Derartige Filme wären vergleichbar mit dem Datenmaterial von Familienfotos, deren Analyse bereits im Kontext der dokumentarischen Bildinterpretation vorgestellt wurde (Bohnsack 2005; 2009a). Während solche Filme in gewisser Weise Dokumente des alltäglichen (oder auch weniger alltäglichen) Lebens der Beforschten darstellen, handelt es sich jedoch bei den hier vorliegenden um Artefakte, um eigens angefertigte ¿lmische Kompositionen, was eine stärkere Betonung der Narration und Gesamtkomposition des Films zur Folge hat. Dabei werden die Beforschten hier sowohl als abbildende als auch als abgebildete Filmproduzenten tätig: Sie agieren vor und hinter der Kamera. Ähnlich wie bei der Interpretation von Familienfotos, die von Familienangehörigen aufgenommen wurden, muss hier also keine Differenzierung vorgenommen werden zwischen den Gestaltungsleistungen dieser beiden Arten von Bildproduzenten (vgl. Bohnsack 2003a: 160). Falls eine derartige Differenzierung notwendig wäre, wie in dem Beispiel der brasilianischen Landarbeiter-Familie, die von einem milieufremden professionellen Fotografen aufgenommen wurde (Bohnsack 2003a: 249–257), so würde man beim Film die Montage, die Kamera-Einstellungen, die Kadrierung, die Kameraführung und die Gesamtkomposition des Films als Gestaltungsleistungen der abbildenden Filmproduzenten betrachten und demgegenüber die Bewegungen der Darsteller, insbesondere deren Gestik und Mimik, als Gestaltungsleistungen der abgebildeten.
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Abb. 2
Ähnlich wie die Interpretation von Bildern, spielt auch die Filminterpretation bislang insgesamt eine marginale Rolle im Kontext der Sozialwissenschaften (Marotzki & Schäfer 2006: 66). Dabei sind die meisten dieser Arbeiten entweder rezeptionsanalytisch ausgerichtet und befassen sich dementsprechend weniger mit dem Film selbst als eigenständigem Produkt als primär mit seinen Rezipienten und deren Aneignung oder Nutzung von Filmen (Mikos & Wegener 2005: 14; Geimer 2009 auf der Grundlage der dokumentarischen Methode) oder aber sie folgen dem interpretativen Paradigma (Bohnsack 2009a: 135f). Dann stehen die (vermeintlichen) Intentionen bzw. jene Sinnkonstruktionen, die den Filmproduzenten zugeschrieben werden, im Zentrum des Interesses. Eine derartige Filmanalyse zielt auf subjektive Alltagstheorien der Beforschten und damit auf deren expliziertes Wissen ab. Demgegenüber richtet sich eine Filminterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode nicht nur auf die subjektiven Theorien, sondern insbesondere auf das handlungsleitende Praxis-Wissen der Produzenten und setzt beides zueinander in Relation (vgl. Kap. 2.1). Anders als die Rezeptionsforschung widmet sich die dokumentarische Filminterpretation dazu dem Film selbst als in sich abgeschlossenes, eigenständiges Produkt (zum Verhältnis von Rezeptions- und Produktanalyse: siehe Bohnsack 2009a: 120ff). Und so gilt es nun dementsprechend ein Interpretationsverfahren zu entwickeln, das dem Film selbst in seiner Besonderheit Geltung zu verschaffen vermag. Analog zur dokumentarischen Bildinterpretation, für die Ralf Bohnsack eine an die Kunstinterpretation von Panofsky anschließende Verfahrensweise entwickelt hat, in der den seitens der Kunstgeschichte (Imdahl), der Semiotik (Eco; Barthes) und der Philosophie formulierten Ansprüchen nachgegangen wird, das Bild in seiner Eigenlogik, als »eine Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist« (Imdahl 1979: 190), zu betrachten (Bohnsack 2003a: 155ff; Bohnsack 2009a), so soll auch in der Filminterpretation der Eigensinnigkeit des Films Rechnung getragen wer-
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den, um so zu dessen »Dokumentsinn«, bzw. zu dem sich hier dokumentierenden »Wesenssinn« (Panofsky 1932: 115, 118), vordringen zu können. Dabei wäre in Bezug auf den Film zunächst die Frage zu klären, worin denn nun das Eigentliche des Films, das spezi¿sch Filmische, besteht. Diese Frage wird weiter unten noch einmal aufgegriffen und weitergeführt.
Das Transkript Nachdem der Film, anders als das Bild, nicht als reine Simultanstruktur existiert, die sozusagen auf einen Blick erfasst werden kann, und er außerdem auch nicht in materieller (z.B. gedruckter) Form vorliegt, sondern lediglich als etwas Transitorisches, Flüchtiges an den Zeitpunkt der Aufführung gebunden ist, stellt sich forschungspraktisch zunächst einmal die Frage, ob und in welcher Form ein Transkript des Films zur Unterstützung der Interpretationsarbeit erstellt werden kann. Die bei ¿lmwissenschaftlichen Analysen üblichen Methoden der Verschriftlichung von Filmen in narrativer und / oder tabellarischer Form (als Sequenz- oder Einstellungsprotokoll; vgl. z.B.: Faulstich 2002: 63-80; Korte 1999: 32-39; Korte 2005) oder die Formen der Protokollierung von Filmen, die bislang im Kontext der qualitativen Sozialforschung entwickelt wurden, bergen für eine Interpretation grundlegende Probleme (vgl. Bohnsack 2009a: 170f): Derartige Protokollierungen verlassen, nach dem Verständnis der dokumentarischen Methode, die vorinterpretative Ebene und können nicht mehr als Transkript im eigentlichen Sinne gelten. Bereits dann, wenn z.B. ein Bild durch einen Text ersetzt wird, handelt es sich schon um einen interpretativen Akt. Außerdem geht durch die Übertragung des Films in ein anderes Medium (z.B. in die Sprache oder in eine Gra¿k) gerade das Eigensinnige des Films, auf das die dokumentarische Interpretation abzielt, verloren. Der Rückgriff auf den Film selbst bleibt deshalb letztlich immer unverzichtbar. Allerdings haben Stefan Hampl und Aglaja Przyborski ein Transkriptionssystem für Filme entwickelt15, das die oben genannten Probleme weitgehend löst (vgl. Abb. 2): In einem gleichbleibenden Zeitintervall (hier von 1 sec) wurden mit Hilfe eines Computerprogramms (in diesem Falle mit Video2Photo) Einzelbilder aus dem Film herausgeschnitten und in Tabellenform aneinander gereiht. 15 vgl. www.moviscript.net Inzwischen liegt dieses Programm in einer überarbeiteten Version vor, in die das Zerlegen des Films in Einzelbilder bereits integriert ist.
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Anschließend wurde der gesprochene Text den Bildern zugeordnet und Geräusche bzw. Musik entsprechend markiert. Um deutlich zu machen, welche Stimmen oder Klänge aus dem Off kommen, wurde hier die Schriftfarbe verändert (grau statt schwarz). Zudem wurde in dieser Arbeit das System durch Markierungen der sichtbaren Schnitte und zusätzliche Symbole für die Kameraführung ergänzt, da insbesondere bei einem Linksschwenk der Kamera im Transkript Brüche im BildÀuss erscheinen und dadurch Schnitte suggerieren, die im Film selbst nicht vorhanden sind (Abb. 3, vgl. Kap. 5.2). Dieses Transkript verbleibt konsequent auf der vor-interpretativen Ebene, denn die visuelle Ebene wird durch Visuelles dargestellt und simultan dazu wird die verbale Ebene in Textförmiges übertragen. Die Sinnkomplexität des Ikonischen geht dadurch nicht gänzlich verloren, sondern bleibt im Bildhaften noch präsent. Darüber hinaus gelingt es durch die Partiturschreibweise entlang einer konstanten Zeitachse auch den ZeitÀuss des bewegten Filmbildes wiederzugeben. Dieses Transkriptionssystem ist hervorragend geeignet, um sich einen Überblick über den Film zu verschaffen, da es den Wechsel der Kamera-Einstellungen in ihrer Zeitdauer und Häu¿gkeit und die Relation zwischen Bild- und Textverlauf in ihrer Synchronizität sehr übersichtlich zu verdeutlichen vermag.
Die Analyseeinstellung der dokumentarischen Methode Die dokumentarische Methode ist gekennzeichnet durch einen Wechsel in der Analyseeinstellung vom Was zum Wie: Nicht der wörtliche oder immanente Sinngehalt einer Aussage, sondern die Art und Weise, wie diese Aussage zustande kommt, wie sie hergestellt wird und dass sie überhaupt gemacht wird – also das Dass und das Wie einer Aussage – stehen im Fokus, denn gerade hier wird jenes vorreÀexive, atheoretische Praxiswissen sichtbar, das für die dokumentarische Methode von besonderer Bedeutung ist (Bohnsack, 2003a: 64, 158; vgl. Kap. 2.1). Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Sinnebenen kommt bei der Interpretation in zwei klar voneinander abgrenzbaren Arbeitsschritten zum Ausdruck: Im ersten Schritt, in der sog. »formulierenden Interpretation«, wird das, was thematisiert wird, also das Was, lediglich nachvollzogen, indem es möglichst ohne jegliche Deutung oder Bewertung zusammengefasst wird und die Abfolge des thematischen Verlaufs durch eine Gliederung sichtbar gemacht wird (Bohnsack 2003a: 33f, 134f). Im zweiten Schritt, der sog. »reÀektierenden Interpretation«, wird sodann der Frage nachgegangen, wie diese Aussagen von den Akteuren dargestellt, wie sie verortet und begründet werden (Bohnsack 2003a: 34ff, 135ff).
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Abb. 3
Dabei geht es lediglich darum, die Herstellung der Realitätskonstruktionen der Akteure nachzuvollziehen, nicht aber sie auf ihre Richtigkeit oder ihre Berechtigung hin zu untersuchen oder sie zu bewerten. Jegliche Geltungsansprüche von Aussagen werden hier bewusst ausgeklammert (Bohnsack 2003a: 64f). Dieser zweite Interpretations-Schritt vollzieht also einen »Bruch mit dem Common Sense« (Bourdieu 1996: 269), da nun nicht mehr, wie sonst üblich, die Sinnkonstruktionen der Akteure als solche zur Disposition stehen, sondern von diesen eben gerade abgesehen wird. Bei einer Kommunikation im Medium des Bildhaften sind diese Sinnkonstruktionen auf der Ebene des Ikonogra¿schen angesiedelt. Panofsky macht dies am Beispiel des Grüßens deutlich: Die Gebärde des Hut Hochhebens wird erst durch eine Sinnkonstruktion zu einem Gruß, indem dem Akteur eine Absicht unterstellt wird. Das, was wir auf der ikonogra¿schen Ebene als ein Grüßen bezeichnen, ist auf der vor-ikonogra¿schen Ebene lediglich als ein Heben des Hutes zu identi¿zieren (vgl. Bohnsack 2005: 249f). Die Differenzierung zwischen ikonogra¿scher und vor-ikonogra¿scher Ebene lässt sich auch mit der Unterscheidung zwischen Konnotation und Denotation vergleichen, die Barthes an folgendem Beispiel verdeutlicht: Auf dem Titelblatt einer Zeitschrift steht ein Schwarzer in einer französischen Uniform vor dem Eifelturm. Diese Beschreibung erfasst die denotative Ebene. Auf der konnotativen Ebene kann dieses Bild darüber hinaus als Hinweis auf den französischen Kolonialismus gelesen werden (Barthes 1970; Hickethier 2001: 118). Wir neigen im Common Sense dazu, nichtabstrakte Bilder oder Gesten zunächst in der Weise zu ›lesen‹, dass wir gedanklich Handlungen und Geschichten entwerfen, die sich auf einem Bild oder in einem Film abspielen könnten (Bohnsack 2005: 253). Dementsprechend bezeichnet Barthes diese Sinnebene auch als den sog. »entgegenkommenden Sinn« (Barthes 1990), der sich dem Betrachter sofort aufdrängt. Um allerdings zum dokumentarischen Sinn vordringen zu können, ist es nötig, diese Ebene der Konnotationen oder der ikonogra¿schen Codes hin-
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ter sich zu lassen. Erst »wenn man (geistig) die Konnotationszeichen ausgelöscht hat« (Barthes 1990: 37), ist es möglich, zu jener Sinnebene zu gelangen, die Aufschluss über den Habitus der Akteure oder Produzenten gibt. Barthes bezeichnet jene Sinnebene als »stumpfen« (Barthes 1990) oder besser »verborgenen«16 Sinn (vgl. Bohnsack 2009a: 35f). Für eine dokumentarische Filminterpretation bedeutet dies, dass sie, analog zur dokumentarischen Bildinterpretation, so weit wie möglich auf der vorikonogra¿schen Ebene ansetzen muss, um zu jener Sinndimension vordringen zu können. Um den Bruch mit dem Common Sense, der mit dem Wechsel in der Analyseeinstellung vom Was zum Wie einhergeht, tatsächlich vollziehen zu können, darf der erste Arbeitsschritt, in dem das Was beschrieben wird, also nicht nur auf der ikonogra¿schen Ebene verbleiben, sondern muss hinter diese zurückgehen und dazu die ikonogra¿schen Bedeutungen so weit wie möglich einklammern (Bohnsack 2005: 253f; Bohnsack 2009a: 141–151).
Der 1. Interpretations-Schritt: Die formulierende Interpretation 17 Aufgrund der Komplexität eines Films vollzieht sich die formulierende Interpretation auf unterschiedlichen Detaillierungsniveaus: Zunächst wird der Film als Ganzes in den Blick genommen und in seinem Ablauf nachvollzogen. Entsprechend der eben angestellten Überlegungen geht es dabei nicht darum, die ›Geschichte‹, die der Film (vermeintlich) erzählt, zu erfassen, sondern das Nacheinander der Szenen ohne kausale Verknüpfungen oder Sinnkonstruktionen zu beschreiben. In der Filmwissenschaft entspricht dies in etwa der Unterscheidung zwischen der »Story« und dem »Plot«18 eines Films. Dazu wird eine Beschreibung des Sequenzverlaufs vorgenommen, in der der Wechsel der Kamera-Einstellungen und Szenerien (der Handlungsorte und der Personen) nachgezeichnet wird. Diese Beschreibung geht noch nicht ins Detail, sondern strebt eine Gliederung in Ober- und Untersequenzen bzw. eingelagerte Sequenzen (ES) an (vgl. Sequenzverlauf des Schüler¿lms im Anhang). Sie verbleibt so weit wie möglich auf der vor-ikonogra¿schen Ebene 16 Der Titel der Originalausgabe (1982) von Barthes (1990) lautet: »L’obvie et l’obtus.« 17 Im Kontext der Filminterpretation wäre für diesen Arbeitsschritt die Bezeichnung ›beschreibende‹ Interpretation eigentlich zutreffender. 18 Faulstich beschreibt die »Story« als das bloße Nacheinander von Sequenzen, während im »Plot« durch kausale Verknüpfungen (»weil …«) eine Sinnstruktur hergestellt wird (Faulstich 2002: 80f; ähnlich: Steinmetz 2005: 42, 34). Mikos verwendet diese beiden Begriffe in anderer Weise (Mikos 2003: 43, 106, 128–135).
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und greift lediglich auf kommunikativ-generalisierende Wissensbestände zurück wie beispielsweise das Wissen um gesellschaftliche Institutionen und Rollenbeziehungen (z.B. darüber, was eine Schule, ein Lehrer oder ein Schüler ist – im o.g. Beispiel von Barthes wird die Kleidung des Schwarzen bereits als französische Uniform identi¿ziert). Die Gliederung orientiert sich dabei primär am Visuellen, da der Einbezug der Sprache bereits über die vor-ikonogra¿sche Ebene hinausführt. Erst sekundär wird auch auf explizit Thematisiertes zurückgegriffen.19 Später, im weiteren Verlauf der Filminterpretation wird der Arbeitsschritt der formulierenden bzw. ›beschreibenden‹ Interpretation nochmals auf einem deutlich höheren Detaillierungsniveau vollzogen: Vorbereitend für die reÀektierende Interpretation einzelner »Fokussierungsmetaphern« (s. u.) wird sie jeweils erneut durchgeführt. Sie setzt auch hier so weit wie möglich auf der vor-ikonogra¿schen Ebene an, wobei die Form der Beschreibung sich sehr unterschiedlich gestalten kann, je nach Art der gewählten Fokussierungsmetapher.
Der 2. Interpretations-Schritt: Die reÀektierende Interpretation 1. Die Formalstruktur des Films Die dokumentarische Methode richtet sich grundsätzlich nicht auf isolierte Einzelelemente, sondern betrachtet deren Bezug zueinander und zur Gesamtheit. Um das Ganze in den Blick zu bekommen, wird deshalb beispielsweise bei der Interpretation einer Gruppendiskussion zunächst der Diskursverlauf nachgezeichnet oder bei der Bildinterpretation die Formalstruktur eines Bildes analysiert. Um dementsprechend die Formalstruktur der beiden hier interpretierten Filme sichtbar zu machen, wurde jeweils eine Strukturskizze erstellt (vgl. Abb. 80a–b und Abb. 81a–b im Anhang). Sie verdeutlicht Spezi¿ka und Besonderheiten des Gesamtaufbaus wie z.B. die auffällige Anordnung von eingelagerten Sequenzen, die Wiederkehr bestimmter Elemente, den (Nicht-) Wechsel von Orten oder eine Kontinuität bestimmter Handlungsschichten. Für die Strukturierung des Schüler¿lms wurde darüber hinaus, in Anlehnung an Bordwell (1985: 3ff), auf eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Narrationsformen zurückgegriffen (vgl. Kap. 4.1). In der Gesamtstruktur werden bereits wichtige Charakteristika der Filme erkennbar, die sich später auch durch homologe Strukturen in einzelnen Elementen 19 So wird beispielsweise der Vergleich zwischen dem Damals und dem Heute, auf den die Schüler im Text ihres Films explizit hinweisen, für die Gliederung genutzt (siehe Sequenzverlauf im Anhang).
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bestätigen. Im Schüler¿lm fällt beispielsweise das ständige Hin- und Herspringen zwischen dem Ort der Schule und einem privaten Ort auf (in der Strukturskizze Abb. 80a–b: durch schwarze Balken gekennzeichnet). Darin unterscheidet er sich deutlich vom Film der Lehrer (vgl. Kap. 5.1 und Abb. 81a–b): Dort ¿ndet kein derartiger Wechsel zwischen Räumlichkeiten statt. Und gerade das gefängnisartige Festgeschriebensein auf einen abgeschlossenen Raum, der auch im Titel seinen Niederschlag ¿ndet (»Kammer des Schreckens«), erweist sich als eines der Hauptcharakteristika dieses Films. Lediglich zwei eingelagerte Sequenzen transzendieren diesen Ort (1. eine Uhr in Großaufnahme; 2. dieselbe Uhr in Verbindung mit einem Portrait; vgl. schwarze Balken in der Strukturskizze Abb. 81a–b), indem sie völlig unverbunden und damit auch unverortet (durch Montage) in den Film eingefügt sind (vgl. Kap. 5.2.1). Die strukturierende Macht, die diesen Symbolen zugeschrieben wird, zeigt sich ebenfalls als homologe Struktur bei der Detailanalyse einzelner Szenen. Anders als im Schüler¿lm gibt es hier keinen Wechsel zwischen verschiedenen Narrationsformen. Stattdessen wird eine Art roter Faden sichtbar durch eine in Variationen ständig wiederkehrende Handlungsschicht, in der die Lehrerin Marianne hinter hohen Papierstößen mit rot verschmierten Händen agiert (vgl. 5.4.1). Während bei den Schülern durch den Wechsel der Narrationsformen und der Handlungsorte immer wieder eine Distanzierung vom Ort der Schule und den typisch schulischen Situationen sichtbar wird (sie spielen – wie sie selber sagen – [nur] ein bisschen Theater in der Schule; vgl. Kap. 4.1), steht bei den Lehrern eher eine Fixierung auf einen gefängnisartig charakterisierten Handlungsrahmen und eine ›doppelköp¿ge‹ (Uhr & Portrait) Strukturierungsmacht im Vordergrund (vgl. Kap. 5).
2. Die Auswahl von Fokussierungsmetaphern Als Fokussierungsmetaphern werden in der dokumentarischen Methode solche Passagen oder Elemente bezeichnet, die sich durch eine hohe interaktive und / oder metaphorische Dichte auszeichnen. An diesen Stellen treten das kollektive Bewusstsein und die kollektive Identität der Produzenten besonders konzentriert in Erscheinung, was den Zugang zu deren konjunktivem Erfahrungsraum und deren gemeinsamen Orientierungen erleichtert (Bohnsack 2003a: 138f). Für die Auswahl fokussierter Elemente eines Films stellt sich dabei zunächst die Frage, wo denn nun »das eigentlich Filmische« des Films (Barthes 1990: 65) zu ¿nden ist. Barthes beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf das Fotogramm, also auf ein Einzelbild des Films (vgl. Bohnsack 2009a: 156): Das »Filmische« lässt
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sich »paradoxerweise nicht im Film ›am rechten Ort‹, ›in der Bewegung‹, ›in natura‹ erfassen, sondern bisher nur in einem wichtigen Artefakt, im Fotogramm« (Barthes 1990: 64). Dort gelingt es am ehesten, den »entgegenkommenden Sinn« zu transzendieren, sich der Konnotationen zu entledigen und dadurch zum »stumpfen« oder »verborgenen« Sinn vorzudringen. Barthes demonstriert dies an der Interpretation eines Fotogramms aus dem Film »Der Panzerkreuzer Potemkin« von Eisenstein (Barthes 1990: 47–66). An der Mimik einer alten Frau verdeutlicht er, dass hier eine Sinndimension aufscheint, die sich sprachlich lediglich in Gegensätzlichkeiten fassen lässt (vgl. Bohnsack 2009a: 35f). Hier wird also jene Bedeutungsdichte sichtbar, die Imdahl als »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen« (Imdahl 1996: 107) bezeichnet. Demgegenüber sieht eine Reihe anderer Filmtheoretiker das Spezi¿sche des Films in der Montage bzw. im Schnitt (vgl. Bohnsack 2009a: 158f). Diese Position spiegelt sich in einem Zitat, das Stanley Kubrick zugeschrieben wird, sehr prägnant wider: »Die Montage ist der einzige Vorgang, bei dem der Film keine Anleihen bei anderen Künsten macht. Nur beim Schnitt ist der Film ganz bei sich.« (Wiedemann 2005: 371) Im Blick auf die ¿lmische Möglichkeit der Montage taucht auch immer wieder der Topos einer eigenen ›Sprache des Films‹ auf, was Balázs beispielsweise folgendermaßen formuliert: Was ist es, was die Kamera nicht reproduziert, sondern selbst schafft? Wodurch wird der Film zu einer besonderen Sprache? Durch die Großaufnahme. Durch die Einstellung. Durch die Montage. (…) Erst in der Montage, im Rhythmus und im Assoziationsprozess der Bildfolge erscheint das Wesentliche: die Komposition des Werkes. (Balázs 1930: 56) Auch Mikos weist darauf hin, dass gerade durch die Verkettung der Bilder mit Hilfe der Montage Bedeutungen entstehen, die in den Bildern selbst nicht enthalten sind (Mikos 2003: 101). Kracauer wiederum sieht, im Anschluss an Panofsky, das Besondere des Films im Gegenüber zu anderen Kunstformen (wie beispielsweise der Literatur) darin, dass er nicht aus einer abstrakten Idee heraus entsteht, sondern direkt aus der physischen Realität erwächst (vgl. Bohnsack, 2009a: 140f). Dementsprechend sind es nach Kracauer auch die »kleinen Einheiten« oder Elemente von Handlungen bzw. die »Momente des täglichen Lebens« oder auch nur einzelne Fragmente der sichtbaren Realität, die eine Sinn-Dimension eröffnen, die viel weiter reicht, als die bloßen Inhalte der Geschichte, die der Film erzählt (Kracauer 1964: 393).
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Für die Auswahl von Fokussierungsmetaphern bietet es sich an, diese unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Spezi¿schen des Films einzubeziehen. So können sowohl einzelne Fotogramme, wie bei Barthes, als auch einzelne Gebärden oder Teile von Szenerien als »kleine Einheiten«, wie bei Kracauer, oder aber die Technik der Montage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt werden. Jeder dieser Bereiche wird in diesem Kapitel noch anhand von Interpretationsbeispielen aus den beiden Filmen weiter ausgeführt (Bsp. A– C). Als Kriterien für die Wahl dieser Elemente dient dabei deren Fokussierung z.B. durch eine auffällige Dichte in der ¿lmischen Komposition oder in den Bewegungen der abgebildeten Filmproduzenten oder durch Brüche und Diskontinuitäten, durch den Einbezug metaphorischer Bedeutungen in Wort und /oder Bild, durch eine exponierte Positionierung in der Gesamtkomposition oder durch sonstige Besonderheiten (vgl. dazu auch: Bohnsack 2009a: 215ff). Beim Film kommen dabei zwei Dimensionen von Relationen in den Blick: Einerseits ¿nden sich, ähnlich wie in einem Einzelbild, simultane Relationen20, andererseits ergeben sich aus der zeitlichen Ausdehnung des Films aber auch, ähnlich wie bei Texten, sequentielle Relationen.21 Die simultanen Relationen des Films beschränken sich jedoch nicht allein auf die Relationen innerhalb des Bildes (im Fotogramm), sondern zeigen sich auch in der Konstruktion der ¿lmischen Wirklichkeit bzw. des ¿lmischen Raums insgesamt, wobei zum Bereich des Visuellen gleichzeitig der Bereich der Akustik hinzutritt. Nach Bordwell (1985: 117) entsteht der ¿lmische Raum aus drei verschiedenen Komponenten: 1) aus dem fotogra¿erten Raum, dem »shot space«, 2) aus dem »editing space«, der ¿lmischen Raumkonstruktion, die durch Montage und Einstellungswechsel der Kamera entsteht, und 3) aus dem »sonic space«, dem zum Filmbild hinzutretenden akustischen Raum. In ihrem Zusammenspiel ergibt sich aus diesen Komponenten der »szenogra¿sche Raum« (Bordwell 1985) oder der »narrative« bzw. »diegetische« Raum des Films (Hickethier 2001: 85), der erst in der Sequenzialität, in der Entfaltung des
20 Zur »Simultanstruktur« von Bildern vgl. Bohnsack 2003a: 168. 21 Zur Verschränkung von Sequenzialität und Simultaneität vgl. Wagner-Willi 2005: 269ff; Bohnsack 2009a: 163ff
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Films in die Dimension der Zeit hinein22, wahrnehmbar wird. Im Film haben wir es also, anders als bei Einzelbildern oder Texten, mit den beiden Dimensionen von Relationen gleichzeitig zu tun: Die simultanen Relationen treten hier synchron auf den unterschiedlichen ¿lmischen Ebenen auf und entfalten sich dabei sequenziell, d.h. aus der Verschränkung von Simultaneität und Sequenzialität ergibt sich eine Synchronizität. Die Fokussierungsmetaphern, die für eine detaillierte Analyse ausgewählt werden, können sich nun entweder auf einzelne Dimensionen und Komponenten beschränken oder sie können mehrere integrieren. Im Falle eines Fotogramms als Fokussierungsmetapher ¿ndet beispielsweise eine Reduktion auf die Dimension der Simultaneität und auf die Komponente des »shot space«, des fotogra¿erten Raums, statt. Diese Reduktion ist möglich, wenn man davon ausgeht, dass das Dokumentarische bereits in einzelnen Fragmenten in Erscheinung treten kann, ohne das ganze Werk in seinen objektiven Sinnbezügen erfassen zu müssen (Mannheim 1964: 119–123). Diese Fragmente oder Bruchstücke bilden im Blick auf ihren dokumentarischen Sinngehalt »neuartige Totalitäten« (Mannheim 1964: 123). Entscheidend ist dabei allerdings, dass diese Einzelelemente nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teile der Ganzheit in Relation gesetzt werden zu den anderen Elementen und zum Ganzen, das als übergeordnetes Bezugssystem immer auch im Einzelnen präsent ist (Imdahl 1996: 23; vgl. Bohnsack 2009a: 168f). Aufgrund der primordialen Bedeutung der vor-ikonogra¿schen Ebene (Bohnsack 2009a: 150) erfolgt die Interpretation des gesprochenen Textes, sofern er von Interesse ist, erst nach der Interpretation des Visuellen und wird dann zu der entsprechenden Bildfolge in Beziehung gesetzt. Dabei kann der akustische Raum eines Films in sich sehr unterschiedliche Formen annehmen (z.B. Sprache, Originalgeräusche, Hintergrundmusik etc.) und wiederum auf sehr vielfältige Weise (z.B. On – Off; Akzentuierung oder aber Kontrastierung des Visuellen etc.) mit den anderen für den Film konstitutiven Räumen verwoben sein.23 Interessante Beispiele hierfür ¿nden sich v.a. im Lehrer¿lm (z.B. in Kap. 5.2: »Der Blick nach oben«; Kap. 5.3.2: »Der Weg«; Kap. 5.4.1: »Marianne«). 22 Aufgrund dieser Eigentümlichkeit des Films (im Gegenüber zum Bild) bezeichnet SachsHombach den Film als eine »Zeit-Plastik«: Im Gegensatz zum Bild ist der Film »dreidimensional, wobei die dritte Dimension allerdings nicht die räumliche Tiefe, wie bei einer Plastik, sondern die zeitliche Ausdehnung ist.« (Sachs-Hombach 2003: 130) 23 Weitere Ausführungen zu Wort-Bild-Verbindungen: Hickethier 2001: 107-109; zu Geräusch und Musik: Hickethier 2001: 96-102; Faulstich 2002: 131–143
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Die komparative Analyse als methodisches Prinzip Je nach Vergleichshorizont vor dem ein Bild oder eine andere Bedeutungseinheit interpretiert wird, geraten unterschiedliche Aspekte oder Sinn-Dimensionen in den Blick des Interpreten. Um sowohl die eigene Standortgebundenheit als auch die Polysemie, die Vieldeutigkeit, der zu interpretierenden Einheit methodisch zu kontrollieren, spielt deshalb die komparative Analyse als methodisches Prinzip bei der dokumentarischen Interpretation eine zentrale Rolle. Je komplexer und vieldeutiger ein Produkt ist, desto bedeutsamer wird dieses Prinzip (Bohnsack 2007c: 32-34). Gleichzeitig verhilft es dazu, die Spezi¿ka der einzelnen Fälle deutlicher herauszuarbeiten. So werden beispielsweise durch die Kontrastierung der Formalstrukturen beider Filme, die oben skizziert wurde, deren Unterschiede geradezu augenfällig und lassen sich dadurch besser präzisieren. Allerdings dürfte aufgrund der Komplexität einer Filminterpretation die Anzahl empirischer Vergleichsfälle, die ebenfalls einer Interpretation unterzogen werden und die dann für eine (¿lmexterne) komparative Analyse genutzt werden können, im Normalfall sehr niedrig sein. Umso wichtiger ist es deshalb, Möglichkeiten ¿lminterner Vergleiche und Relationierungen so weit wie möglich auszuschöpfen, um trotzdem auf imaginative Vergleichshorizonte des Interpreten weitgehend verzichten zu können. So kann beispielsweise bei der Interpretation des Schüler¿lms an den Vergleich angeknüpft werden, den die Schüler selbst explizieren, wobei sie in jeweils vier Szenen die Schule der Vergangenheit der Schule in der Gegenwart gegenüberstellen (vgl. Kap. 4.2). Zunächst können die beiden aufeinander bezogenen Vergleichsszenen miteinander kontrastiert und schließlich auch die vier Vergleichspaare einander gegenüber gestellt werden (s.u.: Bsp. A). Auf diese Weise kommt das Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit bzw. der Gemeinsamkeit im Kontrast (Bohnsack et al. 2001: 236; Bohnsack 2003a: 37) zur Anwendung. Auf der Grundlage dieser Relationierungen kann nun nach Homologien, also nach Strukturidentitäten, gesucht werden, deren Vorhandensein – im Sinne einer Validierung – als Indiz dafür gelten kann, dass die rekonstruierten Orientierungen tatsächlich das Ganze repräsentieren (Bohnsack 2009a: 164f; Bohnsack 2003a: 203f). Weitere Möglichkeiten eines ¿lminternen Vergleichs ergeben sich aus der Kontrastierung von direkt aneinander montierten Bildern oder Sequenzen. So ist beispielsweise die Verwendung von zwei direkt aufeinanderfolgenden Schlussbildern im Schüler¿lm sehr auffällig und lädt zur Relationierung und zur komparativen Analyse ein (Kap. 4.2.6; vgl. in dieser Hinsicht auch Kap. 5.3.2). Die Suche nach Homologien kann sich schließlich auch noch auf weiteren
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Abb. 4a – b
Sinnebenen und -dimensionen des Films fortsetzen. So bestätigen sich die rekonstruierten Orientierungen auch dadurch, dass sie sich beispielsweise sowohl im Bild als auch im Text und darüber hinaus sowohl auf der Ebene der Gesamtstruktur als auch im Detail zeigen. Anhand von drei Interpretationsbeispielen aus unterschiedlichen Bereichen soll nun die Vorgehensweise bei der Analyse von Filmen näher veranschaulicht und reÀektiert werden.
Interpretationsbeispiele A) Fokussierungsmetaphern aus dem Bereich der formalen Komposition von Fotogrammen Einzelne Fotogramme ermöglichen eine detaillierte Analyse simultaner Relationen unter Ausblendung der Sequenzialität (vgl. Bohnsack 2009a: 151ff). Gerade bei komplexen Bildstrukturen oder aber bei einer über einen längeren Zeitraum gleichbleibenden Einstellung bietet es sich an, ein Einzelbild als Fokussierungsmetapher zu wählen. Dabei kann für die Interpretation von Fotogrammen auf die Vorgehensweise der dokumentarischen Bildinterpretation zurückgegriffen werden: Im Rahmen der formulierenden Interpretation erfolgt zunächst eine detaillierte Beschreibung des Bildes auf der vor-ikonogra¿schen Ebene. Anschließend wird in der reÀektierenden Interpretation die formale Komposition des Einzelbildes im Blick auf planimetrische Komposition, perspektivische Projektion und szenische Choreogra¿e analysiert, wobei die planimetrische Komposition eine vorgeordnete Rolle spielt (Bohnsack 2005: 256). Interpretationen, in denen einzelne Fotogramme als solche im Fokus stehen, ¿nden sich in dieser Arbeit beispielsweise in Kap. 4.3.1 (Die Pinnwand), Kap. 4.3.2 (Das ›Interview‹), Kap. 4.3.3 (Die Szene Baby)
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und Kap. 5.2.1 (Am Gruppentisch). Nachdem die Bild-Interpretation jedoch nicht im Zentrum dieses Kapitels steht und es dazu genügend instruktive Beispiele gibt24, soll auf eine detaillierte Darstellung dieser Vorgehensweise hier verzichtet und anstelle dessen das Augenmerk auf die Umsetzung des Prinzips der komparativen Analyse im Umgang mit Fotogrammen gerichtet werden. Dabei werden an den folgenden Beispielen sowohl die Chancen, die diese Teilelemente des Films bieten, als auch deren Grenzen sichtbar. Wie bereits erwähnt, stellen die Produzenten des Schüler¿lms selbst einen Vergleichshorizont zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Schule her, den sie an insgesamt vier Szenen-Paaren durchspielen. Dazu thematisieren sie den Sportunterricht, den allgemeinen Unterricht, das Schreiben und den Musikunterricht (vgl. Strukturskizze Abb. 80a–b, im Anhang). Anknüpfend an diesen Vergleich werden nun einzelne Fotogramme als Repräsentanten dieser Szenen systematisch miteinander in Relation gesetzt (vgl. Kap. 4.2). Diese Relationen können dann wiederum untereinander relationiert werden, sodass es zu einer »Relationierung von Relationen« (Bohnsack, 2009a, S. 165) kommt. Auf diese Weise kommen auch bei der Reduktion auf einzelne Fotogramme beide Dimensionen des Films, die Simultaneität und die Sequenzialität, in den Blick. Dies soll nun in Grundzügen skizziert werden (zur ausführlichen Interpretation vgl. Kap. 4.2), beginnend mit dem ersten Szenen-Paar, das dem Sportunterricht gewidmet ist. Bei der direkten Gegenüberstellung beider Szenen (Abb. 4) fällt auf, dass hier unterschiedliche Kamera-Einstellungen gewählt wurden. Deshalb zunächst ein kurzer Exkurs dazu: Die Klassi¿zierungen der Kamera-Einstellungen, die in der Filmwissenschaft gebräuchlich sind, orientieren sich an dem Verhältnis zwischen der abgebildeten Person (bzw. dem Gegenstand) im Gegenüber zu seiner Umgebung. Dabei werden unterschiedliche Abstufungsskalen verwendet, die zwischen fünf, sieben oder acht verschiedenen Einstellungsgrößen unterscheiden, wobei deren Übergänge Àießend sind (Korte 1999: 25f; Hickethier 2001: 57- 60). In Abb. 5 werden die verschiedenen Einstellungsmöglichkeiten verdeutlicht (vgl. Steinmetz 2005: 21–23)25. So erscheint z.B. in der Totalen das einzelne Individuum weit im Hintergrund und wird dadurch, im Gegenüber zu seiner Umgebung, zur Nebensache. Dagegen kommen in der Ameri24 Ausführliche Darstellungen und Beispiele ¿nden sich in: Bohnsack 2003a: 236-257; Bohnsack et al. 2001: 323-337; Bohnsack 2005: 256-259; Bohnsack 2006a; Bohnsack 2009a 25 Aus Rüdiger Steinmetz, Filme sehen lernen. Grundlagen der Filmästhetik. Copyright © by www. Zweitausendeins.de, Postfach, 60381 Frankfurt am Main.
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Weite
Totale
Halbtotale
Halbnahe
Amerikanische
Nahe
Großeinstellung
Detail
Abb. 5a – h
kanischen oder in der Nahen die einzelnen Personen voll zur Geltung, während ihr Umfeld hinter ihnen zurücktritt. In der Detail- oder Großaufnahme dagegen geht der ganzheitliche Eindruck einer Person (oder eines Gegenstandes) wieder verloren zugunsten des einzelnen Details, das nun im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Durch die gewählte Kamera-Einstellung treten die Schüler der Gegenwart (Abb. 4b) hinter einem durch seine Linienführung stark strukturiert erscheinenden Raum zurück, während die Schüler im Damals (Abb. 4a) demgegenüber als Personen im Vordergrund stehen und dadurch eher präsent sind. Auffällig ist dabei auch die unterschiedliche Schärfe der Bilder und die daraus entstehende Widersprüchlichkeit in Bezug auf die Präsenz der Akteure: Die Personen in der Gegenwart werden sozusagen schärfer ins Visier genommen und verschwinden gleichzeitig in der Menge und im Raum, dessen Linienführung durch die Schärfe noch an Dominanz gewinnt. Trotz oder wegen der Schärfe sind die Schüler in der Szene zur Gegenwart letztlich weniger präsent als die recht unscharf abgebildeten Schüler im Damals. Betrachtet man vor dem Hintergrund des ersten nun das zweite Szenen-Paar, so fallen auch hier wieder unterschiedliche Kamera-Einstellungen auf. Während im Damals wieder eine Halbtotale gewählt wurde (Abb. 6a), dominiert im Heute die Groß- und Detaileinstellung, was eine Fragmentierung der abgebildeten Personen zur Folge hat (Abb. 6b). Dies führt zu einer ähnlichen Aussage wie im ersten Szenen-Paar, auch wenn sie auf entgegengesetzte Weise hergestellt wird: Auch hier treten die Personen bei der Darstellung der Gegenwart zurück, dieses Mal allerdings hinter der Konzentration auf das Detail. Das dritte Szenen-Paar unterscheidet sich weniger in der gewählten KameraEinstellung, sondern eher in der Positionierung der Akteure. Dabei entsteht in der
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Abb. 6a – b
Szene zum Heute dasselbe Ungleichgewicht zwischen Akteur und Umgebung, das in den vorangegangenen Szenen-Paaren durch die Kamera-Einstellungen zum Ausdruck gebracht wurde: Die Akteure im Heute verschwinden hinter den raumgreifenden Requisiten (Abb. 7a) wohingegen der Blick auf den Schüler in der Szene zum Damals frei und unverstellt bleibt (Abb. 7b). Durch die Gegenüberstellung dieser drei Szenen-Paare bestätigt sich also der Aspekt, der diesen Vergleich im Sinne eines tertium comparationis strukturiert (vgl. dazu: Bohnsack 2003a: 204). Er besteht hier in dem Verhältnis zwischen den Akteuren und ihrem Umfeld. Dies kam zunächst durch die unterschiedlichen Kamera-Einstellungen ins Spiel und setzte sich im dritten Szenen-Paar durch die Positionierung der Akteure fort. Im Gegenüber zu den Szenen im Damals veränderte sich dieses Verhältnis in den Szenen zum Heute durchgängig zu Ungunsten der abgebildeten Personen. Der Kontrast zwischen dem letzten Szenen-Paar kommt in der Reduktion auf das Fotogramm nur ansatzweise zum Ausdruck (Abb. 8). Er wird insbesondere durch die Kameraführung, die daraus entstehende Raumkonstruktion (editing space) und deren Verbindung mit dem Tonraum (sonic space) hergestellt. Man kann dies letztlich nur am laufenden Film genau nachvollziehen. Bezieht man diese Dimensionen mit ein, so zeigen sich auch hier Homologien zu den vorangegangenen Szenen-Paaren (Weiteres dazu siehe Kap. 4.2.4). B) Fokussierungsmetaphern aus dem Bereich der Montage Für die Analyse einer Montage ist die Kenntnis der ¿lmtechnischen Konventionen, also dessen, was gemeinhin als ›Filmsprache‹26 bezeichnet wird, sehr nütz26 Häu¿g werden die Konventionen für die Gestaltung von Filmen, die sich beispielsweise für
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Abb. 7a – b
lich. Sie erleichtert das Erfassen der spezi¿schen Herstellung der Filmnarration durch Schnitt und Kameraführung. Derartige kinematogra¿sche Elemente der ›Filmsprache‹ repräsentieren kommunikativ-generalisierende Wissensbestände und damit eine Art von ›ikonogra¿scher Ebene‹, hinter die zurückgegangen werden kann, um das Wie, also die Herstellung der jeweiligen Aussage in den Blick zu bekommen. Dabei können, wie am folgenden Beispiel gezeigt wird, Vergleiche mit ähnlich gearteten Montageformen anderer Filme hilfreich sein, um die Besonderheit der zu interpretierenden Montage noch präziser herauszuarbeiten. Neben dem folgenden Beispiel kann insbesondere auch Kap. 5.2 (»Der Blick nach oben«) weitere Einblicke in die Interpretation von Montagen geben. In der Sequenz »Der Weg« des Lehrer¿lms (Kap. 5.3.2) wird durch Kameraführung und Montage mittels ¿lmtechnischer Konventionen ein narrativer Raum konstruiert, der folgendermaßen ›gelesen‹ werden kann (vgl. Abb. 54, Kap. 5.3.2): Eine Person, von der nur die Füße zu erkennen sind, geht langsam geradeaus und bewegt sich durch eine Gruppe von Jugendlichen hindurch. Ihr Blick ist zunächst auf den Boden gerichtet, dann horizontal, dann wieder auf den Boden usw. Ihre Blicke verlaufen unterhalb der Augenhöhe der Schüler. Diese Person ist also entweder sehr klein oder sie läuft gebeugt. Diese Beschreibung stellt sozusagen die ikonogra¿sche oder konnotative Ebene dieser Sequenz dar und vollzieht die Montage oder für die Kameraführung entwickelt haben, als eine besondere Form der ›Sprache‹ betrachtet, die es sowohl für den Filmschaffenden als auch für den Filmrezipienten zu erlernen (bzw. sich bewusst zu machen) gilt. Dies kommt beispielsweise in Titeln von Handbüchern und Anleitungen, die sich an den Praktiker richten, zum Ausdruck, z. B.: Arijon (2003): »Grammatik der Filmsprache« (für den Filmschaffenden) oder Steinmetz (2005): »Filme sehen lernen« (für den Rezipienten). Der Begriff der ›Sprache des Films‹ ist dabei eher metaphorisch zu verstehen. Vgl. dazu auch: Mikos 2003: 10f; Kessler 2002: 108ff.
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die Geschichte, die hier mittels der Konventionen der ›Filmsprache‹ erzählt wird, nach. Auf der denotativen oder vor-ikonogra¿schen Ebene liegen allerdings lediglich zwei sehr verschiedene Filmbilder vor, die abwechselnd aneinander montiert wurden (vgl. Abb. 54). Dabei ist auf beiden Filmbildern eine konstant bleibende, gleichförmige Vorwärtsbewegung (Kamerafahrt vorwärts) zu erkennen. Diese Vorwärtsbewegung stellt letztlich das verbindende Element dar, durch das diese beiden Szenen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben scheinen, in den oben beschriebenen Sinnzusammenhang gebracht werden. Bei dem hier angewandten Kompositionsmuster handelt es sich um einen sog. Match Cut27 (vgl. Steinmetz 2005: 36). Dies ist eine Montagetechnik, durch die zwischen zwei (möglicherweise sogar völlig verschiedenen) Einstellungen eine Kontinuität hergestellt wird. Im hier vorliegenden Beispiel wird die Kontinuität dadurch sichtbar, dass die Bewegung des Vorwärtsgehens der Frau konstant weiter geführt wird (Kamerafahrt vorwärts). Dadurch erscheint die ganze Sequenz, trotz der disparaten Bildinhalte, als Einheit und es entsteht die oben skizzierte Narration. Meist wird bei einem Match Cut die Kontinuität einer Sequenz durch ein gleichbleibendes Bildelement hergestellt, indem ein markanter Gegenstand oder eine wichtige Person in beiden Einstellungen gezeigt wird. Wenn es sich dabei um eine Person oder ein Objekt in Bewegung handelt, wird dessen Bewegungsart (Richtung und Geschwindigkeit) konstant gehalten. Dann liegt gleichzeitig eine besondere Variante einer Bewegungsmontage vor.28 Um die Eigentümlichkeit des hier vorliegenden Match Cuts noch genauer erfassen zu können, werden nun zum Vergleich und als Kontrast Beispiele dieser Montagetechnik aus anderen Filmen herangezogen: So ¿ndet sich beispielsweise in »Lola rennt« von Tom Tykwer mehrfach eine Variante des Match Cuts, in der eine Person in gleichbleibender Bewegung in den verschiedenen Untersequenzen in wechselnden Umgebungen gezeigt wird. Das verbindende Element der Untersequenzen ist in diesem Fall die (sichtbare) rennende Lola, die 27 Matchen: »passend Zusammenfügen« (vgl. Steinmetz 2005: 24). 28 In einer Bewegungsmontage wird über verschiedene Schnitte hinweg ein und dieselbe Bewegung fokussiert, wobei die Einstellungen wechseln können. So kann beispielsweise zunächst eine Person ins Bild kommen, die ein Weinglas zum Mund führt, und anschließend dieses Weinglas als Detailaufnahme gezeigt werden, wobei dessen Bewegung in der Aufnahme konstant weitergeführt wird. Wird nun ein Match Cut durch eine sich bewegende Figur oder einen Gegenstand hergestellt, so kann dadurch über mehrere Räume oder Zeiten hinweg gesprungen werden (vgl. die oben skizzierten Beispiele aus »Lola rennt« und »2001 – Odysee im Weltraum«; vgl. Steinmetz 2005: 36).
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Abb. 8a – b
trotz veränderter Kulissen immer im Zentrum des Filmbildes steht. Eine andere Variante ¿ndet sich in »2001 – Odysee im Weltraum« von Stanley Kubrick. Dort folgt die Kamera eine Weile einem Knochen, der von einem Menschenaffen in die Luft geworfen wird. Nach dem Schnitt tritt an die Stelle des Knochens ein Raumschiff, das eine ähnliche Form aufweist und gleichzeitig die Bewegung des Knochens nahtlos weiterführt.29 Im ersten Fall ist also das Motiv einer rennenden Frau das verbindende Element, im zweiten Fall die Bewegung eines Gegenstandes, wobei die Bewegung und die äußere Form des Gegenstandes konstant bleiben und der Gegenstand selbst ausgetauscht wird. Stellt man nun einen Vergleich an, zwischen diesen drei Varianten, so fällt auf, dass das verbindende Element im Lehrer¿lm keine sichtbare Person (wie bei Tykwer) oder keine gegenständliche Bewegung (wie bei Kubrick) ist, sondern letztlich etwas Immaterielles – nämlich lediglich eine Bewegung, die von der Kamera ausgeführt wird. Die Verbindung zwischen diesen beiden disparaten Szenen bleibt also sehr vage, wobei nun das Faktum der Abwesenheit der gehenden Person hervortritt, die eigentlich das verbindende Element repräsentieren würde. Damit wird die Abwesenheit des Personhaften, die sich schon im ersten Abschnitt (0:58–1:05) zeigte, in dem man nur die Füße (und die Aktentasche) der gehenden Person sah (vgl. Abb. 54), nun auch noch durch diese Form der Montage unterstrichen und taucht somit als homologe Struktur sowohl im Filmbild als auch in der Montage auf. Die Verbindung der einzelnen Untersequenzen bleibt durch das Fehlen eines gemeinsamen Bildelements derart lose, dass diese Sequenz beinahe wie ein Cross Cutting anmutet, also wie ein Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen (voneinander unabhängigen) Handlungssträngen, die simultan nebenei29 Vgl. Filmausschnitte auf der DVD in Steinmetz 2005
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nander ablaufen.30 Auch die Wiederholung des Wechsels zwischen den beiden verschiedenartigen Untersequenzen (vgl. Abb. 54) unterstreicht diesen Anklang. In dem Oszillieren zwischen Match Cut und Cross Cutting dokumentiert sich dabei gleichzeitig die eigentümliche Form der Begegnung zwischen den beiden Parteien, der Lehrerin und den Schülern, die zum Ausdruck der hier sichtbar werdenden Übergegensätzlichkeit als ›Nicht-Begegnung‹ bezeichnet wurde (vgl. Kap. 5.3.2). Sie zeigt sich außerdem auch sehr prägnant in der Gestaltung des Tonraums dieser Sequenz: Während in einem Match Cut die Einheit der Untersequenzen für gewöhnlich durch ein Konstant-Halten des Tonraums unterstrichen wird, z.B. durch gleichbleibende Laufgeräusche oder durch eine weiterlaufende Hintergrundmusik (z.B. in »Lola rennt«)31, behält hier jeder Abschnitt seinen eigenen Tonraum.32 Dadurch werden zwei voneinander abgesetzte Räume (also sozusagen zwei getrennte ›sonic spaces‹) hergestellt, die ihrerseits zu dem oben beschriebenen Oszillieren zwischen Match Cut und Cross Cutting beitragen. Unterstrichen wird dies auch noch durch die Komposition der Blickführungen: Vergleicht man die vorliegende Passage mit einem sog. Eyeline Match (vgl. Steinmetz 2005: 24), bei dem die Blickachsen der Akteure so aufgenommen und aneinander gefügt werden, dass sie sich gegenseitig anzuschauen scheinen33, so wird das Aneinander-Vorbei der Blicke in dieser Sequenz um so deutlicher. Und so trägt auch die Konstruktion der Blickachsen der beiden Parteien ebenfalls zu dem Eindruck bei, dass diese in voneinander unabhängigen Handlungssträngen agieren, wobei in diesem Zusammenhang nun auch die nach unten versetzte Blickhöhe der Lehrerin auffällt. Die Nicht-Begegnung zwischen Schülern und Lehrerin korrespondiert au30 Bei einem Cross Cutting wird zwischen verschiedenen Handlungssträngen hin und her gesprungen. Aufgrund ¿lmischer Konventionen sind sie dadurch als simultan ablaufende Geschehnisse zu erkennen. So kann beispielsweise in einem spannenden Countdown dem Zuschauer mitgeteilt werden, dass die Rettung des Helden bereits naht, indem der parallele Handlungsstrang der herbeieilenden Helfer immer wieder in den Haupterzählstrang eingewoben wird. 31 Im Beispiel von Kubrick erfolgt eine Überblendung von einem Tonraum in den nächsten. 32 Dass es sich dabei nicht um eine technische Unfähigkeit seitens des Produktionsteams handelt, wird sichtbar, wenn man einen Vergleich mit einer Montage, die direkt vor dieser Sequenz kommt, anstellt: Dort werden unterschiedliche Abschnitte durch eine weiterlaufende Hintergrundmusik miteinander verbunden. 33 Vgl. z.B.: Fred Zinnemann: »12 Uhr Mittags« (»High Noon«): Während die junge Ehefrau den Sheriff verlässt und aus der Stadt fährt, wird durch die Technik des »Eyeline Match« eine Begegnung ihrer Blicke hergestellt, obwohl beide nicht im selben Bild zu sehen sind (vgl. Filmausschnitt auf der DVD zu Steinmetz 2005).
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ßerdem gleichzeitig mit einer Selbstbezogenheit der Lehrerin, die bereits dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie zunächst nur auf sich selbst (auf ihre eigenen Füße) blickt (vgl. dazu auch Bohnsack 2009a: 166ff). Diese Selbstbezogenheit wird nun auch noch durch eine ¿lmische Erzähltechnik unterstrichen, die ebenfalls in dieser Montage zur Anwendung kommt, die sog. »subjektive Kamera«. Damit ist ein Erzählkonzept gemeint, bei dem die Kamera so geführt wird, dass sie die Blicke eines Filmakteurs (hier: der Lehrerin) wiedergibt. Der Zuschauer blickt dadurch in gewisser Weise mit den Augen der (unsichtbar bleibenden) Lehrerin auf das gezeigte Geschehen. Das Gegenstück dazu wäre sozusagen ein ›objektiver‹ Blick, also der Blick eines Außenstehenden (eines Zuschauers) auf das Geschehen (Hickethier 2001: 130–132; Faulstich 2002: 120; vgl. Kap. 5.3.2). Die einzige Begegnung zwischen Lehrern und Schülern vollzieht sich in diesem Film also in Form eines ›subjektiven‹ Blicks der Lehrerin, die in Blickführung, Tongestaltung und Bildgestaltung als eine isolierte, ganz in ihrer eigenen Welt gefangene Person (oder besser ›Nicht-Person‹) erscheint und dabei auch noch hinter einer riesigen Aktentasche (ein Metonym für apersonale Tätigkeiten) verschwindet. Und so wiederholt sich das Muster der ›Nicht-Begegnung‹ nicht nur mehrfach, sondern auch bis in einzelne Details hinein (Weiteres dazu siehe Kap. 5.3.2). An diesem Interpretationsbeispiel wird gleichzeitig deutlich, wie durch die Relationierung verschiedenartiger Elemente, die in unterschiedlichen Dimensionen des Films angesiedelt sind (im Bereich der Montage, der Bildgestaltung, der Kameraführung und der Gestaltung des Tonraums), homologe Strukturen identi¿ziert werden können und sowohl zu einer Validierung als auch zur weiteren Präzisierung führen können. Das ¿lmexterne Vergleichsmaterial, auf das hier zurückgegriffen wurde, fungiert dabei im Sinne einer Kompositionsvariation. Damit spielen diese Vergleiche eine völlig andere Rolle als jene ¿lmexterne Vergleiche mit empirischem Material, die im Kontext der komparativen Analyse (s.o.) angesprochen wurden. C) Fokussierungsmetaphern aus dem Bereich der Gebärden und der Elemente der »physischen Realität« Nach Kracauer und Panofsky besteht das Besondere des Films darin, dass er mit der »physischen Realität« (Kracauer 1964: 389) operiert: »Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche« betont Panofsky (1999: 54). Und Balázs (1924/2001: 26) hebt u.a. die »Feinheit und Kraft der Gebärde« hervor, die die Kunst des Films ausmacht (vgl. Bohnsack 2009a: 140ff). Damit eröffnet der Film einen neuen, bisher nicht verfügbaren Zugang zur Ebene der Körperlichkeit als einer ganz ele-
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mentaren Ebene sozialer Realität (Bohnsack 2009a: 142). Gerade für die Rekonstruktion des Habitus, als eine Form des inkorporierten Praxiswissens von Personen, spielt diese Ebene eine besondere Rolle. Und so weist auch Mannheim darauf hin, dass die »Leibsprache« viel geeigneter ist, die »Struktur der atheoretischen Sinngebilde« zu erfassen »als der vornehmliche Träger des theoretischen Sinnes, die Wortsprache« (Mannheim 1964: 136). Während ein Bild Gebärden und Bewegungen nur als Momentaufnahme anzudeuten vermag, können sie im Film tatsächlich zur Ausführung kommen. Sie erfahren dadurch eine Ausdifferenzierung bezüglich der Geschwindigkeit, des exakten Bewegungsablaufs und der Intensität, die in dieser Weise in einem statischen Bild nicht darstellbar ist. Die Szene Marianne (Kap. 5.4.1) soll im Folgenden als ein Beispiel dienen, in dem eine Gebärde im Zentrum der Interpretation steht. Weitere Szenen, in denen die »Leibsprache« der abgebildeten Filmproduzenten eine besondere Rolle spielen, wären beispielsweise die Moderations-Szenen des Schüler¿lms, die sich vor der Kulisse einer Tür abspielen, insbesondere die Szene »In der Ecke« (vgl. Kap. 4.4.5). Die Identi¿kation und Klassi¿kation einer Handlung wie die des Grüßens (im Beispiel von Panofsky, s.o.) bewegt sich auf der ikonogra¿schen Ebene und bezeichnet die Ebene des immanenten Sinngehaltes, die Ebene des Was. Um zur Ebene des dokumentarischen Sinngehaltes vorzudringen, ist es dagegen nötig, von der Motivzuschreibung des Grüßens abzusehen und anstelle dessen auf die Herstellung und die genaue Ausführung dieser Handlung zu achten – also das Wie ins Auge zu fassen. Die Handlung, die die Lehrerin Marianne (vgl. Abb. 55–58 in Kap. 5.4.1) hinter den Papierstößen ausführt, ist allerdings bereits auf der ikonogra¿schen Ebene nicht eindeutig zu klassi¿zieren, weil sie in dieser Art nicht zum üblichen Repertoire von Lehrern gehört, also keine »institutionalisierte Handlung«
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(Bohnsack 2009a: 147) darstellt. Man könnte sie (auf der Ebene sog. »operativer Handlungen«) in etwa folgendermaßen beschreiben: Marianne sitzt hinter aufgetürmten Papierstößen und transportiert mit beiden Händen abwechselnd weitere Papierbündel von hinten nach vorne auf die Stöße. Diese Beschreibung lässt sich nun auf der Ebene von Gebärden und Kinemen34 noch weiter ausdifferenzieren. Dabei lassen sich unterschiedliche »kleine Verhaltensteile« (Goffman 1981a: 107; i.O.: small behaviors) identi¿zieren, die in sich widersprüchlich sind: Einerseits greift gleich zu Beginn der Passage, nachdem Marianne ins Bild gekommen ist, ihre rechte Hand nach vorne und wirkt wie die Hand eines Ertrinkenden, der sich (nach vorne) ans rettende Ufer ziehen möchte. Andererseits befördert die linke Hand gleich anschließend einen Papierstapel von hinten nach vorne. Daraus ergibt sich eine in sich gegensätzlich wirkende Vorwärts-Rückwärts-Kraulbewegung. Widersprüchlich ist auch die Art, in der sie ihre Arme nach unten bewegt: Teils werden sie kraftlos fallen gelassen, teils schlagen sie kräftig nach unten, sodass der Eindruck entsteht, dass das Papier geschlagen wird. So oszilliert diese Bewegung zwischen tätlicher Aggression und kraftloser Resignation. Diese beiden Pole zeigen sich auch darin wie Marianne ihre Hände auf die Papierstöße legt: Beim ersten Mal lässt sie sie kraftlos auf die Stöße sinken (Abb. 9a), beim zweiten Mal drückt sie sich mit krallenförmig aufgestellten Fingern davon ab (Abb. 9b). Schließlich setzt sich diese Gegensätzlichkeit als homologe Struktur auch noch auf weiteren Ebenen fort: Mariannes Tonfall bewegt sich zwischen einem weinerlich wimmernden Pianissimo und einem wütenden Forte. Der Text trägt dabei ebenfalls diese Widersinnigkeit in sich: Der sich ständig wiederholende Satz: Ich kann nicht mehr … wird beim 9. Mal durch den Zusatz … aufhören weitergeführt und dadurch doppeldeutig. Einerseits wird er nun zu einem doppelten Appell verstärkt: Ich kann nicht mehr! Aufhören! Andererseits bekommt dieser Text, wenn er als ganzer Satz verstanden wird, die entgegengesetzte Bedeutung: Ich kann nicht mehr aufhören! also: Ich will bzw. muss unbedingt weiter machen! Die Rhythmik, die durch das Aufpatschen der Hände auf Tisch und Papierstöße den Text Ich kann nicht mehr! begleitet, akzentuiert außerdem zunehmend die beiden Worte Kann! und Mehr! und legt damit eine Art Subtext 34 Bohnsack unterscheidet zwischen Bewegungen auf der ikonogra¿schen und der vor-ikonogra¿schen Ebene (Bohnsack 2009a: 144ff): Kineme (als Elemente von Gebärden), Gebärden und operative Handlungen (Gebärdenbündel, deren Motiv im weiteren Handlungsverlauf sichtbar wird, wie z.B. das Beugen der Knie um sich zu setzen) sind auf der vor-ikonogra¿schen Ebene angesiedelt, institutionalisierte Handlungen dagegen auf der ikonogra¿schen Ebene (vgl. auch Kap. 5.2.2).
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unter den gesprochenen Text, der ebenfalls in die entgegengesetzte Sinnrichtung weist: (Ich) kann! – Mehr! In der Art einer Übergegensätzlichkeit Àießen hier die Ohnmacht eines Opfers, das gerne aufhören möchte, aber nicht darf, und die Triebkraft eines Täters, der nicht mehr aufhören will (oder kann), ineinander. Die Widersprüchlichkeit wiederholt sich schließlich auch noch in Metaphorik und Symbolik der rot verschmierten Hände und in den Handhaltungen von Marianne (zur weiteren Interpretation: siehe Kap. 5.4.1). Und so zieht sich das Oszillieren zwischen Ohnmacht und Aggression, zwischen ›Opfer-Sein‹ und ›Täter-Sein‹, das sich in der Gebärde der stapelnden Marianne zeigt, als homologe Struktur durch verschiedene Sinnebenen dieser Szene. Es wiederholt sich außerdem an weiteren Stellen des Films, an denen diese Szene erneut aufgegriffen wird, und kommt schließlich auch mittels völlig anderem motivischen Material und anderer Metaphorik zum Ausdruck (vgl. Kap. 5.2.2: »Vor Gericht«).
Zusammenfassung der Arbeitsschritte einer Filminterpretation • Transkription des Films • Formulierende / Beschreibende Interpretation I: – Sequenzverlauf des Films • ReÀektierende Interpretation I: – Strukturskizze des Films • Interpretation einzelner Fokussierungsmetaphern: – Formulierende / Beschreibende Interpretation II – ReÀektierende Interpretation II • Interpretation des Filmtitels • Gesamtdarstellung des Films Die hier vorgeschlagene Schrittfolge stellt nur einen idealtypischen Ablauf dar. Die zirkuläre Bewegung jeglicher interpretativer bzw. hermeneutischer Prozesse (»hermeneutischer Zirkel«) wird durch die Polysemie und die Komplexität des Datenmaterials Film noch zusätzlich verstärkt. So ist es nicht ausgeschlossen, dass manche Eigenheiten der Gesamtstruktur des Films erst bei der Interpretation von einzelnen Fokussierungsmetaphern in ihrer tatsächlichen Tragweite in den Blick kommen oder dass beispielsweise die abschließende Auseinandersetzung mit dem Filmtitel dazu führt, noch weitere Passagen detaillierter zu interpretieren. Für die Gesamtdarstellung des Films wurde eine Form gewählt, die einerseits die Genese der Interpretationsergebnisse nachvollziehbar machen soll, aber
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andererseits gleichzeitig ›lesbar‹ bleiben sollte. Dieser doppelte Anspruch stellt aufgrund der Komplexität des Films eine Herausforderung dar, die immer nur im Kompromiss zwischen beidem zu bewältigen ist. So wurde einerseits zwar weitgehend auf eine akribische Darstellung von Indizien, die zu einer bestimmten Interpretation führen, verzichtet, aber andererseits war es doch nicht immer möglich, Wiederholungen zu vermeiden. Ebenso konnte um der Linearität der Darstellung willen auch nicht immer auf Vorgriffe verzichtet werden (z.B. in Kap. 5.2).
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4.1 Überblick über den Film Wir haben unser kleines Video-Tape ›Melanchthon ¿nd ich super‹ genannt. Und wir haben es zu dritt gestaltet: und zwar das ist die Anna und das ist die Sina und ich bin die Lisa. Und, ähm, wir ham verschiedene Interviews mit Leuten geführt und, ähm, ham ’n bisschen Theater gespielt und zwar geht’s bei uns darum, wie die Schule früher war und wie sie heute ist. Und ich würde sagen, wir schauen uns das Ganze mal an. Film ab! (S 1) Ein Team von drei Schülerinnen einer 9. Klasse des Melanchthon-Gymnasiums Nürnberg legte als Wettbewerbsbeitrag diesen Film vor, der bezüglich seines Gesamtcharakters als eine Dokumentation über Schule (am Beispiel ihres eigenen Gymnasiums) bezeichnet werden kann.35 In diesem Film ¿nden sich sowohl dokumentierende Passagen (Einblick in das Schulgebäude; Vergleichs-Szenen zur Schule damals und heute) als auch berichtende oder kommentierende (Moderations-Szenen). Es werden Interviews geführt (Interview zur SMV; Interviews im Freien mit schulexternen Personen) und es kommen ›Schautafeln‹ zum Einsatz (z.B. beim Musikunterricht heute). Dabei ergibt sich ein ständiger Wechsel zwischen diegetischer Narration, bei der der Zuschauer vom Darsteller direkt angesprochen wird (z.B. in den Moderations-Szenen), und mimetischer Narration, bei der sich das Erzählte durch eine Filmhandlung vor den Augen des Betrachters entfaltet, ohne Vermittlung
35 Zum Begriff der »Dokumentation« (Hickethier 2001: 203): »Der Begriff der Dokumentation ist allgemeiner gefasst [als die Begriffe Dokumentar¿lm oder Feature] und wird vor allem im Fernsehen verwendet. Er bezieht im Rahmen der Differenzierung berichtender und dokumentierender Formen im Fernsehen auch Formen des Interviews und der Studiodiskussion, der Visualisierung durch Gra¿ken, Schautafeln, Studiodemonstrationen etc. mit ein. Häu¿g tritt auch ein Korrespondent oder Autor direkt vor die Kamera, um die Zuschauer frontal anzusprechen.«
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eines Sprechers (z.B. in den Szenen zur Schule damals und heute).36 Die Produzentinnen dieses Films sind auch gleichzeitig dessen Hauptdarstellerinnen37, wobei sie je nach Bedarf in unterschiedliche Rollen schlüpfen: sie sind Moderatorinnen oder Reporterinnen, spielen eine Lehrerin oder Schülerinnen – letzteres allerdings nur im distanzierenden Rahmen der ›Theater-Szenen‹ (abgesehen vom Sonderfall des ›Interviews‹; vgl. Kap. 4.3.2). An keiner Stelle sprechen sie allerdings direkt als ›authentische Zeugen‹ des Feldes Schule (in einer Dokumentation ist es durchaus üblich, direkt Betroffene als Zeugen des jeweiligen Feldes zu Wort kommen zu lassen) und in der einzigen Szene, in der eine von ihnen ein Statement als ›Zeugin‹ abzugeben scheint, geschieht dies auf eine sehr eigentümliche Weise (vgl. Kap. 4.3.2). Sogar in den Theater-Szenen bleiben sie dort, wo sie in die Rolle von Schülern schlüpfen, gänzlich stumm. Die Rahmenhandlung des Films besteht aus einer Reihe von ModerationsSzenen, die vor der Kulisse eines Privatraums, also jenseits der Schule, aufgenommen wurden (die Akteurinnen sitzen auf einem Sofa oder stehen vor einer Zimmertür; vgl. Kap. 4.4.4; schwarze Balken in der Strukturskizze im Anhang, Abb. 80a–b; diegetische Narration). Davon abgesetzt sind die Passagen, in denen der Zuschauer anhand von Spielszenen Einblick in den Unterricht damals und heute bekommt (mimetische Narration; vgl. Kap. 4.2; hellgraue Balken in der Strukturskizze im Anhang, Abb 80a–b). Hier zeigt sich eine Mischung aus den Erzählmodi der Dokumentation und der Fiktion38: Diese Szenen wurden eigens 36 Mit dieser Differenzierung folge ich Bordwell (1985: 3ff), der die aristotelische Unterscheidung zwischen Diegese und Mimese aufgreift und für die Betrachtung ¿lmischer Erzählweisen nutzt (wobei er dies allerdings lediglich in Bezug auf den Spiel¿lm ausführt). Siehe auch: Hickethier 2001: 112f 37 Bei den abgebildeten Bildproduzenten, die nicht zum Produktionsteam gehören, handelt es sich hauptsächlich um gleichaltrige (Sportunterricht; GS 1) oder um jüngere (Unterricht im Allgemeinen; GS 2) Mitschüler. Diese gehören als Schüler des Melanchthon-Gymnasiums demselben konjunktiven Erfahrungsraum an wie die Produzentinnen. Demgegenüber entstammen die Personen, die jenseits der Schule auftreten, bei den Interviews im Freien (S 10), einem anderen Erfahrungsraum: Bei den beiden Erwachsenen und den Babys ist dies offensichtlich, bei dem interviewten Schüler erfährt man indirekt, dass er von einer anderen Schule kommt (Bei euch so stark?; S 10.8); vgl. Kap. 4.3.3. 38 Das Fiktionale (Spiel¿lm) und das Dokumentarische (Dokumentar¿lm) können als Modi des (¿lmischen) Erzählens verstanden werden (Hickethier 2001: 191). »Fiktionales und dokumentarisches Erzählen bilden kulturelle Konventionen und sind deshalb veränderbar, sie können auch als ›Stilmittel‹ und damit als kalkulierbare ästhetische Strategien jeweils anders eingesetzt werden: Der Fiktions¿lm kann sich einen dokumentarischen Gestus geben, umgekehrt kann sich der Dokumentar¿lm um ¿ktionale Erzählmuster bemühen.« (Hickethier 2001: 193)
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für die Filmaufnahme gespielt – eine Strategie, die in den meisten Dokumentar¿lmen zum Einsatz kommt (vgl. Hickethier 2001: 191f) und an sich noch nicht im Widerspruch zum dokumentarischen Charakter eines Films stehen muss.39 Allerdings weisen die Produzentinnen – im Gegensatz zur üblichen Vorgehensweise – hier mehrfach eigens darauf hin, dass sie nur `n bisschen Theater gespielt haben (vgl. Kap. 4.4.4) und machen damit den ¿ktionalen Charakter dieser Szenen im Film selbst deutlich. Indem sie diese Szenen als »Theaterspiel« rahmen, bekommen diese den Charakter von Spiel¿lm-Passagen, die in einen Dokumentar¿lm eingelagert sind. Durch den wiederholten Wechsel zwischen diesen und den übrigen Passagen, die den Charakter des Dokumentarischen wahren, oszilliert der Film insgesamt zwischen Spiel- und Dokumentar¿lm, zwischen Fiktion und Realität(s-Anspruch). Insgesamt werden acht derartige Spiel-Szenen vorgeführt (›Theater-Szenen‹; vgl. Kap. 4.2), die jeweils paarweise aufeinander bezogen sind (als Gegenüberstellungen »Damals – Heute«), woraus sich vier Gegenszenen-Paare ergeben (GS 1– 4): zum Sportunterricht (GS 1), zum Unterricht im Allgemeinen (GS 2), zum Schreiben (GS 3) und zum Musikunterricht (GS 4; vgl. Abb. 80a–b). Schließlich gibt es noch einen dritten Handlungsstrang, den man mit ›Reporter unterwegs‹ überschreiben könnte (mittelgraue Balken in der Strukturskizze im Anhang, Abb. 80a–b; Àießende Übergänge zwischen mimetischer und diegetischer Narration). Die Produzentinnen drehen hier sozusagen in situ, vor Ort. Im Gegensatz zu den gestellten dokumentierenden Szenen (›Theater-Szenen‹) wird dabei das sich gerade aktuell ereignende (vor-¿lmisch) Reale40 ge¿lmt: Dem Zuschauer wird das Schulgebäude gezeigt, er wird mit hinein in das Innere der Schule genommen (S 3/4; S 6/7) und er kann die Interviews mit verfolgen, die die Akteurinnen in einem Park durchführen (S 10). Charakteristisch für diese Passagen ist das sehr auffällige pinkfarbige Mikrophon, das dabei zum Einsatz kommt. Dieser Handlungsstrang ¿ndet sich in Hickethier erläutert weiterhin verschiedene Varianten von Mischformen zwischen Dokumentation und Fiktion (Hickethier 2001: 204–207). 39 Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie, gemäß dem Anspruch des Dokumentarischen, Wirklichkeit tatsächlich dargestellt werden kann: durch das objektiv-fotogra¿sche, möglichst naturgetreue Abbild oder aber indem der Versuch gemacht wird, Einblick in eine Wirklichkeit zu geben, die hinter diesem Abbild liegt und sich deshalb auf rein fotogra¿sche Art nicht darstellen lässt, sondern erst mittels ¿lmischer Gestaltungstechniken oder Inszenierungen sichtbar gemacht werden kann (vgl. dazu: Hickethier 2001: 200ff). 40 Zum Begriff des »vor-¿lmisch Realen« siehe Hickethier 2001: 192
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zwei längeren Blöcken, einmal zu Beginn des Films (S 3–7, unterbrochen von einer Moderations-Szene) und schließlich, zentral positioniert, in der Mitte des Films (S 10, ohne Unterbrechung) (vgl. dazu Kap. 4.2.6 und Kap. 4.3.3). Einen Zwischenstatus zwischen diesem Strang und den ›Theater-Szenen‹ haben die kurzen Moderations-Szenen, die im Raum der Schule spielen und auf die Gegenüberstellung der Gegenszenen (GS 1– 4) bezogen sind (mittelgraue Balken). Eine Besonderheit im Aufbau des Films zeigt sich in der Positionierung von Vor- und Nachspann (vgl. Kap. 4.4.1). Nachdem der Vorspann erst nach der Eingangs-Szene (S 1) einsetzt, ergibt sich eine Art ›Film im Film‹ (vgl. Abb. 80a–b), der als solcher auch noch durch die Worte Film ab! (S1) hervorgehoben wird. Eine weitere Eigentümlichkeit – und in gewisser Weise ein Pendant zu seiner Eröffnung – ¿ndet sich am Ende des Films: Dort wurden direkt an den Nachspann sog. Outtakes angehängt. Durch sie wird der ¿lmische (und damit ¿ktionale) Charakter des vorangegangenen Films ein weiteres Mal vergegenwärtigt und betont. Auch hier vollzieht sich – diesmal auf übergeordneter Ebene – ein Switchen zwischen Fiktion und Realität (vgl. Kap. 4.4.3). Einerseits zeigt sich in der Wahl des Genres der Dokumentation ein Anspruch auf Authentizität, andererseits vollzieht sich durch das Offenlegen und das ›Outen‹ des ¿ktionalen Charakters der Darstellung gleichzeitig eine Distanzierung von diesem Anspruch. Damit wird hier bereits auf der Meta-Ebene des Films eine Struktur sichtbar, die sich im Folgenden auch im Detail wieder¿nden wird (z.B. im Anspruch auf eine ›persönliche‹ Meinung und auf ein ›persönliches‹ Engagement im Interview zur SMV; vgl. insbes. Kap. 4.3 und 4.4.5). Das Moment der Distanzierung zeigt sich darüber hinaus auch noch in Bezug auf den Gesamtaufbau des Films: Wie ein roter Faden zieht sich eine strikte Trennung zwischen der Sphäre der Schule und der persönlichen Sphäre der Produzentinnen durch den ganzen Film durch das auffällige, wiederholte Hin-und-Herspringen (das sich aus dem Szenenwechsel ergibt) zwischen einer privaten Kulisse (Moderations-Szenen; schwarze Balken) und der Sphäre der Schule (mittel- bzw. hellgraue Balken, Abb. 80a–b). Schließlich distanzieren sich die Akteurinnen darüber hinaus auch noch mittels des markanten Requisits des Mikrophons (als Hinweis auf ihre Rolle als schulexterne ›Reporter‹) von der Sphäre der Schule. Somit zeigt sich das Muster der Trennung und Distanzierung als homologe Struktur sowohl auf der Makro-Ebene des Gesamtaufbaus als auch in der Mikrostruktur einzelner Szenen bis hin zu einzelnen Requisiten (vgl. insbes. Kap. 4.2).
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Die Darstellung der Interpretation dieses Films gliedert sich in drei Haupteile: Der erste Teil (Kap. 4.2) widmet sich zunächst den ›Theater‹-Szenen und geht der Gegenüberstellung der Schule damals mit der Schule heute nach, die die Produzentinnen explizit in Szene setzen. Dabei kommt schließlich eine weitere Gegenüberstellung in den Blick, die sich implizit durch den Film zieht und insbesondere in den beiden Dokumentationsblöcken am Anfang (»Schulgebäude«) und in der Mitte des Films (»Im Freien«) in Erscheinung tritt (beide: mittelgraue Balken, Abb. 80a–b). Im zweiten Teil (Kap. 4.3) werden die Interviews, die in diesem Film geführt werden, näher betrachtet und miteinander kontrastiert. Der Fokus des dritten Teils (Kap. 4.4) liegt auf der Gesamtkomposition des Films. Dabei werden insbesondere der Filmanfang (Vorspann) und das Filmende (Nachspann und »Outtakes«) sowie die eingelagerten Moderations-Szenen auf dem Sofa und vor der Tür (in der Strukturskizze jeweils schwarze Balken) reÀektiert. Den Abschluss bilden die Analyse des Filmtitels, der vor dem Hintergrund der vorangegangenen Interpretation reÀektiert wird (Kap. 4.5), und eine Zusammenfassung, in der die wesentlichen Orientierungen der Produzentinnen, die sich in diesem Film dokumentieren, zusammengeführt werden (Kap. 4.6).
4.2 ›Theater‹-Szenen (GS 1– 4) Der Hauptteil des Films wird von den acht szenischen Darbietungen durchzogen, die, paarweise aufeinander bezogen, die Schule, wie sie früher war, mit der heutigen Schule vergleichen. Das Produzententeam arbeitet hier also mit einem Vergleichshorizont (Damals – Heute) 41 und verortet dabei den negativen Gegenhorizont explizit im Damals, auf dessen Hintergrund das Heute dargestellt und schließlich bewertet wird: Unsere persönliche Meinung ist, dass wir die Entwicklung von damals zu heute natürlich sehr viel besser ¿nden ... (S 13.2; vgl. dazu Kap. 4.4.5). Die dokumentarische Interpretation dieser Szenenfolge knüpft zunächst an diesem expliziten Vergleichshorizont an, indem die Interpretation der Einzel-Szenen zuerst konsequent aus dem Vergleich der jeweils einander explizit zugeordneten GegenSzenen entwickelt wird. Anstelle eines ¿lmexternen Vergleichshorizonts kann hier eine ¿lminterne komparative Analyse treten (vgl. Kap. 3). In einem weiteren Schritt wird dann diese Gegen-Szenen-Struktur an sich reÀektiert (Kap. 4.2.5). Dabei wird 41 S 13.2: ... und wir haben uns das T... so vorgestellt, dass wir eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen und Ihnen das Unterrichtsgeschehen damals im Vergleich zu heute etwas näher bringen.
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nun der implizite Gegenhorizont zur Struktur der Gegen-Szenen rekonstruiert, der wiederum aus dem Film selber gewonnen wird (siehe Kap. 4.2.6). Die folgende Darstellung der Gegen-Szenen 1– 4 (GS 1– 4) setzt bereits bei der Relationierung der einander zugeordneten Szenen (Damals – Heute) an, indem deren Fotogramme zueinander in Relation gesetzt werden, sodass hier nicht nur die Simultaneität, sondern auch die Sequenzialität des Films zum Tragen kommt (vgl. Kap. 3). Schließlich wird auch der Tonraum sowohl in Relation zum zugehörigen Filmbild als auch in Relation zur Vergleichs-Szene reÀektiert.
4.2.1 Der Sportunterricht (GS 1) Die Filmbilder im Vergleich In beiden Szenen sind Schülerinnen zu sehen, die synchrone Bewegungen ausführen. Das Gemeinsame der Darstellungen des Heute und des Damals ist also die Vorführung einer Art von ›Gleichschritt‹. Dies ist insofern bemerkenswert, als es gerade im Sportunterricht (und insbesondere dem der Gegenwart) deutlich mehr szenisches Material gäbe, das keine derartige Gleichförmigkeit der Bewegung anbietet. Die für das Heute gewählte Szenerie zeigt dabei nicht nur irgendein Beispiel von Gleichförmigkeit, sondern präsentiert darüber hinaus eines, das auch noch auf das Ideal einer völligen Synchronizität hinzielt, indem die Darbietung einer Gruppenchoreogra¿e vorgeführt wird, in der alle Tänzer genau demselben Bewegungsablauf folgen (vgl. Abb. 10a–d). Unterschiedlich ist dagegen die Perfektion der ausgeführten Bewegungen: Während die Gruppe im Heute eine vollkommene Synchronizität zeigt, wirken die Bewegungen im Damals improvisierter und erwecken nicht den Eindruck, am Ideal der völligen Synchronizität orientiert zu sein (vgl. Abb. 11a–d). Unterschiedlich ist auch die Anzahl der Personen: Während im Damals nur drei Schülerinnen in den Blick genommen werden, sind es im Heute beinahe fünfmal so viele (14). Im Damals ist während der meisten Zeit eine Lehrkraft anwesend (sie tritt nur hin und wieder aus dem Bild42), im Heute dagegen ist keine zu sehen. Durch die Anordnung der Schüler und die Position der Kamera sind im Damals alle gleichermaßen gut zu sehen, im Heute dagegen werden immer wieder einzelne Personen von anderen verdeckt. Dabei sind sie durch die Entfernung von der Kamera sowieso nur als kleine 42 Bemerkenswert ist, dass sie insbesondere dort, wo die Liegestützen gemacht werden, nicht im Bild ist. Ansonsten würde diese Situation nämlich den Charakter einer Unterwerfungsgeste bekommen.
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Figuren zu erkennen (Totale), die allerdings recht scharf abgebildet sind. Obwohl sie scharf ins Visier genommen werden, wird der Einzelne als Subjekt dennoch nicht besser sichtbar, jedoch wirken dafür die Linien und Konturen im Gesamtbild eher schärfer und dominanter. Demgegenüber sind die Schüler im Damals recht unscharf zu sehen, aber als Einzelne, gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit, im Bild wesentlich präsenter durch die Kamera-Einstellung der Halbtotalen. Im Damals stehen zudem die Schüler im Vordergrund des Bildes, während im Heute die Schüler lediglich im Mittelgrund positioniert sind. Hier bildet die freie Fläche des Fußbodens den Vordergrund, auf dem ein markantes Muster von Linien zu sehen ist, die quer zu Perspektivik und Linienführung des restlichen Bildes verlaufen. Beide Bilder unterscheiden sich deutlich im Raumeindruck: Der fotogra¿erte Raum (shot space) im Heute ist im Vergleich zum Damals wesentlich größer: Im Bild ist eine Turnhalle, die man vom Fußboden bis zur Decke sehen kann und deren Raumausstattung den Eindruck eines sehr voluminösen Raumes vermittelt. Im Damals sieht man dagegen nur einen Ausschnitt, der kaum Rückschlüsse auf
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Abb. 11a – d
die eigentliche Größe des Raums zulässt, und so bleibt die tatsächliche Raumausdehnung letztlich offen.43 Demgegenüber wirkt der große Raum im Heute eher abgeschlossen.44 Die jeweils sichtbare Raumausstattung vermittelt im Heute einen deutlich professionelleren Eindruck als im Damals (ikonogra¿sche Ebene). Auch auf der ikonischen Ebene erzeugt die Ausstattung sehr unterschiedliche Wirkungen: Während die relativ einheitlich wirkende Fläche der Matte im Zusammenhang mit den weichen Konturen einen ruhigen Hintergrund liefert, wird der Hintergrund im Heute von dem (z.T. kleinkarierten) Muster der geraden und meist rechtwinkligen
43 Hickethier 2001: 84: »... ein Ergänzen und Schließen vom gezeigten Detail auf das nicht gesehene Ganze – ist für die ¿lmische Raumwahrnehmung konstitutiv« (ebenso: Bordwell 1985: 119: the guidance of »construction of offscreen areas«). 44 Für die Interpretation spielt es keine Rolle, dass beide Szenen vermutlich im gleichen Raum aufgenommen wurden.
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Linien dominiert, die aus den Gittern, Stangen und Toren entstehen, die ihrerseits durch die Schärfe des Bildes noch betont werden und einen rasterförmigen, gitterartigen Hintergrund erzeugen. Vor dem jeweiligen Hintergrund bzw. in dem jeweiligen Raum ist auch die Wirkung der Akteure in den beiden Szenen eine sehr unterschiedliche: Während der ruhige und sehr überschaubare Hintergrund im Damals die einzelnen Akteure voll zur Geltung kommen lässt, verschluckt die dominante Raumwirkung im Heute die Bewegungen der Gruppe und damit auch den Einzelnen, der sowieso nur als ein kleines, unpersönliches (auswechselbares) Teilchen der Gruppe in Erscheinung tritt. Und durch die Linien in Vorder- und Hintergrund, an SeitenÀäche und Decke wirken die Darsteller weitgehend umschlossen von den verschiedenen Flächen und ihren Strukturen. Im Gegensatz zur Gruppe im Heute sind die Gruppenmitglieder (einschließlich der Lehrkraft) im Damals teil-uniform gekleidet mit einheitlichen weißen T-Shirts. Allerdings ist die Gesamtwirkung der modernen Gruppe insgesamt beinahe uniformer, da die Einzelnen deutlich kleiner zu sehen sind, die unterschiedlichen Farben von Shirts und Hosen dadurch nur noch wenig ins Gewicht fallen und somit eher der einheitliche Charakter von Shirt & Hose den Gesamteindruck bestimmt. Schließlich lassen die geringe Wirkung der Kleiderfarben und das geringe Farbspektrum des Raums das Bild im Heute kaum farbiger erscheinen als die Szene im Damals, die monochrom aufgenommen wurde.
Der Tonraum zum Filmbild Im Heute erklingt stark rhythmusbetonte Musik aus dem Off. Die Schülerinnen bewegen sich dazu exakt im Rhythmus der Musik. Im Gegensatz zum Damals ist hier keine Person zu sehen oder zu hören, die Regie führen würde. Ihr Gleichschritt wird aus einem nicht sichtbaren Raum (aus dem Off) gesteuert durch den Klang eines technischen (elektronischen) Geräts. Im Damals kommt die Musik ebenfalls aus dem Off, allerdings ist ihr Rhythmus nicht ganz so dominant und die Schülerinnen orientieren sich in ihren Bewegungen nur sehr locker daran. Sie erscheint im Gegenüber zur anderen Szene eher als eine Begleitmusik denn als ›Leit-Musik‹. Die Regie wird weniger durch das Gerät als vielmehr von einer Person geführt, die in die Lehrer-Rolle geschlüpft ist. Dabei mischen sich hier auch Stimmen der Akteure in die Musik: Einerseits der anfeuernde Kommando-Ton der Lehrkraft (Eins, und zwei – schneller!), andererseits das Gekicher der Schüler, das dem Befehlston die Schärfe und den Ernst nimmt.
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Zusammenfassende Interpretation Die Szenerie im Heute hebt sich vom Damals insbesondere durch eine Perfektionierung des Gleichschritts ab. Die höhere Perfektion steht dabei in einem engen Zusammenhang mit einer Entpersönlichung und Entindividualisierung: Die Regie wird von einer unpersönlichen Strukturierungsinstanz geführt und im Raum dominiert eine starke Strukturierung durch die z.T. gitterförmig wirkenden Linien. Der Einzelne ist zwar als einzelnes Individuum zu erkennen, verschwindet jedoch als (unverwechselbares) Subjekt hinter der Gesamtformation mit ihren uniformen Bewegungen, die wiederum vom dominanten Rahmen aus Flächen und Linien weitgehend verschluckt werden.
4.2.2 Der allgemeine Unterricht (GS 2) Die Filmbilder im Vergleich Die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden sehr disparaten Szenerien (Abb. 12 / 13) ist der Ort der Handlung, der sich auf der ikonogra¿schen Ebene (insbesondere durch das schultypische Mobiliar) als ein Klassenzimmer identi¿zieren lässt (in der Szene zum Heute allerdings nur mit etwas Mühe). Beide Szenen werden von denselben jüngeren Mitschülern gespielt, wobei im Heute ein wichtiger handlungstragender Akteur des Damals fehlt, der dort die Rolle des Lehrers verkörpert. Die Darsteller im Damals sind auf der ikonogra¿schen Ebene durch ihr rollenförmiges Verhalten als Schüler leicht zu identi¿zieren, im Heute ist diese Zuordnung dagegen nicht so eindeutig möglich (vgl. Abb. 12a– e). Im Damals ist ein klarer Handlungsverlauf zu erkennen, an dem alle Akteure beteiligt sind und der in gemeinsamen und gleichartigen Aktionen einer Gruppe im koordinierten Gegenüber zu den Aktionen eines Einzelnen besteht (vgl. Abb. 13a– e): Die ›Lehrerin‹ (eine der Akteurinnen aus dem Produzententeam) betritt den Raum und stellt sich vor die Klasse, die daraufhin aufsteht und sich wieder setzt. Auch im weiteren Verlauf ist die Gruppe in Richtung der Lehrkraft zentriert und die folgenden Aktionen und Re-Aktionen sind interaktiv aufeinander bezogen. Im Heute ist dagegen kein gemeinsamer Handlungsverlauf zu erkennen: Die Aktionen der einzelnen Jugendlichen sind weder aufeinander bezogen, noch weisen sie eine gemeinsame Ausrichtung auf. Ihre Beschäftigungen laufen unkoordiniert nebeneinander her und folgen auch keiner erkennbaren Handlungslogik oder Dramaturgie. Es entsteht der Eindruck einer schnappschussartigen Moment-
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Abb. 12a – e
aufnahme, die beliebig aus einem zeitlich unstrukturierten Zusammenhang herausgeschnitten wurde. Betrachtet man einzelne Fotogramme dieser Szenen, so fallen deutliche Unterschiede in der Gestaltung der BildÀächen ins Auge: Die Kamera-Einstellung in der Halbtotalen zeigt im Damals die Akteure in fast voller oder in vollständiger Größe in Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Dagegen herrschen im Heute Naheinstellungen vor, durch die die Akteure nie vollständig zu sehen sind, sondern lediglich in Fragmenten, die teilweise auch nur aus Segmenten bestehen: Häu¿g sind nur einzelne Körperteile der Akteure im Bild, die stellenweise auch noch angeschnitten sind. Diese füllen als Vordergrund streckenweise nahezu die ganze BildÀäche aus und lassen den Hintergrund dahinter verschwinden. Damit geht die Raumtiefe in dieser Szene weitgehend verloren. Demgegenüber ist der Raumeindruck im Damals sehr prägnant, sowohl in den einzelnen Bildern in ihrer Tiefenwirkung als auch in der Sequenz insgesamt durch den Schwenk der Kamera, durch den der Raum in seiner ganzen Größe sichtbar gemacht wird. Die großen hellen Fenster, die im Hintergrund zu sehen sind, lassen das Zimmer lichtdurchÀutet erscheinen. Die Helligkeit im Hintergrund erzeugt, zusammen mit den geraden Linien (Fensterlinien, Gardinen), den Eindruck eines offenen und gleichzeitig geordneten Rahmens. Darüber hinaus betonen die gleichförmigen OberÀächen der Tische, die aufgereiht im Raum stehen, seine perspektivische Tiefe. Die Anordnung der Schüler sowie deren sich ähnelnde Haltungen geben den Bildern zusätzlich eine in sich klare Struktur und ihre Formation in Zweiersitzgruppen, die vor und (meist) auch direkt hinter sich einen Tisch haben, lässt ihnen eine relativ geringe persönliche Zone. Im Heute wird dagegen keine systematische Anordnung der Schüler sichtbar. Sie werden dort nicht von Tischen begrenzt und trotzdem vermitteln die Bilder den Eindruck von Enge: Die Schüler erscheinen nah hinter bzw. übereinander (indem sie sich gegenseitig verdecken) und ihre persönliche Zone wirkt dadurch sogar eher kleiner als im Damals. Dieser Eindruck einer Dichte wird außerdem noch durch die oben beschriebene Fragmentierung und Segmen-
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tierung verstärkt: Die Schüler scheinen den Rahmen des Bildes zu sprengen und darüber hinauszuquellen – sie ›passen nicht mehr ins Bild‹ hinein. Oder anders ausgedrückt: So wie es der Kamera nicht gelingen kann, bei dieser Naheinstellung gleichzeitig die Personen als Ganze aufs Bild zu bekommen, so wirkt auch diese Szenerie wie eine Überforderung des Bildes, das in gewisser Weise ›aus den Nähten zu platzen› scheint. Diese ›Überforderung‹ des Bildes ¿ndet in der Kameraführung seine Entsprechung in einer ›Überforderung‹ des Betrachters: Anders als der organisch zur Filmhandlung verlaufende Kameraschwenk (als ein ›objektiver‹ Blick; vgl. Kap. 5.3.2, F 119) durch den Raum im Damals wird hier die Kamera in einem ZickZack-Kurs geführt, der unberechenbar wirkt, weil er keiner Handlungslogik auf Seiten der Akteure folgt und damit für den Betrachter unvorhersehbar bleibt. Der plötzliche schnelle Vorwärtszoom (3:49), mitten in die sonstigen Seitwärtsbewegungen, steigert dies noch und vermittelt dem Betrachter einen Eindruck wie ihn ein Beifahrer in einem Autoskooter haben könnte: Ohne dass er sich selber auf die Szenerie einstellen könnte, wird er vorwärts und seitwärts bewegt (sog. »autonome Kamera«; vgl. Kap. 5.3.2, F 119). Dabei betrachtet der Zuschauer die Jugendlichen aus der Perspektive einer Person, die ihre Blicke sehr unruhig schweifen lässt (»subjektive Kamera«; vgl. Kap. 3 und Kap. 5.3.2, F 119), und deren Versuch, all diese Jugendlichen gleichzeitig im Blick zu behalten, zum Scheitern verurteilt ist: So wie es der Kamera in dieser Naheinstellung nicht gelingen konnte, die Personen als Ganze aufs Bild zu bekommen, so gelingt es jetzt nicht, alle verschiedenen Tätigkeiten gleichzeitig einzufangen. Es entsteht ein unruhiges Springen von einem zum anderen, das die Gleichzeitigkeit all dieser Eindrücke (dieser unterschiedlichen Szenen-Fragmente) in ein hektisches Nacheinander auÀöst. Im Damals ruht der Blick (Kameraführung) dagegen fast durchgängig auf der Klasse als Ganzem: Nicht der Einzelne steht im Fokus – wie im Heute – sondern die Gruppe. Dies wird sowohl im Einzelbild (Kamera-Einstellung) als auch im Handlungsverlauf (s.o.) sichtbar. Die gemeinsamen und koordinierten Haltungen
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Abb. 13a – e
und Gesten unterstreichen dies noch. Das nach oben Strecken eines Arms ist eine Gebärde (vgl. Bohnsack 2009a: 145), die in diesem Rahmen auf der ikonogra¿schen Ebene als das Melden der Schüler zur Beteiligung am Unterricht identi¿ziert werden kann. Aber auch alle anderen Bewegungen der Schüler sind auf das gemeinsame Unterrichtsgeschehen hin zentriert. Im Heute zeigt sich anstelle dessen eine De-Zentrierung: Die Jugendlichen sind in ihren Tätigkeiten jeweils auf sich selbst oder ihr unmittelbares Umfeld zentriert. Ihre Haltungen sind weder einander ähnlich, noch sind sie auf eine gemeinsame Richtung hin orientiert. Dabei handelt es sich weitgehend um – auf der ikonogra¿schen Ebene – als unterrichtsfremd zu identi¿zierende Tätigkeiten (Telefonieren, SMS-Schreiben) oder Haltungen (Füße auf dem Tisch). Meist sind Einzelne, nur in Ausnahmen eine kleine Anzahl von Jugendlichen (ca. drei) im Bild – an keiner Stelle kommt die Gruppe als Ganzes in den Blick. In der Wahl ihrer Tätigkeiten erscheinen sie frei zu sein, was jedoch in einem Widerspruch zur oben beschriebenen Enge des Raums steht, die nur wenig tatsächlichen Freiraum ermöglicht und den Eindruck eines Eingepfercht-Seins entstehen lässt. Aufgrund der Beliebigkeit ihrer Tätigkeiten und Haltungen sind diese Jugendlichen hier auf der ikonogra¿schen Ebene nicht eindeutig als »Schüler« zu identi¿zieren – im Gegensatz zur Szenerie des Damals steigen sie in gewisser Weise sogar ganz aus der Schülerrolle aus: Sie verhalten sich weder rollenkonform, noch bestätigen sie diese Rolle durch Rollendistanz (durch die Inszenierung einer wie auch immer gearteten Form der Auseinandersetzung mit der Schülerrolle; vgl. Kap. 2.2), sondern sie ignorieren sie schlichtweg. Im Damals beginnt und endet die Szene mit dem Blick auf die Lehrerin. Im Heute dagegen ist keine Lehrperson im Bild sichtbar. Betrachtet man jedoch die Kameraführung (s.o.), so könnte sich hinter dem gehetzten Blick, der hier in Szene gesetzt wird, eine Lehrkraft verbergen, durch deren Augen der Zuschauer die Szenerie betrachtet (»subjektive Kamera«). Die (unsichtbare) Lehrkraft stünde dann wie ein einÀussloser Zuschauer außerhalb und jenseits des Geschehens,
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in deutlichem Kontrast zum Damals: Dort ist es die Lehrkraft, die die Handlungen der Schüler initiiert und strukturiert. In beiden Szenen besteht zwischen den Schülern untereinander eine symmetrische Beziehung und zwischen Schülern und Lehrkraft eine asymmetrische (falls man im Heute die subjektive Kameraführung als Präsenz einer Lehrkraft deutet). Während jedoch im Damals die Asymmetrie durch die Strukturierungs- und Disziplinierungsmacht der Lehrkraft und ihre Überlegenheit gekennzeichnet ist, stellt sich die Asymmetrie im Heute eher umgekehrt dar: Den Schülern selbst wird hier die Entscheidungsmacht über ihre Tätigkeiten zugeschrieben. Die Lehrkraft dagegen steht ohne EinÀuss und damit ›macht-los‹ außerhalb und sieht mit unruhigem Blick tatenlos den Jugendlichen zu. Wie im vorangegangenen Szenen-Paar wurde auch hier die Szene im Damals monochrom und die Gegen-Szene im Heute in Farbe aufgezeichnet. Dabei unterstreicht die Einheitlichkeit der Farbgebung die Konsistenz der koordinierten und konzertierten Aktionen im Damals. Demgegenüber verstärkt die Farbigkeit im Heute in ihrer Beliebigkeit (im Fehlen von Struktur, Muster oder System) eher die Zusammenhanglosigkeit der ganzen Szenerie.
Der Tonraum zum Filmbild Beide Szenen beginnen mit rhythmischer Musik aus dem Off. Während diese Musik jedoch im Heute während der ganzen Szene läuft, begleitet sie im Damals nur das schwungvolle Hereinkommen der Lehrerin und gibt dem Unterrichtsbeginn eine dynamische Note. Gleichzeitig unterstreicht sie die Verortung der Szene in einer (für die Produzentinnen) weit zurück liegenden Zeit (Bryan Adams: »Summer of 69«). Sie wird während der Begrüßung der Schüler ausgeblendet. Im Heute übertönt die Musik den Geräuschpegel einer lärmenden Gruppe. Der Text des gewählten Titels45 thematisiert die Selbstbezogenheit eines 45 »Mr. Boombastic« von Shaggy: She calls me Mr. Boombastic say me fantastic …
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»Mr. Boombastic« und akzentuiert damit einen Aspekt, der bereits im Filmbild zum Ausdruck kam. Die Klangkulisse aus Lärm und Musik stellt einen Bezug zur Peer-Sphäre der Jugendlichen her, die ebenfalls bereits im Bild sichtbar wurde (Handy, Sitzhaltung etc.). Ihr Gleichbleiben unterstreicht die Abwesenheit einer Handlungsentwicklung in dieser Szene (s.o.). Demgegenüber akzentuiert der Tonraum im Damals den dort sichtbar werdenden Handlungsverlauf und die aufeinander bezogenen Aktionen von Lehrer und Schülern. Das chorische Sprechen der Schüler betont deren Zusammengehörigkeit und das Begrüßungsritual formt die Kommunikation zwischen Lehrer und Schülergruppe, lässt sie als eine rollenförmige erkennen und bringt in den Formulierungen (’n Morgen Klasse! – ’n Morgen Frau Lehrerin!) gegenseitige Wahrnehmung und Respekt zum Ausdruck, bei gleichzeitiger Asymmetrie. Auch die weitere Kommunikation ist durch den Rahmen des Unterrichts geformt: Es handelt sich hier offensichtlich um eine Lehrerfrage (leider unverständlich), auf die hin sich die Schüler melden. Eine Schülerin wird mit der höÀichen Formulierung »Ja, bitte!« zum Reden aufgefordert. Ihre (leider auch wieder unverständliche Antwort) wird mit dem Kurzsatz Falsch! kommentiert. Dieser formellen Kommunikation im Damals steht im Heute eine Kommunikationslosigkeit gegenüber, die schon im Bild sichtbar wurde, und sich nun auf der akustischen Ebene fortsetzt. Das diffuse Geräuschgemisch, das von der lauten Musik übertönt wird, lässt weder zwischen den (anwesenden) Jugendlichen untereinander noch im Gegenüber zu einer Lehrperson eine sinnhaltige Kommunikation erkennen. Der rüden disziplinierenden Geste am Ende der Szene im Damals (am Zopf ziehen und in die Ecke stellen) wird durch das Gekicher im Hintergrund der Ernst genommen. Auch das laute Heulen der Schülerin in der Ecke, das wiederum von Gekicher untermalt wird, kennzeichnet das Geschehen als humoristische Übertreibung. Aber auch die Szene der Gegenwart wird dieses Mal satirisch überzogen, was schließlich explizit klargestellt wird durch die Moderatorin, die diese beiden Szenen verbindet: ... naja, man kann’s auch übertreiben (S 9.6).
Zusammenfassende Interpretation Im Gegensatz zum vorangegangenen Szenen-Paar (Sportunterricht) sticht hier das Heute vom Damals durch das Herstellen einer übermäßigen Nähe zu den ins Bild gesetzten Personen ab. Dabei wird auch hier durch den Vergleich mit der dazugehörigen Gegenszene die Tendenz zu einer Entpersönlichung sicht-
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bar – allerdings in einer zum vorangegangenen Szenen-Paar entgegengesetzten Weise: Während die Personen im Damals ein weiteres Mal als vollständige Menschen ins Bild gesetzt werden, sind die das Bild sprengenden Jugendlichen im Heute nur als fragmentierte Personen zu sehen. Sie erscheinen dort nicht mehr in der Schülerrolle, sondern der Blick richtet sich auf sie als Jugendliche in ihrer Peer-Sphäre. Dabei werden sie in einem Omnipräsenz simulierenden, sehr nahen Blick ins Visier genommen – ein Blick, der nicht mehr die Distanz der formalisierten Rollen wahrt, sondern durch die Schüler-Rolle hindurch auf die persönliche Zone der Jugendlichen gerichtet ist. Diese erwidern den Blick nicht, sondern entziehen sich dem (unsichtbaren) Gegenüber durch ein völliges Eintauchen in die Peer-Sphäre und durch die Orientierung auf sich selbst in quasi-narzisstischer Selbstbezogenheit. Somit erscheint die Selbstbezogenheit in gewisser Weise als Komplement zur überzogenen Aufmerksamkeit und insofern als eine Form von Distanzierung, die das Übergewicht an Nähe wieder ins Lot bringt. Der Verzicht auf die formalisierte (Unterrichts-) Interaktion lässt die Situation im Heute völlig auseinander fallen und führt durch die Abwesenheit jeglicher Strukturierung zu einem Struktur-Vakuum, das durch keinen ernstgemeinten Gegenentwurf gefüllt wird. In der Darstellung des Damals richtet sich der Fokus nicht auf einzelne Schüler, sondern auf die Gruppe. Die Spielräume des Einzelnen sind dabei begrenzt durch die Struktur der Situation. Dabei wird allerdings das Damals, im Gegensatz zum Heute, als eine in sich stimmige und konsistente Situation dargestellt. Der Versuch, im Heute demgegenüber den Einzelnen ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, ›sprengt den Rahmen‹. Die AuÀösung der alten Disziplinarordnung und der traditionellen Rollenstrukturen (Lehrerrolle – Schülerrolle; hierarchische Asymmetrie) ermöglicht nur vordergründig mehr Entscheidungsmacht auf Seiten der Jugendlichen. Sie bleiben auf einen (fenster- und türlosen) Raum festgelegt, der als viel zu eng erscheint. Der Einzelne bleibt dabei in einer Vereinzelung – er wird nicht mehr als Teil einer Gruppe gezeigt. Anstelle eines konzertierten Miteinanders wird hauptsächlich ein Nebeneinander (bzw. in 3:59 ein Gegeneinander) sichtbar, durch das die Zeit (aufgrund der fehlenden Handlungsdynamik bzw. Dramaturgie) quasi wie in einem Wartezimmer überbrückt zu werden scheint. Im Gegensatz zum Damals wird hier kein Rahmen mehr hergestellt, in dem sich Kooperation, Kommunikation oder zielgerichtetes Handeln entfalten würden. Die Gegenwarts-Szene in diesem Paar ist die einzige, die dem Damals einen ebenfalls satirisch überzogenen Gegenwartsentwurf gegenüberstellt, und
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Abb. 14
somit bleibt das Damals ohne ernstgemeinte Alternative. Bei aller Einschränkung der Freiheit des Einzelnen im Damals war in jenem Rahmen Unterricht möglich. Die im Heute dargestellte Situation bietet weder den Rahmen für ein konstruktives Unterrichtsgeschehen, noch ermöglicht sie eine tatsächliche Entfaltung des Einzelnen. Den Vergleichsrahmen dieses Szenen-Paars bildet im Grunde das Thema Disziplin: Im Damals wird sie als strukturierendes, aber den Einzelnen einengendes Element dargestellt, im Heute dagegen wird hauptsächlich ihre Abwesenheit in Szene gesetzt, die jedoch auch automatisch mit der Abwesenheit eines Unterrichtsgeschehens einhergeht. Auffällig ist dabei, dass in diesem Film für den Unterricht im Allgemeinen auch im weiteren Verlauf kein anderer (positiver) Vergleichshorizont zur Sprache bzw. ins Bild kommt. Die Unternehmenswoche beispielsweise, die die Moderatorin im Schlusswort anspricht, wird nicht als Alternative zum traditionellen Unterricht wahrgenommen (vgl. Kap 4.4.5). Bemerkenswert ist nun, dass gleich anschließend an diese Szene die Disziplin-Thematik dieses Paars explizit weitergeführt wird (S 10.1: Weil wir grad bei dem Thema Schulstunde sind ...). Dabei verlassen die Schülerinnen den Rahmen der Schule und gehen ins Freie (das in einen deutlichen Kontrast zur Schule gestellt wird: vgl. Kap. 4.2.6). Dort befragen sie Erwachsene nach ihrer Schulzeit und engen ihre zunächst allgemein gestellte Frage (Wie war denn bei Ihnen früher die Schulzeit?) gleich auf das Thema Disziplin ein (Waren die Lehrer streng?). In diesen Interviews treten sie als spontan agierende, sich ihrer selbst bewusste Jugendliche in Erscheinung und legen keinerlei Anklänge an einen Schülerhabitus (bzw. an eine Auseinandersetzung mit der Schülerrolle) an den Tag. In gewisser Weise wird hier implizit der positive Gegenentwurf nachgereicht: Hier ¿ndet jenseits der schulischen Disziplinierung zielgerich-
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Abb. 15a – b
tetes, kooperatives Handeln statt, in dem der Einzelne ganzheitlich, ohne jene übersteigerte Aufmerksamkeit, die ihn isoliert und fragmentiert, zur Geltung kommt (vgl. dazu auch Kap. 4.2.6).
4.2.3 Computerraum und traditionelles Schreiben (GS 3) Das Filmbild In beiden Szenen wird die Tätigkeit des Schreibens thematisiert (ikonogra¿sche Ebene), die sich jedoch auf sehr unterschiedliche Weise vollzieht: Während im Heute dazu raumgreifende Apparaturen (Computer) zum Einsatz kommen, genügt im Damals ein Zettel und ein Stift. Auch ansonsten ist das Gegenüber beider Szenen von großen Kontrasten geprägt: Im Heute dominieren überdimensioniert wirkende weiße (farb- und gesichtslose) Kästen (und ein Kabelgewirr) den Vordergrund des Bildes (vgl. Abb. 14 ). Sie verstellen die Sicht auf zwei Schülerinnen im Mittelgrund, von denen man zunächst nur Teile ihrer Köpfe (und kleine Ausschnitte ihres Körpers) sieht, die aber hinter den großen weißen Flächen weitgehend im Dunkeln bleiben (Schatten fallen auf ihre Gesichter). Im Hintergrund des Bildes sind ähnliche weiße Kästen wie im Vordergrund zu erkennen, sodass die Schülerinnen von diesen umbaut erscheinen. Ihr Verschwinden hinter diesen Apparaten hat einen ambivalenten Charakter in der Art einer Übergegensätzlichkeit: Einerseits sind sie von diesen Kästen versperrt, andererseits bieten diese aber auch zugleich eine Art Sichtschutz, hinter den sich die Jugendlichen zurückziehen und dort unbeobachtet agieren können. So grenzen die Kästen gleichzeitig ein, aber auch ab. Den Vordergrund im Damals bildet die helle OberÀäche eines Tischs
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Abb. 16
(Abb. 16). Hier sitzt ein Schüler (im Mittelgrund), den man ab dem Oberkörper aufwärts unverstellt sieht. Den Hintergrund bildet eine gemalte Kulisse mit großer perspektivischer Tiefenwirkung. Der Schüler selbst sitzt mittig im Bild (er wird später durch den Ranzoom noch fokussiert; vgl. Abb. 17a– c) und die gesamte Komposition stellt ihn ebenfalls vollständig ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Zwischen dem einen realen Gegenstand im Bild (dem Tisch) und der gemalten Illusion einer Kulisse hebt er sich als einziges bewegtes und belebtes Motiv in seiner leibhaftigen Präsenz deutlich ab. Zu seiner ›Verlebendigung‹ trägt auch die Farbgestaltung bei: Der Monochrom-Modus (reduzierter Farbmodus), der bisher bereits für die vorangegangenen Szenen der Vergangenheit (GS 1und 2) gewählt wurde, ist hier so eingestellt, dass die Haut des Protagonisten als Einziges in diesem Bild farbig erscheint. Außer dem Tisch, auf den er sich aufstützt, ist nichts im Bild, was seine Sicht oder seine Bewegungsfreiheit einschränken würde. Umgekehrt ist aber auch der Blick auf ihn hin uneingeschränkt möglich. So ist er weder verstellt, noch kann er sich verstecken, wobei auch keinerlei Anzeichen erkennbar sind, die darauf hindeuten würden, dass es sich hier um eine unangenehme oder unfreiwillige Präsentation handeln würde. Mimik und Gestik vermitteln den Eindruck ungestörter Konzentration. Während im Damals also eine Person uneingeschränkt in den Mittelpunkt gerückt wird, stehen im Heute große weiße Geräte im Vordergrund. Im Fotogramm des Szenenanfangs zum Damals (Abb. 16) ¿nden sich zwei Zentralperspektiven: Der Fluchtpunkt von Vorder- und Mittelgrund des Bildes liegt in der linken Bildseite, in etwa auf der Mittellinie, während die Kulisse dagegen einen eigenen Fluchtpunkt besitzt, der in der rechten Bildseite, etwas oberhalb der Mittellinie zu verorten wäre. Das Bild bekommt dadurch eine deutlich größere Weite, als wenn Tisch und Schüler (bzw. die Kamera) so positioniert worden
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Abb. 17a – c
wären, dass beide Fluchtpunkte nahe beieinander liegen oder zusammenfallen würden. Das Fotogramm aus dem Heute (Abb. 14) besitzt dagegen an sich eine Schrägperspektive, deren optische Wirkung allerdings durch die dominante Linienführung der Kästen im Vordergrund des Bildes überlagert wird. Die nach vorne kleiner werdende Form des Monitors erzeugt eine Art zentralperspektivischen Eindruck, dessen ›Fluchtpunkt‹ vor dem Bild und damit auch vor den Schülerinnen liegen würde. Dadurch wird der Eindruck des Verstellt- und Eingebaut-Seins noch verstärkt (eine ähnliche perspektivische Wirkung ist auf der Schülerzeichnung Abb. 72 in Kap. 6.4 zu sehen). Abgesehen von den Köpfen der Schülerinnen dominieren im Heute (bis auf die Krümmung der Monitore) gerade Linien und rechtwinklige Formen und geben dem Bild eine gewisse Strenge und Starre. Im Damals dagegen ¿nden sich in der Kulisse der Szene zahlreiche runde Formen. Insbesondere die Krümmung in der Raumperspektivik gibt dem Bild insgesamt einen weicheren, Àießenderen Charakter. Mimik und Gestik des Schreibenden im Damals (Abb. 16–17: verschiedene Posen; unterschiedliche Blickrichtungen; wechselnde Mimik) bringen eine innere geistige bzw. gedankliche Bewegung zum Ausdruck. Diese ¿ndet ihre Entsprechung in der Kulisse, die selbst die Illusion – also ein Gedankenspiel – eines Raumes vermittelt, der so nicht real präsent ist, sondern in die reale Umgebung (hier: der Schule) fantasievoll hereingeholt wird. Zu dem materiellen Raum wird hier also zusätzlich eine Art geistiger Raum geschaffen. Der gemalte Ort auf der Kulisse erinnert an ein Café in erlesenem Stil (Tischgruppen, Schankbereich, Kronleuchter, Kassettendecke, Gemälde ...) und weckt in Kombination mit dem Schreibenden Assoziationen zu den zahlreichen Literaten und Künstlern, die als Ort ihres Schaffens, ihres Austausches und ihrer kreativen Inspiration ein derartiges Ambiente wählten. Mimik und Gestik der Schreibenden im Heute sind dagegen zunächst kaum erkennbar, da diese von den weißen Kästen der Computer verstellt sind. Erst mit dem Kameraschwenk, der für einen kurzen Moment den Blick auf Oberkörper
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und Hände der Schülerinnen von der Seite her freigibt (Abb. 15a–b), erkennt man, dass sie fast völlig regungslos bleiben. Lediglich ihre Finger bewegen sich isoliert vom Rest des Körpers. Ihr Blick ist starr nach schräg unten gerichtet und bleibt auf eine Stelle ¿xiert. Die Szene zum Heute wurde (wie alle Szenen der Gegenwart) im Farbmodus ge¿lmt. Dabei bleibt das Farbspektrum recht eingeschränkt: Lediglich der rote Pulli, ein orangefarbiger Informationszettel und die Farbe der Haut der Schülerinnen fallen aus der schwarz-weiß-grauen Szenerie heraus.
Der Tonraum zum Filmbild In der Szene zum Damals herrscht durchgängig Stille. Nichts lenkt vom Blick auf den Schüler und die ihn hintermalende Kulisse ab. Im Heute spricht dagegen eine Moderatorin im ersten Teil der Szene, in dem die Schülerinnen fast vollständig verdeckt sind, aus dem Off: Auch zum Beispiel Email schreiben ist bei uns sehr gefragt. Ihr Text verweist auf die Tätigkeit des Schreibens mit dem Computer und legt damit nahe, dass diese gerade ausgeführt wird, auch wenn zunächst kaum etwas hinter den Kästen zu erkennen ist. Wie zur Bestätigung gibt danach der Kameraschwenk (Abb. 15a–b) kurzzeitig den Blick auf die Hände der Schülerinnen frei und wird gleichzeitig von mechanischen Tippgeräuschen untermalt.
Die Moderations-Szenen im Vergleich Bei diesem Szenen-Paar lohnt ein Blick auf die beiden zugehörigen ModerationsSzenen, schon allein deshalb, weil sich hier im Heute die einzige ModerationsSzene ¿ndet, die nicht nur ein wenig in die Spiel-Szene hineinragt (wie z. B bei GS 1), sondern sie auch durchgängig (aus dem Off) kommentiert und sie dadurch in ihrem Charakter von den übrigen Spiel-Szenen etwas absetzt. Während das Fotogramm der Szene zum Damals (Abb. 18b) eine große Raumtiefe besitzt (Zentralperspektive), wirkt das Fotogramm zum Heute (Abb. 18a) sehr Àach (Schrägperspektive). Hinzu kommt ein sehr unterschiedlicher Raumcharakter, der durch die Gegenstände auf den beiden Fotogrammen hergestellt wird: Der tiefe Raum bekommt durch den Marmor-Kopf Philipp Melanchthons (rechts oben im Bild), der durch die Beleuchtung noch hervorgehoben wird, sowie durch das bogenförmige große Fenster im Hintergrund den Anstrich eines altehrwürdigen gediegenen Ambientes. Der an sich schon Àache Raum im Heute wirkt dagegen noch profaner durch die große Pappschachtel, die im Hinter-
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Abb. 18a – b
grund auf dem Schrank liegt und durch die zierlosen, rein zweckförmig gestalteten Gegenstände (weißer Schrank, dunkle Tafel, weiße ProjektionsÀäche), deren Anordnung eher den Eindruck von Unordnung erweckt und deren zusammenhanglose Positionierung das Bild weitgehend auseinanderfallen lässt. Die beiden Raumund Bild-Charaktere ¿nden jeweils einen stimmigen Anschluss in den dazugehörigen Spiel-Szenen: Im Heute setzt sich der nüchterne, rechtwinklige Stil und die in sich wenig konsistente Bildgestaltung fort und im Damals jenes gediegene und ausgeschmückte Ambiente und die in sich geordnet wirkende Komposition. Während die Moderations-Szene zum Damals in Normalsicht aufgenommen ist, fällt bei der Szene zum Heute die Untersicht auf, aus der sie gedreht wurde. Dadurch entsteht der Eindruck, die Moderatorin würde von einer erhöhten Position aus auf die folgende, von ihr aus dem Off kommentierte Szene, herabschauen. Dies ist die einzige Moderations-Szene im Film mit einer derartigen Perspektive. Hinzu kommt die bereits oben erwähnte Besonderheit, dass sich hier die Moderation auch noch durch die ganze Spiel-Szene zieht. Die mimetische Narration, durch die sich die ›Theater‹-Szenen in diesem Film auszeichnen (vgl. Kap. 4.1), wird hier durch eine diegetische Narrationsweise überlagert. Die gezeigten Darsteller werden dadurch dem Betrachter wie in einem Schaukasten präsentiert. Anders als in der Szene zum Damals, in der Moderation und Szene klar getrennt sind und ¿lmisch in voneinander getrennten Räumen verortet werden (die Moderatorin bleibt jenseits des Raums), ist hier die Distanz aufgehoben: Die Moderatorin wird, obwohl sie nicht gemeinsam im Bild erscheinen, im selben Raum verortet wie die dargestellten Schüler, die von ihr vorgeführt werden. Sie ist es, die den Überblick über diese Szene zu haben scheint. Die erhöhte Position kann es ihr ermöglichen einerseits die Übersicht zu bewahren und andererseits die Situation zu überwachen. Hier spiegelt sich das Komplement zur Eigenart der weißen Käs-
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ten als ›Sichtschutz‹ wider. Der Charakter eines überwachten und kontrollierten Arbeitens kommt damit ins Spiel. Demgegenüber bleibt der Protagonist im Damals ganz für sich. Die Stille, in der er arbeitet, wird nicht durchbrochen und die Kamera bleibt objektiv distanziert auf ihn gerichtet. Im Gegensatz dazu erscheint der Kameraschwenk im Heute, durch den der Betrachter sozusagen durch den Raum geführt wird und einen Blick hinter den ›Sichtschutz‹ auf die am Computer Schreibenden werfen kann (Abb. 15a–b), als eine Fortsetzung des erhöhten Blicks, der nun den arbeitenden Schülerinnen ›über die Schulter schaut›. Der Raum, in dem die Szene im Heute spielt, kommt zu Beginn der Moderations-Szene durch einen kurzen Hin- und Rückschwenk ins Bild (Abb. 19). Durch das Gegenlicht erscheint er sehr dunkel und nur mit Mühe ist im Mittelgrund eine gleichförmige Reihe von Computern erkennbar. Den größten Teil des Bildes nehmen große helle Fenster ein, die den Blick ins Freie eher versperren als freigeben, indem die Außenwelt durch Unschärfe und Spiegelung nur schemenhaft zu erkennen ist. Bereits hier wird also durch den Raumeindruck der Charakter einer Begrenzung hergestellt, der sich danach in der Spiel-Szene in abgewandelter Form fortsetzt. Moderations-Text zum Heute: Jetzt sind wir wieder in der Schule, und zwar im Computerraum. Äh, mittlerweile hat ja jetzt – hat ja eigentlich jede Schule einen Computerraum. Es ist ziemlich praktisch, weil man da natürlich auch die Arbeit im Internet gut nutzen kann, in irgendwelchen Fächern wie Geschichte oder Erdkunde oder so, um sich die Sachen rauszusuchen. Und – ja, und – sehr praktisch, wie gesagt. Während die Moderatorin erklärt, dass der Raum, in dem sie sich be¿ndet, der Computerraum ist, schwenkt die Kamera kurz durch diesen Raum (Abb 19). Nachdem sie festgestellt hat, dass ein Computerraum heutzutage zum Status Quo zählt und deshalb nichts Besonderes mehr ist (hat ... jede Schule), erläutert sie, wie »praktisch« so ein Raum ist. Allerdings gehen ihr dabei am Ende förmlich die Argumente aus (Und – ja, und – sehr praktisch, wie gesagt.) und sie wiederholt die bereits genannte Begründung (praktisch) noch einmal. Moderations-Text zum Damals: Emails sind ja ganz praktisch, aber früher hat man die romantische Weise vorgezogen. Die Moderatorin knüpft an die wiederholte Begründung (praktisch) aus der Moderations-Szene zum Heute an und stellt dieser eine andere Rationalität ge-
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Abb. 19
genüber, die sie als romantische Weise bezeichnet. In diesem Vergleichshorizont bekommt das Wort praktisch die Bedeutung von »zweckrational«. So wird der Àache, in sich unverbundene Bild- und Raumeindruck mit einer Zweckrationalität in Verbindung gebracht, wohingegen die davon abgesetzte romantische Weise von dem altehrwürdigen, gediegenen Raum untermalt wird, in dem die Tradition (in Form der Melanchthon-Büste) eine besondere Bedeutung erhält und als eine Art Garant für diese andere Form der Rationalität erscheint. Im Bild wird dabei deutlich, dass hier auf eine schuleigene Tradition (Melanchthon) Bezug genommen wird, die eben nicht jede Schule aufzuweisen hat (wie z.B. Computerräume) und auf die die Produzentinnen – wie man an anderer Stelle erfährt – sehr stolz sind (vgl. S 5: Das Melanchthon-Gymnasium wurde, äh, 1526 gegründet ... Und wir sind das älteste Gymnasium Europas und darauf sind wir sehr stolz!).
Zusammenfassende Interpretation Durch den Vergleichshorizont, der durch das Szenen-Paar entsteht, wird ein Umbautsein der Schülerinnen im Heute augenfällig. Während im Damals der Protagonist unprätentiös und offen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird und bezüglich seiner räumlichen und auch seiner gedanklichen Entfaltung keine Barrieren sichtbar werden, sticht in der Szene zum Heute der verstellte Blick auf die Schülerinnen ins Auge. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass durch die Komposition der Szene und der ganzen Sequenz, in die sie eingebettet ist (S 11.1–11.4), diesbezüglich eine Übergegensätzlichkeit erzeugt wird: Einerseits entsteht der Eindruck, dass die Individuen hier nicht genügend wahrgenommen werden können, da sie hinter den raumgreifenden Geräten zurücktreten, Andererseits wirken die Apparate aber auch, insbesondere im Kontext des ›Vorführ›-Charakters dieser
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Szene, wie der Schutz vor einem beobachtenden Blick. Das Verstelltwerden kann also – je nach Perspektive – als Vor- oder als Nachteil betrachtet werden (vgl. dazu die Überlegungen zum Relevanzsystem der Schüler in Kap. 4.2.5).
4.2.4 Der Musikunterricht (GS 4) Das Filmbild Die Filmbilder beider Szenen sind aus einem unbewegten Motiv komponiert. Es besteht im Heute aus der beschrifteten OberÀäche eines Papierblatts und ist damit an sich lediglich zweidimensional (Abb. 20). Nachdem die Kamera während der ganzen Szene bewegungslos darauf verharrt, bleibt neben dem fotogra¿erten auch der montierte Raum (editing space; vgl. Kap. 3) lediglich zweidimensional. Das Motiv des Damals ist dagegen bereits an sich schon dreidimensional (Abb. 21): Es besteht aus einer Stuckdecke (also einem dreidimensionalen Reliefmuster), die aus der Froschperspektive aufgenommen wurde. Und während die Kamera im Heute völlig statisch bleibt, ist das Motiv des Damals mit stark bewegter, kreisförmig geführter Kamera aufgenommen. Dadurch entsteht im Bild eine kreisende Bewegung im Uhrzeigersinn, die zunächst langsam beginnt, sich dann beschleunigt und schließlich wieder etwas verlangsamt wird (bevor die Kamera von der Decke aus an der Wand entlang nach unten schwenkt). Der Zuschauer bekommt so die Perspektive einer Person vor Augen geführt, die in diesem Raum steht, nach oben schaut und sich dabei, beinahe schwindelerregend, wie ein Kreisel um die eigene Achse dreht (entfesselte, autonome Kamera in subjektiver Einstellung; vgl. Kap. 5.3.2, F 119). Aus dem an sich statischen Motiv der Stuckdecke entsteht so eine bewegte Szenerie mit kaleidoskopartig wechselnden Strukturen. Dem Fehlen jeglichen Raumeindrucks im Heute (ein ›Nicht-Raum‹) steht damit ein lebhaftes Spiel mit der Räumlichkeit gegenüber. Und so wird außerdem das Erleben von Bewegung und Dynamik im Damals zum Kontrast eines völligen Stillstands im Heute: Für den ungewöhnlich langen Zeitraum von 24 sec bleibt das Informationsschild mit der Aufschrift »Fettes Brot« völlig bewegungslos und statisch im Bild. Nicht nur im Gegenüber zu der Dauer von 9 sec des bewegten Bildes ist dies sehr lang, sondern ganz grundsätzlich für die Standdauer eines unbewegten Bildes in einem Film – noch dazu, wenn es sich um ein Bild handelt, das so wenig an szenischem oder bildhaftem Inhalt zu bieten hat wie dieses. So entsteht der Eindruck, als würde das Filmbild stehen oder ›hängen‹ bleiben und erinnert so an jene Standbilder, die bei einer Bildstörung im Fernsehen einge-
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Abb. 20
blendet werden, während der Ton noch weiterläuft. Im Gegensatz zu dem Schild aus Papier, das aus den einfachsten Mitteln des schulischen Repertoires hergestellt ist (ein liniertes gelochtes Papier mit einer Aufschrift aus Filzstift) und dadurch sehr improvisiert und schlicht wirkt, erinnern die aufwendigen Muster der Stuckdecke an ein fürstliches Ambiente. Und während das Filmbild zum Damals zunächst wie ein Vexierbild erscheint, das sich nicht unbedingt sofort erschließt, aber unter Rückgriff auf das kommunikative Wissen im weiteren Verlauf schnell verständlich wird, ist für das Entschlüsseln des Filmbildes im Heute ein Minimum an (konjunktivem) Wissen über die jugendspezi¿sche Musikkultur nötig (»Fettes Brot« als Name einer Band).
Der Tonraum zum Filmbild Beide Szenen werden ausschließlich von Musik untermalt. Im Damals setzt die Musik zeitgleich mit der Szene ein, im Heute dagegen erscheint das Szenenbild zunächst stumm – der Ton setzt erst etwas zeitverzögert ein. Im Damals erklingt ein Streichorchester in einem schnellen 6/8-Takt. Seine polyphone Stimmführung lässt das Stück ¿ligran erscheinen und seine Rhythmik gibt ihm einen tänzerischen Charakter. Die Beschleunigung in den Melodielinien wird im Bild durch die Kameraführung (s.o.) nachvollzogen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Kamera (bzw. jemand, dessen Blick die subjektive Kameraführung repräsentiert) zu dem erklingenden Musikstück tanzt. Die polyphonen Melodielinien ¿nden ihre Entsprechung im Bild in den sich ineinander schlingenden und in Bewegung versetzten Girlanden der Stuckdecke. Im Heute erklingen z.T. elektronisch erzeugte Klänge von verstärkten Instrumenten mit Gesang. Es handelt sich um einen relativ langsamen 4/4-Takt, in dem
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sich ein gleich bleibendes Rhythmuspattern durch das Stück zieht, das durch die konventionelle Betonung der Beats (On-Beat: Bass-drum; Off-Beat: Snare-drum) in sich relativ statisch wirkt. Die homophone Struktur und die einfache Harmonik (nur die Grundharmonien der Tonart kommen zum Einsatz) geben diesem Titel einen schlichten Charakter, der in der Stilistik des Schildes seine Entsprechung ¿ndet. Der Sinnzusammenhang zwischen Filmbild und Musik erschließt sich allerdings nur dem eingeweihten Hörer sofort: Hier läuft der Titel »The Großer« von der Gruppe »Fettes Brot«.
Die Moderations-Szene Aus der kreisförmigen Bewegung der Szene zum Damals wird die Kamera schließlich von der Decke an einer Wand entlang nach unten geführt und ruht sodann auf der Moderatorin, die hinter einem kunstvoll gedrechselten Notenständer steht und nun zu sprechen beginnt: Der Musikunterricht war früher eher klassisch. Die Schüler haben gesungen und Instrumente gespielt. Man hat (.....) eher klassische Musikstile (oder -stücke?) behandelt und heute schaut das Ganze natürlich anders aus, aber man behandelt die Musikstile zum Beispiel Punk oder HipHop.46 Vom Musikunterricht damals wird zunächst das Praktizieren von Musik (singen und Instrumente spielen) genannt und danach dessen rezeptiv-reÀexiver Aspekt (Behandeln von Musikstilen). Vom Musikunterricht heute wird dagegen nur der rezeptiv-reÀexive Aspekt thematisiert, dabei aber betont, dass dieser Unterricht ganz anders aussieht als der damals. Dieses Andere zeigt sich allerdings, nach den weiteren Ausführungen der Moderatorin, lediglich in der Behandlung anderer Musikstile.47
Zusammenfassende Interpretation Um den Musikunterricht ins Bild zu setzen, wurde für beide Szenen eine ähnliche Vorgehensweise gewählt: Der Inhalt, um den es in diesem Unterricht im Wesentlichen geht, nämlich Musik, wurde auf unterschiedliche Weise visualisiert. Dabei 46 Aufgrund der starken Raumakustik, die auf einen großen Saal schließen lässt, ist der gesprochene Text nur sehr schwer zu verstehen. 47 Entsprechend der dokumentarischen Methode (»Einklammerung des Geltungscharakters«; vgl. Bohnsack, 2003a, S. 64) wird der Text der Moderatorin nicht als Auskunft darüber, wie sich der heutige Musikunterricht tatsächlich gestaltet, gelesen. Hier spielt lediglich die Tatsache eine Rolle, dass das praktische Musizieren im Heute keine Erwähnung ¿ndet.
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Abb. 21a – d
wurde für die Szene zum Damals Musik aus der Vergangenheit gewählt, für die zum Heute Musik aus der Gegenwart, und zwar eine, die der heutigen Jugendmusikkultur zuzurechnen ist. Auf diese Weise wird der von der Moderatorin benannte Unterschied zwischen dem Musikunterricht damals und heute auch akustisch vorgeführt. Die Art der Visualisierung in der Szene zum Damals erinnert entfernt an die Muster, die beim Abspielen von Musik mittels des Media-Players eines PCs hergestellt werden. Demgegenüber erscheint in der Szene zum Heute lediglich eine Angabe zum Musiktitel (hier: nur der Name der Band), was in etwa der Funktionsweise eines einfachen MP3-Players entspricht: Dessen rein auditive Abspielfunktion verfügt nur über eine sehr eingeschränkte Möglichkeit der Visualisierung, die zu den einzelnen Musiktiteln entsprechende Informationstexte anzeigt. Vergleicht man diese beiden Formen der Visualisierung miteinander, so fällt auf, dass die Szene im Damals alle das Medium Film konstituierenden Dimensionen mit einbezieht: Bildgestaltung, Bewegung und Ton. Demgegenüber wird das Medium Film in der Szene im Heute im Wesentlichen auf die Dimension des Tons beschränkt und sozusagen auf ein Abspielgerät für Musik
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reduziert. Gerade auf diejenige Dimension, in der sich das Proprium des Films gegenüber anderen Medien zeigt – auf die ›bewegten‹ Bilder – wird hier ganz verzichtet. Als Platzhalter für jene Dimension, die hier nicht zugänglich gemacht wird, steht lediglich ein Schild – vielleicht vergleichbar mit dem Schild an einer Baustelle, das lediglich als Informationstafel auf die (noch) nicht sichtbare oder durch einen Bauzaun verhüllte Realität hinweist. Durch die Visualisierung mit Hilfe der Stuckdecke und die anschließende Kameraführung in den als Musiksaal erkennbar gemachten Raum hinein (Notenpult) wird die Szene zum Damals innerhalb der Schule verortet. Demgegenüber ist eine Verortung der Szene zum Heute nicht möglich: Das im Filmbild gezeigte Schild ist völlig isoliert und ohne jeglichen Bezug zu einem identi¿zierbaren Raum durch Montage in den Film eingefügt. Der ›Nicht-Ort‹ korrespondiert dabei mit dem oben beschriebenen ›Nicht-Raum‹. So wird die Musikkultur der Jugendlichen durch die besondere Art ihrer Thematisierung aus dem Bereich der Schule, aber in gewisser Weise auch aus dem hier verwendeten Medium Film ausgelagert. Sie wird als Bereich dargestellt, der weder der Schule noch diesem Film immanent ist, sondern einer davon jenseitigen Sphäre angehört. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das hier verwendete Schild mit der Aufschrift »Fettes Brot« denselben Stil aufweist wie das Schild »Outtakes«, das seinerseits den Übergang zu einer der Schule und diesem Film ebenfalls jenseitigen Sphäre markiert (vgl. Kap. 4.4.3). Dabei sind diese beiden, in einem ›SchulStil‹ gestalteten Schilder in diesem Film die einzigen ihrer Art. Das Blatt, das aus dem schulischen Arbeitsmaterial der Produzentinnen (Ordner oder Block) herausgetrennt wurde, markiert nun seinerseits eine Trennungslinie zwischen der schulischen und der privaten Sphäre. In der Szene zum Damals wird dem Betrachter ein Erlebnis von Àießender und beinahe schwindelerregender Bewegung präsentiert, bei dem die Dynamik der eingespielten Musik nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar und erfahrbar wird. Die Szene zum Heute hebt sich davon deutlich ab: Sie ist geprägt von Statik, Stillstand und ›Raumlosigkeit‹ und zeichnet sich somit im Wesentlichen durch die Abwesenheit dessen aus, was im Damals zum Ausdruck kam (homolog zur Abwesenheit des (nicht erwähnten) praktischen Musizierens in der Gegenwart). Durch ihre Gestaltung wirkt diese Szene wie eine ›Leer‹-Stelle, für die lediglich ein Platzhalter (ein Informationsschild) gesetzt wurde. Hinter dieses Schild gibt es keinen Einblick und die Erlebniswelt der Jugendlichen, ihre Musikkultur und ihre Peer-Sphäre, bleiben vom Raum der Schule strikt getrennt.
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4.2.5
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ReÀexion der ›Theater‹-Szenen
Explizit sollte der Vergleich zwischen dem Damals und dem Heute eine positive Entwicklung zur Gegenwart hin belegen (vgl. Einführung zu Kap. 4.2). Die Vergangenheit sollte dazu als eine Art negativer Gegenhorizont fungieren. Betrachtet man jedoch das Wie der Darstellung (entsprechend der Analyseeinstellung der dokumentarischen Methode), so fällt auf, dass die Szenen zum Heute im Gegenüber zu denen zum Damals durchgängig ein ausgewogenes Maß an Nähe und Distanz vermissen lassen: In der Fernsicht (Totale) verschwindet der Einzelne in Gruppe und Raum (GS 1) und in der Nahsicht wird er nur bruchstückhaft wahrgenommen (GS 2). Es gibt in den Szenen zum Heute insgesamt nur die extreme Nah- bzw. Fernsicht (GS 1 und 2) oder die verstellte Sicht (GS 3 und 4). In den Szenen zum Damals dagegen gibt es diese ›Maßlosigkeit‹ und diesen versperrten Blick nicht. Die Schüler dort sind durchgängig in voller Größe und weitgehend unverstellt zu sehen. So lässt sich insgesamt eine Entwicklungslinie hin zu einer zunehmenden Entpersönlichung nachzeichnen. Vor der Hintergrundfolie des Damals erscheint das Heute außerdem über weite Strecken als in sich weniger konsistent und stimmig (vgl. GS 2: Auseinanderfallen der Situation; GS 3: Auseinanderfallen des Filmbildes). Dabei zeichnet es sich eher durch die Abwesenheit dessen aus, was im Damals thematisiert wird, als durch einen konstruktiven Gegenentwurf, in dem dem Alten etwas Neues gegenübergestellt werden würde (vgl. GS 1: Abwesenheit des personalen Bezugs; GS 2: Abwesenheit einer konstruktiven Strukturierung der Situation bzw. einer alternativen Form von Unterricht; GS 4: Inszenierung eines ›Nicht-Raums‹). Aus der Perspektive eines Pädagogen könnte man nun geneigt sein, eine Schlussfolgerung dahin gehend zu ziehen, dass der implizite positive Gegenhorizont eindeutig im Damals zu verorten wäre. Eine derartige vorschnelle Bewertung und Zuordnung (positiv vs. negativ) würde jedoch hier die Maßstäbe der Ideale anlegen, die dem aktuellen pädagogischen Diskurs entsprechen (z.B. dem Ideal der Individualisierung). Offensichtlich gelten jedoch im atheoretischen, handlungspraktischen Wissen der Schüler andere Maßstäbe. So kann beispielsweise eine ›Perfektionierung des Gleichschritts‹ (GS 1), die für den auf Individualisierung bedachten Pädagogen eindeutig einen Negativhorizont darstellt, für die Schüler durchaus sehr positive Aspekte beinhalten, indem sie sich beispielsweise dadurch einer übersteigerten Aufmerksamkeit auf die eigene Person entziehen können. Gerade dieser eben genannte Aspekt zieht sich, teilweise in der Art einer Übergegensätzlichkeit (vgl. GS 3; Kap. 4.2.3), durch alle Szenen-
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Paare hindurch: Die Situationen, in denen eine Entpersönlichung zum Ausdruck gebracht wird, beinhalten neben dem Aspekt, dass der Einzelne ins Hintertreffen zu geraten scheint, eben gerade auch jenes entgegengesetzte Moment, dass sich der Einzelne so vor einer überzogenen Fokussierung auf seine Person schützen kann. Entsprechend könnte auch der Rückzug auf die Peer-Sphäre der Jugendlichen gedeutet werden (in GS 2 steigert sich dieser satirisch überzogen bis hin zu einem Rückzug auf sich selbst in Form einer demonstrativen Selbstbezogenheit), durch den der Zutritt zu ihrer Erlebniswelt verwehrt wird (GS 4) und letztlich ihre Privat- (bzw. Peer-) Sphäre strikt von der schulischen Sphäre getrennt bleibt (vgl. dazu auch Kap. 4.1 und Kap. 4.4). Hierin zeigt sich nun, dass jenseits der Kategorien pädagogischer Ideale auch in Bezug auf das Relevanzsystem der Jugendlichen das Damals insgesamt besser wegkommt, wenn auch in etwas veränderter Akzentuierung: Die Abwehr eines Zugriffs auf die persönliche Sphäre wird im Damals an keiner Stelle sichtbar. Dort bleiben die Privat- (bzw. Peer-) Sphäre und die schulische Sphäre klar voneinander getrennt (vgl. GS 2–4). Dabei scheint aus der Sicht der Jugendlichen die Stimmigkeit zwischen dem durch die Schule gesetzten Rahmen und dem, was sich innerhalb dieses Rahmens vollzieht, verloren gegangen zu sein und nun zu fehlen (vgl. insbes. GS 2). Und so stellt sich das Verhältnis zwischen Damals und Heute auf der Ebene des dokumentarischen Sinngehalts genau umgekehrt zum Explizierten dar: Der positive Gegenhorizont wird im Grunde im Damals verortet, das als eine Art positive Vergleichsfolie für die Charakterisierung des Heute fungiert (vgl. dazu auch den Text von »Tür 1 und 2« in Kap. 4.4.5). Auf der Ebene des Praxiswissens ist den Schülern jedoch ein Vergleich, der auf persönlicher Lebenserfahrung gründen würde, zwischen dem Damals und dem Heute nicht möglich. Deshalb lassen sich aus dem Grundmuster dieser Beobachtung lediglich Schlüsse über ihre Wahrnehmung der Gegenwart ziehen. Es sind insbesondere zwei Aspekte, die sich hieraus ergeben: (1) Die Produzentinnen erleben die Gegenwart als in sich wenig stimmig und bringen dies vor dem Hintergrund einer Kontrastfolie zum Ausdruck. (2) Nachdem diese Kontrastierung durch die historische Dimension erfolgt (eine andere Möglichkeit wäre beispielsweise die interkulturelle Dimension), wird der positive Gegenhorizont in die Vergangenheit (nicht in die Zukunft oder an einen anderen Ort der Gegenwart) verlegt. Dadurch bleibt (anders als z.B. bei einem interkulturellen Vergleich) die Entwicklungsperspektive versperrt, da es keinen realistischen Weg zurück in die Vergangenheit gibt. Die Perspektivlosigkeit, die auf diese Weise sichtbar wird, dokumentiert sich auch im Fehlen jeglicher echter Gegenentwürfe in den Szenen zum Heute und
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zeigt sich dort bis in die Bildstrukturen hinein in der Visualisierung von Enge, Einklammerung und Verbarrikadierung. Auch wenn das Damals in den Gegenüberstellungen der ›Theater‹-Szenen besser abschneidet, so eröffnet sich doch dadurch noch kein positiver (Gegen-) Horizont im eigentlichen Sinne.
4.2.6 Die Meta-Gegenszene Die Gegen-Szene zu den ›Theater‹-Szenen In den Spiel-Szenen der Gegenwart spielen die Produzentinnen des Films immer selber die ›modernen Schüler‹ des Heute, mit einer Ausnahme: In GS 2 lassen sie die Rolle der ›undisziplinierten Schüler‹ von denselben jüngeren Darstellern spielen, die bereits in der Vergangenheits-Szene zu sehen waren. Dadurch kommt einerseits eine Distanzierung der Produzentinnen von diesem Entwurf zum Ausdruck und andererseits bestätigt sich nochmals der Eindruck, dass diese Szene nicht wirklich als ernst zu nehmender Gegenentwurf zum Damals betrachtet wird. Deshalb lässt ihr Auftreten im Freien (S 10), direkt danach, mit dem expliziten Bezug zur Thematik des vorangegangenen Szenen-Paars (Disziplin), diese neue Szene als Weiterführung erscheinen (vgl. Kap. 4.2.2). Bei näherer Betrachtung entpuppt sich S 10 (»Im Freien«) als eigentliche Gegenszene zum Damals, auch wenn sie dabei aus dem formalen Rahmen fällt, der durch die gleichbleibende Struktur der jeweils einander zugeordneten SzenenPaare gesetzt ist. Aber gerade durch dieses Aus-dem-Rahmen-Fallen erweist sie sich als eine Gegenszene höherer Ordnung zur Struktur der Gegenszenen-Paare und als Gegenentwurf zur Darstellung von Schule im begrenzten Horizont dieser Paare. Ihre zentrale Positionierung in der Film-Mitte, eingerahmt von zwei Szenen-Paaren vorher und zwei danach (als Mittelteil in einem symmetrischen Aufbau, nach dem Kompositionsschema AABAA), hebt sie bereits formal aus dieser Struktur heraus. Dazu kommt nun auch noch ein Wechsel in der RaumDimension, indem die Akteure den Ort der Schule verlassen und ins Freie hinaustreten. Dabei verlassen sie die Schule aber nicht nur räumlich, sondern in dieser ›Meta‹-Gegenszene treten sie gleichzeitig auch aus dem geistigen Koordinatensystem »Schule« (aus der schulinternen Vergleichsstruktur zwischen dem Damals und dem Heute) heraus. Vorher hatten sie ’n bisschen Theater gespielt, jetzt wechseln sie die Ebene der Filmerzählung: Die ›Fiktion‹ im (Spiel-) Film wird verlassen und stattdessen die Ebene des ›Authentischen‹ in einem Dokumentar¿lm ins Spiel gebracht (vgl.
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Abb. 22a – b
Kap. 4.1). Im Zusammenhang damit wechseln auch die als Akteurinnen auftretenden Produzentinnen ihren Standort im Film: Sie treten ihrerseits aus der Sphäre der Fiktion heraus (mimetische Narration) in die Sphäre des (vor-¿lmisch) Realen (vgl. Kap. 4.1). Indem sie die Struktur der Szenen-Paare transzendieren, verlassen sie nicht nur die Schule im Damals sondern auch die im Heute, die eben immer noch derselben ›¿ktiven‹ Sphäre zugeordnet wird (vgl. dazu auch die Wortwahl reelle Dinge in »Tür 1«; Kap. 4.4.5). Dabei dokumentiert sich ihr ›Ausbruch‹ nicht nur in Filmstruktur und Filmerzählung, sondern sie ›e‹-manzipieren sich auch auf der performativen Ebene: Sie treten als selbstbewusste, kompetente Jugendliche auf, die die Erwachsenen auf Augenhöhe in der Rolle von Reportern oder Journalisten befragen, und lassen damit ihre ›Schüler-Rollen‹ gänzlich hinter sich.48 Die Produzentinnen verlassen in dieser ›Meta‹-Gegenszene also in mehrfacher Hinsicht den Rahmen der Schule. Dabei werden, im Gegensatz zu den ›Theater‹-Szenen zum Heute, keinerlei Deformationen mehr sichtbar: Sie sind weder zu nah noch zu weit von der Kamera entfernt, weder zerstückelt noch isoliert. Und hier wird das an den Tag gelegt, was in der Szene direkt davor (GS 2 im Heute) als abwesend erschien (im Gegenüber zum Damals): Kooperation, Kommunikation und zielgerichtetes Handeln (vgl. Kap. 4.2.2). Diese Beobachtungen bestätigen nochmals, dass in dieser ›Meta‹-Gegenszene der implizite positive Gegenhorizont zu GS 2 und zur Struktur der Szenen-Paare zu
48 Bereits die Schüler-Rollen, die die Filmproduzenten in den Gegen-Szenen übernehmen, und die Art, wie sie sie spielen, erinnern wenig an einen Schülerhabitus: Sport- und Computer-Szene könnten auch in einem schulexternen Kontext spielen, und dort, wo die Szenerie eindeutig im Rahmen der Schule spielt (GS 2 – Damals), tritt die Produzentin lediglich als Lehrerin in Erscheinung – also als eine erwachsene, berufstätige Person.
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¿nden ist. Die ›urwüchsige› Kooperation49, die dabei hier sichtbar wird, kennzeichnet diese Szene darüber hinaus auch noch als eine Art Gegenentwurf zur Produktion des Films an sich (vgl. Kap. 4.3.3). Dabei wird nun jene Perspektivlosigkeit, die sich durch die Szenen-Paare dokumentierte, durchbrochen. Indem die Jugendlichen den Rahmen »Schule« hinter sich lassen – sowohl räumlich als auch performativ – weiten sich Aktionsradius und Horizont.
Die Polarität zwischen dem Schul-Gebäude und dem Freien Neben den Szenen-Paaren (›Theater‹- Szenen) und deren Meta-Gegenszene (»Im Freien«) nimmt die Darstellung des Schulgebäudes (S 3 und 4) zeitlich gesehen den größten Raum ein. Sie bekommt durch ihre Positionierung (am Anfang des Films) und durch ihre zeitliche Ausdehnung formal eine ähnlich exponierte Stellung wie die Szenerie im Freien und bildet damit eine Art Gegenpart zu ihr. Als ein ›Paar‹ erscheinen diese beiden Szenen auch im Hinblick auf die Filmkomposition: Es sind die einzigen Szenen, die einerseits unterhalb der Rahmenhandlung (der Moderationsszenen, vgl. schwarze Balken in der Strukturskizze Abb. 80a–b) zu verorten sind und sich andererseits oberhalb der ›Theater‹- Szenen50 (hellgraue Balken, Abb. 80a–b) bewegen. Sie repräsentieren die Ebene des Authentischen im Gegenüber zum Fiktiven des ›Theaterspielens‹ (vgl. Kap. 4.1). Dadurch lagert sich über die explizite Vergleichsstruktur »Damals – Heute« eine weitere, allerdings implizit bleibende Gegenüberstellung zwischen dem (Schul-) Gebäude und dem Freien. Diese Polarität wiederholt sich schließlich als homologe Struktur in den beiden Schlussbildern (s.u.) und in gewisser Weise auch in der Montage der eingelagerten Szenen auf dem Sofa (vgl. Kap. 4.1 und Kap. 4.4.4). Beide Szenen werden in einer ähnlichen Pose eröffnet: Jeweils eine der Produzentinnen steht im Zentrum des Filmbildes in der Amerikanischen (Einstel49 Zu Beginn des Interviews mit den Erwachsenen (S 10.3–4) stellt Af an ihre Mitproduzentinnen im Off die Frage »Soll ich?«. Mit dieser spontanen »Gebärde« (im Sinne Imdahls; vgl. F 57) verlässt sie die Ebene der Filmnarration. Sie tritt damit aus der Fiktion des Films heraus, indem sie hier Einblick in die Filmproduktion selbst (das »Making of«; vgl. Kap. 4.4.3) gibt. Dadurch wird dem Zuschauer gleichzeitig auch ein Blick auf die ›urwüchsige‹ (nicht im Film ›vorgeführte‹) Kooperation der Produzentinnen hinter der Filmkulisse erlaubt. Als aufschlussreich wird sich dabei noch die Verortung dessen (»Im Freien«) erweisen (vgl. Kap. 4.3.3). 50 Die Szene ›Interview‹ (S 7.3) nimmt diesbezüglich eine Zwischenstellung ein (vgl. Kap.4.3.2). Bei den anderen mittelgrau markierten Szenen handelt es sich um Moderationsszenen, die direkt auf die ›Theater‹-Szenen bezogen sind.
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Abb. 23a – b
lung), spricht in ein Mikrophon, das sie in der Hand hält, ist dabei dem Zuschauer zugewandt und spielt die Rolle einer Reporterin. Sehr unterschiedlich sind allerdings die beiden Kulissen, vor denen sich diese Szenen abspielen: Während die eine Reporterin den Verkehrslärm mit gehobener Stimme übertönen muss und das folgende Filmbild, zu dem sie überleitet, von vorbeifahrenden Autos durchschnitten wird (S 3/4), wird die andere von Vogelgezwitscher umgeben, das die ruhige Szenerie in einem Park untermalt, die sie aus dem Off mit So ein guter Tag! kommentiert. Dabei lässt die Reporterin im Freien einen Gitterzaun hinter sich (vgl. Abb. 42b in Kap. 4.4.5), während in der anderen Szene ›vergitterte‹ Fenster (Abb. 22a) neben einer geschlossenen und ›vernagelten‹ Tür (Abb. 22b) ins Bild gebracht werden. Die schwere Holztür mit den Metallstiften wird zudem noch durch den Ranzoom bis in die Nah- und sogar Detaileinstellung besonders fokussiert und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Während sich im einen Filmbild ein freies Feld mit einer grünen Wiese auftut und damit die Vorstellung von Weite und Offenheit bzw. Freiheit vermittelt, lässt das andere durch die steingraubraune ›pickelige‹ Fassade und die geschlossene Tür des abgeschottet erscheinenden Gebäudes eher den Eindruck von Unzugänglichkeit entstehen. Das Hereinlocken des Betrachters in dessen Inneres mittels der Geste des gekrümmten Zeige¿ngers51 und der Ortswechsel der Reporterin wie von Geisterhand, die nun (entgegen der Filmlogik) aus dem Inneren des Gebäudes herausschaut (nachdem sie gerade eben noch auf der Straßenseite gegenüber stand), lässt dieses zudem als einen geheimnisvollen, verwunschenen Ort erscheinen, der deutlich vom alltäglichen Leben abgesetzt ist. 51 Diese Geste wird im Common Sense häu¿g mit Märchen in Verbindung gebracht (z.B. die Hexe bei Hänsel und Gretel).
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Das im Inneren altehrwürdig wirkende Gebäude, von dem nun eine breite, massive Steintreppe ins Bild kommt, erscheint menschenleer und verlassen und erhält durch den starken Hall der Geräusche einen musealen, beinahe sakralen Charakter. Völlig anders entwickelt sich dagegen die Szenerie im Freien: Entgegen der Weltabgeschiedenheit innerhalb des Gebäudes kommen hier Menschen unterschiedlicher Generationen ins Bild, mit denen die Produzentinnen in Kommunikation treten. Dem abgeschlossenen und abgesonderten Raum der Schule werden hier eine natürliche Umgebung und die Begegnung mit anderen Menschen entgegen gesetzt. Durch diese Gegenüberstellung werden zwei klar voneinander abgegrenzte Sphären konstituiert: Die Welt des ›menschenlosen‹ Gebäudes und die Welt der Menschen jenseits davon im Freien.
Die Schlussbilder des Films Dieser Film besitzt nicht nur ein einzelnes Schlussbild, sondern interessanterweise ein ›Schlussbild-Paar‹, das in den Nachspann des ›Films im Film‹ integriert ist (vgl. Kap. 4.4.2). So wird die oben erwähnte Struktur der Paare weitergeführt bis zum Ende des Films. Dabei ¿nden die beiden voneinander abgegrenzten Welten (s.o.) in der Gegenüberstellung der beiden Schlussbild-Motive ihre Fortsetzung und Validierung: Das erste Schlussbild (Abb. 23a) zeigt ein menschenloses Gebäude, das zweite (Abb. 23b) demgegenüber Menschen im Freien (jenseits architektonischer Strukturen). Die formale Gleichartigkeit dieser beiden Filmbilder (abge¿lmte Fotos aus einer Zeitung mit konstant bleibender Filmmusik) lässt sie als Einheit erscheinen. Durch die Aneinanderreihung und Kontrastierung dieser beiden statischen Bilder entwickelt sich eine ›Szene‹, deren Dramaturgie sich aus den Motiven und ihrer Reihenfolge ergibt. Dabei wird hier mittels statischer Kompositionselemente Dynamik produziert: Bereits in Abb.23a erzeugen »kinetische Kompositionseffekte«52 Bewegung im statischen Bild. Die dominante Abwärtslinie (von links oben nach rechts unten) bringt eine Abwärtsbewegung ins Bild, aus der der Eindruck eines Versinkens des Gebäudes entsteht, ähnlich einem sinkenden Schiff, das ohne jegli-
52 Hickethier 2001: 52: »Daneben [neben der ›inneren Geometrie‹ von Filmen] gibt es bereits in statischen Bildern kinetische Kompositionseffekte, Effekte also, die Bewegungen suggerieren. So werden z.B. schräg durch das Bild verlaufende Linien, die von links unten nach rechts oben weisen, oft als Aufwärtsbewegungen, Linien die von links oben nach rechts unten zeigen, als Abwärtsbewegungen oder fallende Bewegungen verstanden.«
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Abb. 24a – b
che Bewegung in sich (im Gegensatz zu Lebewesen, die noch ›rudern‹ würden) als Ganzes ins Meer sinkt – eine Art ›statisches Sinken‹.53 Das an sich statische Gebäude wird hier also auch noch kompositionstechnisch ›statisch‹ zum Versinken gebracht indem eine Bewegung in der Bewegungslosigkeit (eine ›Bewegung‹ im statischen Bild im Rahmen des Mediums der ›laufenden Bilder‹) dargestellt wird. Die Abwärtsbewegung verstärkt sich schließlich noch durch die entgegengesetzte Bewegungsrichtung der aufsteigenden Luftballons, die zudem noch den Kontrast des ›schwer‹-fälligen Gebäudes im Gegenüber zur Leichtigkeit der Ballons ins Bild holen. Diese Leichtigkeit bekommt durch die schwebende LatinRhythmik, die den Tonraum bestimmt, das Hauptgewicht und transportiert zusammen mit dem strahlend blauen Himmel und den Luftballons ›Party-Stimmung‹. Die Rahmung dieser Darstellung des Gebäudes steht damit in einem deutlichen Kontrast zur Szene S 3, in der jenes Bauwerk54 trist, grau und eher abweisend in Szene gesetzt wurde (s.o.). Das Versinken des Gebäudes wird hier nicht bedrohlich oder dramatisch inszeniert, sondern – im Gegenteil – eher als eine fröhliche Feier. Der gesungene Text der Filmmusik lässt dabei anarchistisch-explosive Anklänge laut werden (vgl. F 80 in Kap. 4.4.2). In Abb. 23b ist das Gebäude schließlich verschwunden. Hier sind – nach der Handlungslogik, die aus der Aneinanderreihung dieser beiden Bilder entsteht – nur noch Menschen zu sehen. Im Kontrast zu den klaren und starren Linien,
53 Trotz der Froschperspektive bleiben die Linien (z.B. Hauskante und Längsseiten der Fenster) parallel (es kommt nicht zu sog. »stürzenden Linien«). Der Korpus des Gebäudes stürzt also nicht in sich zusammen, sondern versinkt sozusagen als Ganzes. 54 Es handelt sich hier tatsächlich um dasselbe Gebäude, das lediglich von der anderen Seite her abgelichtet wurde (was allerdings für die dokumentarische Interpretation nebensächlich ist).
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die die Struktur des Motivs in Abb. 23a formen, stehen sie hier als bunter Haufen im Freien – ohne besondere Aufstellung oder Strukturierung – unsystematisch, zwanglos, informell. Es handelt sich um Jugendliche und Erwachsene, die untereinander gemischt dastehen, der Krawatten- neben dem Sweatshirt-Träger, in unterschiedlichen Haltungen, und ihre Kleidung weist ein breites Farbspektrum auf. Hier gibt es keine ›Ränge‹ und keine übereinander getürmten Stockwerke – hier stehen alle ebenerdig nebeneinander. Im Gegensatz zu Abb. 23a bekommt Abb. 23b seine Dynamik aus der Vielfalt der Farben und der Unregelmäßigkeit der abgebildeten Personen. Betrachtet man die Handlungslogik, die aus dem Matchen (vgl. Kap. 3) dieser beiden Bilder entsteht, so folgen die Blicke der Menschen nicht dem sinkenden Gebäude nach unten, sondern den aufsteigenden Luftballons: sie sind nach schräg oben gerichtet. Ginge man nun von dieser Art des Matchens aus, wäre die konventionellere Reihenfolge die umgekehrte gewesen (vgl. Kap. 3, Bsp. B und Kap. 5.2.1: »Cut Away«): Dem Blick der Menschen würde das Motiv folgen, das als Ziel ihrer Blicke gezeigt wird. Der Film würde dann allerdings mit dem Gebäude enden und nicht – wie hier – mit den Menschen. Dieser Bruch mit der ¿lmischen Konvention würde die hier gewählte Reihenfolge zusätzlich unterstreichen: Das letzte der beiden Schlussbilder zeigt eben kein Gebäude, keine äußere Struktur von Schule mehr, sondern Menschen, die frei davon im Freien stehen (homolog dazu: S 10 »Im Freien«, Kap. 4.3.3; Outtakes, Kap. 4.4.3).
4.3 Das dekorative Spiel mit der persönlichen Meinung 4.3.1 Die Szene Pinnwand Das Filmbild Die Reporterin bleibt in der Nähe einer Pinnwand stehen, dreht sich zur Kamera und beginnt in das Mikrophon, das sie in der rechten Hand hält, zu sprechen. Kurz darauf, während sie spricht, hebt sie den linken Arm und deutet damit in Richtung der Pinnwand. Mit einer Kopfbewegung nach links folgt auch ihr Blick dieser Richtung (Abb. 24a). Dabei wandert die Pinnwand für einen kurzen Moment ins Zentrum des Bildes (Kameraführung), während die Darstellerin am Rand abgeschnitten wird. Beim Rückschwenk richtet sich der Blick der Reporterin wieder zur Kamera, der linke Arm wird in einer schnellen Bewegung wieder zurückgezogen und die linke Hand zur rechten an das Mikrophon gelegt. Schließlich wird
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das Mikrophon ganz der linken Hand übergeben, wonach der rechte Arm nach unten wandert und sich hin und wieder gestikulierend bewegt. Für einige Sekunden bleibt hier das Filmbild relativ konstant (Abb. 24b). Die Akteurin steht nun im Bildvordergrund und beansprucht die linke Hälfte des Bildes, während die rechte Hälfte der Pinnwand gehört, die mit der rechten Kante im Mittelgrund des Bildes beginnt und sich in einem spitzen Winkel zur BildÀäche in den Hintergrund hinein zieht. Die beiden Hauptmotive des Bildes – die Reporterin und die Pinnwand – stehen dabei völlig unverbunden nebeneinander und räumlich zueinander versetzt: Die Akteurin steht nicht vor der Tafel und überlappt sie nicht, wie es beispielsweise bei einem Vortragenden aus der Perspektive des Auditoriums der Fall wäre. Selbst bei der deutenden Geste des Arms wird die Fläche der Pinnwand nicht erreicht. Durch die Schrägstellung der Pinnwand und die Schrägperspektive des Bildes (vgl. Abb. 25: es wurde hier nur der linke Fluchtpunkt eingezeichnet) verkleinert sich die Fläche der Pinnwand optisch und nimmt zur Mitte des Bildes hin ab, indem sie sich sozusagen nach hinten ›verÀüchtigt‹. Der schwarze Pfeil links neben ihr, der in Richtung des Hintergrundes deutet, verstärkt diese Wirkung noch. Ihre Parallelstellung zur Wand, die sich hinter der geöffneten Tür im Hintergrund weiter fortsetzt, gibt ihr eine stromlinienförmige Position: Sie steht nicht im Weg (wie es beispielsweise durch eine Schrägstellung zur Wand hin geschehen würde), ist ›gut aufgeräumt‹, ›eckt nicht an‹, setzt aber dadurch auch keinen eigenen Akzent. Im oberen Bereich sind rechts und mittig einige Zettel angeheftet, aber der größte Teil ihrer Fläche ist frei. An einem Zettel hängt eine kugelförmige, blassrote und -blaue Dekoration, von der aus sich blass-bunte Papierstreifen herunterlocken. Die Reporterin ist in ihrer Körperhaltung nicht horizontal nach vorne orientiert, sondern ebenfalls leicht schräg zur Bildmitte hin, in Richtung Pinnwand (vgl. Abb. 25: Linie entlang der Schulter). Zusammen mit der Schräge der Pinnwand entsteht so der AnÀug eines zentralperspektivischen Eindrucks, dessen Fluchtpunkt in der weißen Fläche zwischen der Reporterin und der Pinnwand liegen würde. Die Darstellerin und die Stellwand be¿nden sich dadurch nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen hintereinander, sondern auch ›perspektivisch‹ in zwei voneinander getrennten Bildhälften, was den Eindruck der Unverbundenheit zwischen den beiden ›Protagonisten‹ noch verstärkt. Dabei setzen sich beide Hälften in einem deutlichen Kontrast voneinander ab: Auf der einen Seite ist das lebendige, sich bewegende (gestikulierende) Motiv der jungen Frau zu sehen, auf der anderen Seite der statische, leblose Gegenstand der Pinnwand. Hinzu kommt die
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Abb. 25
Differenz hinsichtlich des farblichen Kontrasts zwischen dem Schwarz von Mantel und Haare und dem Pink von Mikrophon und Haut auf seiten der Darstellerin im Gegenüber zu dem insgesamt relativ kontrastlosen grau-weißen Einerlei der Pinnwand. Bewegungen, Kontrast aber auch die Position der Reporterin im Vordergrund des Bildes und die Fokussierung ihres Kopfes, der sich im Goldenen Schnitt be¿ndet, heben sie deutlich aus der Szenerie hervor. Dabei setzt insbesondere das pinkfarbige Mikrophon zusätzlich einen eigenwilligen Akzent und unterstreicht die selbstbewusste Inszenierung der Akteurin, die hier ›stilecht‹ im dunklen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen daherkommt. Nachdem es sich bei dem Mikrophon um ein Requisit aus dem Bereich der Akustik handelt, stellt es gleichzeitig einen visuellen Hinweis auf den Tonraum des Films dar und betont durch seine Ausrichtung auf den Kopf der Reporterin deren Rede. Dass diese im Zentrum steht, wird noch zusätzlich durch die Horizontlinie des Bildes deutlich, die durch ihren Mund verläuft. Betrachtet man die Akteurin und die abgebildeten Gegenstände auf der ikonogra¿schen Ebene, so kommen weitere Sinngehalte ins Spiel: Insbesondere das Requisit des Mikrophons, das die junge Frau als Reporterin oder Journalistin erscheinen lässt, bringt einen Berufszweig ins Spiel, dessen Ethos und Ziel die Verwirklichung freier Meinungsäußerung und -bildung ist. Die auffällige Farbe des Mikrophons betont dies noch. Der passive und statische Charakter der Pinnwand, die lediglich ein Medium der Informationsübermittlung darstellt und deshalb selber nur Hülse bzw. Form (und keinen Inhalt an sich) bietet, wird durch diese Gegenüberstellung seinerseits akzentuiert und so verschärft sich der Kontrast der beiden ›Protagonisten‹ dieses Bildes, die bereits auf der vor-ikonogra¿schen Ebene als ungleiche Antipoden erscheinen. Vor dem Hintergrund dieser Polarität bekommt die Dekoration der Pinnwand
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noch eine eigene Note: Im Gegenüber zum fachmännischen Auftreten der Akteurin in der Reporterrolle stellen die Luftschlangen Assoziationen zu wenig ernst zu nehmenden Aktivitäten und Aktionen (Fasching oder Kindergeburtstag) her und stellen der Inszenierung professioneller Kompetenz die eher unmündige und harmlose Spielerei gegenüber. Die Vergänglichkeit der Zettel an der Pinnwand wird außerdem durch die Positionierung des Papierkorbs direkt daneben augenfällig, der seinerseits auch als Metonym für Beliebigkeit und kurze Verfallsdauer fungieren kann.
Der Text zum Filmbild Das ist unsere SMV, die Schülermitverwaltung, und die wird von unseren drei Schülersprechern regiert.55 Die Formulierung das ist verweist auf das Filmbild und kündigt die Zuordnung eines Signi¿kanten zu einem Signi¿kat an, das im Bild gezeigt wird. Nimmt man die Worte der Reporterin Das ist unsere SMV, ... zusammen mit ihrer Geste des Deutens wörtlich, so ist das zum Signi¿kanten »SMV« gehörige Signi¿kat ein lebloser Gegenstand: eine Pinnwand, auf der ein Paar Zettel hängen zusammen mit einigen Luftschlangen. Nachdem ›die SMV‹ (alias Pinnwand) gezeigt wurde, folgt eine Erklärung der Abkürzung durch das Nennen der vollständigen Wortbedeutung: Schülermitverwaltung. Anstelle einer Erläuterung, was Zweck und Ziel dieser Einrichtung ist (aktive und dynamische Perspektive), erfolgt lediglich ein Hinweis auf die Struktur (bzw. ›Regierungsform‹) dieser Einrichtung (... und die wird von unseren drei Schülersprechern regiert), der in die Form einer Passiv-Konstruktion gekleidet ist: die SMV wird regiert (passive und statische Perspektive). So wird zwar die hierarchische Organisationsform der SMV(regere (lat.): »lenken, herrschen«; Duden Bd. 7 1997: 581) angesprochen, die ursprüngliche Absicht jedoch, die mit dieser Einrichtung verbunden wurde und die auch zu ihrer Einführung führte, nämlich die Möglichkeit demokratischer Mitgestaltung der Schüler, kommt an dieser Stelle nicht zur Sprache. Die Bezeichnung »Schülermit-verwaltung«, die vollständig ausgesprochen wird, unterstreicht dabei ebenfalls jene statische und bürokratische Perspektive. 55 Der 2. Satzteil ist nicht ganz eindeutig zu verstehen und wird von Geräuschen aus dem Gebäude überdeckt.
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Zusammenfassende Interpretation von Bild und Text Die beiden ›Protagonisten‹ dieser Szene – die Akteurin in der Rolle einer Reporterin und die Pinnwand als Repräsentant der SMV – haben ein gemeinsames Thema: die Ermöglichung und Wahrnehmung demokratischer Mitgestaltung in Gesellschaft bzw. Schule. Dabei werden beide in einen deutlichen Kontrast zueinander gestellt: Neben der ›leibhaftigen‹ Verkörperung dieses Themas in der lebendigen und p¿f¿gen Darstellung der Reporterin verblasst die schulische Institution der SMV, die hier durch einen leblosen und stumm bleibenden Gegenstand bzw. eine ›leere Hülse‹ repräsentiert wird, der ›angepasst‹ in den Hintergrund tritt. Diese Perspektive auf die SMV, die das Statische und Passive betont, wird auch durch den Text unterstrichen. Homolog zum Kontrast und zur Unverbundenheit der beiden Repräsentanten werden beide auch auf der ikonogra¿schen Ebene in unterschiedlichen Sphären der Wirksamkeit angesiedelt: Hinter die (im Filmgeschehen) reale Erscheinung einer professionellen Person tritt ein apersonales Objekt, das lediglich Hinweischarakter auf die benannte Institution hat und dabei als wenig ernst zu nehmend präsentiert wird. Indem hier eine schulexterne Rolle ins Spiel gebracht wird, vollzieht sich gleichzeitig eine Distanzierung von der Schulwelt, bei der das Requisit des Mikrophons eine markante Rolle spielt. Der implizite positive Gegenhorizont dieser Gegenüberstellung wird dabei jenseits der Schule verortet (homolog dazu: Kap. 4.2.6) in der realen, nicht institutionell überformten Verwirklichung des Anspruchs partizipativer Mitgestaltung.
4.3.2 Das ›Interview‹ Das Filmbild Zunächst wird für einen Moment eine Schülerin56 bewegungslos und ohne spezi¿schen Ausdruck gezeigt (Abb. 26a). Links im Bild ist ein TürÀügel zu sehen. Die Akteurin selber bleibt vor der Türschwelle stehen und verbleibt damit in dem von der Türöffnung begrenzten Raum, auch dann, als die Kamera anschließend auf sie zu fährt. Dabei bewegt sich das pinkfarbene Mikrophon (vgl. Szene Pinnwand) aus dem Bildvordergrund links unten auf den Mund der Schülerin zu, während sich der Ausschnitt der Schülerin durch die Kamerabewegung vorwärts verändert: 56 Die Akteurin spielt hier die Rolle einer Schülerin.
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Abb. 26a – b
Ihre Oberarme werden vollständig abgeschnitten und ihr Kopf vergrößert sich. Ab da bleibt das Filmbild für den Rest der Szene relativ konstant (Abb. 26b). Im Gegenlicht sieht man die dunkle Silhouette der Schülerin in Großaufnahme, die sich in starkem Kontrast vom Hintergrund der weißen Wand abhebt. Der Kopf der Schülerin ist dabei nicht mittig in der BildÀäche, sondern leicht nach links versetzt. Diese unspezi¿sche Positionierung (weder mittig noch nach dem Goldenen Schnitt komponiert) lässt ihn etwas deplaziert erscheinen. Durch diese Positionierung gewinnt der Gang, der im Hintergrund zu sehen ist, an Bedeutung, was auch durch die Belichtung unterstützt wird: Nachdem durch die Gegenlichtaufnahme das Gesicht und damit die Mimik der Schülerin weitgehend im Dunkeln bleibt, tritt der Vordergrund optisch beinahe ›in den Hintergrund‹ und der Hintergrund stärker ›in den Vordergrund‹. Dies wird zusätzlich durch die raumperspektivische Tiefenwirkung des Gangs (Schrägperspektive) unterstützt, die deutlich eindrucksvoller wirkt als der Vordergrund mit der nahezu fehlenden Dreidimensionalität der dunklen Kopfsilhouette. Die perspektivische Tiefenwirkung des Hintergrunds wird einerseits durch die dicke Mauer des Türbogens betont, die der Wand eine sehr massive Wirkung verleiht, andererseits durch das Band der im Gang aufgehängten Bilder, das ebenfalls dazu beiträgt, dass die Aufmerksamkeit von der Person weg und in das Gebäude hinein gezogen wird. Obwohl die Schülerin das einzige bewegte Motiv in diesem Bild ist (leichte Bewegungen des Kopfes beim Sprechen), setzt sie durch die sehr geringe Bandbreite keinen Gegenpol zur perspektivischen Dynamik des bewegungslosen Raums. Dabei gibt es zwischen Bildvorder- und -hintergrund keinerlei Verbindung und dessen Zusammenhanglosigkeit wird durch die Kontraste, die sich aus den Lichtverhältnissen ergeben, noch verstärkt. Die Silhouette wirkt
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dadurch beinahe wie ein störender Fremdkörper, der den Blick auf den beleuchteten Hintergrund verstellt. Das Band mit den zwei Reihen von sorgfältig gleichförmig positionierten Bildern, vermutlich (Schüler-) Zeichnungen, betont den anstaltsförmigen Charakter des Raums. Die Motive der einzelnen aufgehängten Bilder und deren Farbgebung sind nicht zu erkennen, sondern nur das gleichmäßige Muster, das aus ihnen entsteht. Im Mittelgrund hängen, verdeckt von der Schülerin, helle Tafeln an den weißen Wänden, die, zusammen mit dem hellblauen Boden, die blasse, beinahe monochrome Farbgebung des Hintergrunds abrunden. Im Zentrum des Filmbildes steht damit ein statischer, bewegungsloser Raumeindruck mit wenig farblichen Kontrasten, jedoch starker räumlicher Wirkung. Von der Schülerin ist im Filmbild nur der Kopf zu sehen, alles andere wurde in dieser Bildkomposition ›abgeschnitten‹. Und von ihrem Kopf scheint lediglich der Umriss von Bedeutung zu sein, weniger dessen persönlichkeitsspezi¿sche Merkmale. Selbst ihr Mund, in dessen Richtung das Mikrophon zeigt und durch den die Horizontlinie verläuft, ist kaum zu erkennen. Auch das Mikrophon als visueller Hinweis auf die akustische Dimension des Films ist abgedunkelt, es wird jedoch durch LichtreÀexe akzentuiert und erscheint dadurch stärker fokussiert als die Schülerin. Durch die Mikrophonbewegung auf sie zu wird deutlich, dass diese nicht aus Eigeninitiative zu reden beginnt, sondern dass sie dazu aufgefordert wird. Der Halter des Mikrophons wird hier nicht sichtbar, und so bekommt die ›Inter‹-Aktion dieses ›Inter‹-Views einen sehr einseitigen Charakter: Die Interview-Führende bleibt unerkannt im Off, während die Befragte ins Bild geholt wird. Der Asymmetrie hinsichtlich der Steuerung steht damit ein umgekehrtes Verhältnis bezüglich der Sichtbarkeit der Betroffenen gegenüber: Der steuernde Part bleibt unsichtbar, während der gesteuerte Part ins Rampenlicht geholt wird (vgl. Kap. 4.6 und 6.2).
Der Text zum Filmbild Die einleitende Frage des Textes bestätigt, was das Bild an sich bereits zum Ausdruck bringt: Die Person im Bild redet nicht aus eigener Initiative. In dem Moment, in dem die Worte einsetzen, bewegt sich das Mikrophon von links unten ins Bild auf die Schülerin zu, die vorher schon bereitstand, wobei die Aufforderung Wie ¿ndest du die SMV? aus dem Off kommt. Der Hauptakzent dieses Satzes liegt auf dem Buchstaben V und nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, auf dem du. Auffällig ist außerdem, dass die Satzmelodie (Prosodie) nicht die Form
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einer Frage hat (mit einer Hebung der Stimme am Ende), sondern eher die eines Befehls. Von der Befragten sieht man zwar die Silhouette ihres Kopfes, aber ihr Gesicht bleibt auch dann weitgehend im Dunkeln, als sie spricht. Ihre persönliche Identität tritt also sowohl sprachlich als auch optisch hinter ihre Funktion als Interviewpartnerin. Also ich ¿nd’, es ist eine tolle Idee, weil früher hatten die Schüler überhaupt nichts zu sagen und heute gibt es sogar schon eine Schülermitverwaltung. In ihrer Antwort zieht die Sprecherin einen Vergleich zwischen damals und heute. Aber anstelle einer direkten Weiterführung des begonnenen Vergleichs (z.B. früher hatten sie gar nichts zu sagen – heute dürfen sie mitreden) wechselt sie die Ebene: Sie führt nicht die heutigen Möglichkeiten der Schüler, etwas zu sagen oder mitzugestalten ins Feld, sondern sie verweist lediglich auf eine Institution, nämlich die Schülermitverwaltung. Sie bezeichnet die SMV als eine Idee und stellt sie damit, vom Wortsinn her, als einen reinen Begriff bzw. gedanklichen Entwurf dar, der erst noch mit Realität und Anschauung gefüllt werden müsste, und geht mit keinem Wort auf konkrete Erscheinungsformen oder Wirkungen dieser Idee ein. Was die Interviewte als »toll« bewertet, bleibt dadurch letztlich nebulös. Die reaktionsschnelle und zügige Antwort (ohne Füllwörter oder Unterbrechungen) lassen den Eindruck entstehen, dass der Entwurf für diesen Beitrag bereits (mental oder in Textform) vorlag und nicht spontan aus der Situation entwickelt wurde. Dankeschön! [aus dem Off] Tonfall und Sprechtempo des »Dankeschön« machen deutlich, dass der Beitrag der Schülerin Àott abgehakt wird. Es erfolgt keine weitere Rückfrage oder keinerlei Aufforderung zur Konkretisierung der Antwort, obwohl das kurze Statement über die bloße Feststellung hinaus, dass es heute eine SMV gibt (was bereits aus der Frage hervorging), kaum weiteren Informationsgehalt besitzt. Offensichtlich genügte das Prädikat »toll« (eine tolle Idee), um der gestellten Frage Genüge zu tun. Insbesondere das Requisit des Mikrophons weist diese Szene als ein Interview oder eine Umfrage aus, aber gleichzeitig bestätigt die Art der Gesprächsführung das, was bereits durch die Abwesenheit des Interviewers und die Unkenntlichkeit der Interviewten zum Ausdruck kam: Es handelt sich hier weder um eine echte Frage noch um einen Dialog oder ein Gespräch, in dem es um eine tatsächliche persönliche Stellungnahme im eigentlichen Sinne geht. Diese sehr einseitig in Szene gesetzte sprachliche Interaktion erscheint lediglich durch die
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äußere Form der Darstellung als Interview: durch das Requisit des Mikrophons, die grammatikalische Konstruktion der Frage und durch die eine persönliche Stellungnahme suggerierende Eröffnungsformulierung der Antwort (Also ich ¿nd’ …). Hier wird ein Kontrast bzw. eine Widersprüchlichkeit sichtbar zwischen dem Wesen dieses Wortwechsels und dessen vordergründiger Erscheinung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Filmbildes (ohne Ton) stand der anstaltsförmig charakterisierte Gang. Der Kopf der Person im Vordergrund wirkte in diesem Zusammenhang eher störend oder in gewisser Weise ›aufgesetzt‹. Nimmt man nun den Tonraum des Films hinzu, so verschiebt sich zwar die Aufmerksamkeit hin zu dem Gesprochenen (und damit auch zur Sprecherin), aber dieser Wortwechsel selbst fügt sich in seinem einseitigen Charakter und seiner Orientierung an der (äußeren) Darstellungsform wiederum stimmig in die Kulisse des dominanten anstaltsförmigen Hintergrunds ein. In dieser einseitigen Orientierung an der Form zeigt sich gleichzeitig eine Homologie zur vorangegangenen Szene, in der die SMV als eine Pinnwand – also unter einem rein ›formalen‹ Aspekt – vorgestellt wurde.
Zusammenfassende Interpretation von Bild und Text Das Lob auf die Mitsprachemöglichkeiten der heutigen Schüler durch die SMV wird in Form eines gestellten Interviews zur Sprache gebracht. Dabei handelt es sich hier um das einzige erkennbar inszenierte Interview in diesem Film, bei dem eine der Filmproduzentinnen in die (¿lmische) Rolle einer Schülerin schlüpft, die befragt wird und auf diese Weise den vom Produzententeam erwünschten Text spricht (vgl. Kap. 4.3.3: Vergleich der Interviews). Die Fragwürdigkeit des ›Interviews‹, die bereits in der gesonderten Betrachtung von Bild und Text auf¿el, wird somit auf der performativen Ebene validiert. Die ›freie‹ Meinungsäußerung in der SMV wird hier sozusagen durch eine Art von (vermutlich unfreiwilliger) Parodie einer ›freien‹ Meinungsäußerung konterkariert. Dabei kommt auch das, was sich im Bild schon im Tausch von Vorder- und Hintergrund zeigte, auf der performativen Ebene noch einmal zum Ausdruck: Die persönliche Meinung der Schülerin ist nur vordergründig wichtig. Sie wird nicht deshalb gefragt, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, sondern um mit der Inszenierung einer Meinungsäußerung das zur Aufführung zu bringen, was laut Drehbuch gesagt und gezeigt werden soll. Diese (vordergründige) ›performative Validierung‹ des Gesagten durch die Form des Interviews (die Bestätigung der Möglichkeit der Meinungsäußerung durch die gleichzeitige Enaktierung einer Meinungsäußerung) gerät jedoch durch die Dar-
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stellung einer bloßen »Pose« (Imdahl)57 eines Interviews (vgl. Kap. 4.3.3) letztlich zu einer Karikatur einer persönlichen Meinungsäußerung. Diese ›Spiel‹-Szene bewegt sich bezüglich ihres Fiktionalitätsmodus (vgl. Kap. 4.1, F 38) genau genommen zwischen der dokumentierenden Ebene des Films (bzgl. des Genres der Dokumentation) und zwischen den ›Theater‹-Szenen: Hier liegt eigentlich eine als Dokumentation präsentierte ›Theater‹-Szene vor. Neben diesem Oszillieren zwischen Dokumentar¿lm und Spiel¿lm vollzieht sich auch auf der Ebene der Filmnarration ein Oszillieren zwischen diegetischer und mimetischer Narration: Während sich vor den Augen des Zuschauers einerseits ein Interview abspielt, dem er zuschaut und dabei etwas über die SMV erfährt (mimetische Narration), wird er andererseits (durch die Abwesenheit der Interviewerin und durch die sog. subjektive Kameraführung, die ihn mit den Augen der Interviewerin sehen lässt) von der Akteurin als Gesprächspartner angesprochen (diegetische Narration). Die Rolle der Akteurin oszilliert dabei ihrerseits zwischen zwei Möglichkeiten: Einerseits erscheint sie in der Rolle der moderierenden Filmproduzentin (in der sie auch sonst des Öfteren im Film auftritt), die ihre Meinung direkt äußert, andererseits schlüpft sie als Schauspielerin in die Rolle einer Schülerin und äußert ihre Meinung nur indirekt, vermittelt über diese (¿lmische) Schüler-Rolle. Indem sie sich hier hinter die Schüler-Rolle zurückzieht, distanziert sie sich selbst dabei gleichzeitig von dem explizit positiven Statement, das sie über die SMV abgibt. Dabei handelt es sich hier allerdings um eine sehr subtile, latente Form von Rollendistanz im Gegenüber zu jener expressiveren Form, die an anderer Stelle des Films noch sichtbar werden wird (vgl. Kap. 4.4.3). Die SMV, die sie explizit als »toll« bezeichnet, wird durch die Art dieser Gestaltung implizit in Frage gestellt. Man könnte diese Orientierung unter Rückgriff auf die Worte der Schülerin und mit Blick auf die Darstellung der SMV als Pinnwand (Kap. 4.3.1) etwa folgendermaßen zusammenfassen: Früher hatten die Schüler überhaupt nichts zu sagen und heute – heute haben sie letztlich auch nicht viel zu sagen, aber dafür gibt es eine neue institutionalisierte Form der Mitsprache, die wenigstens den Eindruck erweckt, als hätten sie etwas zu sagen. Hier wird eine normative Programmatik ins Spiel gebracht, der für die Schu57 Imdahl unterscheidet zwischen einer »Pose« und einer »Gebärde« wie folgt: »Eine Gebärde vollzieht man selbst, um etwas von sich selbst aus oder gar sich selbst auszudrücken. Gebärde ist körpersprachlicher Selbstausdruck, Pose dagegen Fremdausdruck: Pose ist auferlegt, sie entpersönlicht, sie entindividualisiert denjenigen, der sie vollzieht. Die Pose ist eine falsche, eigentlich unwirkliche Ausnahmesituation, sie ist Selbstmanipulation oder Manipulation durch einen anderen.« (Imdahl, 1996, S. 575)
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le der Gegenwart Relevanz zugesprochen wird: Die Schüler heute sollen die Möglichkeit bekommen, ihre persönliche Meinung einzubringen und an der Gestaltung der Schule beteiligt werden. Gleichzeitig wird hier eine Diskrepanz sichtbar zwischen dieser neuen Programmatik der Gegenwart und der Alltagspraxis, wie sie sich hier dokumentiert: Die Mitsprachemöglichkeiten erscheinen als weitgehend vordergründig und durch ihre institutionelle Überformung stark eingeschränkt bis hin zur karikierenden Deformation. Um diese aus der gegenwärtigen Programmatik entstehende Diskrepanz zur Praxis (die es früher aufgrund der anders gearteten Programmatik noch nicht in dieser Weise gab) zu überbrücken, spielen die Schüler nun eine Art Rollenspiel, in dem die Ideale der aktuellen Programmatik nicht nur verbalisiert werden (im Formulieren von Erwünschtem), sondern zusätzlich in Form der entsprechenden Pose ›stilecht‹ zur Aufführung gebracht werden, indem eine Schülerin ›engagiert‹ wird (vgl. Kap. 6.2), die im Rahmen eines ›Interviews‹ ihre ›persönliche‹ Meinung beisteuert. Hier vollzieht sich eine Idealisierung (vgl. Kap. 2.2), die – im Sinne Goffmans – zeremonielle Züge aufweist: »[I]n dem Maße, in dem die in Darstellungen nahe gelegte Sicht als Wirklichkeit akzeptiert wird, [haben] diese Darstellungen Züge einer Zeremonie.« (Goffman, 2003, S. 36; H. v. A. B.). Der Anspruch, der dabei an die Persönlichkeit des Engagierten (des Interviewpartners) gestellt wird, ist hier ein in sich widersprüchlicher: Einerseits ist dessen Persönlichkeit zur Legitimation des inszenierten Ideals gefragt (es scheint wichtig zu sein, dass eine Interviewpartnerin als ›Zeugin‹ die gewünschte Meinung äußert), andererseits stellt die Reduktion der Person auf die Funktion eines Sprachrohrs gleichzeitig einen Akt der Entpersönlichung dar. Das implizite Wissen der Produzentinnen um diese Widersprüchlichkeit dokumentiert sich in dieser Szene des Films ihrerseits wiederum auf eine doppeldeutige Weise: Die Schülerin, die hier dazu engagiert wird, ihre ›persönliche‹ Meinung beizusteuern, erscheint einerseits durch die Reduktion auf ihren Kopf und dessen Silhouette als entpersönlichter, auswechselbarer Statist. Andererseits dokumentiert sich hierin aber auch gleichzeitig ein Rückzug aus der Fokussierung auf die eigene Persönlichkeit (ein Rückzug aus der ›Sichtbarkeit‹, vgl. Kap. 4.2.3 und 4.2.5), der sich in dem Rückzug hinter die (¿lmische) Schüler-Rolle fortsetzt, durch die hier eine Distanzierung des persönlichen Selbst ermöglicht wird. Die Produzentin entzieht sich damit einer persönlichen Stellungnahme durch den Bezug auf ihre Existenz als Schülerin. Durch dieses Zeremoniell wird einerseits auf der OberÀächenstruktur – durch die Darstellungsform – die normative Programmatik zur Geltung gebracht, während die Tiefenstruktur dieses Rollenspiels eben diese Programmatik konter-
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kariert. Dabei gibt es hier keine Indizien dafür, dass diese Diskrepanz absichtlich (intentional) herausgestellt wurde (es gibt z.B. keine Anzeichen von Ironie od. Ä.). Aufgrund der Homologien, die sich bezüglich dieser Diskrepanz auf den unterschiedlichen ¿lmischen Ebenen dieser Szene (in Bildgestaltung, Text und szenischer Choreogra¿e) zeigen, lässt sich schließen, dass es sich hier offensichtlich um eine habitualisierte Struktur handelt.
Die beiden Szenen Pinnwand und ›Interview‹ Aus der simultanen Gegenüberstellung der (lebendigen) Reporterin mit der (leblosen) Pinnwand namens »SMV« (vgl. Kap. 4.3.1) wird hier im weiteren Filmverlauf eine sequentielle Kontrastierung der als authentisch dargestellten Reporterin (S 7.1) mit der ›Pseudo-Interviewten‹ (S 7.3): Während sich die Reporterin frei durch den Raum bewegt, gestikuliert und frei spricht, bleibt dagegen die ›Interviewte‹ wie angewurzelt hinter einer Barriere (TürÀügel) stehen, spricht auf Aufforderung, bleibt in ihrer Körperlichkeit auf den Kopf reduziert, ist als Individuum kaum zu identi¿zieren (Gegenlicht / Silhouette) und spielt ein Spiel mit, das sie selber marionettenhaft erscheinen lässt. Dabei distanziert sich die Reporterin (insbesondere durch das Requisit des Mikrophons) von der schulischen Sphäre, während die ›Interviewte‹ ganz von dieser Sphäre umfangen bleibt. Und so bestätigt sich auch in dieser Gegenüberstellung die Verortung des positiven Gegenhorizonts jenseits der Sphäre der Schule (vgl. Kap. 4.3.1 und 4.2.6). Auffällig an dieser sequentiellen Kontrastierung ist dabei auch die Art des Übergangs zwischen diesen beiden Szenen, durch die ein starker Bruch im Filmverlauf entsteht (S 7.2, 2:08–2:10): Am Ende der Szene Pinnwand wird zweimal zu einem Rechtsschwenk angesetzt, der jedes Mal wieder zurückschnalzt. Dazu spricht eine
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gedämpfte Stimme aus dem Off: Aus! – Aus! Dies wirkt wie ein Übergang, der nicht gelingen will und anstelle des nahtlosen Schwenks wird die nachfolgende Szene ›Interview‹ schließlich durch Schnitt / Montage an die vorherige angefügt. Die Unvereinbarkeit zwischen der Authentizität verkörpernden Reporterin und der vorgeführten ›Befragten‹ wiederholt sich damit auch auf der Ebene der Montage des Films.
4.3.3 Die Szene Baby Der Kontext In Bezug auf den Gesamtaufbau des Films steht die Sequenz »Im Freien« (S 10) in der Mitte des Films58, da sie symmetrisch umrahmt wird von jeweils zwei Szenen-Paaren vorher und zwei nachher (vgl. Kap. 4.2.6). Neben ihrer exponierten Stellung repräsentiert diese Sequenz darüber hinaus den impliziten positiven Gegenhorizont zu den ›Theater‹-Szenen, die selber vollständig dem Raum der Schule verhaftet bleiben (vgl. Kap. 4.2.6). Innerhalb dieser Interviews im Freien nimmt nun die Szene Baby wiederum eine zentrale Stelle ein – sozusagen als ›Mitte der Mitte‹ des Films, da sie symmetrisch umrahmt wird von einem Interview vorher (zur Schule im Damals: mit zwei Erwachsenen) und einem Interview danach (zur Schule im Heute: mit einem Schüler).59 Im ›Interview‹ mit dem Baby wird dabei in gewisser Weise die dritte Zeitdimension in dieser Reihe thematisiert: die Zukunft. Im Unterschied zu den beiden anderen Interviews geschieht dies allerdings auf eine spielerisch ironisierende, beinahe satirische Weise.
Das Filmbild Der größte Teil des Bildes (Abb. 28) wird vom Ausschnitt eines Kinderwagens eingenommen, in dem ein Säugling liegt. Im Mittelgrund des Bildes, im Goldenen Schnitt positioniert und durch den Schärfenbereich des Bildes fokussiert, wird das Gesicht des Säuglings ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Insbesondere im Kontrast zum Filmbild der direkt vorangegangenen Situation (S 10.5, Abb. 27)60 58 Dies trifft nicht nur in Bezug auf die Struktur des Filmaufbaus zu, sondern auch auf den zeitlichen Ablauf: Die Szene läuft in der Zeit 4:01–5:32 Min. bei einer Gesamtlänge von knapp 10 Min. (Szene Baby: 5:12–5:20). 59 Hierbei setzt sich die Struktur der Paare, die an anderer Stelle schon erwähnt wurde (Kap. 4.2.6), fort und führt dabei auch den Vergleich Damals – Heute weiter, der diesen Film auf der expliziten (propositionalen) Ebene wie ein roter Faden durchzieht. 60 Text der Interviewerin: Nein, die hier gehen noch nicht in die Schule. Aber vielleicht bald?
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tritt die überdimensioniert wirkende ›Verpackung‹ dieses Säuglings deutlich hervor: Körper und Hände verschwinden völlig unter der voluminösen Decke und lediglich das Gesicht (als zentrales Identi¿kationselement der Persönlichkeit) lugt hervor, aber auch dieses ist teilweise noch verdeckt. Dabei wird es allerdings gleichzeitig durch die mehrfache Umrahmung (konzentrische Linien in der Mütze, die sich in Kapuze und Verdeck des Kinderwagens fortsetzen) zusätzlich fokussiert. So verschwindet einerseits die Person fast völlig in der Umhüllung und wird doch andererseits gerade dabei in den Mittelpunkt gerückt. Durch das aufwändige Eingepacktsein und den Schnuller im Mund des Babys kommt außerdem die massive Einschränkung seiner Handlungsspielräume und vitalen Lebensäußerungen zum Ausdruck. Verstärkt wird dies noch durch die Linienführung der karierten Stoffdecke und der gestreiften, sich kreuzenden Tragegriffe. Zusammen mit den konzentrischen Linien um das Gesicht des Säuglings entsteht so der Eindruck eines mehrfachen Umsponnenseins und lässt die Verpackung kokonartig erscheinen. Insgesamt wirkt diese Umhüllung wie ein fürsorgliches und komfortables ›Gefesselt-und-geknebelt-Sein‹. Im Vordergrund des Bildes, im rechten unteren Viertel der BildÀäche, ist das
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pinkfarbige Mikrophon zu sehen, das von einer Hand ins Bild in Richtung des Säuglingsgesichts gehalten wird. Die Person selber, die dieses Mikrophon hält, bleibt zunächst unerkannt außerhalb des Bildes. Sie wird erst am Ende dieser Szene durch einen Kameraschwenk lediglich in Fragmenten und nur sehr kurz sichtbar. Das Mikrophon nimmt von seiner Àächenmäßigen Ausdehnung her etwa ebenso viel Raum ein wie das Gesicht des Babys. Akzentuiert wird es durch seine Farbkraft (das kräftige Pink) und aufgrund seines farblichen Gegensatzes im Gegenüber zu den dominierenden Blautönen im Bereich des Kinderwagens. Dadurch wird es sowohl zum zweiten ›Hauptakteur‹ als auch zum Antipoden in diesem Bild. In Bezug auf das Mikrophon erscheint allerdings eher der Schnuller (weniger der Säugling selbst) als dessen Gegenpart, denn einerseits ist die Blickrichtung des Säuglings nicht auf das Mikrophon gerichtet, sondern darüber hinweg auf dessen (im Bild nicht sichtbare) Trägerin. Andererseits erscheinen Schnuller und Mikrophon auch deswegen als ein aufeinander bezogenes Paar, da sie beide lediglich Gegenstände bzw. Requisiten sind. Dazu kommt ihre Verbundenheit durch die Dimension der Farbe: Den beiden unterschiedlichen Farbtönen ist gemeinsam, dass sie im Common Sense die typischen Babyfarben rosa und hellblau für die beiden Geschlechter repräsentieren. In Schnuller und Mikrophon stehen sich dabei zwei Gegenstände gegenüber, die sich funktional zueinander kontraproduktiv verhalten: Das Mikrophon, das zum Reden auffordern möchte, und der Schnuller, der demgegenüber verbale Äußerungen eher hemmen oder unterdrücken soll. Beide Gegenstände – Schnuller und Mikrophon – besitzen zudem über ihre reine Funktionalität hinaus auch noch jeweils konträre symbolische Bedeutungen: Das Mikrophon tauchte bereits an anderer Stelle als Metonym für eine eigenständige und freie Meinungsäußerung auf (vgl. Kap. 4.3.1: Szene Pinnwand) und unterstellt damit gleichzeitig eine dementsprechende Kompetenz und einen gewissen Reifegrad. Der Schnuller steht demgegenüber eher für das Unmündige und für fehlende Kompetenz und Reife. Und so deutet sich bereits im funktionalen sowie im symbolischen Gehalt dieser beiden Gegenstände das Paradox an, das in dieser Szene performativ entfaltet wird: Dem Aufforderungscharakter zu einer eigenständigen verbalen Äußerung, der durch das entsprechend ausgerichtete Mikrophon in Szene gesetzt wird, steht nicht nur die Unmündigkeit des Säuglings gegenüber, der weder die sprachliche Kompetenz besitzt, sich artikulieren zu können, noch die kognitive Kompetenz, überhaupt zu verstehen, worum es hier gehen könnte, sondern dessen ›Un-Münd-igkeit‹ wird hier in besonderer Weise durch das Requisit des Schnullers akzentuiert, der zu allem ÜberÀuss auch noch den Mund des Säuglings verstopft. Durch die komplementäre Zuordnung dieser beiden aufeinander bezogenen
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Gegenstände, in deren paradoxer Kombination die satirische Zuspitzung dieses Bildes besteht, rücken sie dramaturgisch ins Zentrum. Dadurch tritt der Säugling, der von der Bildkomposition her fokussiert ist und optisch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, aus dramaturgischer Perspektive in den Hintergrund und erscheint somit insbesondere in seiner Funktion als ›Schnuller-Träger‹. So ist das optisch fokussierte Subjekt in diesem Bild gleichzeitig einerseits Hauptperson (bzgl. der planimetrischen Struktur) und andererseits ›Nebenperson‹ (bzgl. der szenischen Choreogra¿e) und steht damit letztlich als eine Art auswechselbarer Funktionsträger im Zentrum. In dieser Übergegensätzlichkeit zeigt sich eine Homologie zu jener Widersprüchlichkeit, die in Bezug auf die Bedeutung der Person der befragten Schülerin in der Szene ›Interview‹ sichtbar wurde (Kap. 4.3.2).
Der Text zum Filmbild Hallo! – Wie ¿ndest du-Freust dich auf die Schule? – Ja! – Freut sich auch schon ganz arg. Während der Kinderwagen mit dem Säugling ins Bild kommt (Kameraschwenk), fährt das pinkfarbige Mikrophon im Vordergrund von rechts ins Bild. Bei den Worten Hallo! – Wie ¿ndest du ...? bewegt es sich auf den Kopf des Säuglings zu. Der begonnene Satz wird jedoch abgebrochen, wobei der RedeÀuss trotzdem fast nahtlos in einer veränderten Fragestellung weitergeführt wird: Freust dich auf die Schule? Währenddessen fährt die Kamera nach vorne, sodass man das Gesicht des Kindes besser sehen kann und nun auch den Schnuller erkennen kann, den es im Mund hat. Nach einer kurzen Pause beantwortet die Interviewerin die gestellte Frage selber aus dem Off: Ja! Nach einer weiteren kurzen Pause ergänzt sie an den Zuschauer gerichtet: Freut sich auch schon ganz arg. Die Kamera schwenkt dabei in Richtung der Interviewerin, während das Mikrophon ebenfalls in die Richtung ihres Kopfes wandert. Von ihr selber werden allerdings nur ihr Kinn, der Mund und Teile ihres Haars sichtbar. Der Text stellt insgesamt einen Monolog dar, dessen erster Teil darin besteht, einen Dialog zu mimen: Hallo! – Wie ¿ndest du-Freust dich auf die Schule? – Ja! Die Frageform zielt auf eine Antwort ab. Nachdem diese jedoch vom Fragenden selbst gegeben wird, bleiben Rede und Antwort reduziert auf einen singulären Akt ohne darauf folgenden ›Re-Akt‹, aus dem ein ›Inter-Akt‹ entstehen würde, und es kommt zu keinem »social act« im Sinne Meads (1934/1967). Nachdem Akt und ›Re-Akt‹ von ein und derselben Person stammen, ergibt sich anstelle des ›InterAktes‹ lediglich ein zirkulärer, in sich abgeschlossener Akt, bei dem der of¿ziell
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Angesprochene nur zum Anlass wird, aus der ›Kommunikation‹ selbst jedoch ausgeschlossen bleibt. Die zunächst begonnene Frage Wie ¿ndest du ... wird abgebrochen. In Bezug auf den Adressaten erscheint sie als völlig deplaziert aufgrund dessen fehlender Lebenserfahrung sowie der fehlenden sprachlichen und kognitiven Möglichkeiten und wirkt deshalb wie eine unreÀektierte stereotype Floskel, die der Interviewerin sozusagen ›rausrutscht‹, ins Leere läuft und nicht mehr weitergeführt wird. Genau diese Formulierung in eben derselben Kombination mit der hier vollzogenen Geste der Mikrophonführung auf den Angesprochenen hin tauchte bereits im ›Interview‹ zur SMV auf (vgl. Kap. 4.3.2: Wie ¿ndest du … ?). In dieser Kombination von Wort & Geste erscheint sie dadurch wie eine sich gedankenlos wiederholende ›performative Hülse‹, die zum spontanen, vor-reÀexiven (und damit zum habitualisierten) ›Vokabular‹ der Akteurin zu gehören scheint. Das Auffällige an dieser performativen Einheit (Wort & Geste) ist, dass sie zwar von Wortsinn und Gestus her an einen Adressaten gerichtet zu sein scheint, sich aber als Floskel offensichtlich so weit verselbständigt hat, dass der Adressat dabei wie ein nahezu austauschbarer Platzhalter fungiert. Das sprachliche Pendant zu dieser Art der ›Frage‹ (Wie ¿ndest du ...?) zeigt sich im Titel dieses Films »Melanchthon – ¿nd ich super«. Beide stellen einen Akt in den Raum, der von seiner sprachlichen Formulierung her zwar auf einen Interakt hin angelegt ist, jedoch in sich ein singulärer Akt bleibt. Der Filmtitel liefert hierbei allerdings die umgekehrte Version: Anstelle einer ›Frage‹ wird dort eine ›Antwort‹ (bzw. Stellungnahme) gegeben, nach der niemand direkt gefragt hat, die sich als Redewendung verselbständigt hat und dadurch ebenfalls zur Floskel geworden ist (vgl. Kap. 4.5). Die Weiterführung der abgebrochenen Frage (Freust dich auf die Schule?) ist in Bezug auf den Adressaten etwas weniger deplaziert, denn nun geht es um etwas, das ihn tatsächlich eines Tages betreffen könnte. Allerdings kommt genau in diesem Moment der Schnuller im Mund des Säuglings ins Bild. Der paradoxe Gegensatz zwischen der mehrschichtigen Unmöglichkeit des Säuglings, sich zu äußern, und dem auf ihn gerichteten Mikrophon kommt bereits im Bild an sich schon sehr eindrucksvoll zum Ausdruck und setzt sich nun in der an ihn gestellten Frage fort. Inhaltlich betrachtet handelt es sich hier um eine im Common Sense häu¿g verwendete Small-Talk-Floskel aus Gesprächen zwischen Erwachsenen und VorSchulkindern, die bereits sprechen können. Die fehlende Sprachkompetenz des Kindes hier, die durch den Schnuller in besonderer Weise akzentuiert und überzeichnet wird, lässt demgegenüber eine humoristisch-satirische Stilisierung dieser
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Floskel erkennen. Schließlich wird der begonnene ›Dialog‹ konsequent weitergeführt in der monologischen Selbstbeantwortung der gestellten Frage (Ja!). Der daran anschließende zweite Teil der Rede (Freut sich auch schon ganz arg.) richtet sich an einen Dritten (als eine Art ›Öffentlichkeitsarbeit‹) und bestätigt die selbst gegebene Antwort durch eine weitere Unterstellung, die im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf des Betroffenen hinweggeht: Das Mikrophon, das im Bild stellvertretend für die Person der Sprecherin auf den ›Gesprächspartner‹ gerichtet war, wird hier zur Sprecherin selber geführt, die sich kurz dem Zuschauer zuwendet und damit sowohl an dem Betroffenen vorbei als auch über ihn hinwegspricht. Die Sprecherin selbst kommt dabei nur als ›sprechender Mund‹ ins Bild (5:19).
Komparative Analyse und zusammenfassende ReÀexion Im Folgenden soll die Szene Baby zunächst im Gegenüber zum ›Interview‹ zur SMV und danach im Kontext der beiden Interviews im Freien (S 10) reÀektiert werden. In der Szene Baby gibt es, ähnlich wie beim ›Interview‹ zur SMV, eine Diskrepanz zwischen der vordergründigen Darstellungsweise der Befragung und der dieser Befragung inhärenten Struktur (vgl. Kap. 4.3.2): Der ›Dialog‹, der hier gemimt wird, ist eigentlich ein Monolog. Der Gefragte wird dabei gefragt ohne tatsächlich ›gefragt‹ zu sein. Dabei zeigte sich in beiden Szenen eine ähnliche Struktur bezüglich dieser Widersprüchlichkeit: Einerseits steht der ›Gefragte‹ im Zentrum der Aufmerksamkeit und scheint wichtig zu sein, andererseits fungiert er dabei jedoch gleichzeitig als eine Art auswechselbarer Platzhalter, dessen eigene Persönlichkeit nebensächlich erscheint und der insbesondere zur Aufrechterhaltung des in Szene gesetzten Zeremoniells (vgl. Kap. 4.3.2) dient. Während allerdings die Diskrepanz zwischen der äußeren Darstellungsform und der dieser Darstellung inhärenten Struktur in der Szene ›Interview‹ latent bleibt, besteht der Witz der Szene Baby gerade darin, dass diese Diskrepanz ganz offensichtlich (ironisierend) in Szene gesetzt wird. Insofern könnte man diesen Akt als eine Art ›Meta-Zeremoniell‹ bezeichnen.61 Dagegen wurde 61 Bohnsack erläutert am Beispiel eines Werbefotos die Differenz von Stilisierung und Pose auf der einen Seite und der Meta-Stilisierung oder Meta-Pose auf der anderen Seite: Zu einer MetaStilisierung oder Meta-Pose kommt es dann, wenn eine Pose oder Stilisierung als solche ihrerseits noch einmal ironisierend gebrochen wird. Vgl. Bohnsack 2001: 332f. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen Zeremoniell und Meta-Zeremoniell beschreibt einen ähnlichen Zusammenhang, da es sich bei einem Zeremoniell, ähnlich wie bei einer Pose, nicht um
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in der Szene ›Interview‹ das Zeremoniell des Interviews völlig ernsthaft dargeboten, ohne jeglichen Ansatz einer ironischen Brechung, die das Zeremoniell grundsätzlich in Frage gestellt hätte. In dieser Hinsicht ähnelt nämlich das Zeremoniell der »Pose« (nach Imdahl), die nicht durchschaut werden darf, um die Wirkung, die durch sie erzielt werden soll, nicht zu zerstören62 und um den idealisierenden Eindruck des Als-Ob, der durch sie in Szene gesetzt wird, nicht in Frage zu stellen. Solange das Zeremoniell als solches aufrechterhalten werden soll, darf deshalb nichts die Ernsthaftigkeit des Geschehens in Frage stellen. Die Distanzierung der Akteurin in der Szene ›Interview‹ blieb dementsprechend noch latent genug. Sie bediente sich keinerlei expressiver Mittel von Rollendistanz (wie z.B. der Ironisierung, des Scherzes oder eines demonstrativen Desinteresses; vgl. Kap. 2.2), sondern spielte ihre Rolle recht engagiert. In dem Ausmaß ihres Engagements kam zwar deutlich der Vorderbühnen-Charakter ihrer Äußerung zum Ausdruck – und damit das Spiel der ›Rolle einer engagierten Schülerin‹63 – aber gleichzeitig wurde dieses Engagement auch nicht derart übertrieben, sodass es zu einer expressiven Rollendistanz geraten wäre. Auf diese Weise wurde, trotz Distanzierung des persönlichen Selbst, das Zeremoniell an sich in der Szene ›Interview‹ aufrechterhalten. einen (körpersprachlichen) Selbstausdruck, sondern primär um einen Fremdausdruck handelt. Indem nun der Fremdausdruck seinerseits als solcher (selbstbestimmt) thematisiert wird, verliert die Pose bzw. das Zeremoniell sein eigentliches Wesen und damit seine Wirkung. Dieser Differenzierung liegt die Unterscheidung Imdahls zwischen »Pose« und »Gebärde« zugrunde (vgl. F57). 62 »Wir sind – heutzutage – umgeben von Posen in der Werbung. Ein Arrangeur oder ein Fotograf, der das Modell in eine Pose versetzt, ist nicht interessiert an der Individualität des Modells, sondern an der möglichst wirksamen Exposition der Dinge, für die geworben wird – Kleider oder Badeanzüge oder was es auch sei. Der Posierende posiert im Dienste der zum Kauf angebotenen Ware. Aber die Werbung wirbt mit Posen, die als Posen auch durchschaut werden dürfen. Ein ironisches Verhältnis zu den Posen der Werbung ist zwar nicht unbedingt erwünscht, es bleibt aber erlaubt. Anders verhält es sich dann, wenn die Pose ideologischer Werbung dienstbar ist, wenn also das Individuum erst gar nicht zu seinem Recht kommt und auch nicht kommen darf in Hinblick auf ideologisch fundierte Imperative. Dann nämlich soll die in der Pose enthaltene Entindividualisierung des Posierenden oder des in Pose Versetzten keinesfalls durchschaubar sein als ein mögliches Als-ob« (Imdahl 1996: 575f). 63 Die Produzentin Bf zeigt sich in ihren Rollen innerhalb des Films in sehr unterschiedlichen Ausprägungsgraden von Engagement. Während sie beispielsweise in den Moderationsszenen auf dem Sofa sehr leger in Erscheinung tritt (S 8.1; S 8.4; S 9.1), legt sie als Interviewte und insbesondere in der Szene »Tür 2« (S 13.2) als Vertreterin einer »persönlichen Meinung« ein prätentiöses, fast schon gekünsteltes Engagement an den Tag (vgl. dazu auch Kap. 4.4.5).
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In der Szene Baby dagegen wird in der scherzhaften Ironisierung des Zeremoniells eine Distanzierung von der Struktur des Zeremoniells als solchem zum Ausdruck gebracht. Hier bleibt also die Rollendistanz nicht mehr dezent innerhalb des Zeremoniells – wie in der Szene ›Interview‹– sondern hier vollzieht sich eine Distanzierung von dieser Struktur als solcher. Durch die Ironie wird der rein zeremonielle Charakter dieses Aktes unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Dies geschieht seinerseits wiederum auf eine unprätentiöse und spontan wirkende Weise64 und trägt damit den Charakter einer selbstbestimmten »Gebärde« (im Gegensatz zum Posenhaften in der Szene ›Interview‹)65. Somit steht dieser Akt in deutlichem Kontrast zur Fremdbestimmtheit der inszenierten ›Selbstbestimmtheit‹ in der zeremoniellen Darstellung des ›Interviews‹. Im Fokus dieser Distanzierung gegenüber der Struktur des Zeremoniells steht dabei weniger die eingeschränkte Möglichkeit der Mitsprache, sondern eher die paradoxe Einforderung von Mitsprache in Form eines ungefragten Eingebundenwerdens in eine Kommunikation, die letztlich monologische Züge trägt. In dem hier karikierten Interaktionssystem wird der Gefragte nur um des Gefragtwerden willens gefragt und dabei ›vorgeführt‹, ohne selbst die (Wahl-) Möglichkeit zu haben, sich dem zu entziehen. Obwohl er mit seiner Person ganz im Zentrum dieser ›Vorführung‹ steht, kommt es doch gleichzeitig nicht wirklich auf ihn an, sondern wird er hauptsächlich als ›Mitspieler‹ gebraucht. Der heteronome Anspruch auf die Person des ›Gefragten‹ spiegelt sich dabei sowohl in dem Rückzug der Interviewten aus der Sichtbarkeit (im Rückzug auf die Rolle der Schülerin; vgl. Kap. 4.3.2) als auch in der satirisch zugespitzten wehrlosen Vorführung des Säuglings wider. Hier zeigt sich gleichzeitig eine Homologie zu dem Rückzug vor einer überzogenen Fokussierung auf die eigene Person, die als Gemeinsamkeit der ›Theater‹-Szenen (GS 1–4) rekonstruiert wurde (vgl. Kap. 4.2.5). Die Szene Baby ist eingebettet in zwei Interviews, die sich deutlich von dem zeremoniellen ›Interview‹ zur SMV abheben: In beiden treten die Gesprächsleiterinnen als Personen ebenso deutlich in Erscheinung wie die Interviewten. Das Ungleichgewicht bezüglich der Sichtbarkeit zwischen Interviewten und Interviewer, das die beiden Szenen ›Interview‹ und Baby gemeinsam hatten, ist somit aus diesen Begegnungen verschwunden (vgl. Abb. 29a– d). Dabei wird im Gegenüber mit den Erwachsenen (Abb. 29c; S 10.3 und S 10.4) 64 Ein Indiz für diese Spontaneität wäre beispielsweise der unreÀektierte Beginn des Fragesatzes, der abgebrochen wird: Wie ¿ndest du-Freust dich auf die Schule? 65 Zur Differenzierung zwischen »Gebärde« und »Pose«: vgl. Imdahl 1996: 575 (siehe F 57).
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Abb.29a – d
zwar die Thematik des Interviews seitens der Gesprächsleiterin zunächst eng vorgegeben66, allerdings wird dann Raum dafür gegeben, dass sich das Interview in einer Weise entwickeln kann, in der das stereotype Klischee der strengen Schule im Damals, von dem die Schüler ausgingen (und das sie in Szene gesetzt hatten; vgl. Kap. 4.2.2) relativiert wird (Nee, bei mir war des net so. ...). Und auch im Interview mit dem Jungen (Abb. 29d; S 10.8) wird erkennbar, dass er als Gesprächspartner ernst genommen wird: Die Freiheit, tatsächlich sein Thema artikulieren zu können, wird darin deutlich, dass er weder auf die Frage nach den Verbesserungsvorschlägen eingeht noch etwas benennt, das ihm gefällt (diese Alternative enthielt die Gesprächsaufforderung der Interviewerin: Hast du irgendwelche Verbesserungsvorschläge für die Schule oder gefällt dir eigentlich alles?), sondern stattdessen etwas thematisiert, was ihm nicht gefällt (Mir gefällt nicht, dass es soviel Gewalt an der Schule gibt.). Die Interviewerin ihrerseits 66 Wie war denn bei Ihnen früher die Schulzeit? Waren die Lehrer streng?
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unternimmt keinen Versuch, sein Thema abzubiegen, sondern greift es auf, indem sie nachfragt (Bei euch so stark?)67. Die Floskel Wie ¿ndest du …?, die sich in den Szenen Baby und ›Interview‹ als performative Hülse erwies, taucht hier an keiner Stelle mehr auf. Überhaupt wird in diesen beiden Interviews auf Formelhaftes oder Floskelhaftes völlig verzichtet. Ähnlich wie in der Szene Baby gebärden sich die Produzentinnen spontan und unprätentiös. Durch die Vergleiche wird deutlich, dass diese Szenen in einem starken inneren Bezug zueinander stehen. Die drei Interviews im Freien erweisen sich dabei als positiver Gegenhorizont zu dem zeremoniellen Interview im Raum der Schule: die Szene Baby durch die Freiheit zur Distanzierung vom Zeremoniell und die beiden anderen Interviews als Enaktierungen von Gegenentwürfen. So fungiert die Sequenz »Im Freien« (S 10) in diesem Film in doppelter Weise als (impliziter) positiver Gegenhorizont (vgl. Kap. 4.2.6). Dabei repräsentierte sie im Kontext der ›Theater-Szenen‹ – ähnlich wie hier – einen Gegenpol zu einer übermäßigen Fokussierung der Anvisierten (vgl. Kap. 4.2.5) und zum ›Theaterspiel‹ im Raum der Schule (vgl. Kap. 4.2.6). Die Polarität zwischen der Sphäre der Schule und der Sphäre »Im Freien«, die dabei akzentuiert wurde, wird nun noch einmal in der sich hier dokumentierenden Polarität zwischen dem gestellten ›Interview‹ im Raum der Schule und den sich davon absetzenden Interviews in der Sphäre »Im Freien« betont. Bei näherer Betrachtung fällt außerdem auf, dass in dieser Sequenz »Im Freien« (S 10) die Gegenüberstellung der Schule im Damals mit der Schule im Heute, die den expliziten Vergleichshorizont der ›Theater‹-Szenen bildete (vgl. Kap. 4.2), in gewisser Weise fortgeführt wird durch die Interviews zum Damals (mit den Erwachsenen) und zum Heute (mit dem Jungen). Dabei schneidet hier im Freien, jenseits des Raums der Schule, die Schule im Heute – entgegen der explizierten Meinung der Produzentinnen (vgl. Kap. 4.2), aber entsprechend der rekonstruierten impliziten Aussage (vgl. Kap. 4.2.5) – letztlich schlechter ab: Das Stereotyp der strengen, abschreckenden Schule im Damals wird korrigiert und ihre Bedeutung relativiert angesichts der damaligen Zeitereignisse68. Zur Schule 67 Auffällig ist dann allerdings, dass im weiteren Verlauf des Films keinerlei Bezug mehr auf dieses Thema (Gewalt an Schulen) genommen wird, sondern es tabuisiert wird – auch in der Zusammenfassung des Films (»Tür 1«, Kap. 4.4.5), wo es eigentlich der Vollständigkeit halber genannt werden könnte. 68 S 10. 4: Da war die Kriegszeit, da war sowieso alles wirr. Da hat jeder versucht schnellstmöglichst wieder nach Hause zu kommen – auch die Lehrer. Also an Unterricht war da also wenig …
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Heute kommt dagegen lediglich die Gewalt-Thematik zur Sprache, während die Frage nach Verbesserungsvorschlägen oder nach Dingen, die gefallen, unbeantwortet bleibt. Im Gegensatz zur Darstellung einer erwünschten Programmatik in Form des Zeremoniells im Raum der Schule wird hier, »Im Freien«, auf die Inszenierung eines positiven Images verzichtet. Die starke Fokussierung der Sequenz »Im Freien« (S 10) in Bezug auf den Filmaufbau wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels angesprochen. Dabei ¿el die demgegenüber nochmals gesteigerte Fokussierung der Szene Baby auf, die als ›Mitte der Mitte‹ des Films sozusagen sein Herzstück darstellt. Damit liegt ein starker Akzent auf der (performativen) Thematisierung der Struktur des Zeremoniells und somit gleichzeitig auf der Distanzierung der Produzentinnen von diesem ›dekorativen Spiel‹, das sie im Raum der Schule (im ›Interview‹ zur SMV, aber auch in gewisser Weise indirekt in den ›Theater‹- Szenen) mitspielen. Die Szene Baby ist die einzige Stelle im Film, in der die Zeitdimension der Zukunft thematisiert wird. Dies geschieht allerdings nur indirekt durch die zukunftsgerichtete Frage Freust dich auf die Schule? und durch das Baby als Metonym für Zukunft. Eine explizite ReÀexion der Zukunft ¿ndet damit an keiner Stelle des Films statt. Im Zusammenhang mit dieser ›Nicht-ReÀexion‹ einer möglichen Weiterentwicklung von Schule fällt auch die beinahe naturgesetzlich gegebene Selbstverständlichkeit auf, die der Schule für den Lebenslauf eines jeden Menschen zugeschrieben wird und implizit in dem Satz Freust dich auf die Schule? zum Ausdruck kommt. Hier wird also weder ein kreativer Zukunftsentwurf entwickelt noch ein Veränderungsvorschlag gemacht, sondern lediglich ein Vergleich mit der Schule damals angestellt. Auf die Wettbewerbsfrage (»Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden?«) wird schlicht die ›Antwort‹ Melanchthon ¿nd ich super gegeben. In dieser (vermutlich unabsichtlichen) Verweigerung einer tatsächlichen Antwort wird aufgrund der Formelhaftigkeit dieser ›Antwort‹ (vgl. ReÀexion zum Filmtitel: Kap. 4.5) eine Distanzierung von einer persönlichen Vereinnahmung sichtbar, bei der gleichzeitig vordergründig dem Anspruch auf ein ›Sich-authentisch-Äußern‹ (in einer ›persönlichen‹ Meinung) nachgekommen wird. Die Beteiligung an dem Wettbewerb erscheint dadurch in gewisser Weise als eine ›zeremonielle Beteiligung‹, die ihrerseits zum Ausdruck bringt, dass hier zwar mitgemacht und mitgeredet wird, wenn es um die Zukunft der Schule geht, dass dieses Mitreden aber hauptsächlich um des Mitredens willen geschieht (homolog zum Gefragtwerden um des Gefragtwerden willens). Damit zeigt sich die Wahrnehmung des Beteiligtwerdens an einem Zeremoniell (und die Distanzierung von dieser Beteiligung) auch auf der Meta-Ebene der Produktion dieses Films (homolog dazu:
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Abb. 30
vgl. Kap. 4.4.3: Outtakes). Die Vereinnahmung des ›Gefragten‹, die in der Szene Baby in der Unterstellung Ja! Freut sich auch schon ganz arg! zum Ausdruck kam, ¿ndet dabei ihr Pendant auf der Meta-Ebene in dem selbstverständlichen ›Super-Finden‹ (Titel) und in dem ›Natürlich-sehr-viel-besser-Finden‹ (vgl. S 13.2: »Tür 2«, Kap. 4.4.5). Die Möglichkeit eines tatsächlich ernsthaften und ernstgenommenen, kritischen und folgenreichen Mitredens und Mitgestaltens, was die Zukunft der Schule anbelangt, wird hier seitens der Produzentinnen nicht wahrgenommen und dementsprechend auch nicht wahr genommen.
4.4 Rahmungen und Bühnen 4.4.1 Der Rahmen des ›Films im Film‹ Der Film beginnt in einem Raum, der eindeutig der privaten, außerschulischen Sphäre der drei Produzentinnen zuzuordnen ist: In der Eingangs-Szene sitzen sie gemeinsam auf einem Sofa in legerer Sitzhaltung und abgelegten Schuhen (Abb. 30). Und er endet ebenfalls in einer Szenerie, die auf den außerschulischen Bereich hinweist: Die inof¿zielle Schluss-Szene (Outtakes) spielt in einem Wohngebiet im Freien (vgl. Kap. 4.4.3). Beide Szenen sind in gewisser Weise aus dem Film über die Schule (dem ›Film im Film‹; vgl. Kap. 4.1) ausgelagert: Die Eingangs-Szene auf dem Sofa kommt vor der Simulation eines Vorspanns (Abb. 31a) und leitet diesen ein mit den Worten Film ab! . Und die inof¿zielle Schluss-Szene ist hinter die Simulation eines Nachspanns (Abb. 31b) montiert. Ausgangs- und Endpunkt des Gesamt¿lms werden also in die außerschulische Sphäre der Produzentinnen verlegt und durch Vor- und Nachspann deutlich von dem ›Film im Film‹ abgehoben. Die Schule, die
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Abb. 31a – b
das explizite Thema dieses Films ist, erscheint dadurch als eine davon abgesetzte Sphäre. Nachdem Vor- und Nachspann von einem fremden (unbekannten) Film verwendet werden, wird der ›Film im Film‹ außerdem in einen Rahmen eingefügt, der mit dem Thema des Films in keinem Zusammenhang steht und durch seine Unspezi¿tät wie eine auswechselbare Hülse in der Art eines Wechselrahmens erscheint. Die Trennung der beiden Sphären wird durch diese in gewisser Weise ›eingepfropften‹ Passagen, die zwischen den ›Film im Film‹ (über die Schule) und die Eingangs- und Schluss-Szene (im außerschulischen Bereich) treten, nochmals zusätzlich akzentuiert. In Zusammenhang mit diesem ¿lmfremden Vor- und Nachspann entfällt auch das bei Filmen sonst übliche Einblenden eines Filmtitels, auf das hier völlig verzichtet wird (vgl. Kap. 4.5). Stattdessen erscheinen lediglich die üblichen Hinweise zur Rechtslage, die normalerweise den auf DVD (oder VHS) veröffentlichten Filmen beigefügt werden69: die Altersbeschränkung und die Einschränkung der Aufführungsrechte. Damit werden anstelle eines Titels lediglich zwei Beschränkungen (bzw. Reglementierungen) an den Anfang des Films gestellt: Die Freigabe erst ab 16 Jahren und die Begrenzung der Vorführung auf den privaten Bereich (Abb. 32a–b). Einen derartigen Vorspann bekommt man bei öffentlichen Filmaufführungen im Kino nicht zu sehen, sondern lediglich beim Anschauen von Videos im Privaten. Diese weitere Betonung des Privaten und das Kokettieren mit dem noch nicht bzw. gerade eben erst Erlaubten70 (Freigegeben ab 16 Jahren ...) verweist 69 Der vorliegende Film wurde allerdings nicht auf DVD sondern auf Digital-Video-Cassette eingereicht. 70 Die Produzentinnen gehen in eine 9. Klasse und dürften damit selber etwa 15-16 Jahre alt sein.
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Abb. 32a – b
insbesondere auf die Sphäre des Peermilieus und dessen Abgrenzung gegenüber einer reglementierenden oder kontrollierenden (Schul-) Öffentlichkeit. Die Kombination zwischen der Szenerie zu dritt auf dem Sofa in eine Richtung blickend (Abb. 30), der dabei formulierten Aufforderung Film ab! und dem daraufhin startenden Vorspann eines Videos, das im privaten Fernsehgebrauch zu verorten ist, lässt die Produzentinnen hier gleichzeitig als Rezipientinnen ihres eigenen Films erscheinen, dem sie als (distanzierte) Zuschauer gegenüber sitzen. Nachdem der ›Wechselrahmen‹ aus Vor- und Nachspann in seinem Bezug auf das Peermilieu konsequent jenseits des Bereichs der Schule verbleibt, entsteht der Eindruck, dass er den Film zum Thema Schule (den ›Film im Film‹) eher ›ausrahmt‹ als ihn einrahmt (im Sinne einer ›Aus-Klammerung‹, bei der die Klammer nicht nach innen, sondern nach außen hin gerichtet ist). In gewisser Weise ¿ndet sich hier eine Schichtung von drei verschiedenen, ineinander geschachtelten Rahmungen: Im primären Rahmen verorten sich die Produzentinnen in einer außerschulischen privaten Sphäre (Eingangs-Szene auf dem Sofa), im sekundären Rahmen nehmen sie Bezug auf ihre halböffentliche Peer-Sphäre (Vor-und Nachspann) und auf das Thema Film im Allgemeinen und erst im tertiären Rahmen (›Film im Film‹) verhandeln sie das explizite Thema dieses Films (Schule). Durch diese Rahmungen thematisieren die Produzentinnen ihre sozialen Identitäten jenseits ihrer Identität als Schülerinnen und stellen klar, dass sie nicht in ihrer Identität als Schülerinnen aufgehen, sondern diese nur einen Teil ihres Selbstverständnisses ausmacht, auf den sie nicht reduzierbar sind. Hier zeigt sich eine Homologie zur konsequenten Distanzierung in Bezug auf ihre Existenz als Schülerinnen, die sich im ›Film im Film‹ selbst bereits zeigte (vgl. Kap. 4.2 und Kap. 4.3).
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4.4.2 Der NACHSPANN des ›Films im Film‹ Der ¿lmfremde Nachspann, der mit dem oben beschriebenen Vorspann eine Klammer bildet, ist seinerseits nur Teil einer Einheit, die den NACHSPANN71 des ›Films im Film‹ bildet (Abb. 33a– e). Seine einzelnen Teile (S 14.1–S 15.5) werden durch eine einheitliche durchgängige Filmmusik zusammengehalten, die mit dem Schlussbild 1 (S 14.1) beginnt und das Schild mit der Aufschrift Outtakes (S 15.5) noch einschließt. Die Polarität zwischen dem menschenlosen Schulgebäude und der Menschen-Menge im Freien, die durch die Verwendung von zwei zueinander komplementären Schlussbildern (S 14.1–2) entsteht, wurde bereits in Kap. 4.2.6 reÀektiert. Eine weitere Kontrastierung vollzieht sich durch die anschließende Vorstellung der Filmproduzentinnen (Abb. 34a– c): Durch die Kontextualisierung der Einzelaufnahmen (S 15.1–3) mit den Filmbildern direkt davor und danach wird ihre Präsentation als einzelne Individuen betont, die sich von der (anonymen) Menschenmenge davor (S 14.2), aber auch von der langen Liste von (gesichtslosen) Àüchtigen72 Namen, die danach das Bild durchlaufen (S 15.4), abhebt. Anders als in der Eingangs-Szene, in der sie alle drei gemeinsam auf dem Sofa sitzen und sich mit ihren Vornamen vorstellen, zeigen sie sich hier einzeln nacheinander. Dabei sind sie jetzt nicht mehr nur die Anna, die Sina und die Lisa (vgl. S 1), sondern hier werden sie durch ihre vollständigen Namen unverwechselbar. Nachdem sie sich in der Eingangs-Szene (S 1) bereits vorgestellt hatten, ist die Ergänzung ihrer Namen durch die Fotos funktionell betrachtet eigentlich überÀüssig. Ihre Selbstthematisierung bekommt dadurch den Charakter einer (für den Film nicht notwendigen) Selbstdarstellung. Dabei wird auf jede Zuordnung zu ihren Funktionen, die sie bei der Erstellung des Films hatten, verzichtet: Es wird nicht, wie sonst üblich, aufgelistet, wer welche Rollen gespielt hat, wer für Kamera, Drehbuch, Regie, Schnitt od. Ä. zuständig war (anders als beispielsweise im anonymen ¿lmfremden Nachspann). Sie setzen sich damit in keiner Weise in Beziehung zur Produktion des Films, und anstelle einer persönlichen Identi¿kation mit ihrem Produkt, setzen sie sich selbst
71 Die Schreibweise in Großbuchstaben wurde zur besseren Unterscheidbarkeit gewählt: Einerseits wird von dem ¿lmfremden Nachspann (S 15.4) gesprochen, andererseits von dem NACHSPANN des ›Films im Film‹, der auch den ¿lmfremden Nachspann (vgl. Kap. 4.4.1) umfasst. 72 In S 15.4 läuft die Liste der Namen von oben ins Bild herein und nach unten wieder heraus, sodass der Eindruck eines Kommens und Gehens von unbekannten Namen entsteht.
Kapitel 4
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S 14.1
S 14.2
S 15.1–3
Abb. 33a – e
als eindeutig zu identi¿zierende Individuen in Szene (vollständiger Name mit Bild). Dabei weisen sie sich nicht einfach durch eine passbildähnliche Fotogra¿e aus, sondern zeigen sich stattdessen in uneinheitlichen, nicht nur auf den Kopf reduzierten Haltungen (sitzend; stehend; auf die Arme gelegter Kopf) und betonen auf diese Weise nochmals ihre Singularität. Durch ihre Selbstinszenierung bringen sie – ähnlich wie durch die oben angesprochene dreifache Rahmung der Schulthematik – deutlich zum Ausdruck, dass sie ihrem Selbstverständnis nach mehr sind als nur »Schülerinnen, die einen Film über Schule drehen«. Dabei wird ihre Selbstdarstellung auf eine ganz besondere Weise hergestellt. Um dies nachvollziehbar zu machen, sollen zunächst die einzelnen Fotos, die hier gezeigt werden, näher betrachtet werden. Im Anschluss daran soll die Gestaltung des Filmbildes insgesamt, in das diese eingebettet sind, reÀektiert werden. Die Produzentinnen zeigen sich auf ihren Fotos (Abb. 35a– c) nicht als spontan agierende Personen (wie z. B. in den Outtakes; vgl. Kap. 4.4.3), sondern in statischen Posen, die sie zum Fotogra¿ertwerden eingenommen haben. Ihre Aufmerksamkeit ist damit selbstreÀexiv auf die eigene Selbstdarstellung und deren Außenwirkung gerichtet. Insbesondere bei den ersten beiden Fotos ist diese Selbstinszenierung an dem Posieren von (weiblichen) Foto-Models orientiert. Dies kommt insbesondere durch die exponierte Hüfte und die fächerförmig an die Hüfte gelegte Hand (Abb. 35a–b) zum Ausdruck, die den Charakter der Pose als solche akzentuieren, während die dritte Selbstpräsentation (Abb. 35c) demgegenüber neutraler erscheint. Dieser Rückbezug auf weibliche Geschlechts-Stereotypen wird in S 15.2 (Abb. 35a) zusätzlich noch durch ein Plakat im Hintergrund, das ein männliches Idol mit nacktem Oberkörper zeigt, hervorgehoben. Der informelle Charakter des ›Bühnenbildes‹, das sie für ihre Selbstdarstellung gewählt haben, steht dabei allerdings in einem gewissen Kontrast zu der formellen
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S 15.5
Pose, die sie einnehmen.73 Die Wohnräume, die gezeigt werden, repräsentieren ein höheres Maß an Privatheit als die Sofa-Szenen (vgl. Moderationsszenen auf dem Sofa, Kap. 4.4.4). Hier kommt nicht mehr der Gemeinschaftsraum oder das gemeinsame Empfangszimmer (mit Sofa) ins Bild, sondern hier zeigt sich jede jenseits dessen in ihrer eigenen privaten Sphäre.74 Die Akteurin in S 15.2 (Abb. 35a) posiert sogar an einer geöffneten Schranktür, wobei sie allerdings den Blick in das Innere dieses Schranks nicht preisgibt. Während also das ›Bühnenbild‹ die »Hinterbühnenregion« (Goffman) – und damit die persönliche Sphäre – der Produzentinnen ins Bild holt, handelt es sich bei der formellen Pose, in der sie sich selbst darstellend in Erscheinung treten, um eine Vorstellung auf der »Vorderbühne« (vgl. Kap. 2.2) der Produzentinnen. Dabei halten sie ihr persönliches Selbst in eben dem Maße durch die Form der fassadenhaften Selbstdarstellung (mittels der Pose) aus dieser Darstellung heraus, wie sie ihre persönliche Sphäre durch die Kulisse ins Spiel bringen.75 Betrachtet man nun die Gestaltung des Filmbildes als Ganzes, so fällt zunächst einmal auf, dass sich durch die Rahmung die Positionierung der abgebildeten Bildproduzentinnen verändert: Während sie sich auf den Fotos jeweils im Zentrum der Bilder be¿nden, rücken sie nun stärker an den Rand, wobei gleichzeitig jeweils der vollständige Name relativ gleichgewichtig neben das Foto tritt. Durch die Dezentralisierung der Fotos rückt auch das Posenhafte weiter in den Hintergrund zugunsten 73 In Abb. 35c ist die Pose – im Gegensatz zu Abb. 35a–b – eher informeller Art (auf die Hände aufgelegter Kopf). Nachdem hier gleichzeitig die Kulisse kaum zu identi¿zieren ist, entfällt hier auch der oben beschriebene Kontrast zwischen Pose und Kulisse. 74 Die Räume, die in den Fotos von Abb. 35a– c ins Blickfeld gerückt werden, repräsentieren eine Sphäre, zu der normalerweise nur die eigenen Familienangehörigen oder Angehörige der PeerGroup freien Zutritt haben. Außenstehende Erwachsene, insbesondere diejenigen, die in einer professionellen Rolle (z.B. als Lehrer) auftreten, wirken in dieser Sphäre eher deplaziert. 75 Dieser Zusammenhang bestätigt sich im Vergleich der drei Fotos untereinander. Vgl. dazu F 73
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S 15.1
S 15.2
S 15.3
Abb. 34a – c
der eindeutigen persönlichen Identi¿kation durch die Namen. Dadurch, dass die Fotos nicht unvermittelt gezeigt werden (wie beispielsweise die beiden Schlussbilder S 14.1–2), sondern nur indirekt als Bild im (Film-) Bild erscheinen, werden sie außerdem als Fotogra¿en identi¿zierbar gemacht, die sich im typischen Fotoformat von dem einfarbigen Hintergrund abheben (die Bildgestaltung erinnert an die Seite eines Fotoalbums, in das ein Bild und eine Beschriftung eingeklebt sind). Gleichzeitig gerät damit nun der Akt des Fotogra¿ertwerdens (bzw. des Sich-fotogra¿erenLassens) in den Blick und somit erscheint auch die Pose als eine indirekte. Sie steht nun primär in Zusammenhang mit der Erstellung der Fotos und nur sekundär mit der Erstellung des Films: Posiert wurde für das Foto, nicht für den Film. Für den Film wurde lediglich das Foto ausgewählt. Durch diese »Mitdarstellung der Herstellung« der Pose76 rückt anstelle der Pose nun ihre Herstellung und damit der Akt des Posierens ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit tritt das gekünstelt Fassadenhafte und formelhaft Unpersönliche, das einer Pose im Allgemeinen anhaftet (vgl. Imdahl 1996, F 57), in den Hintergrund und anstelle dessen gewinnt der Akt bzw. die Aktivität der Produzentinnen an Bedeutung. Sie sind es, die hier entscheiden, »wie sie sich zeigen wollen«77. Sie erscheinen dabei nicht mehr als die ›(engagierten) Mitspieler‹, die eine Persönlichkeit inszenierende Pose einnehmen (z.B. durch die vermeintliche ›persönliche‹ Meinung; vgl. Kap. 4.3), sondern sie zeigen sich hier als ihre eigenen Regisseure, als die (autonomen) ›Manager‹ (vgl. »impression management«, Goffman, 1959/2003) ihrer Selbstdarstellung, die sich dafür entschei-
76 Im Sinne einer »Mitdarstellung der Herstellung der Darstellung« nach Luhmann, 1983, S. 67; vgl. Kap. 6. 77 vgl. S 10.9: dass es jedem freigestellt ist [sein sollte], wie er sich zeigen will. [Aus dem Kommentar der Moderatorin zur Umfrage über das Bauchfrei-Verbot, das eine Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Reglementierung im Raum der Schule zum Ausdruck bringt.]
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Abb. 35a – c
den, hier Stereotype zu präsentieren. So bekommt ihre Pose durch die Rahmung den Charakter einer Meta-Pose (vgl. Kap. 4.3.3), in der die ursprüngliche Pose zwar nicht ironisch gebrochen wird (vgl. F 61), aber durch die Mitdarstellung ihrer Herstellung in einem veränderten Licht erscheint: Hier vollzieht sich eine Selbstdarstellung, bei der die Singularität der einzelnen Darstellerinnen eben nicht einfach hinter der Hülsenhaftigkeit einer Pose verschwindet, sondern bei der gerade im Medium der Pose, die in den Dienst der eigenen Selbstdarstellung genommen wird, Individualität und Selbstbestimmung zum Ausdruck gebracht wird.78 Gleichzeitig gerät diese 78 Am Beispiel von Werbefotos reÀektiert Bohnsack das Problem der Darstellung von Individualität mit Mitteln der – per se ent-indvidualisierenden – Pose. Während im einen Fall Individualität ex negativo auf dem Wege einer Demonstration fehlender sozialer Bezogenheit zum Ausdruck gebracht wird (Bohnsack, 2007b, S. 970), kommt im anderen Fall eine ironischen Brechung der Pose in der Form einer Meta-Pose ins Spiel (Bohnsack, 2001, S. 332f; vgl. auch F 61 in Kap. 4.3.3). Im hier vorliegenden Fall wird Individualität einerseits durch die sequentielle Kontextualisierung der Pose im Rahmen des NACHSPANNS zum Ausdruck gebracht und andererseits durch deren simultane Kontextualisierung in Form der Rahmung als Bild im Filmbild, durch die die Herstellung der Darstellung mit dargestellt wird.
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Darstellung der eigenen Individualität aber eben nicht zwangsläu¿g auch gleich zur Selbstoffenbarung, denn die persönliche Identität bzw. die persönliche Sphäre des Individuums bleibt hinter der formellen Pose gewahrt. Auf diese Weise wird die eigene Individualität ins Zentrum der Aufmerksamkeit geholt, ohne jedoch dabei das persönliche (individuelle) Selbst einem distanzlosen Blick auszuliefern. Die ›Vorstellung‹ verbleibt also auf der Vorderbühne, während die Hinterbühnensphäre thematisiert wird, ohne jedoch den Blick auf diese tatsächlich freizugeben. Durch das Ausmaß an Privatheit, das durch die Kulisse der Fotos ins Bild kommt, wird gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung zum Raum und zur Sphäre der Schule sichtbar. Die Produzentinnen treten hier als individuelle Jugendliche jenseits der Schule in Erscheinung und distanzieren sich damit gleichzeitig auch in dieser Hinsicht nochmals von der Rolle der »Schülerinnen, die einen Film über ihre Schule gedreht haben«. In der Art ihrer Selbstdarstellung treten sie zudem auf mehrfache Weise hinter die (¿lmische) Realität des von ihnen produzierten Films zurück: So nehmen sie in den Fotos inmitten des Mediums der ›laufenden (bewegten) Bilder‹ eine statische Pose ein, zeigen sich auf einem unbewegten Bild (Foto), auf dem die Kamera bewegungslos verweilt (Standbild) und das darüber hinaus auch noch als Bild im (Film-) Bild (also eine Ebene hinter der Film-Realität) erscheint. Damit wird ihre Distanzierung von dem Produkt des Films, auf die bereits weiter oben hingewiesen wurde, nochmals unterstrichen. Gleichzeitig stellen sie ihre Selbstpräsentationen aber auch wieder in den Vordergrund, indem diese – anders als beispielsweise ins Fotoalbum geklebte Bilder – durch den Schattenwurf im Filmbild in einer räumlichen Distanz vor dem Untergrund erscheinen. Durch die Distanzierung von der Sphäre der Schule (im Rückbezug auf die private Sphäre) und die gleichzeitige persönliche Distanzierung von ihrem Produkt Film und ihrer Tätigkeit als Produzentinnen und Kommentatorinnen innerhalb dieses Films erscheint ihre Selbstdarstellung hier auch als eine Art ›Gegendarstellung‹ zum vorangegangenen Film. Dieser Eindruck bestätigt sich auch bei einem Vergleich mit jenen Sinnstrukturen, die sich in den Filmszenen zeigen, die im Raum der Schule spielen: Während in den Passagen, die sich auf den Raum der Schule beziehen, durch den wiederholt in Szene gesetzten Rückzug aus der Sichtbarkeit (vgl. Kap. 4.2.5) ein als zudringlich wahrgenommener Blick auf die persönliche Hinterbühne zum Ausdruck kam, stellen sich die Produzentinnen hier aus eigenem Entschluss ins Rampenlicht der Sichtbarkeit. Gleichzeitig wahren sie dabei hier souverän ihre, im Raum der Schule als bedroht erscheinende, persönliche Sphäre, indem diese Selbstpräsentation durch die formelle Pose ganz auf der Vorderbühne verbleibt. Der Blick auf die Hinterbühne wird dabei zwar mittels der gewählten
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Kulisse thematisiert, aber gleichzeitig bringen sie in Form der präsentablen und sich präsentierenden Pose die eigene Kontrolle über ihre Hinterbühnenregion zum Ausdruck. Dabei handelt es sich hier um eine direkte, offene Selbstinszenierung: Ihr Blick auf den Fotos ist auf den Fotografen der Bilder gerichtet, und in der statischen Pose wird deutlich, dass sie der (Schnapp-) Schuss nicht unvorbereitet trifft. Darin sowie in der selbst gewählten Zurschaustellung der Bilder präsentieren sie sich als ihre eigenen Regisseure, die sich selbst vorführen, und setzen damit einen Gegenpol zu dem dekorativen Spiel des Zeremoniells, in dem sie sich als ›engagierte Mitspieler‹ gezeigt haben, die um der Darstellung willen ›vorgeführt‹ werden. An die Stelle der posenhaften ›Pseudo-Persönlichkeit‹, die in der inszenierten ›persönlichen‹ Meinung zur Schau gestellt wurde (vgl. 4.3.2), tritt hier die offensichtliche Pose. Und während dort im Medium der Inszenierung von Persönlichkeit die Auswechselbarkeit des Protagonisten sichtbar wurde, wird hier im Medium der offensichtlichen Pose ein Stück Unverwechselbarkeit zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus wird in der Gestaltung dieser Gegendarstellung eine Umkehrung im Verhältnis zwischen der äußeren Darstellungsform und der ihr zugrunde liegenden Tiefenstruktur sichtbar: Während im Zeremoniell des dekorativen Spiels, das im (und durch den) vorangegangenen Film sichtbar wurde, die Darstellungsform einer erwünschten Programmatik folgte und demgegenüber die zugrunde liegende Struktur dieser Darstellung konterkarierend entgegenlief (vgl. Kap. 4.3.3), operiert die Gegendarstellung, die hier in Szene gesetzt wird, mit dem genau umgekehrten Verhältnis. Während die Darstellungsform durch das Medium der offensichtlichen Pose kaum geeignet erscheint, der Besonderheit des einzelnen Individuums gerecht zu werden, wird ihm doch gerade dadurch auf eine Weise Geltung verschafft, in der seiner Besonderheit Respekt gezollt und auf eine Distanzlosigkeit verzichtet wird. Im Zusammenhang mit der in beiden Fällen zugrunde liegenden in sich gegenläu¿gen Doppelstruktur von äußerer Darstellungsform und der ihr inhärenten Sinnstruktur zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit dieser beiden Darstellungen: In beiden kommen ihre jeweiligen Sinngehalte in Form einer Übergegensätzlichkeit zum Ausdruck, die sich bei beiden in dem Oszillieren zwischen einem sich zeigenden Hervor-Treten (bzw. vorgezeigten Anvisiertwerden) und einem sich distanzierend schützenden (bzw. degradierenden, die Person auf die reine Funktion reduzierenden) Zurück-Treten der jeweils fokussierten Personen zeigen. Auf diese sich ähnelnde Weise werden allerdings gerade einander diametral entgegengesetzte Sinnstrukturen zum Ausdruck gebracht. Und somit bestätigt sich der Charakter der Gegen-Darstellung, den die hier vorliegende Szene trägt, noch einmal und
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akzentuiert durch den Kontrast dieses Gegenentwurfs gleichzeitig nochmals die Strukturen, die sich in den auf die Schule bezogenen Szenen dokumentieren. Diese Szene repräsentiert also, ähnlich wie die als Meta-Gegenszene rekonstruierte Passage »Im Freien« (S 10; vgl. Kap. 4.2.6), einen Gegenentwurf und einen Gegenpol zu jenen Sinnstrukturen, die in den ›Theater-Szenen‹ oder im ›Interview‹ (vgl. Kap. 4.2 und Kap. 4.3) im Raum der Schule sichtbar wurden. Die Umkehrung der für den Raum der Schule gültigen Muster zeigt sich dabei bis ins kleinste Detail der Filmbildgestaltung: Das linierte Papier (als typisch schulisches Requisit), das bei den Namensschildern zum Einsatz kommt, wurde hier – entgegen der üblichen schulischen Konvention – quer zu den Linien beschriftet. Und von ›Quer‹ulanten (naughty crew) handelt übrigens auch der Text der hierfür gewählten Hintergrundmusik.79 Die Leichtigkeit der Latin-Rhythmik und die Party-Stimmung, die durch die musikalische Gestaltung vermittelt werden (vgl. Kap. 4.2.6), steht dabei in Kontrast zum provokativ explosiven Text80, der hier (in Englisch) anklingt, und untermalt damit noch einmal die eigenwillige, jedoch vordergründig sehr gefällige Selbstpräsentation.
4.4.3 Die Outtakes Die drei kurzen Szenen S 15. 6–8 werden durch ein Schild mit der Aufschrift »Outtakes« (Abb. 33e) eingeleitet und schließen unmittelbar an den Film an. Sie sind einerseits eng mit ihm verbunden, indem dieses Schild einen gemeinsamen Tonraum mit den vorangegangenen Teilen des NACHSPANNS besitzt (vgl. 4.4.2). Andererseits vollzieht sich jedoch direkt nach diesem Schild insbesondere durch den völlig veränderten Tonraum ein krasser Bruch: Die Musik reißt übergangslos ab und anstelle von verständlichen Kommentaren oder Dialogen treten ein unspezi¿sches Gekicher und weitgehend unverständliche Wortwechsel. Durch seine Einbindung in den ›Film im Film‹ erscheint das Schild wie ein Vorhang, der selber noch der Realitätsebene des vorangegangenen Films angehört
79 I got a naughty naughty style and a naughty naughty crew … Aus: »Hey Mama« von Black Eyed Peas (zitiert nach www.azlyrics.com/lyrics/blackeyedpeas/heymama.html 02.06.2007) 80 La la la la la / Hey mama, this that shit that make you groove, mama Get on the Àoor and move your booty mama / We the blast masters blastin`up the jamma Cutie cutie, make sure you move your booty / Shake that thing like we in the city of sin, and Hey shorty, I know you wanna party / The way your body look really make me really feel naunughty … (Quelle: siehe F 79)
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Abb. 36a – c
und anschließend den Blick freigibt auf eine Realität, die hinter dieser liegt.81 Eine Rückkehr von den Outtakes zum NACHSPANN selber vollzieht sich nicht mehr, und somit führen diese Szenen nicht mehr zum Thema des ›Films im Film‹ zurück, sondern von ihm weg (vgl. dazu auch die Strukturskizze Abb. 80a–b im Anhang). Ähnlich wie in den drei ›Fotoseiten‹ des NACHSPANNS (Abb. 34a–c) wird auch hier jeder der drei Produzentinnen eine Szene gewidmet, in der sie im Mittelpunkt steht. Outtake 1 (S 15.6) In der ersten dieser drei Szenen (Abb. 36a–c) sieht man Bf, die gerade versucht vom Boden aufzustehen, aber lachend und kichernd wieder zurück mitten auf den Gehsteig sackt. Neben ihr steht Cf, zunächst mit dem Rücken zur Kamera, die sich, ebenfalls lachend, nach vorne beugt (Abb. 36a), zwischenzeitig kurz von der Kamera ins Visier genommen wird (Kameraschwenk) und sich schließlich aus dem Blickfeld entfernt, als die Kamera wieder zurück zu Bf schwenkt. Zurück bleibt Bf, alleine auf dem Gehsteig sitzend, das Gesicht hinter den verschränkten Armen verbergend (Abb. 36b). Als sie wieder hochschaut, streicht sie sich, weiter lachend, eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schaut in die laufende Kamera und winkt mit dem rechten Arm abwehrend in Richtung des KameraAuges (Abb. 36c). Dabei ruft sie: Mach endlich .... Das letzte Wort dieses Satzes, das in logischer Ergänzung »... aus!« heißen könnte, wird durch den Schnitt abgetrennt.
81 Das Schild »Outtakes« weist denselben Stil auf wie das Schild »Fettes Brot«, das den Musikunterricht heute (GS 4) repräsentiert. Auch dort erscheint das Schild in der Art eines Vorhangs, der dort allerdings geschlossen bleibt: In die Realität, auf die dieses Schild hinweist, wird keinerlei Einblick gegeben – sie klingt lediglich im Tonraum (aus dem Off) an und wird nicht weiter visualisiert (vgl. Kap. 4.2.4).
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Abb. 37a – c
Outtake 2 (S 15.7) Cf kommt aus einer Haustür heraus (Abb. 37a). Ihr Blick ist zunächst auf nichts Spezi¿sches gerichtet. Plötzlich nimmt sie wahr, dass die laufende Kamera (der ›Blick des Zuschauers‹) auf sie gerichtet ist, kreischt auf (Abb. 37b), dreht sich um und bückt sich in die Türöffnung hinein, so dass sie dem ›Beobachter‹ (dem Kamera-Auge) ihr Hinterteil entgegenstreckt (Abb. 37c). Das Gekicher, das diese Szene aus dem Off untermalt, bringt die Anwesenheit anderer mit ins Spiel, die ihrerseits unsichtbar bleiben und sich über diese Szenerie lustig zu machen scheinen. Outtake 3 (S 15.8) Af läuft an einer Hauswand entlang (Abb. 38a) und spricht kurz darauf laut und auffordernd (bleibt unverständlich) in Richtung der laufenden Kamera. Mit der rechten Hand schnippt sie in einer ausladenden Armbewegung ebenfalls in diese Richtung. Schließlich stolpert sie in ihrem Lauf, kippt mit dem Oberkörper nach vorne und stützt sich mit den Händen vom Boden ab (Abb. 38b). Die Kamera folgt ihr zunächst, schwenkt dann aber zurück, sodass die Akteurin förmlich aus dem Bild fällt. Das letzte Bild des Films ist menschenleer und in gewisser Weise auch ohne ein spezi¿sches Motiv (Abb. 38c): Es zeigt den Ausschnitt einer weißen Hausecke, ohne Fenster oder Türen, mit laublosem bräunlichen Gebüsch im Vordergrund.
Die Outtakes in Bezug auf die Gesamtkomposition des Films (Meta-Ebene) Als Outtakes werden normalerweise Szenen bezeichnet, die für die Produktion eines Films gedreht wurden, dann aber, aus unterschiedlichen Gründen, in das Endprodukt nicht aufgenommen wurden. Häu¿g ¿nden sich auf den DVD-Versionen von Filmen Outtakes als sog. Bonus-Material, die entweder witzige Pannen von
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Abb. 38a – c
einzelnen Passagen zeigen oder auch gelungene Szenen, die später keine Verwendung mehr fanden. Manchmal kommen Outtakes auch im Nachspann eines Films zum Einsatz, z.B. bei Jackie-Chan-Filmen oder bei Comedy-Sendungen.82 Durch das Zeigen von Outtakes wird die Film¿ktion als in sich geschlossene Realität transzendiert und die Herstellung des Films rückt in den Horizont des Zuschauers. Wenn die Outtakes nun, wie in dem hier vorliegendem Film, in den Nachspann integriert werden, vollzieht sich durch die »Mitdarstellung der Herstellung der Darstellung« (vgl. F 76), die sich noch im Rahmen des Films selbst abspielt83, ein Bruch mit der Film-Realität: Das Schauspiel des Films wird in seinem Wesen als ›Schauspiel‹ zu erkennen gegeben. Die Fiktion des (Spiel-) Films, die normalerweise konsequent aufrechterhalten wird, wird durch eine derartige Freigabe des Blicks ›hinter die Filmkulisse‹ durchbrochen und die ›Echtheit‹ der Film-Realität in Frage gestellt. Diese Gestaltungsform ¿ndet sich deshalb am ehesten in komischen oder surrealistischen Kontexten. So kann beispielsweise eine Parodie der Film-Realität hergestellt werden, in der die Komik eines Films auf einer anderen ¿lmischen Ebene weitergeführt bzw. durch diese potenziert wird. Ein Dokumentar¿lm dagegen würde durch derartige Gestaltungselemente letztlich seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Dementsprechend besteht üblicherweise das Begleitmaterial von Dokumentar¿lmen nicht aus Outtakes, sondern eher aus der Kategorie »Making-of«, einer (direkten, expliziten und unvermittelten) Dokumentation über die Herstellung des Films (im Gegensatz zur indirekten, impliziten Mit-Darstellung der Herstellung des Films durch Outtakes). Betrachtet man den Inhalt der Szenen, die hier aufgeführt werden, so könnten sie eher der Kategorie »Making-of« als der Kategorie »Outtakes« zugeordnet 82 http://de.wikipedia.org/wiki/Outtake (19.06.2008) 83 Üblicherweise starten die Outtakes nicht selbstläu¿g, sondern müssen eigens vom Nutzer bzw. Zuschauer aktiviert werden. In dem Fall wird die Fiktion des Films selbst nicht durch den ›Blick hinter die Filmkulisse‹ durchbrochen, sondern bleibt gewahrt.
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werden, da sie keinerlei Zusammenhang zur Handlung, zum Thema oder zu einzelnen Szenen des vorangegangenen Films aufweisen: Es handelt sich weder um verunglückte Passagen noch um Varianten von bereits gezeigten Teilen. Auch die Kulisse, die hier gewählt wurde, tauchte bislang an keiner Stelle in dem Film auf. Stattdessen beziehen sich diese Szenen direkt auf die Herstellung des Films, indem der Akt des Filmens bzw. des (unfreiwilligen) Ge¿lmtwerdens in Variationen dargestellt wird. Diese Darstellung ist jedoch keine sachlich informierende, die Herstellung des Films dokumentierende, sondern zeigt eher ein Spiel mit der Kamera, bei dem gekichert und gekreischt wird, und stellt damit ein humoristisch anmutendes »Making-of« dar, das jedoch (durch das vorangestellte Schild) als »Outtakes« deklariert wird. Das Oszillieren zwischen Dokumentar- und Spiel¿lm (vgl. Kap. 4.1), das sich bereits auf unterschiedliche Weise im vorangegangenen Film gezeigt hat, setzt sich durch das Oszillieren dieser Szenen zwischen den beiden Kategorien »Making-of« und »Outtakes« weiter fort. Gleichzeitig wird dieses Spannungsfeld nun durch das komödiantische Finale in Richtung des ›Spiel‹-¿lms aufgelöst. Im Licht dieses wenig Ernsthaftigkeit vermittelnden, den Film selbst transzendierenden Endes erscheint nun der vorangegangene Film (der ›Film im Film‹) als ein ›of¿ziell‹ abgegebenes Statement der Produzentinnen in ihrer formellen Rolle als ¿lmproduzierende Schüler, von dem sie sich nun, im Rückzug auf ihre informelle Sphäre und ihre Rollen als Jugendliche (vor der Kulisse ihrer privaten Umgebung) distanzieren und sich dabei des Scherzhaften als einer typischen Ausdrucksform von Rollendistanz bedienen. Man könnte diese Vorgehensweise auch als ein downkeying (Goffman, 1980) bezeichnen: Durch das Anfügen der Outtakes wird dem Rahmen, in dem das bisher Dargestellte gezeigt wurde, ein weiterer Rahmen hinzugefügt, der das Bisherige nun in einem neuen Licht erscheinen lässt. Dieser neue Rahmen (zer)stört in gewisser Weise die ¿lminterne Illusion und holt damit das Publikum auf eine Ebene herunter, die näher am Boden der Tatsachen liegt als jene Fiktions-Ebene, auf der sich der vorangegangene Film bewegt hatte. Das Schild »Outtakes« fungiert dabei als eine Klammer (im Sinne Goffmans), die anzeigt, dass sich ab dieser Stelle eine Veränderung des ursprünglichen Rahmens vollzieht, durch die das bisher Gesagte und Gezeigte eine Transformation erfährt. Mit Hilfe der Konvention der Kategorie »Outtakes« gelingt es den Produzentinnen ›aus der Rolle zu fallen‹, ohne dabei ›völlig aus der Rolle (bzgl. der Gesamtvorstellung des Films) zu fallen‹: Der Gesamtrahmen und der Charakter des Films als ein ernst zu nehmendes Produkt wird aufrechterhalten – er löst sich nicht in Nonsense auf. Gleichzeitig verlassen die Produzentinnen jedoch auf eine
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doppelte Weise die ›laufende Vorstellung‹: Zunächst verlassen sie ihre Rollen als Moderatorinnen und Schülerinnen, die sie in dem Film (u.a. als abgebildete Filmproduzentinnen) gespielt haben, sie zeigen sich nun als Jugendliche in ihrer Peersphäre und machen damit deutlich, dass diese anderen Rollen der ›engagierten Schülerinnen‹ eben nur Rollen waren, die sie für den Film eingenommen haben, und dass ihr eigenes Selbstverständnis nicht in diesen Rollen aufgeht. Durch dieses Ablegen ihrer ¿lmischen Rollen und die Darstellung einer privaten, informellen Sphäre inszenieren sie – indem sie ihre Masken und Rollen fallen lassen, die sie innerhalb des Films getragen haben – in gewisser Weise eine Art ›Hinterbühne‹ (vgl. Kap. 2.2) ihrer Filmproduktion, die dem vorangegangenen Film den Charakter einer (of¿ziellen) Vorstellung, eines ›Schauspiels‹ verleiht, das sie als Produzentinnen ›mitgespielt‹ haben. Sie verlassen also nicht nur ihre Rollen, die sie für den Film gespielt haben, sondern sie verlassen gleichzeitig auch die ›Bühne‹ des ›Spiels‹ (im übertragenen Sinne), an dem sie sich beteiligt haben, und kündigen damit in gewisser Hinsicht ihr Mitwirken an jenem ›dekorativen Spiel‹ (vgl. Kap. 4.3) auf. Indem jedoch die Inszenierung dieser ›Meta-Hinterbühne‹84 ihren Ort im Rahmen der ¿lmischen Konventionen hat (in der Kategorie »Outtakes«), wahren die Produzentinnen weiterhin die Form eines ernst gemeinten Wettbewerbsbeitrags und bleiben damit innerhalb des Gesamtrahmens der ernsthaften Beteiligung an dem Wettbewerb. Allerdings wird ihre Beteiligung durch die Distanzierung von ihrem Produkt und dessen Produktion als eine zeremonielle erkennbar (homolog dazu: Kap. 4.3.3 und 4.4.1).
Die Outtakes im Detail (Mikro-Ebene) Alle drei Szenen erinnern an ein Filmen mit ›versteckter Kamera‹: Die jeweiligen ›Hauptakteurinnen‹ bemerken zunächst nicht, dass sie ge¿lmt werden. In dem Moment, in dem sie es erkennen, wehren sie sich gegen das schaulustige quasivoyeuristische Kameraauge: Bf, indem sie versucht dessen Blick wegzuwinken bzw. wegzuwischen, Cf indem sie sich wegdreht und ›untertaucht‹ und Af, indem sie stolpert und aus dem Bild fällt. Alle drei werden offensichtlich unfreiwillig ins Bild gebracht. Dabei werden die Situationen, in denen sie gezeigt werden, gerade durch das Ge¿lmtwerden zu für sie peinlichen: auf dem Gehsteig sitzend und vor Lachen nicht aufstehen könnend, das Hinterteil exponierend oder stolpernd. Die 84 Genau genommen handelt es sich bei diesen Outtakes um eine ›Meta‹-Hinterbühne, da hier eine Art Hinterbühne inszeniert wird (vgl. dazu auch Kap. 4.3.3, F 61).
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S1
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Abb. 39a – f
Darstellerinnen werden hier sozusagen auf der »Hinterbühne« (unvorbereitet und ohne Möglichkeit, sich auf ihren ›Auftritt‹ einzustellen und dessen Wirkung zu kontrollieren; vgl. Goffman, 2003) von der Anwesenheit eines ›Publikums‹ überrascht. Sie werden damit auf übergrif¿ge Weise unfreiwillig ins Visier genommen und ›vorgeführt‹. Ihre abwehrenden Reaktionen gegenüber dieser taktlosen Aufdringlichkeit, ihr Kreischen und die wenig präsentablen Posen, in denen sie schonungslos ins Rampenlicht gezerrt werden, lassen sie nun erst recht wenig vorteilhaft erscheinen. Trotzdem verweilt der Blick ihres ›Publikums‹ indiskret auf ihnen. In diesem respektlosen wider Willens Präsentiert-Werden wird der Verlust der autonomen Kontrolle der Darsteller über ihre Selbstpräsentation in Szene gesetzt. Das indiskrete, grenzüberschreitende Eindringen in deren persönliche Sphäre stellt einen Übergriff auf die Selbstbestimmung der unfreiwilligen ›Schauspieler‹ dar, die gleichsam schutzlos und ›nackt‹ erscheinen. Durch die Theatralisierung von Indiskretion und Taktlosigkeit mittels der Darstellung von Situationen, in denen den Darstellern eine selbstbestimmte Kontrolle über ihre ›Vorstellung‹ verweigert wird, gerät ein Vergleichshorizont in den Blick, der bereits in den Fotos des Abspanns (S 15.1–3) thematisiert wurde (Kap. 4.4.2): Dort wurde dessen positiver Gegenpol ins Spiel gebracht, indem die Darstellerinnen ihre eigene Entscheidung, »wie sie sich zeigen wollen« (vgl. F 77), sichtbar werden ließen (vgl. Kap. 4.4.2) und dabei der Charakter einer Gegen-Darstellung zu den Strukturen des ›dekorativen Spiels‹ sichtbar wurde. Dieses Thema wird nun in den Outtakes wieder aufgegriffen, indem der dazugehörige negative Gegenpol in Szene gesetzt wird: der Verlust der eigenen »Ausdruckskontrolle« (Goffman 2003, S. 48ff). Durch die Theatralisierung dieses negativen Gegenhorizonts wird auch hier, homolog zu den Fotos, eine ›Re-Aktion‹ auf diesen Verlust sichtbar. Sie wird dabei, ebenso wie in den Fotos, gleichzeitig zur Selbstdarstellung genutzt durch das Kokettieren mit der ›unfrei-
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S 13.1
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willigen‹ Selbstpräsentation, die die Produzentinnen (freiwillig) ihrem Produkt hinzugefügt haben und sich dabei nochmals selbst zum Thema machen. Indem die Produzentinnen im demonstrativen Rückzug auf die Hinterbühne des Films auch noch zusätzlich die Abwehr eines Zugriffs auf ihre persönliche Hinterbühnen-Region inszenieren, wird deutlich, wie sehr sie die Kontrollmöglichkeit ihrer eigenen selbstbestimmten Darstellung bedroht sehen. In dieser Abwehr einer übersteigerten Beobachtung zeigt sich eine Homologie zu dem Muster des Rückzugs aus der Sichtbarkeit (vgl. Kap. 4.2 und 4.3). Umgekehrt ¿nden sich in der VerpÀichtung zur Sichtbarkeit Parallelen zu dem Anspruch auf das ›persönliche Engagement‹, das im dekorativen Spiel des Zeremoniells um die ›persönliche‹ Meinung von Bedeutung war (vgl. Kap. 4.3.2 und 4.3.3).
4.4.4 Die Rahmenhandlung Die Rahmenhandlung des Films besteht aus Moderations-Szenen (siehe Strukturskizze Abb. 80a–b im Anhang: schwarze Balken), in denen die Zuschauer direkt angesprochen werden (diegetische Narration, vgl. Kap. 4.1). Sie spielen an zwei verschiedenen Orten: auf einem Sofa und vor einer Tür (Abb. 39a– f). Insbesondere vor der Kulisse der Tür knüpfen die Produzentinnen an den Stil von Moderations-Szenen aus Fernsehjournalen an, indem sie eine Moderationskarte mit der Aufschrift des Titels ihrer ›Sendung‹ (»Melanchthon ¿nd ich super«) in der Hand halten und für ihren Vortrag nutzen (S 13.1–2). Im Gegensatz zu derartigen Filmformaten spielen die Moderations-Szenen hier allerdings nicht in einem studioähnlichen Raum, sondern in Räumlichkeiten, die (mehr oder weniger) als der privaten Sphäre zugehörig erkennbar sind (vgl. auch Kap. 4.4.5). Insbesondere das Requisit des Sofas, auf dem der Film eröffnet wird (S 1), unterstreicht den privaten Charakter in besonderer Weise (vgl. Kap. 4.4.1).
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Kapitel 4
Durch die ›Ausklammerung‹ des ›Films im Film‹ zum Thema Schule wird die persönliche Sphäre von der Sphäre der Schule abgesetzt (vgl. Kap. 4.4.1). Und homolog zur Trennung dieser Sphären, die sich immer wieder in den einzelnen Szenen selbst bis hin zum Doppel-Schlussbild (S 14.1–2) dokumentiert (vgl. insbes. Kap. 4.2.6), vollzieht sich diese nun auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition des Films: Aufgrund der Verortung der privaten Sphäre (auf dem Sofa) jenseits des ›Films im Film‹ (vgl. Kap. 4.4.1) ergibt sich durch die wiederholten Einschübe der Rahmenhandlung immer wieder ein Sprung aus der Sphäre des ›Films im Film‹, zurück in eine Sphäre, die jenseits der Schule liegt (vgl. Strukturskizze Abb. 80a–b). Auffällig ist dabei, dass diese Form der sich wiederholenden Distanzierung genau genommen nur die Szenen im Raum der Schule betrifft: Der lange Block der Interviews im Freien (S 10) bleibt ohne derartige Unterbrechung. Durch die Kulisse des Sofas wird zwar die private Sphäre ins Spiel gebracht, jedoch bleibt der Einblick in diese strikt begrenzt: An keiner Stelle vollzieht sich ein Schwenk, Zoom oder ein Positionswechsel der Kamera in einer Weise, dass der Raum selbst sichtbar werden würde (ähnliches gilt für die Kulisse mit der Tür). Stattdessen engt sich der gezeigte Ausschnitt stellenweise noch weiter ein (S 5–S 9.1, Abb. 39b–c). Insbesondere die Texte, die auf dem Sofa gesprochen werden, bleiben insgesamt eher unpersönlich und distanziert: Entweder wird der bereits oben angesprochene Charakter des Theaterspielens und der ›Vorführung‹ der gezeigten Szenen hervorgehoben (S 8.1; 8.4; 9.1)85 oder es werden lediglich Fakten und Zahlen referiert (S 5)86. Eine persönliche Meinung wird erst vor der deutlich neutraleren Kulisse der Tür (S 13.2; vgl. Kap. 4.4.5) vorgetragen. Diese erweist sich allerdings bei näherer Betrachtung lediglich als Darbietung eines als »persönliche Meinung« bezeichneten Beitrags und bringt damit vor allem einen exterioren Anspruch auf diese zum Ausdruck (vgl. Kap. 4.4.5). Interessant ist dabei, wie sich im Zusammenhang mit der Verwirklichung dieses Anspruchs die Kulisse verändert: Während sie zunächst 85 S 8.1: Und jetzt kommen ein paar Theaterstücke, in denen wir tanzen S 8.4: … und turnen. S 9.1: Und natürlich haben wir auch versucht, eine frühere Schulstunde nachzuspielen. 86 S 5: Das Melanchthon-Gymnsasium wurde, äh, 1526 gegründet. Wir haben 610 Schüler und so um die 210 Räume… Der sachlich informierende Text über die Schule wirkt vor der Kulisse des Sofas etwas eigentümlich. Passender wäre hier z.B. das Schulgebäude gewesen. Interessant ist außerdem, dass zwar die Anzahl der Schüler und sogar der Räume genannt wird (wobei die Zahl von 210 etwas hoch gegriffen erscheint), dabei jedoch die Lehrer, als das für die Schule konstituierende Personal, keinerlei Erwähnung ¿nden.
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einen stärker informellen Charakter trägt (Sofa, sehr legere Sitzhaltungen, spontaner Redestil), verändert sie sich unter dem wachsenden EinÀuss des Anspruchs schließlich hin zu einer in sich inkongruent wirkenden Szenerie (S 13.2: vgl. Kap. 4.4.5). Nachdem die beiden letzten Moderations-Szenen vor einer geschlossenen Tür dargestellt wurden, spielen die Outtakes als direkt darauf folgende Spielszene (lediglich abgesetzt durch den NACHSPANN) jenseits von geschlossenen Türen (in Outtake 2 kommt dabei an zentraler Stelle eine Haustür ins Bild). Durch diesen Zusammenhang erscheinen die Outtakes in gewisser Weise als ein ›Ausbruch‹ ins Freie und unterstreichen damit ihren Charakter als ›Gegendarstellung‹ (vgl. Kap. 4.4.3). Hier zeigt sich also ein ähnliches Muster, wie es bereits in dem »Aufbruch ins Freie« (S 10) sichtbar wurde, durch den die schulischen ›Theater‹Szenen in der Art einer Meta-Gegenszene transzendiert wurden (vgl. Kap. 4.2.6).
4.4.5 Der Schlussteil des ›Schul-Aufsatzes‹ Im Kontext der Moderations-Szenen nehmen die beiden Szenen vor der Kulisse der Tür eine Sonderrolle ein: An die Stelle des für diesen Film so charakteristischen stetigen Wechsels zwischen den Moderations-Szenen im Privaten (auf dem Sofa) und den Szenen, die im Raum der Schule spielen (vgl. Kap. 4.4.4), tritt nun ein Block, in dem zwei Moderations-Szenen direkt aneinander montiert wurden (S 13). Damit wird hier das Hin-und-her-Springen zwischen den beiden Sphären beendet. Gleichzeitig verändert sich auch der Grad der Informalität dieser Szenen: An die Stelle des gemütlichen Sofas, auf dem die Produzentinnen in sehr legeren Sitzhaltungen Platz genommen und in freier Rede moderiert hatten, tritt nun eine deutlich neutralere Kulisse (die abgebildete Tür könnte sich auch in öffentlichen Räumen be¿nden), vor der die Produzentinnen nun nicht mehr sitzen, sondern stehen und ihren Text nicht mehr frei vortragen, sondern ablesen. Aber nicht nur der Vortragsstil hat sich verändert, sondern auch die Textsorte: In S 13.1 (»Tür 1«) wird eine »Zusammenfassung« des Films gegeben, an die sich in S 13.2 (»Tür 2«) eine »persönliche Stellungnahme« anschließt. Im Kontext eines Films wirken diese Textarten, die in Fernsehformaten, auf die hier szenisch-choreogra¿sch Bezug genommen wird (vgl. Kap. 4.4.4), üblicherweise nicht zu ¿nden sind, sehr eigentümlich. Normalerweise haben sie ihren Ort in schulischen Aufsätzen oder Erörterungen. Der Film erscheint dadurch in gewisser Weise wie die Bearbeitung eines in der Schule gestellten Themas, die dem typischen Aufbau einer Erörterung folgt mit Einleitung (Anfangs-Szene), dialektischer Argumentation (Schule damals vs. heute) und Schluss (»Zusammenfassung« und »persönliche Stellungnahme«).
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Abb. 40a – b
An die Stelle des bisherigen Wechsels der Handlungsorte bzw. Sphären tritt somit in diesen Szenen eine eigentümliche Vermischung der beiden Sphären, die sich bereits in dem veränderten Charakter der Kulisse widerspiegelt und sich in der Art des Vortrags fortsetzt. Der sehr unterschiedlichen Inszenierung und Verarbeitung dieser Vermischung in diesen beiden äußerlich recht ähnlichen Szenen vor der Tür soll nun im Folgenden näher nachgegangen werden.
In der Ecke (Moderations-Szene: Tür 1) Das Filmbild Die Kulisse dieser Szene (Abb. 40a) besteht einerseits aus der Fläche einer geschlossenen weißen Tür, die in ihrem Stil so neutral ist, dass sie sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen zu ¿nden sein könnte. Andererseits hängen an der linken Wand eine Reihe von gerahmten Fotos, die im famliären Kontext zu verorten wären und dadurch erkennbar machen, dass sich diese Szene in einem Privatraum abspielt. Die Kulisse teilt sich damit in eine neutrale und eine private Sphäre auf, die dadurch klar voneinander abgesetzt sind, dass sie sich auf verschiedenen Wänden im Raum be¿nden. Diese beiden Wände treffen sich in der Ecke des abgebildeten Raums. Der Winkel, in dem sie aufeinander zulaufen, wirkt dabei optisch beinahe spitzwinklig.87 Von der Dekoration der linken Wand geht eine perspektivische Wirkung aus, die dem Bild einerseits eine gewisse Tiefe verleiht. Nachdem die glatte (tiefenlose) Fläche der Tür diese Wirkung in gewisser Weise wieder neutralisiert, wird 87 Dieser Eindruck entsteht entweder durch die Aufnahmetechnik (Position der Kamera) oder durch die möglicherweise nicht ganz geschlossene Tür.
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Abb. 41
durch die Tiefenwirkung im Wesentlichen die Ecke betont und optisch vertieft. Der rechte Winkel dieser Ecke wirkt (auch) dadurch tiefer und spitzer als in der nachfolgenden Szene S 13.2 (vgl. Abb. 40b). Die Moderatorin ist etwas links neben der Mitte des Bildes positioniert und auch der Fluchtpunkt seiner Zentralperspektive liegt knapp neben ihrem Kopf, in der Fläche der Tür (Abb. 41). Sie selbst wirkt durch diese unspezi¿sche Positionierung etwas ›de-plaziert‹. Durch ihre Nähe zur Ecke, durch den Schattenwurf in Richtung der Ecke und durch das (optisch) spitzwinklige Aufeinanderzulaufen der beiden Wände entsteht beinahe der Eindruck, als hätte sie sich ›in die Ecke gestellt‹. Sie hält mit beiden Händen einen Zettel vor sich in Bauchhöhe. So entsteht eine nach vorne geschlossene Haltung, bei der die Arme locker am Körper angelegt sind, wobei die Hände ¿xiert sind und ein Schild zwischen die Akteurin und den Betrachter tritt. Diese defensiv verschlossene Haltung kann durch den Vergleich mit einer anderen Szene verdeutlicht werden, in der dieselbe Akteurin ebenfalls stehend moderiert und dabei auch von vorne in der Amerikanischen (Einstellung) aufgenommen wurde (Abb. 42b). Das Fotogramm entstammt der Szene im Freien S 10 (vgl. Kap. 4.2.6). Am Kontrast dieser beiden Bilder wird sichtbar, wie sich die Szenerie verändert, wenn Arme und Hände nicht ¿xiert sind und den Körper nicht verschließen, wenn der Blick offen nach vorne gerichtet ist und frei (ohne auf einen Text zu sehen) gesprochen wird. Der Merkzettel, den die Moderatorin vor sich hält, trägt als Aufschrift den Titel des Films (Melanchthon – ¿nd ich super). In Fernseh-Sendungen, in denen derartige Moderationskarten zum Einsatz kommen, werden sie normalerweise leger in einer Hand gehalten, um weiterhin frei (damit) gestikulieren zu können und um eben diesen Eindruck der Verschlossenheit zu vermeiden. Die Haltung der Akteurin scheint in sich zweigeteilt zu sein: Der Oberkörper ist
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Abb. 42a – b
aufrecht und symmetrisch, die untere Körperhälfte knickt dagegen seitwärts weg und durchbricht dadurch die Symmetrie des Oberkörpers. Diese Zweiteilung lässt sich ebenfalls durch die Gegenüberstellung mit dem Fotogramm der Vergleichs-Szene (Abb. 42a–b) verdeutlichen: Dort hat die Akteurin eine ähnliche Standposition eingenommen, die sich allerdings organisch in der Gesamtkörperhaltung fortsetzt (der Oberkörper ist dabei ebenfalls leicht geneigt, jedoch in die entgegengesetzte Richtung der unteren Körperhälfte und stellt so auf natürliche Weise das Gleichgewicht her). Eine ähnliche Halb-Herzigkeit (Ambivalenz) wie in der Körperhaltung zeigt sich auch in der Art, wie die Moderatorin ihren Merkzettel präsentiert: Einerseits hält sie ihn (anders als die professionellen Kollegen) waagerecht und mit beiden Händen, sodass der Zuschauer den Text vor Augen gehalten bekommt, andererseits hält sie das Schild jedoch schräg geneigt, sodass die Aufschrift trotzdem kaum zu entziffern ist. Gleichzeitig gibt aber genau diese Schräghaltung des Schildes den Blick auf den unbedeckten Bauch der Schülerin frei (wenn sie es in der gleichen Position aufrecht halten würde wie ihre Mitproduzentin in S 13.2, Abb. 40b, wäre er kaum zu sehen). Und so zeigt sie anstelle der Aufschrift ihren freien Bauch. Aber auch diese Demonstration freier Körperlichkeit (»bauchfrei« als Metonym für Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Selbstbestimmung) erscheint hier sehr verhalten: Der größte Teil des freien Bauches wird von einer unauffälligen weißen Strickjacke überdeckt, die im Kontrast zum schwarzen Blouson der Vergleichs-Szene (Abb. 42b) geradezu bieder und ›brav‹ wirkt, wobei der geringe Kontrast zwischen der weißen Jacke als dem dominierenden Kleidungsstück und dem hellen Hintergrund (TürÀäche) die Akteurin auch insgesamt recht blass erscheinen lässt und der Provokation (vgl. Text zum Filmbild) ebenfalls jegliche Expressivität nimmt. Zu Beginn der Szene bleibt die Moderatorin zunächst 2,5 sec bewegungslos
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stehen, während ihr Blick auf den Zuschauer gerichtet ist. Diese Zeit würde ausreichen, um die Aufschrift des Schildes ungestört lesen zu können, sofern man sie lesen könnte. Auch hier wird wieder jene Ambivalenz sichtbar: Die stumme und bewegungslose Präsentation des Schildes erscheint einerseits als Aufforderung zum Lesen, andererseits verhindert die Schrägstellung des Schildes ein Entziffern. Nachdem sie schließlich zu sprechen beginnt, senkt sie im weiteren Verlauf ab und zu den Kopf und schaut dabei auf den Zettel vor sich, den sie hin und wieder leicht hebt bzw. aufrichtet. Ansonsten bleiben Körperhaltung und Bildkomposition während der ganzen Passage nahezu unverändert und lassen insgesamt einen relativ statischen und in der Vitalität gebremsten Eindruck entstehen. Der Text zum Filmbild Das war also unser Film ‹Melanchthon ¿nd ich super‹ und wir haben uns das T../.. so vorgestellt, dass wir eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen und Ihnen das Unterrichtsgeschehen damals im Vergleich zu heute etwas näher bringen. Auch haben wir ein paar (.) reelle (.) Dinge angesprochen wie z.B. das (.) G8 oder das Bauchfrei-Verbot. An Intonation, Flüssigkeit und Satzbau wäre auch ohne Filmbild zu erkennen, dass der Text vorgelesen wird. Der Film-Titel Melanchthon ¿nd ich super wird dabei zwar im LeseÀuss als Titel kenntlich gemacht, jedoch nicht entsprechend seiner expliziten Aussage betont. So steht der Tonfall in einem gewissen Widerspruch zur Formulierung des Titels, in der ein Superlativ (super) bemüht wurde. Statt eines Blicks in die Zukunft (wie es vielleicht das Wettbewerbsthema erwarten lassen könnte) wird hier eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit als Ausgangspunkt genannt. Auch im weiteren Verlauf wird an der Satzkonstruktion deutlich, dass das Damals im Zentrum der Aufmerksamkeit steht: Als Absicht des Films wird genannt, das Unterrichtsgeschehen damals dem Publikum etwas näher (zu) bringen. Das Heute erscheint in dieser Formulierung nur als Vergleichsfolie (im Vergleich zu heute). Diese Akzentuierung korrespondiert mit der Bedeutung, die das Damals in den ›Theater‹-Szenen inne hat (vgl. Kap. 4.2.5). Schließlich wird noch auf zwei Themen Bezug genommen, die im Verlauf des Films unter anderen kurz zur Sprache kamen: das G8 88 und das BauchfreiVerbot.Betrachtet man die Rolle, die diese im Gesamt¿lm spielten, so erscheint
88 Gemeint ist hier das achtjährige Gymnasium (vgl. Kap. 1, F 3).
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deren Erwähnung in diesem Rückblick ausgesprochen überproportioniert.89 Durch die exponierte Stellung als Schlussworte dieser Rede bekommen sie noch ein zusätzliches Gewicht – das ›letzte Wort‹ lautet hier gar Bauchfrei-Verbot. Bei beiden Themen handelt es sich um aktuelle90 Verordnungen, die ohne Diskussion mit den jeweils Betroffenen erlassen wurden, und die dadurch den an Schule Beteiligten deutlich vor Augen geführt haben, wie begrenzt ihre Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte im Rahmen der Institution Schule tatsächlich sind. Während sich die eine Verordnung auf die Schulsystem-Ebene bezieht (»G8«), bewegt sich die andere auf der Ebene der Einzelschule (»bauchfrei«: an einigen Schulen; vgl. F 95) und betrifft die Produzentinnen existentieller.91 Während die Akteurin das letzte Wort (Bauchfrei-Verbot) ausspricht, senkt sie noch einmal den Kopf, schaut auf die Innenseite des Schildes, führt es dabei etwas nach oben, und als sie den Kopf wieder hebt, richtet sie das Schild so weit auf, dass dessen Aufschrift nun endgültig identi¿zierbar wird. Und so wiederholt sich in dieser Gestik zu dem Wort bauchfrei im Detail die Ambivalenz, die bereits in der halbherzigen Demonstration des freien Bauches sichtbar wurde und die hier auch den Kontext dieser Detail-Geste bildet (sozusagen als eine Ineinanderschachtelung homologer Strukturen): Das Verbot wird hier verbal thematisiert, während gleichzeitig das eigene Selbstbestimmungsrecht gegenüber diesem Verbot demonstriert wird – wenn auch recht verstohlen92. Diese Provokation wird jedoch sofort wieder entschärft durch eine Loyalitätserklärung (»Melanchthon ¿nd ich super«), die sich jedoch ihrerseits wieder sowohl in Form (vgl. Filmbild und Intonation des Textes) als auch in Inhalt (vgl. Analyse des Titels, Kap. 4.5) als ausgesprochen halbherzig erweist. Die beiden kritischen Themen (G8 und Bauchfrei-Verbot) werden als reelle Dinge bezeichnet. Dabei wird jeweils vor und nach dem Wort reelle eine kurze Pause im SprechÀuss gesetzt.93 Die Wortwahl »reell« wirkt an dieser Stelle ei89 Sie wurden tatsächlich nur angesprochen (in S 10.9, und zwar von derselben Schülerin in der gleichen Kleidung wie hier, nur dort auf einem Sofa im Schneidersitz sitzend. 90 »Aktuell« ist hier auf das Entstehungsjahr des vorliegenden Films bezogen. 91 Von der Einführung des achtjährigen Gymnasiums sind sie selbst (als Neunt-Klässler) nicht mehr direkt betroffen. 92 Dies ist im Übrigen die einzige Szene in diesem Film, in der ein »freier Bauch« zu sehen ist. (Eine Szene zeigt noch einen freien Rücken – ebenfalls in einem »nicht-schulischen« Raum: Die Akteurin liegt dort bäuchlings auf dem Sofa.) 93 Die Akteurin schaut dabei allerdings nicht auf das Blatt zum Lesen, wie man vielleicht durch diese Pausen vermuten könnte.
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gentümlich, ebenso wie die Akzentuierung durch die kurzen Pausen direkt davor und danach. Befragt man das Fremdwörterbuch (Duden, 2001, S. 848) danach, so ¿ndet man dort folgende Erklärung: »reell: 1.a) anständig, ehrlich, redlich; b) (ugs.) ordentlich, den Erwartungen entsprechend. 2. wirklich, tatsächlich [vorhanden]«. Die geläu¿geren Wortbedeutung (1 a und b) erscheinen in diesem Zusammenhang wenig passend. Plausibler wäre dagegen die 2. Bedeutung: »wirklich, tatsächlich [vorhanden]«. Dann würde das Wort »reell« hier sozusagen als Synonym für das viel gebräuchlichere Wort »real«94 verwendet werden. Damit kämen nun zwei Aspekte in den Blick: Zunächst verweist die Hervorhebung dieser paar ... Dinge (Themen) als reelle darauf hin, dass sie von ›nicht-reellen‹ (im Sinne von ›nicht-realen‹) Dingen abgesetzt werden können. Die Schulwelt, deren Darstellung den Film über weite Strecken bestimmt, bekäme aus dieser Perspektive das Prädikat »realitätsfern« zuerkannt (homolog zur musealen, menschenleeren Inszenierung des Schulgebäudes, vgl. Kap. 4.2.6). Zum anderen schwingen in der Wortwahl »reell« im Gegenüber zum Wort »real« aber eben auch diejenigen Wortbedeutungen mit, die von dem gebräuchlicheren Synonym »real« abweichen, also: »anständig, ehrlich, redlich, ordentlich, den Erwartungen entsprechend« – lauter Attribute, die im Kontext der Schule sehr zahlreich Verwendung ¿nden (insbesondere in den Zeugnisbemerkungen über Mitarbeit und Verhalten von Schülern) und damit die Perspektive der Institution Schule in ihren Erwartungen an die Schüler widerspiegelt. In der eigentümlichen Bezeichnung der kritischen Themen, die in diesem Film angesprochen wurden, als »reelle Dinge« dokumentiert sich damit ein weiteres Mal die Widersprüchlichkeit dieser Szene. Hier kumuliert sie in dem einen Wort »reell«: Die Kritik bleibt schulisch domestiziert und »reell« (also: »anständig, den Erwartungen entsprechend«) und somit im Rahmen einer schulisch akzeptierten und erwünschten Demonstration einer Kritikfähigkeit, die jedoch in sich paradoxe Züge trägt und damit eine ähnlich ambivalente Struktur aufweist, wie die gesamte Szene an sich. Die Thematisierung und Enaktierung des Bauchfrei-Verbots stellt einen Bezug zur Schule als einer disziplinierenden Anstalt her, durch die die Produzentinnen sich in ihrer persönlichen Entfaltungsfreiheit und Selbstbestimmung eingeengt fühlen95. Diese Seite der heutigen Schule wurde innerhalb des Films 94 Duden, Fremdwörterbuch, 2001, S. 844: »real: 1. dinglich, sachlich; Ggs. imaginär. 2. wirklich, tatsächlich; der Realität entsprechend; Ggs. irreal« 95 Vgl. S 10.9: Auch haben wir ein paar Passanten zu einem Bauchfrei-Verbot an einigen Schulen befragt und sind der Meinung, dass es jedem freigestellt ist, wie er sich zeigen will.
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bisher durchgängig tabuisiert und explizit nur der Schule im Damals zugeschrieben. Auch an dieser Stelle wird in der ›reellen Kritik‹ eine Art Selbstzensur an den Tag gelegt. Wie bereits festgestellt wurde (Kap. 4.4.4), wirkt die Textart dieses Redebeitrags im Kontext eines Films reichlich deplaziert. Die Reminiszenz an den Schlussteil einer schulischen Erörterung setzt sich auch darin fort, dass der Bogen noch einmal zurück zur Einleitung gespannt wird, indem die dort angekündigten Linien nochmals aufgegriffen werden.96 Der Vortrags-Stil, der einem Referat ähnelt, erinnert dabei ebenfalls an ein schulisches Format. Allerdings erscheint der Privat-Raum, in dem dieses ›Referat‹ gehalten wird, demgegenüber wiederum als unpassend, auch wenn als Kulisse ein weitgehend neutraler Bereich gewählt wurde. So oszilliert diese Szene zwischen zwei Sphären, wobei die eine auf dem Hintergrund der anderen als unpassend erscheint und umgekehrt. Dies zeigt sich auch in Bezug auf das Bauchfrei-Verbot: In der außerschulischen Sphäre muss sich die Schülerin nicht an die schulische Kleiderordnung halten, wobei in der Art der Enaktierung hier gleichzeitig ein Zugeständnis an den schulischen Anspruch sichtbar wird.97 Damit dokumentiert sich auch hierin wieder die Struktur der Ambivalenz, die diese Szene in vielfältiger Weise durchzieht. In der Vermischung der 96 Vergleicht man diesen Text mit der Anfangs-Szene, so ist der Rückbezug auf die Einleitung des Films deutlich erkennbar: Während dort ein Überblick darüber gegeben wird, was den Zuschauer in diesem Film erwartet (Interviews; Spielszenen zur Schule damals – heute), wird hier dementsprechend der Rückblick lediglich in umgekehrter Reihenfolge formuliert (Unterricht im Vergleich: damals – heute; Hinweis auf die Interviews). 97 Dementsprechend folgen die Produzentinnen dieser Ordnung auch in ihrem Film; vgl. auch F 92.
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beiden Sphären werden in sich widersprüchliche Erwartungssysteme sichtbar, deren Ansprüche einander widerstreiten. Die Zwickmühle, die daraus entsteht, zeigt sich im Filmbild sehr anschaulich in der Positionierung der Akteurin in der Ecke, in der die unterschiedlichen Sphären zusammenlaufen.
Vor der Tür (Moderations-Szene: Tür 2) Das Filmbild Die Akteurin wird auf diesem Bild näher ins Visier genommen als ihre Kollegin in S 13.1 (vgl. Abb. 40a): Anstelle der Amerikanischen wurde hier die nahe Einstellung gewählt (vgl. Gegenüberstellung der beiden Bilder in Abb.40). Auch die Positionierung der Moderatorin hat sich verändert: Sie steht nun sowohl mittig vor der Tür als auch in der Mitte des Bildes und wird zusätzlich durch den Fluchtpunkt der Zentralperspektivik, der auf ihrem Mundes zu verorten ist, fokussiert. Die geringe Distanz zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund lässt das Bild Àach und tiefenlos erscheinen. Außerdem verschwindet die linke Wandseite, die in der vorangegangenen Szene die Sphäre der Privatwelt repräsentierte, beinahe völlig aus dem Bild. Der neutrale Charakter der weißen Tür dominiert dadurch die Kulisse nahezu uneingeschränkt. Die geschlossene Tür wird gleichzeitig zum einzigen Gestaltungselement des Hintergrundes und gewinnt damit im Gesamtbild an Bedeutung.98 Die Körperhaltung der Moderatorin in dieser Szene ist (im Gegensatz zur vorangegangenen) symmetrisch, und die Art, wie sie den Moderations-Zettel präsentiert, drückt klare Entschlossenheit aus: Sie hält den Zettel nicht mehr leger in Bauchhöhe, wie ihre Vorgängerin, sondern mit sichtlich angespannten Händen und eng an den Körper angelegten Armen, aufrecht und fast in Brusthöhe. Hier ist tatsächlich aus dem Moderationszettel ein Schild geworden, das demonstrativ und nahezu bekenntnishaft vor sich her gehalten wird. Außerdem wird dem Zuschauer hier noch etwas länger Zeit gegeben, um dessen Aufschrift (Melanchthon – ¿nd ich super), die dieses Mal, aufgrund der veränderten Positionierung, gut sichtbar ist, lesen zu können (3,5 sec). Nachdem allerdings das Schild trotz der erhöhten Haltung in Bezug auf die Gesamtgestaltung des Bildes dezentral positioniert ist, 98 Selbst wenn die Wahl der Kulisse durch Ermangelung von Alternativen (z.B. möglicherweise fehlende unverstellte Flächen in den privaten Räumlichkeiten) zustande kam, so ist sie – aus der Perspektive der dokumentarischen Methode – dennoch aufschlussreich, da sie offensichtlich von den Akteuren nicht als unpassend empfunden wurde.
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während sich der Mund der schweigenden Moderatorin im perspektivischen Zentrum be¿ndet, steht in diesen Momenten neben der Botschaft des Schildes gleichzeitig die Botschaft des Schweigens im Raum. Durch die dunkle Kleidung und das schwarze Haar der Akteurin vor dem Hintergrund der weißen Tür und Wand entsteht, im Gegensatz zum vorangegangenen Bild, ein starker Schwarz-Weiß-Kontrast und gibt ihm im Zusammenhang mit der angespannten Haltung der Akteurin und ihrem ernsten Blick eine gewisse Strenge. Das Schild, das sie hält, fügt sich einerseits in die ›schwarz-weiße‹ Rahmung durch die Bildkomposition ein, da es selber nur schwarz-weiß gehalten ist, andererseits fällt es aber auch durch die improvisiert wirkende handschriftliche Gestaltung des Textes und insbesondere durch den Smiley-Kopf rechts unten aus der Strenge des Gesamteindrucks heraus. Das Schild bekommt dadurch einen teils niedlichen, teils etwas ironischen Charakter99 und betont bezüglich des Film-Titels den Aspekt des seichten, inÀationär anmutenden ›Super-Findens‹ (vgl. Kap. 4.5). Die strenge und entschlossene Ernsthaftigkeit, mit der dieser Àotte Spruch fast wie ein Bekenntnis präsentiert wird, wirkt dabei in ihrer Unverhältnismäßigkeit beinahe grotesk. Im weiteren Verlauf der Szene wandert die Kamera leicht nach rechts und lässt die Reste der Wand mit den Fotos vollständig aus dem Bild verschwinden. Die Zweiteilung der Kulisse, die in S 13.1 noch deutlich präsent war (vgl. Abb. 40a), löst sich damit zugunsten der neutralen Sphäre endgültig auf. Der Text zum Filmbild Unsere persönliche Meinung ist, dass wir die Entwicklung von damals zu heute natürlich sehr viel besser ¿nden, weil die Schüler viel mehr unterstützt werden, ein größeres Mitspracherecht haben, siehe SMV, und auch die Unternehmenswoche trägt zu einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis bei. Der Vortragsstil des Vorlesens, der auch hier allein schon vom akustischen Eindruck her (Intonation, Satzbau und TextÀuss) als solcher zu identi¿zieren ist, ist nicht gerade dazu geeignet, um eine persönliche Meinung authentisch und überzeugend in Szene zu setzen. Aber auch der Text an sich konterkariert das Individuelle, das wesenhaft zu einer persönlichen Meinung gehört: Die Akteurin spricht hier für das gesamte Produktionsteam des Films (unsere). Das Adjektiv 99 Dieser Eindruck entsteht, wenn man die derzeit übliche Verwendung von Smileys in Emails oder SMS in Rechnung stellt (häu¿g synonym zu »bitte nicht so ernst nehmen« oder »bitte nicht böse sein«).
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Abb. 44
persönlich erscheint in diesem Kontext deplaziert, denn ein Kollektiv kann kaum eine ›persönliche‹ Meinung haben. Die bemühte Expressivität ihres Vortrags (in Mimik, Gestik und Prosodie; vgl. Abb. 44) steht in Kontrast zu dem z.T. sehr legeren und natürlichen ModerationsStil, den sie an anderen Stellen des Films an den Tag legt (z.B.: S 11.5; S 12.3). Ihr Vortrag wirkt dadurch an dieser Stelle überdeterminiert, aufgesetzt bzw. gekünstelt und damit wenig authentisch. Eine ähnlich bemühte (und damit überdeterminierte) Expressivität zeigt sie lediglich in der Szene ›Interview‹, in der sie in der Rolle der (scheinbar spontan) interviewten Schülerin auftritt (vgl. Kap.4.3.2) und dort, ebenfalls wie hier, eine ›persönliche‹ Meinung vorträgt. Betrachtet man die Argumentationsstruktur näher, so stellt man fest, dass das, was hier bewertet wird, interessanterweise nicht etwa der gegenwärtige Status Quo (der Ist-Zustand der Schule heute) ist, sondern eine Entwicklung – also etwas deutlich Abstrakteres als ein Ist-Zustand. Die Eigentümlichkeit dieser Aussage soll im Folgenden durch eine Kompositionsvariation des Textes verdeutlicht werden: Eine positive Bewertung des Status Quo könnte etwa folgendermaßen lauten: »Wir ¿nden die Schule so, wie sie heute ist, einfach super.« Eine Abschwächung dieser Aussage würde sich bereits dadurch ergeben, dass die Bewertung nur »im Vergleich zu damals« als positiv bewertet werden würde. Indem aber nun auch noch das Objekt, auf das sich die Bewertung bezieht, verschwimmt (statt der »Schule heute« wird lediglich eine »Entwicklung« bewertet), vollzieht sich nicht nur eine Abschwächung, sondern außerdem noch eine Diffusion, denn nun bleibt unklar, worauf sich die komparative Steigerung, die hier angelegt ist (»besser als ...« ?), bezieht, da eine andere Entwicklung (als die »von damals zu heute«) ja nicht zum Vergleich ansteht. Die uneingeschränkt positive Bewertung, die hier explizit vorgetragen wird, wirkt also durch die Konstruktion dieser Aussage nicht nur sehr verhalten, sondern auch
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diffus: Unsere persönliche Meinung ist, dass wir die Entwicklung von damals zu heute natürlich sehr viel besser ¿nden. Der Einschub des Wortes natürlich bringt dabei zum Ausdruck, dass es in dieser Frage eigentlich keine Frage gibt, was man besser ¿nden muss, ja dass sich diese Frage eigentlich gar nicht stellt oder sich ganz selbstverständlich verbietet. Eigentlich müsste man es dann gar nicht extra erwähnen. Nachdem es trotzdem geschieht, wird offensichtlich ihrerseits die Notwendigkeit einer Klarstellung durch eine eindeutig positive Positionierung gesehen. Als Begründung (weil) für ihre Bewertung nennt die Akteurin drei Punkte, die allerdings eher den Charakter von Behauptungen haben, hier jedoch durch die Argumentationsstruktur als Fakten hingestellt werden: 1. Die Schüler werden viel mehr unterstützt. 2 Die Schüler haben ein größeres Mitspracherecht. 3. Die Unternehmenswoche trägt zu einem guten LehrerSchüler-Verhältnis bei. Die Thesen 1und 3 werden nicht weiter begründet, der These 2 wird ein erläuternder Zusatz (siehe SMV) beigefügt. Betrachtet man diese Aussagen im Kontext des Gesamt¿lms, so fällt auf, dass die Thesen 1 und 3 an keiner Stelle des Films thematisiert werden. Lediglich der SMV (2) wurde eine Sequenz gewidmet (vgl. Kap. 4.3). Hier werden also zusätzliche Argumente ins Feld geführt, die in keinem Zusammenhang mit dem Film selbst stehen. Die Argumente, die ihr Film an sich hergibt, erscheinen den Produzentinnen offensichtlich als noch nicht ausreichend, um die positive Bewertung auch rechtfertigen zu können. Die Inhalte dieser drei Thesen sollen nun im Folgenden etwas näher betrachtet und auch auf dem Hintergrund des Gesamt¿lms beleuchtet werden: Dass die Schüler heute mehr unterstützt werden (1) bleibt als Behauptung im Raum stehen. Sie wird weder hier noch an anderer Stelle begründet, erläutert oder konkretisiert und erscheint deshalb hier wie eine leere Phrase. Die Unternehmenswoche (3), die vermutlich eine Art Projektunterricht meint, hätte sich als ein Beispiel modernen Unterrichts für die Gegenüberstellung damals – heute (GS 2) anbieten können. Im Vergleichshorizont »Unterricht« spielt sie aber dort keinerlei Rolle (vgl. 4.2.2). Sie wird auch hier nicht als Pendant zum Unterricht (damals) wahrgenommen, sondern ihr wird stattdessen die Aufgabe der BeziehungspÀege zugeschrieben, und zwar der BeziehungspÀege zwischen Lehrern und Schülern. Auch das hier angesprochene Lehrer-Schüler-Verhältnis spielte im Film selber
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keine Rolle. Interessanterweise tauchte die Rolle des »Lehrers« (die jeweils von Schülern gespielt wurde) überhaupt nur in den ›Theater‹- Szenen zum Damals auf. In den Szenen der Gegenwart dagegen war kein einziger Lehrer präsent. Diese auffällige Abwesenheit der Person des Lehrers spiegelt sich auch in der hier verwendeten Formulierung wider. Mit diesem Begriff, der dem pädagogischen Fachvokabular der Lehrer entstammt, wird eine abstrakte Formulierung verwendet, die eher die pädagogisch reÀektierte Perspektive der Lehrer als die der Schüler repräsentiert und letztlich eher eine formale, strikt auf die institutionellen Rollen begrenzte und distanzierte Sicht zum Ausdruck bringt als die persönliche Beziehung zu einem Menschen. Dabei lässt die Übernahme der Lehrerperspektive vermuten, dass die Schüler der Meinung sind, dass die Lehrer (und nicht unbedingt sie selbst) es sind, die diese ›BeziehungspÀege‹ brauchen oder einfordern, während sie selbst das Vorhandensein von Lehrern eher ausblenden. Dies zeigt sich beispielsweise auch in der Moderations-Szene S 5: Bei der Vorstellung ihrer Schule nennt die Moderatorin lediglich die Zahl der Schüler und sogar die Zahl der Räume. Die Anzahl oder überhaupt die Existenz von Lehrern scheint als nicht weiter erwähnenswert betrachtet zu werden (vgl. dazu auch F 86). Hier zeigen sich Ansätze einer Orientierung, die sich in anderen Schülerbeiträgen noch deutlicher wieder¿ndet (vgl. Kap. 6.4). Das Thema SMV (These 2) wurde im Film bereits behandelt. Hier wird zunächst das größere(s) Mitspracherecht genannt, das die Schüler heute besäßen, und dies wird mit dem Hinweis auf die SMV konkretisiert. Die sprachliche Form dieses Verweises (siehe SMV) ist eine Formulierung, wie sie häu¿g in Gesetzestexten oder rein sachlichen Abhandlungen vorkommt, und somit homolog ist zu der am Formalen orientierten Art, in der die SMV zu Beginn des Films vorgestellt wurde (vgl. Kap. 4.3.1). Wie sich das handlungspraktische Wissen der Schüler in Bezug auf die SMV gestaltet, wurde bereits in Kap. 4.3.1 und 4.3.2 herausgearbeitet: Ein echtes Mitspracherecht wurde dort nicht wahrgenommen und im Gegenüber zur Vergangenheit konnte eher die Einschätzung einer Entwicklung zu weniger Kongruenz zwischen der proklamierten Programmatik und der tatsächlichen Praxis rekonstruiert werden. Auch insgesamt wurde in der Gegenüberstellung der Schule damals mit der Schule heute seitens der Schülerinnen kein positiver Gegenentwurf sichtbar, sondern eher die Wahrnehmung der Abwesenheit dessen, was im Damals als in sich stimmig dargestellt wurde (Kap. 4.2.5). Diese Einschätzung kollidiert zwar mit der expliziten Bewertung der Entwicklung von damals zu heute als sehr viel besser, sie bestätigt jedoch den impliziten Sinngehalt dieser in sich widersprüchlichen Formulierung.
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Zwischen dem im Text Explizierten und den atheoretischen, handlungsleitenden Wissensbeständen der Produzentin zeigt sich hier eine Inkongruenz, die bereits im Filmbild erkennbar ist in der grotesk anmutenden Unverhältnismäßigkeit zwischen der krampfhaften Ernsthaftigkeit der Präsentation und der niedlichseichten Inschrift des präsentierten Schildes (Melanchthon ¿nd ich super J). Sie setzt sich außerdem fort in dem übersteigert wirkenden Bemühen, das verbal Explizierte auch performativ mittels einer betont expressiven Darstellungsweise zu unterstreichen und ihm damit Authentizität zu verleihen, wobei die ›zu dick aufgetragene‹ Präsentation prätentiös wirkt und eine Überdetermination sichtbar werden lässt.
Zusammenfassung Im Gegensatz zur vorangehenden Szene (S 13.1) legt die Akteurin in »Tür 2« eine klare Entschlossenheit an den Tag und bringt die erwünschte Programmatik ohne Zögern oder Halbherzigkeit zur Geltung. Dabei gibt es auch keine ›Hintertür‹ mehr wie beispielsweise in der Szene ›Interview‹, in der dieselbe Akteurin eine Schülerin spielte und aus deren Rolle heraus das Erwünschte artikulierte (vgl. Kap. 4.3.2). Die Akteurin scheint nun vollständig in der Rolle der »engagierten Schülerin« aufzugehen und wird von ihrer Mitproduzentin hinter der Kamera auch dementsprechend in Szene gesetzt (vgl. deren Positionierung und Fokussierung im Filmbild). Dass es sich dabei allerdings nur um ein Schauspiel handelt, zu dem sie sich selbst verpÀichtet, wird an der krampfhaften Überdetermination erkennbar, die in dieser Szene zum Ausdruck kommt und einen KonÀikt erkennen lässt zwischen dem intendierten Ausdruckssinn (Mannheim) und dem inkorporierten Habitus der Akteurin. Dies spiegelt sich auch in der Unverhältnismäßigkeit und der Inkongruenz dieser Szene wider, die an die Stelle jener Ambivalenz rückt, die die vorangehende Szene durchzog. Der gesteigerte Anspruch an die eigene Person, der mit einer »persönlichen Stellungnahme« verbunden ist (im Gegensatz zur neutraleren Form der »Zusammenfassung«) bringt hier eine veränderte Verarbeitung dieses Anspruchs hervor: Die Differenz zwischen sozialer Identität und persönlicher Identität wird vordergründig außer Kraft gesetzt, während sich deren Inkongruenz bei näherer Betrachtung umso deutlicher dokumentiert. Das angespannte Engagement mit Verzicht auf Rollendistanz, das hier der erwünschten Programmatik geschuldet ist, stellt den maximalen Kontrast zu den folgenden Szenen (Outtakes) dar, in der eben jener Verlust der eigenen Ausdruckskontrolle zum Thema gemacht wird (vgl. Kap. 4.4.3). Nachdem der ›Film im Film‹
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in Bezug auf dieses Thema eine allmähliche Zuspitzung erkennen lässt, die in dieser of¿ziellen Schluss-Szene vor der Tür ihren Höhepunkt erreicht – vom legeren Lümmeln auf dem Sofa über den aufrechten Schneidersitz bis zum Stehen, erst mit locker und schließlich mit krampfhaft gehaltenem Schild (vgl. Abb. 39a–f, S. 130f) – erscheinen der direkt anschließende Nachspann (v.a. die »Fotos«) und insbesondere die nachfolgenden Outtakes in dieser Hinsicht wie ein Ventil: Jenseits der geschlossenen Tür (vgl. Kulisse der Outtakes) lassen die Produzentinnen nun ihre Rollen fallen (vgl. Kap. 4.4.3). In der Art einer Gegen-Darstellung wird dort der als übergrif¿g wahrgenommene Anspruch auf die persönliche Sphäre und die daraus resultierende Bedrohung ihrer autonomen Kontrolle spielerisch zum Thema gemacht und gleichzeitig zurückgewiesen.
4.5 Der Filmtitel Der Titel des Schüler¿lms ist im Rückgriff auf einen aktuell weit verbreiteten Werbeslogan formuliert100, der in seiner ursprünglichen Form (… – ¿nd ich gut!) auf den Superlativ (super) verzichtet. In der schlichten, knapp und sparsam gehaltenen Konstruktion (mit gut) setzt dieser sich von der inÀationären Überschwänglichkeit anderer Werbetexte ab und vermittelt auf diese Weise den Eindruck einer sich von der breiten Masse absetzenden Individualität101. Dieser distinktive Zug wird auch noch durch die Formulierung als persönliche Meinungsäußerung (1. Person Singular: ¿nd ich) unterstrichen. Durch die hier vorliegende NeuauÀage des Slogans mit dem Superlativ (super statt gut) fällt allerdings der individuelle, distinktive Akzent der inÀationären Überschwänglichkeit zum Opfer. Was bleibt, ist die sprachliche Form der Meinungsäußerung (¿nd ich) und die explizit eindeutig positive Positionierung und Bewertung eines Objekts, das – ebenso wie im originalen Slogan – nur sehr knapp, in Form eines Stichworts, genannt wird. Im konjunktiven Erfahrungsraum der Produzentinnen ist dieses Stichwort eine Bezeichnung für das Melanchthon-Gymnasium (kurz »Melanchthon« genannt), um das es in diesem Film geht. Mittels dieser Formulierung des Filmtitels ist es möglich, von einer Schule zu sprechen, ohne den Begriff Schule (oder ein anderes Wort für Schule, z.B. Gymnasium) dabei in den Mund zu nehmen. 100 »Otto ... ¿nd ich gut« – mit diesem Slogan wirbt beispielsweise seit einigen Jahren das bekannte Versandhaus. 101 Die Werbung steht vor dem Problem, Individualität mittels Stereotypen darzustellen. Vgl. dazu auch: Bohnsack 2007b, S. 969f.
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Lediglich auf das Markenzeichen dieser Schule, ihre (humanistische) Tradition (im Verweis auf die Person Philip Melanchthons), wird Bezug genommen. Hierin spiegelt sich einerseits eine Distanzierung der Produzentinnen von der Institution Schule als solcher wider, aber andererseits auch eine positive Wertschätzung der Tradition ihrer Schule. Beide Orientierungen wurden wiederholt auch im Film selbst sichtbar (z.B. Kap. 4.2.6 und Kap. 4.2.3). Zu der altehrwürdigen, exklusiven (humanistischen) Tradition des Melanchthons, die hier angesprochen wird, hätte eigentlich die schlichtere und die Distinktion stärker betonende ursprüngliche Version mit der Formulierung gut besser gepasst. Das bemühte Herausstellen des mehr als nur Guten (super) führt dagegen eher zu einer Überzeichnung, die an die Prätentiosität erinnert, die in der bemüht expressiven positiven Positionierung der Produzentin in der Szene »Tür 2« zum Ausdruck kam (Kap. 4.4.5). Dies ist interessanterweise auch die einzige Szene im Film, in der sein Ttitel in schriftlicher Form gut sichtbar präsentiert wurde. Beide Varianten dieses Werbeslogans sind inzwischen zu stehenden Redewendungen, zu Phraseologismen, geworden. Damit wird auf formelhafte Weise eine Positivbewertung zum Ausdruck gebracht, bei der die Betonung auf der Positionierung an sich liegt. Der Inhalt dieser Stellungnahme (der sowieso nur in Form eines Stichworts angerissen wird), tritt demgegenüber in den Hintergrund (homolog dazu: Szene ›Interview‹; Kap. 4.3.2). Einerseits wird hier der Form nach eine persönliche Meinung (¿nd ich) ausgesprochen, andererseits geschieht dies auf eine Weise, die wenig geeignet erscheint, eine authentische, individuelle Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Damit bleibt die positive Identi¿kation, die hier verbalisiert wird, letztlich eine vordergründige, während eine differenzierte Stellungnahme jenseits von Stereotypen oder Rollenförmigkeit auf diese Weise unterbleiben kann. Die Floskelhaftigkeit dieser Wendung wird außerdem noch dadurch unterstrichen, dass diese Meinung von einem Kollektiv (Produzententeam), das kaum eine ›persönliche‹ Meinung (1. Pers. Sing.) haben kann, geäußert wird (vgl. dazu auch Text von »Tür 2«; Kap. 4.4.5). In dieser Konstruktion spiegelt sich, homolog zu ähnlichen Mustern im Film selbst, ein exteriores Erwartungssystem wider, von dem ein Anspruch auf eine persönliche Positionierung ausgeht. Die Produzentinnen kommen diesem Anspruch in Bezug auf die äußere Darstellungsform nach, während sie dabei ihre persönliche Sphäre zu wahren wissen (vgl. Kap. 4.1: Anspruch auf Authentizität; vgl. Kap. 4.3: Anspruch auf die persönliche Meinung; vgl. Kap. 4.4.3: Anspruch auf ein persönliches Engagement). In der ursprünglichen Version des hier verwendeten Slogans wird, durch das Vo-
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ranstellen des Objekts, eigentlich ein Dialog angedeutet, der insbesondere in jener Schreibweisen-Variante102 zum Ausdruck kommt, bei der in die Phrase ein Fragezeichen eingefügt wird (»Otto? – Find ich gut!«). Der Filmtitel trägt also einen pseudo-dialogischen Charakter, denn er greift pro forma eine (vermeintlich gestellte) Frage auf. Entgegen der sprachlichen Form, die einen ›Inter-Akt‹ suggeriert, handelt es sich hier allerdings nur um einen singulären Akt und damit um eine monologische Struktur (homolog dazu: vgl. Kap. 4.3.3). Bezieht man nun die Meta-Ebene der Filmproduktion mit ein, so könnte der Titel gerade aufgrund dieser Eigenheit allerdings auch als die entsprechende ›Antwort‹ auf einen (nicht direkt verbalisierten, exterioren) Anspruch gelesen werden (vgl. zeremonielle Beteiligung; Kap. 4.3.3 und Kap. 4.4.3) . Auffällig ist die Art der Präsentation des Titels innerhalb des Films: Im Gegensatz zur allgemein üblichen Konvention wird dieser nicht zu Beginn in schriftlicher Form ins Bild gebracht, sondern nur mündlich in der ersten Szene mitgeteilt und am Ende (»Tür 1«; S 13.1) nochmals wiederholt. Das sonst gebräuchliche Einblenden eines Titels, bei dem der Schriftzug oft raumgreifend über die ganze BildÀäche verläuft und häu¿g bereits in charakteristischer Weise, dem Film entsprechend, gra¿sch gestaltet ist, fällt hier aus. Die Reduktion auf die mündliche Mitteilung lässt ihn dagegen eher beiläu¿g wirken. Bei der Filmeröffnung (S 1) streckt die Produzentin allerdings während der Ansage des Titels (Wir haben unser kleines Video-Tape ›Melanchthon – ¿nd ich super‹ genannt.) beide Arme nach vorne durch, auf den Zuschauer zu, und akzentuiert das Wort super durch eine Geste, bei der die beiden Daumen aufrecht nach oben zeigen, während die restlichen Finger eine Faust formen (Abb. 45). Nachdem diese Geste, die in der jüngeren Generation häu¿g die Prädikate »super« oder »cool« unterstreicht, üblicherweise mit einer Hand und selten mit völlig durchgestrecktem Arm ausgeführt wird, wirkt diese Variante hier – ähnlich wie dies bereits in Bezug auf den Superlativ konstatiert wurde – wiederum als eine Spur ›zu dick aufgetragen‹. In schriftlicher Form erscheint der Filmtitel lediglich auf der Rückseite der Moderations-Karte, die in den Szenen »Tür 1« und »Tür 2« (S 13; vgl. Kap. 4.4.5) verwendet wird. Die handschriftliche Gestaltung und die Ergänzung durch das 102 Zu dem Slogan existieren unterschiedliche Schreibweisen: Das Original lautet: Otto … ¿nd ich gut. Darüber hinaus ¿nden sich inzwischen folgende weitere Varianten: Otto (bzw. X), ¿nd ich gut. oder X ? – Find ich gut!. oder einfach nur (ohne weitere Zäsur) X ¿nd ich gut. Die hier vorliegende Schreibweise setzt eine Zäsur nach dem Objekt (Melanchthon) durch den Zeilenwechsel. Anstelle eines Punktes oder eines Ausrufezeichens ¿ndet sich am Ende der Phrase ein Smiley (vgl. Kap. 4.4.5).
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Abb. 45
Abb. 46
Smiley (anstelle eines Satzzeichens; vgl. F 102) geben dem Titel dort einen improvisiert erscheinenden und teils niedlich, teils ironisch wirkenden Charakter. Seine Aussage wird dabei durch die Zeichnung sozusagen zusätzlich noch mit einem ›Augenzwinkern‹ versehen. In beiden Szenen ist der Titel dezentral positioniert. In »Tür 1« ist er kaum lesbar (so wie das häu¿g bei derartigen Moderationskarten der Fall ist), in »Tür 2« wird er dagegen auf eine überdeterminierte, unübliche Art aufrecht gehalten (wie ein Informations-Schild), sodass er für den Zuschauer lesbar wird (Abb. 46). Die künstlich expressive Weise, in der die dort vorgetragene persönliche Meinung zum Ausdruck kommt, wird dadurch unterstrichen. Aus dem Kontrast zwischen dem ›niedlichen‹ Titel und der bemühten Ernsthaftigkeit entsteht so ein nahezu grotesk wirkender Gegensatz (vgl. Kap. 4.4.5). Insgesamt erscheint also die positive Identi¿kation (in Form der ›persönlichen‹ Meinung), die die Produzenten in Form des gewählten Titels zum Ausdruck bringen, als eine eher vordergründige, die ihnen sozusagen unter der Hand zu einer Distanzierung von dem hier Explizierten gerät. So werden bereits im Filmtitel an sich Grundstrukturen sichtbar, die sich im Film selbst als bedeutsam erweisen.
4.6 Zusammenfassung Jenseits des Schülerseins Die Produzentinnen des Films »Melanchthon – ¿nd ich super« drehen nicht nur einen Film zum Thema »Schule«, sondern sie bringen in und durch diesen Film auch ihre eigene Selbstverortung in Bezug auf die Institution Schule zum Ausdruck. Gerade am Ende machen sie deutlich, dass sie nicht in ihrer Rolle als Schü-
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lerinnen aufgehen und auch mehr sind als nur die Produzentinnen dieses Films, sondern sie bringen weitere soziale Identitäten ins Spiel, die jenseits ihrer Schüler- oder Produzentenrolle liegen wie z.B. ihre Identität innerhalb des Peermilieus (vgl. Outtakes) und ihre Geschlechtsidentität (vgl. Fotos in S15). So öffnen sich hinter der stark kontrollierten Präsentation in »Tür 2« (Abb. 46) immer weitere Räume und Sphären für weitere potentielle Identitätskonstruktionen. Hier wird eine starke Gegenbewegung sichtbar gegen die Reduktion und Festschreibung auf nur eine soziale Identität und damit gegen eine totale Identi¿kation im Sinne einer Konstruktion einer »totalen Identität« (Gar¿nkel, 1974, S. 77)103. Das quasi-totalitäre Ideal einer persönlichen Identi¿kation mit der Schüler-Rolle hin zu einem Schüler-Sein wird damit als negativer Gegenhorizont abgelehnt. Einerseits zeigen sie, dass sie mehr sind als nur Schüler, andererseits machen sie aber auch deutlich, dass sie sich von einem Zugriff auf dieses Mehr-Sein und auch noch Anderes-Sein distanzieren und sie diesen als einen Übergriff auf ihre persönliche Sphäre betrachten (vgl. Outtakes, Kap. 4.4.3). Der Rückzug auf die Schülerrolle (z.B. im ›Interview‹; vgl. Kap. 4.3.2) dient dabei dem Schutz ihrer persönlichen Identität, deren totalitäre Vereinnahmung sie zurückweisen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Inszenierung des Anspruchs auf ihre persönliche Meinung, dem sie durch ein Spiel mit dem Als-Ob begegnen (vgl. ›Interview‹, Kap. 4.3.2, und »Tür 2«, Kap. 4.4.5). Aber auch in den Outtakes wird die Gefährdung der autonomen Kontrolle über die eigene (persönliche) Darstellung thematisiert (vgl. Kap. 4.4.3). Damit zielen zwei unterschiedliche Bewegungen letztlich auf dasselbe Ziel, auf die Abwehr eines Zugriffs auf die eigene Person: Der Rückzug auf die Schülerrolle einerseits und andererseits die Distanzierung von (der Identi¿kation des Selbst mit) der Schülerrolle (im Sinne eines ›Schüler-Seins‹). Der Rückzug auf die Schülerrolle wird dabei von den Schülerinnen nicht de¿zitär als eine Reduktion der Person auf eine Rolle gerahmt, wie dies beispielsweise seitens von Sozialpädagogen immer wieder geschieht (vgl. z.B. Böhnisch, 2008, S. 260). Und die Distanzierung vollzieht sich im Namen weiterer sozialer Identitäten, die die Jugendlichen hier ins Spiel bringen (als eine Form von »Rollendistanz« im Sinne Goffmans; vgl. Kap. 2.2). Somit erscheinen der Rückzug und die Distanzierung in dieser Hinsicht wie die beiden Seiten einer Münze. 103 In der Konstruktion einer »totalen Identität« wird ein Element der sozialen Identi¿zierung (hier die Identi¿kation als Schüler) zum übergreifenden Rahmen der Identi¿kation (vgl. dazu auch Bohnsack, 2003a, S. 257, dort F 100).
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Ein »totales« Interaktionssystem Betrachtet man die wesentlichen Grundstrukturen, die in diesem Film in Bezug auf den Raum der Schule immer wieder sichtbar werden vor dem Hintergrund des Modells einer machtstrukturierten Interaktion, das Ralf Bohnsack (1983) unter Bezugnahme auf Luhmanns Theorie des Verfahrens (Luhmann 1983) entwickelt hat, so zeigt sich, dass die Produzentinnen in Bezug auf das Feld der Schule offensichtlich eine Einbindung in eine machtstrukturierte, stellenweise totalitär anmutende Interaktionskonstellation wahrnehmen, deren Totalitätsanspruch und Machtstrukturierung allerdings nicht sofort in Erscheinung tritt, sondern latent bleibt: Im Rückzug aus der Sichtbarkeit spiegelt sich jener Anspruch auf vollständige Sichtbarkeit wider, der für machtstrukturierte Interaktionen typisch ist. Auch die Asymmetrie bezüglich der Sichtbarkeit zwischen den jeweiligen Interaktionspartnern kommt deutlich zum Ausdruck: Während z.B. die Befragten (vgl. ›Interview‹; Kap. 4.3.2) oder Anvisierten (vgl. Outtakes; Kap. 4.4.3) ganz im Fokus stehen bzw. ins Rampenlicht gestellt werden, bleiben die jeweiligen Interaktionsleiter im Hintergrund bzw. im Unsichtbaren. Entsprechend dem Prinzip der legitimen Unpersönlichkeit wird lediglich ein Ausschnitt der jeweiligen interaktionsrelevanten sozialen Identität der Interaktionsleiter erkennbar (z.B. im ›Interview‹: nur das abgedunkelte Mikrophon und die Stimme aus dem Off). Aus dieser Perspektive könnte auch die eigentümliche Abwesenheit von Lehrpersonen (insbes. auch in »Tür 2«, Kap. 4.4.5), die sich in dem Film zeigt, verständlich werden (vgl. dazu auch Kap. 6.4). Im Gegensatz zur legitimen Unpersönlichkeit des Interaktionsleiters wird vom Interaktions-Betroffenen allerdings ein Engagement seiner (ganzen) Persönlichkeit erwartet. Der Interaktionsleiter behält sich die Verfügungsgewalt darüber vor, inwieweit er in der Interaktion auf andere soziale Identitäten des Betroffenen zurückgreifen und diese thematisieren will. Darüber hinaus gilt für den Betroffenen ein Distanzierungsverbot von seiner Rolle als Interaktionsteilnehmer, durch das der Betroffene bestimmter Selbstdarstellungsmöglichkeiten im Rahmen der Interaktion beraubt wird. So verliert der Betroffene, im Gegensatz zum Leiter, die Kontrolle über seine autonome Selbstdarstellung (vgl. insbes. Outtakes, Kap. 4.4.3). In der oben beschriebenen Auseinandersetzung mit der Schüler-Rolle und dem Zurückweisen eines Schülers-Seins spielen diese Facetten ebenfalls eine wesentliche Rolle. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen könnte auch die Selbstdarstellung der Jugendlichen in Form der fotogenen Posen in S 15. 1–3 jenseits der Sphäre der Schule (vgl. Kap. 4.4.2) als Inszenierung einer »legitimen Unpersönlichkeit«
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betrachtet werden, die den Betroffenen innerhalb des machtstrukturierten Interaktionssystems verwehrt bleibt. In ihrem Charakter als Gegen-Darstellung, der sich dort zeigte (Kap. 4.4.2), würde dann dementsprechend ein ReÀex gegenüber dem Tabu der legitimen Unpersönlichkeit (Bohnsack 1983: 141f) sichtbar, das den Betroffenen in totalen Interaktionssystemen auferlegt wird. Das markante Requisit des pinkfarbenen Mikrophons, das immer wieder im Laufe des Films auftaucht, erweist sich auch als ein Metonym für die Zuteilung von Redemöglichkeiten. In der Hand des schulexternen Reporters signalisiert es die Verfügungsgewalt über die Verteilung der Redebeiträge (ebd: 126), die im Raum der Schule bedroht erscheint.
Das »zeremonielle Rollenspiel« Die eben skizzierten Merkmale machtstrukturierter Interaktion kumulieren in einem Muster, das Ralf Bohnsack als »zeremonielles Rollenspiel« (Bohnsack 1983: 124) bezeichnet. Dieses Muster wird in dem hier vorliegenden Film insbesondere in dem Zeremoniell des ›dekorativen Spiels‹ um die ›persönliche‹ Meinung besonders augenfällig: Hier kommt ein Anspruch auf die persönliche Meinung zum Ausdruck und damit auf das Engagement der (ganzen) Persönlichkeit. In der Art, wie die Jugendlichen diesem Anspruch nachkommen, wird allerdings deutlich, dass sie dabei eine Art »unbezahlte zeremonielle Arbeit« (ebd: 124) leisten (vgl. Kap. 4.3.2). In einem zeremoniellen Rollenspiel wird nämlich den Betroffenen eine Darstellung von ›Autonomie‹ und von ›freiwilliger Teilnahme‹ abverlangt, um die eingeforderte Interaktion zu legitimieren. Allerdings bekommt die Darstellung der Freiwilligkeit durch die VerpÀichtung zur ›Freiwilligkeit‹ paradoxe Züge: »Auf der einen Ebene wird dem Betroffenen Eigenverantwortlichkeit und Autonomie unterstellt. Auf der anderen Ebene wird dieser Anspruch – eher latent – per Interaktionssteuerung unterlaufen.« (ebd: 124) Mittels dieser (in sich widersprüchlichen und damit paradoxen) kontrollierten Autonomie kommt es zu einer interaktiven Verstrickung des Betroffenen, die ihn persönlich engagiert und damit gleichzeitig bindet (ebd: 125). Damit die Darstellung der ›Autonomie‹ jedoch in ihrem Charakter als »Darstellung« nicht offensichtlich wird, weil sie sonst zur Karikatur werden würde, muss die zugrunde liegende Interaktionssteuerung und die daraus resultierende Paradoxie latent bleiben, ähnlich einer Pose (im Sinne Imdahls), die nicht durchschaut werden darf, um die »Vernichtung von Freiheit und Individualität« (Imdahl 1996: 576) bzw. die »Selbstmanipulation oder die Manipulation durch einen anderen« (ebd: 575) nicht offenbar werden zu lassen
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(vgl. Kap. 4.3.3). Dementsprechend bleibt die Tiefenstruktur der Interaktion latent, während auf der Ebene der OberÀächenstruktur die erwünschte Programmatik in Form eines Als-Ob in Szene gesetzt wird (vgl. Kap. 4.3.2). So wird beispielsweise die normative Programmatik der Mitspracherechte der Schüler in dem Als-Ob eines ›Interviews‹ vorgespielt, zu dem eine Schülerin ihre ›persönliche‹ Meinung beisteuert. Unter dessen OberÀäche verbirgt sich jedoch keine dialogische sondern eine monologische Struktur (vgl. Kap. 4.3.3): Die Befragte wird pro forma gefragt zur Demonstration der erwünschten Programmatik. Dieser Anspruch auf eine engagierte persönliche Beteiligung wird nicht nur in einzelnen Szenen sichtbar, sondern auch auf der Meta-Ebene des Films im Anspruch auf Authentizität (vgl. Kap. 4.1).
Identi¿kation und Distanzierung Prinzipiell erweisen sich die Produzentinnen dieses Films als loyal gegenüber ihrer Schule und zielen auf eine positive Stellungnahme ab – was sich bereits in der positiven Formulierung des Filmtitels niederschlägt (vgl. Kap. 4.5). Je mehr sie sich jedoch darum bemühen, dem Anspruch auf ihr persönliches Engagement nachzukommen, desto mehr gerät ihnen diese positive Identi¿kation sozusagen unter der Hand zu einer Distanzierung von diesem Anspruch: So erscheint ihr Stolz über die Tradition der Schule noch als durchweg stimmig und ungebrochen (Kap. 4.2.3), während in der ›persönlichen‹ Meinung zur SMV bereits ein Spiel mit dem Als-Ob erkennbar wird (Kap. 4.3). In der bemüht entschlossen als »persönliche Meinung« dargebotenen Stellungnahme am Ende des Films (»Tür 2«; Kap. 4.4.5) zeigt sich schließlich eine Inkongruenz, die einen KonÀikt zwischen dem intendierten Ausdruckssinn und dem inkorporierten Habitus der Darstellerin sichtbar werden lässt. Insbesondere in dem Spiel mit dem Als-Ob (Kap. 4.3.2) zeigt sich eine Leichtigkeit im Jonglieren zwischen Identi¿kation und Distanz, die auf einen routinierten, habitualisierten Umgang mit derartigen Ansprüchen an die eigene Person schließen lässt und damit auch auf die schulische Alltäglichkeit der Interaktionsstruktur des zeremonielles Rollenspiels. Gleichzeitig distanzieren sich die Jugendlichen, insbesondere im Hinblick auf die Meta-Ebene des Films in der Inszenierung des unfreiwilligen Ge¿lmtwerdens (vgl. Outtakes; Kap. 4.4.3), gerade auch wieder von der damit verbundenen Rolle des ›Schauspielers (wider Willen)‹, die ihnen in diesem Rollenspiel zugewiesen wird. Insgesamt wird in dem Film eine starke Trennung und Polarität hergestellt
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zwischen der Sphäre der Schule als einem menschenlosen und menschenleeren Gebäude und den Menschen jenseits der Schule. Dies wird besonders augenfällig in dem doppelten komplementären Schlussbild des Films (vgl. Kap. 4.2.6). Dabei wird die Menschenlosigkeit der Schule (ebenso wie die Abwesenheit der Lehr-Personen) an keiner Stelle als etwas De¿zitäres dargestellt. Nicht eine ›BeVölkerung‹ oder Informalisierung der Schule ist der positive Gegenhorizont, sondern das Heraustreten aus dieser in eine Sphäre freier Öffentlichkeit (vgl. Kap. 4.2.6) und »legitimer Unpersönlichkeit«, während die Struktur der Institution Schule dahinter verschwindet (vgl. Kap. 4.2.6). Gerade in der Szene im Freien (S 10) ¿ndet sich in mehrfacher Hinsicht der positive Gegenhorizont zur Sphäre der Schule (vgl. 4.2.6 und 4.3.3). Diese Sphäre zeigt sich frei von jenen Formen der Vereinnahmung, die im Raum der Schule in Szene gesetzt werden, und dort wird schließlich auch die Freiheit sichtbar, diese Formen zu parodieren (vgl. Szene Baby und Outtakes; Kap. 4.3.3 und 4.4.3) und somit ihre latente (im Raum der Schule tabuisierte) Struktur ›ins Spiel‹ zu bringen.
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Der Lehrer¿lm: Kammer des Schreckens oder Realschule in Zeiten der Revaluation
5.1 Überblick über den Film Der Film »Kammer des Schreckens oder Realschule in Zeiten der Revaluation« wurde von einem Lehrerteam einer Realschule eingereicht mit dem Zusatz: Es handelt sich um einen satirischen Beitrag. Ebenso wie das Schülerteam haben diese Lehrer ihren Film in ihrer eigenen Schule gedreht und treten auch selbst als Hauptdarsteller auf.104 Während der Schüler¿lm sich zwischen unterschiedlichen Sphären bewegt (vgl. Kap. 4.1), die durch verschiedene Orte bzw. ¿lmisch konstruierte Räume repräsentiert werden, spielt der Lehrer¿lm ausschließlich an einem Ort, wobei sich dieser Ort im Laufe des Films weiter eingrenzt und schließlich sogar als solcher verschwindet: In S 2 kommt das Innere eines Gebäudes ins Bild, das aufgrund unseres Vorwissens (des kommunikativen Wissens um Institutionen und Rollen; vgl. Kap. 3) als ein Schulgebäude identi¿ziert werden kann (S 2; vgl. Abb. 81a–b im Anhang). Von dort aus führt der Weg (S 3) in einen einzelnen Raum, der (durch das Türschild) als Lehrerzimmer erkennbar gemacht wird. Dort verweilt die ¿lmische Handlung für den Rest, und damit den größten Teil des Films (S 4–5), bis dieser Raum allmählich zu versinken scheint (und mit ihm die Akteure) und schließlich nur noch seine Decke sichtbar ist (S 5.5). Hier zeigen sich bereits die starke Bindung und das nahezu gefängnisartig anmutende Festgelegtsein auf die Sphäre der Schule, das die Produzenten auf vielfältige Weise in ihrem Film zum Ausdruck bringen (vgl. Kap. 5.4). Der Ort der Filmhandlung wird lediglich von zwei eingelagerten Szenen transzendiert, die unverortet und unverbunden durch Montage in die ¿lmische 104 Wie im Schüler¿lm gibt es auch hier Ausnahmen: Während dort auch schulfremde Personen in Erscheinung treten, werden im Lehrer¿lm dagegen nur schulinterne einbezogen werden, nämlich Schüler ihrer eigenen Schule (vgl. Nachspann des Films: Kl. 8f, 9d u.a.).
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Handlung eingefügt wurden (S 2 und S 5.1; schwarze Balken in der Strukturskizze im Anhang, Abb. 81a–b). Die strukturierende Macht, die sie repräsentieren, wird außerdem auch noch auf weiteren Bedeutungsebenen des Films sichtbar (vgl. Kap. 5.2). Auffällig ist dabei die Variation dieser eingelagerten Szene durch die Kombination der Uhr mit einem weiteren Objekt (S 5.1: Portrait von Edmund Stoiber), das ebenfalls als eine ›jenseitige‹ Instanz dargestellt (vgl. Kap. 5.2.1) und aufs engste mit dem Symbol der Uhr verbunden wird. Die Strukturierungsmacht bekommt dadurch noch ein weiteres ›Gesicht‹. Im Vordergrund der Filmhandlung im Lehrerzimmer (S 4–5) stehen insbesondere eine Reihe von ›Einzel-Vorstellungen‹, die die verschiedenen Akteure vor ihren Kollegen (d.h. gegenseitig voreinander) geben (hellgraue Balken in der Strukturskizze im Anhang, Abb. 81a–b; dazu grau unterlegte Beschriftung). Neben ihren ›Auftritten‹ kommen die Lehrer aber auch als Gruppe ins Bild, in der allerdings eine eigentümliche Art von Interaktion und Formation sichtbar wird (insbes. in S 4.9 und S 5.2-4), die mit der Dominanz der ›Einzelauftritte‹ korrespondiert (vgl. Kap. 5.2.2 und Kap. 5.6). Verbunden und begleitet werden diese einzelnen Abschnitte von einem weiteren Handlungsstrang, der sich durch seine ständige Präsenz wie ein roter Faden durch den Hauptteil des Films zieht, dabei zeitweise in den Vordergrund tritt um dann wieder als eine Art ›Hintergrundmusik‹ weiterzulaufen (mittelgraue Balken in Abb. 81a–b; vgl. Kap. 5.4.1). Er wird einerseits durch die Person der Marianne repräsentiert, die mit rot verschmierten Händen geräuschvoll agiert, und andererseits durch das Requisit der aufgestapelten Papierstöße. Die Filmrollen, die die Produzenten annehmen, stellen sie selbst dar, mit den Fächern, die sie auch tatsächlich unterrichten (vgl. Kap. 5.4.2). Dabei spielen sie sich als gealtertes, senil und begriffsstutzig gewordenes Kollegium (im Jahre 2034, vgl. Vorspann) und präsentieren sich dadurch als lächerliche Gestalten. Genau genommen handelt es sich hier also um eine Selbst-Satire, bei der die Produzenten in ein Narrengewand schlüpfen, in dem sie sich selbst in ihrer eigenen Existenz als Lehrer auf die Schippe nehmen und sich so in ein nicht gerade schmeichelhaftes Licht rücken. Diese besondere Form der satirischen Selbstpräsentation deutet auf eine massive Distanzierung gegenüber dem Selbst hin, das die Lehrer als mit ihrer Berufsrolle verbunden wahrnehmen (vgl. Kap. 2.2: Rollendistanz). In einem Narrenspiel scheinen sie sich von einer Narretei zu distanzieren105, zu der sie sich 105 Anselm Strauss führt (im Anschluss an O. Klapps) die »Annahme der Narrenrolle« als eine »der Möglichkeiten, der Narrenrolle zu entÀiehen«, an (Strauss 1974: 89).
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aufgrund der an ihre Berufsausübung geknüpften Erwartungen offensichtlich (wider Willen) verpÀichtet sehen. Im übergeordneten Rahmen dieses Narrenspiels zeigen sich darüber hinaus noch weitere, z.T. einander gegenläu¿ge Facetten von Rollendistanz: Einerseits legen die Produzenten eine beinahe schülerhaft anmutende Distanzierung gegenüber einer hierarchisch höheren Ebene an den Tag (vgl. Kap. 5.2), die sie als (widerwillige) Untergebene erscheinen lässt (Goffman, 1973b, S. 129; vgl. Kap. 2.2). Andererseits zeigen sie aber auch Formen von Rollendistanz, die ein statusgemäß Überlegener an den Tag legt (vgl. Kap. 5.3.1), um die Distanz zu seinen untergebenen Teammitgliedern zu verringern und damit das gemeinsame Handlungssystem aufrechtzuerhalten (Goffman, 1973b, S. 135ff; vgl. Kap. 2.2). Dabei distanzieren sie sich allerdings aber auch gleichzeitig wieder von dem Selbst, das mit dieser Verringerung der Distanz zu den ihnen of¿ziell Untergebenen verbunden ist. In all diesen unterschiedlichen Formen von Rollendistanz dokumentieren sich letztlich Distanzierungsversuche, die gerade die starke Bindung an jene mit der Berufsrolle verbundenen Attribuierungen und Erwartungen bestätigen. Im Verhaftetsein an diese Auseinandersetzung bestätigt sich gleichzeitig jene Fixierung auf den Raum der Schule, die bereits im Gesamtaufbau des Films und in der Wahl der Handlungsorte erkennbar wurde. Die Darstellung der Interpretation dieses Films gliedert sich in drei Hauptteile: In den ersten beiden Teilen werden die unterschiedlichen Formen von Rollendistanz, die sich in diesem Film dokumentieren, näher beleuchtet. Dabei widmet sich Kap. 5.2 der Auseinandersetzung mit einer hierarchisch übergeordneten Ebene, während Kap. 5.3 insbesondere Formen der Rollendistanz eines statusmäßig Überlegenen zur Verringerung der Distanz gegenüber den of¿ziell Untergebenen in den Blick nimmt. Im dritten Teil (Kap. 5.4) steht sodann die Auseinandersetzung mit spezi¿schen Aufgaben, die mit der Berufsrolle verbunden werden, im Mittelpunkt. Dabei wird auch der ›Selbst‹-Verortung und dem ›Selbst‹-Verständnis der Produzenten in Bezug auf ihre Berufsrolle und ihr beruÀiches Selbst näher nachgegangen. Danach wird der Filmtitel einer detaillierten Analyse unterzogen und in Bezug zu den wesentlichen Orientierungen gesetzt, die sich im Film zeigen (Kap. 5.5). Schließlich werden die unterschiedlichen Aspekte, die in den einzelnen Kapiteln thematisiert wurden, zusammengeführt zu einem Gesamtbild (Kap. 5.6).
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Abb. 47
Abb. 48
5.2 Der Blick nach oben Nachdem die beteiligten Lehrer im Hauptteil des Films (S 4) einzeln vorgestellt wurden, geht der Film nach einer Zäsur durch die eingelagerte Szene »Uhr/ Stoiber« (S 5.1) in den Schlussteil über. Es handelt sich hier um eine Schlüsselstelle für das Verständnis der Selbstverortung der Filmproduzenten hinsichtlich ihres Status innerhalb der Institution Schule. Das unvermittelte Einblenden der schulfremden Person Edmund Stoiber auf einem Portrait, das an einer Wand hängt, stellt im Filmverlauf eine Diskontinuität dar, durch die diese Szene besonders akzentuiert erscheint. Durch einen Kameraschwenk nach links oben wird das Portrait mit derselben Uhr verbunden, die bereits zu Beginn des Films im Bild war (S 2): Während die Uhr nach rechts aus dem Bild wandert, kommt das Portrait von links oben ins Bild herein und tritt an die Stelle der Uhr. Nachdem es vollständig im Bild ist, wird es von dem Gong untermalt, der zu Beginn des Films zur Uhr selber ertönte, und in den sich, nach einem Schnitt, ein zweimaliges Klopfgeräusch mischt (Abb. 47). Nach diesem Schnitt kommt die Gruppe der Lehrer ins Bild, die in einem Halbkreis um einen Tisch herum sitzt, der nach vorne hin geöffnet ist. Ihre Blicke sind zunächst nur auf die TischÀäche geheftet (Abb. 47; 8:14), richten sich
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Abb. 49
aber allmählich nach links oben auf einen Blickpunkt hin aus, der außerhalb des Filmbildes liegt (Abb. 48; 8:18 ff), und erheben sich dabei ganz langsam von ihren Plätzen (8:21; 8:27) bis sie frontal zentriert auf diesen Punkt hin ausgerichtet dastehen (8:41). Schließlich singen sie gemeinsam ein Lied auf die Melodie des bekannten geistlichen Liedes »Danke für diesen guten Morgen«.106
5.2.1 Die ›doppelköp¿ge‹ Strukturierungsmacht und das Kollektiv der Lehrer Die ›Verbindung‹ zwischen oben und unten Die beiden Szenen S 5.1 und S 5.2 sind auf eine sehr eigentümliche Art wechselseitig aufeinander bezogen (Abb. 47–48): Einerseits folgt die Montage der beiden Szenen der 180-Grad-Regel für das Matchen von Blickachsen, durch das Personen in einen Kommunikations- und Handlungszusammenhang gebracht werden (Steinmetz 2005: 24): Demnach schaut Stoiber nach rechts aus dem Bild, während sich die Blicke der Lehrer nach links wenden. Aber nachdem es sich bei der Person auf dem Portrait um keine in der ¿lmischen Realität anwesende Person handelt, sondern lediglich um ein Objekt (ein Bild an der Wand), kann man hier allerdings nicht im eigentlichen Sinne von einem Eyeline Match, einem Zusammenfügen der Blickachsen zweier Interaktionspartner (vgl. Kap. 3), sprechen. Zudem sind die Blicke beider Parteien gleichzeitig auf ein Oben und damit nicht komplementär aufeinander bezogen: Während die Lehrer die Person auf dem Portrait anzublicken scheinen, schaut die Person auf dem Portrait ihrerseits sozusagen über deren Köpfe hinweg nach schräg oben. 106 Der vollständige Text ¿ndet sich in Kap. 5.5.
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Einerseits erscheint die Blickrichtung der Lehrer durch ihre Ausrichtung nach links als (entsprechend der kinetischen Wirkung des Filmbildes; vgl. Hickethier 2001: 51f) nach rückwärts orientiert und damit dem vorangegangenen Portrait zugewandt, andererseits vollzieht sich üblicherweise ein Cut Away (vgl. Steinmetz 2005: 35) entsprechend der ¿lmischen Konventionen genau umgekehrt: Eine Person schaut aus dem Bild (und damit aus dem bis dahin geschaffenen Filmraum) heraus und erst danach kommt dann das Objekt, auf das sie blickt, in einer neuen Einstellung ins Bild. Die Umkehrung der üblichen Richtung lässt ihrerseits wieder eher den Mann auf dem Portrait als blickendes Subjekt erscheinen, obwohl er ja nur ein lebloses Objekt ist. Betrachtet man dazu noch den Tonraum dieser Montage, so fällt auf, dass der einsetzende Gong über den Schnitt hinaus weiterklingt und damit die beiden Szenen akustisch miteinander verbindet. Dabei handelt es sich um die ›Stimme‹ der Uhr, die zwar dem Mann auf dem Portrait sozusagen in den Mund gelegt wird, jedoch in gewisser Weise über ihn hinweg die Verbindung zwischen Lehrergruppe und Uhr herstellt (s.u.). Der Mann auf dem Portrait wird dadurch in gewisser Weise ›übergangen‹. Beide ›Parteien‹ erscheinen somit durch die Montage in einer vagen Form aufeinander bezogen, jedoch erhält dieses Aufeinanderbezogensein durch die Art seiner Herstellung den Charakter eines Aneinandervorbei, in dem die Uhr eine besondere Rolle spielt. Die Übergegensätzlichkeit und Vielschichtigkeit, die durch diese besondere Art der Montage erzeugt wird, wirkt nun in die beiden Szenen selbst hinein und verstärkt noch deren eigene Uneindeutigkeit (z.B. in der Geste des Aufstehens; vgl. Kap. 5.2.2). So kommt es in dieser Sequenz zu einer Übereinanderschichtung und Überlagerung mehrerer Bedeutungsebenen, durch die eine enorme Sinnkomplexität erzeugt wird.
Das Portrait an der Wand Die Person, die hier ins Bild gerückt wird, ist selber nur ein Bild (Abb. 49). Sie ist in der Wirklichkeit des Films nicht als reale Person anwesend, sondern be¿ndet sich als ›Bild im Film‹ noch eine Ebene hinter dieser. In Form des Bildes ist sie jedoch gleichzeitig dauerhafter präsent als eine reale Person, die auf- oder abtritt. Sie hat sozusagen alles mit angehört und angesehen, was in diesem Raum geschah. Diese unauffällige, stumme, aber permanente ›Anwesenheit‹ erinnert einerseits an Überwachungsphantasien, wie sie in manchen Science Fiction thematisiert werden (»Big Brother is watching you«, Orwell), andererseits tritt diese Person nur ›auf dem Papier‹ in
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Erscheinung und so entsteht der widersprüchliche Eindruck einer Omnipräsenz und gleichzeitigen Abwesenheit. Abgebildete Personen, deren Portraits in öffentlichen Räumen aufgehängt werden, haben üblicherweise eine besondere symbolische Bedeutung für den jeweiligen Ort, seien es nun die Ahnengalerien in Schlössern oder die Portraits von ›geistigen Vätern‹ in Kirchen, Vereinigungen oder Schulen (z.B. Luther oder Melanchthon) oder die Gründerpersönlichkeiten in Firmen bis hin zu den Fotos politischer Führer, um die insbesondere in totalitären Regimen ein großer Kult gemacht wird (z.B. Mao Zedong oder Fidel Castro), oder auch nur das Foto des »Mitarbeiters des Monats« (z.B. bei McDonalds), das Ausdruck einer bestimmten Unternehmens-›Philosophie‹ oder besser -Strategie ist. In der Reihenfolge der Nennung dieser Beispiele wird gleichzeitig eine Entwicklung in Gewichtung und Funktion deutlich: Ursprünglich als Ausdruck ehrfürchtiger Rückbesinnung und Vergegenwärtigung der eigenen Verwurzelung in Familie oder lebensprägender Tradition betrachtet, kam im Laufe der Zeit auch eine Instrumentalisierung und Funktionalisierung dieses Zusammenhangs hinzu: Die Portraits sollen dann jene Loyalität herstellen oder fördern, dessen natürlicher Ausdruck sie ursprünglich waren. Gleichzeitig fällt auf, dass sich häu¿g bereits an Stil und Rahmung eines Portraits ablesen lässt, wo es funktional verortet werden kann: Der »Mitarbeiter des Monats« wird kaum als Ölgemälde mit prunkvollem Goldrahmen zu sehen sein. In einer pädagogischen Institution wie der Schule, in der es um Bildung und die Tradierung von Wissensbeständen geht, könnte man erwarten, dass am ehesten das Portrait eines bekannten Pädagogen oder Schulinnovators oder zumindest das eines Wissenschaftlers als ›geistiger Vater‹ einen exponierten Platz bekommt, um Wurzeln oder Geist dieser Institution zum Ausdruck zu bringen. Um so mehr überrascht es, dass hier lediglich ein Politiker, also eine Person aus einem a-pädagogischen Feld, an dieser Stelle erscheint – noch dazu eine solche, die nicht einmal dem für die Schule zuständigen Ressort entstammt (denkbar wäre hier z.B. der Kultusminister). Die Person, die hier exponiert wird, steht weder für pädagogische oder bildungspolitische Kompetenz noch für Wissenschaft, sondern für Machtpolitik107. Im Vergleich mit der Art der Präsentation von Portraits anderer gewichtiger Persönlichkeiten fällt sein Bildnis hier im wahrsten Sinne des Wortes etwas 107 Zum Zeitpunkt der Durchführung des Wettbewerbs war Edmund Stoiber bayerischer Ministerpräsident.
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›aus dem Rahmen‹, denn es besitzt keinen. Es handelt sich lediglich um einen billigen Ausdruck auf weißem Papier, der wie ein relativ bedeutungsloser Informationszettel an die Wand geheftet wurde und sich kaum von deren weißem Untergrund abhebt. Keine Glasscheibe schützt dieses Bild vor dem schnellen Vergilben oder vor einer respektlosen Verunstaltung durch Schmierer. Die Bedeutsamkeit dieser Person scheint einerseits als groß genug erachtet zu werden, um sie sehr exponiert in Szene zu setzen, andererseits lässt die Art der Inszenierung aber dieses Portrait auch als etwas Provisorisches, Leichtgewichtiges und Vorübergehendes erscheinen (insbesondere im Kontrast zu dem vorher gezeigten Objekt der Uhr, s.u.). In der Verweigerung, dieses Portrait auf eine Weise zu präsentieren, die eines Ministerpräsidenten würdig wäre, kommt eine Distanzierung seitens der Produzenten gegenüber ihrer Rolle als Staatsbeamten zum Ausdruck, an die die Erwartung von Ehrerbietung, Wertschätzung und Loyalität gegenüber ihrem obersten Dienstherren gerichtet ist. Dieser Anspruch wird offensichtlich in einer Weise wahrgenommen, dass er für die Betroffenen eine Provokation darstellt und lässt damit eine spezi¿sche Fixierung auf eine Machtbindung erkennen. Auffällig ist nun die mehrfache Verkleidung, in der diese provokative Rollendistanz zum Ausdruck gebracht wird: Der Dienstherr auf dem Portrait wird nicht direkt verunglimpft, beispielsweise durch Schmierereien, sondern nur sehr indirekt degradiert durch die Art seiner Präsentation. Diese Form von Respektlosigkeit lässt sich nicht ohne weiteres dingfest machen. Hinzu kommt der Gesamtrahmen der Satire, einer Form der Meinungsäußerung, die ein Stück Narrenfreiheit zusichert, in der man Dinge zum Ausdruck bringen kann, die man bestimmten Personen nicht ungestraft in direkter Rede auf den Kopf zu sagen dürfte. Außerdem wird hier nur das Portrait des Doppelgängers dieser bekannten Persönlichkeit gezeigt108 – was ließe sich hiergegen einwenden? Schließlich ist die Filmkomposition durch die oben beschriebene Montage so gestaltet, dass – wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird – das fragliche Portrait nicht eindeutig als Adressat der sich anschließenden provokativen Geste des Aufstehens und des darauf folgenden Spottlieds identi¿ziert werden kann (vgl. Kap. 5.2.2). In dieser vielschichtigen und z.T. närrischen Verkleidung gelingt es, aus sicherer Deckung heraus ›Spitzen‹ loszuwerden, ohne dabei erwischt zu werden. Hier wird eine Homologie zu typischen Schülerstreichen sichtbar: Ein Streich ist dann erfolgreich, wenn er nicht nur sein Ziel erreicht hat (z.B. dem Lehrer eins 108 Es handelt sich hier um einen in Bayern sehr bekannten Stoiber-Doppelgänger.
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auszuwischen), sondern wenn es darüber hinaus auch noch gelungen ist, unangreifbar zu bleiben, sich mit einer Unschuldsmiene davonmachen und sich dabei ins Fäustchen lachen zu können. So dokumentieren sich hier Unterwür¿gkeit und Aufstand beziehungsweise Ohnmacht und Macht gleichzeitig: Die Ohnmacht, nicht ›Klartext‹ reden zu dürfen, einerseits und andererseits die Macht, trotzdem Mittel und Wege zu ¿nden, um sich ungestraft äußern zu können. So blitzt in der grundsätzlichen Unterlegenheit ein kleiner Schuss Überlegenheit auf: Die Überlegenheit dessen, der sich nicht völlig widerstandslos auf die Rolle des Untertanen festlegen lässt. Der Herr auf dem Portrait schaut nicht würdevoll oder gönnerhaft nach unten zu seinen Untertanen, die zu ihm aufblicken, sondern er lächelt seinerseits schräg nach oben. Diese Geste rückt ihn in die Nähe des »Mitarbeiters des Monats« und lässt ihn selber eher machtlos erscheinen. Er lächelt mit leicht schräg gelegtem Kopf freundlich und verbindlich – beinahe wie ein braver Schüler. Seine Kleidung ist ebenfalls muster(schüler)gültig mit dem weißen Hemd und der dunklen Krawatte. Selbst er, der als oben stehend dargestellt wird, führt den ›Aufblick‹ (vgl. Geste des Aufstehens, Kap. 5.2.2) weiter. Hier kommt eine Struktur zum Ausdruck, die alle Ebenen dieser Institution gleichermaßen zu durchziehen scheint (im Sinne eines modus operandi; vgl. Kap. 2.1) – vom (widerwillig) unterwür¿gen Lehrer bis zum abhängigen Vorgesetzten. Eine Folge davon ist, dass sich die Blicke nicht treffen und damit auch kein Kommunikations- oder Handlungszusammenhang hergestellt wird (vgl. Montage, s.o.).
Die Uhr Die klaren und prägnanten Linien und Konturen des Bildes insgesamt und des Designs der Uhr im Besonderen (Abb. 50) stehen in einem deutlichen Kontrast sowohl zur vorhergehenden Einstellung als auch zur nachfolgenden (Portrait). Zweimal erscheint das Motiv der Uhr als eingelagerte Szene im Film (vgl. Abb. 81a–b), wobei es jedesmal exakt dieselbe Uhr ist – egal ob sie in den räumlichen Kontext des Treppenhauses (wie in S 2) oder des Lehrerzimmers (wie hier) eingefügt ist. Sie wird dabei in keinen expliziten, direkten Zusammenhang mit konkreten Räumlichkeiten gebracht (z.B. durch einen Schwenk), bleibt damit ›un-verortet‹ bzw. ›jenseitig‹ und scheint so hinter all diesen Kontexten zu stehen. Dabei erweist sie sich durch die Reaktionen, die auf ihr Erscheinen hin erfolgen (seien es die ›ausbrechenden‹ Schüler in S 2 oder die aufstehenden Lehrer in S 5.2), als eine hochwirksame strukturierende Instanz. Beide Male wird
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Abb. 50
sie in Hinblick auf die Filmkomposititon an herausgehobenen Stellen gezeigt: bei der Eröffnung des Films im Kontext der Vorstellung des Handlungsortes und bei der dramaturgischen Gestaltung des Höhepunktes, indem sie das Überraschungsmoment vorbereitet, das in den Schlussteil überleitet (Einblenden des Portraits). Indem sie den Hauptteil rahmt, markiert sie eine Art Koordinatensystem, in dem sich der Film entfaltet und in dem sich auch die Produzenten bewegen. Durch den pointierten Einsatz des visuellen Zeichens Uhr (zweimal in Großaufnahme) und seine strukturierende Wirkung im Film entsteht auch eine Verbindung zur Metaphorik, die der Uhr in unserem Kulturkreis zukommt. Die »tickende« oder »laufende« Uhr ist ein gängiges Metonym für das Durchdrungensein und Beherrschtwerden von der Dynamik oder Logik bestimmter (Zeit-) Vorstellungen oder Wahrnehmungen, die Lebensgefühl, Lebensweisen und grundlegende Strukturen eines Feldes prägen (vgl. Duden Bd.11, 1998, S. 745). Dabei setzt die Uhr den Maßstab jenseits des Individuums und stellt die Norm dar, von der aus sich auch die individuellen (biologischen) Uhren de¿nieren oder abheben (vgl. dazu auch den Stil der Bahnhofs-Uhr). Betrachtet man vor diesem Hintergrund den Umgang mit Zeit und Geschwindigkeit in diesem Film, so fällt auf, dass immer wieder eine extreme Verlangsamung und Dehnung der Zeit – beinahe bis zum Stillstand – inszeniert wird, die Ungeduld provoziert und eine gähnende Langeweile beinahe spürbar macht (insbesondere beim Lehrervortrag, S 4.6. und beim gemeinsamen Gespräch ja damals …, S 4.9). Dieses provokative Vertrödeln von Zeit und diese Demonstration zeitlicher Inef¿zienz steht in Kontrast zu der Bedeutung, die der oben beschriebenen Strukturierungsmacht zugeschrieben wird, und lässt demgegenüber eine Distanzierung erkennen.
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Die Uhr und das Portrait Die Kombination der beiden Großaufnahmen (Uhr und Portrait) erfolgt nicht durch Schnitt bzw. Montage, sondern durch einen Schwenk der Kamera. Damit werden beide in eine direkte, ¿lmimmanente Verbindung zueinander gebracht und nahe beieinander verortet. Das Portrait Stoibers wird somit in die unmittelbare Nähe jenes Instruments gerückt, das nicht nur diesen Film, sondern auch den Alltag der Lehrer (der Filmproduzenten) in einem hohen Maße strukturiert. Gleichzeitig erscheint das Portrait dadurch aber auch ebenso ›unverortet‹ im räumlichen Kontext der Filmhandlung wie die Uhr und bleibt damit ebenso ›jenseitig‹ wie diese. Der Aufwärtsschwenk in der Kameraführung bringt beide Gegenstände in die Relation eines ›Höher- bzw. Tiefer-als‹ und stellt damit den Vergleichshorizont einer Rangordnung her. Vordergründig erscheint dabei das Portrait als die höhere Instanz: Es hängt höher als die Uhr und bleibt außerdem etwas länger im Bild (2:3 sec). Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch das Verhältnis zwischen beiden genau umgekehrt dar: Beim Vergleich fällt nämlich auf, dass die Uhr durch ihre Konturen und Kontraste, durch das Glasgehäuse mit dem Metallrahmen und die Unterlegung mit der Holzvertäfelung deutlich massiver, imposanter und kompakter wirkt. Das Portrait erscheint dagegen eher leichtgewichtig und blass – obwohl es farbig ist. Ohne jegliche Rahmung hängt es direkt an der Wand und ist auch etwas kleiner als die Uhr. Hinzu kommt außerdem, dass die Uhr, im Gegensatz zur abgebildeten Person, einen in der Filmrealität immanenten Gegenstand darstellt. Und so erweist sich die Uhr insgesamt als deutlich dominanter, omnipräsenter und dauerhafter als das Portrait. Die Erhöhung des Portraits bestätigt damit die (spöttische) Demonstration (s.o.) seiner Leichtgewichtigkeit, die zum Ausgleich der Bedeutungslosigkeit auf eine Höherpositionierung angewiesen zu sein scheint, dabei jedoch nicht annähernd an das ›Gewicht‹ der Uhr herankommt. Durch die Verbindung von Uhr und Portrait avanciert außerdem die Uhr durch ihre Präsenz und Wirkmächtigkeit beinahe zu einer zweiten, bzw. sogar zur eigentlichen Leit¿gur. Ihr ›Format‹ passt zu einer würdevollen Darstellung deutlich besser als die Rahmung, in der das Portrait präsentiert wird. Was hier allein schon im Bild zum Ausdruck kommt, wird durch die akustische Gestaltung dieser Szene noch zusätzlich unterstrichen: Es ist der Gong der Uhr, der diese Szene untermalt. Sie allein ist es, die hier ›den Ton angibt‹. Während das Portrait im Gegenüber zur Uhr ein stummer Gegenstand bleibt, leiht diese ihm sozusagen ihre Stimme und macht es damit gleichzeitig zu einer Art Sprachrohr. Dadurch erscheint die Person oder Instanz, für die das Portrait steht, beinahe wie
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eine Marionette, deren Fäden von anderer Stelle geführt werden, die sich jedoch gleichzeitig der fremden Gewichtigkeit bedient, um selbst wichtig zu sein. Der begleitende Ton gibt dem Portrait somit etwas Fassadenhaftes. Der Mann selber hält nur seinen Kopf hin – und zwar einen Kopf, der eigentlich gar nicht mal seiner ist, sondern der eines Doubles (vgl. F 108). Dadurch wird letztlich in doppelter Weise eine Attrappe zur Zielscheibe, während die Autorität, die hinter dieser steht, unangreifbar bleibt bzw. nicht wahrgenommen wird. Dabei wird dem Mann auf dem Portrait zwar Machtlosigkeit zugeschrieben, aber eine offenkundig respektlose Demontage seiner Person würde offensichtlich trotzdem Konsequenzen nach sich ziehen, die zu fürchten sind und die es deshalb geraten erscheinen lassen, sicherheitshalber in Deckung zu gehen. Gleichzeitig kommt hierin aber auch seitens der Produzenten die Wahrnehmung eigener Machtlosigkeit zum Ausdruck: Selbst wenn Double oder Original demontiert werden würden, so würde das an den zugrunde liegenden Machtstrukturen nichts ändern.
Am Gruppentisch In diesem Fotogramm zeichnen sich bereits einige wesentliche Aspekte ab, die in der Weiterführung dieser Szenerie (Akt des Aufstehens) ihre Fortsetzung ¿nden werden (Kap. 5.2.2). Ein deutlicher Kontrast zwischen Vordergrund und Hintergrund prägt dieses Fotogramm (Abb. 51): Im Hintergrund dominieren die geraden Linien der weißen Schließfächer, die ordentlich sortiert aneinandergereiht sind und dadurch gleichzeitig auch etwas steril und statisch wirken. Vor diesem aufgeräumten Hintergrund wirkt der Vordergrund wie ein buntes Durcheinander, obwohl die Personen, die dort zu sehen sind, alle in einer ähnlichen Haltung dasitzen. Die gleichförmige Front mit der gleichmäßigen Linienführung erzeugt dabei eine perspektivische Tiefenwirkung, die den Kontrast zum Vordergrund noch erhöht. So wirkt die Kulisse einerseits durch ihre Tiefenwirkung sehr eindringlich, andererseits erscheint sie durch ihre Farblosigkeit beinahe wie eine ›Nicht-Kulisse‹, vergleichbar einem künstlichen Hintergrund in einem Fotostudio, vor den man die Protagonisten für die Aufnahme setzt. Vorder- und Hintergrund verhalten sich dadurch wie zwei voneinander getrennte Welten, die nur künstlich übereinandermontiert worden sind. Die gleichmäßig uniform und stereotyp wirkende Reihe der Schließfächer erscheint wie ein Symbol für Normierung und vergegenwärtigt gleichzeitig die Anstaltsförmigkeit der Umgebung. Zudem erzeugt die in dem Bild dominierende Linienführung den Eindruck eines Eingesperrtseins: Die Linien der
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Abb. 51
Schließfächer, die eine Fläche wie ein Gitter aufspannen, und die Linie, die sich in Fortsetzung der Tischkante ergibt (vgl. Abb. 51), schließen einen spitzen Winkel ein, in dem sich die Personen auf dem Bild wie in einer Schere (bzw. einer ›Zwickmühle‹, Kap. 5.2.2) be¿nden. Die Fläche der Tischplatte gliedert zudem die Sitzenden in eine obere und eine untere Hälfte und lässt sie eingequetscht erscheinen. Desweiteren führt die Schrägperspektive des Bildes in Kombination mit der schräg verlaufenden Wand im Hintergrund und dem schräg gestellten Tisch im Vordergrund, der wiederum einen eigenen Fluchtpunkt hat, zu einer Potenzierung des ›Schrägen‹ und damit auch des Verstellten. Der Gruppentisch ist zum Zuschauer hin geöffnet und gewährt nur auf den vorderen Bereich des blank polierten Tischs Einblick. Weiter hinten wird diese Transparenz von einem undurchdringlichen Dickicht aus Papierstößen abgelöst. Die beiden Personen rechts und links bilden den Rahmen der sitzenden Gruppe. Da sie dem Betrachter am nächsten sind, erscheinen sie im Bild größer als die anderen. Sie sind die einzigen, die fast vollständig zu sehen und auch die einzigen, die nicht mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt sind und starr vor sich hinschauen – der »Oberlehrer« (Abb. 51, links im Bild) auf den Tisch und die »Blinde Kuh«109 (rechts) in den Becher vor sich. Ihr Blick ist nicht auf ein Ziel fokussiert, sondern geht durch die jeweiligen Gegenstände hindurch ins Leere und bleibt dadurch letztlich ›perspektivlos‹ und selbstreÀexiv bei ihnen selber, wobei ihre gesenkten Köpfe ein Bild der Resignation vermitteln. Die ThermosÀasche vor der Blinden Kuh weist außerdem auf die Notwendigkeit der Selbstversorgung hin. Die beiden sind auch die einzigen, die vor sich etwas freien Platz haben, aber 109 Die Bezeichnungen der einzelnen Protagonisten, die hier gewählt wurden, ergeben sich aus ihren ›Auftritten‹ im Hauptteil des Films (S 4; vgl. Strukturskizze im Anhang).
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sie nutzen ihn nicht, im Gegensatz zu den anderen, die hinter den aufgetürmten Papierstößen kaum Handlungsspielraum besitzen, sich vor lauter Betriebsamkeit jedoch gar nicht daran zu stören scheinen. Die Papierberge bedecken den größten Teil des Tischs und stellen dabei ein Hindernis in beide Richtungen dar: einerseits versperren sie die Sicht auf die dahinter arbeitenden Menschen und andererseits ist diesen auch selber der Blick darüber hinaus verstellt und ihr Horizont wird stark begrenzt. Dieser Arbeitsplatz erinnert eher an ein Klassenzimmer für Schüler als an ein Büro für Erwachsene: Selbst in einem Großraumbüro hätte jeder normalerweise seinen eigenen Schreibtisch oder zumindest einen abgegrenzten Arbeitsplatz. Hier gibt es keine individuellen Arbeitsplätze und die raumgreifend aufgestapelten Berge von Papier stehen in einem deutlichen Missverhältnis zur freien ArbeitsÀäche des Tischs. Durch die drangvolle Enge und die daraus resultierende, für Erwachsene in einer beruÀichen Situation eher unnatürliche Nähe erscheinen die Personen an diesem Gruppentisch wie ein (Zwangs-) Kollektiv, in dem allerdings die Berge von Papier eine Kommunikation zwischen den einzelnen Arbeitern untereinander unterbinden. Durch die Sitzordnung, die geringe räumliche Distanz zueinander und die geringe persönliche Arbeitszone wird der Anschein einer Kooperative erweckt, die beinahe pseudofamiliäre Züge trägt und deren informeller Charakter auf dem Hintergrund des Anstaltscharakters dieses Ortes wie eine Zwangs-Informalisierung wirkt. Diese Kollektivierung führt jedoch selbst dort, wo es freien Platz gibt, zu keiner Kommunikation oder Kooperation. Obwohl alle Personen durch die Sitzordnung einander zugewandt sind, ist jeder mit sich selbst – mit seiner Arbeit oder seiner Resignation – beschäftigt und nimmt keinerlei Notiz von den Umsitzenden. Der Eindruck eines gleichgeschalteten Kollektivs wird schließlich noch dadurch unterstrichen, dass sich die Köpfe aller Personen, einer Schulklasse ähnlich, auf nahezu einer Ebene be¿nden – was bei der Inszenierung von Gruppen im Filmbild normalerweise eher vermieden wird (Arijon 2003: 129). Nur die Blinde Kuh (die »Streberin«, s.u.) überragt diese Linie etwas mit ihrem Dutt. Der Raum selbst, der durch Art und Anordnung von Tischen und Stühlen wie ein Klassenzimmer wirkt, legt eine Identi¿kation der Lehrerrolle mit der Rolle von Schülern nahe: Arbeitsbedingungen und Position der Lehrer erscheinen hier als homolog zu denen, die üblicherweise mit Schülern in Verbindung gebracht werden (frontale Orientierung des Gruppentischs; Sitzordnung; Größe des Schreibtischs; Kollektiv; Stil der ledernen Schultasche rechts vorne im Bild). Das Auge des Zuschauers (bzw. das Kameraauge, das vom abbildenden Bildproduzenten geführt wurde; vgl. gestrichelte Horizontlinie in Abb. 52) nimmt dabei eine Position ein,
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aus der eine stehende Lehrperson diese Gruppe betrachten würde. Dies bestätigt nochmals den Eindruck einer Selbstdarstellung (und einer dementsprechenden Selbstwahrnehmung) als ›Schulklasse‹. Dabei ist es ein recht ›schräger‹ Blick, der auf diese Gruppe geworfen wird (vgl. die schräge Horizontlinie in Abb. 52) und der die Potenzierung des ›Schrägen‹(s.o.) fortsetzt. Die sterile Gleichförmigkeit der Schließfächer wird durch zwei Gegenstände durchbrochen, die auf ihnen abgestellt sind und die Ordnung stören: ein Globus und eine SektÀasche. Der Globus holt symbolisch die Perspektive auf die ganze Welt in diesen abgeschlossenen Raum. Er wirkt an dieser Stelle wie willkürlich abgestellt und etwas deplaziert. Die ›Welt‹ tritt hier in Form einer abstrakten Simulation in Erscheinung. So hat man die ganze Welt im Blick und hat von der Welt letztlich doch nichts als eine bunt beklebte Kugel – eine polyglotte Illusion inmitten einer geschlossenen Anstalt. Die SektÀasche ist ein gängiges Symbol für Feiern oder Jubiläen. Hier steht sie etwas ›verschämt‹ weiter hinten, denn in diesem Rahmen ist Alkohol eigentlich nicht erlaubt. Damit vermittelt sie einen Hauch von Subversion, der an die heimlichen Feten von Schülern erinnert und lässt ein weiteres Mal jene Selbstwahrnehmung der Lehrer als ›Schüler‹ anklingen.
5.2.2 Aufblick und Aufstehen Konnotative Offenheit der Geste Auf der denotativen Ebene kann die ausgeführte Geste als ein kollektiver Akt des langsamen Aufstehens beschrieben werden, bei dem gemeinsam ein Punkt fokussiert wird, der sich schräg oben vor den Akteuren be¿ndet. Da diese Geste jedoch nicht zum alltäglichen Handlungsrepertoire von Lehrern gehört, handelt es sich hier nicht einfach um die Inszenierung einer institutionalisierten Handlung oder eines kommunikativen Rituals, sondern um die Realisierung eines Verhaltens, das nicht ohne weiteres einer bestimmten Konnotation zugeordnet werden kann. Am ehesten lässt sich dieses Verhalten im Rahmen der Schule noch im Handlungsrepertoire von Schülern (als kommunikatives Ritual) bei der Unterrichtseröffnung ¿nden. Diese Einordnung würde auch die bisher beobachteten Homologien bestätigen bezüglich der Übernahme von Aspekten der Schülerrolle seitens der Lehrer. Die Lehrer würden dann hiermit in gewisser Weise in die Rolle von (unmündigen) disziplinierungsbedürftigen Schülern schlüpfen. Bedeutungsoffen bleibt diese Aktion aber auch durch ihre ¿lmtechnische Isolation (Schnitt/Montage, vgl. Kap. 5.2.1), die den Adressaten dieser »operativen
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Abb. 52
Handlung«110 ebenso ›unsichtbar‹ macht wie den Urheber der beiden Klopfgeräusche: Die Szene des Aufblickens und Aufstehens beginnt akustisch mit den beiden Schlusstönen des Gongs, der zum Portrait ertönte, dabei über die Montage hinaus noch in diese Szene hinein weiterklingt, und in den sich nun zwei resolute Klopfzeichen mischen. Nachdem das Klopfen aus dem Off kommt, ist deren Quelle nicht eindeutig feststellbar und so bleibt auch dieses Geräusch selbst bedeutungsoffen. Im Gegensatz zu den Klängen des Gongs, dessen Klangquelle kurz vorher noch im Bild war, gibt es für den Urheber der Klopfzeichen in der vorangehenden Szene keine direkten Anhaltspunkte. Außer dem Mann auf dem Portrait bieten die Produzenten dem Zuschauer kein weiteres Objekt an, das mit diesen Geräuschen in Verbindung gebracht werden könnte. Er stellt das einzige, allerdings sehr ¿ktive und damit auch vage Assoziationsangebot dar. Folgt man diesem Gedanken, so träte der stumme Beobachter auf dem Bild aus seiner Passivität heraus und würde sich akustisch auf eine resolute Weise zu Wort melden – und sei es nur in der Phantasie oder im Gewissen der Akteure. Durch die akustische Überlagerung der beiden Klopfzeichen mit dem Gong wird allerdings auch wieder die Dominanz der Uhr hervorgehoben, da sie in gewisser Weise als Auslöser (»Es ist soweit!«) bzw. als Initiator der Klopfgeräusche erscheinen kann. Von Klangeindruck und Anzahl der Schläge her könnte es sich um das Klopfen eines Holzhammers handeln, wie er in Sitzungen oder bei Gericht verwendet
110 Das Aufstehen der Lehrer stellt nach Bohnsack eine sog. »operative Handlung« dar (Bohnsack 2009a: 144ff; vgl. Kap. 3): Sie umfasst mehrere einzelne Gebärden, denen eine zweckrationale Motivkonstruktion zugrunde liegt, die durch die Enaktierung des Handlungsentwurfs (hier des Aufstehens) validiert wird (anders als bei Handlungen, deren Entwurf nicht am Bewegungsverlauf beobachtet werden kann).
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wird, wenn der Vorsitzende die Anwesenden zu Ruhe und Konzentration oder zum Erheben auffordert. Denkbar wäre auch das Klopfen eines Dirigenten mit seinem Dirigierstab auf das Pult, um die Aufmerksamkeit seines Chors oder Orchesters auf sich zu lenken und den nahenden Einsatz zum Beginn des Stücks zu signalisieren. Die Uneindeutigkeit dieser Handlung (ihrer Ursache und der akustischen Zeichen) bringt das kommunikative Wissen um diverse generalisierte Bedeutungsvarianten des Aufstehens ins Spiel. Dadurch ergibt sich eine Überlagerung unterschiedlicher Konnotationen sowie ein Oszillieren zwischen deren verschiedenen Bedeutungsfragmenten, ihr IneinanderÀießen sowie ihre wechselseitige BeeinÀussung im Gesamtcharakter der dargestellten Geste.
Bedeutungsvarianten im Common Sense (Ikonographie der Geste des Aufstehens) Ein Akt des Aufstehens, wie er hier zu sehen ist, kann zunächst einmal ganz grundsätzlich das Zeigen bzw. Demonstrieren von Präsenz beinhalten (z.B. um besser gehört oder gesehen zu werden, um nicht übersehen zu werden). Diese Betonung der Präsenz kommt in unserem Kulturkreis in unterschiedlichen Zusammenhängen zum Einsatz und gewinnt dadurch jeweils eigene Bedeutungen: Einerseits kann sie Ehrerbietung signalisieren (z. B.: Begrüßung; sich erheben zum Gebet; beim feierlichen Einzug in eine Kirche oder beim Erklingen der Nationalhymne), andererseits kann sie auch Protest zum Ausdruck bringen (»aufstehen gegen ...«). Dabei kann es sich um ein individuelles Aufstehen eines Einzelnen handeln (Begrüßung, einzelne Meinungsäußerung) oder um eine kollektive Geste. Gerade bei Letzterem entsteht durch das Kollektiv noch eine zusätzliche Betonung des jeweiligen Charakters dieser Geste und eine besondere Dynamik: Der Einzelne erscheint dann nicht als singuläres Individuum, sondern primär als Teil des jeweiligen Kollektivs. Dabei verleiht das Kollektiv der Geste eine größere Durchschlagskraft und die gemeinsame Ausführung stellt umgekehrt eine größere Identi¿kation des Einzelnen mit dem Kollektiv und damit dessen stärkeren Zusammenhalt her. Solch eine Demonstration der (kollektiven) Präsenz kann entweder freiwillig vollzogen werden oder aber erzwungen bzw. verordnet werden (z.B. bei Fahnenappell und Morgenlied in den Schulen der DDR zur Herstellung von Loyalität oder bei Firmen im asiatischen Raum zur Förderung einer gemeinsamen Identität) – wobei die Übergänge zwischen Freiwilligkeit und Zwang Àießend sein können. In letzterem Falle kann diese Geste auch zur Demonstration einer (öffentlichen)
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Demütigung werden (z.B.: jemand wird an den Pranger gestellt; jemand muss aufstehen und wird zur Rede gestellt). Neben dem Aspekt der Ehrerbietung und der Demonstration von Loyalität auf der einen sowie der Demonstration von Macht auf der anderen Seite kann das (gemeinsame) Aufstehen auch der Herstellung von Konzentration, Disziplin und Ordnung dienen (z.B. das Antreten beim Militär, das Erheben zum Gebet oder die Herstellung der Unterrichtsbereitschaft der Schüler zu Stundenbeginn). An den genannten Beispielen wird bereits deutlich, dass die Bedeutungen dieser Geste je nach Kontext, in dem sie sich vollzieht, stark variieren und dass sich ihre Bedeutungen auch überlagern können. Im Kontext, in den die Geste des gemeinsamen Aufstehens im vorliegenden Fall eingebettet ist, ¿ndet sich für die ausführende Personengruppe zwar keine institutionalisierte Bedeutung, allerdings wird der Ort, an dem der Films spielt, an mehreren Stellen in einer Weise dargestellt, die assoziative Verknüpfungen zu weiteren Kontexten herstellt: zum Gefängnis (z.B. die Präsentation der Räumlichkeiten bei der Filmeröffnung, vgl. Kap. 5.5), zur psychiatrischen Anstalt oder zum Altersheim (vgl. die Ausgestaltung der einzelnen Filmrollen). In einigen dieser Kontexte (Gefängnis, Anstalt) wäre ein gemeinsames Antreten und Aufstehen der Insassen in der Alltagspraxis durchaus denkbar. Damit stellt die Ausführung dieser Geste ihrerseits wiederum eine Verbindung zu jenen Kontextvarianten her. Und so bekommt der Gesamtcharakter dieser Geste nicht nur durch die Überlagerung der möglichen Bedeutungsvarianten des Aufstehens, sondern auch durch die unterschiedlichen Kontextanklänge, in die diese Geste eingebettet sein kann, eine enorme Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit.
Die Geste des Aufstehens im Kontext der Schule Das gemeinsame Aufstehen der Schüler bei Eintreten der Lehrperson ist ein traditionelles Ritual zur Eröffnung des Unterrichts. Meist wird es durch das chorische Sprechen einer Begrüßungsformel begleitet. Ebenso wie andere Rituale verschwand es in Folge der 1960er/ 70er Jahre weitgehend aus den Schulen (Göhlich 2004: 20), da es als undemokratisch und autoritär empfunden wurde und den neuen Idealen einer sozialintegrativen symmetrischen Kommunikationsstruktur zwischen Lehrern und Schülern entgegenzulaufen schien. In der Gegenwart erfreut es sich allerdings allmählich wieder zunehmender Beliebtheit und stellt den Versuch dar, durch eine deutliche Zäsur zwischen Pause und Unterricht die Unterrichtsbereitschaft der Schüler wieder konsequenter herzustellen. In den Kollegien ist eine generelle Einführung dieses Rituals jedoch sehr umstritten, da es über seine
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Funktion zur Herstellung von Ruhe und Konzentration hinaus eben jene Anklänge an eine als militärisch empfundene Disziplinierung (»Kasernenhofpädagogik«) enthält, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. Zinnecker (1978; vgl. auch Kap. 7.1.2 und 2.2) untersuchte die Funktion von Ein- und Austrittsritualen zum Unterricht anhand von Lehrer-Zitaten aus den letzten 200 Jahren: Die Pädagogen als »Wächter der Unterrichtssituation« (ebd.: 103) stellen durch Eintrittsrituale sicher, »daß die Schüler den Regeln der Vorderbühne eine gewisse Achtung erweisen und das undisziplinierte Verhalten der Hinterbühne abstreifen« (ebd.: 103f) und schützen umgekehrt durch Austrittsrituale den Unterricht davor, »vor der Zeit in den Strudel des Hinterbühnen-Geschehens der Schüler hineingerissen zu werden.« (ebd.: 104) Für das 20. Jahrhundert zeichnet er insgesamt einen fortschreitenden Abbau dieser Achtungsrituale nach und stellt in Folge der allgemeinen Liberalisierung der Ordnungsformen einen Verfall der »Vorderbühnenordnung« fest (ebd.: 108f). Monika Wagner-Willi (2005) geht in Folge ihrer empirischen Studie zur rituellen Differenzbearbeitung der Übergänge von der Pause zum Unterricht noch einen Schritt weiter und tauscht die von Zinnecker (in Anschluss an Goffman; vgl. Kap. 2.2) eingeführten Begriffe aus: Aus der Perspektive der Schüler sei der Unterricht selbst längst zur Hinterbühne geworden, während die Prozessstruktur der Peergroup für sie die Vorderbühne darstelle. Hier spiegelt sich eine gesellschaftliche Entwicklung wider, die nach Foucault als Krise der Disziplinargesellschaft beschrieben werden könnte, die deren Ablösung durch andere Formen der Leitung (bzw. Disziplinierung) von Menschen notwendig machen würde.111 Im Bereich der Schule werden diesbezüglich zunehmend neue Strategien und Wege zur Aufrechterhaltung der Vorderbühnenordnung reÀektiert und erprobt. In zahlreichen Klassenzimmern hängen inzwischen sog. Klassenregeln, an deren Erstellung die Schüler beteiligt werden und auf die sie sich nun (idealerweise ›freiwillig‹) verpÀichten sollen (vgl. dazu auch Kap. 7.1.2). Damit geben die Lehrer in gewisser Weise das Monopol auf das Wächteramt zur Aufrechterhaltung der Vorderbühnenordnung aus den Händen. Nun sollen die Schüler selber zu »Wächtern der Unterrichtssituation« werden (vgl. Zinnecker 1978: 114f).
111 »Es gibt mehr und mehr Kategorien von Leuten, die nicht unter dem Zwang der Disziplin stehen, so dass wir die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Disziplin denken müssen. Die herrschende Klasse ist stets durchdrungen von der alten Technik. Es ist jedoch evident, dass wir uns in der Zukunft von der Disziplinargesellschaft von heute trennen müssen.« (Foucault 2005: 145) »Man kann jetzt nur noch unter der Bedingung regieren, dass die Freiheit oder bestimmte Formen der Freiheit wirklich geachtet werden.« (Foucault 2004: 506)
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Interpretation der Geste des Aufstehens und Aufblickens Die Lehrer als ›Insassen‹ Bezieht man die Akustik dieser Szene mit ein, so bestätigt der Gong zunächst die Konnotation eines Aufstehens zur Unterrichtseröffnung: Die Pause ist beendet und der Gong markiert den Übergang zur neuen Stunde und fordert damit (zusammen mit dem zweimaligen Klopfen) ein Antreten zum erneuten Arbeitseinsatz heraus. Aus dieser Perspektive betrachtet würde hier eine Art Rollentausch vollzogen werden: Die Lehrer vollführen ein Ritual, das eigentlich traditionell den Schülern verordnet wurde (Aufstehen und chorisches Sekundieren) und für dessen Einhaltung und Überwachung ursprünglich sie, die Lehrer als »Wächter der Ordnung« (Zinnecker), zuständig waren. Die Lehrer treten damit in die Position von Schülern und vollführen ein Ritual, das sie selbst jedoch den Schülern nicht mehr einhellig ohne weiteres zumuten würden, weil es als unzeitgemäß, undemokratisch und autoritär empfunden wird. Die Schüler ihrerseits führen an keiner Stelle des Films ein derartiges Ritual aus. Im Gegenteil, in der Eröffnungs-Szene (S 2) wird sogar ein Fehlen von Austrittsritualen oder Austrittsregelungen (z.B. die Regel: Der Lehrer beendet die Stunde.) dargestellt: Die Schüler brechen lautstark mit dem Gongschlag aus den Klassenzimmern heraus. Auch an anderen Stellen im Film stellen die Produzenten in ihrer Rolle der senilen Lehrer z.T. drastisch überspitzt heraus, dass sie nicht mehr ›Herr der Lage‹ sind, sondern den Schülern ganz selbstverständlich und freiwillig freie Hand lassen in der Ausübung ihres Bewegungsdrangs (Nudelschlacht, S 4.1) und sie sogar auch dann noch in der Entfaltung ihrer Kreativität bewundern, wenn sie die Lehrperson dabei an der Nase herumführen (Blinde Kuh, S 4.10). Nicht die Schüler erscheinen dabei in der Bringschuld, sondern die Lehrer sind es, die sich notfalls auch ›zum Affen machen‹ (vgl. dazu auch Kap. 5.3.1). Während sich also die Lehrer im Film immer wieder als die Insassen einer (geschlossenen) Anstalt darstellen, erscheinen die Schüler eher als freie Menschen, die lebendig und ungezwungen, ohne jegliche Achtungs- oder Unterwerfungsgesten und ohne Bindung an ein der Institution geschuldetes (schüler-) rollenförmiges Verhalten agieren (vgl. Kap. 5.3.2). Die ursprünglichen ›Wächter‹ dieser Anstalt spielen also die Rolle von ›Insassen‹ und die ursprünglichen ›Insassen‹ der (totalen) Institution Schule (Goffman; Heinze; vgl. Kap. 7.1.2) bewegen sich wie freie Menschen, denen sich die Wächter, alias Insassen, unterlegen fühlen (vgl. S 3; Kap. 5.3.2: ›unter Augenhöhe‹). Dabei inszenieren die Lehrer ihr eigenes
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Diszipliniertwerden seitens einer ihnen hierarchisch übergeordneten Ebene (vgl. Uhr/Portrait) in der Art einer typisch schülerhaften Rollendistanzierung (im betont langsamen Aufstehen, vgl. folgender Abschnitt) und lassen damit ihre eigene Machtbindung erkennen. Während allerdings ihre Machtbindung nach oben ¿xiert bleibt, scheint ihnen demgegenüber die ihnen verordnete Machtausübung nach unten hin zu entgleiten (vgl. Kap. 5.3). Die Zwickmühle, die in diesem Rollentausch zum Ausdruck kommt, weist auf einen strukturellen Widerspruch hin, den die Lehrer in Bezug auf ihre Rolle in der Institution Schule wahrnehmen. Dieser Widerspruch ließe sich im Rückgriff auf Foucault etwa folgendermaßen beschreiben: Die Lehrer erleben sich in ihrer eigenen Machtbindung als Gefangene in einer alten Ordnung (vgl. Foucault 2005: 145) inmitten einer Institution, in der die starren Herrschaftsbeziehungen der Disziplinaranstalten dominieren. Demgegenüber werden die Schüler als Personengruppe wahrgenommen, die dieser alten Ordnung nicht mehr unterworfen und frei von dieser Machtbindung ist, auf die die Lehrer jedoch als »überwachte Überwacher« (Foucault 1977: 228) festgelegt sind. Die Ausübung ihres Wächteramtes wird in diesem Film gar wie eine Art ›Beschäftigungstherapie‹ dargestellt, die ins nahezu Absurde ausdifferenziert wird und sich weniger auf Personen als auf Gegenstände richtet (S 4.12: Klassenzimmertüraufsicht112). Gegenüber dem Tätigkeitsfeld der Disziplinierung und Überwachung kommt seitens der Produzenten auch in Form ihrer Selbstinszenierung als senile Trottel dieser Anstalt eine starke Distanzierung zum Ausdruck, die deutlich macht, dass sie sich nicht nur als machtlose, sondern auch als unfreiwillige Wächter sehen. Gleichzeitig wird darüber hinaus in ihrer Selbstdarstellung als ›Insassen einer geschlossenen Anstalt‹, denen eine Distanzierung von den Ansprüchen dieser Anstalt zunehmend weniger erlaubt wird (z.B. in der Thematisierung eines ›lebenslänglichen Einsitzens‹113 und der Ausdehnung der AnwesenheitspÀicht bis in die Freizeit hinein114), eine fundamentale Ohnmacht gegenüber derartigen institutionellen Ansprüchen sichtbar, die ihrerseits wiederum das enorme Ausmaß der eigenen Machtbindung erkennen lässt. 112 S 4.12: Also die Klassenzimmertür-Aufsicht, die ist wirklich super, wollt ich euch nur sogn, die ist wirklich super! 113 S 4.9: Damals konnte man noch in den Ruhestand gehen … 114 Entsprechend der Anzeigetafeln zu Beginn des Films ¿ndet der Unterricht nun (im ¿ktiven Jahre 2034) auch noch am Wochenende (samstags nachmittags) statt: Um 15:45 beginnt gerade eine weitere Unterrichtsstunde.
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Das Kollektiv der Lehrer Der Akt des Aufstehens wird hier kollektiv ausgeführt. Eine derartige Geste bekommt normalerweise gerade durch die Gemeinsamkeit der Ausführung eine besondere Dynamik, während sich die einzelnen Individuen dem gemeinsamen Zweck unterordnen (s.o. zur Ikonogra¿e des Aufstehens). Hier fällt allerdings auf, dass die Geste von den Beteiligten dieses Kollektivs in sehr unterschiedlichem Tempo und in sehr verschiedenartigen Bewegungsabläufen vollzogen wird. Es handelt sich zwar um eine kollektive Geste, aber in der Art der Ausführung wird die individuelle Variation hervorgehoben und somit der kollektivierende Charakter untergraben. Durch dieses Ausreizen der in einer kollektiven Geste gerade noch möglichen individuellen Spielräume wird eine Distanzierung von einem offenbar als überzogen wahrgenommenen Anspruch auf Gleichförmigkeit und Vergemeinschaftung zum Ausdruck gebracht. Außerdem wird die kollektive Dynamik dieser Geste noch zusätzlich ausgebremst durch das betont langsame Erheben und durch die Zeitverzögerung der Reaktion auf den Gong, der als akustische Aufforderung verstanden werden kann. Homolog dazu zeigt sich dieselbe Verweigerung des Kollektiven auch beim Einsatz des gemeinsamen Liedes, zu dem diese Gruppe nun anhebt (S 5.4), und bei der Art es zu intonieren: Der Einsatz erfolgt ungleichzeitig und die Sänger singen in jeweils unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und schließlich sogar in unterschiedlichen Tonarten. Das Wesen eines Chores, nämlich der koordinierte Gesang, der aus den einzelnen Stimmen einen harmonischen Gesamtklang werden lässt, wird hier völlig konterkariert. Dabei zeigt sich hier nochmals ein Anklang an Verhaltensweisen, die typischerweise mit Schülern in Verbindung gebracht werden: Im betont langsamen Befolgen einer Anweisung kann der eigene Widerwille gegenüber bestimmten Ansprüchen zum Ausdruck gebracht werden ohne sich diesen gleich gänzlich zu verweigern (vgl. Rollendistanz, Kap. 2.2). Diese Reminiszenz wird des Weiteren dadurch unterstrichen, dass die Lehrer in der Ungleichzeitigkeit der kollektiven Geste auch noch das ganze Spektrum typischer Schülerrollen mit ins Spiel bringen – von der die Schülerrolle übererfüllenden Streberin (Blinde Kuh) über den typischen Mitläufer (Musiklehrer) bis hin zum provokativen Verweigerer (Clown, vgl. Kap. 5.4.3). Der gemeinsame Zweck der kollektiven Geste bleibt allerdings aufgrund ihrer Uneindeutigkeit letztlich offen. Durch die Fokussierung eines gemeinsamen Zielpunktes, der nicht ›auf Augenhöhe‹, sondern schräg oben darüber lokalisiert werden kann, wird die Asymmetrie, die im Ritual des Aufstehens liegen kann, hervorgehoben und damit das hierarchische ›Oben-und-Unten‹ betont. Nachdem das
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gemeinsame Ziel des Blicks jedoch im Dunkeln bleibt, bekommt die Asymmetrie der Geste an sich ein größeres Gewicht als das Ziel, dem sie dient. Durch das Aufstehen vollzieht sich gleichzeitig eine Zentralisierung: Waren die Sitzenden vorher zumindest noch als Gruppe angeordnet, so verändert sich ihre Formation nun hin zu einer frontalen Orientierung115. Dabei ¿ndet weder ein Blickkontakt noch sonstige Kommunikation zwischen den Personen statt116 und diese Geste bleibt vollständig und ausschließlich von der Ausrichtung auf den gemeinsam anvisierten Punkt bestimmt. Waren es vorher die raumgreifenden Papierstöße oder der resigniert gesenkte Blick, die einer Kommunikation im Weg standen, so ist es nun die hierarchische Zentrierung und die damit einhergehende Kollektivierung, die einer Kooperation im Wege zu stehen scheint117. Diese offensichtlich ›verordnete Vision‹, in der die Unterordnung bedeutsamer erscheint als die Vision, bringt ein sichtlich gebremstes und völlig unkoordiniertes Vorgehen hervor, wirkt dadurch eher trennend als verbindend und zielt eher auf Re-Aktion als auf eigenständige Aktion. Vor Gericht Nimmt man als Vergleichshorizont für das Verständnis dieser Geste das Aufstehen der Angeklagten vor Gericht (die sich nach dem zweimaligen Klopfen zur Urteilsverkündigung erheben), so fallen die erhobenen Köpfe und der erhobene Blick auf, die der Rollenerwartung an einen Angeklagten entgegenlaufen und die in Kontrast zu den Szenen stehen, in denen der Blick resigniert nach unten gerichtet ist. Und schließlich fangen die Angeklagten auch noch an zu ›singen‹. Aber sie singen kein Geständnis, sondern sie tragen ihrerseits eine Anklage vor, die allerdings nicht direkt formuliert, sondern satirisch verbrämt wird (vgl. Kap. 5.5). Die angeklagten Täter verwandeln sich somit gleichzeitig in (an)klagende Opfer. Und so wird hier eine zugeschriebene Verantwortung zurückgewiesen mit dem Verweis darauf, selber Opfer zu sein. Homologien zu dieser Struktur ¿nden sich zum Einen bei Marianne (S 4.3), deren Rolle in ähnlicher Weise zwischen einer Opfer- und einer Täterrolle oszilliert (vgl. Kap. 5.4.1) und ganz allgemein in der Ausgestaltung 115 Es erfolgt sozusagen eine Hinwendung zu einer »wilhelminischen Struktur« (Göhlich, 1993, S. 108ff). 116 Unklar bleibt, ob die Blickrichtungen von Clown und Marianne in 8:20 einander zugewandt sind. 117 Hier wird eine Unterscheidung getroffen zwischen Kollektiv und Kooperation: Während »Kooperation« ein gemeinsames, koordiniertes Handeln (eine »Operation«) bezeichnen soll, meint »Kollektiv« eher eine Ansammlung von Objekten (im Sinne einer ›Kollektion‹), die lediglich nebeneinander gestellt werden und nicht viel miteinander zu tun haben müssen.
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der Filmrollen, in denen sich die Produzenten einerseits als versagende Trottel zeigen, die ihren Aufgaben nicht vernünftig nachkommen und sich andererseits als (unzurechnungsfähige) Opfer einer Überforderung darstellen. Der von ihnen angeklagte Richter, vor dem sie sich erheben, wird allerdings nicht sichtbar (vgl. Montage) und so bleiben sie letztlich mit ihrer Anklage selbstreÀexiv bei sich selbst: Sie selber sind in diesem Fall Opfer (Kläger), Täter und Richter in Personalunion. Sie verstoßen gegen ihre eigenen Wertorientierungen (vgl. Kap. 5.4) und werden somit sich selbst zum Richter, der sie zur Rechenschaft zieht und vor dem sie sich für etwas verantworten müssen, das sie nicht lassen können/dürfen (vgl. Kap. 5.4.1) – ein zwickmühlenartiger Circulus vitiosus, in dem sie innerlich ebenso gefangen erscheinen wie sie es äußerlich in der Anstalt darstellen. Wie kräftezehrend und endlos sich fortsetzend dieser Zirkel empfunden wird, wird an der sich ständig wiederholenden Szenerie der Marianne deutlich, die sich wie eine Ertrinkende über Wasser zu halten versucht (vgl. Kap. 5.4.1). Neben die Distanzierung von Erwartungen an ihre Berufsrolle, denen sie nicht nachkommen wollen oder können, tritt dort zusätzlich eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Berufsethos: Sie distanzieren sich von den Erwartungen, die an die Lehrerrolle im institutionalisierten (hierarchischen) Handlungssystem der Schule gerichtet werden, gerade auch im Namen ihres Berufsethos, das ihnen verbietet, diesen Erwartungen nachzukommen (Näheres dazu: vgl. Kap. 5.4). Protest und Provokation – mit eingezogenem Kopf Durch die Charakteristik der gewählten Filmrollen, in denen sich die Lehrer als überaltertes, seniles Personal darstellen, klingt in der Geste des Aufstehens auch eine zum Unterrichtseröffnungsritual entgegengesetzte Bedeutung an, nämlich das Aufstehen zum Protest. Die Geste mitsamt dem vorgetragenen Lied wird nämlich letztlich zum Spott (-lied): Ein Heer von Invaliden und Debilen tritt zum Appell an, als eine Mannschaft, die ihrem Dienstherrn wahrlich ›alle Ehre‹ macht und ihn dadurch als Regenten erscheinen lässt, der seinem Chor lediglich eine Kakophonie zu entlocken vermag. Hier wird in der satirischen Übersteigerung der Unterwür¿gkeit sozusagen mit gebeugtem Rücken ›Rückgrat gezeigt‹. Ähnlich wie dies bereits in der Art der Präsentation des Portraits von Edmund Stoiber sichtbar wurde (vgl. Kap. 5.2.1), wird der Protest nicht offen und direkt vorgetragen – keineswegs kommt es gar zu einer Rebellion oder Revolution – sondern die Provokation erscheint in einer mehrfach übereinander geschichteten Verkleidung: Auf der Ebene der Filmnarration in der Verkleidung der Senilität und Unzurechnungsfähigkeit, auf der Ebene der Gestaltung des
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Nudelfrau
Clown
Abb. 53a – d
Films in der konnotativen Offenheit dieser Geste und auf der performativen Ebene in der Verkleidung der Satire, einer Gattung, die ein Stück Narrenfreiheit gewährt. Aber selbst die Satire, die traditionell schon immer eine (mehr oder weniger) legitime Form des (verkleideten) Protestes gegen Autoritäten war, kommt hier in einer zusätzlichen Form der Verkleidung daher: in der Form einer Selbstsatire. Diese Homologie zwischen den unterschiedlichen Ebenen bestätigt und verstärkt das hier zugrundeliegende Muster der Verkleidung und des InDeckung-Gehens: Das Rückgrat wird nicht nur mit gebeugtem Rücken, sondern sicherheitshalber auch ›mit eingezogenem Kopf‹ gezeigt. Hierin wird noch einmal die bereits oben angesprochene Fixierung auf eine Machtbindung deutlich (vgl. Kap. 5.2.1).
5.3 Der Blick nach unten 5.3.1 ›Sich zum Affen machen‹118 Vier der Lehrer, die in S 4 ihre ›Vorstellung‹ geben, berichten von ihrem Unterricht, den sie gerade eben hinter sich gebracht haben (S 4.1: die Nudelfrau; S 4.4: der Clown; S 4.6: der Oberlehrer; S 4.10: die Blinde Kuh). In allen vier Fällen wird also die Bearbeitung ihrer situationsabhängigen Rolle thematisiert, die sie bei der Herstellung des Handlungssystems Unterricht spielen, für das sie verant118 Die umgangssprachliche methaphorische Wendung »sich zum Affen machen« bezeichnet – in Goffmans BegrifÀichkeiten – eine übermäßige Rollendistanz gegenüber der eigenen statusgemäßen Rolle (vgl. dazu Kap. 2.2).
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Blinde Kuh
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Oberlehrer
wortlich sind. Damit steht ein anderer Aspekt der beruÀichen Identität der Lehrer im Zentrum der Aufmerksamkeit als im vorangegangenen Kapitel: Während es dort im Wesentlichen um die Beziehung der Lehrer zu der ihnen übergeordneten Ebene ging, kommt nun das Gegenüber zwischen Lehrern und Schülern, also zu der ihnen of¿ziell untergeordneten Ebene in den Blick. Goffman erläutert am Beispiel eines Chirurgen die Erscheinungsformen von Rollendistanz, durch die ein of¿ziell Vorgesetzter und damit statusgemäß Überlegener die Distanz gegenüber seinen ihm untergeordneten Mitarbeitern verringern kann (vgl. Kap. 2.2). Um eine angenehme Arbeitsatmosphäre im Team, dem er vorsteht, zu schaffen, muss er bereit sein, den Status Quo zu lockern, auf Rechte, die mit seiner Position verbunden sind, zu verzichten und Handlungen auszuführen, die für ihn bezüglich seines formalen Status u. U. unangemessen sind. Seine Verantwortung für die Aufrechterhaltung des institutionellen Handlungssystems lässt ihn, den Leiter des Operationsteams, dadurch manchmal zu einer Art »Gastgeber für Partygäste« (Goffman 1973b: 143) werden oder auch einmal in die »Clownrolle« (ebd.: 144) schlüpfen (vgl. Kap. 2.2). Drei der vier genannten Lehrer zeigen in Bezug auf das Handlungssystem Unterricht eine deutliche Rollendistanz im oben beschriebenen Sinne Goffmans. Nicht nur in ihren Berichten, sondern auch durch ihre Erscheinung demonstrieren sie eine Lockerung des Status quo im Gegenüber zu den Schülern, die so weit geht, dass sie nicht nur auf Rechte, die mit ihrer Position verbunden sind, verzichten, sondern dass sie sogar bereit sind, Formen von Respektlosigkeit zu akzeptieren und damit Umgangsformen seitens der Schüler tolerieren, die nicht reversibel sind, d.h. die sie nicht ungestraft auch umgekehrt gegenüber den Schülern zeigen dürften.
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Die Programmatik der Reversibilität im Umgang mit Schülern, die im Anschluss an die Studien von Tausch & Tausch (1971) insbesondere seit den 1970er Jahren zum allgemein anerkannten Ideal für Pädagogen geworden ist, wird hier umgekehrt: Waren es bisher die Pädagogen, die aufgefordert wurden, ihre Äußerungen gegenüber den Schülern so zu formulieren, dass diese auch umkehrbar wären und damit in Form des sog. »sozialintegrativen Stils« eine (quasi-) symmetrische Kommunikationssituation herzustellen (vgl. Kap. 7.1.2), so werden hier nun die Schüler als diejenigen gezeigt, die gegenüber den Lehrern eine Irreversibilität an den Tag legen: So kommt die Hauswirtschaftslehrerin (Abb. 53a) mit einem SpaghettiBehang ins Lehrerzimmer und lobt die wunderbare Vollkorn-Nudelschlacht, die dieses Mal glücklicherweise ohne Tomatensauce ablief. Oder der Clown (Abb. 53b) kommt gebeugt mit einem Trolley, überladen und entstellt von Unterrichtsmaterialien daher (vgl. Kap. 5.4.3) und preist die tolle Stunde, die er gemacht hat. Und schließlich kommt die Blinde Kuh mit verbundenen Augen hereingewackelt (Abb. 53c) und erzählt begeistert, wie ihre Schüler sie an der Nase herumgeführt haben: Ach, die Kinder sind so kreativ! Sie haben mir die Augen verbunden und dann haben sie gesagt, ich soll hören, wer das Zimmer verlässt. Und die waren alle weg. Und ich hab nix gehört! Alle drei demonstrieren jeweils unterschiedliche Formen von Degradierung, die sie im Handlungssystem Unterricht über sich ergehen lassen. In der Ausübung ihrer situationsabhängigen Rolle gehen sie so weit auf die ihnen Untergebenen zu und verringern die statusgemäße Distanz derart, dass sie sich Sachen ›gefallen lassen‹ (im wahrsten Sinne des Wortes), die nicht nur einem Repräsentanten ihrer Berufsrolle, sondern jeglicher Person gegenüber unangemessen sind. Ihre Anpassung an die situationsabhängige Rolle geht also über den Verlust des mit ihrer Berufsrolle verbundenen Status hinaus bis hin zu einer Beschädigung ihrer persönlichen Identität. Aber anstatt sich über diese Demütigung zu beklagen, präsentieren sie die erlittene Schmach als (pädagogischen) Erfolg vor ihren Kollegen im Lehrerzimmer. Sie deuten das peinliche Geschehen und die offensichtliche Deformation so überzeugt um, dass es den Anschein erweckt, als würden sie ihre Interpretation der Situation selbst glauben und verschlössen ihre Augen vor den deutlich sichtbaren Tatsachen (z.B. dem lächerlichen Nudelbehang). In der Rolle der Blinden Kuh wird dies auch noch metaphorisch durch die verbundenen Augen zum Ausdruck gebracht. Das »Rollengeschäft« (Goffman 1973b: 137) geht damit für sie nicht auf. Durch ihre Rollendistanz erscheinen sie zwar als erfolgreiche »Gastgeber für Par-
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tygäste«, aber sie verlieren dadurch ihren Status als Leiter des Handlungssystems und nehmen durch diese Situation Schaden an ihrer persönlichen Identität. Der Verlust ihres sozialen Status in diesem Handlungssystem führt also sogar bis hin zur persönlichen Degradierung. Der vierte Lehrer in diesem Bunde, der Oberlehrer (Abb. 53d), passt sich nicht durch Rollendistanz an das Handlungssystem Unterricht an. Er verbleibt in der distanzierten Position seiner beruÀichen Rolle und zeigt kein Eingehen auf das Handlungssystem oder seine Rollenpartner (Schüler). Er übernimmt damit in dieser Hinsicht nicht die Verantwortung für das Gelingen des Handlungssystems Unterricht. Im Gegenteil – er demonstriert Selbstzufriedenheit und Rückwärtsgewandheit mit einem kleinen Schuss Ratlosigkeit (vgl. auch Kap. 5.4.4): … aber wahnsinnig stolz! Äh – äh – aber könnt ihr mir sagen, warum mir die Kinder damals immer so schön zugehört haben? – Aber stolz bin ich immer noch auf meinen Lehrervortrag! Bei diesen vier Lehrern ¿nden sich also zwei sehr unterschiedliche Typen bezüglich ihres Umgangs mit ihrem Alltagsgeschäft Unterricht. Allerdings gelingt es beiden Typen nicht, die Diskrepanz zwischen der sozialen Rolle (der Berufsrolle) und ihrer situationsabhängigen Rolle im Kontext der Institution Schule erfolgreich oder wenigstens zufriedenstellend zu bewältigen. Dabei kommen diejenigen, die sich auf einen Statusverzicht einlassen, deutlich schlechter davon: Sie machen sich nicht nur lächerlich, sondern sie nehmen zusätzlich zu ihrem Statusverlust auch noch Schaden an ihrer persönlichen Identität. Aber auch die Nichtanpassung an das Handlungssystem Unterricht lässt den Akteur lächerlich erscheinen und wird damit von den Produzenten nicht als mögliche Handlungsoption vorgestellt. Die Notwendigkeit der Verantwortungsübernahme für das Handlungssystem und einer damit verbundenen Rollendistanz seitens der Lehrer bleibt für sie letztlich außer Frage. Nur ist sie aus Sicht der Produzenten zum Scheitern verurteilt. Der Versuch der Lehrer, die Distanz zu ihren Rollenpartnern zu verringern, scheint zwangsläu¿g zu einer Umkehr zwischen oben und unten zu führen. Die Struktur des institutionellen Handlungssystems wird also in einer Weise wahrgenommen, die eine Annäherung ›auf Augenhöhe‹ nicht möglich macht. Hier zeigt sich eine Homologie zu anderen Szenen, in denen ebenfalls die Ausschließlichkeit der Alternative zwischen oben oder unten zum Ausdruck kommt (wobei sich die Lehrer selbst jeweils dem Unten zuordnen) und damit der Rahmen der Institution als ein streng hierarchisch (vor-) strukturierter charakterisiert wird (vgl. Kap. 5.2 und Kap. 5.3.2).
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5.3.2
Der Weg
In der Sequenz »Der Weg« (Abb. 54) wird durch die Art des gezeigten Bildausschnitts, durch die Bewegung des Bildes (Perspektive und Bewegung der Kamera) und den Wechsels zwischen den Bildern bzw. Szenerien (Montage) ein »narrativer Raum« (Hickethier 2001: 84–86) konstruiert, in dem das Erzählkonzept der »subjektiven Kamera«119 zum Einsatz kommt (vgl. Kap. 3): Das Filmbild zeigt lediglich die beschränkte (subjektive) Sicht einer Film¿gur, und der Zuschauer bekommt dadurch nur das zu sehen, was diese Figur selbst zu sehen scheint. Die völlig disparaten Szenerien, zwischen denen dabei zweimal hin und her gesprungen wird (vgl. Abb. 54), werden zu einer Einheit durch die gemeinsame, in ihrer Geschwindigkeit gleichbleibende Vorwärtsbewegung, die in beiden Szenerien zu sehen ist. Die Kontinuität dieser Sequenz wird also durch eine Art Bewegungsmontage120 hergestellt (Weiteres dazu siehe Kap. 3, Bsp. B). Die ¿lmische Narration erzählt hier also in der ›Ich-Form‹ (subjektive Kamera) von einer Person, die langsam einen Weg zurücklegt (0:58–1:20). Dabei ändert sich lediglich deren Blickrichtung: Zunächst schaut sie relativ steil auf den Boden vor sich hinunter (Horizontalfahrt der Kamera in Vogelperspek119 Es handelt sich hier um einen feststehenden ¿lmwissenschaftlichen Terminus (vgl. Steinmetz 2005: 23f; Hickethier 2001: 131f; Faulstich 2002: 120). Hickethier unterscheidet diesbezüglich drei Erzählkonzepte, die kinematogra¿sch hergestellt werden können (Hickethier 2001: 130–132): a) Die Kamera nimmt eine Erzählperspektive ein, die in etwa dem auktorialen Erzähler in der literarischen Erzählung entspricht. Als eine Art allwissender Erzähler behält er die Distanz zum Geschehen. Dazu wird die Kamera so geführt, dass sie sozusagen einen ›objektiven‹ Blick auf das Geschehen zeigt. b) Die »subjektive Kamera« entspricht in etwa dem »Ich-Erzähler« in der Literatur. c) Die Position der identi¿katorischen Nähe: Durch spezielle Kamerabewegungen kann der Eindruck erzeugt werden, als sei der Zuschauer selbst in ein Geschehen involviert. Bei den Erzählkonzepten b) und c) scheint sich die Kameraführung zu verselbständigen, sodass hier auch der Begriff der sog. »autonomen Kamera« (oder der »entfesselten Kamera«; vgl. Steinmetz 2005: 23f) verwendet wird. Beispiele dazu siehe in Kap. 4.2.2 und 4.2.4. 120 Indem ein markanter oder wichtiger Bildinhalt gleich bleibt, können auch zwei völlig unterschiedliche Szenerien so miteinander verbunden werden, dass in der Kontinuität des Filmverlaufs kein Bruch entsteht. Ein Sonderfall ist dabei die Bewegungsmontage, in der eine sich bewegende Figur (oder Gegenstand) kontinuierlich über mehrere Einstellungen und Schnitte hinweg gezeigt wird. Die Kontinuität wird dabei durch das Gleichbleiben von Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit gewahrt (Steinmetz 2005: 36; vgl. Beispiele in Kap. 3, Bsp. B).
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Abb. 54
tive), danach geradeaus (Horizontalfahrt in Zentralperspektive). Dabei bewegen sich die Augen des ›Ich-Erzählers‹ unter der Augenhöhe der abgebildeten (sie umgebenden) Personen (die Kamera wird nicht auf Augenhöhe geführt). Die Blickrichtung dieser Person wechselt danach noch dreimal durch Montage (auf den Boden; geradeaus; auf den Boden) und wird schließlich, während die Person stehen bleibt (Ende der Horizontalfahrt der Kamera), durch einen Kameraschwenk (anstelle der Montage) aufwärts und dann wieder abwärts geführt (1:21–1:49). Bei der Interpretation dieser Sequenz treten insbesondere vier Aspekte hervor, die im Folgenden erläutert werden sollen (vgl. zu dieser Sequenz auch: Bohnsack 2009a: 166ff).
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Zwei Welten Die Montage verbindet hier zwei sehr unterschiedliche Stränge miteinander, deren Gegensätzlichkeit durch die je wechselseitige Kontrastierung noch verstärkt wird. Der großen Dichte an bunt bekleideten Körpern auf der einen Seite steht ein leerer blauer Fußboden und eine ›körperlose‹ Figur auf der anderen Seite gegenüber, von der man nur Fußspitze, Rockzipfel und eine einfarbig braune Tasche sieht. Dem lebhaften Gestikulieren einer Vielzahl miteinander kommunizierender Jugendlicher auf der einen Seite werden langsame, reduzierte Bewegungen einer einzelnen, auf sich selbst blickenden älter wirkenden Frau (vgl. Schuhe, Rüschenrock und Gangart / Tempo) entgegengesetzt, deren Blick gesenkt ist. Während der Seniorin immer wieder eine überdimensioniert wirkende braune Aktentasche vor die Füße pendelt, die sie ganz von ihrer beruÀichen Rolle vereinnahmt erscheinen lässt, treten die Jugendlichen nicht in ihrer Rolle als Schüler in Erscheinung (nichts im Bild deutet auf ihre soziale Identität als Schüler hin) und haben ihre Hände frei. Schließlich verstärkt sich der Kontrast auch noch durch den jeweiligen Tonraum: Anstatt die Klangkulisse konstant zu halten und so diese Sequenz als konsistente, von beiden ›Parteien‹ gemeinsam erlebte Situation kenntlich zu machen (wie das sonst bei dieser Art der Montage üblich ist), wurde sie an denselben Stellen geschnitten wie das Filmbild. So stehen, abrupt voneinander abgesetzt, dem lauten Stimmengewirr der Jugendlichen auf der einen Seite stark gedämpfte, wie aus weiter Ferne kommende Gesprächsgeräusche und leise Schritte auf der anderen Seite gegenüber. Lehrerin und Jugendliche werden auf diese Weise als in einer je eigenen akustischen Realität lebend dargestellt. Vor allem die Lehrerin, die beim Blick auf den Boden ihre eigenen Schritte unverhältnismäßig laut hört, scheint von der Klangwelt, in der sich die Schüler bewegen und die sie selbst nur wie von weiter Ferne hört, völlig abgeschnitten zu sein. Diese beiden sehr gegensätzlichen Stränge, die kaum etwas gemeinsam haben, werden nun auch noch von einem lediglich hauchdünnen Band zusammengehalten: Ihre Verbindung wird nur durch die Vorwärtsbewegung einer ›Nicht-Person‹ – also eigentlich eine ungegenständliche Vorwärtsbewegung (vgl. Kap. 3, Bsp. B)121 – hergestellt. Eine losere, noch vagere Verknüp¿ng, durch 121 Die sich bewegende Figur selbst, durch die in einer Bewegungsmontage üblicherweise die Kontinuität hergestellt wird (vgl. F 120), ist im hier vorliegenden Fall kaum bzw. gar nicht zu sehen. Zur Analyse des eigentümlichen Charakters dieser Montage siehe insbes. auch Kap. 3, Bsp. B.
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die die Zusammengehörigkeit der disparaten Abschnitte noch erkennbar bleiben würde, ist kaum vorstellbar und so unterstreicht gerade deren Verbindung die Unüberbrückbarkeit der Kluft, die sich zwischen diesen beiden Welten auftut.
Die Nicht-Begegnung Diese Sequenz ist die einzige Passage in diesem Film, in der eine Begegnung zwischen Lehrern und Schülern in Szene gesetzt wird. In der Art und Weise, wie sie hergestellt wird und wie sie charakterisiert ist, dokumentiert sich dabei geradezu eine ›Nicht-Begegnung‹: Weder nehmen die Schüler Notiz von der Lehrperson, noch nimmt die Lehrerin die Schüler als Personen wahr: Von den Jugendlichen erfasst sie hauptsächlich Torsos mit abgeschnittenen Köpfen und Beinen (vgl. Bildgestaltung). Und in der Art, wie sie sich durch das Dickicht von Körpern hindurchschlängelt, wird außerdem nahegelegt, dass sie diese eher als ein Hindernis wahrzunehmen scheint. Dabei sind es nicht einzelne Personen, sondern eine Masse aus Körpern, die den Bildraum bestimmt – ebenso wie im Tonraum auch keine einzelnen Sätze zu identi¿zieren sind, sondern lediglich ein Stimmengewirr zu hören ist. Auch die Blicke der Schüler, die selber einander in lebhafter Kommunikation zugewandt sind, und der Blick der Lehrerin (Kamera) ›unter Augenhöhe‹ laufen aneinander vorbei. Durch die Kontrastierung mit der Kommunikation der Schüler (die untereinander ›auf Augenhöhe‹ statt¿ndet) wird nicht nur die Kommunikationslosigkeit an sich zwischen Lehrerin und Schülern gezeigt, sondern sie wird (durch die Kameraführung) auch noch in besonderer Weise charakterisiert durch ihre Genese aus der hierarchischen Struktur eines Oben und Unten. Die Verteilung dieses Oben und Unten läuft dabei dem of¿ziellen Status dieser beiden Personengruppen entgegen und kehrt so das Erwartete um (vgl. Kap. 5.3.1). Die Nicht-Begegnung zeigt sich allerdings nicht nur in der szenischen Choreogra¿e, der Kameraführung, der Gestaltung der Bilder und des dazugehörigen Tons, sondern auch in der Art der Montage, durch die die Gegensätzlichkeit der beiden Bild- und Klangstränge eher akzentuiert als überbrückt wird (s.o.). Dabei wird das Aufeinandertreffen von Lehrerin und Schülern aus einem ›subjektiv gefärbten Blick‹ heraus charakterisiert, der der eigenen Perspektive der Produzenten verhaftet bleibt und somit einen ›Dia‹-log von vornherein ausschließt. Dieser ›vermittelte‹, indirekte Blick (sozusagen ein ›Blick im Blick‹) bleibt die einzige Begegnung zwischen Lehrern und Schülern in diesem Film. Hier zeigt sich in gewisser Weise eine Homologie zu der Begegnung zwischen dem Lehrerkollegium und der ihm übergeordneten Ebene. Die Trennung der Ebenen kam dort in
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Form eines ›Bildes im Bild‹ zum Ausdruck (vgl. Portrait in Kap. 5.2.1) und ließ die übergeordnete Ebene als eine gewissermaßen ›jenseitige‹ erscheinen. Somit werden alle hierarchischen Ebenen, die in diesem Film thematisiert werden, als unüberbrückbar voneinander abgesetzte dargestellt.
Die Bindung an die institutionelle Rolle Die kaum sichtbare Person der Lehrerin erscheint wie eine Art körperloser Geist, von dem im Bild nichts als nur die Fußspitze und der Rockzipfel zu sehen sind. Das raumgreifendste Requisit, das von ihr ins Bild kommt, ist eine überdimensional wirkende braune Aktentasche, die immer wieder vor ihre Füße pendelt, ihr den ohnehin schon extrem begrenzten Blick (Scheuklappenblick; ›Horizont‹: Fußboden) auf den Weg und ihre Füße versperrt und sie beim Gehen behindert. Dabei entsteht der Eindruck, dass hier eine ›wandelnde Aktentasche‹ (eine Aktentasche auf Füßen) unterwegs ist: Die wenigen Indizien, die auf ihre persönliche Identität hinweisen (die zierlichen schwarzen Schuhe und der gerüschte Rock – zu denen eher eine kleine altmodische Handtasche passen würde), werden von der Massivität der durch die schwerfällige Bewegung sehr gewichtig erscheinenden Aktentasche förmlich erschlagen. Die Aktentasche, als eindeutig beruÀich konnotiertes Requisit, lässt diese Person daher als völlig von ihrer Berufsrolle dominiert erscheinen, hinter der ihr persönliches Selbst nicht nur nahezu vollständig verschwindet (in einigen Fotogrammen ist nur noch die Aktentasche sichtbar), sondern durch die ihrer Persönlichkeit geradezu Gewalt angetan wird. Die Wahl einer Aktentasche betont dabei einen bestimmten Aspekt ihrer Berufsrolle, in dem nicht der Umgang mit Menschen im Vordergrund steht, sondern der mit Abstraktionen, die ihren Niederschlag auf Papier ¿nden. Der Umgang mit Akten und Papierstößen spielt in diesem Film insgesamt eine sehr bedeutsame Rolle. Auch Marianne verschwindet nahezu vollständig hinter den sich auftürmenden Papierbergen (vgl. Kap. 5.4.1). Ganz anders treten demgegenüber die Schüler in Erscheinung: Sie sind in dieser Sequenz nicht eindeutig als Schüler zu identi¿zieren, denn es tauchen weder schulische Requisiten auf, noch werden schulisch konnotierte Verhaltensweisen sichtbar gemacht. Die Jugendlichen hier könnten sich auch in einer Freizeitsituation in ihrer Peergroup be¿nden. Im Gegensatz zur Lehrerin werden sie damit nicht in der Rolle gezeigt, die ihnen die Institution Schule zuweist. Auch nicht die kleinste Anspielung auf eine Zurückweisung oder Auseinandersetzung mit dieser Rolle ist hier zu ¿nden, die auf eine Bezugnahme oder Bindung an diese Rolle
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hinweisen könnte. Die Schüler erscheinen somit völlig frei von jeglicher institutioneller Einbindung. Diese Freiheit kommt auch in der szenischen Choreogra¿e zum Ausdruck im lebhaften Gestikulieren ihrer Hände, die sie im Gegensatz zur Lehrerin ›frei haben‹. Dieser Blick der Lehrerin auf die Schüler weist auf eine Fokussierung des Nicht-Rollenförmigen der Schüler hin, bei der deren Körperlichkeit und Vitalität betont wird. Gegenüber der körperlichen Präsenz der Schüler, die das Bild förmlich ›überquellen‹ lässt und einen Bildeindruck erzeugt, der dem Betrachter (der betrachtenden Lehrerin) förmlich ›die Augen übergehen lässt‹ (insbesondere in Kombination mit der Kamerabewegung nach vorne), erscheint die beinahe körperlose Lehrerin deutlich unterlegen. Die plötzliche Lautstärke (nach dem Schnitt), durch die die Präsenz der Schüler noch unterstrichen wird, verstärkt den Eindruck einer ReizüberÀutung auf seiten der Lehrerin zusätzlich. Demgegenüber wirkt das Absenken ihres Blicks wie ein resigniertes und defensives Eintauchen in eine Introversion, die einer Überforderung geschuldet erscheint. Die Übermacht der raumgreifenden Schüler, der sie als schmächtige Einzelkämpferin gegenübersteht, wird durch deren Überzahl, deren Größe und deren Dichte auf engem Raum, verstärkt durch den hohen Geräuschpegel des Stimmengewirrs, überdeutlich. Und auch die Diskrepanz zwischen der Größe der Aktentasche und den Indizien, die auf die körperliche Konstitution der Lehrerin hinweisen (geringe Körpergröße, langsames Tempo, Kleidung im Stil einer älteren Dame), lassen den Eindruck entstehen, dass sie ihren Aufgaben (Aktentasche) nicht richtig ›gewachsen‹ ist. Die Unterlegenheit dieser auf eine Aktentasche reduzierten Person zeigt sich schließlich auch noch in deren Blickführung (Kameraführung): Aus der Perspektive der Lehrerin, deren Blick unter Augenhöhe durch die Menge irrlichtert, scheinen ihr die Jugendlichen (in ihrer Körperlichkeit) ›über den Kopf zu wachsen‹. In ihrer Unterlegenheit zeigt sich jedoch gleichzeitig auch noch ein völlig anders gearteter Ausdruck: Je mehr sie sich den Körpern nähert, desto stärker ›verstümmelt‹ erscheinen diese im Bild: Köpfe und Beine werden durch die Blick- (bzw. Kamera-) Führung abgeschnitten, sodass aus den Personen Torsos entstehen. Die oben thematisierte ›Nicht-Begegnung‹ zwischen Personen wird damit zusätzlich unterstrichen: Eine ›kopÀos‹, weil ›gestaltlos‹ (nicht-) erscheinende Lehrperson und ›geköpfte‹ Jugendliche – übrigens die einzige Gemeinsamkeit der beiden disparaten Stränge – stehen einander gegenüber. Nicht nur eine Begegnung auf Augenhöhe wird dadurch unmöglich, sondern jegliche Kommunikation von Mensch zu Mensch. Dabei ist allerdings die Zerstückelung der gehenden Person ungleich viel größer (nur Teile der Beine kommen ins Bild) als die der Jugendlichen, die immerhin noch als ›Torsos‹ zu sehen sind. Interessant ist hier, dass sich diese ›Verstümmelung‹ durch
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den subjektiven Blick der an ihre institutionelle Rolle gebundenen Lehrerin vollzieht und dass die ›Verstümmelten‹ demgegenüber als Jugendliche (in einer informellen Peer-Situation) gezeigt werden. Diese Besonderheit tritt durch einen Vergleich mit der vorangehenden Szene (S 2) noch deutlicher hervor: Dort werden die Jugendlichen in ihrer Rolle als Schüler, kenntlich gemacht durch ihre Schulrucksäcke, gleichzeitig ›unverstümmelt‹ gezeigt wobei der Blick, der auf sie fällt, einer auktorialen (nichtsubjektiven) Erzählperspektive entspringt. Mit der Bindung der Lehrperson an ihre institutionelle Rolle wird also gleichzeitig ein Missverhältnis zwischen der Bindung der Lehrperson an ihre Rolle und dem Nicht-Festgelegtsein der Schüler auf deren institutionelle Rolle dargestellt (vgl. auch die Darstellung der ungleichen Bindung an die Institution in der Geste des Aufstehens; Kap. 5.2.2). Aus dieser Ungleichheit entspringt schließlich ein ambivalentes Verhältnis der Lehrperson im Gegenüber zu den Jugendlichen, das in dieser Szene seinen Ausdruck ¿ndet: Einerseits wird die Lehrerin als unterlegen und resigniert (Blick auf den Boden) charakterisiert, andererseits werden in dieser Unterlegenheit die Schüler zu ›Hindernissen‹ degradiert und in ihrem Personsein in gewisser Weise brutal reduziert (›abgeschnittene‹ Köpfe und Beine). In der Art einer Übergegensätzlichkeit beinhaltet diese resignierte Unterlegenheit damit gleichzeitig eine nahezu aggressive Entwertung des als überlegen wahrgenommenen Gegenübers. Diese Übergegensätzlichkeit wird sich noch sehr eindrücklich in der Szene »Marianne« zeigen (vgl. Kap. 5.4.1). Die Verbindung zwischen der Unterlegenheit der Lehrperson und dem Missverhältnis der Rollen¿xierung zwischen Schülern und Lehrern zeigte sich bereits im vorangegangenen Kapitel (Kap. 5.3.1): Die von den Lehrern in Szene gesetzte Rollendistanz im Gegenüber zu den Schülern wies eine Informalisierung der Situation auf (vgl. »Gastgeber für Partygäste«), aus der letztlich die Lehrer (die eigentlich vom Status her Überlegenen) als die Unterlegenen und Verballhornten hervorgingen. Auch in dieser Szene hier erscheinen nun die beiden institutionell komplementär aufeinander bezogenen Rollenpartner (Schüler und Lehrer) eben gerade nicht als ›Rollenpartner‹ im eigentlichen Sinne: Denn während die Lehrerin auf ihre institutionelle Rolle festgelegt und davon nahezu absorbiert erscheint, bleibt die institutionelle Rolle des Schülers hier genau genommen unbesetzt, da die Jugendlichen demgegenüber – und aus der Sicht der Lehrerin – als völlig frei von institutionellen Rollenerwartungen erscheinen, was wiederum die hochgradige Rollen¿xierung der Lehrerin bestätigt. Diese Ungleichheit trägt ›aus Sicht‹ der Lehrer(in) wiederum zu ihrer eigenen Unterlegenheit bei, in der das Rollengeschäft zwischen den beiden Rollenpartnern eben nicht aufgeht (vgl. Kap. 5.3.1).
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ReÀexion der SelbstreÀexion Der eine der beiden Stränge dieser Sequenz zeigt in der subjektiven Erzählperspektive den Blick der Lehrerin auf ihre eigenen Füße. Dabei reduziert sich die Perspektivität der Akteurin völlig auf sich selbst. Sie bleibt selbstreÀexiv auf sich selbst bezogen und mit sich selbst alleine. Die gedämpften Klänge, von denen dieser Abschnitt untermalt wird, lassen sie dabei noch zusätzlich wie unter einer Käseglocke in einer ganz für sich abgegrenzten Welt erscheinen. Und auch die Montage dieser Sequenz, die die unüberbrückbare Gegensätzlichkeit der beiden aneinander montierten Welten betont, trägt noch zusätzlich dazu bei, ihre Welt als eine abgetrennte, in sich geschlossene erscheinen zu lassen. Dabei lässt die Kontrastierung der beiden aneinander montierten Welten die Isolierung und Vereinzelung der Lehrerin durch den Gegenhorizont der kommunikativen Dichte und Lebendigkeit der Jugendlichen untereinander besonders plastisch hervortreten. Schließlich erscheint sie auch durch den narrativen Raum, der in dieser Montage konstruiert wird, als eine Person, die mit einem scheuklappenartigen, stur geradeaus gerichteten Blick (bei der Kamerabewegung kein Schwenk nach rechts oder links) sich durch ein Dickicht aus Jugendlichen laviert, ohne diese überhaupt in ihrer Personhaftigkeit wahrzunehmen. Ihre strikte Selbstbezogenheit zieht sich somit als homologe Struktur durch die verschiedenen Dimensionen und Komponenten dieser Sequenz hindurch. Dabei steht diese Selbstbezogenheit gleichzeitig in einem engen Zusammenhang mit der Begrenzung der eigenen Perspektivität, die sich ebenfalls in mehrfacher Weise in dieser Sequenz dokumentiert: Bereits der steil auf den Boden gerichtete Blick lässt nur einen sehr begrenzten Horizont sichtbar werden. Dabei erzeugt die Kombination zwischen der Vorwärtsbewegung und dem konsequent auf den Boden gerichteten Blick ebenfalls den Eindruck einer Ziel- und Perspektivlosigkeit. Darüber hinaus reduziert sich die ohnehin schon sehr begrenzte Aussicht auch noch weiter durch die raumgreifende braune Aktentasche, die sich ihr immer wieder in den Blick schiebt. Und selbst dort, wo sich ihr Blick schließlich nach vorne richtet, tut sich keine weitere Perspektive auf, sondern erscheint sie sogar noch weitaus eingeschränkter als vorher, durch die Menge der Schüler, die ihr, dicht gedrängt auf engem Raum, nun im Weg steht. Wo sie sich auch hinwendet – es gibt keinerlei Aussicht auf Aussicht. In dieser auf sich selbst reduzierten Selbstbezogenheit wird ein ›monadischer‹ Habitus sichtbar, der in einem deutlichen Kontrast steht zur dyadischen Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Vor diesem Gegenhorizont muss dieses Monadentum im Kontext einer Institution, die sich als eine pädagogische versteht, als eine Deformation des Professionellen erscheinen. An die Stelle
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einer pädagogischen Begegnung tritt hier sogar eine ›Nicht-Begegnung‹ und eine fundamentale Kommunikationslosigkeit. Damit kommt neben der bereits angesprochenen persönlichen Deformation der auf ihre Aktentasche reduzierten Lehrerin auch deren professionelle in den Blick, die ebenfalls in einen Zusammenhang gebracht wird mit der Bindung an die institutionelle Rolle: Die extreme SelbstreÀexivität vollzieht sich durch den Blick einer Produzentin, die für diesen Blick in ihre institutionelle Rolle schlüpft (subjektive Erzählkonzeption). Diese ReÀexion ihrer Deformation gerät dabei wiederum zu einem selbstreÀexiven Akt, der sich auch auf der Meta-Ebene des Films fortsetzt: Die Produzenten des Films (ihres Zeichens Lehrer) betrachten sich selbst in ihrer beruÀichen Deformation (indem sie sich als senil, schwerhörig, sehbehindert und begriffsstutzig darstellen) und reÀektieren diese in Form einer Selbst-Satire. Durch diese ReÀexion vollzieht sich sozusagen eine Potenzierung der SelbstreÀexivität. Hier wird ein Kreislauf sichtbar, aus dem sich die Protagonisten/Produzenten durch ihre ReÀexion nicht befreien können, sondern sich – im Gegenteil – gerade dadurch noch weiter darin verstricken (vgl. die dazu homologe Struktur im ›Opfer-TäterRichter-Zirkel‹ in Kap. 5.2.2). So wie die ReÀexion der SelbstreÀexion sich nicht als Ausweg erweist, sondern letztlich nur zu einer (monadischen) SelbstreÀexion höheren Grades wird, so zeigt sich auch in diesem selbstreÀexiven (selbstsatirischen) Distanzierungsversuch von der hier sichtbar werdenden Fixierung auf die institutionelle Rolle lediglich eine höhere Form der Fixierung, die diese nur bestärkt (vgl. Kap. 5.6). Hier bestätigen sich außerdem die Ausweglosigkeit und die Perspektivlosigkeit, die sich auch sonst im Film dokumentieren (z.B. in der Darstellung des Handlungsorts als ›Gefängnis‹; im ›Untergang‹ der Lehrer am Ende des Films und im Schlussbild, vgl. Kap. 5.5). Das prekäre Verhältnis, das dabei zwischen dem persönlichen Selbst und der sich im Distanzierungsversuch potenzierenden Fixierung auf die institutionell gebundene beruÀiche Rolle erkennbar wird, soll im Folgenden noch eingehender betrachtet werden (Kap. 5.4).
5.4 BeruÀiche und persönliche Identität 5.4.1 Marianne ›Mariannes Thema‹ ›Mariannes Thema‹ zieht sich ab 2:20 wie ein roter Faden durch den restlichen Film (vgl. Strukturskizze im Anhang, Abb. 81a–b, mittelgraue Balken). Einerseits wird es als wiederkehrende Szenerie zwischen die anderen Szenen
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geschoben und lässt so den Filmaufbau rondoartig erscheinen mit einem immer wiederkehrenden Refrain, andererseits ist es, vertreten durch einzelne markante Elemente (Papierstöße, rote Hände, akustische Signale wie Papiergeräusche oder Stimme aus dem Off), nahezu ständig präsent: Der gebetsmühlenartig wiederholte Satz: Ich kann nicht mehr! zieht sich kontrapunktisch in Variationen durch weite Strecken des Films und die zeitliche Dauer der Präsenz dieser nicht aufhören könnenden/wollenden Marianne erhöht sich noch dadurch, dass entweder die Begleitgeräusche (Akustik: Papierrascheln, Aufeinanderschlagen von Papierstößen) zu hören sind oder der Blick auf die Papierstöße und / oder ihre roten Hände freigegeben wird. Bisweilen ergeben sich durch dieses durchlaufende Thema, das sich in die einzelnen Dialoge mischt, vielschichtige Klangkollagen bzw. Klang-Bild-Kollagen. So ist ›Mariannes Thema‹ als eine Art Leitmotiv nahezu allgegenwärtig und durchwirkt die gesamte Filmhandlung – entweder aufdringlich im Vordergrund oder eher wie eine beiläu¿ge Nebenbemerkung, die dem Charakter der jeweiligen Situation eine besondere Färbung gibt. Seine dauerhafte Anwesenheit charakterisiert dieses Thema als einen Komplex, von dem der Alltag der Lehrer ganz maßgeblich strukturiert wird, auch dort, wo es vordergründig nicht gleich augenfällig wird. Die Elemente, die dabei ins Bild kommen, verweisen von ihrer Ikonographie her auf die Tätigkeit der Leistungsbewertung, insbesondere unter ihrem bürokratischen Aspekt: Bei den aufgetürmten Papierbergen handelt es sich um Klassensätze von Schulaufgaben und Stegreifaufgaben. Das Rot der verschmierten Hände erscheint in diesem Kontext als Hinweis auf die in der Schule übliche Korrekturfarbe Rot und weist die Lehrerin als eifrig arbeitende Korrektorin aus. Durch die Art der Inszenierung kommen allerdings darüber hinaus auch metaphorische Bedeutungen dieser Elemente ins Spiel (Papier als Hinweis auf eine überbordende Bürokratie im Allgemeinen und die Reduktion von Personen auf Akten; die Farbe rot als Hinweis auf Blut) und führen in Kombination mit dem dazugehörigen Text, der szenischen Choreogra¿e und der Bildgestaltung zu einer Überlagerung der Bedeutungsebenen und damit zu einer enormen Steigerung der Sinnkomplexität. Der ikonologische und dokumentarische Sinngehalt, der sich dabei zeigt, lässt Strukturen sichtbar werden, die hinter den Korrektur- und Verwaltungsaufgaben der Lehrer stehen, die sich aber – im Sinne eines modus operandi – auch darüber hinaus ganz grundsätzlich als für das Selbstverständnis der Lehrer konstitutiv erweisen. Im Folgenden soll nun die Szene, in der Marianne vorgestellt wird (S 4.3), detailliert nachgezeichnet und reÀektiert werden. Zur Verdeutlichung werden
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dabei auch Momente aus anderen Passagen, in denen ›Mariannes Thema‹ anklingt, herangezogen.
Marianne wird vorgestellt Schon bevor Marianne zum ersten Mal ins Bild kommt, wird sie bereits akustisch aus dem Off angekündigt. Deshalb konzentriert sich die folgende Betrachtung dieser Szene zunächst nur auf den Tonraum. Der visuelle Strang (das Filmbild) wird erst ab dem Zeitpunkt berücksichtigt, ab dem die Papierstöße, hinter denen Marianne arbeitet, ins Bild kommen. Zur Beschreibung des Tonraums wird hier auf Termini der Musikwissenschaft zurückgegriffen, um die polyphone Komposition, die insbesondere aus der VerÀechtung der verschiedenen akustischen Stränge entsteht, besser verdeutlichen zu können. Die Zuordnung der verschiedenen ›Stimmen‹ in diesem polyphonen Stück gestaltet sich folgendermaßen: 1. Stimme: Papiergeräusch & Tisch als ›Percussionsinstrumente‹ (›gespielt‹ von Marianne) 2. Stimme: Mariannes (leibhaftige) Stimme 3. Stimme: Stimme des Musiklehrers 4. Stimme: Stimme der Nudelfrau 5. Stimme: Gitarre des Musiklehrers Während zunächst nur die Nudelfrau und der Musiklehrer im Bild sind, setzt in 2:19 die 1. Stimme auf die Frage der Nudelfrau (2:17: Wo ist denn die Marianne?) im Pianissimo (ppp) mit dem leisen Rascheln von Papier ein. Daraus taucht kurz darauf (2:21) kaum hörbar eine gehauchte, fast wimmernde Frauenstimme (2. Stimme) auf: Ich kann nicht me – – hr. Während sie das Wort »mehr« ausspricht setzt die 3. Stimme ein: Der schwerhörige Musiklehrer antwortet auf die Frage der Nudelfrau mit einer Gegenfrage (Wer? Wer?), die wie ein polterndes Fortissimo ( ff ) die ersterbende Stimme von Marianne quäkend und schlecht artikuliert übertönt. Der Reim der beiden Silben »mehr« und »wer« lässt die beiden Worte homophon ineinander klingen und ließe sie dadurch in diesem Moment eine Harmonie bilden, wenn nicht die gehauchte Stimme unter der Frage des schwerhörigen Musikers erstickt werden würde, der weder die Frage der Nudelfrau versteht, geschweige denn von der Ersterbenden direkt neben ihm (hier noch im Off) etwas wahrnimmt.
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Während 1. und 2. Stimme (Papiergeräusche & Mariannes Stimme) weiterhin im Hintergrund (und im Off) bleiben, setzt nun die 4. Stimme ein (2:26): Die Nudelfrau wiederholt laut ( f ) das Ziel ihrer Frage (Die Marianne!). Diesmal antwortet der Musiker nicht mehr ganz so laut, aber lediglich mit einer Feststellung: Ach, die die Marian- Marianne. (mf ) Anstatt auf die Frage einzugehen, nimmt er im Folgenden den Namen Marianne auf, variiert ihn (Mar – Ah! Maria – nne, -ianne.) und setzt ihn singend in einem Lied, das in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit der aktuellen Situation steht, fort (Du host mei Herz am Bandel, – Bandel.). Schließlich führt er die Melodie mit einigen gezupften Tönen seiner Gitarre weiter (Einsatz der 5. Stimme) und ist danach nur noch mit sich und seiner Gitarre beschäftigt (2:50: Wie geht jetzt der Griff noch mal?), verschwindet dabei zunächst optisch im Off (2:55: Wenn ich das jetzt wüsste; aus dem Off) und wird schließlich auch akustisch ausgeblendet: Seine letzten Worte (2:59: Des wemma …) – die unvollendet bleibende fränkische Wiederholung des vorangegangenen gestelzt hochdeutsch gesprochenen Satzes aus 2:55 – sind so leise, dass sie beinahe unverständlich bleiben. Während dieser (Nicht-) Antwort des Musiklehrers werden 1. und 2. Stimme im Hintergrund deutlicher (cresc.), insbesondere steigert sich das allmählich lauter und aggressiver werdende Aufeinanderpatschen der Papierstöße (1. Stimme: mf) während Mariannes Stimme (Ich kann nicht mehr, in einer stetigen Wiederholungsschleife) noch recht leise bleibt (2. Stimme: mp). Von Marianne selbst oder dem Papier ist an dieser Stelle noch nichts zu sehen. Durch das Patschen formt sich aus dem zunächst diffusen Geräusch-Klang-Gemisch (1., 3. und 5. Stimme) ab 2:50 eine zunehmend prägnanter werdende ›Rhythmik‹, die den gesprochenen Text immer stärker akzentuiert. Schließlich wird auch der Tisch neben den Papierstößen als eine Art Percussions-Instrument mit in die rhythmische Gestaltung einbezogen, indem Mariannes Hand sich zwischendurch auch lautstark auf ihn fallen lässt. Durch diese Rhythmik werden insbesondere die beiden Worte »mehr« und »kann« schlagkräftig betont. Auf diese Weise legt sich eine zusätzliche Bedeutungsebene über den Text, die die Richtung seiner Aussage umkehrt: Statt Ich kann nicht mehr! heißt es nun: Kann! – Mehr! Mitten hinein wird nun auch auf der expliziten (immanenten) Bedeutungsebene des Textes eine Variation eingeführt: Die neunte Wiederholung des Satzes Ich kann nicht mehr ... wird fortgeführt durch den Zusatz ... aufhören und erhält damit eine in sich widersprüchliche doppeldeutige Aussage: Einerseits wird der immanente Sinngehalt der bisherigen Aussage verstärkt (Ich kann nicht mehr! Aufhören!), andererseits wird er in seinem Sinngehalt umgekehrt (Ich
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Abb.55a – b
kann nicht mehr aufhören!). Die Gegenläu¿gkeit, die sich zwischen dem gesprochenen Text und dem aus den Rhythmusakzenten entstandenen ›Subtext‹ (Kann! – Mehr!) entwickelt hatte, zeigt sich jetzt auch in der Textvariation, die nun eingeführt wird. Eine Homologie zu dieser Ambivalenz zeigt sich außerdem auch in Mariannes Bewegungen: Bevor sie selbst sichtbar wird, kommen zunächst nur aufgetürmte Papierstöße ins Bild (Kameraschwenk), die sich bis zum Ende des Films unübersehbar raumgreifend auf dem gemeinsamen Tisch stapeln und sich somit als die konstantesten und dominantesten Requisiten des Films insgesamt erweisen (vgl. auch Kap. 5.2.1: Gruppentisch). Von Marianne selber sieht man dann zunächst nur eine Hand (Abb. 55a; 2:55; siebte Wiederholung des Satzes Ich kann nicht mehr.), die hinter den Papierstößen hervorkommt und nach vorne greift, wie die Hand eines nach Halt suchenden Kletterers oder eines am Ufer Rettung suchenden Ertrinkenden. Ihre Arme führen dann im Folgenden (ab 2:58; Abb. 55b) eine widersprüchlich wirkende Vorwärts-Rückwärts-Kraulbewegung aus: Einerseits wird etwas von hinten nach vorne befördert, andererseits wirkt der Griff nach vorne wie das Ausgreifen eines Schwimmers, der sich nach vorne zu ziehen versucht. Auf diese Weise patscht sie einen Papierstoß nach dem anderen auf die aufgetürmten Stapel vor sich, die dadurch immer höher werden. Dabei zeigt sich auch im Stapeln und Patschen eine widersprüchliche Richtung der Kräfte in der Bewegung nach unten: Mariannes ›Trommeln‹ vollzieht sich wechselnd in einer fast aggressiv anmutenden Schlagbewegung (Abb. 56a) und einer eher resigniert wirkenden Bewegung des Fallenlassens (Abb. 57b). In der neunten Wiederholung, in der die bisher immer gleichbleibende Leier Mariannes (Ich kann nicht mehr …) in der Variation ... aufhören weitergeführt wird, steigert sich die Lautstärke ihrer Stimme bis hin zu einem Forte ( f ) im
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Abb. 56a – b
Wort aufhören. Sie drückt sich bei diesem Wort hoch, indem sie sich mit der rechten Hand von einem der Papierstöße abstößt. Dabei wird zum ersten Mal ihr Kopf vollständig sichtbar, der bisher immer von den Papierstapeln verstellt war (Abb. 56a; 3:05). Allerdings lassen die drei Brillen, die sie gleichzeitig trägt (vgl. auch Abb. 60) und die jetzt für einen Moment sichtbar werden, eine genauere Identi¿kation ihrer Gesichtszüge nicht zu. Schließlich streckt sie, sich aufbäumend, beide Arme in die Höhe (Abb. 56b; 3:06:30) und lässt sie gleich anschließend kraftlos auf die Papierstöße sinken. Während sie dort auÀiegen, dreht sie ihre HandÀächen mit gespreizten Fingern nach außen (Abb. 57a; 3:09). Die daraus sich ergebende Geste erscheint wie ein Abwehrsignal. Gleichzeitig werden dabei ihre rot verschmierten Finger zum ersten Mal ganz deutlich sichtbar. Danach sinkt sie wieder in sich zusammen (Abb. 57b). Die zehnte Wiederholung ihres Satzes (ohne Variation) ist wieder deutlich leiser, in einem jammernden Tonfall, geht aber zur elften Wiederholung gleich wieder in ein Crescendo über, das sich dieses Mal sogar bis zu einem geschrienen Fortissimo (fff) steigert. So schlägt die resignierte Geste in ein erneutes Aufbäumen um und bekommt schließlich einen aggressiven Ausdruck. Dabei richtet sie sich wieder auf, drückt die rechte Hand wie eine Kralle auf einen Papierstoß (Abb. 58; 3:17), während der linke Arm kraftvoll, beinahe wie in einer Drohgebärde, nach oben wandert. Ihr letztes Wort (… aufhören!) bildet durch seine Lautstärke und seine expressive Wucht den dramatischen Höhepunkt, der jedoch nicht ganz ausklingt, sondern jäh abgebrochen wird: Der letzte Konsonant des Wortes »aufhören« wird abrupt abgeschnitten und die bei dieser Montage verwendete Trickblende teilt das Filmbild in zwei Hälften. Marianne ›zerreißt es‹ dabei sozusagen in zwei Stücke: ihr rechter Arm wird abgetrennt, während der linke hoch erhoben bleibt (Abb. 58).
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Abb. 57a – b
Kollektives Monadentum Im Raum, der in dieser Szene (durch den Kameraschwenk) sichtbar gemacht wird, be¿nden sich drei Personen, die sich gegenseitig nur rudimentär oder gar nicht wahrnehmen und wie in drei voneinander getrennten Welten zu existieren scheinen: Die gerade eingetretene Nudelfrau sieht und hört ihre Kollegin Marianne nicht, die hinter den Papierbergen verschwindet. Der Musiklehrer hat Mühe, die an ihn gestellte Frage zu verstehen und nachdem er sie akustisch verstanden hat, zeigt er keinerlei Reaktion, die auf eine Beantwortung hindeuten könnte. Stattdessen verleibt er sich diese Frage ein, indem er sie moduliert, und bleibt dabei weiterhin völlig auf sich selbst bezogen wie in einer eigenen, abgeschirmten Welt (vgl. sein ›Lied‹). Und Marianne ist ebenfalls mit sich und ihrer Tätigkeit beschäftigt, so dass sie von den anderen beiden ihrerseits auch nichts wahrnimmt. Auch sie ist isoliert von den anderen, wobei die sie abtrennende Barriere deutlich sichtbar aufgetürmt ist und immer höher anwächst, je weiter sie mit ihrer Arbeit fortschreitet. Gerade auch in der teilweisen Gleichzeitigkeit bei der Übereinanderlagerung der einzelnen Stimmen der beteiligten Personen wird deutlich, dass sie völlig aneinander vorbeireden. Sehr markant kommt dies an der Stelle zum Ausdruck, an der sich die Stimmen von Marianne und dem Musiklehrer zu einem gemeinsamen homophonen Klang treffen (2:24: »mehr« / »Wer?«): Die Symphonie (»Zusammenklang«) gerät zur Kakophonie und so wird gerade in dieser besonderen Art der Begegnung auch hier eine ›Nicht-Begegnung‹ zum Ausdruck gebracht. Aber nicht nur im Aneinandervorbei werden homologe Züge zu der Szene »Der Weg« (S 3; Kap. 5.3.2) sichtbar. Denn auch hier zeigt sich – wenn auch in völlig anderer Darstellungsweise – die Vorführung eines ähnlich monadisch anmutenden Einzelkämpfertums wie in S 3 (vgl. Kap. 5.3.2): Die beteiligten Personen
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Abb. 58
bleiben strikt auf sich selbst bezogen und existieren in abgetrennten, voneinander abgeschirmten Welten. Der monadische Habitus, der im Gegenüber zu der ihnen of¿ziell untergeordneten Ebene der Schüler in S 3 sichtbar wurde, setzt sich hier im kollegialen Kreis der Lehrer untereinander fort. Und während in der Szene »Der Weg« die Akten, hinter der die Person der Lehrerin verschwindet, in einer großen Aktentasche verstaut sind, liegen sie in ihrer trennenden und die Person verstellenden Wirkung hier offen auf dem Tisch. Die kommunikationshinderliche Rolle, die sie dabei spielen, wurde bereits im Kontext des Fotogramms »Am Gruppentisch« (Kap. 5.2.1.1) thematisiert. Das Kollegium erwies sich dort nicht als eine »Kooperative«, sondern als ein »Kollektiv« (vgl. Kap.5.2.2). Und auch hier kann anstelle eines ›kollegialen Monadentums‹ eher von einem ›kollektiven Monadentum‹ gesprochen werden, da dieser konjunktive Habitus letztlich nichts Verbindendes darstellt, sondern eher etwas Trennendes.
Opfer oder Täter? Ich kann nicht mehr. In diesem Satz drückt sich die Wahrnehmung eines exterioren Anspruchs aus, der von außen an das Subjekt gestellt wird, dem es sich jedoch nicht (mehr) gewachsen fühlt, aber auch nicht in der Lage sieht, sich diesem Anspruch einfach zu entziehen oder zu widersetzen. Somit zeigt sich hier eine doppelte Ohnmacht: die Unfähigkeit, den Ansprüchen weiterhin nachzukommen und die Unfähigkeit, gegen diesen Anspruch zu opponieren. In dieser sich ständig wiederholenden Formulierung dokumentiert sich also die resignative Haltung eines Subjekts, das sich als Opfer eines unerbittlichen Anspruchs versteht. Der Appell Aufhören!, der diese Klage ergänzt, akzentuiert einerseits die Ohnmacht des Subjekts und stellt andererseits den exterioren Anspruch als eine quälende,
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Abb. 59a – b
folternde Zumutung dar. Ich kann nicht mehr aufhören! In dieser Formulierung kommt die Abhängigkeit eines Subjekts zum Ausdruck, das sich als Opfer seiner selbst (z.B. einer Triebhaftigkeit oder einer Sucht) versteht. Der exteriore Anspruch an das Subjekt hat sich hier nach innen verlagert und setzt sich in einem eigenen Getriebenwerden fort. Diesmal ¿ndet die Auseinandersetzung in dem Individuum selbst statt. Dabei gelingt es nicht, den eigenen Wertorientierungen nachzukommen, und so wird das Subjekt vor sich selbst zum Täter, der vor dem eigenen inneren Tribunal verklagt wird. Der Täter wird also nicht mehr außerhalb verortet, sondern ist zu einem Teil des Selbst geworden, der unkontrolliert agieren kann. Das Subjekt erlebt sich gleichzeitig als ohnmächtig und gewalttätig, als »Opfer« und als »Täter«. Wie bei der Betrachtung eines Vexierbildes mit zwei ineinander verwobenen Motiven (z.B. jene bekannte Darstellung einer alten Frau, in der gleichzeitig eine junge Frau zu erkennen ist) Àießen beide dieser einander entgegengesetzten (komplementären) Bedeutungen (Opfer-Täter) ineinander und bedingen bzw. ermöglichen sich erst durch ihr Ineinanderverwoben-Sein gegenseitig (vgl. die Personalunion von Opfer und Täter in Kap. 5.2.2). In diesem Oszillieren zwischen Opfer und Täter erscheint das Subjekt als ein Opfer seines unausweichlichen Täterseins oder als ein Täter, der das Opfer seines Hangs zum Tätersein ist. Die eigentümliche (Über-) Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit, die hier in der Gestaltung des Textes und in der den Text akzentuierenden Rhythmik zum Ausdruck kommt, zeigt sich homolog in weiteren Gestaltungselementen dieser Szene, durch die ein ähnliches Oszillieren zwischen Resignation und Aggression, zwischen Ohnmacht und Gewalttätigkeit (zwischen Defensive und Offensive) hergestellt wird: So erscheint das Patschen auf die Papierstöße teils als aggressive Geste, in der das Papier ›geschlagen‹ wird, teils aber auch als kraftloses
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Herabfallen der Hände. Dabei schwankt Marianne im Laufe der Szene insgesamt zwischen einem wütenden, aufbrausenden Aufbäumen und einem jämmerlich wimmernden In-sich-Zusammensinken hin und her. Einerseits ertrinkt sie nahezu in den raumgreifenden Papierbergen (Papier hier auch als Metonym für ›Papierkram‹ und Bürokratie) und die Akten lassen sie als Persönlichkeit nahezu vollständig verschwinden (homolog zur Aktentasche in »Der Weg«; Kap. 5.3.2), andererseits fügt sie ihnen durch ihr Trommeln Gewalt zu und lässt sie ›bluten‹122, sodass sie ihrerseits auf ihre Hände abfärben (Papier als Repräsentant für die Schüler, die hier ›bluten‹ müssen). In diesem Kontext gewinnt auch die rote Farbe eine zusätzliche Bedeutung: Die mit roter Korrekturfarbe verschmierten Hände erscheinen im Laufe des Films immer deutlicher verschmiert (zusätzliche Akzentuierung durch Nahaufnahme, z. B. Abb. 59b; 7:35) und werden dabei in Handhaltungen präsentiert, die Assoziationen zu blutverschmierten Händen herstellen. Und gerade in diesen Handhaltungen zeigt sich wieder das Oszillieren zwischen aggressiven Täter-Gesten (z. B. Kralle in Abb. 59a; 7:30) und ohnmächtig anmutenden OpferGesten (vgl. Abb. 59b; 7:35: wie die verhalten geöffnete Hand eines Bettlers oder Hilfesuchenden oder des Gekreuzigten). Einerseits ›klebt Blut an den Fingern‹ der Triebtäterin Marianne und andererseits erscheinen ihre Finger wie die Wunden eines Opfers (›wund korrigiert‹). Hier zeigt sich eine Homologie zu jener resignierten Unterlegenheit in »Der Weg« (S 3), die gleichzeitig eine aggressiv anmutende Entwertung des Gegenübers beinhaltet (vgl. die ›Verstümmelung‹) und dort ebenfalls wie hier in Zusammenhang steht mit der Bindung an die institutionelle Rolle (Kap. 5.3.2). Außerdem wird in der nicht enden wollenden Wiederholung des Satzes Ich kann nicht mehr (aufhören), der im weiteren Verlauf des Films wie ein perpetuum mobile zum Selbstläufer wird, ein ähnlicher Circulus vitiosus sichtbar wie er in Kap. 5.2.2 (Vor Gericht) angedeutet wurde. Dabei bestätigt sich dieses ›Nicht-aufhören-Können‹ auch auf der performativen Ebene dieses Films. Aufgrund der ikonogra¿schen Bedeutung der Elemente dieser Szene (Klassenarbeiten / Leistungserhebungen, Korrekturfarbe rot) kommt hier eine der (rein juristisch betrachtet neben der AufsichtspÀicht) wichtigsten Aufgaben der Lehrer in den Blick: ihre Tätigkeiten, die in Verbindung mit der Schule als Selektionsinstanz 122 Die metaphorische Bedeutung der roten Farbe wird hier in einer Richtung weiter gedeutet, die sich aus jenem Film, der sich in der Namensgebung des Lehrer¿lms widerspiegelt, ergibt: In »Harry Potter und die Kammer des Schreckens« beginnt ein Dokument stellvertretend für denjenigen, den es repräsentiert, zu bluten (vgl. auch Kap. 5.5).
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Abb. 60
stehen. Durch die Bewertung und Benotung, zu der die Lehrer bei der Ausübung ihres Berufs in der Institution Schule verpÀichtet sind, werden die Schüler kategorisiert und selegiert. Dadurch werden ihnen Schullaufbahnen und im Zusammenhang damit Lebenschancen eröffnet oder verwehrt. Bezieht man die sich hier dokumentierenden Orientierungen der Lehrer nun auf diese dienstliche VerpÀichtung zur Selektion, so scheinen sie sich in Ausübung dieser Tätigkeit in besonderer Weise als Täter und Opfer gleichzeitig wahrzunehmen. Die Frage der Verantwortung wandert dabei auf eigentümliche Weise von innen nach außen und wieder zurück: Ein Opfer kann die Verantwortung von sich weisen und dem Täter kann sie zugeschrieben werden. Somit dokumentiert sich hier das gleichzeitige Ablehnen und Annehmen einer zugeschriebenen Verantwortung bzw. eine Art Kampf um die Verortung der Verantwortung: Dem Subjekt gelingt es nicht mehr sich von dem Anspruch zu distanzieren, der es zum Täter macht. Metaphorisch gesprochen: Es kann ›seine Hände nicht mehr in Unschuld waschen‹, so wie es Pilatus (der berühmte Protagonist dieser Redewendung) seinerzeit tat, der sich selbst von seiner institutionellen Rolle als Statthalter, in der er der Verurteilung Jesu zustimmte, distanzierte und damit aus seiner Sicht in Bezug auf seine persönliche Identität seine Unschuld wahren konnte. An diesem Vergleich mit einer ›gelungenen‹ Distanzierung von einer Verantwortung für eine ›(Henkers-) Tat‹, die im Rahmen der beruÀichen Rolle abverlangt wird, wird eine Besonderheit im Selbstverständnis der Lehrer / der Filmproduzenten deutlich, die sich nicht nur im hier beschriebenen Dilemma des ›Opfer-Täter‹-Seins dokumentiert, sondern sich ebenfalls als homologe Struktur (auch auf der Meta-Ebene) durch den Film zieht und der im folgenden Abschnitt (Kap. 5.4.2) näher nachgegangen werden soll. Das in sich sehr vieldeutige Element der drei Brillen (vgl. Abb. 60; Ausschnitt aus 9:14) könnte im Kontext der Widersprüche, die sich in dieser Szene dokumentieren, etwa folgendermaßen als Metapher gedeutet werden: So wie die natürliche Anpassungsfähigkeit der Augen dieser Person davon überfordert
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ist, den unterschiedlichen Perspektiven, die hier von ihr abverlangt werden, nachzukommen, so wird auch die Herausforderung, die widerstreitenden Ansprüche an die eigene Person auszubalancieren, als Überforderung wahrgenommen, die schließlich die eigene Person zu zerreißen droht (vgl. Abb. 58). In der Metaphorik der drei Brillen zeigen sich außerdem auch Anklänge an die Darstellung einer fragmentierten Sicht auf die Jugendlichen (als ›Torsos‹ in S 3; vgl. Kap. 5.3.2) und an den Auftritt der Blinden Kuh, die – wie eine Justitia – (allerdings nicht so würdevoll wie diese) mit verbundenen Augen in Erscheinung tritt (vgl. S 4.10; Kap. 5.3.1).
5.4.2 Die Form der Selbst-Satire Die Produzenten stellen sich selber in diesem satirischen Film als senile, abgestumpfte und sich lächerlich machende Lehrer dar. Bei ihrer Satire handelt es sich also gewissermaßen um eine Selbst-Satire. Dabei ist es nicht eine Selbstsatire des eigenen Berufs, für die es genügen würde, dass die Autoren beliebige Lehrerrollen spielen würden, sondern es handelt sich hier darüber hinaus auch noch um eine Selbstsatire der eigenen Person in dieser Berufsrolle: Die Marianne heißt im wirklichen Leben tatsächlich Marianne und die Fächer, die thematisiert werden (z.B. Hauswirtschaft, Musik, Geschichte) sind diejenigen, die diese Lehrer auch in der Realität unterrichten. Dass sie nicht nur ihre Berufsrollen spielen, sondern sich selber als (Lehr-) Personen, wird außerdem auch noch einmal durch den Nachspann deutlich: Anstelle der bei Filmen üblichen Angabe der Rollenbesetzung durch die jeweiligen Schauspielernamen tauchen hier nur ihre tatsächlichen Namen auf – ohne jegliche Zuweisung zu Filmrollen oder zur Berufsrolle, die sie in diesem Film spielen. Filmrolle bzw. Berufsrolle im Film und Person der Darsteller werden also in keiner Weise voneinander abgegrenzt. Das beruÀiche Selbst und das persönliche Selbst scheinen hier miteinander identisch zu sein (zur Differenzierung zwischen persönlicher und sozialer Identität vgl. Kap. 2.2). Dementsprechend bleiben sie im Film umgekehrt auch als Personen – wie selbstverständlich – auf ihre Berufsrolle reduziert, oder anders formuliert: sie gehen vollständig in ihrer beruÀichen Identität auf. Sie spielen eben nicht sich selbst als Personen in einem allgemeinen Sinne (wie es beispielsweise hin und wieder Prominente tun, die in einem Film auftauchen und dabei sich selbst spielen – was dann durch den Zusatz »xy as herself« bzw. »as himself« im Nachspann deutlich gemacht wird), sondern sie spielen sich selbst in ihrem Festgelegtsein auf ihre jeweilige Berufsrolle. Diese Nicht-Abgrenzung zeigt sich auch noch darin, dass der Nachspann, in dem die
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Kapitel 5
Abb. 61
Namen der abgebildeten Filmproduzenten erscheinen, nicht – wie sonst in Filmen üblich – durch das »Ende«-Zeichen von der ¿ktiven Filmhandlung abgesetzt ist, sondern sie sind mit ihren vollständigen Namen (als Zeichen ihrer persönlichen Identität) in gewisser Weise noch in den Film selbst integriert, denn die »Ende«Tafel erscheint erst nach dem gesamten Nachspann. Dieses in den Film eingebunden Sein und die selbstverständliche Identi¿kation ihrer Person mit der hier dargestellten Berufsrolle setzen sich in dem völligen Eingebundensein in die Institution Schule fort, das in diesem Film zum Ausdruck gebracht wird. Während jedoch die Identi¿kation mit der Berufsrolle an sich als selbstverständlich und nicht weiter problematisierungswürdig erscheint, wird dagegen das Eingebundensein in die Institution als ein Gefangensein in einer Anstalt dargestellt, das – entsprechend der Identi¿kation von persönlichem und beruÀichem Selbst – nun dementsprechend nicht nur die Berufsrolle bestimmt, sondern die ganze Person. Dies wird bereits bei der Vorstellung des Handlungsortes sichtbar (vgl. Kap. 5.5, Abb. 66) und im weiteren Verlauf des Films in ihrer Selbstinszenierung als die eigentlichen ›Insassen‹, wobei der Anspruch dieser Anstalt auf ihre Existenz als ein kontinuierlich expandierender dargestellt wird (vgl. Kap. 5.2.2: Abschaffung der Pensionierung und Ausdehnung der AnwesenheitspÀicht bis ins Wochenende hinein), was einen zunehmenden Verlust von Distanzierungsmöglichkeiten gegenüber der beruÀichen Identität zur Folge hat. Interessant ist nun, dass hier zwar die Institution in ihrem exterioren Anspruch als wachsende Bedrohung für die eigene Person wahrgenommen wird, jedoch gleichzeitig eine starke persönliche Identi¿kation mit der Berufsrolle an sich (im positiven Sinne) sichtbar wird. Während das beruÀiche Selbst in dem persönlichen Selbst aufzugehen scheint (und umgekehrt) und dabei so etwas wie ein ›persönliches Berufsethos‹ sichtbar wird (vgl. Kap. 5.2.2: »Vor Gericht« und Kap. 5.4.1), erscheint die Bindung des Berufs an den Arbeitsplatz, also an die Institution,
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in der dieser Beruf ausgeübt wird, als höchst prekär. Die beruÀiche Orientierung, die hier sichtbar wird, könnte aufgrund der starken persönlichen Identi¿kation mit der Berufsrolle auch mit dem Begriff der »Berufung« beschrieben werden. Dieser Identi¿kation mit der beruÀichen Rolle steht eine deutliche Distanzierung von der institutionellen Rolle gegenüber, an die die eigene Berufsrolle gebunden und darin gefangen erscheint. Diese Distanzierung vollzieht sich dabei nicht nur im Namen des persönlichen Selbst, sondern auch im Namen des als deformiert erscheinenden beruÀichen Selbst, das als Teil des persönlichen Selbst betrachtet wird. Die berufliche Deformation und Degradierung trifft damit auch das persönliche Selbst ins Mark (vgl. dazu auch Kap. 5.3.1). Bei der Betrachtung der Berufsrolle der Lehrer scheint es also sinnvoll zu sein, zwischen dem beruÀichen und dem institutionellen Selbst der Lehrer zu differenzieren. Während eine starke Identi¿kation des persönlichen mit dem beruÀichen Selbst zum Ausdruck kommt, ¿ndet eine mindestens ebenso starke Distanzierung vom institutionellen Selbst statt. Dabei weist die Art der Distanzierung auf eine starke Fixierung gegenüber der Institution hin (vgl. Kap. 5.2.1). Die Ambivalenz und (beinahe schizophren anmutende) Widersprüchlichkeit zwischen der Identi¿kation mit und der gleichzeitigen Distanzierung gegenüber der eigenen Berufsrolle, die hier im Selbstverständnis der Lehrer zum Ausdruck kommt, ¿ndet eine Entsprechung in der Widersprüchlichkeit, die sich in der Szene »Marianne« (S 4.3; Kap. 5.4.1) dokumentiert. Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund des hier beschriebenen beruÀichen Selbstverständnisses der Lehrer das dort rekonstruierte Oszillieren zwischen Aggression und Resignation, zwischen Opfer-Sein und Täter-Sein und der damit verbundene Kampf um die Verortung der Verantwortung erhellt, und es eröffnet sich dadurch ein umfassenderes Verständnis der dabei zum Ausdruck kommenden Orientierungen der Lehrer.
5.4.3
Die ›gelungene‹ Show
Die Tür öffnet sich und der vierte Lehrer kommt herein (S 4.4). Er ist gebeugt, zieht einen Trolley hinter sich her und ist mit zwei auffälligen Plakaten behängt: Das gelbe ist – beinahe wie eine Halskrause – um seinen Kopf drappiert, das schwarze scheint an der Brusttasche seiner Jacke befestigt zu sein (Abb. 61). Das gelbe Plakat trägt die Aufschrift Den König ins Exil!, das schwarze Tod dem König! In seinem Gesicht – auf Stirn, Wangen und Nasenspitze – kleben rote Punkte (Abb. 62), die sich im Kontext der Bezugnahme auf den Unterricht (vgl. Text) als Moderationsklebepunkte identi¿zieren lassen, die jedoch zweckentfremdet
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Kapitel 5
Abb. 62
wurden (statt auf einem Moderationsplakat kleben sie im Gesicht des Lehrers). Einerseits gibt ihm die rote Nase (in Kombination mit der gelben Halskrause) das Aussehen eines Clowns, andererseits erzeugt die asymmetrische Verteilung der Punkte den Eindruck, er sei vom Ausschlag einer Infektionskrankheit befallen. Mit heiserer Stimme Àüstert er: Sag ich doch! Sag ich doch! Eine tolle Stunde hab ich gemacht! Handlungsorientierten Unterricht! Das kann man heut noch machen, ja! Auf eine überdeterminiert theatralische Art (insbesondere durch seine Erzählweise und die Aufmerksamkeit heischenden einleitenden Worte) gibt er eine Vorstellung vor seinen Kollegen im Lehrerzimmer über eine ›Vorstellung‹, die er gerade gegeben hat und von der er nun zurückkehrt: Er berichtet von der erfolgreichen Durchführung (tolle Stunde) eines aktuellen Unterrichtskonzepts, dem sog. Handlungsorientierten Unterricht. Durch die Deklaration seiner »tollen Stunde« als gelungene Verwirklichung eines bestimmten Konzepts wird seine Orientierung an aktuell eingeforderten Idealen123 sichtbar. Er bringt die gängige »Phraseologie« (Goffman 2003: 35) zum Einsatz und präsentiert seine Handlung damit als vorbildliche Umsetzung der aktuellen programmatischen Ansprüche. Die Durchführung seiner Unterrichtsstunde erscheint damit als ein Zeremoniell im Rahmen einer »Idealisierung« (Goffman, vgl. Kap. 2.2). Durch die Art der Darstellung wird jedoch deutlich, dass es sich dabei um eine von ihm inszenierte Vorführung handelt (hab ich gemacht), die das Konzept, das hier verwirklicht werden soll, genau genommen ad absurdum führt: Die Grundidee des Handlungsorientierten Unterrichts besteht darin, dass den Schülern im Raum der Schule Selbsttätigkeit und ganzheitliches Lernen ermöglicht werden soll (vgl. Jank & Meyer 2002: 314ff). Anstelle eines Unterrichts, der dementsprechend »ein Höchstmaß an Selbstständigkeit und Eigentätigkeit der Schüler« (Bay. KM 2001: 15) fördert, initiiert dieser Lehrer nun 123 Das Konzept des Handlungsorientierten Unterrichts stellt ein im aktuellen schulpädagogischen Diskurs anerkanntes (Jank & Meyer 2002: 314ff) und in den derzeit geltenden bayerischen Lehrplänen eingefordertes Ideal (Bay. KM, 2001, S. 19) dar.
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ein Zeremoniell von Handlungsorientierung, Selbstständigkeit und Eigentätigkeit, in dem er selbst die Rolle eines Regisseurs innehat, während die Schüler zu ›Mitspielern‹ dieses Zeremoniells werden. Während auf der OberÀächenstruktur dieses »zeremoniellen Rollenspiels« (vgl. Kap. 4.6) die erwünschten Ideale demonstriert werden, erweist sich die Tiefenstruktur der hier thematisierten Situation als eine diesen Idealen eher widersprechende (vgl. dazu auch Kap. 4.3). Durch die satirische Überzeichnung, in der sich dieser Lehrer als eine clowneske, verunglimpfte Figur darstellt, demonstriert er nun insgesamt eine Distanzierung von dieser Praxis der »Idealisierung« und des »zeremoniellen Rollenspiels«, der er sich offensichtlich verpÀichtet sieht und die ausgesprochen kräftezehrend zu sein scheint (gebeugte Haltung; heisere, abgenutzte Stimme). Dabei bringt er durch die Art seiner Distanzierung – er schlüpft in die Rolle eines Narren, der zur entstellten ›Schießbuden¿gur‹ (vgl. Klebepunkte) wird – zum Ausdruck, dass er dieser Praxis (bezüglich seines beruÀichen Selbst) eine deprofessionalisierende und (bezüglich seiner persönlichen Identität) eine degradierende Wirkung zuschreibt (vgl. Kap. 5.3.1). Die Distanzierung von den Idealisierungs-Erwartungen, die an das institutionelle Selbst der Lehrer gestellt wird, vollzieht sich also im Namen seiner beruÀichen und seiner persönlichen Identität (vgl. Kap. 5.4.2). Die satirische Thematisierung des Verlusts eben jener (zu inszenierenden) Ideale, die durch die VerpÀichtung zur Idealisierung verletzt werden, bringt bei dieser Distanzierung auch sein persönliches Berufsethos (vgl. Kap. 5.4.2) mit ins Spiel. Damit wird hier eine Verbindung zum oben rekonstruierten Opfer-Täter-Widerspruch sichtbar (vgl. Kap. 5.4.1): In der Ausübung der institutionellen Rolle werden die Ideale verraten, denen sich die Lehrer in ihrem beruÀichen Selbst verpÀichtet wissen. Dabei wird eine ähnliche Perspektivlosigkeit zum Ausdruck gebracht, die auch schon an anderen Stellen des Films sichtbar wurde (z.B. Kap. 5.3.2): Das kann man heut noch machen impliziert, dass alles andere nicht mehr machbar ist und keine anderen gangbaren Alternativen gesehen werden. Die Ausweglosigkeit, die hier anklingt, wird schließlich noch einmal unterstrichen durch die zusätzliche Bestätigung: Ja! In dieser clownesken Verkleidung und dem dadurch hergestellten Rückgriff auf die Metapher des Clowns als einer tragischen Gestalt kommt eine beinahe zynische Resignation über das eigene Gefangensein in der institutionellen Rolle zum Ausdruck. In der gebeugten Haltung spiegelt sich dabei auch das Dilemma wider, dass sich aus dem Sich-der-Rolle-Beugen zu ergeben scheint: Ein aufrechtes und aufrichtiges Verfolgen der eigenen Wertorientierungen ist auf diese Weise kaum möglich. Dabei wird hier eine Homologie zu der Haltung sichtbar, die im Kontext der Szene »Aufblick und Aufstehen« (S 5; Kap. 5.2.2) als ein
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Kapitel 5
›Mit-gebeugtem-Rücken-Rückgrat-Zeigen‹ bezeichnet wurde: Die Plakate, die dieser ›Clown‹ umgebunden hat, bringen indirekt eine Reminiszenz an die französische Revolution ins Spiel und damit einen Aufstand gegen eine Obrigkeit. Die Provokation gegen das Oben, von dem die institutionelle Rolle als stark dominiert erscheint (vgl. Kap. 5.2), erfolgt dabei wie hinter vorgehaltener Hand und aus sicherer Deckung: Die Botschaft der Alternative (Tod dem König! – Den König ins Exil!) , die hier ›vorgetragen‹ wird, ist zwar eindeutig (Egal wie, dieser ›König‹ muss weg!), aber sie bleibt letztlich doch sehr zweideutig: Diese Demonstrationsplakate sind ja nur Unterrichtsmaterialien. Das subversiv-revolutionäre Potenzial, das hier anklingt, wird schließlich noch einmal in der Ausführung der Geste des Aufstehens des Clowns sichtbar (S 5; Kap. 5.2.2): In der Art, wie er sich dort erhebt, verkörpert er die Rolle eines Schülers, der sich nur äußerst widerwillig dem ›Gebot der Stunde‹ beugt und dabei expressiver als seine Kollegen seine Distanzierung gegenüber einer Rolle, die ihn als abhängigen Schüler erscheinen lässt, zum Ausdruck bringt. Die Distanzierung vom institutionellen Anspruch einer Idealisierung der Handlungspraxis, die sich in dieser Szene zeigt, setzt sich auch auf der Meta-Ebene des Films fort: Der Film als solcher mit seinen ›Antihelden‹, seiner Larmoyanz und der Perspektivlosigkeit, die hier sehr drastisch zum Ausdruck gebracht werden, stellt sich als ein extremer Gegenpol und – durch die Verweigerung einen ›schönen‹ Beitrag zu produzieren – als eine Form von Rollendistanz gegenüber als überzogen wahrgenommenen Idealisierungsansprüchen dar. Auch die anderen Lehrer geben in diesem Film jeweils eine ›Vorstellung‹ von ihrer Handlungspraxis (S 4): Sie stehen dabei jedes Mal vor den anderen im Raum anwesenden Kollegen wie auf einer kleinen Bühne und präsentieren sich theatralisch. Dabei wahren sie die Kontrolle darüber, was sie von ihrer Tätigkeit erzählen (vgl. Kulisse, s. u.) und treten selber als Interpreten ihrer Praxis auf, die sie völlig überzogen beschönigend umdeuten, während ihre äußere Erscheinung diese Darstellung konterkariert (z.B. Blinde Kuh oder Nudelfrau; vgl. Kap. 5.3.1). Auffällig ist bei diesen Auftritten die Kulisse der verschlossenen Tür: Dadurch wird sowohl rein praktisch als auch symbolisch unterstrichen, dass ihr ›Publikum‹ sich kein eigenes Bild von der hinter ihnen liegenden Situation, über die hier berichtet wird, machen kann und soll, denn diese bleibt hinter der verschlossenen Tür verborgen. Dabei fördert der Vergleich der verschiedenen ›Vorstellungen‹ einen interessanten Zusammenhang zutage: Die einzige Vorstellung, in der gänzlich auf eine Idealisierung verzichtet wird (Lehrervortrag; Kap. 5.4.4), ist auch die einzige, in der die Kulisse der verschlossenen Tür fehlt. Offensichtlich stehen
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der institutionelle Anspruch auf Idealisierung und die (kollegiale) Abschottung vor dem Einblick in die tatsächliche Unterrichtspraxis (›hinter verschlossener Tür‹) in einem direkten Zusammenhang. Anstelle des kollegialen Gesprächs über ihre Arbeit ›auf Augenhöhe‹ wird nun ein Schauspiel voreinander in Szene gesetzt. Die Bindung an die institutionelle Rolle steht somit auch hier einer kollegialen Kommunikation im Weg (vgl. Kap. 5.2.2: Das ›Kollektiv‹ der Lehrer). Dies bestätigt sich auch in der Fortsetzung der ›Kommunikation‹ dieser Szene: Die einzige Reaktion auf den Bericht des Clowns kommt von Marianne aus dem Off. In völlig teilnahmslosem Ton bringt sie eine Floskel, die als Antwort auf einen ›richtigen Schülerbeitrag‹ hätte erfolgen können: Sehr schön! Diese (für einen Kollegen unpassende – aber für die schülerhaft nach Anerkennung heischende Inszenierung wieder passende) Art der Antwort bringt größte Gleichgültigkeit und innere Abwesenheit zum Ausdruck. Sie zeigt sich auch in der Weise wie diese Antwort weitergeführt wird: Ohne ihre Arbeit in den Papierbergen zu unterbrechen wird sie der eigenen immer gleichen Leier nahtlos einverleibt (Sehr schön. Ich kann nicht mehr. Sehr schön. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.). Der Musiklehrer nimmt, obwohl er visuell anwesend ist (im Bildvordergrund) keinerlei erkennbare Notiz von dem um Aufmerksamkeit bemühten Clown: Er bleibt ganz mit sich allein, auf seine eigene Arbeit konzentriert (über sein Notenblatt gebeugt) und in seiner eigenen akustisch abgeschirmten Welt, in der er neben seinem eigenen Summen (aufgrund seiner Schwerhörigkeit) nichts hört. Die dritte (entsprechend der Filmnarration) anwesende Person, die Nudelfrau, kommt erst später ins Bild (Kameraschwenk). Von ihr hört man gar nichts. Auch sie ist vollauf mit sich selbst (und ihrer eigenen Deformation) beschäftigt, indem sie die Nudeln, die sie verunzieren, von sich abzupft. Und so wird anstelle einer kollegialen Kommunikation auch hier ein ›kollektives Monadentum‹ sichtbar (vgl. Kap. 5.4.1).
5.4.4 Der Lehrervortrag … aber wahnsinnig stolz! Äh, äh, aber könnt ihr mir sagen, warum mir die Kinder damals immer so schön zugehört haben? Aber stolz bin ich immer noch auf meinen Lehrervortrag! Der Oberlehrer fällt aus der Reihe der ›vortragenden‹ Lehrer (Nudelfrau, Clown, Blinde Kuh und Klassenzimmertüraufsicht) heraus, denn er ist der einzige von ihnen, der nicht dabei gezeigt wird, wie er das Zimmer betritt, sondern er ist bereits anwesend und be¿ndet sich gerade mitten in einer Rede als er nach
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Kapitel 5
Abb. 63
einem Schnitt (4:24) ins Bild kommt. Auch seine Kulisse sticht von den anderen ab (Abb. 63): Er steht nicht vor der Fläche einer geschlossenen Tür, sondern vor einer Pinnwand, auf der viele Zetteln heften. Zwar gibt es auch eine Tür im Hintergrund, sie be¿ndet sich jedoch nicht im Zentrum und ist auch nicht ganz geschlossen. Dies steht im Einklang damit, dass er der Einzige ist, der sein Unterrichtsgeschäft nicht als Erfolgs-Story umdeutet und vor den anderen präsentiert, sondern der einen AnÀug von Selbstzweifel erkennen lässt (aber könnt ihr mir sagen, warum mir die Kinder damals immer so schön zugehört haben?; vgl. auch Kap. 5.3.1). So ist er weniger darauf angewiesen, dass seine tatsächliche Handlungspraxis gut abgeschirmt hinter verschlossener Tür statt¿ndet (vgl. Kap. 5.4.3). Anstelle einer Idealisierung im Sinne Goffmans (vgl. Kap. 5.4.3 und Kap. 2.2) ¿ndet hier eher eine ›Anti-Idealisierung‹ statt: Die Methodik des Lehrervortrags spielt, ebenso wie der lehrerzentrierte Unterricht, in der »Phraseologie« (Goffman, vgl. Kap. 5.4.3) des aktuellen didaktisch-methodischen Diskurses eher die Rolle eines Negativhorizonts (vgl. Kap. 7.1.1), von dem es sich abzugrenzen gilt. Durch die monotone Langatmigkeit (mit den unprofessionell vielen »Ähs«) seines Vortrags thematisiert er performativ die weit verbreitete Negativ-Karikatur dieser Unterrichtsform und distanziert sich gleichzeitig durch die satirische Übertreibung von dieser Karikatur. Dabei fällt auf, dass er der einzige ist, der ohne jegliche Deformation oder lächerliche Verkleidung präsentiert wird (weder Nudeln noch Klebepunkte im Gesicht, noch verbundene Augen oder Schutzhelm). Neben der Verweigerung einer Idealisierung ist er im Übrigen auch der Einzige, der sich jener Rollendistanz entzieht, die ihn von seinem formellen Status soweit abrücken lässt, dass es zur Degradierung seiner Person kommt (vgl. Kap. 5.3.1). Vergleicht man seine Rede mit der des Clowns, so fällt auf, dass er nicht nur von sich, sondern auch von seinem Gegenüber (die Kinder) spricht (Clown: … hab ich gemacht!), wobei er dabei nicht de-
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ren rollenförmige Existenz als Schüler ins Spiel bringt, sondern sie als Angehörige der ihm nachfolgenden Generation bezeichnet (»Kinder« anstelle von »Schüler«). Auch er selbst ist in seiner Personhaftigkeit deutlich unverstellter zu sehen. Bis auf den ausgestopften Bauch (der ihn etwas ›aufgeblasen‹ aussehen lässt – passend zum Text: stolz bin ich immer noch) tritt er im Gegensatz zu den anderen völlig unverkleidet (lediglich der Kontrast zwischen Krawatte und Jeans wirkt etwas überzogen) und ›unbeschwert‹ auf: Anstelle einer schweren (dunklen) Aktentasche (Nudelfrau) oder eines gewichtigen Trolleys (Clown) hat er nur eine dünne, leichtgewichtig wirkende hellbraune Aktenmappe unter den Arm geklemmt. Weder das Unterrichtsmaterial noch die Akten (Bürokratie und Leistungserhebungen) treten hier sonderlich in Erscheinung, sondern es ist seine Person, die ganz im Zentrum steht. Dies ist besonders augenfällig vor dem Hintergrund der ›Materialschlacht‹ des Clowns, die in der direkt vorangegangenen Szene gezeigt wurde und bei der nicht die Person, sondern die Aktion im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Damit bleibt gerade derjenige der Lehrer, der so gar nicht zeitgemäß auftritt und sich nicht weiter um eine Idealisierung schert, weitgehend von den Malen der ›neuen Zeit‹ (s.u.) verschont: Er erscheint noch am ehesten als ganze Person, weder verstellt oder verkleidet noch deformiert oder reduziert. Gleichzeitig zeigt er sich als Verkörperung des Klischees des (etwas verschrobenen) dozierenden (d.h. »lehrenden«124) Lehrers und setzt damit sozusagen den Inbegriff seines Berufsstandes in Szene. In der (im Gegensatz zu seinen Kollegen) unbeirrten Präsentation seiner beruÀichen Identität wird keine Rollendistanz gegenüber institutionellen Ansprüchen sichtbar125, sondern lediglich eine Ratlosigkeit, die er als Anfrage an seine Kollegen richtet (… könnt ihr mir sagen …?). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass er der Einzige ist, der mit einem Kollegen ›auf Augenhöhe‹ in Kontakt tritt und sich für dessen Arbeit ernsthafter interessiert (S 4.7: Dialog): Zunächst beugt er sich ebenso wie der Clown nach seiner Rede zum Musiklehrer hinunter und fragt ihn: Was machst denn du da? Aber anders als der Clown lässt er es damit nicht bewenden, sondern er fragt, als er keine Antwort bekommt, weiter nach: Was machst denn du da? und setzt sich dabei neben den Musiklehrer (Abb. 64), der ihn dann endlich wahrnimmt und schwerhörig nachfragt: Häh? Schließlich fragt der Oberlehrer noch ein 124 »Lehren« als Übersetzung des lateinischen Begriffs »docere«. 125 Dies ist auch die einzige Szene im Film, in der die Uhr (als Repräsentant der institutionellen Struktur) wie selbstverständlich im Hintergrund des Bildes auftaucht und dabei nicht als übermächtige Strukturierungsmacht (wie in den beiden Großaufnahmen in S 2 und S 5; vgl. Kap. 5.2) dargestellt wird.
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drittes Mal: Du! Was machst du da? und bekommt nun etwas Einblick in die Tätigkeit seines Kollegen (Ah! Musik! – Musiklehrer: Hm, hm. …). Auch wenn dieser Dialog aufgrund der Senilität, in der sich beide präsentieren, recht skurril wirkt, so handelt es sich hier doch um den einzigen Dialog dieser Art in dem ganzen Film. Hier reden die beiden Kollegen nicht aneinander vorbei, sondern es gelingt ihnen zumindest, sich annähernd verständlich zu machen bzw. zu verstehen. Damit steht diese Szene in einem Kontrast zur allgemeinen Kommunikationslosigkeit, die diesen Film insgesamt durchzieht, und zum kollektiven Monadentum, das dabei sichtbar wurde.
Der Vergleichshorizont »damals – heute« Oberlehrer: … warum mir die Kinder damals immer so schön zugehört haben? Clown: Das kann man heut noch machen, ja! In der Gegenüberstellung der beiden direkt nacheinander auftretenden Lehrer Clown und Oberlehrer kommt ein Vergleichshorizont in den Blick, der diesen Film bereits von Anfang an rahmt (vgl. Vor- und Nachspann, S 1 / S 6; außerdem: Gespräch »Ja damals«, S 4.9): Das Damals wird einem Heute gegenüber gestellt. Dieses Heute handelt allerdings im Jahre 2034, während das Damals sich einerseits auf die Gegenwart, in der der Film gedreht wurde (2004), bezieht.126 Gleichzeitig wird dieses Damals aber auch durch den Vorspann (Vorlauf einer alten Filmrolle) und dessen Anklänge an einen schwarz-weißen Stumm¿lm (s/w-Texttafeln mit Musik aus den 1920er /30er Jahren) als eine längst vergangene, aber ›goldene‹ Zeit (Golden Twentieth) charakterisiert. Auf diese Weise wird die Distanz zwischen dem Damals und dem Heute zusätzlich vergrößert und als Kontrast zwischen zwei ›Zeitaltern‹ hochstilisiert. Das Heute erscheint vor diesem Vergleichshintergrund als eine skurril anmutende »Kammer des Schreckens«. Nichts scheint mehr zu gehen: Der ›gute alte‹ Lehrervortrag funktioniert nicht mehr, aber die Alternativen dazu (das kann man heut noch machen) erscheinen erst recht lächerlich und weisen dazu noch einige unangenehme Begleiterscheinungen auf (vgl. Kap. 5.3.1 und Kap. 5.4.3). Gerade durch die Gegenüberstellung zwischen dem Oberlehrer und dem Clown werden einige Aspekte akzentuiert, die bereits an anderen Stellen zum Ausdruck kamen und die das ›neue Zeitalter‹ aus der Sicht der Lehrer kennzeichnen, wie z.B. das 126 Dies wird insbesondere in dem Gespräch Ja damals deutlich, in dem die Lehrer von dem Bau einer neuen Turnhalle sprechen, die zu jenem Zeitpunkt in Planung war.
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Verschwinden der Personhaftigkeit von Lehrern und Schülern hinter wachsenden institutionellen Ansprüchen an diese und die damit in Zusammenhang stehende Kommunikationslosigkeit untereinander. Indem zwei grundlegend verschiedene Zeiten gewählt werden, um die Grundidee des Films zu entfalten, wird außerdem deutlich, dass die hier thematisierten De¿zite nicht als einzelne kleine Schönheitsfehler betrachtet werden, sondern dass sie im Kontext einer fundamentalen ›Dis-kompatibilität‹ bzw. Widersprüchlichkeit wahrgenommen werden. In diesem Kontext wird auch die Perspektivlosigkeit, die diesen Film durchzieht und die schließlich im ›Untergang‹ der Lehrer gipfelt (S 5.5), verständlicher. Erst durch die ›Ent-Personi¿zierung‹ der Institution (die Lehrer werden in der ›Bühne‹ versenkt und zurück bleibt nur der menschenlose Raum, vgl. Kap. 6.4) ›löst‹ sich das dargestellte Dilemma.
5.5 Der Filmtitel Der Filmtitel besteht aus zwei Teilen, die durch die Konjunktion oder aufeinander bezogen werden (Abb. 65). Die gleichbleibende Größe der Schrift bringt dabei zum Ausdruck, dass es sich nicht um Titel mit Untertitel handelt, sondern um einen Titel, der aus zwei gleichberechtigten Teilen besteht. Der zweite Teil dient also nicht nur der Erklärung des ersten, sondern wird seinerseits durch den ersten erklärt. »Kammer« Die Bezeichnung Kammer gilt im heutigen Sprachgebrauch ohne jegliche Zusammensetzung (wie z.B. »Abstellkammer«) eher als eine altertümliche Wendung und kommt fast nur noch in sprichwörtlichen Redewendungen vor (z. B: »im stillen Kämmerlein«). Die ursprüngliche allgemeine Bedeutung des Wortes (»kleines,
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abgeteiltes Gemach des Hauses«; Duden 1997: 323) betont das Merkmal der Abtrennung von einer Gesamtheit. Somit spiegelt sich bereits in diesem Begriff eine Charakteristik wider, die im Film selbst auf mehrfache Weise sichtbar wird: Bereits in der Filmeröffnung, die üblicherweise eine bedeutsame Rolle spielt für die Präsentation des Ortes der Filmhandlung und diesen bereits auf spezi¿sche Weise vorstellt und kennzeichnet (im sog. »Establishing Shot«; Steinmetz 2005: 35), kommt der Charakter der Abtrennung sehr augenfällig ins Bild: Das Innere eines Gebäudes wird in einer Weise in Szene gesetzt, sodass es aufgrund seiner Architektonik wie das Innere eines Gefängnisses erscheint (Abb. 66). Damit wird eine Institution ins Bild geholt, die in ganz besonderer Weise eine Abtrennung vom Rest der Gesellschaft verkörpert. Auch in der Gesamtstruktur des Films zeigt sich ein Festgelegtsein auf nur eine Sphäre, die durch dieses Gebäude gekennzeichnet ist (vgl. Kap. 5.1), und in der Filmnarration ¿ndet darüber hinaus auch noch ein Rückzug in einen abgetrennten Raum innerhalb dieses (abgegrenzten) Gebäudes statt, in dem sich schließlich der Hauptteil des Films hinter ständig geschlossener (bzw. sich ständig schließender Tür) abspielt (vgl. Kulisse der geschlossenen Tür; Kap. 5.4.4) und der auch der einzige Raum bleibt, in den Einblick gegeben wird. Dabei wird gerade der Zugang zu diesem (fensterlos erscheinenden) Raum auch noch in einer besonderen Weise in Szene gesetzt (vgl. Abb. 54 in Kap. 5.3.2 , sowie der geheimnisvolle Übergang in dieses Zimmer mit knarzender Tür und Blick ins Dunkle in S3, 1:21–1:49). »Kammer des Schreckens« Der Zusatz des Schreckens bringt eine eindeutig negative Konnotation ins Spiel. Damit wird die negative Charakterisierung des Aspekts der Abtrennung, wie er im Film beispielsweise durch die Assoziation zum Gefängnis hergestellt wird, unterstrichen.
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Darüber hinaus wird eine Verbindung hergestellt zu einem Bestseller-Titel, der zum Zeitpunkt der Entstehung des vorliegenden Films aktuell war und auch ver¿lmt wurde: »Harry Potter und die Kammer des Schreckens«. Nachdem der Begriff »Kammer« wenig gebräuchlich ist und die Kombination »Kammer des Schreckens« bis dato auch keinen festen Begriff darstellte, scheint es sich hier um ein Zitat dieses Bestseller-Titels zu handeln. Jener Roman bzw. Film spielt in einer (Zauberer-) Schule. Dort sitzt ein Ungeheuer in der »Kammer des Schreckens«, das jene Schule in ihrer aktuellen Form bedroht, weil es eine stärkere Selektion der Schülerschaft durchsetzen will, was für einige Schüler nicht nur das Ende ihrer Schulkarriere bedeuten, sondern sich für sie auch als lebensbedrohlich erweisen würde.127 Hier lässt sich unschwer eine Parallele zwischen den beiden zugrunde liegenden Stories herstellen: Das ›Ungeheuer‹, das im hier vorliegenden Film in der »Kammer des Schreckens« (Lehrerzimmer) ›wütet‹ und sich mit ›blutverschmierten‹ Händen ganz den Selektionsaufgaben der Schule widmet, heißt im Film der Lehrer Marianne. Ähnlich wie bei Harry Potter scheinen die Akten dort selber zu ›bluten‹ (vgl. Kap. 5.4.1). Das Thema, das Marianne repräsentiert, durchzieht nahezu omnipräsent den ganzen Film. Dabei lässt gerade auch dieses unablässige ›Nicht-aufhören-Können‹ den Eindruck eines sich verselbständigenden Phänomens (eines Selbstläufers) entstehen, dass sich wie ein unheimliches perpetuum mobile in einem nicht enden wollenden Circulus vitiosus fortsetzt (vgl. Kap. 5.4.1). Dieser auf ständige Wiederholung angelegte Kreislauf ¿ndet nun seinerseits im zweiten Teil des Titels eine Entsprechung: »Re – valuation« Das hier verwendete Prä¿x »Re-« besitzt die Bedeutung »zurück; wieder« (Duden, 2001, S. 844) und deutet den Kreislauf einer Wiederkehr an. Es wird in doppelter Weise akzentuiert: Einerseits wird es dadurch hervorgehoben, dass das Wort Revaluation eine Wortneuschöpfung (einen Neologismus) darstellt (aus dem Wort »Evaluation«), andererseits erhält dieses Prä¿x eine Betonung durch den Stabreim, der aus der Silbe »Re-« entsteht (Realschule – Revaluation). Darüber hinaus wird durch das Wort »Revaluation« auch noch eine Verbindung zu einem weiteren Kreislauf hergestellt: Dieses Wort wird an nur einer einzigen Stelle im Film verwendet (in S5 im »Danklied«, s. u.). Dort erscheint es in 127 Joanne K. Rowling (1999): Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Hamburg: Carlsen
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einem Wortspiel, das seinerseits auch wieder einen Zirkel entstehen lässt, der dort die Form einer Abwärtsspirale (»De -«) annimmt: Evaluation – Devaluation – Revaluation. Zieht man die Wortbedeutung von Evaluation in Betracht, so könnte man diese Konstruktion mit den beiden Neologismen etwa folgendermaßen übersetzen: »Bewertung – Entwertung – Wiederbewertung (der fortschreitenden Entwertung…)«. Hiermit wird der programmatische Anspruch konterkariert, der (u.a. im Kontext der Schule) mit der Maßnahme der Evaluation of¿ziell verbunden wird und beispielsweise darin zum Ausdruck kommt, dass sie üblicherweise als Instrument im Rahmen eines sog. »Qualitäts«-Managements zum Einsatz kommt, das zu einer stetigen Verbesserung des Status quo (also zu einer ›Aufwärts-Spirale‹) beitragen soll. Gleichzeitig wird hier sichtbar, dass der zweite Teil des Titels (Realschule in Zeiten der Revaluation) mit dem ersten Teil (Kammer des Schreckens) nicht nur über die gemeinsame zirkuläre Struktur, auf die sich beide beziehen, verbunden ist, sondern auch über die gemeinsame Thematik der Bewertung und Beurteilung. Während allerdings der erste Teil des Titels auf Marianne als Repräsentantin der Bewertenden und (Ver-) Urteilenden hinweist (die allerdings dazu verurteilt ist, zu verurteilen; Kap. 5.4.1), bezieht sich der zweite Teil primär auf sie als Zu-Bewertende und sich selbst Bewertende, die schließlich auch wieder in Bezug auf den Vollzug ihrer eigenen Bewertungstätigkeit bewertet wird (vgl. den Hinweis auf die Jahrgangsstufen-Tests im »Danklied«, s.u.). Indem nun der erste und der zweite Teil des Titels aufeinander bezogen sind, wird hier eine ähnliche Homologie zwischen Lehrern und Schülern hergestellt, wie dies schon mehrfach im Film zu beobachten war (vgl. Kap. 5.2.2). Die Lehrer erscheinen damit in der Rolle von Schülern, die ebenfalls endlos bewertet werden. In dem hierarchischen System der Bewertung sind sie dadurch in zwei sich überlappende Kreisläufe der Bewertung eingebunden: in den Kreislauf des (von oben) bewertet Werdens und in den Kreislauf des selber (nach unten) Bewertens. Sie selber verorten sich an der Schnittstelle dieser beiden Kreisläufe und erscheinen dabei wie zwischen zwei Mühlsteinen. Diese doppelte Einbindung in die hierarchische Struktur bestätigt sich auch in den Dynamiken der beiden unterschiedlichen Formen von Rollendistanz, die sie an den Tag legen und die sich auf widersprüchliche Weise mischen: Einerseits distanzieren sie sich von der Unterwerfung gegenüber dem hierarchischen Oben (Kap. 5.2), andererseits lockern sie die Distanz gegenüber den ihnen statusgemäß Unterlegenen (Kap. 5.3) und distanzieren sich auch gleichzeitig wieder davon (vgl. Kap. 5.1).
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»… in Zeiten der …« Durch die Formulierung in Zeiten der Revaluation wird deutlich, dass der Kreislauf des Bewertens nicht als singuläre Erscheinung betrachtet wird, sondern als in einen größeren Kontext eingebunden gesehen wird. Er wird als Teil eines ›Zeitalters‹, bzw. einer ›neuen Zeit‹ betrachtet (vgl. Kap. 5.4.4), in der ganz allgemein ›die Uhren anders gehen‹ und damit andere Maßstäbe (als die der Produzenten; vgl. auch Kap. 5.4.2) zum Tragen kommen. Die Distanz zu diesen ›neuen‹ Maßstäben wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie einem anderen Zeitalter zugeordnet werden, während die Lehrer sich selber als noch der (guten) alten Zeit zugehörig präsentieren. »Zeiten der Revaluation« Die ›Weltanschauung‹ dieses neuen Zeitalters wird u.a. in dem ›Danklied‹ zum Ausdruck gebracht, auf das durch das Wort »Revaluation« im Titel Bezug genommen wird. Nachdem es sich hier um ein bekanntes geistliches Danklied128 handelt, das in Melodie und Textteilen zitiert wird, klingt dabei der quasi-religiöse Charakter, der den neuen Maßstäben zugeschrieben wird, an. Das existenzielle rundum Eingebundensein in dieses Zeitalter und dessen Weltanschauung kommt dabei sowohl im Text des 1. und 3. Verses zum Ausdruck (Tag um Tag) als auch in der das Lied in sich abrundenden Form des Kreis-Rondos (ABA Form). Danke für jede neue Stunde, danke für jeden Nachmittag. Danke, dass wir hier ohne Sorgen verbringen Tag um Tag! Danke für jeden ADSler, für Legasthenie, Dyskalkulie und Dyshistorie. Danke für Tests der Jahrgangsstufen, für Evaluation, Devaluation und Revaluation. Danke für jede neue Stunde, danke für jeden Nachmittag. Danke, dass wir hier ohne Sorgen verbringen Tag um Tag! Anstelle von »Freunden« oder anderen Menschen, die im 2. Vers des Originaltextes genannt werden (vgl. F 128), kommen hier im 2. Vers keine Menschen, sondern zunächst nur Kategorien zur Sprache (ADSler, Legasthenie, Dyskalkulie),
128 Der Originaltext lautet: Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag. Danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 334) In den folgenden Versen werden einzelne Aspekte thematisiert, für die in besonderer Weise gedankt wird, z. B.: 2. Vers: Danke für alle guten Freunde, danke, o Herr, für jedermann …; 3. Vers: Danke für meine Arbeitsstelle … etc.
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Abb. 67
wobei die Kategorisierung dabei ins Absurde fortgesetzt wird durch einen weiteren Neologismus (Dyshistorie), der die Neuschöpfung einer weiteren Kategorie beinhaltet, die es bislang noch nicht gibt. Die Entpersönlichung bzw. die Reduktion der Personen auf Akten und Funktionen, die in dem Film immer wieder zum Ausdruck kam (z.B. Kap. 5.3.2 oder Kap. 5.4.1), setzt sich damit auch hier fort. Die Bewertungs-Zirkel, die in der darauffolgenden Zeile zur Sprache kommen (Tests der Jahrgangsstufen; Evaluation …), wurden weiter oben bereits thematisiert. Hier werden beide Zirkel sozusagen in einem Atemzug genannt. Damit wird dieses Zeitalter insgesamt als von Normierung, Kategorisierung, (Aus-)Sortierung und exzessiver Bewertung geprägt dargestellt. Mittels des Stilmittels der ›Neo‹-logismen wird das Neue dieses Zeitalters als ein sich selbst ad absurdum führendes Neues gekennzeichnet. Anstelle eines zu verzeichnenden Fortschritts kommt damit wieder die Wahrnehmung des sich selbst reproduzierenden Zirkels zum Ausdruck. Die Perspektivlosigkeit, die in derartigen Zukunftsaussichten liegt, kommt im Film auf vielfältige Weise zum Ausdruck (vgl. z.B. Kap. 5.4.4). Sie zeigt sich auch sehr eindrucksvoll in der (fehlenden) Perspektivik und der Linienführung seines Schlussbildes (Abb. 67), das sich nach dem ›Versinken‹ der Lehrer (S 5.5) ergibt. »Revaluation« oder »Revolution«? Das in keinem gängigen Wörterbuch der deutschen Sprache existierende Wort »Revaluation« besitzt große Ähnlichkeit mit dem tatsächlich existierenden Wort »Revolution«. Diese Ähnlichkeit könnte als eine rein zufällige betrachtet werden, wenn sich in dem Film selber nicht immer wieder entsprechende Anklänge und Homologien wieder¿nden würden: So taucht z. B. eine Reminiszenz an die Revolution im Auftritt des Clowns auf (vgl. Kap. 5.4.3) und auch in der Geste des Auf-
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stehens zeigen sich entsprechende Anklänge, indem ein ›Aufstand mit gebeugtem Rücken und eingezogenem Kopf‹ erkennbar wird (Kap. 5.2.2). Schließlich erweist sich die Produktion dieses Films an sich als eine kleine ›Revolution‹: Anstelle von zukunftsgerichteten, präsentablen Visionen (im Kontext des Ideen- und KreativWettbewerbs) wird hier eine Horrorvision (»Kammer des Schreckens«) in Form einer (zynisch wirkenden) Satire präsentiert. Durch die Form der Selbstsatire bleibt dieser Aufstand allerdings in einer zirkulären Struktur hängen und bestätigt gleichzeitig die hoffnungslos erscheinende Gefangenschaft ihrer Akteure in einer schülerhaft wirkenden Machtbindung (vgl. Kap. 5.6).
5.6 Zusammenfassung Lehrersein zwischen persönlicher Berufung und institutioneller Bindung In Bezug auf die beruÀiche Existenz zeigt sich in diesem Film eine Differenz zwischen der beruÀichen Identität der Produzenten und ihrer institutionellen Identität (d.h. ihrer Berufsausübung im Kontext der Institution Schule). Dabei wird eine starke persönliche Identi¿kation mit der beruÀichen Identität sichtbar, die mit dem Begriff der »Berufung« beschrieben wurde (Kap. 5.4.2). Eine Ausdrucksform dieser Identi¿kation zeigt sich auch in dem Vorhandensein einer Art von ›persönlichem Berufsethos‹ (vgl. Kap. 5.4.2; Kap. 5.2.2; Kap. 5.4.1). Demgegenüber steht eine drastische Distanzierung der Produzenten von dem Selbst, das mit ihrer Rolle, die sie in der Institution Schule spielen, verbunden ist. Die Ansprüche seitens der Institution werden nicht nur als mit dem persönlichen Berufsethos unvereinbar wahrgenommen (Kap. 5.2.2; Kap. 5.4.1), sie führen aus Sicht der Produzenten auch zu einer beruÀichen und damit gleichzeitig zu einer – aufgrund des spezi¿schen Berufsverständnisses (vgl. »Berufung«) einhergehenden – persönlichen Deformation (Kap. 5.3.1). In der spezi¿schen Art der Distanzierung von den institutionellen Ansprüchen wird allerdings eine starke Fixierung auf die (als unausweichlich erscheinenden) Ansprüche der Institution sichtbar (vgl. insbes. Kap. 5.2.2).
Die double-bind – Struktur Die Produzenten sehen sich dabei offensichtlich zwei unterschiedlichen, einander widerstreitenden Erwartungssystemen gegenüber – ihren beruÀichen Idealen einerseits und den institutionellen Ansprüchen andererseits –, an die sie gleichzeitig
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in hohem Maße gebunden erscheinen. Damit weist ihre Situation die Züge einer klassischen »double-bind«-Struktur (vgl. Bateson 1985: 276ff) auf, die zu einer unauÀöslich wirkenden Verstrickung führt (vgl. dazu auch die Metapher des Gefängnisses, Kap. 5.1 und 5.5). Diese Verstrickung spiegelt sich auch in den zirkulären Strukturen wider, die wiederholt in diesem Film sichtbar werden: in dem Circulus vitiosus des ›Opfer-Täter-Richter‹-Zirkels (Kap. 5.2.2), in dem fast schizophren anmutenden ›Opfer-Täter-Sein‹ von Marianne (Kap. 5.4.1) und in dem selbstreÀexiven in sich selbst Abgeschlossensein der ›Aktentasche auf Füßen‹ (Kap. 5.3.2). Dem Verstoß gegen die eigenen (beruÀichen) Wertorientierungen (Berufsethos) in der Metapher des Täters (mit blutbeÀeckten Händen) steht die Zurückweisung der Verantwortung für diese (unvermeidliche) Tat durch die Opfer-Rolle (wunde, blutende Hände) gegenüber (Kap. 5.4.1). Beides scheint unauÀöslich miteinander und ineinander verwoben zu sein. Diese Verstrickung zeigt sich am prägnantesten in Bezug auf Selektionsaufgaben der Lehrer, denen sie sich im Rahmen der Institution Schule nicht entziehen können, dadurch zu ›Tätern‹ an ihrem Klientel werden und sich gleichzeitig als ›Opfer‹ dieser Täterschaft sehen (Kap. 5.4.1). Sie durchzieht aber auch prinzipiell die Begegnung mit den Schülern (Kap. 5.3.2) und das Gegenüber zu der ihnen hierarchisch übergeordneten Ebene (Kap. 5.2.2) und wird auch in Zusammenhang mit dem Anspruch der Idealisierung sichtbar, dem sich die Produzenten ausgesetzt sehen und der sie ebenfalls zu Verrätern ihrer eigenen Ideale werden lässt (Kap. 5.4.3). Um die seitens der Institution erwünschte Programmatik in Szene zu setzen, werden sie so zu (unfreiwilligen und lächerlich anmutenden) Regisseuren einer Zeremonie, in der die Schüler zu ›Mitspielern‹ werden, um ihre ›Selbständigkeit‹ und ›Eigentätigkeit‹ unter Beweis zu stellen (vgl. Kap. 5.4.3).
Die Einbindung in die hierarchische Struktur Auf vielfältige Weise wird in diesem Film eine starke Einbindung in eine als streng hierarchisch wahrgenommene Struktur sichtbar. Eine Kommunikation ›auf Augenhöhe‹ scheint darin nicht möglich zu sein: Es gibt nur Begegnungen ›über‹ oder ›unter Augenhöhe‹ (vgl. Kap. 5.2.2 bzw. Kap. 5.3.2). Selbst im Kreis der Gleichrangigen (im Kollegium) werden entweder voreinander ›Vorstellungen‹ gegeben oder es wird weitgehend aneinander vorbeigeredet (vgl. Kap 5.4.1; Kap. 5.4.4). Interessant ist dabei die Selbstverortung der Produzenten innerhalb dieser Hierarchie: Sie sehen sich nicht – wie man vielleicht erwarten könnte – in einer
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Zwischenposition zwischen dem Oben und dem Unten, sondern sie nehmen ihre Position als unter dem Unten wahr (vgl. Kap. 5.3) und zeigen sich als machtlose, schutzbedürftige Aufseher und als selbst überwachte Wächter (als die eigentlichen ›Insassen‹). Die Übernahme dieser Position betrachten sie als institutionelle Notwendigkeit, um das Handlungssystem (Unterricht), für das sie sich verantwortlich sehen, aufrechterhalten zu können (Kap. 5.3.1 und Kap. 2.2). Der Statusverlust, den sie dadurch erleiden, fällt allerdings größer aus, als es dem eigenen Selbst zuträglich ist (Kap. 5.3.1), und so erscheinen sie insgesamt als die doppelt Unterlegenen innerhalb des institutionellen Komplexes.
Die Potenzierung der Verstrickung durch die hierarchische Struktur Die oben skizzierte Einbindung in die hierarchische Struktur der Institution führt schließlich zu einer doppelten zirkulären Struktur – zu zwei Kreisläufen, die ineinander greifen (vgl. Kap. 5.5): So erscheinen sie nicht nur als ›Opfer-Täter‹ eines unablässig sich fortsetzenden perpetuum mobiles bezüglich ihrer Bewertungstätigkeiten, sondern sehen sich bei dieser Tätigkeit auch noch gleichzeitig in einen weiteren Zirkel eingebunden in dem ihre (Bewertungs-) Tätigkeit bewertet wird. Damit stehen sie sozusagen an der Schnittstelle dieser beiden miteinander verknüpften Kreisläufe. Diese Position zeigt sich auch homolog dazu in ihrem Umgang mit den Idealisierungs-Ansprüchen (Kap. 5.4.3): Sie erscheinen gleichzeitig als Regisseure, die mit den ihnen anvertrauten Schülern ein »zeremonielles Rollenspiel« (vgl. Kap. 4.6) in Szene setzen, und als Mitspieler, die selbst an einem derartigen zeremoniellen Rollenspiel (höherer Ordnung) beteiligt werden. Auch hier sind sie Opfer und Täter gleichzeitig, indem sie sozusagen als Verfahrensleiter eines Verfahrens selber in ein derartiges Verfahren eingebunden sind (vgl. Kap. 6.2). So zeigt sich wiederum eine Homologie zu ihrer Rolle als »überwachte Wächter« (Kap. 5.2.2). Die Dynamik, die sich aus der Überlagerung von hierarchischer Struktur und double-bind-Struktur ergibt, führt schließlich zu einer Potenzierung der Verstrickung.
Das ›kollektive Monadentum‹ Die hierarchischen Ebenen, die in diesem Film ins Spiel kommen, werden als strikt voneinander abgetrennt dargestellt. Sowohl die übergeordnete als auch die of¿ziell untergeordnete Ebene erscheint als eine ›jenseitige‹ und das Aufeinandertreffen mit diesen Ebenen wird als ›Nicht-Begegnung‹ charakterisiert
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(vgl. Kap. 5.2.2 und Kap. 5.3.2). Diese Isolation nach oben und nach unten setzt sich darüber hinaus aber auch noch im Kollegenkreis fort in dem Aneinandervorbei-Reden (Kap. 5.4.1) und in den ›Einzel-Vorstellungen‹, die die Lehrer voreinander geben. Anstelle von Kooperation und Kollegialität wird lediglich eine Kollektivität einzelner voneinander isolierter Monaden (vgl. Kap. 5.4.1) sichtbar. Sie wird einerseits als Folge der Einbindung in die strikte Hierarchie dargestellt (Kap. 5.2.2), andererseits scheint es die institutionelle VerpÀichtung zur Idealisierung zu sein, die zu einer Abschottung der Einzelnen voreinander führt (vgl. Kulisse der verschlossenen Tür; Kap. 5.4.3 und 5.4.4). An die Stelle des kollegialen Austauschs auf einer gemeinsamen Hinterbühne (vgl. Goffman; Kap. 2.2) tritt die Umdeutung und Idealisierung der eigenen Praxis voreinander (Kap. 5.3.1; Kap 5.4.3 und Kap 5.4.4) und macht sichtbar, dass sie sich eben nicht als ›im gleichen Boot‹ sitzend (auf einer gemeinsamen Hinterbühne) wahrnehmen. Der Rückgriff auf die Theatermetaphorik (vgl. Goffman, Kap. 2.2) lässt dabei einen weiteren Aspekt in den Blick kommen: Durch die Einzelvorstellungen auf der Vorderbühne voreinander gelingt es auch – neben dem Aufrechterhalten des Scheins einer idealen Praxis – das eigene beschädigte Selbst (vgl. Kap. 5.3.1) vor dem Blick der anderen zu schützen. Obwohl es sich hier offensichtlich um eine gemeinsam geteilte Praxis handelt, hat diese jedoch nichts Verbindendes und so kann hier weniger von einem ›kollegialen‹ als vielmehr von einem ›kollektiven‹ Monadentum (vgl. Kap. 5.4.1) gesprochen werden.
›lebenslänglich‹ Bereits in der Metapher des Gefängnisses kommt eine gewisse Perspektivlosigkeit zum Ausdruck, die in Zusammenhang steht mit der Aussichtslosigkeit, sich von den Dilemmata (dem potenzierten double-bind) und den das Selbst deformierenden Zumutungen zu distanzieren. Diese Perspektivlosigkeit zieht sich durch den gesamten Handlungsrahmen des Films, zeigt sich auch in seinem Aufbau (vgl. Kap. 5.1.) und gipfelt schließlich am Ende im ›Abgesang‹ (S 5.4 / 5.5), bei dem die Produzenten nicht abtreten, sondern an Ort und Stelle versinken. Selbst in diesem ›Distanzierungsversuch‹ bleiben sie letztlich dem Rahmen der Institution verhaftet. Diese nicht gelingen wollende Distanzierung zeigt sich homolog dazu ebenfalls in den vielfältigen Formen von Rollendistanz (vgl. Kap. 5.1). Der Versuch, die als diskreditierend wahrgenommene Narrenrolle in Form der Übernahme der Narrenrolle loszuwerden, gelingt letztlich nicht und die Verweigerung, das
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›dekorative Spiel‹ der Idealisierung in Form eines ›schönen‹ Beitrags mitzuspielen, gerät (u.a. durch die schülerhaft wirkende Form der Distanzierung) eher noch zur Selbstdiskreditierung. Wie Pech bleibt die erfahrene beruÀiche und persönliche Diskreditierung letztlich doch wieder an ihnen selbst kleben und bestätigt die Unmöglichkeit, sich von den unerwünschten Attribuierungen zu lösen. Damit bestätigt sich die Bindung an eben jene zirkuläre Struktur auch nochmals auf MetaEbene dieses Films.
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6.1 Die Dekoration Stellt man die Perspektiven der Schüler und Lehrer, die aus den beiden Filmen rekonstruiert wurden, einander gegenüber, so wird ein gemeinsamer Rahmen sichtbar, in dem sich wesentliche Orientierungen dieser beiden unterschiedlichen, einander komplementär gegenüberstehenden Gruppen schulischer Akteure verorten lassen. Dieser Rahmen, der gleichzeitig als eine das Feld der Schule »strukturierende Struktur« erscheint (vgl. Kap. 2.1), soll nun in diesem Kapitel näher beleuchtet werden. Nachdem sich diese Struktur nicht nur in den beiden hier dargestellten Filmen zeigt, sondern – in jeweils unterschiedlichen Varianten und Facetten – auch in den anderen Wettbewerbsbeiträgen, werden in diesem Kapitel auch einige dieser Dokumente (Bsp. 1-6) zur Sprache gebracht (bzw. ins Bild gesetzt), deren ausführlichere Darstellung den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. Die Praxis der unterschiedlichen Akteure der Institution Schule wird wesentlich von einer spezi¿schen Art der Bearbeitung der »notorischen Differenz« (Bohnsack, 2004, S. 84)129 zwischen einer normativen Programmatik auf der einen Seite und den davon abweichenden Routinen, die sich aus dem Rahmen der Institution ergeben, auf der anderen Seite strukturiert. In Bezug auf die Programmatik (die Leitbilder und Ideale der Schule) kommen in den Wettbewerbsbeiträgen pädagogische Zielvorstellungen, die in der Tradition der Aufklärung stehen, zum Ausdruck wie Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Selbststeuerung und Partizipation (Mitspracherechte) der Schüler. Dieser Programmatik wird nicht nur durch die Verbalisierung der erwünschten Ideale Geltung verschafft (z.B. durch idealisierende Umdeutung der Alltagsroutinen 129 Der Begriff »notorische Differenz« weist auf die prinzipielle Kontrafaktizität zwischen Normen (Idealen) und ihrer Verwirklichung hin.
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unter Verwendung der entsprechenden »Phraseologie« im Sinne Goffmans; Kap. 2.2), sondern auch dadurch, dass sie zur Aufführung gebracht wird, also durch eine spezi¿sche Form einer performativen Praxis. Dabei wird gleichzeitig (insbesondere seitens der Lehrer) eine Tendenz zur Diffusion der prinzipiellen Differenz und zur Tabuisierung der Diskrepanz zwischen Programmatik und Alltagsroutinen sichtbar, wie im Folgenden noch verdeutlicht wird. Allerdings zeigen sich gerade durch diese spezi¿sche Art der performativen Praxis Formen der Selbst-Instrumentalisierung (seitens der Schüler und der Lehrer) bzw. der Fremd-Instrumentalisierung (der Schüler durch die Lehrer), die eben genau jenen pädagogischen Idealen, die zur Aufführung gebracht werden, in einer paradoxen Weise entgegenlaufen und damit die letztendliche Dominanz restriktiver Strukturen innerhalb der Institution erkennen lassen, die jenen zur Aufführung gebrachten Idealen entgegenwirken. Die Programmatik wird also auf eine paradoxe Weise zur Geltung gebracht: Vordergründig wird durch die Aufführung eines Zeremoniells (vgl. Kap. 2.2) die Existenz einer ›idealen Praxis‹ deklariert und demonstriert, während sich gerade in und durch diese Vorgehensweise Strukturen durchsetzen, die diese Ideale konterkarieren. Diese spezi¿sche Art der Bewältigung der Diskrepanz zwischen Programmatik und institutioneller Praxis bezeichne ich mit dem Begriff der »Dekoration«. In dieser ›dekorierenden‹ Praxis spielen Lehrer und Schüler jeweils unterschiedliche Rollen: In der Teilnahme am »zeremoniellen Rollenspiel« (Kap. 4.6), in dem das Ideal selbstbestimmter Partizipation zur Aufführung gebracht wird, übernehmen die Schüler die Rolle von ›engagierten Mitspielern‹ (Kap. 4.3.2). Hier wird eine Form der Selbst-Instrumentalisierung sichtbar, zu der sie sich sozusagen als ›Schauspieler wider Willen‹ (vgl. Outtakes; Kap. 4.4.3) hinreißen lassen. Die Lehrer spielen allerdings nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, einfach die dazu komplementäre Rolle der ›Regisseure‹ dieses zeremoniellen Rollenspiels, sondern sie spielen genau genommen eine Doppelrolle: Sie erscheinen einerseits (ebenfalls wie die Schüler) als ›Mitspieler‹ an dem ›dekorativen Spiel‹ und sehen sich gleichzeitig aber auch als ›Regisseure‹ im Gegenüber zu den Schülern (Kap. 5.4.3 und 5.6). Sie sind damit in doppelter Weise in dieses Zeremoniell eingebunden, was auch in ihrer eigentümlichen Doppelrolle als ›Opfer-Täter‹ seinen Ausdruck ¿ndet und die double-bind-Struktur, in der sie verstrickt erscheinen, potenziert (vgl. Kap. 5.6). Insofern wird bei den Lehrern nicht nur eine (Fremd-) Instrumentalisierung der Schüler sichtbar, sondern ebenfalls eine Form der Selbst-Instrumentalisierung und darüber hinaus
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eine zirkuläre Verknüpfung zwischen beidem: eine Selbst-Instrumentalisierung zur Fremd-Instrumentalisierung (vgl. ›Opfer-Täter-Zirkel‹; Kap. 5.4.1 und 5.6). Um die hier skizzierte Praxis noch weiter zu veranschaulichen und zu präzisieren, sollen nun im Folgenden, neben und ergänzend zu den Ergebnissen der Filminterpretationen, auch Interpretationen weiterer Wettbewerbsbeiträge genutzt werden (Beispiel 1–6).
6.2 Das zeremonielle Rollenspiel Beispiel 1: Der erfolgreiche »Wandel« der Schule durch Projektarbeit Ein Lehrer einer 9. Klasse hat – in der Kategorie Schülerbeiträge – als Wettbewerbs-Beitrag eine sorgfältig gestaltete Mappe eingereicht, in der ein Kreativprojekt zum Thema Toleranz dokumentiert wird, das er mit seiner Klasse durchgeführt hat. In dieser Mappe werden die Produkte der Schüler vorgestellt, die im Laufe des Projekts in Einzel- und Gruppenarbeit entstanden sind: Eine Sammlung von sog. Impulstexten zum Thema Toleranz, einige Fotos von Plakaten, ein Lied auf CD, ein Rollenspiel und ein Finger-Theaterstück. Beigelegt wurde außerdem eine Power-Point-Präsentation, in der der Projektverlauf detailliert dargestellt wird. Lediglich das von ihm verfasste Begleitschreiben zu diesem Projekt stellt den Bezug zum Thema des Wettbewerbs her: Sehr geehrte Damen und Herren, Schule muss sich wandeln. Dieser Wandel muss sich in erster Linie im Unterricht vollziehen. (…) Bei uns hat sich also mehrfach ein WANDEL vollzogen. Zunächst ein WANDEL in der Unterrichtsorganisation, der einen WANDEL in der Einstellung der Schüler zu ihren Arbeitsaufträgen und zu ihrer Arbeitshaltung hervorrief. Der WANDEL der Lernkultur und der WANDEL bei der Präsentation brachten schließlich noch den WANDEL in der Geisteshaltung am Ende des Projekts mit sich, dass man zu recht stolz auf das Geleistete war und noch ist. Dass Unterricht eben mehr als das Abhalten von 45-Minuten Einheiten ist und Unterrichtsergebnisse aktiv das Schulleben beeinÀussen können WANDELTE auch die Haltung der Schülerinnen und Schüler gegenüber Unterrichtsgegenstände. Motivation, Engagement und Gemeinschaft haben einen WANDEL in der Lernkultur innerhalb der Klasse vollzogen.130 130 Die Hervorhebungen durch Großbuchstaben entstammen dem Original. Die Fehler im Original wurden beibehalten.
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Betrachtet man die Vorstellung des Projekts in der Power-Point-Präsentation, so fällt auf, dass dessen Verlauf so dargestellt wurde, dass er dem idealtypischen Ablauf eines Projekts, so wie er in Didaktik-Lehrbüchern zu ¿nden ist (z.B. Gonschorek & Schneider 2003: 180–182), folgt: Eine aktuelle, problemhaltige Situation wird als Anlass des Projektes genannt (Vorfälle in der Klasse). Die Initiation des Projektes wird einem Schüler zugeschrieben (»Wir sollten einfach toleranter sein!«, meinte ein Mitschüler.) und schließlich wird ein Produkt mit Praxisrelevanz angestrebt (Arbeitsergebnisse anderen Klassen zur Verfügung stellen; Schulaktion »Aktion Freundlichkeit«). Die betont aktive Rolle, in der die Schüler in dem Anschreiben des Lehrers erscheinen (s.u.), bestätigt zusätzlich das Gelingen einer idealtypischen Umsetzung der Projektidee. In dem Begleitschreiben des Lehrers (s.o.) werden außerdem die erfolgreiche Etablierung einer neuen Lernkultur und einer veränderten Unterrichtsorganisation jenseits der 45-Minuten Einheiten (ein weiteres konstitutives Element der Projektidee) genannt. Aus der Darstellung des Projektverlaufs in der beigelegten Power-Point-Präsentation lässt sich allerdings gleichzeitig eine dem widersprechende Handlungsorientierung und Unterrichtspraxis rekonstruieren: Unter der Folienüberschrift Planung werden dort u.a. folgende Aspekte genannt: ›normalen‹ Unterricht nicht vernachlässigen; neben dem Regelunterricht waren die Projektstunden eine willkommene Abwechslung. Der traditionelle Unterricht wird damit als die legitime Norm anerkannt, dergegenüber der Projektunterricht als willkommene Abwechslung abgewertet wird. Bei dem die Präsentation abschließenden Erfahrungsbericht, unterteilt in ups und downs (positive und negative Erfahrungen), die im Rückblick auf das Projekt formuliert wurden, erfährt man außerdem, dass dieses Projekt selbst offensichtlich doch im »45-Minuten«Takt durchgeführt wurde (Das Arbeiten im »45-Minuten«-Takt ist bei Projektarbeit ungeschickt!). Der in dem Begleitschreiben deklarierte WANDEL und die vorbildliche Umsetzung der Projektidee erscheinen dadurch letztlich als eine Konstruktion des Lehrers, die sich nicht mit seiner Handlungsorientierung und der Alltagspraxis deckt. Der Gesamtentwurf wird hier also in einer Weise präsentiert, die ihn rein formal als idealtypische Verwirklichung der Projektidee erscheinen lässt, während die dahinter sichtbar werdende Struktur einer eher gegenläu¿gen Rationalität folgt. Wie bereits erwähnt, wird das Projekt in dem Begleitschreiben des Lehrers sehr auffällig als das Werk der Schüler herausgestellt, indem er diesen wiederholt eine aktive Rolle zuschreibt:
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»Was liegt hier näher als den Wandel [des Unterrichts] von den Schülerinnen und Schülern selbst vollziehen zu lassen, da sie mit am besten wissen, wie sie gut und motiviert lernen und arbeiten können.« »Sie präsentieren ihnen nun ihre kreativen Ergebnisse …« »Der Projektverlauf ist von den Schülerinnen und Schülern in der Powerpoint-Präsentation ›Toleranz – Ein Kreativprojekt‹ festgehalten worden.« »Anhand der Ergebnisse können Sie sehen, wie sich offene Unterrichtsformen, bei denen die Projektplanung und die Arbeitsorganisation in Schülerhänden liegen, äußerst positiv auf die Arbeitshaltung und das Engagement auswirken.« (H. v. A. B.) Seine eigene Rolle als Planer, Organisator und Präsentator (als ›Regisseur‹) lässt der Lehrer dabei weitgehend außen vor. In der Realität sind es nämlich nicht die Schüler, die hier ihre Ergebnisse präsentieren (»Sie präsentieren …«), sondern er selbst ist es, der dieses Projekt eingereicht und auch dieses Anschreiben verfasst hat. Und er ist auch nicht wirklich davon überzeugt, dass sie tatsächlich »am besten wissen, wie sie gut und motiviert lernen und arbeiten können«, sondern er bringt in der Einschränkung »mit am besten« zum Ausdruck, dass sie lediglich an dem mit-wirken dürfen, was andere (z.B. er selbst) für sie »am besten« ¿nden. Möglicherweise waren es tat-
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sächlich Schüler, die die Power-Point-Präsentation erstellt haben, aber nachdem der inhaltliche Entwurf ganz offensichtlich aus Lehrerhand stammt131, waren sie allerhöchstens Ausführende, die seine Vorgaben umgesetzt haben. Dies wird allerdings in dem Anschreiben nicht thematisiert. Es würde die uneingeschränkt aktive Rolle, in der die Schüler hier präsentiert werden, relativieren und schmälern. Nachdem sowohl im idealtypischen Entwurf der Projektidee als auch in der Programmatik des aktuellen Didaktik-Diskurses die Aktivität und Initiative der Schüler als ganz grundlegender Faktor für den Unterricht betrachtet wird (vgl. dazu auch Kap. 5.4.3), ist der Nachweis einer konsequenten Schülerorientierung dieser Unterrichtseinheit für deren Präsentation als gelungenes Projekt von großer Bedeutung und dementsprechend wird diese zu einem wichtigen Aspekt der Darstellung des Lehrers. So werden die Schüler zu unverzichtbaren ›Mitspielern‹ in einem Schauspiel, dessen eigentlicher ›Regisseur‹ dieser Lehrer ist. Sie spielen dabei die Rollen der »aktiven und kreativen Schüler« in dem Stück mit dem Titel »Schülerorientierter Projektunterricht«. Hinter der dekorativen OberÀächenstruktur einer idealisierenden Pose von Kreativität, Aktivität, Selbstbestimmung und Selbststeuerung verschwindet das tatsächliche Ausmaß an Fremdbestimmung, das dieser Pose inhärent ist (vgl. Kap. 4.3.2). Somit zeigt sich in diesem Lehrerbeitrag geradezu das Gegenstück zu dem ›dekorativen Spiel‹, das in dem Schüler¿lm vorgeführt wurde (vgl. Kap. 4.3). Dabei stehen auch hier die ›Mitspieler‹ – ähnlich wie in den entsprechenden Szenen des Schüler¿lms – einerseits als Hauptakteure ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit und fungieren andererseits gleichzeitig doch nur primär als auswechselbare Funktionsträger im dramaturgischen Gesamtgeschehen des dekorativen Aktes (vgl. Übergegensätzlichkeit bezüglich Haupt- und Nebenrolle in Kap. 4.3.3). Durch sie schmückt der Lehrer seine didaktische (Selbst-) Präsentation und lässt dadurch seinen Unterricht und die Institution Schule als einen Ort erscheinen, an dem das Ideal der Schülerorientierung ungebrochen verwirklicht wird und auch verwirklicht werden kann (vgl. Diffusion zwischen Programmatik und institutioneller Praxis).
Beispiel 2: Die Umgestaltung der Halbtagsschule in eine Ganztagsschule Ein Team von acht Lehrerinnen und Lehrern reichte als Wettbewerbsbeitrag die Dokumentation eines Schulentwicklungsprozesses ein, der an ihrer Schule in 131 Dies wird u.a. dadurch ersichtlich, dass der Idealtyp eines Projektverlaufs nachgezeichnet wird und das entsprechende didaktische Fachvokabular zum Einsatz kommt.
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Gang gebracht wurde. Zielperspektive für diesen Prozess ist die Umgestaltung ihrer Halbtagsschule in eine Ganztagsschule. Nachdem sich Kollegium, Eltern und Schulträger bereits einig sind, müssen nur noch die Schüler für dieses Ziel gewonnen werden (Zuerst ging es darum, die beteiligten Schüler zu gewinnen, mehr Zeit in der Schule zu verbringen.). Der schon bisher angebotene Nachmittagsunterricht in Form von AGs war von diesen bislang nur wenig angenommen worden (AGs hatten wir schon immer im Angebot, sie wurden aber eher wenig gewählt, auch deswegen, weil sie am Nachmittag stattfanden …). Um das Interesse der Schüler für bestimmte Themen herauszu¿nden und ihr Interesse zu wecken wurde eine Schülerumfrage durchgeführt, bei der die Schüler vorgegebene AG-Angebote ankreuzen und auch eigene Vorschläge machen konnten. Dabei wird insbesondere die Möglichkeit der freien Wahl stark in den Vordergrund gestellt: Du darfst auswählen! sticht durch die Schriftgröße und die relativ zentrale Positionierung deutlich hervor (siehe Abb. 68). Die Einschränkung der Wahlfreiheit (VerpÀichtend!) wird hier ehrlicherweise nicht verschwiegen, jedoch durch Positionierung und Formulierung in die Reihe der übrigen Informationen gestellt und damit in den Hintergrund gerückt (ähnlich wie das ›Kleingedruckte‹ in manchen Verträgen). Somit zeigt sich hier ein Muster, das mit dem Paradox der »kontrollierten Autonomie« (Bohnsack 1983: 123; vgl. Kap. 4.6) beschrieben werden kann: Einerseits wird die Eigenverantwortlichkeit der Schüler hervorgehoben und andererseits wird an deren VerpÀichtung zur Teilnahme deutlich, dass sich in der Inszenierung der Wahlmöglichkeit ein zeremonielles Rollenspiel vollzieht, für das die Schüler mittels des Verfahrens der Wahl ›engagiert‹ werden und dem sie sich nicht einfach entziehen können. Sie werden dadurch ungefragt zu ›Mitspielern‹ einer pädagogischen Inszenierung von Mitbestimmung und Selbstbestimmung. Ihre ursprüngliche völlig freie Wahl für oder gegen die AGs, die nicht zur Zufriedenheit der Pädagogen aus¿el (s.o.), wurde ihnen damit letztlich aus den Händen genommen: Die zunächst freiwilligen AGs wurden kurzerhand zu Wahl-pÀichtstunden gemacht und außerdem in den Vormittag verlegt, während PÀichtstunden, die ursprünglich am Vormittag stattfanden, in den Nachmittag hinein verschoben werden. Durch diesen Tausch wird der neue PÀichtcharakter der AGs deutlich untermauert. Nun sind sie nicht mehr ein Anhängsel, das man bei Bedarf ausfallen lassen (bzw. schwänzen) könnte. Außerdem wird infolge des neuen verpÀichtenden Nachmittagsunterrichts auch noch eine Stunde Mittagspause eingeführt und als zusätzlicher Zeitraum dem Verfügungsrahmen der Schule einverleibt (In den Pausen passiert das Wesentliche.). Dazu werden eigens Räume ausgebaut, eine Sozialpädagogin angestellt und ehrenamtliche Helfer rekrutiert. Durch diese aus-
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geweitete Anwesenheits-pÀicht sollen »Freiräume zur Begegnung und für eigenverantwortliches Gestalten von SchülerInnen« geschaffen werden (H. v. A. B.). Auch hier zeigt sich wieder die Paradoxie der kontrollierten Autonomie. Das Leitbild der Schule als »Lebensraum«, an dem sich die Pädagogen dieser Schule explizit orientieren, beinhaltet für sie eine AuÀösung der Grenzen zwischen Institution und Privatsphäre der Akteure: In einem Lebensraum muss man leben können als Mensch und nicht als Kunst¿gur Lehrer oder Schüler. Dieses Zitat (nach H. v. Hentig) stellen sie als für sich selbst richtungsweisend heraus in einem hervorgehobenem Kasten unter der Überschrift Leitbild, Ziele. Damit wird eine Differenz zwischen der persönlichen Identität und der sozialen Identität, die sich im Raum der Schule in den (Berufs-) Rollen der Schüler bzw. der Lehrer zeigt, negiert. Hierin wird gleichzeitig auch die oben erwähnte Diffusion zwischen Programmatik und institutioneller Praxis sichtbar. Im Zusammenhang mit der AuÀösung der Grenzen zwischen der Sphäre der Institution und der Privatsphäre werden konsequent jegliche Formen von Rollendistanz oder von sekundärer Anpassung, mit denen Individuen ihre persönliche Sphäre gegenüber anderen und insbesondere im Rahmen von Institutionen schützen (vgl. Kap. 2.2), ausgeblendet oder aber uminterpretiert – wie das folgende Beispiel zeigt: In den Rückmeldungen der Leiter der neu eingeführten AGs (Lehrer bzw. Eltern) werden neben den positiven Erfahrungen auch Probleme zum Ausdruck gebracht. An erster Stelle dieser Liste wird hier das Problem mangelnder Disziplin genannt: Disziplinprobleme mit einzelnen Schülern, die Mühe haben mit einem freieren Umgang, der ein erhöhtes Maß an Eigenverantwortung fordert. Die Disziplinprobleme werden hier also nicht als Ausdruck von Rollendistanz oder sekundärer Anpassung interpretiert, sondern als Unfähigkeit zur Eigenverantwortung gedeutet. Mit »Eigenverantwortung« ist hier allerdings genau genommen die Bereitschaft gemeint, sich in die Rollenerwartungen seitens der Pädagogen widerstandslos einzufügen und damit den Fremderwartungen zu entsprechen. Hier zeigt sich wiederum ein ähnlich paradoxes Muster wie die kontrollierte Autonomie. Man könnte es als »fremdgesteuerte (fremdgerahmte132) Selbststeuerungsfähigkeit« bezeichnen. Dabei unterstellt der Begriff der Eigenverantwortung ähnlich wie die Inszenierung von Wahlfreiheit ein Vorhandensein von Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung. Ebenso wie im Schüler¿lm (Kap. 4) zeigen sich also auch in den beiden hier vorgestellten Dokumenten (Beispiel 1 und 2) wesentliche Prinzipien des 132 Zum Begriff der Fremdrahmung siehe Bohnsack 2003a: 234.
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zeremoniellen Rollenspiels: Im Paradox der »kontrollierten Autonomie« wird dem Kontrollierten »trotz der ihm zugemuteten Interpretations- und Gestaltungsbeschränkungen (…) die Möglichkeit autonomer Darstellung abgefordert« (Bohnsack 1983: 152). Er wird dazu in ein paradoxes Rollenspiel verstrickt, in das sowohl die Betroffenen (die Kontrollierten) als auch die professionellen Beteiligten (die Kontrolleure) eingebunden sind. Die einen leisten dabei »›unbezahlte zeremonielle Arbeit‹«, die anderen »bezahlte zeremonielle Arbeit« (ebd: 124). In diesem Rollenspiel wird »die Unterstellung der idealen Sprechsituation [hier: des Ideals von freiwilliger Partizipation und Selbstbestimmung] aufrechterhalten, mit der darin implizierten Unterstellung der autonomen Verfügbarkeit über die Redebeiträge und die Selbstdarstellung« (ebd.). Die engagierte Beteiligung des Kontrollierten ist dabei eine wesentliche Grundlage öffentlicher Legitimation, denn sie demonstriert die Verwirklichung der Ideale von Autonomie und Freiwilligkeit: Durch ihre Teilnahme am Verfahren werden alle Beteiligten veranlaßt, den dekorativen Rahmen und die Ernsthaftigkeit des Geschehens, die Verteilung der Rollen und die Entscheidungskompetenzen (…) mit darzustellen und so zu bestätigen. Es genügt nicht, dass die Vertreter der Macht ihre Entscheidungsgrundsätze und Entscheidungen in einseitiger Feierlichkeit verkünden. Gerade die Mitwirkung derjenigen, die möglicherweise den Kürzeren ziehen, hat für eine Bestätigung der Normen, für ihre Fixierung als verbindliche, persönlich-engagierte Verhaltensprämisse besonderen Wert. (Luhmann 1983: 114f) Seine legitimierende Wirkung kann dieses Zeremoniell allerdings nur so lange entfalten, wie diese Form der Interaktionssteuerung (bzw. diese Rahmeninkongruenz133) latent bleibt (so wie die »Pose«, die ihre Wirkung verliert, sobald sie durchschaut wird; vgl. Imdahl 1996: 575f; Kap. 4.3.3 und F 62). Ähnlich wie im ›Interview‹ des Schüler¿lms (Kap. 4.3.2) mittels der ›engagierten Teilnahme‹ einer Schülerin eine Demonstration von ›authentischer, selbstbestimmter Partizipation‹ zur Aufführung gebracht wird, so wird auch im Kreativprojekt »Toleranz« das Ideal der Schülerorientierung verbalisiert und in Szene gesetzt. Bei näherer Betrachtung erweist es sich allerdings als Konstruktion des Lehrers, der als Konstrukteur und gleichzeitig auch als Regisseur die Schüler zur Inszenierung von ›Schülerorientierung‹ einsetzt und sie damit zu ›Mitspielern‹ 133 Zum Begriff der Rahmeninkongruenz siehe Bohnsack 2003a: 125, 228ff.
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macht. Auch dort wird die zeremonielle Beteiligung der Schüler, als Betroffene, aber auch die des Lehrers, als professioneller Beteiligter, deutlich: Als ›Regisseur‹ liefert er hierzu die »bezahlte zeremonielle Arbeit«, während die Schüler die »unbezahlte zeremonielle Arbeit« (Bohnsack 1983:124) verrichten. Ebenso wird auch bei der Einführung des Nachmittagsunterrichts den Schülern eine Demonstration ihrer Autonomie abverlangt, indem sie sich an der Wahl der verpÀichtenden AGs (zeremoniell) beteiligen (müssen). Ihre Distanzierung in Form von expressiver Rollendistanz bzw. ihr Versuch dieses Geschehen auf ihre Weise zu gestalten und zu kontrollieren (Disziplinprobleme), wird außerdem als Unfähigkeit, mit einem erhöhten Maß an Freiheit und Eigenverantwortung umzugehen, eingeordnet (Disziplinprobleme mit Schülern, die Mühe haben mit einem freieren Umgang, der ein erhöhtes Maß an Eigenverantwortung fordert). Die Handlungsentwürfe der ›undisziplinierten Schüler‹ werden somit allein vom Erwartungssystem der Lehrer her interpretiert und dementsprechend bewertet, wobei der Aspekt der Autonomie (freier Umgang; Eigenverantwortung) herausgestellt wird und der Aspekt der zugrunde liegenden Kontrolle unerwähnt bleibt. Hier werden also noch weitere Merkmale eines »totalen Interaktionssystems« (vgl. Kap. 4.6) sichtbar wie z.B. die Uminterpretation der Situation entsprechend dem Erwartungssystem des Kontrollierenden, die Problemverschiebung und die Gestaltungsbeschränkungen für die Kontrollierten (vgl. Bohnsack, 1983). Ein weiterer wichtiger Aspekt des zeremoniellen Rollenspiels besteht in der Asymmetrie bezüglich der VerpÀichtung zur ›Sichtbarkeit‹ zwischen Kontrolleuren (den ›Regisseuren‹) und den Kontrollierten (den ›Mitspielern‹). Während die Kontrollierten mit ihrer ganzen Person engagiert werden und im Rampenlicht der Aufmerksamkeit stehen, indem ihnen beispielsweise eine ›persönliche‹ Meinung und ein ›authentisches‹ Sich-Äußern abverlangt wird, dürfen die Kontrolleure eine »legitime Unpersönlichkeit« wahren (vgl. Schüler¿lm; Kap. 4.6). Solch eine persönliche Distanzierung durch die Beschränkung auf die aktuale soziale Identität (z.B. im Rückzug auf die Berufsrolle unter Abschirmung der persönlichen Identität) wird den Kontrollierten verwehrt, indem deren persönliche Identität in der »totalen Interaktionssituation« seitens der Kontrolleure beliebig zum Thema gemacht werden kann. Für die Kontrollierten gibt es damit über die Gestaltungsbeschränkungen hinaus auch noch ein Distanzierungsverbot und das »Tabu der legitimen Unpersönlichkeit« (vgl. Bohnsack, 1983). Dieser Aspekt, der im Schüler¿lm eine bedeutsame Rolle spielte, wird in den hier vorgestellten Beispielen ebenfalls in Ansätzen sichtbar. So fällt in Beispiel 1 auf, wie sich der Lehrer, der seinen Beitrag als »Schülerbeitrag« einreicht, selbst im Hintergrund hält, während
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die Schüler ins Rampenlicht gestellt werden. Dabei bleibt in beiden Fällen (Beispiel 1 und 2) die Steuerung der Interaktion latent und wird von den Lehrern nicht thematisiert – ebenso wie im ›dekorativen Spiel‹ der Schüler (›Interview‹; Kap. 4.3.2), in dem die »Mitdarstellung der Herstellung der Darstellung« (Luhmann 1983: 67), und damit die zugrunde liegende Interaktionssteuerung, latent bleibt (Kap. 4.3.3) und so die legitimierende Wirkung des Zeremoniells gewahrt wird. Durch eine explizite Mitdarstellung der Herstellung der Darstellung wäre nämlich anstelle der Freiheit der Aussage der Zwang zum Sprechen (die VerpÀichtung auf das Erwünschte) ins Blickfeld geraten und damit die Inkongruenz zwischen der Darstellung (eine Schülerin äußert frei ihre Meinung) und der Herstellung der Darstellung (die Schülerin spielt lediglich bei der Inszenierung einer freien Meinungsäußerung mit). Die normative Programmatik (das Ideal selbstbestimmter Partizipation), die durch die Darstellung zur Aufführung gebracht wird, wäre dadurch ganz offensichtlich konterkariert worden. Die beiden Akteursgruppen, Lehrer und Schüler, zeigen aufgrund ihrer verschiedenen Positionen, die sie im zeremoniellen Rollenspiel einnehmen, sehr unterschiedliche Formen der Bearbeitung ihres jeweiligen »bezahlten« (bzgl. der Lehrer) bzw. »unbezahlten« (bzgl. der Schüler) »Engagements«. Dies soll im Folgenden näher beleuchtet werden.
6.3 Das Engagement der Lehrer im zeremoniellen Rollenspiel Durch die Einbindung in das zeremonielle Rollenspiel ergibt sich für die Lehrer die Herausforderung, kaum zu vereinbarende Widersprüchlichkeiten bezüglich der an sie gestellten Ansprüche zu überbrücken. Dies wird beispielsweise am »Toleranz-Projekt« (Beispiel 2) sichtbar: Der Lehrer präsentiert dort ein Ideal von schülerorientiertem Projektunterricht, während dahinter eine gegenläu¿ge Handlungspraxis erkennbar wird, die einerseits dem traditionellen Unterricht in seiner institutionellen Verankerung verpÀichtet bleibt und die andererseits ihn selbst als ›Konstrukteur‹ und ›Regisseur‹ des präsentierten Ideals ausweist. Die Aufführung des Ideals (mittels des zeremoniellen Rollenspiels) gelingt dabei allerdings nur um den Preis einer Instrumentalisierung seiner Schüler als ›Mitspieler‹, womit dieser Lehrer gleichzeitig die von ihm propagierten Ideale konterkariert. Hier wird eine Homologie zu dem ›Opfer-Täter-Zirkel‹ sichtbar, der sich im Film der Lehrer zeigte (vgl. Kap. 5.4.1). Dabei wertet er in diesem Fall explizit seine eigene Handlungspraxis (als eine veraltete) ab, während er ihr allerdings implizit folgt. Im Schnittfeld zwischen dem Erwartungssystem, das sich aus der idealen Pro-
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grammatik ergibt, und dem davon differenten Erwartungssystem seitens der institutionellen Erfordernisse erscheint er wie in einer double-bind-Struktur (Bateson, 1985, S. 276ff; vgl. Kap. 5.6), auf die er in einer dementsprechend gespaltenen Form reagiert: Er veranstaltet eine Vorführung, die sich an den Idealen der Programmatik orientiert, während gleichzeitig seine Alltagspraxis den (restriktiven) institutionellen Strukturen verhaftet bleibt. Auf diese – fast schizophren anmutende Weise – verschwimmt gleichzeitig die Diskrepanz zwischen den hehren Idealen der Programmatik und der abgewerteten alltäglichen Praxis. Im Film der Lehrer kam die hier skizzierte Widersprüchlichkeit in einer starken Metaphorik zum Ausdruck (vgl. Kap. 5.4.1: die ›blutenden‹ Hände des Opfers bzw. die ›blutverschmierten‹ Hände des Täters). Im Kontext der Bearbeitung, der dort sichtbar werdenden Widersprüche griffen sie insgesamt auf drastische Formen von Rollendistanz zurück, indem sie in die Rolle von Narren und senilen Alten schlüpften. Eine Homologie zu dieser Vorgehensweise zeigt sich nun auch in dem Wettbewerbsbeitrag der Ganztagsschul-Entwickler (Beispiel 2; Kap. 6.2). Dort greifen die Lehrer ebenfalls auf ein clowneskes Spiel mit der Unzurechnungsfähigkeit zurück134: Wo ihr Ideal der Schule als menschenfreundlicher Lebensraum gefährdet ist, zeigen sie besondere Anpassungsleistungen und inszenieren den Zwischenzeugnis-Tag regelmäßig auf ganz besondere Weise135. Der Morgenkreis wird an diesem Tag mit lustigen Sketchen und Einlagen in eine »Vor-den-Zeugnissen-Show« umfunktioniert. Dabei treten die Lehrer u.a. in Bademänteln auf und singen schließlich ein selbst gedichtetes Lied auf die Melodie von »Die Affen rasen durch den Wald«, in dem sie sich selber humorvoll auf die Schippe nehmen. Durch dieses clowneske Spiel mit der Unzurechnungsfähigkeit distanzieren sie sich gleichzeitig von der Schule als Selektionsinstanz und bearbeiten in Form der Rollendistanz die Widersprüche, die sich zwischen ihrem Ethos als Pädagogen und den institutionellen Ansprüchen an sie als benotende Lehrer auftun. Um das Ideal einer »humanen« Schule vor sich selbst und vor den Schülern aufrechterhalten zu können, sind sie sogar im nahezu wörtlichen Sinne bereit, sich in gewisser Weise ›zum Affen zu machen‹. Für die betroffenen Schüler werden die Folgen des Selektionsapparates Schule dadurch zwar nicht 134 Während es sich in Beispiel 2 allerdings um ein systemimmanentes Narrenspiel handelt, vollzieht sich dagegen im Lehrer¿lm ein Narrenspiel auf höherer Ebene: Es handelt sich dort um ein Narrenspiel zur Distanzierung vom Narrenspiel (also eine Art Meta-Narrenspiel; vgl. dazu auch Kap. 5.1). 135 Zusammen mit der Dokumentation des Schulentwicklungsprozesses wurde auch eine »Schulzeitung« eingereicht, in der sich die Beschreibung dieser Veranstaltung ¿ndet (S. 16–18).
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weniger wirksam, aber sie werden wenigstens von deren Härte etwas abgelenkt: Ein schneller Blick in die Runde. Nein, da ist kein einziges Gesicht dabei, dessen Besitzer im Moment an ein Zeugnis denkt. Interessant ist dabei, dass diese Form der Rollenbewältigung hier, ebenfalls wie im Lehrer¿lm, in engem Zusammenhang mit den Selektionsaufgaben steht, die den Lehrern in der Institution Schule zugewiesen werden.
Beispiel 3: Die Gasbetonskulptur »Der Sitzenbleiber« • • • • • • • • •
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Der Sitzenbleiber zu Stein geworden versteinert (in der Haltung und im Denken) steinig (sein Weg) seit 10 Jahren von 08.00–13.00 (wirkt der Sitzenbleiber wie erstarrt) der Sitzenbleiber (mit Haltungsschäden – mit Stift und Heft auf der Bank) der Sitzenbleiber (mit 1,90m in der 10. Klasse: auf viel zu kleinen Stühlen, an viel zu kleinen Tischen) eingezwängt in die Enge des Alltages angewinkelt (auch die Arme und Beine) im richtigen Denken, so soll das Lernen erfahrbar werden ... alle Jahre hindurch, zementiertes Wissen, eingepfercht in zu kleine Köpfe, welche nicht mehr Schritt halten können mit der körperlichen Proportionalität! Ohne Bewegung im Da-Sein Bewegungslos verharrend Gezeitenlos, die Moden überwindend, fest (ein-) gefügt in den Ablauf des Schulsystems Zeugnis geben (vom bezeugten Erzeugnis) ... Systemisch bleibt (d-)er sitzen: Der Sitzenbleiber!136
Dieser Beitrag stammt von der Religionsgruppe der 10. Klasse einer Wirtschaftsschule. Er besteht aus einer Installation aus Gasbeton-Steinen (Abb. 69), aus der Foto-Dokumentation des Herstellungsprozesses (zwei der 14 Fotos: Abb. 70 und Abb. 71), bei dem es sich um ein Unterrichtsprojekt im Rahmen des Religions136 Fehler in der Zeichensetzung des Originals wurden bereinigt.
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unterrichts handelte, und aus einem Begleittext, aus dem die oben zitierte ReÀexion stammt. Der Lehrer, unter dessen Leitung dieses Projekt durchgeführt wurde, weist darauf hin, dass diese Installation als eine Ist-Analyse der bisherigen (seitens der beteiligten Schüler erlebten) Schulform angesehen werden soll. Die sieben beteiligten Schüler wollten ursprünglich nach dem Quali¿zierenden Hauptschulabschluss eine Ausbildung antreten, bekamen aber keine Lehrstelle und sind nun Teil einer sog. Z-Klasse, die in einem Zeitraum von zwei Jahren zur Mittleren Reife führt. Schon wieder ›sitzen‹ sie also, kaum dass sie die Schule verlassen haben, mit inzwischen 1,90 m an einer viel zu kleinen Schulbank – mit ungewissen Zukunftsaussichten. Im Zusammenhang mit dieser Information weist der Lehrer darauf hin, dass »Der Sitzenbleiber« dementsprechend auf zwei verschiedenen Ebenen betrachtet werden kann: »1. Starr (ohne Anstoß zu erregen – regungslos sozusagen) an einem Tischlein sitzend ... 2. Ohne Perspektiven für die Zukunft, mit Wissen vollgep(f)ropft: Der (ewige) Sitzenbleiber ...!« Dieser Lehrer befreit seine Schüler von ihrer starren Fixierung auf das Sitzen auf viel zu kleinen Stühlen und ermöglicht ihnen sich zu bewegen und zu »handeln«, indem er ein »handlungsorientiertes« Projekt durchführt. Kritisch weist er auf die Situation seiner Schüler hin und macht sich zum Anwalt ihrer Misere. Gleichzeitig fällt aber auch auf, dass seine Schüler selbst an keiner Stelle ›zu Wort kommen‹: In dem gesamten Begleittext ¿ndet sich kein einziges Zitat oder wenigstens ein Gedanke, der direkt auf ihre Urheberschaft zurückgeführt werden kann. Und so spricht ihr Lehrer vollständig für sie und ›bevormundet‹ sie letztlich damit in gewisser Weise. (vgl. Kap. 4.3.3: Szene Baby). In diesem
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Projekt, das stark schülerorientiert und von einem emanzipatorisch kritischen Impetus beseelt erscheint, bleiben die Schüler letztendlich doch wieder im Wesentlichen nur Ausführende: Es ist der Lehrer, der seine Interpretation ihrer Situation vorstellt, und sie zu deren Darstellung als ›Mitspieler‹ engagiert. Es liegt nicht in der Absicht dieser Arbeit, dieses sicherlich gut gemeinte und mit viel Engagement durchgeführte Projekt zu diskreditieren. Hier soll lediglich auf eine Dynamik hingewiesen werden, unter der dieses auf Emanzipation abzielende Projekt sich sozusagen unter der Hand nahezu in sein Gegenteil verkehrt. Dabei werden paradoxerweise gerade jene Ideale, die sich im kritischen Begleittext widerspiegeln, konterkariert. Hier zeigt sich eine Variante jenes Circulus vitiosus, in dem die Lehrer in ihrer Bindung an die Institution gefangen erscheinen (vgl. ›Opfer-Täter-Zirkel‹; Kap. 5.4.1) und der zu jener eigentümlichen Verknüpfung von Selbst- und Fremd-Instrumentalisierung führt, die oben erwähnt wurde. Der Lehrer ¿ndet sich dabei wieder, zum Gegenteil dessen beizutragen, was er als für bedeutsam zum Ausdruck bringt. Er bleibt letztlich selber einem zeremoniellen Rollenspiel verhaftet und scheint gleichzeitig dazu verurteilt zu sein, dieses auch noch in Gang zu setzen und damit selbst seine Ideale zu konterkarieren. Dabei tritt er als eine Art ›Mitspieler höherer Ordnung‹ auf, der seinerseits nur eine kontrollierte Autonomie besitzt. Die Potenzierung der Widersprüchlichkeiten, die aus dieser (doppelten) Einbindung in eine derartige zirkuläre Dynamik entsteht, kam bereits im Film der Lehrer sehr deutlich zum Ausdruck ebenso wie die Perspektivlosigkeit, sich aus dieser Verstrickung herauslösen zu können (Kap. 5.5 und 5.6). Sie tritt durch eine direkte Kontrastierung mit der Perspektive der Schüler, wie sie am Ende des folgenden Abschnitts durchgeführt wird (Kap. 6.4, Abb. 78–79), noch umso plastischer hervor.
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6.4 Das Engagement der Schüler im zeremoniellen Rollenspiel Während die Lehrer in gewisser Weise als Gefangene erscheinen, die sich aus ihrer Verstrickung in die zirkulären Strukturen, die sich im Kontext des zeremoniellen Rollenspiels für sie ergeben, nicht herauslösen können, bearbeiten die Schüler ihre Einbindung in dieses auf eine völlig andere Art. Sie legen eine besondere Form von ›performativer Kompetenz‹ an den Tag, indem sie einerseits das Spiel so ›engagiert‹ wie nötig mitspielen, um dem Zeremoniell den notwendigen Ernst zu verleihen, dabei jedoch gleichzeitig ihre persönliche Identität von ihrer sozialen Identität als Schüler trennen und so ihre persönliche Sphäre wahren. Dies wird beispielsweise in dem äußerst differenzierten Umgang mit der »Mitdarstellung der Herstellung der Darstellung« des ›Interviews‹ im Schüler¿lm (Kap. 4.3.2; vgl. auch Kap. 6.2) sichtbar: Die Mitdarstellung bleibt latent, indem die Produzentin an dieser Stelle gleichzeitig in die Rolle einer »Schülerin« schlüpft und damit in Bezugnahme auf ihre soziale Identität als Schülerin spricht, während ihre persönliche Identität dabei außen vor bleibt (Kap. 4.3.2 und 4.3.3). Dem Anspruch auf die ›persönliche‹ Meinung und auf ein ›authentisches‹ Sich-Äußern wird Genüge getan, während die persönliche Sphäre gleichzeitig gewahrt bleibt.
Beispiel 4: Der Wunsch nach Schließfächern Der Spitzenreiter unter den Wünschen, die die Schüler in ihren Wettbewerbsbeiträgen in Bezug auf eine Umgestaltung der Schule geäußert haben, ist der Wunsch nach eigenen Schließfächern. Auf vielfältige Weise wurde ihm Ausdruck verliehen in Text, Bild und in plastischen Modellen. Dabei zeigt sich, dass hier ein Bedürfnis artikuliert wird, das über den rein pragmatisch-praktischen Nutzen eines eigenen Faches hinausgeht. So heißt es beispielsweise in einer Begründung: es kann niemand daran außer der entsprechende Schüler selbst. Hier dokumentiert sich also der Wunsch nach einem »Hinterbühnen-Ort« (Goffman 2003: 104, 106; vgl. Kap. 2.2) – einem Ort, an dem die persönliche Sphäre gewahrt bleibt, die Grenze selbst kontrolliert werden kann und keine unerwünschten Übergriffe möglich sind. Einer dieser Beiträge soll im Folgenden näher beleuchtet werden (Abb. 72): Im Gegenüber zur Klassenzimmertür wirken die Schließfächer ausgesprochen überdimensioniert und dominieren, obwohl sie als einzige Gegenstände lediglich schwarz-weiß gehalten sind, mit ihrer massigen, räumlichen Wirkung das
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ganze Bild: Sie sind einerseits das einzige perspektivisch gezeichnete Element und nehmen außerdem auch Àächenmäßig den größten Raum ein. Zusätzlich werden sie von der kräftigen roten Fläche betont, die wie ein roter Teppich oder wie eine Konsole vor bzw. unter ihnen sichtbar wird und sie dadurch noch ›unterstreicht‹. Auch in den knappen Stichworten, die die Schülerin ihrer Zeichnung beifügt hat, werden sie gesondert hervorgehoben: Spinte (unbedingt). Das Verschlossensein der Türen wird einerseits auf der ikonogra¿schen Ebene durch die kleinen Vorhängeschlösser, die vor jeder Schranktür hängen, betont, andererseits wiederholt und verstärkt sich der verschlossene Charakter der Schließfächerfront auch noch durch deren Perspektivik, die gewissermaßen die Umkehrung einer Zentralperspektive darstellt, deren ›Fluchtpunkt‹137 nicht (wie üblich) im Hintergrund des Bildes liegt, sondern vor dem Bild. Die verschlossenen Türen werden dadurch zusätzlich nach vorne hin (zum Betrachter, bzw. zum Produzenten hin) optisch verschlossen (vgl. Abb. 73; analog dazu: Abb. 14 in Kap. 4.2.3). Auch in der geschlossenen braunen Zimmertür und dem Kommentar darauf (Betreten auf eigene Gefahr 7A) setzt sich dieser Gesamtcharakter fort. Zusammen mit der braunen Tür bilden die Schließfächer das Zentrum des Bildes, um das die deutlich kleineren farbigen Elemente herumdrappiert sind. Diese Dekorationsgegenstände bilden ein nicht ganz ebenbürtiges Gegengewicht, durch das die geometrisch massive, gleichförmige und farblich triste Wirkung der geschlossenen Türen abgemildert und das Bild insgesamt etwas aufgelockert wird, was aber durch die Ungleichgewichtigkeit der Dekoration wenig überzeugend und eher wie eine Verlegenheitslösung wirkt. Während die 137 Genau genommen ergeben sich dadurch mehrere »Fluchtpunkte« (vgl. Abb. 73). In gewisser Weise besitzt jedes Schließfach nicht nur ein eigenes Vorhängeschloss, sondern – analog dazu – auch einen eigenen ›Fluchtpunkt‹.
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verschlossenen Türen durch ihre ›Konsolen‹ (rote Fläche und angedeutete Stufen) mit der Grundlinie des Bildes verbunden sind und dadurch ›geerdet‹ wirken, scheinen demgegenüber die anderen, leichtgewichtigeren Gegenstände auf der Fläche (bzw. im Raum) zu schweben. Dabei stehen die einzelnen Elemente (bzw. Elementgruppen) dieser Zeichnung weitgehend unverbunden nebeneinander: In der Planimetrie dieses Bildes gibt es keine verbindenden Linien und durch die Disproportionalität der Größenverhältnisse zwischen den Elementen entsteht eine Konfusion bezüglich der ihnen zugrunde liegenden Perspektivik138. Dies lässt das Bild als Ganzes auseinanderfallen und die die Strenge auÀockernden dekorativen Elemente erscheinen in ihrer Unverbundenheit und ihrem schwebenden Charakter als beliebig ›aufgesetzt‹. Wenn man die Dekoration, in einer experimentellen Kompositionsvariation, einmal von dem Bild entfernen würde (vgl. Abb. 74), so blieben fast ausschließlich gerade Linien und starre Strukturen zurück. Die rote Farbe der ›Konsole‹ tritt dann neben dem Grau und Braun sehr markant hervor. Durch den Kontrast der ›Erdung‹ dieser Gegenstände mit der Unverbundenheit der übrigen farbigen Accessoires tritt deren Dekorationscharakter hervor, der der starren Struktur und der abweisenden Verschlossenheit ein freundlicheres, ›menschlicheres‹ Gesicht gibt und ein akzeptables ›hübsches‹ bzw. ansehnliches Gesamtbild entstehen lässt. Hier zeigt sich eine Homologie zum ›dekorativen Spiel‹ im Schüler¿lm (Kap. 4.3), bei dem eine 138 Alle Gegenstände sind aufgrund der fehlenden Gesamtperspektivik des Bildes räumlich nicht eindeutig zu verorten. Ihre Größenverhältnisse legen ein »Weiter-Entfernt« oder »Näher-Dran« bzw. eine Rangordnung (in der Art einer Bedeutungsperspektive) nahe, lassen jedoch den Eindruck einer ›Zusammenhanglosigkeit‹ entstehen, wie sie in frühen Gemälden ohne Zentralperspektive zu ¿nden ist (vgl. das Beispiel in Bohnsack 2009a: 246). Insbesondere die braune Tür erscheint dabei gleichzeitig weit weg (durch die unproportional geringe Größe im Verhältnis zu den anderen Gegenständen) und nah dran zu sein (durch die Stufen unterhalb von ihr, die im Bildvordergrund beginnen).
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der Programmatik konforme ›ideale‹ Praxis präsentiert wurde, während die dieser Darstellung inhärente Struktur dem entgegengesetzte Züge aufwies. Auch hier wird in der Verschönerung des dargestellten Themas (»Schließfächer«) ein Anspruch sichtbar, der auf eine Präsentationsform gerichtet ist, die die harten Strukturen harmonisiert.139 Im Symbol der Schließfächer, aber auch in der Argumentation bzw. ihrer Darstellungsweise durch die Schüler dokumentiert sich – homolog zum Schüler¿lm – ein Insistieren auf eine persönliche Sphäre, die dem kontrollierenden Blick einer Aufsicht entzogen bleiben kann und über die die Schüler selbst die ›Schlüsselgewalt‹ und damit die Kontrolle besitzen. Auch hier spiegelt sich also – ähnlich wie im Schüler¿lm – die Wahrnehmung eines Anspruchs auf eine umfassende Sichtbarkeit wider, der über das tolerierte Maß hinauszugehen scheint und in seiner ›Totalität‹ (d.h. in seiner Ausrichtung auf die ganze Person) zurückgewiesen wird. Die Schule erscheint damit in gewisser Weise als eine »panoptische« Situation140, der durch »verschlossene Türen« (im gegenständlichen wie im metapho139 Dieser Anspruch steht sicherlich auch im Zusammenhang mit dem Wettbewerb. Allerdings würde er nicht zum Tragen kommen, wenn er nicht auch prinzipiell jenseits des Wettbewerbs als normative Orientierung vorhanden wäre, die im Kontext der Wettbewerbssituation dann eine Steigerung erfährt. 140 Das »Panopticon« ist ein Kerkersystem, das in seiner architektonischen Gestaltung so geplant war, dass die Wächter von einem zentralen Turm aus in jede Zelle des ringförmig um diesen Turm gestalteten Gebäudes Einblick haben, ohne dabei selber gesehen zu werden. Foucault erläutert an der Gestalt des Panopticons die Mechanismen der Disziplinarmacht, die sich einer Apparatur der Sichtbarkeit bedient, um durch permanente Beobachtung eine Dauerüberwachung zu gewährleisten (Foucault1977: 251–292): »Jeder Kä¿g ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu
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Abb. 76
rischen Sinne) begegnet wird. So gelingt es – entgegen dem »Tabu der legitimen Unpersönlichkeit« (vgl. Kap. 4.6 und Kap. 6.2) – ein Stück »Unpersönlichkeit« zu gewinnen, die dem Betroffenen eines zeremoniellen Rollenspiels nicht ohne Weiteres zugestanden wird. Im Schüler¿lm wurde diese »Unpersönlichkeit« u.a. durch den Rückzug auf die Rolle des Schülers hergestellt, durch den eine »totale Identi¿kation« des Jugendlichen im Raum der Institution Schule, also eine Fokussierung auf ein Schüler-Sein, zurückgewiesen wurde (vgl. Kap. 4.6) und als Taktlosigkeit abgewehrt wurde (vgl. Outtakes; Kap. 4.4.3). In Zusammenhang damit könnte auch ein Muster stehen, das im Schüler¿lm zwar nur ansatzweise, in anderen Dokumenten jedoch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Kap. 4.4.5: die eigentümliche Abwesenheit der Person des Lehrers):
Beispiel 5: Die »Sigmund-Cyber-Schule« Dieser Beitrag (Abb. 76) entstand im Rahmen eines Projekts im Kunstunterricht einer 7. Klasse, bei dem Modelle für Räume einer »Schule der Zukunft« gebastelt wurden. Vergleicht man die Figur der Lehr-›Person‹ mit den Figuren, die die Schüler darstellen (Abb. 76), so erscheint diese stark entpersönlicht bzw. verdinglicht: Sie wird lediglich als ein zylinderförmiger Roboter mit einem riesigen Zeigestab dargestellt, der keinerlei menschliche Züge mehr besitzt. Aus dem Begleittext dazu erfährt man: Die Lehrer werden durch Roboter ersetzt, bei welchen der Lehrplan einprogrammiert werden kann. sehen und zugleich zu erkennen. (…) Das volle Licht und der Blick des Aufsehers erfassen besser als das Dunkel [der vormaligen Kerker], das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle.« (ebd.: 257)
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Die Personalsituation (zwei Schüler – ein Lehrer), die räumliche Nähe zu den Schülern und die erhöhte Position des ›Lehrers‹ erlauben eine intensive Betreuung und Kontrolle. Die Balance zwischen Nähe und Distanz, die durch eine derartige Intensivierung verloren geht, scheint hier durch eine Entpersönlichung der Lehr-›Person‹ wieder ins Lot gebracht zu werden.
Beispiel 6: »Lehrer Lempels Zeitreise« »Lehrer Lempels Zeitreise« ist eine interaktive Multimedia-Präsentation, die im Wahlkurs »Multimedia-Fortgeschrittene« von Schülern der 8.–10. Klasse erstellt wurde (Abb. 77a–d). Sie thematisiert den Lehrberuf in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Der Nutzer dieser Software betritt mit Lehrer Lempel den Raum des Weltalls (Abb. 77a) und begibt sich virtuell auf eine Zeitreise: Auf einer Zeitschiene sind im Hauptmenü unterschiedliche Epochen markiert, von denen aus man in die verschiedenen Untermenüs gelangt. Folgende Epochen stehen dabei zur Auswahl: Steinzeit; Antike; Mittelalter; um 1900; Heute; Zukunft. Im Untermenü zur Epoche der Zukunft taucht schließlich, ebenso wie in dem oben dargestellten Beitrag (Beispiel 5), ein Roboter als Lehrer auf: Ein Fremder aus der Zukunft kommt in einem Raumschiff auf die Erde und wird dort von ›Lehrer Lempel‹ über die Schule der Zukunft interviewt: Lehrer Lempel (Abb.77b, links): Wer wird in Zukunft unsere Kinder und Studenten unterrichten? Fremder (Abb. 77b, rechts): In der Zukunft werden selbst denkende Computer den Kindern Antwort stehen. Sie werden die Kinder 10 Stunden am Tag effektiv unterrichten.
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Während der Lehrer des 19. Jahrhunderts durch das selbstbestimmte Blättern (durch Anklicken) in einem Fotoalbum bei ruhiger Musik und in einem gemütlich wirkenden Raum vorgestellt wird, bei dem der Nutzer das Tempo der Darstellung selbst wählen kann und der Lehrer des Damals dabei gemächlich in der Ich-Form erzählt und die Bilder des Albums erklärt (Abb. 77d), tritt der Lehrer der Gegenwart völlig anders in Erscheinung (Abb. 77c): Begleitet von einem hektischen, stereotypen Rhythmus (ohne jegliche Melodie und ohne gesprochenen Text) fahren Fotos (statische Bilder) von Lehrern und Schriftzüge über den Bildschirm auf den Betrachter zu und wieder zurück. In einer Slideshow werden anschließend 19 verschiedene Fotos von Lehrern in unterschiedlichen Arbeitssituationen jeweils ca. drei Sekunden lang eingeblendet. Während die Fotos statisch bleiben, sind die eingeblendeten Schriftzüge, die größer werdend auf den Betrachter zufahren und über das Bild hinausquellen, die einzigen bewegten Elemente in der Bildgestaltung. Sie geben die jeweils zu den Fotos gehörigen Tätigkeiten an (z.B. Aufsicht führen; Korrigieren; Schülerleistungen beurteilen; Schüler beraten etc.). Während der Slideshow hat der Nutzer keine Möglichkeit, das Tempo zu regulieren oder die Präsentation zu stoppen. Er wird förmlich überÀutet von den ständig wechselnden Bildern und den auf ihn zufahrenden Texten, die von dem immer gleichbleibenden und nicht enden wollenden Rhythmus-Pattern begleitet werden. Dieser aufdringlich gestalteten Flut kann er sich innerhalb des Programms nicht entziehen und muss warten, bis diese Phase von selbst endet. Gegenüber den persönlichen Berichten des Lehrers im 19. Jahrhundert, der von seinem Beruf, von einzelnen Schülern, von stolzen und schweren Momenten erzählt, bleibt der Lehrer im Heute stumm und unpersönlich. Im Gegensatz zum Damals ist er es zwar, der ganz im Zentrum der Darstellung steht und in aufdringlicher Weise dem Betrachter präsentiert wird, aber gleichzeitig verschwindet er dabei als Person und erscheint
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Kapitel 6
Abb. 78a – b
nur noch als Funktionsträger verschiedenster Aufgaben, der in der Flüchtigkeit der wechselnden Szenerien als fühlende oder reÀektierende Persönlichkeit gar nicht richtig anwesend ist. Das Damals fungiert hier, ähnlich wie im Schüler¿lm (Kap. 4), als Vergleichsfolie, auf dem die Akzentuierungen des Heute eindeutiger hervortreten. Deutlich sichtbar ist dabei, homolog zum Film, die Entwicklungslinie hin zu einer zunehmenden Entpersönlichung (Kap. 4.2.5) , die hier insbesondere den Lehrer betrifft und über das Heute hinaus in eine ¿ktive Zukunft hinein konsequent weitergeführt wird. Aus dem hektisch sich verÀüchtigenden Lehrer wird schließlich der denkende Computer, der für eine tagesfüllende ›RundumBeschulung‹ sorgt (10 Stunden am Tag). Der zeitlichen Expansion des schulischen Anspruchs steht hier die totale Entpersönlichung des Lehrers gegenüber. So zeigt sich in den beiden Beispielen 5 und 6 ein gemeinsames Motiv, das sich auch noch in anderen (hier nicht vorgestellten) Beiträgen wieder¿ndet: Je umfassender sich die jeweils thematisierte Kontrolle und der Zugriff auf die Schüler gestaltet, desto stärker verschwindet das Personhafte des Lehrers. Hier scheint sich eine ähnliche Bearbeitung eines Distanzverlustes widerzuspiegeln, wie sie im Rückzug der Jugendlichen auf ihre soziale Identität als Schüler sichtbar wurde zur Abwehr eines Zugriffs auf ihre persönliche Sphäre. Kontrastiert man den Umgang der Schüler mit ihrer Einbindung in das zeremonielle Rollenspiel mit dem der Lehrer (vgl. Kap. 6.3), so treten die jeweiligen Eigenheiten dieser beiden Gruppen nochmals deutlich hervor: Während es den Schülern gelingt, sich von den an sie gestellten Ansprüchen zu distanzieren und durch ihren Rückzug ihre persönliche Sphäre zu wahren, scheint den Lehrern dagegen diese Distanzierung nicht zu glücken. Ihre Verstrickung in zirkuläre double-bind-artige Strukturen erweist sich als eine kaum überwindbare. In der Gegenüberstellung beider Filme zeigen sich diese beiden unterschiedlichen Muster prägnant: Während im Schüler¿lm eine klare Trennung zwischen der Sphäre der Schule und der persönlichen Sphäre vollzogen wird, indem sich die Schüler von der Sphäre der Schule distanzieren und diese überschreiten (z.B. S 10 »Im
Die Dekoration der Institution Schule
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Abb. 79
Freien«; Kap. 4.2.6), bleiben die Lehrer in dieser Sphäre förmlich ›gefangen‹ und ›versinken‹ schließlich darin (Kap. 5.6). Dieser Unterschied fällt bereits in der Gesamtstruktur der beiden Filme auf (vgl. Kap. 4.1 und 5.1) und wiederholt sich als homologe Struktur bis in deren Details hinein. Sehr deutlich zeigt er sich beispielsweise auch in der Wahl der Schlussbilder, die sich aufgrund ihrer Gemeinsamkeit zu einer Kontrastierung anbieten (vgl. Kap. 3: Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit): Die Jugendlichen verwenden anstelle eines Schlussbildes ein Schlussbild-Paar, die die beiden unterschiedlichen, voneinander abgesetzten Bereiche repräsentieren: die Schule und die Sphäre jenseits davon. Die Schule wird dabei als eine ›untergehende‹ Struktur (Abb. 78a) dargestellt, die von Menschen abgelöst wird, die (›unstrukturiert‹) im Freien stehen (Abb. 78b; vgl. Kap. 4.2.6). In der Schluss-Szene des Lehrer¿lms dagegen sind es die Lehrer, die ›untergehen‹ (Abb. 79). Inmitten des Gebäudes, in ihrem Raum (dem Lehrerzimmer), in dem fast der gesamte Film spielt, und inmitten ihres Aufblicks (der ihre Einbindung in die hierarchische Struktur repräsentiert; vgl. Kap. 5.2) verschwinden sie als Personen allmählich von der BildÀäche und zurück bleibt schließlich – entgegengesetzt (und darin auch wieder in gewisser Weise homolog) zum Film der Schüler – eine menschenlose Struktur (vgl. Kap. 5.5 und 5.6).
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7
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule und Schulpädagogik
7.1 Die Dekoration als generatives Muster im Feld der Schule Um die Bedeutung, die dem Muster der Dekoration im Feld der Schule und im Bereich der Schulpädagogik zukommt, herausarbeiten zu können, wird zunächst das Spezi¿kum dessen, was gemeinhin als Schule bezeichnet wird, näher in den Blick genommen (Kap. 7.1.1) und anschließend ihre institutionelle Ausformung reÀektiert (Kap. 7.1.2). Auf dieser Basis kann schließlich die Wirksamkeit des in dieser Studie rekonstruierten Musters verdeutlicht werden (Kap. 7.1.3).
7.1.1 Wann ist die Schule eine Schule? Im Diskurs um Gestalt und Funktion der Schule identi¿ziert Maria Fölling-Albers (2000: 128) zwei kontroverse Schuldebatten. Die eine Argumentationsrichtung bezeichnet sie mit dem Begriff der »Re-Scholarisierung von Schule« (ebd.; H. v. A. B.). Diese Rückbesinnung auf die Unterrichtstätigkeit der Schule, die Hermann Giesecke (1996b) bereits in den 1990er Jahren einforderte, sieht sie heute in den internationalen Vergleichsstudien und den Reaktionen darauf fortgeführt. Die andere, dem entgegen gesetzte Richtung umschreibt sie als »Weiterentwicklung der Schule als Lebensraum« (Fölling-Albers 2000: 128). Nachdem der Topos von der »Schule als Lebens- und Erfahrungsraum« ganz maßgeblich von Hartmut von Hentig geprägt wurde, könnte man für diese Gegenüberstellung auch seinen damit in Zusammenhang stehenden Begriff der »Entschulung der Schule« verwenden, um die Polarität dieser beiden Positionen noch zu verdeutlichen. Betrachtet man allerdings diese beiden Begriffe genauer, so fällt auf, dass in den beiden in sich paradoxen Formulierungen (paradox erscheint insbesondere die Version von Hentigs141) implizit ein Normalitätsentwurf von Schule enthalten 141 Diederich & Tenorth haben den Begriff des »Hentig-Paradoxons« geprägt, um auf den para-
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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ist in der Form von »cultural assumptions about what a ›real school‹ is« (Tyack & Tobin 1994: 478). Während im ersten Fall das eigentliche Wesen von Schule ins Hintertreffen geraten zu sein scheint, gibt es im zweiten ein ›Zuviel‹ an Schule und ein ›Zuwenig‹ von etwas, das per se nicht automatisch mit Schule assoziiert zu werden scheint. Zieht man nun Aussagen der beiden genannten Repräsentanten hinzu, so werden nahezu identische Vorstellungen davon sichtbar, was eigentlich eine Schule sei: Giesecke bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er den Unterricht als den Zweck der Schule bezeichnet (Giesecke 1996a: 11) und diesen als die kulturelle Er¿ndung, die es erlaubt, die »ursprüngliche Verhaftung an die Unmittelbarkeit des alltäglichen Lebens zu überschreiten« und dadurch eine systematische geistige Bildung ermöglicht (ebd.: 10). Und bei von Hentig wird in seiner Übung »Die Schule neu denken«, in der er Wert auf den Beibehalt des schulischen Charakters der Schule legt, eine ähnliche Vorstellung sichtbar (Hentig 2003: 231f): Das spezi¿sch Schulische sieht er darin, dass die Schule ein Ort ist, an dem man Geistiges gut lernen kann, weil sie Ruhe gewährt und Systematisierung ermöglicht. Sie ist der Ort, an dem sich die »Befreundung mit der Wissenschaft« (ebd. 231) vollziehen kann und sie erlaubt »kritisch und distanziert auf die Muster / patterns zu blicken, denen wir uns zu verschreiben im Begriff sind« (ebd.: 232). In diesen Beschreibungen spiegelt sich gleichzeitig der Kern dessen wider, der – menschheitsgeschichtlich und evolutionshistorisch betrachtet – die ursprüngliche Idee von Schule ausmachte: In der »Muße« (griech.: scholé) sollte den Lernenden ein Freiraum gewährt werden, der es möglich machte, sich abseits von den Alltagsgeschäften, mit jenen geistigen Errungenschaften oder Spezialisierungen vertraut zu machen, die aufgrund der Höherentwicklung der jeweiligen Zivilisation nicht mehr einfach nebenher, im alltäglichen Vollzug des Lebens, erworben werden konnten. Auf diese Weise konnte der erreichte Entwicklungsstand an nachfolgende Generationen tradiert und darüber hinaus auch noch weiterentwickelt werden (vgl. Schulze 1980: 143ff). Zunächst ging es dabei primär um die Verbreitung der Schriftkultur, später kamen weitere abstrakt-symbolische Inhalte (Mathematik, Astronomie etc.) hinzu. Vereinzelt traten neben die intellektuelle Schulung auch die Ausbildung in der Redekunst (Rhetorik und Dialektik) sowie systematische körperliche Ertüchtigung und musische Bildung (vgl. Konrad 2007: 7–22). doxen Umgang schulkritischer Pädagogen mit Schulkritik und Schulreform hinzuweisen: »Intensiv darin engagiert, die (…) Gestalt der Schule als inhuman und unpädagogisch zu entlarven, sind sie dennoch allzeit bereit, neue Schulen zu gründen« (Diederich & Tenorth 1997: 224f).
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Die spezi¿schen Merkmale schulischen Lernens (im Gegenüber zu anderen Formen des Lernens) werden deutlich, wenn man die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen in komplexen Gesellschaften mit denen in einfachen, schriftlosen Kulturen vergleicht (vgl. Herrlitz et al. 1984: 57): Während die Heranwachsenden in den einfachen Gesellschaften durch die Teilnahme am gemeinsamen Leben mit der Erwachsenengeneration in unmittelbaren praktischen Vollzügen an Hier-und-Jetzt-Erfahrungen lernten, vollzieht sich schulisches Lernen nun raumzeitlich abgekoppelt von der gesellschaftlichen Praxis an einem speziellen Lernort. Dort werden die Lernprozesse planmäßig organisiert und systematisiert. Die (außerschulische) Wirklichkeit wird dabei in der Schule durch stellvertretende Zeichensysteme repräsentiert und symbolisch vermittelt. Dadurch wird es gleichzeitig möglich, dass Lernen unabhängig wird von sich ereignenden Lernanlässen oder -gelegenheiten, an die es vorher gebunden war (ebd.: 57f). Gerade in diesen Merkmalen (insbesondere in der raum-zeitlichen Verselbständigung und der symbolischen Vermittlung des Lernens) liegen nach Herrlitz et al. die besonderen Chancen der Schule, die sie für komplexe Gesellschaften unverzichtbar macht. Allerdings sind es andererseits gerade eben auch diese Merkmale, die immer wieder an der Schule beklagt worden sind. Nicht erst in der Gegenwart taucht die Kritik an der Lebens- und Praxisferne schulischen Lernens auf, sondern sie begleitet die Schule bereits von den ersten Anfängen an (vgl. z.B. Senecas sprichwörtliche Kritik an der Schule: »Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.«142) und gewinnt schließlich in der reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend an EinÀuss. So betont z.B. Ellen Key in ihrem schulkritischem Bestseller »Das Jahrhundert des Kindes« (Key 1900): »Das Leben – das Leben der Natur und des Menschen – das allein erzieht fürs Leben.« (ebd.: 273) Die Abkehr von der alten, lebensfremden »Buchschule« wird nun vehement eingefordert und es werden Alternativen angedacht und vorgestellt, wie die Verbindung zwischen Schule und alltäglicher Lebenswelt hergestellt werden kann (Oelkers 2005). Eine umfassende Konzeption dazu, die auch heute in der aktuellen Diskussion wieder eine große Rolle spielt, stellte damals der Amerikaner John Dewey vor. Er machte die lebenspraktische, außerschulische Erfahrung (experience) zur Basiskategorie seiner lerntheoretischen Überlegungen und schlug auf dieser 142 »Non vitae, sed scholae discimus.« (Seneca: epistulae morales 107, 11; vgl. Lipski 2004: 257) Es ist sehr aufschlussreich, dass sich dieses Zitat in einer veränderten Form etabliert hat, die sich gegenüber der ursprünglichen Version verselbständigt hat und nun auf eine Af¿rmation von Schule hinausläuft: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir [hier].«
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Grundlage eine Neugestaltung der Schule vor. Schule sollte »so unschulisch (unscholastic) wie möglich« sein (Dewey 1915/1964: 206) und außerschulischen Lernsituationen entsprechen, da er Lernen als einen Nebenertrag des Umgangs mit realen Situationen betrachtete: Wenn wir uns klarmachen wollen, was eine wirkliche Erfahrung, eine lebendige Situation ist, so müssen wir uns an diejenigen Situationen erinnern, die sich außerhalb der Schule darbieten, die im gewöhnlichen Leben Interesse erwecken und zur Betätigung anregen. (…) Diese Situationen geben dem Schüler etwas zu tun, nicht etwas zu lernen, und dieses Tun ist von der Art, daß es Denken, absichtliche Beobachtung von Beziehungen erforderlich macht; dabei ergibt sich das Lernen als notwendiges Nebenerzeugnis. (…) Bei oberÀächlichem Nachdenken könnte es scheinen, als ob die herkömmlichen Unterrichtsmethoden den hier gestellten Anforderungen recht gut entsprächen. Die Aufstellung von Problemen, das Vorlegen von Fragen, das Aufgabengeben, das Steigern von Schwierigkeiten spielen in der Schularbeit eine große Rolle. Es ist jedoch unerläßlich, daß wir zwischen echten oder wirklichen und vorgetäuschten oder angeblichen Problemen deutlich unterscheiden. Dabei können die folgenden Fragen eine Hilfe leisten. (…) Drängt sich das Problem innerhalb des Ganzen einer persönlichen, lebendigen Erfahrung auf? Oder hat es lediglich den Zweck, dem Unterricht in irgendeinem Schulfach, dem Lernen zu dienen? (ebd.: 206f) Nach Dewey sollte die Schule dementsprechend zu einer Lern-Umwelt werden, die wie außerschulisches Leben – nur pädagogisch geplant und verantwortet – die Schüler vor »wirkliche« Schwierigkeiten stellt und »echte« Probleme aufwirft, d.h. die einen Erlebens- und Erfahrenskontext liefert, in dem sich derartige Herausforderungen in »natürlicher« Weise aufdrängen. Wie die praktische Umsetzung von Deweys Prinzipien im Idealfall aussehen könnte, erfährt man aus dem Bericht von zwei ehemaligen Lehrerinnen, die an der von Dewey gegründeten Chicagoer Laboratory School143 unterrichteten (Mayhew & Edwards 1936/2007). Sie beschreiben darin, wie die Kinder im Rahmen des Projekte-Curriculums der Laboratory School in
143 Die Laboratory School wurde 1896 vom Department of Philosophy, Psychology and Pedagogy der Universität von Chicago, dem Dewey vorstand, gegründet. Dort sollte dessen Konzeption von Schule, die sich am außerschulischen experience orientierte, erprobt werden. Die Laboratory School hatte in dieser Form allerdings gerade einmal 8 Jahre lang Bestand (1896–1904) und war nur zwischen 1900 und 1902 wirklich stabil (Oelkers 2005: 160f; Oelkers 2007: 18).
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lebensnahe Problemsituationen versetzt werden, in denen sie schließlich selbst zu Entdeckern von Meilensteinen zivilisatorischer Errungenschaften werden. Das folgende Beispiel beginnt mit einer Wiederbelebung der Stein- und Eisenzeit und geht schließlich zu den Phöniziern über, die, um Handel treiben zu können, Maße und Gewichte einführen mussten und eine Schrift brauchten, um Vereinbartes festzuhalten: Die Kinder erlebten in ihren Rollen als phönizische Händler die Probleme und Mühen, die denen entsprachen, die es in den frühesten Formen des Tauschhandels gegeben hat. Wie in den Berichten der Kinder deutlich wird, entstand in der damaligen Zeit ein Bedarf an Menschen, die in der Lage waren, brauchbare Artikel aus Rohmaterialien herzustellen, und an anderen, die in der Lage waren, diese Artikel gegen andere Artikel, die man selbst nicht herstellen konnte, auszutauschen. (…) Die Kinder dachten sich deshalb ein dramatisches Bild dieser frühen Tauschbeziehungen und ihrer Entwicklung in feste Handelsbeziehungen aus. Sie stellten sich selbst als phönizische Seeleute vor, die irgendwo bei einer Barbarensiedlung an der afrikanischen Küste landeten. Und sie sahen, was wahrscheinlich nach der Landung passierte. Die Seeleute, die ihre Güter am Strand niederlegten, zogen sich auf ihre Schiffe zurück. Die Barbaren krochen aus den Büschen hervor, inspizierten die Güter und legten dann ihre Produkte in den Sand – Muscheln, Elfenbein und ähnliches – und zogen sich ihrerseits zurück. Dann kam die Untersuchung der Tauschgüter, die die Barbaren angeboten hatten, und die Annahme oder die Verweigerung eines Teils oder aller Teile des Tausches und im Falle der Ablehung eine zweite Chance, die den Eingeborenen gegeben wurden, ihre Angebote zu verbessern. (Mayhew & Edwards, 1936/2007, S. 119; zitiert nach der deutschen Übersetzung von Meyer, M.A. 1999: 32 – vgl. dazu auch F 145). Abgesehen davon, dass diese Situationen im Blick auf das alltägliche Leben der Kinder alles andere als lebensnah sind und für sie auch keine »echten Probleme« darstellen (die liegen nämlich für sie – gerade in Bezug auf die Schule – ganz woanders), erscheinen auch die Erkenntnisse, zu denen die Kinder in kurzer Zeit angeblich eigenständig kommen (während die Menschheit dafür Jahrhunderte oder -tausende an Entwicklungszeit brauchte), als äußerst unglaubwürdig. Dies trifft auch für zahlreiche weitere best-practice-Berichte dieser Lehrerinnen zu, z.B. wenn dort 9-jährige Schüler Teile einer Webmaschine ›er¿nden‹, die sie vorher nie gesehen haben (Mayhew & Edwards 1936/ 2007: 152) etc. Dewey selbst äußert sich über
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den Bericht der beiden Lehrerinnen sehr zufrieden und lässt keinen Zweifel daran, dass er die hier vorgestellte Umsetzung seiner Ideen als gelungenes Vorbild betrachtet (vgl. Deweys Vorwort in: Mayhew & Edwards 1936/ 2007: xiiif). Dem Problem der lebensfernen, »künstlichen Schule« (vgl. Rumpf 1986), in der ein lediglich »künstliches«, lebensfernes Lernen veranstaltet wird, begegnet Dewey also auf dem Wege einer pädagogischen Inszenierung von »echten Problemen«. Diese Strategie bezeichnet Hilbert Meyer als die » ›doppelte Künstlichkeit‹« der Schule (Meyer 1997: 287; vgl. auch Rumpf 1986: 20144), die er selber zwar als »paradox«, jedoch nichtsdestotrotz als erfolgreich betrachtet: »sie [die Schule] gewinnt ihre pädagogische Qualität erst dadurch, dass das ausgetriebene Leben wieder in die Schule zurückgeholt wird« (Meyer 1997: 287). Und ähnlich wie Dewey, so sind auch heute noch Pädagogen (wie z.B. auch Meinert A. Meyer145) von derartigen Entwürfen überzeugt und interpretieren die Praxis gerne in einer Weise, dass sie darin, so wie Dewey damals, die Bestätigung dafür sehen können, dass eine Reform der Schule nach den Prinzipien Deweys tatsächlich möglich ist (Oelkers 2005; 154, 160). Ein sehr anschauliches, historisches Beispiel für diese Strategie liefert das sog. »Typhus-Projekt«146: Als der Prototyp eines gelungenen Projektes erfreut es sich bis heute auch im deutschsprachigen Raum weiter Verbreitung. Allerdings hat es einen kleinen Schönheitsfehler: Es hat so nie stattgefunden (Knoll 1992: »Abschied von einer Fiktion«), sondern diente in seiner beschönigenden Darstellung zur Demonstration dafür, dass es im Rahmen der Schule möglich sei, die Projektmethode (in diesem Fall in der
144 Bei Rumpf, der die Problematik der Künstlichkeit der Schule eindrücklich vor Augen führt, ¿ndet sich ein ähnlich paradoxes Muster zur Lösung dieser Problematik wie bei Dewey: »Das künstliche Lernen, wie es unsere Zivilisation fordert, kann nicht aufgegeben werden – und zugleich muss versucht werden, auf künstlichem Weg etwas von der sonst so unterdrückten Spontaneität, Neugier, dem wilden Weltzugriff zu retten.« (Rumpf 1986: 20) 145 Meyer kommentiert den von ihm dargebotenen Auszug aus dem Bericht über die Laboratory School (s.o.) folgendermaßen: »Was läuft hier ab? Die Lehrer haben gemeinsam mit den Schülern Lebenssituationen geschaffen, die ihre eigene Dynamik entwickeln. (…) Die beiden Lehrerinnen geben eine Fülle von überzeugenden Beispielen dafür, daß man eine Lernumwelt schaffen kann, in der Schüler dadurch lernen, daß sie selbst Probleme lösen.« (Meyer, M. A. 1999: 32) 146 Angeregt durch die Typhus-Erkrankung von zwei Mitschülern, macht sich eine Klasse daran, die Ursachen dieser Erkrankung zu erforschen und Maßnahmen zu deren Prophylaxe zu entwickeln. Ellsworth Collings hatte dieses Projekt in seiner Dissertation bei Kilpatrick vorgestellt, die er 1923 unter dem Titel »An Experiment with a Project Curriculum« veröffentlichte und die weltberühmt wurde (Knoll 1992).
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Variante von Kilpatrick147) ungebrochen umzusetzen. Kilpatrick selbst war von dieser Demonstration begeistert und notierte, nachdem er die Darstellung seines Promovenden Collings gelesen hatte: »Er beweist hier genau das, was ich glauben wollte, aber nicht zu hoffen wagte.«148 »Nun kann niemand mehr sagen, dass die Theorie nicht funktioniert.«149 Auch über ein Jahrzehnt nach dem »Abschied« von dieser »Fiktion« (Knoll 1992) ist dieses Projekt immer noch als ernstgemeintes, unkritisch dargestelltes Beispiel in erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen zu ¿nden und dient weiterhin als eine Art best-practice-Beleg für die prinzipielle Möglichkeit der Umsetzung von Deweys Konzeption im Rahmen der Schule (vgl. z.B. Lipski 2004: 260). Und auch an dem empirischen Material der hier vorgelegten Studie wird sichtbar, dass jene Ideale Deweys und Kilpatricks aktuell immer noch die Programmatik bezüglich der Gestaltung von Schule und Unterricht prägen (vgl. Kap. 6, Bsp. 1). In der Art der Inszenierung dieser Ideale wird allerdings gleichzeitig erkennbar, dass diese lediglich die OberÀächenstruktur der Alltagspraxis formen, während das habituelle Handeln der Akteure von anderen Maximen strukturiert wird (vgl. Kap. 6.2). Nachdem Fritz Bohnsack noch 1979 im Anschluss an seine Darstellung der Schulkonzeption Deweys anerkennend zu der Einschätzung kam, dass die »Entschulung« der Schule in Deweys laboratory school »offenbar weitgehend gelang« (Bohnsack, F. 1979: 100), fragt er allerdings in der NeuauÀage seines Artikels kritisch: »Von welcher Grenze an führt Deweys Bemühen, außerschulische Lernstrukturen in die Schule zu übernehmen, zur AuÀösung ihrer Eigengesetzlichkeit?« (Bohnsack, F. 2003: 56) Um dieser Frage näher nachgehen zu können, soll hier auf eine Differenzierung zurückgegriffen werden, die Wolfgang Sünkel in Bezug auf das Lernen anstellt (Sünkel 2002): Grundsätzlich ¿ndet – und das ist fast trivial – alles Lernen in einer bestimmten Lernsituation statt (ebd.: 38; Sünkel spricht hier von der prinzipiellen »Situativität des Lernens«). Dabei lassen sich zwei Arten von Situ147 Kilpatrick, ein Schüler Deweys, vertritt, im Gegensatz zu Dewey selbst, einen sehr stark kindzentrierten Ansatz, der im Gegenüber zum systematisch vorgehenden Projekte-Curriculum der Laboratory School eher auf die Spontaneität und Autonomie der Lernenden abzielt (Knoll 1984). 148 Kilpatrick-Tagebuch, 13.7.1922 (Special Collections, Milbank Memorial Library, Teachers College, Columbia University, New York) – zitiert nach der deutschen Übersetzung von Knoll (1992: 571). 149 Kilpatrick, William H. (1923): Introduction. In: Collings, E.: An Experiment with a Project Curriculum. New York: Macmillan, S. xxiii – zitiert nach der deutschen Übersetzung von Knoll (1992: 572).
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ationen unterscheiden: diejenigen, deren Hauptzweck das Lernen ist und diejenigen, deren Hauptzweck ein anderer ist. Die zweite Situation erläutert Sünkel an seinem Beispiel der »neolithischen Altmühlhorde«150: »Wenn die Männer … die älteren Knaben auf die Jagd mitnehmen, so tun sie das, damit die Knaben das Jagen lernen sollen. Die Jagd selbst wird aber nicht um des Lernens, sondern um der Beute willen veranstaltet.« (ebd.) Entsprechend dieser zwei Arten von Situationen unterscheidet er nun grundsätzlich zwei Arten des Lernens: »Dasjenige Lernen, welches in Situationen geschieht, die einen anderen Hauptzweck als das Lernen haben, heißt: informelles Lernen. (…) Dasjenige Lernen dagegen, welches in Situationen geschieht, deren Hauptzweck dieses Lernen selbst ist, heißt formelles Lernen« (ebd.: 39; H. v. A. B.). Betrachtet man die schulische Umsetzung von Deweys Konzept vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung, so handelt es sich dabei nicht, wie dessen theoretische Überlegungen zum Lernen an »echten Problemen« (durch das experience) vorgeben (vgl. Zitat oben), um ein informelles, beiläu¿ges Lernen, sondern letztlich um eine besondere Art des formellen Lernens: »Von dem informellen Lernen (…) ist ein Lernen streng zu unterscheiden, dem durch die Intention und Planung des Unterrichts die Form des informellen Lernens verliehen wird. Hier handelt es sich nur scheinbar um informelles Lernen« (Sünkel 2002: 43). Das didaktische Handeln des Lehrers besteht in diesem Falle darin, »[e]ine ›natürliche‹ Lernwelt in Unterricht und Schule ›künstlich‹ nachzuahmen – und dadurch dem Schüler zu verbergen, dass es sich um Unterricht handelt« (ebd.). Freilich ¿ndet im Unterricht – so wie in jeder Lebenssituation – auch informelles Lernen statt (ebd.: 42). Die Schüler lernen dabei an der tatsächlichen Ernstsituation, der sie durch Schule und Unterricht ausgesetzt sind.151 Der »Ernstfall Schule«, mit dem sie dabei konfrontiert werden, hat jedoch nur sehr bedingt etwas mit den konkreten, aktuellen Lernzielen und -inhalten zu tun und konterkariert diese manchmal sogar in fast zynischer Weise (ebd.: 43). Er ist letzlich die eigentliche Primärerfahrung, die die Schüler in der Schule machen und er stellt für sie jene reale Situation dar, in der sich Probleme in natürlicher Weise aufdrängen 150 Sünkel argumentiert in seinem »Grundriss der theoretischen Didaktik« (Untertitel), ebenso wie Schulze (1980) oder Herrlitz (1984; 1994), aus einer evolutionshistorischen Perspektive. 151 Den »Ernstfall der Schule« sieht zwar Dewey auch, allerdings lässt er ihn letztlich nur als ein »angebliches Problem« gelten, als ein Problem, das »von außen her an den Schüler herangetragen« wird (Dewey 1915/1964: 207). Diese Probleme »berühren ihn nur als ›Schüler‹, nicht als Menschen.« (ebd.: 208) Nach Deweys Ansicht ließe sich dies beheben, wenn der Schüler in der Schule mit echten Problemen konfrontiert werden würde (vgl. ebd.: 209).
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und so nach Deweys Theorie lernwirksam werden. Genau hier ¿ndet jenes Erfahrungslernen statt, das sich durch tatsächlich ›urwüchsige‹ Lernprozesse vollzieht und dabei allerdings u. U. zu völlig anderen als den vom pädagogischen Personal (zumindest explizit) intendierten Ergebnissen führt (vgl. den Topos des »heimlichen Lehrplans«; Kap. 7.1.2). Ähnlich wie Dewey schreibt auch Johannes Flügge der verantwortlichen Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben größte Wirksamkeit für das Lernen der Schüler zu. Und er fügt hinzu: »Nach diesem dem Leben abgesehenen Modell würde man gern im Unterricht immer verfahren.« (1965: 36) Allerdings räumt er, im Gegensatz zu Dewey, ein: »Allein die für den Unterricht ersonnene Situation ist nicht der Ernstfall, der vielmehr nur gespielt ist.« (ebd.) Und so schlägt er vor, den »Unterricht als eine notwendige Erscheinungsform des menschlichen Lebens aufzufassen und ihn selbst als Ernstfall zu nehmen: Jetzt und hier ist die Situation gegeben, daß wir, Lehrer und Schüler, etwas miteinander lesen oder planen oder betrachten und darüber ins Gespräch kommen.« (Flügge 1965: 36; H. v. A. B.) In der aktuellen Diskussion um die Gestaltung des Unterrichts ist eine Sichtweise, wie sie Flügge vertritt, kaum zu ¿nden (deshalb auch der Rückgriff auf dieses alte Beispiel aus den 1960er Jahren). Denn nachdem im Zuge einer »DeweyRenaissance« seit den 1970er Jahren (Bohnsack, F. 2003: 57) die Projektmethode im didaktischen Diskurs der Nachkriegszeit wieder entdeckt wurde, erfahren etwa seit den 1990er Jahren Deweys lerntheoretische Überlegungen eine Art Revival: Insbesondere in der konstruktivistisch orientierten Lernforschung der Psychologie etablierte sich die Theorie einer »neuen Lernkultur«, für die Dewey als einer ihrer prominentesten Vorläufer gilt (Mandl & Reinmann-Rothmeier 2004: 621). Das Ideal eines sog. »situierten Lernens«152 anhand von »authentischen Problemen« (Mandl & Reinmann-Rothmeier 2004) fand im letzten Jahrzehnt schnell große Resonanz (vgl. ZfE 1/ 2005 Themenschwerpunkt »Neue Lernkultur; Meyer, M. A. 2005: 3, 5) – nicht nur im Bereich der Psychologie, sondern auch zunehmend im Bereich der Schulpädagogik, in der diese »neue Lernkultur« in gewisser Weise als eine Wiederbelebung der alten reformpädagogischen Methodiken rezipiert wird (Meyer, M. A. 2005). Die Beispiele zur Verwirklichung dieses Lernens zeigen allerdings, dass es auch hier letztlich um eine didaktische Inszenierung von si152 Nach Sünkels Vorstellung von Situativität (vgl. Sünkel 2002: 38) wäre der Begriff »situiertes Lernen« eigentlich eine tautologische Formulierung. Gleichzeitig spiegelt sich aber hierin auch die fehlende Sensibilität dafür wider, dass auch der Unterricht selbst eine (reale) Situation ist, die ihren Eigenwert hat.
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mulierten Problemsituationen (die lediglich als »authentisch« bezeichnet werden) geht. Dies lässt sich an einem der bekanntesten Beispiele des in dieser Tradition stehenden Anchored Instruction-Ansatzes, in dem eine Problemsituation in einer Erzählung oder Beschreibung »verankert« (anchoring) wird, gut nachvollziehen. Anstelle von (leibhaftigen) Rollenspielen (wie in der »Dewey School«) handelt es sich hier um eine virtuelle Simulation eines »situierten« Lernanlasses: Haupt¿gur ist der Waldhüter Jasper Woodbury, dessen Probleme von den Schülern und Schülerinnen zu lösen sind. In einer Filmaufnahme wird ihnen beispielsweise gezeigt, wie Jasper in den Bergen einen verletzten Adler ¿ndet, der in die Tierklinik muss. Helfen kann nur Emily, die mit ihrem Flugzeug in der Nähe ist, aber die hat nicht mehr viel Benzin. Sie müsste erst den Adler abholen und dann zur Klinik Àiegen. Wird ihr Benzin dafür reichen? An dieser Stelle bricht der Film ab und die Kinder müssen jetzt – in Kleingruppen am PC – die eingebetteten Informationen suchen, die ihnen weiterhelfen, und über gemeinsames Argumentieren, Ausprobieren, Veranschaulichen die Lösung ¿nden. Diese besteht in der Anwendung des Satzes von Pythagoras … (Zitiert nach Bovet 2004: 228; vgl. auch Mandl & Reinmann-Rothmeier 2004: 618). Die Gemeinsamkeit dieser Konzeption mit Deweys Ansatz ist offensichtlich: In der Theorie wird von der Wirksamkeit authentischer, situierter Erfahrung ausgegangen. In der Praxis wird dagegen lediglich eine Simulation von Authentizität erzeugt. Eine tiefergehende ReÀexion der Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Lernarten – dem in der Theorie angestrebten informellen Lernen und dem in der Praxis verwirklichten formellen Lernen – erfolgt hier ebensowenig wie bei Dewey. Dabei zeigen die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie, dass die Praktiker wiederum, sowohl Schüler als auch Lehrer, in ihren atheoretischen Wissensbeständen der Differenz zwischen beidem durchaus gewahr sind. So setzen sie einerseits den programmatischen Anspruch auf Authentizität in Szene, während gleichzeitig deutlich wird, dass sie um den Charakter des ›Als-Ob‹ ihrer Inszenierung und dessen grundsätzlicher Differenz zum urwüchsigen Ernstfall wissen (vgl. Kap. 4.6 und 6.2, Bsp. 1). Der Anspruch, mit dem die Vertreter jener »neuen Lernkultur« auftreten, ist allerdings enorm: Bereits in der Rhetorik der Selbstbezeichnung (»neue Lernkultur«), die hier zum Einsatz kommt, wird deutlich gemacht, dass diese Lernkultur sich eben nicht als eine neben anderen versteht, sondern dass sie für sich reklamiert, die Alternative zur »alten« (veralteten) Lernkultur zu sein. Das
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Argumentationsmuster für diese »Lernkultur« ist dabei meist stark polarisierend angelegt und oft simpli¿zistisch. So wird als Kontrast ein negativer Gegenhorizont konstruiert, der sich beispielsweise negativ konnotierter Bezeichnungen wie »Belehrungsdidaktik« oder »Erzeugungsdidaktik« bedient, vor dem sich dann die eigene, als »Ermöglichungsdidaktik« bezeichnete Position, positiv abhebt und auch dementsprechend ausgeführt wird (vgl. z.B. Arnold & Gómez Tutor 2006: 78, 83). Dass sich im deutschen didaktischen Diskurs des letzten Jahrhunderts kein didaktischer Entwurf etabliert hat, der diese Fremdbezeichnungen (»Belehrungsdidaktik« oder »Erzeugungsdidaktik«) für sich gewählt hätte (oder sie auch nur annähernd verdient hätte) fällt den Autoren möglicherweise nicht einmal auf, da sie – schwerpunktmäßig aus der Psychologie kommend – den didaktischen Diskurs, der in der Pädagogik geführt wurde, offensichtlich nicht weiter zur Kenntnis genommen haben153 und sich daher auch (in einer zirkulären Selbstdiskussion) hauptsächlich mit den von ihnen gewählten Etikettierungen auseinandersetzen und kaum mit realen Entwürfen und den dazugehörigen Selbstbezeichnungen, mit denen sich deren Repräsentanten identi¿zieren (wie z.B. »bildungstheoretische Didaktik« oder »lerntheoretische Didaktik«). An dieser Stelle soll nun die oben gestellte Frage wieder aufgegriffen werden, ob die Übernahme außerschulischer Lernstrukturen zur AuÀösung der Eigengesetzlichkeit von Schule führt: Die besonderen Chancen schulischen Unterrichts, die ihn für hoch entwickelte, komplexe Gesellschaften unverzichtbar machen, liegen darin, dass er ein formelles Lernen in Distanz zum und in Abstraktion vom Leben ermöglicht. Das formelle Lernen ist jedoch nicht die einzige Form menschlichen Lernens. Es ist Deweys Verdienst, jene andere Form des Lernens, die ihrerseits eine unverzichtbare Basis für formelles Lernen darstellt, in ihrer Bedeutung thematisiert und reÀektiert zu haben. Im Gegensatz zum formellen Lernen ereignet sich dieses Lernen nur in der unmittelbaren Begegnung mit dem Ernstcharakter realer Lebenssituationen. Diesem Lernen wird seit einigen Jahren jenseits der Schulpädagogik un-
153 Die Konzeption der »neuen Lernkultur« knüpft schwerpunktmäßig am didaktischen Diskurs des anglo-amerikanischen Sprachraums an, in dem Allgemeine Didaktik, anders als im deutschsprachigen Raum, weitgehend aus lern- und entwicklungspsychologischer Perspektive betrieben wird (Meyer, M. A. 2005: 12). Entsprechend ihrer Fachtradition operieren deren Vertreter mit einem Lernbegriff, der weitgehend von der Inhaltsstruktur der Lerngegenstände absieht und die Inhalte wie nahezu beliebig austauschbare Informationen behandelt. Die ReÀexion des Bildungsgehalts oder der Struktur von Inhalten (z.B. nach Wolfgang Klafki 1975: 2007) ist dieser Tradition fremd.
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ter derselben Bezeichnung, die Sünkel wählte, »informelles Lernen«154, in den Erziehungswissenschaften wachsende Aufmerksamkeit gewidmet (ZfE 3/2005: Themenschwerpunkt »Informelles Lernen«; Tully 2006; Rauschenbach, Düx & Sass: 2007). Anhand von zahlreichen empirischen Studien konnte nachgewiesen werden, wie vielfältig die Lerneffekte informellen Lernens sind und wie bedeutsam diese für die Entwicklung des einzelnen Subjekts sowie für die Belange der Gesellschaft sind (z.B. Wahler, Tully & Preiß 2004; Lipski 2004; Düx & Sass 2005; Pfaff 2008). Insbesondere die Freiwilligkeit und die daraus resultierende Motivation sowie die emotionale Beteiligung der Lernenden machen den grundlegenden Unterschied zum schulischen Lernen aus (Düx & Sass 2005: 396; Stettner 1999: 175ff, 350ff). Solange Schule als eine Einrichtung verstanden wird, die primär dem Zweck des Lernens dient (und nicht ein anderes Ziel verfolgt – vgl. die Unterscheidung Sünkels s.o.), ist das Lernen, das dort veranstaltet wird, letztlich immer ein formelles Lernen, selbst dann, wenn es als »informelles Lernen« inszeniert wird. Es ist also eher die Eigengesetzlichkeit der Schule, die sich hier gegenüber den »außerschulischen Lernstrukturen« durchsetzt (als umgekehrt): Das informelle Lernen wird hier sozusagen ›ver-schult‹ und verliert damit genau jene spezi¿sche Lernwirksamkeit, die sich aus der bewährenden Begegnung mit realen Anforderungen ergibt.155 Der Verlust des (tatsächlichen) informellen Lernens wäre vielleicht noch zu verschmerzen, wenn es in einer Gesellschaft noch genügend andere Räume gibt, in denen es sich ereignen kann. Falls diese Räume jedoch noch weiter abnehmen würden (z.B. zugunsten einer weiteren Expansion der Schule), würde der Verlust äußerst schwer wiegen. Wenn sich darüber hinaus auch noch zeigen würde, dass die gewählte Methodik der Inszenierung informellen Lernens dem Spezi¿kum des formellen Lernens, das auf Systematik und Abstraktion abzielt, nicht im gleichen Maße gerecht werden kann wie die nach Lehrgangsprinzipien aufgebaute Methodik des (traditionellen) formellen Lernens, dann würde es sich um einen doppelten Verlust handeln. Kritiker dieses speziellen Methodenspektrums weisen jedenfalls auf De¿zite in eben dieser Hinsicht hin (Oelkers 2005: 216f; Duncker 1992). 154 Der Begriff »informelles Lernen« wird allerdings nicht ganz einheitlich verwendet (vgl. Overwien 2005). 155 Das soll nicht heißen, dass derartiges Lernen im Kontext von Schule völlig unmöglich wäre. Allerdings sind es eher die Randbereiche von Schule, wo es gedeihen kann, z.B. im Bereich des freiwilligen Wahlunterrichts, der auf Produkte oder Projekte abzielt, die nicht primär um des Lernens willen erstellt werden oder statt¿nden, sondern einem eigenen Zweck dienen (z.B. ein Konzert mit der Band oder die Bewirtschaftung einer Schulkantine).
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Die Ursachen dafür, dass die Projektmethode nur sehr rudimentär im schulischen Alltag Fuß fassen konnte, wurde bislang (zumindest in den elaborierteren Studien156) in der institutionellen Struktur der Schule verortet (Schümer 1996; Tyack & Tobin 1994; Tyack & Cuban 1995). Es spricht allerdings, aufgrund der vorangegangenen Überlegungen, einiges dafür, dass die Ursachen sogar noch tiefer liegen: Es ist nicht (nur) die Eigengesetzlichkeit der Institution Schule (»the ›grammar‹ of schooling«; Tyack & Tobin 1994), die der Implementierung jenes Lernens entgegenläuft, sondern die Ursache liegt offensichtlich bereits in der jeweiligen Eigenlogik der beiden unterschiedlichen Lernarten. Sobald informelles Lernen veranstaltet wird, verliert es seinen Charakter der Unmittelbarkeit, der zu den für diese Lernart spezi¿schen Lernwirkungen führt. Es wird zu einer Methode formellen Lernens, die dessen sonstigen Methoden nicht automatisch überlegen ist. Wie alle Methoden formellen Lernens lässt sich ihr Wert nicht aus der Methode bzw. der Form an sich bestimmen, sondern ergibt sich erst aus den komplexen Wechselwirkungen mit dem Unterrichtsgegenstand, dem jeweiligen Lernenden und weiteren Faktoren, die im Kontext didaktischer Theoriebildung in den zurückliegenden Jahrzehnten ausführlich diskutiert worden sind. Es ist m. E. letztlich die im aktuellen schulpädagogischen Diskurs weitgehend fehlende ReÀexion der Differenzen und Spezi¿ka dieser beiden unterschiedlichen Lernarten, die zu Widersprüchlichkeiten, zu Fehleinschätzungen und zu Illusionen bezüglich vermeintlicher Lerneffekte führen (vgl. dazu auch Kap. 7.1.3). Wenn unter der »Entschulung von Schule« der Verzicht auf das systematische, formelle Lernen zu verstehen wäre, so würde die Schule ihren Wesenskern verlieren und damit letztlich aufhören, Schule zu sein. Wenn man dagegen unter »Ent-Schulung der Schule« eine Ergänzung des formellen Lernens durch informelles Lernen versteht, so kann man leicht einem Irrtum aufsitzen: Informelles Lernen lässt sich nicht beliebig planen und ›veranstalten‹. Es gedeiht nur dort, wo der Zweck der Veranstaltung (vgl. Sünkel) eben gerade nicht das Lernen ist. Demgegenüber hat Hartmut von Hentig seine Forderung nach einer »Entschulung der Schule«, die er bereits 1971 vorgetragen (Hentig 1971: 105) und in seinem Buch »Schule neu denken« (1. AuÀage: 1993) erneuert hatte, in der Zwischenzeit in eine andere Richtung weiter gedacht: Drei Jahre nach 156 In den weniger elaborierten Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen wird die Ursache häu¿g einem mangelnden Engagement seitens der Akteure zugeschrieben.
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dessen NeuauÀage (Hentig 2003) fordert er nun nicht mehr die Entschulung der Schule sondern eine Entschulung des Jugendalters (Hentig 2006). In seiner 2006 erschienenen Publikation »Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung nützlich zu sein« schlägt er vor, die Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren aus der Schule zu entlassen und sie auf diese Weise sozusagen an die Gesellschaft zurückzugeben. Anstelle der »Schulküche«, die »ihrerseits [nur] eine Fortsetzung der Puppenküche ist« (Hentig 2006: 18), will er ihnen »echte« Herausforderungen ermöglichen, an denen sie reifen können und ihren Selbstwert erfahren können. So denkt er eben jene Anliegen konsequent weiter, die ihn Zeit seines Wirkens als Pädagoge beschäftigt haben und mit denen er sich z.B. auch mit seinem langjährigen Freund Ivan Illich (Hentig 2000), dem wohl prominentesten radikalen Schulkritiker des 20. Jahrhunderts, auseinandergesetzt hat157, und verabschiedet sich damit gleichzeitig aus der bildungstheoretischen und bildungspolitischen Diskussion (Hentig 2006: 14)158. In diesem seinem Vermächtnis plädiert er dafür, »einen neuen Blick auf beides [zu] nehmen: auf das Lernen mit und ohne Schule, also ›Bildung‹ weiter [zu] fassen, als das in den Studien der OECD geschieht, und auf die Beteiligung der jungen Generation an Aufgaben und Versprechungen der Gesellschaft, also ihr so etwas wie ›Bewährung‹ in der Gemeinschaft [zu] ermöglichen« (Hentig 2006: 10; H. v. A. B.). Dabei stellt er allerdings eindeutig klar: »Ich werde nichts dafür tun, die Schule abzuschaffen, dies werde ich nicht tun. Wenn ich von Entschulung spreche, sage ich immer, es ist das Gegenstück zur Verschulung. Die Verschulung ist schlecht, 157 Am Ende seines Buches (2006) schließt er sozusagen den Kreis, indem er aus dem Vorwort seiner 1971 erschienenen Publikation »Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?« zitiert (Hentig 2006: 104f). Damals war er noch zu der Einschätzung gekommen, dass es gelingen könnte, jenen Zweifeln an Schule und Schulreform, die er dort formuliert hatte, durch sein Programm einer »Entschulung der Schule« (Hentig 1971: 105) zu begegnen, das für ihn auch für den Aufbau der Bielefelder Laborschule leitend war. Hentig hatte damals das CIDOC (Centro Intercultural de Documentación) von Ivan Illich in Cuernavaca (Mexiko) besucht und dort die wichtigsten Schulkritiker des amerikanischen Kontinents getroffen (z.B. Paul Goodman, Everett Reimer, Christopher Jencks, Paulo Freire; Hentig, 1971: 22) und sich mit deren Gedanken intensiv auseinandergesetzt. 158 »In meinem 81. Lebensjahr stehend, an der Praxis der Pädagogik seit langem nicht mehr beteiligt, abgeneigt, weiter an der sich wandelnden oder wiederholenden bildungstheoretischen und bildungspolitischen Diskussion teilzunehmen, habe ich beschlossen, mich von dieser mit der Darstellung von zwei Aufgaben zu verabschieden, denen ich in meinem Berufsleben nicht gerecht geworden bin: der Entschulung des Lernens in den Pubertätsjahren (Altersstufen 13/14/15) und der Einführung eines allgemeinen Dienstjahres.« (Hentig 2006: 14)
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die Schule selbst ist es nicht.« (von Hentig im Interview159 u.a. über sein Buch »Bewährung«) Die Schule abzuschaffen, das war letztlich nicht einmal das Anliegen des radikalen Schulkritikers Illich, auch wenn er sein Anliegen derart poinitiert formuliert (»Warum wir die Schule ›abschaffen‹ müssen«160). Auch er meinte mit seinem Programm der »Entschulung der Gesellschaft« nicht (wie oft fälschlich verstanden) die Abschaffung von Schule generell, sondern zielte auf andere und neue Erscheinungformen von Schule ab, d.h. auf andere »Außenstrukturen« des formellen Lernens (Sünkel 2002: 122, 125). Die Rede von der Trennung von Schule und Leben (vgl. Meyer 1997: 286) ist letztlich irreführend, ebenso wie die Vorstellung, man müsste das Leben in die Schule hineinholen (ebd.: 287). Unterricht und Schule sind ebenso eigene Lebenssituationen wie die alltäglichen Geschäfte es sind (vgl. Situativität des Lernens nach Sünkel). Es gilt die Lernsituation formellen Lernens ebenso in ihrer Eigentümlichkeit wahrzunehmen, zu würdigen und lebensförderlich zu gestalten wie dies für andere Lebenssituationen (leider auch nicht immer) selbstverständlich ist. Die Kritik an der Lebensferne der Schule ist widersinnig (im wahrsten Sinne des Wortes), wenn sie auf die (notwendige) Differenz zwischen formellen Lernsituationen und Alltagsgeschäften abzielt. Sie wird aber dann verständlich und plausibel, wenn sie sich auf die Balance zwischen beidem richtet und damit die berechtigte Frage aufwirft, ob jenes formelle Lernen im Aufwachsen der jungen Generation nicht eine viel zu dominante Rolle spielt. Es wäre dann letztlich die Kritik an einer (unbekömmlichen und lebensfeindlichen) Überdosis formellen Lernens. Wie eine sinnvolle Reaktion auf diese Überdosis aussehen kann, das ist eine der grundlegenden Fragen für die zukünftige Gestaltung der Schule. Aktuell zeigt sich eine Tendenz, dieses Problem in Richtung von »Annäherungen an die Entschulung« der Schule (Hentig 2006: 36) zu lösen und den Lebensraum innerhalb der Schulen immer weiter auszudehnen und anzureichern (ebd.: 34ff). Von Hentig bemerkt dazu allerdings: 159 Bayern 2 radioWissen: »Große Pädagogen: Hartmut von Hentig« (gesendet: 22.10.2008 um 15.05 Uhr); Manuskript S. 8; download als pdf unter: http://www.br-online.de/content/cms/Universalseite/2008/02/27/cumulus/BR-online-Publikation-205075-20080924093519.pdf (abgerufen am 13.11.2008) 160 Die Anführungszeichen in der Kapitelüberschrift »Warum wir die Schule ›abschaffen‹ müssen« (Illich 2003: 17) machen deutlich, dass das »Abschaffen« in einem übertragenen Sinne gemeint ist. Die Ausführungen in jenem Kapitel lassen keinen Zweifel daran, dass Illich lediglich auf die Abschaffung der aktuellen Erscheinungform von Schule, wie sie sich z.B. im Schulmonopol zeigt, abzielt und sich nicht gegen jede Form organisierten Lehrens und Lernens richtet.
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Sie [diese »Annäherungen«] verhelfen den Schulen und Schülern [im besten Falle] zu einem erfreulicheren und erfolgreicheren Lehren und Lernen. Sie können aber auch ein für die Verwirklichung der eigentlich erstrebten Lösung gefährliches Hindernis sein. ›Gefährlich‹, weil sie sich als ›Lebensund Erfahrungsraum‹ der Schüler für eine gute Schule halten dürfen und so weiterhin ihre Räume, Zeiten und pädagogischen Gebaren nicht verlassen werden. (Hentig, 2006, S. 37) Dementsprechend stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Schule tatsächlich der richtige Ort ist, um »Erwachsen werden« zu lernen (so der Titel eines neu eingeführten Unterrichtsfachs an einer bayerischen Hauptschule161), oder ob ein derartiges schulisches Gebaren nicht eher ein Hindernis für selbiges darstellt.
7.1.2 Die Schule als Institution Den Überlegungen des vorangegangenen Kapitels wurde ein Verständnis von Schule zugrunde gelegt, das von ihrer äußeren Gestalt abgesehen hatte. Schule kam dort, u.a. in Anlehnung an Sünkel, schlicht als Außenstruktur formellen Lernens162 in den Blick. In diesem Kapitel soll es nun um die konkrete Erscheinungsform gehen, wie sie das Schulsystem in unserer Gesellschaft darstellt. Durch diese analytische Trennung soll deutlich werden, dass die institutionelle Gestalt, die sie im Laufe der Geschichte angenommen hat, nicht notwendig mit Schule (wie sie in Kap. 7.1.1 skizziert wurde) zusammen gedacht werden muss. Die gegenwärtige Erscheinungsform von Schule erscheint dadurch nicht mehr einfach als eine selbstverständliche und somit als alternativlos. Dementsprechend bezeichnet Tillmann auch das institutionalisierte PÀichtschulsystem163, das uns heute als ganz
161 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.) (2004): Lehrerinfo. Ein Service des Bayerischen Kultusministeriums für die Lehrerinnen und Lehrer. Heft 4. Donauwörth: Auer, S. 9. 162 Art und Ausmaß der Institutionalisierung dieser Außenstruktur können jeweils stark variieren, wobei Sünkel nur dort von Schule spricht, wo diese Struktur einen relativ hohen Grad an Institutionalisierung aufweist (vgl. Sünkel 2002: 122–125). 163 In Deutschland wurde die allgemeine SchulpÀicht erst zwischen 1870 und 1920 durchgesetzt (Diederich & Tenorth 1997: 15). Ihr PÀichtcharakter führte dazu, dass sie in allen industriellen Gesellschaften zur größten öffentlichen Institution geworden ist (Tillmann 2004: 111). Inzwischen ist sie außerdem die letzte Institution in unserer Gesellschaft, der sich niemand entziehen kann (Klemm 2004: 242).
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›natürlich‹ erscheint, lediglich als »eine historische Begleiterscheinung von entwickelten Industriegesellschaften« (Tillmann 2004: 114) und das Schulkind als »kein ›natürliches‹ Wesen, sondern eine Schöpfung vor allem des 19. Jahrhunderts, das erst im 20. Jahrhundert weite gesellschaftliche Verbreitung gefunden hat« (ebd.). An anderer Stelle reÀektiert er, wie durch die Weiterentwicklung der postmodernen Gesellschaft eine Bildungslandschaft entstehen könnte, die schließlich wieder zu einem Verzicht auf eine allgemeine PÀichtschule, wie wir sie heute kennen, führen würde (vgl. Tillmann 1999). Auch Sünkel macht an historischen Belegen deutlich, dass sich der Ausprägungsgrad der Institutionalisierung von formellem Lernen in Gesellschaften auch durchaus wieder rückläu¿g entwickeln kann (Sünkel 2002: 125)164. »Die Schule – als Institution – erzieht.« (Bernfeld 1925/1973: 28) In diesem bekannten Zitat Bernfelds wird eine Sichtweise zum Ausdruck gebracht, die im Rahmen der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnden Sozialisationstheorie (Tillmann 2004: 35) verortet werden kann. Zu dieser Zeit geraten die EinÀüsse der Gesellschaft, bzw. gesellschaftlicher Institutionen auf die einzelnen Individuen erstmals systematischer in den Blick (ebd.). Bernfeld widmet sich im Kontext des genannten Zitats den Wirkungen, die die Schule als wichtige gesellschaftliche Institution jenseits des of¿ziellen Unterrichts und jenseits explizierter Erziehungsabsichten auf die Schüler zeitigt und er stellt dabei kritisch deren gesellschaftsstabilisierende und damit deren gesellschaftliche Ungleichheit reproduzierende Funktion heraus. Aus heutiger Sicht erscheinen die frühen Theorieentwürfe zur Sozialisation als soziologisch verkürzt, da sie den Aspekt der Unterwerfung des Individuums bzw. der Formung des Individuums durch die Gesellschaft, bzw. durch Institutionen als Subsysteme der Gesellschaft, in einseitiger Weise herausstellen (ebd.). Die Vorstellung des Sozialisanden als ein Objekt der Vergesellschaftung, das weitgehend passiv ›geprägt‹ wird, wurde inzwischen abgelöst vom Bild des aktiv handelnden Subjekts, dessen Ich-Identität sich aus einer konstruktiven Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt bildet und das dadurch seinerseits zu einem kreativ-produktiven Teil der ihn umgebenden Gesellschaft wird (vgl. Tillmann 2004: 30). Diese Sichtweise markiert zwar den aktuellen Entwicklungsstand der So164 Herrlitz dagegen betrachtet den historischen Prozess der »Verschulung« unserer Gesellschaft und die damit in Zusammenhang stehende Form der Institutionalisierung von Schule als eine notwendig fortschreitende und unumkehrbare Entwicklung (Herrlitz 1994: 30).
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zialisationsforschung, allerdings ist dieser nicht in allen Sozialwissenschaften in gleicher Weise präsent. So dominiert beispielsweise in der Schulpädagogik immer noch weitgehend die heute als veraltet geltende Vorstellung des zu sozialisierenden Schülers infolge der aktuell weiterhin ungebrochenen schultheoretischen Hegemonie des strukturfunktionalen Ansatzes in der Tradition Talcott Parsons. Bereits in den 1940er und 50er Jahren entwickelte Parsons die Grundlagen seiner Theorie, in der dem Konzept der Sozialisation eine zentrale Bedeutung zukommt und die Schule als wichtige gesellschaftliche Sozialisationsinstanz eine wesentliche Rolle spielt. Anders als Bernfeld sieht er die gesellschaftsstabilisierende Funktion der Schule in keiner Weise kritisch, sondern – im Gegenteil – die Stabilität des gesellschaftlichen Systems ist bei ihm in gewisser Weise ein unhinterfragter normativer Bezugspunkt (vgl. Tillmann 2004: 133). Um die Stabilität der Gesellschafts-Struktur zu sichern, werden der Schule die beiden grundlegenden Funktionen der Sozialisation und der Selektion zugeschrieben: Sie hat nicht nur für eine konÀiktfreie Verteilung gesellschaftlicher Positionen (durch Auslese) zu sorgen, sondern auch für ein systemkonformes Rollenhandeln der einzelnen Individuen. Dementsprechend besteht der Maßstab für eine gelungene Sozialisation darin, inwieweit das Bedürfnissystem des Einzelnen aufgrund der Verinnerlichung gesellschaftlicher Wertorientierungen mit den Rollenerwartungen der Gesellschaft zur Übereinstimmung gebracht wird, damit diese handlungsleitend wirken können. Der Mensch gilt dann als vollständig sozialisiert, wenn seine Persönlichkeit mit seiner Rolle zur Deckung kommt (Parsons & Bales 1955: 107165). Sozialisation wird hier also in erster Linie als Prozess der Vergesellschaftung des Individuums verstanden, während der Prozess der Individuierung demgegenüber vernachlässigt wird. Insbesondere durch Helmut Fends »Theorie der Schule« (1980) erfuhr Parsons Ansatz in der deutschen Schulpädagogik eine große Breitenwirkung. Weitere Schulpädagogen griffen diese strukturfunktionale Perspektive auf, und während Fend im Kontext seiner Theorie das Funktionskonzept lediglich für die empirische Forschungsarbeit zur »Analyse der Wirkungen dieser veranstalteten Sozialisation auf die Biographie des Individuums« (Fend, 1980: 8) nutzen wollte (vgl. dazu auch: Tillman 2004: 135), beschrieben diese nun in ihren Theorien die »schulische Sozialisation des Einzelnen« (Meyer 1997: 305) oder die »Sozialisationsfunktion« der Schule 165 »When a person is fully socialized in the system of interaction it is not so nearly correct to say that a role is something an actor ›has‹ or ›plays‹ as that it is something that he is.«
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(Wiater 2006: 123) weitgehend unkritisch als ein selbstverständliches, normatives Faktum und fügten diese Sicht dem basalen Examenswissen für Lehramtsstudierende in Form von (eigens markierten) Merksätzen wie den folgenden hinzu: »Die Schule ist dazu da, die heranwachsende Generation tüchtig und gefügig für die Belange der Gesellschaft und des Staates zu machen.« (Meyer 1997: 304) »Die Schule hat die Funktion, Kindern und Jugendlichen die soziokulturellen Ordnungen und Maßstäbe (Normen) der Gesellschaft, der sie angehören, zu vermitteln, damit das von der Sozietät gewünschte oder erlaubte Verhalten möglichst gewährleistet ist.« (Wiater 2006: 123) Schließlich fällt auch Fend selbst in seiner »Neue[n] Theorie der Schule« (2006) auf dieses einseitige Verständnis von Sozialisation zurück, obwohl er in dieser Neuen Theorie den Anspruch erhebt, durch deren Erweiterung den Grenzen des strukturfunktionalistischen Ansatzes entgegenzuwirken (Fend 2006: 119f). Zwar will er seine Theorie um die Perspektive der Akteure erweitern (ebd.: 119ff), stellt aber dabei gleichzeitig deutlich heraus, dass dies für ihn nur ein »Zwischenschritt« (ebd.: 121) ist, um zu einer »Darstellung der Steuerungsinstrumente für das Bildungswesen« (ebd.) zu kommen. Damit tritt zur Perspektive der (einseitigen) Sozialisierung der Schüler (die vormals durch seine Analyseabsicht relativiert wurde) nun die Vorstellung einer Steuerbarkeit der am Bildungswesen beteiligten Akteure. So wird in letzter Konsequenz die einseitige Sicht sogar noch auf einer übergeordneten Ebene weitergeführt. Dabei werden nun nicht mehr allein die Schüler als Objekte dieses Prozesses betrachtet, sondern neuerdings auch die Lehrer, Eltern und die sonstigen am Bildungswesen beteiligten Akteure. Die hinzugekommene Dimension der verstehens- und handlungsorientierten Interpretation (ebd.: 121) soll aufgrund des von Fend neu erhobenen Anspruchs der Gestaltungsorientierung seiner Theorie letztlich dazu dienen, das notwendige Wissen für eine wirkmächtige Steuerung der (nun besser ›durchschauten‹ und damit kalkulierbaren) Akteure liefern zu können (vgl. z.B. ebd.: 189f). Gegen Ende der 1960er Jahre setzte in Deutschland massive Kritik am Strukturfunktionalismus, an dessen Sozialisationsverständnis und dessen Rollentheorie ein (Tillmann 2004: 130f): Aufgrund des Erkenntnisinteresses des Strukturfunktionalismus, das primär auf die Systemerhaltung abhebt, würden KonÀikte und Widersprüche letztlich systematisch ausgeklammert und Sozialisation weitgehend auf ein »Rollenlernen« reduziert. Dabei werde mit der Vorstellung der Identi¿kation des Individuums mit seiner Rolle implizit von einem »Normalfall« ausgegangen, der in Wahrheit »ein pathologischer Grenzfall« sei (Habermas
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1968/1973: 127), welcher »nur um den Preis der Unterdrückung von KonÀikten zu erzwingen ist«, »nur um den Preis des Verzichts auf Individuierung zu erreichen ist« und »nur um den Preis einer zwanghaft automatischen Verhaltenskontrolle zu verwirklichen ist« (ebd.). Das von Parsons vorgestellte Konzept des Rollenhandelns beschreibt somit, nach Habermas, das Verhalten in einer Institution, die sich durch einen hohen Grad an Repressivität, Rigidität und zwanghafter Verhaltenskontrolle auszeichnet (vgl. Habermas 1968/1973: 127f). Die Vorstellung von Sozialisation, die das Theoriegebäude des Strukturfunktionalismus zusammenhält und die für dessen Vertreter lediglich eine wichtige legitime, nicht weiter problematisierungswürdige Funktion des Systemerhalts darstellt, bewertet Habermas also als eine Form von Repression, die der Individuierung geradezu entgegenläuft. Seine Konsistenz kann der Strukturfunktionalismus dabei letztlich nur um den Preis eines blinden Flecks erhalten, der Aspekte wie Machtstrukturierung oder soziale Kontrolle unbelichtet lässt. Bei der Betrachtung der Institution Schule durch die ›theoretische Brille‹ des Strukturfunktionalismus werden derartige Themen folglich weitgehendst ausgeblendet. Dabei ¿ndet die Tabuisierung der Dimension von Machtausübung und Disziplinierung, die hier in der ungebrochenen Hegemonie des strukturfunktionalen Ansatzes im schultheoretischen Diskurs auf der Ebene der Theoriebildung sichtbar wird, ihr Pendant im Umgang mit der konkreten Praxis in der Schule: So stellt beispielsweise Antje Langer in ihrer Studie »Disziplinieren und entspannen« fest, dass sowohl Lehrer als auch die Autoren pädagogischer Zeitschriften zwar von Disziplin als einem positiv besetzten Zustand sprechen, demgegenüber jedoch die »repressiven« Praktiken (das »Disziplinieren« oder Sanktionieren) eine Art »diskursive Leerstelle oder Blackbox« darstellt (Langer 2008: 182). Ein weiteres, schon fast klassisches und immer noch aktuelles Beispiel für die Nicht-Wahrnehmung hierarchischer Machtstrukturen stellt das Propagieren des sog. »sozialintegrativen Führungsstils« nach Tausch & Tausch dar: In der Analyse eines Modell¿lms mit Reinhard Tausch zu diesem Unterrichtsstil kommen Zehrfeld & Zinnecker zu dem Ergebnis, dass Tausch mittels sinnverwirrender Sprachspiele den Eindruck erzeugt, er beteilige die Schüler an seinen Entscheidungen (Zehrfeld & Zinnecker 1975). Tatsächlich jedoch verschleiere dieser Stil den »Widerspruch von hierarchischer Entscheidungsgewalt und demokratischer Gruppenstruktur« (ebd.: 89) und die steuernde Rolle des Lehrers als Leiter des Unterrichtsgeschehens (ebd.: 90). Und auch Jank & Meyer spielen die tatsächlichen Machstrukturen herunter, indem sie den Begriff des »Arbeitsbündnisses« wählen, um ihre
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Idealvorstellung für das Zusammenwirken von Lehrern und Schülern in der Schule zu beschreiben (Jank & Meyer 2002: 81). Ein Bündnis versteht sich jedoch seinem Wesen nach als eine Übereinkunft zwischen zwei gleichberechtigten Partnern, die außerdem beide die freie Wahl haben in dieses einzuwilligen. Dies trifft nicht einmal für die Lehrer geschweige denn für die Schüler zu. Man stelle sich beispielsweise (den gar nicht so ungewöhnlichen) Fall vor, in dem ein Schüler als ›Schwänzer‹ (d.h. als Schulverweigerer) von der Polizei aufgegriffen und in die Schule gebracht wird. Hier bedarf es schon einer gehörigen Portion ›pädagogischer Akrobatik‹ (bzw. wirkungsvoller manipulativ-repressiver Strategien) um diesen Schüler zu einem ›freiwilligen‹ Arbeitsbündnis zu bewegen. Dementsprechend räumen auch Jank & Meyer ein, dass die Einhaltung dieses Arbeitsbündnisses notfalls »mit Macht durchzusetzen« (ebd.) ist. Ebenso plädiert auch Ulrich Oevermann für ein pädagogisches Arbeitsbündnis (Oevermann 2003). Er sieht darin ein notwendiges, unverzichtbares Fundament professionalisierten pädagogischen Handelns, welches er als eine Dienstleistung eines professionellen Experten (des Lehrers) an seinen Klienten (den Schülern) versteht. Im Gegensatz zu Jank & Meyer stellt er jedoch heraus, dass sich ein derartiges Dienstleistungsverhältnis im Rahmen einer Zwangsbeschulung nicht verwirklichen lässt und fordert u. a. deshalb die Abschaffung der SchulpÀicht: »Unter der Bedingung der gesetzlichen SchulpÀicht wird die Schule ein Analogon zum Arbeitshaus, jedenfalls zu einer disziplinarischen, tendenziell mit einem Kasernenhofdrill vergleichbaren Anstalt. Das muss nicht äußerlich dramatische Formen annehmen. Das kann durchaus äußerlich freundlich und konÀiktvermeidend und pazi¿zierend sich abspielen.« (ebd.: 81) Oevermann weist hiermit auf neue Strategien der Disziplinierung und Dressur hin, die nun nicht mehr direktiv, in Form von autokratischen Verhaltensweisen, in Erscheinung treten, sondern eher subtiler, z.B. im Kontext des »sozialen Lernens«, Eingang ¿nden (vgl. dazu auch Terhart 2009 120f). Bereits Kant brachte das pädagogische Grundparadoxon moderner (aufklärerischer) Erziehung in dem prägnanten Satz auf den Punkt: »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« (Kant 1803/1983: 711) Durch die Einführung des Schulzwangs für alle Heranwachsenden (den es zu Kants Zeit noch nicht gab) verschärft sich dieses Paradoxon noch deutlich. Und je mehr die (freiwillige) Akzeptanz der Schule bei den Jugendlichen schwindet und deren Widerstand gegen ihre Zwangsbeschulung wächst (insbesondere in der Pubertät und v.a. in Bildungsgängen, die keine lukrativen Zugangsberechtigungen für das weitere beruÀiche und gesellschaftliche Feld vergeben, wie z.B. die Hauptschule), des-
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to mehr bekommt die Schule den Charakter einer ›Erziehungsanstalt‹ im Sinne einer Disziplinierungsanstalt, in der es weder um hehre Erziehungsziele, die der Entfaltung der Subjekte dienen, noch um eine konstruktive Disziplin um der Sache (der Bildung) willen geht. An die Stelle von Erziehung und Bildung rückt dann zunehmend eine dressierende Zurichtung der Jugendlichen um vor allem das Funktionieren der institutionellen Abläufe (wenigstens einigermaßen) garantieren zu können. Die Lehrer, als »Wächter der Ordnung« (Zinnecker 1978), denen in der Anstalt Schule die PÀichten eines Aufsehers obliegen (die sog. »AufsichtspÀicht«) stehen in derartigen Situationen vor der Herausforderung, die brüchig werdende und zunehmend sich auÀösende (»Vorderbühnen«-) Ordnung der Schule noch einigermaßen aufrechtzuerhalten (Zinnecker 1978; Wagner-Willi 2005). Erst durch ein Entfallen der SchulpÀicht ließe sich nach Oevermann das permanente Disziplinierungsproblem der Schule, das »›Dompteurs‹-Syndrom« (Oevermann 2003: 88), das sich aus zahlreichen Unterrichtsprotokollen empirischer Studien rekonstruiert lässt, still stellen und würde sich das Gegenüber von Lehrern und Schülern in ein (tatsächliches) pädagogisches Arbeitsbündnis umwandeln (ebd.). Gerade der blinde Fleck hinsichtlich der mit der Institution Schule verbundenen Heteronomie, der sich aus einer strukturfunktionalistischen Perspektive ergibt, wird seitens einer anderen Theorierichtung intensiv ausgeleuchtet, in deren Tradition auch Habermas` oben zitierte Kritik steht, nämlich seitens der interaktionistischen Theorie (bzw. des sog. »Symbolischen Interaktionismus«166). Im Rahmen dieser sich insbesondere an George Herbert Mead anschließenden Theoriebildung entstand jene Vorstellung von Sozialisation, die heute den aktuellen Stand repräsentiert. Der Aspekt der Interaktion des Individuums mit seiner sozialen Umwelt rückt nun in seiner Bedeutung für die Sozialisation ins Zentrum der Aufmerksamkeit und damit gleichzeitig auch die Interpretationsmöglichkeiten und Gestaltungsleistungen des Individuums als aktiver Interaktionsteilnehmer. Sozialisation wird aus dieser Perspektive primär als ein Prozess der Identitätsbildung des Individuums verstanden und weniger als Prozess der Stabilisierung von Gesellschaft. Das Bild von einer relativ statischen Gesellschaft, die zu ihrem Erhalt auf das »Sozialmachen« der Individuen angewiesen ist, wird abgelöst von einer positiven Sicht auf gesellschaftlichen Wandel, der nicht 166 Meads »Theorie des symbolvermittelten Charakters sozialer Handlungen« wurde unter der Bezeichnung »Symbolischer Interaktionismus« in verkürzter Weise rezipiert (Vgl. zur Kritik: Bohnsack 1992: 41).
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automatisch als Destabilisierung gedeutet wird. Während Parsons eine Differenz zwischen dem Individuum und den gesellschaftlichen Erwartungen eher als De¿zit interpretiert, ist diese für Mead in gewisser Weise sogar die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität, die er mit den (englischen) Begriffen des »I« (ich), »Me« (mich)167 und »Self« (Selbst) beschreibt. Dabei betont er, dass sich das »Self«, also die Ich-Identität, nur über den Umweg der Anderen entwickelt, mit dessen Augen ich mich selbst sehen lerne. Ohne die Gesellschaft kann also keine Identität entstehen. Während das »I« eine Art vorbewusste und vorreÀexive Instanz darstellt, entsteht das »Me« aus dem Gewahrwerden der Reaktionen Anderer auf mich, deren Erwartungen an mich sowie deren Vorstellungen und Bilder von mir. Folglich gibt es das »Me« im Prinzip nur in der Mehrzahl (in den verschiedenen »Me«s) entsprechend der unterschiedlichen Personen und Handlungssysteme, mit denen ich in Kontakt trete. Das »Me« stellt sozusagen die Summe meiner »sozialen Identitäten« (vgl. Goffman, Kap. 2.2) dar. Durch die Differenz zwischen dem spontanen, unreÀektierten »I« und den unterschiedlichen normativen Erwartungen, die sich in den »Me«s widerspiegeln, entsteht ein reÀexiver Prozess, der auf eine Bewältigung der Widersprüche zustrebt und aus dem sich das »Self« (als ein ›Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein‹) entwickelt. So erfährt beispielsweise ein Schüler erst durch die Reaktionen seiner Mitschüler, dass diese ihn aufgrund seines unterrichtlichen Engagements als ›Streber‹ betrachten, und beginnt nun, seine eigene, bislang unreÀektierte Aktivität und damit sich selbst in einem neuen Licht zu sehen. In der Schule ist er jedoch nicht nur als Mitschüler in das Erwartungssystem seiner Klasse eingebunden, sondern gleichzeitig auch in das Erwartungs- und Bewertungssystem der Lehrer. Er steht also im Schnittfeld unterschiedlicher Handlungssysteme und ist nun herausgefordert, deren teilweise widersprüchliche Erwartungen in sich zu vereinen (vgl. Bohnsack 1992: 41). In die deutsche Schulpädagogik fand dieser Ansatz Mitte der 1970er Jahre Eingang (Tillmann 1987: 14). Insbesondere Jürgen Zinneckers Sammelband »Der heimliche Lehrplan« (1975), in dem er eine Reihe interaktionistisch inspirierter Studien veröffentlichte, die sich auf den Raum der Schule bezogen, stellt für die
167 Die von Mead im englischen Original verwendeten Begriffe »I« und »Me« sind schwer ins Deutsche übersetzbar. In der deutschen Ausgabe von »Mind, Self and Society« wird »me« mit »ICH« wiedergegeben, während der Begriff »I« mit »Ich« (mit Kleinbuchstaben) übersetzt ist. Die reÀexive Form »mich« würde das »Me« zwar sinngemäßer wiedergeben, wirkt aber sprachlich sehr holprig.
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Verbreitung der interaktionistischen Perspektive einen wichtigen Meilenstein dar und wurde in der Folgezeit in zahlreichen Studien aufgegriffen und weitergeführt. Anstatt Schule, wie im Strukturfunktionalismus, selbstverständlich als legitime Sozialisationsinstanz zu betrachten, wurde sie nun kritisch auf den Prüfstand gestellt: Ausgehend von dem veränderten Sozialisationsverständnis wurden die Interaktionen, die im Rahmen der Schule statt¿nden, im Hinblick auf die sich in ihnen vollziehenden Prozesse der Identitätsbildung reÀektiert und erforscht. Gerade die institutionellen Vorgaben, die den Rahmen für die schulischen Interaktionen bilden, gerieten dabei ins Blickfeld und wurden auf ihren Beitrag hin, den sie zur Identitätsbildung leisten, analysiert und problematisiert. So zeigen sich Institutionen wie die Schule aus interaktionistischer Sicht als Umgebungen, in denen die De¿nitionsmacht über die jeweiligen Situationen festgeschrieben ist und durch verschiedene Formen von sozialer Kontrolle (Sanktionen, Leistungsbewertung etc.) erhalten wird. Damit werden die Aushandlungsprozesse in Bezug auf die eigenen Rolleninterpretationen den einzelnen Individuen weitgehend entzogen: »In einer so de¿nierten Unterrichtssituation fällt dem Lehrer vor allem die Aufgabe zu, die institutionell gesetzten Anforderungen vorzutragen und notfalls durchzusetzen. Schüler haben unter solchen Bedingungen nur eine begrenzte Chance, eigene Rolleninterpretationen und Identitätsentwürfe einzubringen.« (Tillmann 2004: 148) Insbesondere den Aspekten von Hierarchie und Zwang (die Machtstrukturierung der Interaktionen und die TeilnahmeverpÀichtung an ihnen), die durch eine derartige Betrachtungsweise der Institution Schule ins Blickfeld rücken, wurde nun in ihren Auswirkungen nachgegangen. Der inof¿zielle Charakter dieser ›Neben‹Wirkungen der Institution Schule, die den of¿ziell intendierten Bildungs- und Erziehungsauftrag unweigerlich begleiten, in der Unterrichtsforschung jedoch bis dahin kaum eine Rolle gespielt hatten und nicht wahrgenommen bzw. tabuisiert worden waren, ist es auch, der sich schließlich in der Begriffswahl »heimlicher« Lehrplan168 widerspiegelt (Fromm 2001: 978). Dabei ist die Fragestellung, die hier zum Tragen kommt, keineswegs eine neue: Bereits Bernfeld hatte ja von den inof¿ziellen Wirkungen der Institution Schule gesprochen. Neu war jetzt allerdings, dass diese nun gezielt thematisiert und in empirischen Studien beforscht wurden (ebd.: 979). Im Gegenüber zu ihrem of¿ziellen Auftrag erscheint Schule aus dieser 168 Bei dem Begriff »heimlicher Lehrplan« handelt es sich um eine freie Übertragung des englischen Begriffs »hidden curriculum«, den Jürgen Zinnecker 1973 in die bundesrepublikanische Diskussion einführte (Fromm 2001: 978).
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Perspektive als geradezu prekäres Umfeld, in dem aufgrund »der Pathologie schulischer Interaktions- und Kommunikationsprozesse« »eine ungebrochene Darstellung der persönlichen Identität im szenischen Arrangement der Schule nicht oder nur unzulänglich möglich ist« (Wellendorf 1979: 49). Um den Schulalltag ohne Beschädigung der eigenen Identität zu überleben, entwickeln Schüler daher im Laufe ihrer langjährigen Schulzeit besondere Problemlösungs- und AnpassungsStrategien bzw. spezielle »Schülertaktiken« (Heinze 1980). Solche auch empirisch nachgewiesenen Taktiken bestehen vor allem in • der Abschirmung, Tarnung und Verschlüsselung unerlaubter Vorgänge; • Konformitätsdemonstration, Vortäuschen von Konformität und Ablenkung von Normverstößen (z.B. Lügen, dem Lehrer schmeicheln, Konzentration und Mitarbeit vortäuschen); • Anwendung illegitimer Mittel zur Einhaltung einer (anderen) Norm (z.B. Mogeltechniken, Hausaufgaben abschreiben); • Ausnutzung kontrollarmer Gelegenheiten und Räume, Verstecken und Untertauchen in der Gruppe (z.B. an schwer kontrollierbare Orte wie Toiletten begeben). (Brumlik & Holtappels, 1987, S. 97) Durch das heimliche Unterlaufen von of¿ziellen Regelungen führt ein Teil der Schülerschaft in der Schule quasi ein Doppelleben. Dabei entsteht aus dem subkulturellen Engagement der Schüler eine Art »Unterleben« auf der »Hinterbühne« der Schule, das sich teils in jenen kontrollarmen Hinterbühnen-Orten, teils unbemerkt während der Unterrichtssituation im Klassenzimmer entfaltet (Zinnecker 1978). Aufgrund dieser und weiterer Taktiken und Verhaltensweisen, die als Anpassungsstrategien der Akteure an die of¿zielle »Vorderbühne« der Institution Schule interpretiert werden können und die teilweise große Ähnlichkeit mit Interaktionsstrukturen aufweisen, die Goffman in sog. »totalen Institutionen« (wie Gefängnissen oder psychiatrischen Kliniken) identi¿ziert hatte, stellte Thomas Heinze die Frage, ob man bei der Schule ebenfalls von einer »totalen Institution« im Sinne Goffmans sprechen könne (Heinze 1980: 51ff). Positiv gewendet lernen die Schüler im Rahmen des »heimlichen Lehrplans« allein durch ihr Zur-Schule-Gehen, sich in einem staatlichen Großbetrieb, der auf Lehren und Lernen spezialisiert ist, zurechtzu¿nden (Reinert & Zinnecker 1978: 11) und sie lernen im Umgang mit dessen Regeln, Hierarchien und Prüfungen, wie sie am ef¿zientesten und erfolgreichsten den Schulapparat »überleben« können. Dazu gehört z.B. auch, dass sie allmählich ihr Engagement so zu dosieren verstehen, dass sie vor ihren Mitschülern nicht als Streber dastehen und dabei gleichzei-
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tig den Umgang mit den Lehrenden in einer für sie günstigen Weise gestalten (s.o. das Beispiel des Strebers). Hier berührt sich die interaktionistische Perspektive mit der strukturfunktionalistischen wie sie beispielsweise für Dreeben (1980) leitend ist, der gerade aufgrund der Zumutungen der Schule für das einzelne Subjekt diese als optimale Vorbereitung der Schüler auf die Ansprüche, mit denen sie künftig in der Gesellschaft konfrontiert sein werden, darstellt. An oben genannten Beispielen lässt sich erkennen, dass aus interaktionistischer Perspektive für die Schüler trotz der heteronomen Rahmung in gewissen Grenzen durchaus auch die Möglichkeit eines »role-making« und nicht nur eines »role-taking« (Turner 1976) im Raum der Schule gesehen wird. Allerdings herrscht unter den (Schul-) Pädagogen, die dieser Richtung folgen, große Einmütigkeit darin, dass – im Gegensatz zu den Schülern – die Rollengestaltungsmöglichkeiten der Lehrer nur unwesentlich beeinträchtigt sind (vgl. z.B. Tillmann 2004: 149). Entsprechend dieser als sehr ungleich wahrgenommenen Chancen zur Identitätsentfaltung werden die Schüler in den interaktionistischen Studien nahezu durchgängig als die ›Opfer‹ der Institution gesehen, während demgegenüber die Lehrer eher in der Rolle des verlängerten Armes der Institution und damit als die ›Täter‹ erscheinen. Teilweise werden sie in der (Schul-) Pädagogik sogar mit der Institution an sich identi¿ziert und es entsteht der Eindruck als hätten sie letztlich die De¿nitionsmacht inne. So ¿ndet sich beispielsweise folgende Formulierung in einem weit verbreiteten Lehrbuch für Pädagogik-Studierende: »Nun zeigt sich aber, dass die Macht zur De¿nition der Situationen sehr ungleich verteilt ist, die Institution (und damit die Lehrer und Lehrerinnen) haben höhere Interpretationschancen als die SchülerInnen.« (Gudjons 2001: 308f; 2. H. v. A. B..) Vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse der hier vorliegenden Studie erscheint diese Sicht allerdings als äußert fragwürdig (vgl. insbes. Kap. 5 und 6). Dass auch das Personal einer Institution, das vordergründig weitgehende Gestaltungsfreiheit zu besitzen scheint, von der darin herrschenden Heteronomie in einem nicht zu unterschätzenden Maße betroffen sein kann, zeigt Goffman in einem seiner Aufsätze über »totale Institutionen«, in dem er sich ausschließlich der Situation des »Stabs«, also des Personals von psychiatrischen Kliniken, den Psychiatern, widmet (Goffman 1973a). Dementsprechend ¿rmieren sie bereits im Untertitel des Gesamtwerks (»Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen«) unter »andere Insassen« (Goffman 1961/1973a). Dabei zeichnet Goffman nach, wie diese Ärzte aufgrund der spezi¿schen Deformation des vermeintlichen Dienstleistungsverhältnisses gegenüber ihren ›Klienten‹ und aufgrund daraus entstehender Formen von Inhumanität, an denen sie (notgedrungen)
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beteiligt sind, ihrerseits verschiedene Anpassungs-Strategien entwickeln, um die Rolle, die für sie in dieser Institution vorgesehen ist, für sich erträglicher zu machen. Sobald es irgend möglich ist, versuchen sie außerdem, sich beruÀich so zu verändern, dass sie weniger Kontakt mit ihren primären Klienten (also den Patienten) haben oder die Klinik ganz verlassen können (ebd.: 352f), um die »Anstaltsmaschinerie, welche die Dienstleistungen auf diesem Gebiet de¿niert« (ebd.: 361), hinter sich lassen zu können. Meines Wissens gibt es keine interaktionistische Studie in Bezug auf die Institution Schule, die sich derart gezielt der Situation des Personals (also beispielsweise der Lehrer) in dieser (ebenfalls nur eingeschränkt klientenzentrierten) Institution widmet. Während die Schüler, entsprechend der prekäreren Rolle, in der sie seitens interaktionistisch inspirierter Erziehungswissenschaftler gesehen werden, bislang ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, wurden Anpassungs-Strategien der Lehrer nur am Rande thematisiert. Dies trifft beispielsweise auch für die Beschäftigung mit der Leistungs- und Selektionsproblematik zu: Während in Bezug auf die Bearbeitung der Leistungsthematik seitens der Schüler detaillierte, schulspezi¿sche Untersuchungen vorliegen (vgl. Tillmann 2004: 151–155), fand die Bewältigungsarbeit der dienstrechtlich zur Benotung verpÀichteten Lehrer (und ihrer widersprüchlichen Aufgabe als Selektionsfunktionär und Pädagoge), die im Lehrer¿lm einen ganz zentralen Komplex darstellt (vgl. Kap. 5.4.1), bisher kaum Beachtung, und wenn, dann lediglich im Kontext der ReÀexion zirkulärer Prozesse wie der Stigmatisierung von Schülern, wobei auch hier wieder das Hauptinteresse den Schülern als ›Opfern‹ der Etikettierung und Stigmatisierung galt. Möglicherweise blieb die Heteronomie der Lehrer im Rahmen der interaktionistischen Studien auch aufgrund der Fokussierung dieser Theorierichtung auf die Mikrostruktur einzelner Interaktionssituationen unterbelichtet, während das Subordinationsgefüge auf der Meso- und Makroebene, in das die Lehrer ihrerseits eingebunden sind, kaum in den Blick kam. Gerade dieses Subordinationsgefüge veranlasste beispielsweise Wolfgang Fischer dazu, die Schule gar als eine »parapädagogische Organisation« zu bezeichnen (Fischer 1978) und Walter Müller zeigt in seinem Beitrag zu Fischers gleichnamiger Publikation (»Die Schule als parapädagogische Organisation«) in einem historischen Abriss wie sich die jeweiligen Subordinationsverhältnisse im Laufe der Zeit je nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen veränderten (Müller 1978). Während Müller insbesondere den Übergang von der kirchlichen zur (obrigkeits-) staatlichen Herrschaft thematisiert, sind die heutigen ›neuen Herren‹ nicht ganz so eindeutig zu lokalisieren: Sie treten einerseits in supranationalen, global agie-
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renden Institutionen mit primär wirtschaftlichen Interessen, wie die OECD, in Erscheinung und andererseits in regionalen Lobbies wie z.B. die vbw, die »Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft«169. Gemeinsam nehmen sie durch die Implementation einer neuen Steuerungsphilosophie (vbw 2003: 322f) und durch von ihnen initiierte wissenschaftliche Studien EinÀuss auf die Bildungspolitik der Nationalstaaten, indem sie diese unter Legitimationsdruck setzen, sie so zu Umgestaltungsmaßnahmen bewegen und dabei gleichzeitig normbildend wirken (Watson 1998; Allemann-Ghionda 2004: 41ff). Die Lehrer werden dabei ihrerseits in Steuerungsaktivitäten involviert, die den Anspruch erheben, ihnen größere Mitgestaltungsmöglichkeiten einzuräumen, die jedoch bei näherer Betrachtung die paradoxen Züge einer »kontrollierten Autonomie« (Heinrich & Altrichter 2008: 207ff170) tragen und sich letztlich als eine neue, nun subtilere Form der Heteronomie erweisen (Rahm & Schröck 2005: 151; Schaefers 2008: 241; Lehmann-Rommel 2004). Ein Verkennen der Heteronomie, in die die Lehrer selbst involviert sind, führt dabei seinerseits wiederum zu weiteren Paradoxien. So bringt beispielsweise Hans Jürgen Gößling seine Lösung für das Problem der Heteronomie wie folgt auf den Punkt: »Der Lehrer soll Rollendistanz praktizieren.« (Gößling 1981: 14) An den Lehrer wird damit also eine weitere Rollenerwartung gerichtet, nämlich sich von den Erwartungen, die seitens der Institution im Rahmen seines Berufs an ihn gestellt werden, zu distanzieren – eine Konterkarikatur dessen, was das Konzept der Rollendistanz im Sinne Goffmans eigentlich ausmacht171 (zum 169 Die vbw vertritt rund 80 bayerische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sowie 30 Einzelunternehmen. Als zentrale Aufgaben nennt sie die aktive Mitgestaltung der Gesellschaft in den Bereichen Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Recht und Bildungspolitik (www.vbw-bayern.de; 26.10.2008). 2005 rief sie den Aktionsrat Bildung ins Leben, ein Expertengremium aus renommierten Erziehungswissenschaftlern, das der von der vbw herausgegebenen Studienreihe »Bildung neu denken« größere Autorität und Durchschlagskraft verleihen soll (vgl. www.vbw-bayern.de/ agv/index.php?StoryID=14859 & ArticleID=1654; 26.10.2008). Aktuell sind es insbesondere die von der vbw geforderten Maßnahmen, die in den letzten Jahren bei der Umgestaltung des bayerischen Schulwesens konsequent umgesetzt wurden, wie z.B. die Einführung der sukzessiven Vorverlegung des Einschulungsalters, die Ausweitung von Vergleichsarbeiten (Jahrgangsstufentests), die konsequente Einführung der externen Evaluation von Schulen oder die Verkürzung des Gymnasiums auf 8 Jahre (»G8«). 170 Heinrich & Altrichter (2008: 207ff) bringen für diesen Zusammenhang den Begriff der »kontrollierten Autonomie« ins Spiel, ohne jedoch Bezug auf Autoren zu nehmen, die diesen Begriff schon vor ihnen geprägt haben (vgl. Kap. 6.2). 171 Eine Distanzierung von den Erwartungen anderer, die jedoch von anderen erwartet und eingefordert wird, ist ebenso paradox wie der Befehl »Sei autonom!«
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Begriff der Rollendistanz vgl. Kap. 2.1). Gößling verbindet damit die Hoffnung, dass es den Lehrern durch Rollendistanz in Form einer »kritisch-reÀexiven Haltung« gelingen kann, »den Schülern ein reÀektiertes Rollenspiel zu ermöglichen, das auf Förderung ihrer Selbst- und Sozialkompetenz abstellt« (ebd.: 21). Er ist der Meinung, dass »die widersprüchliche Verfaßtheit seiner Berufsrolle [sic!] dem Lehrer die Chance [bietet], das (…) komplementäre Beziehungsmuster in Grenzen aufzulockern« (ebd.: 38). Ein erster Schritt dazu wäre, »den heimlichen Lehrplan offenzulegen« und »die institutionalisierte Beziehungsstruktur, welche die Dominanz und De¿nitionsmacht des Lehrers stützt, zu problematisieren« (ebd.). Der Lehrer erscheint in derartigen Vorschlägen als derjenige, in dessen Hand es liegt, die De¿nitionsmacht der Institution außer Kraft zu setzen und damit auch für den Schüler das Blatt wenden zu können. Vor dem Hintergrund dieses Anspruchs erscheint er beinahe wie ein ›Münchhausen‹, mit dem Unterschied, dass er nicht nur sich selbst, sondern insbesondere den Schüler aus dem ›Sumpf‹ (der Machtstrukturierung der Institution) ziehen soll, neben dem er ja selber sitzt. Dabei führt gerade die vermeintliche ›Befreiung‹ der Schüler letztlich zu neuen, allerdings deutlich subtileren Formen von Heteronomie, wie das folgende Beispiel zeigt: Nachdem auch Heinze die Hoffnung hegt, die institutionalisierte Dominanzstruktur ließe sich seitens des Lehrers im Unterricht modi¿zieren (1976: 37f), stellt er im Anschluss an seine Studie zu den »Schülertaktiken« (Heinze 1980: 110ff) einen Unterrichtsentwurf vor, in dem diese mit den Schülern reÀektiert werden sollen, um dazu beizutragen, solche Taktiken überÀüssig zu machen. Der Titel dieses Unterrichtsentwurfs (»Disziplin«) verrät allerdings bereits, dass hiermit im Grunde eine neue Form der Disziplinierung anvisiert wird. In diesem Vorschlag spiegelt sich (paradoxerweise) eine Variante der Kontrolle der Lehrer über die »Hinterbühne« der Schüler wider, die Jürgen Zinnecker beschreibt. Er nennt sie die »Rückintegration des Hinterbühnengeschehens in die of¿zielle Institution« (Zinnecker 1978: 45): »Zu diesem Zweck wird das soziale Leben der Schüler einer schulöffentlichen Diskussion und Kritik unterworfen mit dem Ziel, die Eigenart dieser Hinterbühne so zu verändern, daß sie präsentabel und akzeptabel für alle (…) wird« (ebd.) und so die »Beseitigung des dunklen Fleckens auf der reinen Weste der Institution« (ebd.) möglich scheint. Das Risiko einer derart »pädagogisierten Hinterbühne« besteht für die Schüler allerdings darin, dass sie »den pädagogischen Wächtern neue Kontrollmöglichkeiten erschließt, die den Schülern im Prinzip die Selbstgestaltung sogar dieses Teils des Schulgeschehens aus der Hand nimmt.« (ebd.) In dieser Variante der Kontrolle über die Hinter-
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bühne der Schüler, die aktuell im Zeichen neuer Formen sog. »selbstgesteuerten« Lernens weiter zunimmt durch die Entgrenzung der Schülerrolle (vgl. Kolbe et al. 2009: 210) hin zu einem Schülersein (vgl. Kap. 4.6), schimmert die Illusion durch, die Differenz zwischen den Ansprüchen der Institution Schule (dem »Me«, nach Mead) und dem Selbst der Schüler ließe sich durch pädagogische Interventionen auÀösen (was nach Mead eine eigenständige Identitätsentwicklung geradezu verhindern würde). Gleichzeitig verweist diese Illusion auf eine Zielvorstellung, die Habermas als »Integrationstheorem« bezeichnet, welches er als »Repressionstheorem« identi¿ziert.172 Der Schulpraktiker gerät durch derartige paradoxe und teilweise illusionäre Vorschläge und die damit verbundenen Ansprüche, die hier seitens seiner Berufswissenschaft an ihn gestellt werden, zusätzlich in weitere, kaum auÀösbare Widersprüche. Gleichzeitig zeigt sich dabei eine z.T. erstaunliche Blindheit gerade in der Wahrnehmung dieser Problematik für diese Problematik, die sich an dem folgenden Beispiel gut verdeutlichen lässt. Einerseits erkennt Heinze: »Sozialintegratives Lehrerverhalten wird zur Farce und Verschleierungstaktik, wenn gleichzeitig nicht eine Schülermitbestimmung und -selbstkontrolle über Lernprozesse angestrebt wird.« (Heinze 1976: 38; H. v. A. B.) Trotz dieser Einsicht bleibt er jedoch blind für die paradoxen Formen, die diese in der schulischen Mikrostruktur Unterricht annehmen, wenn sie nicht auch gleichzeitig von institutioneller (makrostruktureller) Seite her gewährt werden. Mit der vernachlässigten Dimension der Heteronomie kommt letztlich ein Spannungsfeld in den Blick, dass durch unauÀösliche Antinomien gekennzeichnet ist. Aktuell wird es am differenziertesten von Werner Helsper thematisiert und reÀektiert (Helsper 1996a; Helsper 2000; Helsper, Böhme, Kramer & Lingkost 2001). Die Zunahme von Selbstbestimmungsansprüchen im Kontext der Moderne führt, nach Helsper, zu einer weiteren Zuspitzung dieser Spannungen, die er insbesondere in seinen Ausführungen zur »Autonomie-Antinomie« beschreibt (vgl. Helsper 1996b). Dabei weist er darauf hin, dass vor allem diese Antinomie durch die Entwicklungen in der Moderne anfällig wird für paradoxe pädagogische ›Lösungen‹: 172 Das Repressionstheorem besagt, »daß vollständige Komplementarität der Erwartung nur unter Zwang, auf der Basis fehlender Reziprozität, hergestellt werden kann. Der Grad der Repression bemißt sich daran, wie weit die beteiligten Partner sich wechselseitig Reziprozität der Befriedigung vorenthalten. Der differentielle Grad der Repression eines Verhältnisses, in dem ein Teil den anderen ›ausbeutet‹, bemißt sich am Unterschied des Niveaus der Bedürfnisbefriedigung, die einer vom anderen erwarten kann.« (Habermas 1968/1973: 125)
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Die Aufforderung zur Autonomie kann angesichts fern wirkender Systemzwänge Züge einer disziplinierenden Selbstinstrumentalisierung im Namen von Selbstständigkeit annehmen. Heranwachsenden können auch pädagogische Interaktionen als Möglichkeit der Realisierung ihrer Selbständigkeitsansprüche gedeutet werden, die faktisch durch Asymmetrien gekennzeichnet sind, so daß es zu Formen illusionärer Selbsttäuschungen über Freiheitsspielräume kommen kann. (Helsper 1996b: 20) Wie dies in der Praxis des schulischen Alltags konkret wird, erläutert Helsper ausführlich anhand einiger Fallrekonstruktionen zu paradoxen Verwendungsweisen der Aufforderung zu Autonomie und Selbständigkeit an die Schüler, durch die eine Art »institutionelles Double-bind« errichtet wird (Helsper 1996a: 554). Die empirischen Ergebnisse, die in der hier vorliegenden Studie gewonnen wurden, legen darüber hinaus den Schluss nahe, dass letzteres nicht nur für die Schüler, sondern offensichtlich auch für die Lehrer zutrifft (vgl. Kap. 5.6 und 6).
7.1.3 Die illusio Nutzt man das in dieser Studie rekonstruierte Muster der Dekoration als theoretische Perspektive, so zeigen sich im Feld der Schule in verschiedenen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen Homologien, die darauf hinweisen, dass diese Struktur im Sinne eines modus operandi (Bourdieu) die rituelle Handlungspraxis173 der Akteure im Feld der Schule in einem nicht zu unterschätzenden Maße zu strukturieren scheint. Dabei zeigt sich gleichzeitig ein in seinem Ausmaß erstaunlicher ›Blinder Fleck‹ seitens der Betroffenen für dieses Muster, der auf die Existenz einer »illusio« im Sinne Bourdieus (s.u.) hinweist. Dies soll im Folgenden insbesondere an zwei Reformbestrebungen verdeutlicht werden, die im Diskurs um die Weiterentwicklung der Schule aktuell eine wesentliche Rolle spielen: die Etablierung einer sog. »Neuen Lernkultur« und die Förderung partizipativer Formen der Schülerbeteiligung. Betrachtet man deren Begründungsmuster, so zeigt
173 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff der »rituellen Handlungspraxis« hier jene Praxis der Differenzbearbeitung zwischen Programmatik und Alltagsroutinen gemeint ist, die in Kap. 6.1 beschrieben wurde. Davon zu unterscheiden ist die Praxis eben jener Alltagsroutinen der Akteure, die auf einer anderen Ebene angesiedelt ist.
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sich, dass beiden eine gemeinsame Schnittmenge hinsichtlich der Programmatik, die durch sie verwirklicht werden soll, zugrunde liegt: die Ermöglichung von Eigenverantwortung, Selbststeuerung, Selbst- und Mitbestimmung der Schüler. Im Fall der »Neuen Lernkultur« werden darüber hinaus außerdem die Ideale eines lebensnahen, authentischen Lernens thematisiert. Durch die selbstverständliche Verbindung dieser Programmatik mit den konkreten Reformvorschlägen, deren schulpraktische Umsetzung (angeblich) ganz automatisch zur Verwirklichung der propagierten Ideale führen soll, wird allerdings einerseits die Differenz zwischen Schule und Alltagserfahrung, die in veranstalteten (formellen) Lernsituationen unabdingbar enthalten ist (vgl. Kap. 7.1.1), ausgeblendet und andererseits gleichzeitig die Heteronomie und Asymmetrie, die unausweichlich – insbesondere mit hierarchisch strukturierten, verpÀichtenden – Institutionen verbunden ist (vgl. Kap. 7.1.2), tabuisiert. Dies soll zunächst für den Bereich der sog. »Neuen Lernkultur« erläutert werden. Dieser Topos bestimmt aktuell ganz maßgeblich nicht nur die didaktische, sondern auch die Diskussion um die Schule insgesamt. Bereits der gewählte Begriff »Neue Lernkultur« lässt die idealistische Aufladung erkennen, die sich in dem Pathos bestätigt, mit dem hier für ein bestimmtes Methodenrepertoire geworben wird, von dessen Umsetzung die Lösung nahezu aller Probleme der Schule und des Lernens in der Schule erwartet wird. Bei näherer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass dieses Methodenrepertoire keineswegs so neu ist, wie es für sich in Anspruch nimmt (Meyer, M. A. 2005: 5), und dass hier eine unreflektierte Methodengläubigkeit an den Tag tritt, die weit hinter dem in der Didaktik bereits erreichten Stand zurückbleibt (vgl. z.B. Glöckel 1998: 255f; Glöckel 2003, dort insbes. Kap. 2). Der Einsatz von Methoden offenen, handlungsorientierten Unterrichts oder von Projektunterricht soll, der Programmatik nach, »authentisches« Lernen ermöglichen, bei dem die Schüler selbstgesteuert, selbstbestimmt und selbständig lernen und dabei in lebensnahen Situationen sog. »Primärerfahrungen« machen. Die Differenz zwischen formellem und informellem Lernen, die Sünkel (vgl. Kap. 7.1.1; Sünkel 2002) sehr prägnant herausgearbeitet hat, verschwimmt dabei völlig und die Inszenierung informellen Lernens (eine Spielart des formellen Lernens; Sünkel 2002: 39) wird als urwüchsiges informelles Lernen umgedeutet. Und selbst diejenigen, die die »doppelte Künstlichkeit« (vgl. Kap. 7.1.1) dieses vermeintlich lebensnahen und selbstbestimmten Lernens, das mittels eines inszenierten pädagogischen Schauspiels hergestellt wird (Wulf & Zirfas 2007: 27) als Paradox von »inszenierten Authentizitäten« (ebd.: 28)
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identifizieren, deuten schließlich diese Potenzierung der Künstlichkeit als Natürlichkeit um (ebd.)174. Interessant ist im Kontext der Verbreitung der »Neuen Lernkultur« die Bedeutung, die sog. best-practice-Berichte haben (Meyer, M.A. 2005: 10). Durch die Aufführung von Ausnahmen wird demonstriert, dass die Umsetzung der Ideale tatsächlich möglich ist und die Ausnahme – bei genügendem Willen und Engagement – zur Regel gemacht werden kann. Inwieweit es sich dabei um geschönte, idealisierende Umdeutungen der tatsächlichen Durchführung handelt, kann nur im Einzelfall geklärt werden. Ein prominentes Beispiel einer derartigen idealisierenden Umdeutung wurde bereits in Kap. 7.1.1 vorgestellt (vgl. das »TyphusProjekt«, das Kilpatrick als ›Beweis‹ dafür nahm, was er glauben wollte, aber nicht zu hoffen wagte.). Ein weiteres derartiges Beispiel ¿ndet sich in dem Toleranz-Projekt, das in Kap. 6.2 vorgestellt wurde (Bsp. 1). Dabei wurde nicht nur die Umdeutung der tatsächlichen Alltagsroutinen seitens des Lehrers sichtbar, sondern auch das damit einhergehende Unterlaufen der dargestellten Ideale. Um ein Zeremoniell von ›Schülerorientierung‹ und ›Selbstbestimmung‹ zelebrieren zu können, wurden die Schüler letztlich in gewisser Weise instrumentalisiert und ›vorgeführt‹. Nach Aussage des Lehrers hatte er diesen Beitrag auch noch bei zwei weiteren Wettbewerben eingereicht und er wurde beide Male mit dem ersten Preis ausgezeichnet175. Daran ist einerseits zu erkennen, dass derartige Vorführungen bei den Juroren von Wettbewerben gut ankommen und dem entsprechen, was diese gerne sehen (und glauben) wollen. Andererseits zeigt dieser Fall aber auch die Fragwürdigkeit der Absicht, die Schulqualität mittels »best-practice« oder Wettbewerben steigern zu wollen – eine aktuell ausgesprochen beliebte Strategie, die von Seiten diverser Verbände und Stiftungen verfolgt wird176. An diesen Beispielen wird deutlich, dass bereits die Inszenierung der Ideale zu genügen scheint und entsprechend honoriert wird. Auf diese Weise wird 174 »Indem die vollkommene Kunst wieder Natur wird, wird der Schein selbst zum Sein, da ihm kein Sein mehr gegenüber steht. Eine absolut künstliche Pädagogik in einem absolut künstlichen Raum ist absolut natürlich.« (Wulf & Zirfas 2007: 28) 175 Eine derart hohe Auszeichnung erhielt er allerdings im Melanchthon-Wettbewerb nicht. 176 In Bayern veranstaltet beispielsweise die Stiftung Bildungspakt, eine Initiative der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, seit 2001 jährlich (seit 2007 im Zweijahresrhythmus) den sog. »i.s.i.«-Wettbewerb (»Innere Schulentwicklung Innovationspreis«), bei dem innovative Schulen ausgezeichnet werden. Einen ähnlichen, deutschlandweit ausgeschriebenen Wettbewerb rief auch die Robert-Bosch-Stiftung ins Leben (vgl. F 4).
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eben jene Bearbeitung der »notorischen Differenz« zwischen Programmatik und Alltagsroutinen promoviert, die in einer (die Ideale konterkarierenden) Vorführung der Ideale besteht und die in dieser Arbeit mit dem Begriff der »Dekoration« (Kap. 6.1) bezeichnet wurde. Die Diffusion zwischen Programmatik und Alltagsroutinen, die mit der Art dieser Differenz-Bearbeitung einhergeht, zeigt sich dabei aktuell nicht nur in den Vorführungen der Praktiker, sondern ebenfalls bei deren Publikum und auch, wie im Zusammenhang mit der Thematisierung der »Neuen Lernkultur« sichtbar wird, bei einer Vielzahl von Theoretikern im Feld der Schule (vgl. Kap. 7.1.1). Auf eine derartige Diffusion zwischen Programmatik und Alltagsroutinen weist auch ein Beispiel aus dem zweiten Bereich der oben genannten Reformbestrebungen hin, der Etablierung partizipativer Formen: In ihrer ethnogra¿schen Studie zur Praxis des Klassenrats177 beschreibt Heike de Boer die Entwicklung ihrer eigenen Forscherperspektive, die zunächst durch den »normativ-pädagogischen Anspruch im Klassenrat soziomoralisches Lernen, soziale Interaktion und Regelaushandlung beobachten zu können« (de Boer 2006: 187) geprägt war. Im Laufe ihrer Forschungstätigkeit machte sie dann allerdings die für sie offensichtlich überraschende Entdeckung einer Diskrepanz zwischen den pädagogischen Idealen, die mit diesem Konzept verbunden werden, und der sich realisierenden Praxis (ebd.: 191), was ihre Forschungsperspektive schließlich grundlegend veränderte. Diese neue Einsicht führte allerdings gleichzeitig zu Irritation, Ernüchterung und Enttäuschung der meisten Lehrerinnen dieser Schule (ebd.). Betrachtet man nun die Überraschung der Forscherin und die ›Ent‹-Täuschung der Lehrerinnen über die Diskrepanz zwischen Ideal und alltäglicher Praxis, so verweisen diese auf einen blinden Fleck in deren Erwartungssystem und damit auf die Existenz einer Illusion, der sie offensichtlich unreÀektiert anhingen und die nun gestört wird. De Boer kommt schließlich zu der Erkenntnis, dass der Klassenrat, der gemeinhin als ein Ort des Demokratie-Lernens gesehen wird und dem die Funktion zugeschrieben wird, schulisch-institutionelle Macht abzubauen (de Boer 2008: 128), bei näherer Betrachtung sogar eher dazu beiträgt, schulisch-institutionelle Macht und 177 Das Konzept des Klassenrats hat seine Wurzeln in der Reformpädagogik. Insbesondere Celestine Freinets Klassenversammlung wird als dessen Vorläufer betrachtet. Es zielt auf die Institutionalisierung eines Forums ab, in dessen Rahmen die Schüler sie betreffende Themen, Probleme und KonÀikte zur Sprache bringen und bearbeiten können und ihnen somit Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung in der Schule eröffnet werden. Mit seiner Einführung ist die Hoffnung verbunden, an der Schule demokratische Lebensformen zu verankern und so einen Beitrag zur Demokratie-Erziehung zu leisten (vgl. Boer 2006: 13ff).
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Ungleichheit zu reproduzieren (ebd.: 129). Es zeigte sich, »dass mit dem institutionalisierten KonÀiktlösungsprozedere im Klassenrat die Gefahr besteht, KonÀikte festzuschreiben, Personen zu typisieren, Probleme zu reproduzieren, bzw. neue Missachtungssituationen zu schaffen« (ebd.: 138). Als schwerwiegende Problematik dieses Konzepts identi¿ziert sie, »dass das Verfahren, das zu Autonomie und Partizipation anregen will, zu Heteronomie und überangepasstem Verhalten führen kann« (ebd.) und damit eben gerade nicht eine kritische Meinungsbildung und individuelle Positionierungen fördert, sondern zur »Ausführung einer verordneten oder instrumentellen Autonomie, die zur Reduzierung der schulischen Partizipationsvorstellungen auf die Erfüllung schulischer Handlungsaufgaben führt und schulische Macht reproduziert« (ebd.: 139). So werden also, um es mit dem hier rekonstruierten Muster der Dekoration zu beschreiben, die demokratischen Ideale, die in Form des Klassenrats zur Aufführung gebracht werden, ähnlich wie jene dargebotenen Ideale der Schülerorientierung und der Selbstbestimmung (vgl. Kap. 6.2), durch die Inszenierung demokratischer Formen zwar vordergründig enaktiert, gerade dadurch jedoch gleichzeitig unterlaufen und konterkariert. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass die schulische Inszenierung einer Situation keineswegs jene Kompetenzen fördert, die in Form eines Als-Ob zur Aufführung gebracht und zur Schau gestellt werden, sondern eher die Kompetenzen im Umgang mit dem Als-Ob, beispielsweise anstelle der Kompetenz, sich authentisch zu äußern, die Kompetenz, mit dem Anspruch auf ein Sich-authentisch-Äußern umzugehen und diesen in einer Weise zu bearbeiten, dass dabei die persönliche Sphäre vor (pädagogischer) Übergrif¿gkeit gewahrt bleibt (vgl. Schüler¿lm, z.B. Kap. 4.3; ähnlich: de Boer 2008: 137f). Es scheint so, als würde die Rahmendifferenz (Goffman 1980) zwischen den beiden Sphären im Raum der Schule und jenseits der Schule nicht wahrgenommen werden, als wenn der »Lebens- und Erfahrungsraum« (von Hentig), der in der Schule geschaffen werden könne, im Prinzip den gleichen Vorzeichen (der gleichen Rahmung) und denselben Gesetzmäßigkeiten unterliegen würde wie der (urwüchsige) Lebens- und Erfahrungsraum jenseits der Schule. Dieser ›blinde Fleck‹ wird durch die Überraschung der Forscherin und die Ent-Täuschung der Lehrerinnen im Zusammenhang mit der Studie zum Klassenrat sichtbar, er zeigt sich aber beispielsweise auch in der Überzeugung, man könne allen Ernstes informelles Lernen durch die Inszenierung eines Als-Ob in den Raum der Schule holen und in der eigentümlichen Rechnung, dass doppelte Künstlichkeit (doppelte Rahmung) schließlich wieder zu einer Natürlichkeit höherer Ordnung wird, so wie in der Mathematik aus einem doppelten Minus ein Plus entsteht (vgl. auch Kap. 7.1.1 und F 174; ein weiteres Beispiel
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dafür ¿ndet sich außerdem im Kontext der in Kap. 7.3 vorgestellten Studie LUGS). Die unreÀektierte Selbstverständlichkeit, in der von dieser Annahme ausgegangen wird, verweist darauf, dass es sich hier um eine »illusio« im Sinne Bourdieus178 handelt, auf der das Denken und Handeln der Akteure im Feld der Schule unbemerkt zu gründen scheint. Diese Illusion blendet den Institutionscharakter der Schule fast vollständig aus. Die mit der institutionellen Gestalt der Schule einhergehenden »notorischen« Zumutungen für die Akteure, die sich innerhalb der Sphäre der Institution bewegen, scheinen entweder nicht zu existieren oder aber keine Wirkkraft zu besitzen – zumindest keine derartige, dass sie sich nicht mit einem bisschen guten Willen seitens der Akteure, insbesondere der Lehrer, beseitigen ließen (vgl. Kap. 7.1.2: Tabuisierung von Heteronomie und Disziplinierung). Diese eigentümliche Institutions-Blindheit zeigt sich auch bei jenen Schulpädagogen, die im Anschluss an die interaktionistisch inspirierten Studien (vgl. Kap. 7.1.2) Problemlösungsvorschläge entwickelten, mit denen die Akteure selbst (also die Lehrer) die Dilemmata beseitigen sollten, in denen sie jedoch selbst verstrickt sind. Hier wird gleichzeitig die prekäre Rolle sichtbar, die den Lehrern im Zusammenhang mit dieser Tabuisierung zufällt und die darüber hinaus, gerade aufgrund der Tabuisierung, kaum explizierbar ist bzw. nicht wahrgenommen und verstanden werden kann. Vor diesem Hintergrund werden auch die Interpretationsergebnisse des Lehrer¿lms (vgl. Kap. 5.6) nachvollziehbarer. Anders als in den interaktionistischen Studien, in denen die Schüler unter der Perspektive von ›Insassen‹ betrachtet wurden, erwiesen sich in der hier vorgelegten Studie gerade umgekehrt die Lehrer als eine Art Insassen höherer Ordnung. Zwar zeigte sich, dass die Schüler im Rahmen der Schule in ein »totales Interaktionssystem« eingebunden sind (vgl. Kap. 4.6), dass sie jedoch ihrerseits Strategien entwickeln, um sich diesem in einer Weise zu entziehen, sodass ihre persönliche Sphäre gewahrt bleibt. Den Lehrern dagegen gelang diese Distanzierung nicht (vgl. Kap. 5.6 und Kap. 6.3). Betrachtet man die in der aktuellen Programmatik explizierten Ideale, so fällt auf, dass diese geradezu einen Gegenhorizont zur Fremdrahmung und Heteronomie, zum PÀicht- bzw. Zwangscharakter (Distanzierungsverbot) und zur 178 Mit »illusio« bezeichnet Bourdieu den von allen in einem jeweiligen Feld Agierenden geteilten Glauben, der im Zusammenhang mit den spezi¿schen Regeln steht, die in dem Feld gelten. Jedes Feld hat seine eigene illusio, die von außen u.U. als unsinnig oder illusorisch erscheint (Bourdieu 1998). Der Begriff der »illusio« weist Gemeinsamkeiten mit Bourdieus Begriff der »doxa«, dem stillschweigend als selbstverständlich Angenommenen, auf, wobei die doxa eher auf ein allgemeines, gesellschaftliches Vorverständnis abzielt, während die illusio stärker mit dem Begriff des Feldes verknüpft zu sein scheint (Rehbein 2006: 106, 99).
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restriktiven hierarchischen Struktur der Institution bilden und dadurch vorreÀexiv darauf bezogen erscheinen: »Selbstbestimmung«, »Selbststeuerung«, »Partizipation«, »Demokratie« (vgl. Klassenrat), »Autonomie« etc. Die beinahe schon inÀationär anmutende Semantik im Hinblick auf diese Ideale verweist auf einen Legitimationsbedarf, der jedoch als solcher nicht expliziert wird, sondern latent bleibt. Ein derartiger Legitimationsbedarf spiegelt sich auch in der Durchführung des Musters des »zeremoniellen Rollenspiels« (vgl. Kap. 4.6 und Kap. 6.2) wider, in dem durch expressives Handeln, die propagierten Ideale zur Aufführung gebracht werden. Um dies näher zu erläutern, soll hier auf Luhmanns Theorie des Verfahrens zurückgegriffen werden, die bereits im Konzept des »zeremoniellen Rollenspiels« verarbeitet wurde (Luhmann 1983; Bohnsack 1983; vgl. Kap. 6.2): Nach Luhmann (1983: 223ff) ist zum Erhalt eines Systems nicht nur dessen Zweckerfüllung (instrumentelle Variable) bedeutsam, sondern auch dessen Legitimation (expressive Variable). Dabei wird die Funktion der Legitimation nicht allein durch dessen Zweck erfüllt, »sondern durch sehr oft latent bleibende Aspekte des sozialen Verhaltens, durch symbolisch-expressives Handeln, das die Beteiligten in implizierte Rollen, die Nichtbeteiligten durch dramatische Darstellung des Verfahrens in seinen Sinn einbezieht und sie alle den Reduktionsprozess aktiv oder symbolisch vermittelt mit vollziehen lässt.« (ebd.: 224) In allen komplexen Sozialsystemen müssen beide Funktionen (Zweckerfüllung und Legitimation) zusammen erfüllt werden, »und zwar bei steigender Komplexität unter zunehmender Diskrepanz und verschärftem Leistungsdruck. Ihre Kombinierbarkeit wird somit ein kritisches Problem.« (ebd.: 227) Beide Funktionen können sich wechselseitig behindern (ebd.: 231) und bei einer Zunahme der Diskrepanz können schließlich auch strukturelle Veränderungen notwendig werden (vgl. ebd.: 228). Wendet man diese Überlegungen auf die Schule an, so fällt zunächst auf, dass die Diskrepanz zwischen Zweckerfüllung und Legitimation zusätzlich zu der von Luhmann genannten Zunahme der Komplexität auch durch einen gesellschaftlichen Wandel bezüglich der normativen Programmatik gesteigert wird: Die Ideale von Selbstbestimmung und Partizipation spielten beispielsweise in der deutschen Kaiserzeit noch keine derart tragende Rolle wie heute und kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, sie wären in der Schule zu verwirklichen. Diesen Wandel der Ideale hat die Schule in ihrer institutionellen Struktur jedoch nicht in der gleichen Weise vollzogen (z.B. gleichbleibend starre Hierarchie; AnwesenheitspÀicht; AufsichtspÀicht). Und auch heute zielen die Innovationsbestrebungen, wie das Beispiel der »Neuen Lernkultur« zeigt, weniger auf die Veränderung dieser institutionellen Strukturen (auf die »Makro-Methodik«, nach Schulze 1978: 41ff) als auf
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eine Veränderung der Meso- bzw. Mikro-Methodik (der Unterrichtsmethoden) ab, ohne dabei zu realisieren, dass beide Dimensionen der Methodik interdependent sind und eine Veränderung der Mikro-Methodik ohne eine entsprechende Veränderung der Makro-Methodik nur in ›zeremonieller Form‹ gelingen kann. Anstelle einer strukturellen Veränderung wird die Zunahme der Diskrepanz lediglich durch verstärkte Anstrengungen bezüglich der Legitimation mittels expressiver Formen (vgl. »zeremonielles Rollenspiel«) verarbeitet. Allerdings erweisen sich gerade diese Formen als für die anvisierte Zweckerfüllung (Programmatik) nicht nur hinderlich, sondern sogar kontraproduktiv (vgl. das Konterkarieren der Ideale, die zur Aufführung gebracht werden). Schließlich wird diese Form der zeremoniellen Bearbeitung der Diskrepanz auch noch institutionalisiert, indem Qualitätsentwicklungsmaßnahmen zum Einsatz kommen, die insbesondere auf die Perfektionierung der expressiven Variablen abzielen, wie z.B. die gängigen Formen der Evaluation (vgl. 7.2), Wettbewerbe und Rankings sowie der Einsatz der best-practice-Strategie. Anstelle an einer Verbesserung der Funktion der Zweckerfüllung der Institution Schule zu arbeiten, wird also insbesondere die Legitimation perfektioniert, sodass das Ungleichgewicht und damit die Diskrepanz zwischen beidem weiter zunimmt. Der Anspruch an die Akteure zur zeremoniellen Darstellung der Programmatik führt insbesondere in Bezug auf das Lehrpersonal zu starken Widersprüchen. So sind die Lehrenden nun beispielsweise in der Wahl ihrer Unterrichtsmethode nicht mehr allein der Logik des Lehrens179 (Zweckerfüllung) verpÀichtet, sondern gleichzeitig vermehrt der Aufführung einer normativen Programmatik (z.B. »Selbständigkeit«), was letztlich zu einer Einschränkung ihrer professionellen Autonomie führt: Wurde die Methodenfrage traditionellerweise dem pädagogischen Ermessen der Lehrer überlassen, so werden sie heute zur Ausführung eines Methodenrepertoires verpÀichtet, das der »Neuen Lernkultur« entspricht (vgl. Kap. 7.1.1 und Kap. 5.4.3). Gleichzeitig werden sie ihrerseits zur zeremoniellen Darstellung ihrer eigenen ›Autonomie‹ und ihrer ›Partizipationsmöglichkeiten‹ angehalten durch »engagierte Beteiligung« an paradoxen Formen der Mitwirkung bei der »Steuerung« der Schule (vgl. Kap. 7.1.2). Sie werden durch das Übergewicht der Legitimationsfunktion nicht nur zu ›Zeremonienmeistern‹, sondern werden selbst in derartige zeremonielle Verfahren involviert, wobei auch ihre Funktion als ›Zeremonienmeister‹ ein Teil dieses Zeremoniells ist (vgl. Kap. 5.6 und Kap. 6.1). 179 Mit der »Logik des Lehrens« ist hier eine umfassende ReÀexion aller für den Unterricht relevanten Dimensionen gemeint, wie sie dem aktuellen Stand der Didaktik entspricht.
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Das gleichzeitige Konterkarieren der Ideale inmitten der Vorführung der Ideale gerät für sie also in mehrfacher Hinsicht zu einer De-professionalisierung. Die oben skizzierte Tabuisierung der Rahmendifferenz zwischen der Sphäre in der Schule und jenseits der Schule und die damit in Zusammenhang stehende illusio zeigt sich noch in weiteren Bereichen: So erarbeiten beispielsweise wohlmeinende (Schul-) Pädagogen programmatische Entwürfe für die Schule (»Leitbilder«), von denen her Schule weiterentwickelt werden soll180, denen jedoch »ein Bild der Schule, in dem die Institution nicht vorkommt« (Oelkers 2005: 153) zugrunde liegt. So gleichen diese Entwürfe Luftschlössern, die nicht gebaut werden können, weil – um in der hier verwendeten Metapher zu bleiben – weder Statik noch Schwerkraft des realen Gebäudes berücksichtigt wurden. Aufgrund der »Institutionsblindheit«181 wird allerdings das Unvermögen, sie zu bauen, nicht den Entwürfen oder ihren Architekten, sondern den Akteuren in der Praxis (auf unterschiedlichen administrativen Ebenen) zugeschrieben. Außerdem scheint die Tabuisierung der Rahmendifferenz auch in Zusammenhang mit einer Tendenz zu totalen Identi¿zierungen zu stehen (vgl. Kap. 4.6). Dies zeigt sich beispielsweise in dem Verschwimmen der Grenzen zwischen Schülerrolle und Schülersein und in dem Anspruch des Zugriffs auf den ganzen Menschen (d.h. nicht nur auf den »Schüler«, sondern auch auf den »Jugendlichen«), die beispielsweise in den Leitzielen der Lehrer in Beispiel 2, Kap. 6.2, zum Ausdruck kamen oder in konzeptuellen Entwürfen entfaltet werden, die auf ein ›ganzheitlich‹ verstandenes ›Schüler-Sein‹ abzielen (z.B. Böhnisch 2008). Auch in den Wettbewerbsbeiträgen der Schüler bestätigte sich diese Tendenz in deren Wahrnehmung eines als übergrif¿g verstandenen Zugriffs, der durch Rückzug auf eine selbstkontrollierte Sphäre bearbeitet wurde. Damit ›verselbständigen‹ sich die ›Objekte‹ der zeremoniellen Selbständigkeitsrituale auf ihre eigene Weise (vgl. Kap. 4.6 und 6.4). Ein dem verwandtes Bearbeitungsmuster wurde auch in verschiedenen ethnogra¿schen Studien neueren Datums rekonstruiert: So stellt Georg Breidenstein fest, dass die Schüler geradezu auf die Differenz sozialer Identitäten insistieren und auf ihre Schülerrolle beharren (Breidenstein 2006: 136f) und Jutta Wiesemann beobachtet, wie die Schüler aktiv »zur Verschulung der Schule« (Wiesemann 2005: 33) beitragen. In der im vorangegangenen Kapitel (Kap. 7.1.2) erwähnten Studie Goffmans 180 Einige der neueren Schultheorien, die Wiater (2006) vorstellt, fallen unter diese Kategorie der »Leitbilder«. 181 Den Begriff der »Institutionsblindheit« brachte Fürstenau bereits 1969 in den schulpädagogischen Diskurs ein.
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(1973a) zur Situation des Personals in psychiatrischen Kliniken beschreibt er ein Muster, das ähnliche Züge aufweist wie das hier rekonstruierte und als Dekoration bezeichnete. Er zeigt, wie die Ärzte der Klinik ihren Dienst auf eine Weise ausführen, dass es den Anschein erweckt, es handle sich um eine Umsetzung des medizinischen Dienstleistungsmodells, während ihre ›Klienten‹ allerdings unfreiwillige Insassen in jener Anstalt sind: »Durch die Art der Terminologie, der Uniformen und der Formen der Anrede gibt sich die Anstalt selbst in jeder Hinsicht den Anschein der Dienstleistungsbeziehung.« (ebd.: 349) Detailliert beschreibt Goffman die unterschiedlichen Bearbeitungsweisen dieses RollenkonÀikts seitens der Ärzte sowie die Inszenierungsformen und die Public-Relations-Arbeit, durch die seitens der Anstalt der erwünschte Schein aufrechterhalten wird, und kommt zu dem Schluss: »In psychiatrischen Kliniken wird die Parodie auf die Dienstleistungsbeziehung institutionalisiert.« (ebd.: 351) Gerade in Bezug auf teilweise diffuse und ideologische Anpassungsformen, die er beobachtet, stellt er fest: Es ist als verursache das Dilemma der Dienstleistung eine wunde Stelle im sozialen System der Klinik und als würden intellektuelle Energien verausgabt, nur um eine Schutzschicht aus Worten, Glaubensinhalten und Emotionen um diesen wunden Punkt herum aufzubauen. Welche Ursachen auch immer dafür verantwortlich sein mögen – das daraus resultierende Glaubenssystem dient dazu, die De¿nition der Situation als einer ärztlichen Dienstleistung abzusichern und zu stabilisieren. (ebd.: 354f; H. v. A. B.) Es scheint, als wenn es auch in Bezug auf die Institution Schule eine derartige »wunde Stelle« gibt, die viele Energien absorbiert und ein zunehmendes Maß an zeremonieller Arbeit erfordert. Im Zentrum dieser wunden Stelle scheint insbesondere der Widerspruch zwischen der Heteronomie durch die (Zwangs-) Institution und dem pädagogisch erwünschten und gesellschaftlich befürworteten Maß an Autonomie und Selbstbestimmung zu stehen, das den Subjekten zu ihrer Entwicklung gewährt werden soll und das sich in der aktuellen Programmatik widerspiegelt.
7.2 Entwicklung einer praxeologischen Schulpädagogik Wie aus dem vorangegangenen Kapitel ersichtlich wird, besteht im Kontext einer normativ-programmatisch orientierten Schulpädagogik die Tendenz, die prinzipielle Differenz zwischen Programmatik und Alltagspraxis (vgl. Kap. 6) auszublenden und sie zugunsten propagierter Ideale (scheinbar) aufzulösen. Die reale, ungeschönte Alltagspraxis wird dann als eine Art Missgeschick (als »schmuddelig«)
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abgewertet (vgl. Storr 2006: 26182) und das Unvermögen, die ideale Praxis herzustellen, häu¿g den Akteuren zugeschrieben, die entweder schlecht ausgebildet, unmotiviert oder überfordert seien. Die die Praxis strukturierende Wirkmächtigkeit des Feldes der Schule gerät dadurch aus dem Blickfeld und es kommt zu jenem blinden Fleck, der im vorangegangenen Kapitel als illusio im Feld der Schule beschrieben wurde (Kap. 7.1.3). Durch die Tabuisierung der Rahmendifferenz zwischen der Sphäre im Raum der Schule und derjenigen jenseits der Schule wird die Bedeutung der institutionellen Rahmung negiert. In dieser einseitig subjektivistischen Sichtweise erscheinen die Akteure, insbesondere die Lehrer, quasi als autonom handelnde Personen im Feld der Institution Schule. In Hinblick auf eine derartige subjektivistische Sichtweise stellt Eckart Liebau fest: »Eine pädagogische Theorie, die ihre Vermitteltheit in den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang nicht bedenkt, bleibt illusionär und führt in die Irre.« (Liebau 1993: 252) Was Liebau hier für die Pädagogik im Allgemeinen feststellt, kann für die Schulpädagogik in entsprechender Weise adaptiert werden: Eine Schulpädagogik, die den institutionellen Kontext nicht berücksichtigt, in dem sich die Alltagspraxis der Akteure vollzieht, bleibt ebenso illusionär. Das Ausblenden der institutionellen Gestalt der Schule (vgl. Kap. 7.1.2), das sich im Kontext der Tabuisierung von Disziplinierung und restriktiver Hierarchie vollzieht, zugunsten der Fokussierung auf abstrakte, normative Ideale, führt letztlich zu einer Verschärfung dessen, was in der (Schul-) Pädagogik unter dem Topos des Theorie-Praxis-Problems diskutiert wird. Die immer wieder erneute Verwunderung über die Hilf- und Folgenlosigkeit pädagogischen Handelns, die auf Dauer gestellte Klage über das Mißlingen der pädagogischen Arbeit ist ein durchaus folgerichtiges Ergebnis dieser Abstraktionen. Vielleicht ist es ja gerade die permanente Bewegung im Normen-Himmel, die es der Pädagogik und den Pädagogen verunmöglicht, ihren Normen auf der sehr realen Gesellschafts-Erde zur praktischen Geltung zu verhelfen. (Liebau 1993: 259)
182 In ihrer rekonstruktiven Studie zum Referendariat stellt Birgit Storr fest: »Die Berufspraxis, der alltagspraktische Unterricht der Lehrer, unterscheidet sich also in de¿zitärer Weise vom normativ guten Unterricht. Bereits die Referendare, die erst seit kurzer Zeit das Referendariat absolvieren, erfahren, dass die alltägliche Berufspraxis etwas ist, zu dem sich die dienstälteren Lehrerkollegen nicht selbstbewusst bekennen. Die Referendare schreiben den älteren Kollegen zu, dass sie Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Handeln haben. Dies dokumentiert sich beispielsweise in Erzählungen darüber, dass die Kollegen die Referendare nicht unvorbereitet hospitieren lassen wollen, weil ihnen ihre Praxis ›peinlich‹ ist.« (Storr 2006: 26; H. v. A. B.)
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Und so entwickelt Liebau im Anschluss an Bourdieus praxeologische Perspektive eine Grundlegung für eine praxeologische Pädagogik, an der hier angeknüpft werden soll und die für die Schulpädagogik im Besonderen weiter gedacht werden soll. In einer praxeologischen Pädagogik kommen beide Pole, Subjekt und objektive Strukturen, in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander in den Blick: der »Zusammenhang zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Praxis und Struktur, zwischen Individuum und Gesellschaft« (ebd.: 253). Sie befasst sich »mit der Entwicklung von Subjektivität innerhalb objektiver Strukturen, mit Erkenntnis- und Entwicklungsprozessen innerhalb von Institutionen, mit der Auseinandersetzung von Subjekten mit der sie umgebenden Welt und ihrer eigenen Stellung und Bedeutung in ihr« (ebd.: 254). Damit wird sowohl einer einseitig objektivistischen Sicht, in der den Subjekten in einer Welt von objektiven Strukturen und Gesetzen lediglich die Rolle von ausführenden Organen zufällt, eine Absage erteilt, als auch der (oben beschriebenen) subjektivistischen Sicht, die die soziale Welt auf eine Welt von gleichsam autonomen Subjekten reduziert (ebd.). Durch die Überwindung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt ordnet sich auch die Beziehung zwischen Theorie und Praxis neu. Das Handeln wird nun nicht mehr, wie es beispielsweise in der Schulpädagogik weit verbreitet ist, als Verwirklichung von Theorien oder idealen Modellen betrachtet, so als könne es aus Gesetzen oder Regeln, die im Rahmen theoretischer Überlegungen entwickelt wurden, abgeleitet werden, sondern es wird nun als subjektive Aneignung der objektiven Strukturen gedeutet (vgl. Gebauer & Wulf 1993: 7). Der Handelnde wendet keine vorgegebenen Theorien an, sondern entwirft unter den Bedingungen eines spezi¿schen sozialen Feldes seine Antwort auf die Erfordernisse der jeweiligen Situation. Er orientiert sich dabei in seiner Handlungspraxis an einem Wissen über die Struktur der jeweiligen Situation, das vorreÀexiv ist und aus seinen Erfahrungen in dem Feld resultiert. Und so spiegelt sich umgekehrt die Struktur des Feldes auch wiederum in seiner Praxis und in seinem handlungsleitenden Wissen wider (vgl. dazu auch Kap. 2.1). Unter praxeologischer Perspektive wird dementsprechend die Handlungspraxis nicht mehr normativ bewertet, sondern als konstruktive Leistung des Handelnden in seinem Umfeld betrachtet. Unter dieser Perspektive ¿ndet keine Entmündigung des Schulpraktikers seitens (normativ orientierter) schulpädagogischer Wissenschaftler mehr statt und seine Handlungspraxis wird nicht mehr als eine de¿zitäre abgewertet, weil sie nun als ernst zu nehmende Antwort auf
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die Anforderungen der Situation verstanden wird. Anstelle dessen werden in der Handlungspraxis, als einer ›praktischen Antwort‹ auf die Situation, nun eher die ausgeblendeten, tabuisierten Strukturen des Feldes sichtbar, die vorher hinter dem (vermeintlichen) Unvermögen und Versagen der Praktiker verdeckt blieben. Ein derartiges Praxisverständnis im Anschluss an Bourdieu hätte weitreichende Folgen für die Schulpädagogik. Dies kann hier nur skizzenhaft für einige ausgewählte Bereiche angedeutet werden:
a) Schultheorie Fend hat in seiner »Neuen Theorie der Schule« (2006) versucht, die Akteursperspektive zu integrieren. Allerdings bleibt er letztlich dem strukturfunktionalen Paradigma verhaftet und die Teile, in denen er den Akteursbezug reÀektiert, bleiben letztlich unverbunden und wirken nicht nur aufgesetzt, sondern es entsteht gar der Eindruck einer Instrumentalisierung der Akteursperspektive zur besseren Steuerbarkeit von Schule (vgl. Kap. 7.1.2). Dadurch wird der Anspruch einer Integration der Akteursperspektive auf der Ebene des Gesamtentwurfs konterkariert. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn schultheoretische Überlegungen, im Sinne einer praxeologischen Schultheorie, an Bourdieus Habitus-Feld-Konzept anschließen und an dessen Verständnis der Praxis. Dadurch wird es möglich, dass nicht mehr nur der Erhalt und die Legitimation der Institution Schule einseitig in den Blick kommen, sondern in gleicher Weise das Handeln der Akteure im Feld der Schule, dessen Strukturen wiederum in deren Handeln sichtbar werden. So kann außerdem das interaktionistische Paradigma in einem makrosoziologischen Rahmen schultheoretisch fruchtbar gemacht werden (vgl. die Formulierung dieses Desiderats in: Brumlik & Holtappels 1987: 101), der die Institution als Ganzes sowie in ihren gesellschaftlichen Bezügen in den Blick nimmt, ohne dieses Paradigma gleichzeitig zu konterkarieren, wie dies im Theorieverbund mit strukturfunktionalen Ansätzen der Fall ist (z.B. bei Fend 2006 oder Wiater 2006), in denen letztlich der einseitige Sozialisationsbegriff des Strukturfunktionalismus die Theorie als Ganzes dominiert (vgl. Kap. 7.1.2).
b) Schulforschung Kooperation zwischen Schul- und Jugendforschung Georg Breidenstein (2006; 2004) beklagt, dass Schulforschung und Jugendforschung aktuell zwei weitgehend unverbundene Gebiete darstellen:
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Die Jugendforschung befasst sich mit Lebensstilen, biographischen Verläufen, kulturellen und politischen Orientierungen Jugendlicher, ohne sich besonders für Schule als konkrete und Raum einnehmende Lebenswelt Jugendlicher zu interessieren. Andererseits ist im Bereich der Schulforschung eine weitreichende Vernachlässigung der spezi¿schen Probleme des Jugendalters und der konkreten Ausformungen von Jugendkultur zu konstatieren. Die Schultheorie und -pädagogik arbeitet mit der ›Realabstraktion Schüler‹ (Helsper), die von allen jugendkulturellen Differenzierungen und Relevanzen absieht. (Breidenstein 2006: 12f) Während allerdings Breidenstein den Grund für diese Unverbundenheit in der Entfremdung zwischen Jugend und Schule sieht (ebd.: 13), könnte möglicherweise eine andere Ursache noch bedeutsamer sein: Die neuere Kinder- und Jugendforschung folgt dem Paradigma, Kinder und Jugendliche als kompetente Akteure zu betrachten, während diese im Kontext der Schulpädagogik primär als erziehungsund ›beschulungs‹-bedürftige Individuen erscheinen aufgrund der Dominanz eines stärker an Parsons als an Mead orientierten Sozialisationsverständnisses (vgl. Kap. 7.1.2; vgl. auch die in Kap. 7.3 zitierte Studie »LUGS«). Eine praxeologische Perspektive im Sinne Bourdieus könnte durch die Überwindung des Gegensatzes zwischen Subjekt und objektiven Strukturen die Chance bergen, diese paradigmatischen Differenzen zu überwinden.
Pädagogik des Performativen Die Forschungsperspektive auf das Performative, die sich in der Pädagogik in den letzten Jahren etabliert hat (Wulf & Zirfas 2007), eröffnet neue Möglichkeiten des empirisch-methodischen Zugangs zu den Handlungspraktiken der Akteure im Feld der Schule, der im Kontext einer praxeologischen Schulpädagogik fruchtbar werden könnte. Allerdings erscheint es dazu unabdingbar, dass dabei nicht nur »die Inszenierungs- und Aufführungspraktiken sozialen bzw. pädagogischen Handelns« (Wulf & Zirfas 2007: 10) im Fokus stehen, sondern eben gerade auch die diesen Aufführungspraktiken inhärenten Strukturen in den Blick genommen werden. Die Bedeutung der Herstellung der Aufführungen dürfte insbesondere im Blick auf die Ergebnisse der hier vorgelegten Studie (vgl. Kap. 6, insbes. das Muster des »zeremoniellen Rollenspiels«) einsichtig werden. Dementsprechend erscheint eine Differenzierung zwischen dem Darstellungsmodus und der Existenzweise und die Rekonstruktion ihrer Doppelstruktur, wie sie beispielsweise für die
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praxeologische Analyseeinstellung der dokumentarischen Methode charakteristisch ist (Bohnsack 2007a: 204), unverzichtbar. Organisationskultur aus praxeologischer Perspektive Anja Mensching (2008) hat im Kontext ihrer Studie zu organisationskulturellen Praktiken in der Organisation Polizei ein praxeologisches Konzept von Organisationskultur entwickelt und vorgestellt, an das eine praxeologische Schul (-kultur-) forschung anknüpfen könnte. Ein derartiges Verständnis von Organisationskultur nimmt diesem Begriff »das Mythische oder das Utopische (im Sinne einer wünschenswerten und damit herbeizuredenden Leitbildkultur)« (ebd.: 323) und bindet ihn an die gelebten Praktiken der Organisationsmitglieder. »Damit wird auch der Idee einer sog. corporate identity, die nicht über die Bezeichnung einer bloßen organisationalen Kosmetik hinausgeht, eine Absage erteilt.« (ebd.) Anstelle dessen kommen bei einer derartigen Perspektive gerade die unterschiedlichen Milieus, die innerhalb einer Organisation existieren, mit ihren je eigenen GepÀogenheiten und Handlungsroutinen in den Blick. »Kultur ist damit nicht als Idealvorstellung eifriger und omnipotenter Organisationsberater zu verstehen, die die Einheit der Organisation beschwören und daher den Kulturbegriff stets im Singular verwenden.« (ebd.) Aufgrund seines Kulturbegriffs könnte dieser Ansatz außerdem auch zu einer Korrektur der einseitig programmatisch-leitbildzentrierten Sicht auf die Organisation Schule beitragen, die sich insbesondere im Kontext der sog. »Schulentwicklung« weitgehend durchgesetzt hat.
c) Lehrerbildung Die Ausbildung der Lehramtsstudierenden und der Referendare orientiert sich bislang stark an normativen Idealen, Konzepten oder Modellen, die von der alltäglichen Handlungspraxis abheben, aber dabei trotzdem vielfach den Anspruch erheben, handlungsleitend wirksam werden zu können. Anhand einer Studie, die die praxeologische Analyseeinstellung der dokumentarischen Methode nutzt, soll verdeutlicht werden, welche Chancen in einer praxeologisch orientierten Schulpädagogik liegen können, in der die Handlungspraxis der Lehrer rekonstruiert, reÀektiert, aber nicht be- oder abgewertet wird: In ihrer bereits oben erwähnten Studie zum Referendariat (vgl. F 182) mit dem vielsagenden Titel »In der Lehrprobe da machst du `ne Show« rekonstruiert Birgit Storr (2006) zwei Modi des Unterrichtens, die sich bei den Referendaren ¿nden: einen praxisorientierten Unterrichtsstil und einen an der Regel orientierten
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Unterricht (Lehrprobenunterricht). Je weiter sie in ihrer Ausbildung fortschreiten, desto stärker nehmen die Referendare den Gegensatz zwischen diesen beiden Modi wahr. »Sie werden normativen Ansprüchen an idealen Unterricht im Rahmen der Lehrprobe gerecht, im Alltag unterrichten sie jedoch handlungspraktisch.« (ebd.: 45) Dabei grenzen sie sich als Praktiker von den Theoretikern ab, »die die Regel vorgeben, die es aber nicht vermögen, Hilfestellungen für die Praxis zu geben, weil sie nicht wissen, worauf es in dieser ankommt« (ebd.). Die Ideale, an denen sich die Ausbildung der Lehrer orientiert, werden also von einer Berufsgruppe aufgestellt, die selbst keinen unmittelbar verstehenden Zugang (im Sinne Mannheims) zur Praxis der Lehrer hat. Trotzdem wird die Praxis der Referendare (und auch die der Lehrer) an deren Maßstäben gemessen und bewertet. »Der Unterricht ist schlecht, egal wie gut er aus der Perspektive des Praktikers ist, wenn die Maßstäbe, die in der Lehrprobe an guten Unterricht herangetragen werden, nicht erfüllt werden.« (ebd.: 41) Dementsprechend entwickelt sich bei den Praktikern eine Art Scham über ihre (von anderen) »schlecht gemachte« Praxis und eine Abschottung dieser Praxis vor den Augen anderer, was wiederum häu¿g als mangelnde Kooperationsbereitschaft und als übersteigerter Hang zum Lehrerindividualismus interpretiert wird (vgl. ebd.: 85ff, 110f; vgl. auch Kap. 5.4.3). Dieser Zusammenhang kommt in einer normativ orientierten Schulpädagogik nicht in den Blick – im Gegenteil: Phänomen und Folgen werden den Praktikern zusätzlich als de¿zitäres, unprofessionelles Verhalten zugeschrieben.
d) Evaluation Die aktuell gängigen Formen externer Evaluation von Schulen zielen nicht (in einem praxeologischen Sinne) auf die Handlungspraxis der evaluierten Akteure ab, sondern es zeigt sich stattdessen die oben beschriebene Tendenz, die Praxis an exterioren Maßstäben, Kriterien und Idealen zu bewerten (vgl. z.B. Ohrnberger 2007, für Bayern). Aus einer subjektivistischen Perspektive werden die Akteure als jenseits von strukturellen Begrenzungen handelnde Personen betrachtet, die dementsprechend auch weitgehend alleine verantwortlich gemacht werden für die gelingende oder misslingende Umsetzung der Ideale, während die Genese ihrer Praxis im Feld der Schule unberücksichtigt bleibt. Eine derartige Evaluation fordert eher eine zeremonielle Bearbeitung der Diskrepanz zwischen Maßstäben und Alltagspraxis heraus als dass sie zu einer tatsächlichen Verbesserung der Praxis in Richtung auf die angestrebten Ideale hin führen würde. Ein Gegenbild zu dieser Art der Evaluation stellt die Evaluationspraxis an ¿nnischen Schulen dar, von der Hermann-Josef Abs
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berichtet (Abs 2003): Dort sind es nicht die Lehrer, die evaluiert werden, sondern sie sind diejenigen, die ihre Arbeitsbedingungen evaluieren und zu deren Verbesserung anregen (ebd.: 234183). Hier zeigt sich eine eher objektivistische Perspektive. Im Rahmen einer praxeologischen Schulpädagogik wäre es allerdings wünschenswert, beide Perspektiven miteinander zu verbinden und Formen der Evaluation zu etablieren, in denen die Handlungspraxis der Akteure sowohl als Ausdruck der eigenen Professionalität als auch als Spiegel der institutionellen Strukturen in den Blick kommt im Sinne einer subjektiven Aneignung der objektiven Strukturen. An die Stelle einer Bewertung (und einer aufgrund des ideellen Charakters der Maßstäbe zwangsläu¿gen Abwertung) dieser Handlungspraxis könnte dann deren wertschätzende ReÀexion treten. Auf der Basis eines gemeinsamen Interesses an der Verbesserung der Praxis für alle Beteiligten, in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Prozess, würden die Praktiker vor Ort dann als Kooperationspartner betrachtet werden, die ihrerseits an der Evaluation der ihnen administrativ übergeordneten Ebenen beteiligt werden könnten. Derartige Ansätze werden aktuell insbesondere im Kontext qualitativer Evaluationsforschung diskutiert und reÀektiert (z. B. Bohnsack 2006b).
7.3 Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden? Auf der Basis der aus den Wettbewerbsbeiträgen (vgl. Kap. 1) gewonnenen Ergebnisse soll nun abschließend noch einmal die Themenfrage des Wettbewerbs aufgegriffen und weitergedacht werden. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet dabei die ›Diagnose‹, die in Kap. 7.1.3 aus dem rekonstruierten Muster der Dekoration (Kap. 6.1) entwickelt wurde, nämlich, dass in der Praxis der Dekoration der Institution Schule ein erhöhter Bedarf an »zeremonieller Arbeit« (Luhmann) sichtbar wird. Diese Zunahme der expressiven Seite der Legitimation (vgl. Kap. 7.1.3) lässt auf einen Legitimationsbedarf (und damit gleichzeitig auf einen Legitimationsverlust) schließen, der nicht mehr durch die Zweckerfüllung der Institution Schule an sich in ausreichender Weise gedeckt werden kann. Dabei ist, wie das Muster der Dekoration zeigt, die Diskrepanz zwischen Zweckerfüllung und Legitimation der Institution Schule inzwischen so weit fortgeschritten, 183 »Eine formale Evaluation einzelner Lehrerinnen und Lehrer während ihrer Berufstätigkeit ist nicht Teil der ›¿nnischen pädagogischen Kultur‹, wie es in der ¿nnischen Länderstudie heißt. Evaluationsstudien richten sich stattdessen auf die Arbeitsbedingungen von Lehrern und ihre Fortbildungswünsche.« (Abs 2003: 234)
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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dass sich diese beiden Funktionen nicht nur behindern, sondern dass die Zweckerfüllung von den zeremoniellen legitimatorischen Anstrengungen teilweise sogar konterkariert wird (vgl. Kap. 7.1.3). Aufgrund dieser Widersprüche scheint eine strukturelle Veränderung (vgl. Luhmann 1983: 228; Kap. 7.1.3) der Institution Schule notwendig zu werden, um sie vor dem Abgleiten in die Dysfunktionalität zu bewahren. Aus dieser Perspektive müsste die Themenfrage »Muss die Institution Schule grundlegend verändert werden?« mit einem Ja beantwortet werden. Weit schwieriger ist allerdings die Frage zu klären, an welcher Stelle sie verändert werden sollte, wie diese Veränderung aussehen könnte und wie sie sich vollziehen könnte. Naheliegend wäre es, an eben der »wunden Stelle« anzusetzen, um die herum sich die Dekoration in besonderer Weise rankt (vgl. Kap. 7.1.3): an dem sich offensichtlich vergrößernden Widerspruch zwischen der restriktiven Heteronomie, die aus der institutionellen Gestalt der Schule entspringt, und dem Maß an Autonomie und Selbstbestimmung, das in unserer heutigen Gesellschaft als förderlich erachtet wird und in der entsprechenden Programmatik seinen Niederschlag ¿ndet. Es zeigte sich, dass der Versuch, diesen Widerspruch dadurch aufzulösen, dass Formen autonomen, selbstbestimmten Lernens in den fremdbestimmten Rahmen der Schule eingefügt werden, zu Paradoxien und zeremoniellen Scheinlösungen führt (vgl. Kap. 6 und 7.1.3). Die Diskrepanz zwischen Idealen und Alltagspraxis wird auf diese Weise eher vergrößert als verringert. Die Kluft, die sich hier auftut, lässt sich nur durch eine Annäherung von beidem überbrücken: indem entweder die angestrebten Ideale zurückgeschraubt werden oder indem die Heteronomie seitens der Institution Schule reduziert wird in Richtung auf mehr tatsächliche, ›unkontrollierte‹ Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten (vgl. das Muster der »kontrollierten Autonomie«; Kap. 4.6 und Kap. 6) und den Jugendlichen mehr echte Selbständigkeit und Eigenverantwortung zugestanden wird. In letzterem Fall würde das (die Zweckerfüllung behindernde) Übermaß an (legitimierender) Dekoration überÀüssig werden. Dies weist darauf hin, dass es im Grunde insbesondere letzterer Weg wäre, der das Dilemma entschärfen könnte. Um diese beiden hier genannten Möglichkeiten noch weiter präzisieren zu können, sollen zunächst einige aktuelle Entwicklungstendenzen in den Blick genommen werden: Für die letzten Jahrzehnte lassen sich in Bezug auf die Schule zwei einander gegenläu¿ge Tendenzen beobachten, die sich in gewisser Weise gegenseitig zu bedingen scheinen. Die eine Tendenz besteht in einer Funktionsanreicherung (oder – je nach Perspektive – einer Funktionsüberfrachtung) der Schule: zusätzlich zum ursprünglichen Kerngeschäft der Schule, der Bildung, gewinnen erzieherische,
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Kapitel 7
sozialpädagogische und – im letzten Jahrzehnt insbesondere – kustodiale Aufgaben an Bedeutung. Die andere Tendenz besteht in einem Funktionsverlust der Schule. Zahlreiche Studien, insbesondere aus dem Bereich der Jugendforschung, weisen auf einen Exodus des Lernens aus der Schule hin. Dazu einige Befunde: Jugendliche erwerben die ihnen entweder als bedeutsam erscheinenden Lerninhalte oder die zum Erreichen der schulischen Zerti¿kate notwendigen Quali¿kationen zunehmend außerhalb der Schule in institutionalisierter oder nichtinstitutionalisierter Form (Fölling-Albers 2000: 123ff). Dabei kalkulieren sie sehr genau, welche (zeitlichen und ¿nanziellen) Investitionen sich für schulische und außerschulische Bildung lohnen. »Wenn der Lernstoff in der Schule langweilig ist und /oder unverständlich bleibt, ›erkauft‹ man sich das für die Versetzung erforderliche Wissen durch die ef¿zientere Nachhilfe oder komprimierter mit Hilfe elektronischer Medien.« (ebd.: 130) Mehr als die Hälfte (52,3%) der Befragten einer repräsentativen Studie zum Wissenserwerb über das Internet beziehen ihr Wissen, das sie über das Internet besitzen, nicht aus der Schule, sondern aus anderen Quellen (Marotzki 2001: 296). Infolge der neuen Informationstechnologien zeichnet sich außerdem ein weiter zunehmender Verlust des ehemaligen Wissensmonopols der Schule ab (ebd.: 297). »Schule – reizt man diese Perspektive aus – gerät unter Legitimationsdruck und muss sehen, dass sie nicht nur ein Ort für schulsozialarbeiterische Aktivitäten wird und das Lernen und der Aufbau von Quali¿kation immer mehr an außerschulischen Orten statt¿ndet.« (ebd.) Der Forschungsbericht des Projekts »Jugendliche in neuen Lernwelten – selbstgesteuerte Bildung jenseits institutionalisierter Quali¿zierung« gibt Auskunft über die große Vielfalt von Lernprozessen, die sich jenseits der Schule im Sport, beim Nebenjob, bei musikalischen Aktivitäten oder im Kontext der Informationstechnik vollziehen, und über deren Bedeutsamkeit für die Bildung der Heranwachsenden (Wahler, Tully & Preiß 2004). In Bezug auf die Schule kommen die Autoren zu folgendem Ergebnis: »Die Schule markiert im Bewusstsein der Jugendlichen den Gegenpol zur Lebenswelt und ihren Lernmöglichkeiten. Für sie ist sie eher Anlass und Gelegenheit zur PÀege sozialer Kontakte als relevante Bildungsinstitution und ihr Stellenwert resultiert weitgehend aus den Zerti¿katen, weniger aus der Bedeutung der von ihr veranstalteten Lernprozesse.« (ebd.: 201) Immer »häu¿ger erleben Jugendliche die lebensalltägliche Praxis erweiterter Handlungs- und Entscheidungsautonomie als Diskrepanz zur Institution Schule.« (ebd.: 205) Die vielfältigen Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs Jugendlicher jenseits institutionalisierten Lernens werden auch im Forschungsprojekt »Informelle Lern-
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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prozesse im Jugendalter in Settings des freiwilligen Engagements« thematisiert. Als Ergebnis zeigt sich: »Neben der Möglichkeit personale, soziale, fachliche und organisatorische Kompetenzen zu erwerben oder zu erweitern, scheint eine freiwillige Verantwortungsübernahme vielfältige Chancen der Persönlichkeitsentwicklung, der biogra¿schen Orientierung, der Sinnstiftung sowie der Teilhabe an der Erwachsenenwelt zu eröffnen.« (Düx & Sass 2005: 394) Diesem liberalisierten Lernen steht gleichzeitig eine Bewegung zur Domestizierung des liberalisierten Lernens gegenüber, indem dieses dem EinÀussbereich und der Verfügungsgewalt der Schule einverleibt wird. Diese Bewegung zeigt sich am deutlichsten in der aktuellen Entwicklung zum Àächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen (Kolbe et al. 2009: 11). So wird an den von Kolbe et al. (2009) im Kontext des Forschungsprojekts LUGS (»Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen«) rekonstruierten symbolischen Kontruktionen der Akteure neuer Ganztagsschulen sichtbar, dass es für diese bei der Einführung von Ganztagsschulen nicht nur um eine zeitliche Expansion der Schule geht, sondern insbesondere um eine Ausdehnung des EinÀussbereichs und der Verfügungsgewalt der Schule in das Privatleben (in Familie und Freizeit hinein) und in die persönliche Sphäre ihrer Klientel (Zugriff auf den ganzen Menschen). Dabei identi¿zieren die Forscher eine Grenzverschiebung in Bezug auf die Schule in dreifacher Hinsicht: Zum einen (1.) wird die Grenze »zwischen privater und öffentlicher Sphäre in Frage gestellt, wenn von einer Öffnungsbewegung der Schule gegenüber der Familie, von einer Familiarisierung der Schule die Rede ist« (ebd.: 155). Die zweite Grenzverschiebung (2.) betrifft die »Differenz von Künstlichkeit und Authentizität« (ebd.): So wird »ein schulisches Lernarrangement entworfen und diskursiv legitimiert, in dem die informellen Lernpotenziale der Freizeit systematisch zur Geltung gebracht werden sollen, um so dem schulischen Unterricht durch Informalisierung des Lernens seine Künstlichkeit zu nehmen« (ebd.). Und schließlich wird (3.) die »Unterscheidung zwischen Person und Rolle« (ebd.) aufgehoben: In den Konstruktionen der Professionellen lässt möglicherweise die phantasierte, emotionale Nähe zwischen Schule, Lehrkräften auf der einen und Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite, ihre diffuser werdenden Beziehungen die Grenzen zwischen einem Außen, spezi¿schen Anforderungen, und einem demgegenüber abzugrenzenden bzw. abgegrenzten Innenraum verschwimmen. Das Schülersein wird nun projektiert als umfassende Lebensform, nicht als rollenbasierte Teilinklusion in eine Institution, sondern als Form einer personalen Pädagogisierung. (ebd.: 155f)
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Diese (Re-) Konstruktionen deuten die Forschenden als Indikatoren für einen »schultheoretischen Revisionsbedarf« (ebd.: 157): Mit einem solchen Verständnis könnte möglicherweise die analytische Kraft des Konzeptes der Schülerrolle selbst (…) fragwürdig werden und es könnte sinnvoll erscheinen, dieses zu verändern in Richtung auf den Entwurf der Subjektposition eines universalisierten Lerners in ausgeweiteter pädagogischer Kommunikation. (Kolbe & Reh 2009: 240) Die »Grenzverschiebungen ›nach außen‹ und zugleich ›nach innen‹« (ebd.: 241) werden darüber hinaus – systemtheoretisch argumentierend – als weitere Ausdifferenzierung verstanden, die zu einem Wandel der Subjektgenese führt: Teil dieser Ausdifferenzierung ist eine stärkere ›Individualisierung‹ im Sinne der Produktion neuer Formen von Selbständigkeit. (…) Hervorgebracht wird das Subjekt in fortschreitend spannungsreichen Subjektivationsprozessen, in denen durch Aneignung kultureller Schemata, z.B. verschiedener schulischer Praktiken der Selbstbeobachtung, zunehmend mehr ›innere Instanzen‹ der Selbstgestaltung entstehen. (ebd.) Interessant ist, dass in jener Studie zur Ganztagsschule bezüglich der Grenzverhältnisse ähnliche Dimensionen rekonstruiert wurden wie in der hier vorliegenden (private vs. öffentliche Sphäre; Künstlichkeit vs. Authentizität; Person vs. Rolle). Das Verschwimmen der Grenzen, das hier als Diffusion der Grenzen und als Tabuisierung der Rahmendifferenz zwischen der Schule und der Sphäre jenseits der Schule identi¿ziert wurde (Kap. 6 und 7.1.3), wird allerdings in jener Studie positiv als »Grenzverschiebungen« (Kolbe et al. 2009: 223ff) interpretiert. Dabei fällt jedoch gleichzeitig auf, dass in jener Studie nur die professionellen Erwachsenen als »Ganztagsschul-Akteure« (ebd.: 239) gelten, dagegen die Kinder oder Jugendlichen an keiner Stelle selbst zu Wort kommen und deren Perspektive auch nicht rekonstruiert wird. Dabei ist es in der hier vorgelegten Studie gerade diese Personengruppe, die derartige Grenzverschiebungstendenzen als übergrif¿ge Zumutungen erscheinen lässt (Kap. 4.6 und 6.4). Die »Subjektposition eines universalisierten Lerners in ausgeweiteter pädagogischer Kommunikation« (s.o.; H. v. A. B) erscheint aus der Perspektive der Jugendlichen eher als eine totalisierende Form der Fremdbestimmung. Auffällig ist dabei auch die Umdeutung der Fremdbestimmung – und zwar sowohl seitens der schulgestaltenden Akteure (der professionellen Erwachsenen in der Praxis) als auch der schulpädagogischen Wissenschaftler (der Autoren jener Studie). Damit bestätigt sich die hier entwickelte These einer illusio, die im
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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Verkennen der Rahmendifferenz den Institutionscharakter der Schule mit seinen ›notorischen Zumutungen‹ (den »Ernstfall Schule«) ausblendet (vgl. Kap. 7.1.3). Und es bestätigt sich auch, dass diese illusio auf unterschiedlichen Akteurs-Ebenen (Praktiker und Wissenschaftler) wirksam ist. Die Fremdrahmung der (nicht thematisierten) Perspektive der Jugendlichen, die bereits in der Anlage der Studie (nur Erwachsene gelten als »Akteure«) und den sich daran anschließenden schultheoretischen Überlegungen sichtbar wird, setzt sich in den Zuschreibungen fort, die sich in den Konstruktionen der Professionellen zeigen: Die Schüler werden darin als de¿zitär und erziehungsbedürftig dargestellt. Dabei erscheint der folgende Befund, der dort referiert wird, bemerkenswert: Diese De¿zitkonstruktionen haben gemeinsam, keine kognitiven Schwächen und Leistungsde¿zite der Schüler zu benennen, sondern falsche oder fehlende Verhaltensweisen und Haltungen von Schülern, wie z.B. fehlende motivationale und soziale Voraussetzungen schulischem Lernens in den Mittelpunkt zu stellen. Die Ganztagsschule wird in diesem Fällen legitimiert mit den gegenüber der Halbtagsschule anderen oder erweiterten Möglichkeiten, die Schüler zu erziehen und ›Schul- und Arbeitsfähigkeit‹ mit erzieherischen Mitteln herzustellen. (Kolbe & Rabenstein 2009: 195f; H. v. A. B.; Fehler i. O.). Dem oben beschriebenen Exodus des Lernens und dem daraus resultierenden Funktionsverlust der Schule steht also eine Expansionstendenz der Schule gegenüber, die die außerschulischen Lernräume zurückzudrängen bzw. sich einzuverleiben sucht, wobei dies jedoch paradoxerweise nicht primär mit dem Verweis auf das Lernen, sondern mit der Fokussierung auf Erziehung legitimiert wird. Als Gegenpol zum Exodus des Lernens, zur (insbesondere seitens der Jugendforschung diagnostizierten) Entfremdung der Jugendlichen von der Schule und zum drohenden Funktionsverlust der Schule zeigt sich also eine Ausrichtung auf die Jugendlichen als ganze Personen und auf deren Lebenswelt jenseits der Schule (vgl. z.B. Böhnisch 2008). Im (tabuisierten) Rahmen des restriktiven Charakters der Institution in Form des Distanzierungsverbots (SchulpÀicht) und der Disziplinierung durch einen »pausenlos funktionierenden Prüfungs«- und Verteilungsapparat (Foucault, 1977: 240) gerät diese gesteigerte Form der Zuwendung jedoch letztlich zu einer Steigerung der Heteronomie, die allerdings (durch die Tabuisierung des Rahmens) latent bleibt, vordergründig freundliche Formen annimmt und gerade dadurch die Betroffenen umso stärker bindet. Stellt man nun die beiden oben skizzierten Tendenzen einer Funktionsanreicherung und eines Funktionsverlusts der Schule einander gegenüber, so zeichnet
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Kapitel 7
sich eine Entwicklungslinie ab von der Schule als Bildungsanstalt hin zu einer Bildungs- und Erziehungsanstalt und schließlich weiter zu einer ›Erziehungsanstalt‹. Und so drängt sich zum einen die Frage auf, ob unsere gegenwärtige Gesellschaft tatsächlich eine derartige Anstalt will und braucht und zum anderen, ob die Institution Schule, die aufgrund der »Massierung von hunderten von Kindern unter der Obhut etlicher Berufspädagogen ein ganz und gar arti¿zielles und für das Aufwachsen fragwürdiges Gebilde ist« (Flitner 1996: 172), tatsächlich der geeignete Ort für ein derartiges Vorhaben ist. Vielleicht rührt aus der Schwierigkeit, eine derartige Einrichtung plausibel zu legitimieren, die Anfälligkeit für pathetische und idealistisch überhöhte Topoi wie dem (etwas älteren) der »humanen Schule« oder (dem aktuellen) der »Schule als Lebens- und Erfahrungsraum« oder gar des »Zipfels der besseren Welt« (von der Groeben 1991). Hartmut von Hentig hat sich seinerzeit mit dem Topos der »humanen Schule« auseinandergesetzt und stellte unter den »humanen Eigenschaften« (Hentig 1976/1987: 10) der Schule (»gerecht, freundlich, kind- und altersgemäß, angstfrei, interessant …« (ebd.)) eine besonders heraus: Unter ihnen [den Eigenschaften] habe ich eine ausgelassen, die die anderen alle gefährdet und ohne die die Unmenschlichkeit geradezu programmiert wird: die Ehrlichkeit. Was in der Tat haben wir, wenn die Schule (mit dieser Abstraktion meine ich die Personen, die aus der Schule ihren Beruf gemacht haben: die Lehrer, die Lehrerbildner, die Schulverwaltungen) nicht weiß und eingesteht, • daß sie allen schönen Absichten und Bezeichnungen zum Trotz (›Erfahrungsraum‹ / ›Lerngemeinschaft‹ / ›Kinder- und Jugendkollektiv‹ / ›a place for kids to grow up in‹ etc.) eine Schule bleibt, ein Ort, an dem Kinder den Absichten der Erwachsenen gefügig und mit deren Erkenntnissen, Einrichtungen, Wertungen vertraut gemacht werden • daß Schule eine unvermeidliche Maßnahme zur Unterbringung eines immer größeren Teils der Bevölkerung ist, der im Arbeitsprozeß keinen Platz ¿ndet • daß sie eine Vorauslese trifft für die entscheidenden Funktionen in der Gesellschaft (….) Mit einem solchen ehrlichen Eingeständnis würde die Schule ihre Freundlichkeit, ihre Angstfreiheit, ihre Interessantheit, ihre Nützlichkeit wieder zerstören. Ohne dieses Eingeständnis wird sie zum Betrug und damit in einem radikaleren Sinn inhuman. (Hentig 1976/1987: 10ff) Der Topos der »humanen Schule« wurde inzwischen vom Topos des »Lebens- und Erfahrungsraums« abgelöst, der (Ironie des Schicksals?) auf von Hentig selbst
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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zurückgeht (vgl. Kap. 7.1.1). Inzwischen gibt es kaum ein Schulleitbild mehr, das ohne diesen auskommt. Trotzdem bleibt die Schule in ihrer jetzigen Gestalt eine Institution bzw. eine Organisation, die – wie andere auch – nicht ohne ein gewisses Maß an Zumutungen für die Personen, die an sie gebunden sind, auskommt. Im Falle der Schule verschärfen sich die Zumutungen dadurch, dass die Klientel dieser Institution nicht freiwillig darüber entscheiden kann, ob sie sich in dieser Institution aufhalten will oder nicht. Darüber hinaus werden die Betroffenen in Strukturen eingefädelt und in Verteilungsmechanismen involviert, über die sie ebenfalls nur sehr begrenzt selbst entscheiden können und denen sie sich nicht entziehen können. Pathetisch idealisierende Begriffe wie die oben genannten verstellen den Blick auf das tatsächliche Ausmaß der Heteronomie und auf die tatsächliche Ernstsituation, mit der die Betroffenen in dieser Institution konfrontiert sind. Wenn sie nun auch noch zur Legitimation dafür werden, auf den ›ganzen‹ Menschen und seine Lebenswelt zugreifen zu können und ihn vollständig zu umfangen, wie sich dies beispielsweise beim Topos des Lebens- und Erfahrungsraums anbietet, dann besteht die Gefahr einer Potenzierung der Heteronomie, selbst wenn diese Bestrebungen in einem freundlichen Gewand und in guter Absicht daherkommen. Zu Beginn dieses Kapitels wurden zwei Möglichkeiten angesprochen, den Widerspruch zu entschärfen, der als »wunde Stelle« der Institution Schule identi¿ziert wurde. Diesen beiden Möglichkeiten soll nun, im Anschluss an die eben angestellten Überlegungen, weiter nachgegangen werden. Die erste Möglichkeit würde darin bestehen, nach Wegen zu suchen, das Ausmaß der Heteronomie, die durch die institutionelle Gestalt der Schule erzeugt wird, zu reduzieren. Kompetenzen (im Sinne von »Befähigungen«) können schließlich nur dort erworben werden, wo jemandem auch die entsprechenden Kompetenzen (im Sinne von »Befugnissen«) zuerkannt werden.184 Vergleicht man jedoch die heutigen Jugendlichen mit ihren Altersgenossen früherer Generationen, so fällt gerade diesbezüglich eine sehr widersprüchliche Entwicklung auf: Während die Jugendlichen heute in biologischer185 und juristischer186 Hinsicht das Erwachsenenalter früher erreichen, bleiben sie dementgegen durch die Expansion der Schule deutlich länger 184 Auf diese Doppelbedeutung des Kompetenzbegriffs macht Liebau im Anschluss an Bourdieu (Liebau 1987: 134 f und dort F80; Liebau 1993: 267) aufmerksam. 185 »Einerseits reift der Mensch früher biologisch zum Erwachsenen heran, andererseits wird er immer später zum Erwachsenen, der die volle Verantwortung für die Aufgaben in Familie und Arbeitswelt übernimmt. Die Kluft zwischen biologischem und sozialem Erwachsensein wird größer.« (Oerter & Dreher 1998: 335) 186 Die Volljährigkeit wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt.
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Kapitel 7
einem Stadium der Unmündigkeit verhaftet als frühere Generationen. So beklagt beispielsweise ein Neunt-Klässler einer Hauptschule (dessen Altersgenossen noch Anfang der 1960er Jahre die Schule bereits hinter sich gelassen hatten187 und mit realen, anstelle von künstlich inszenierten Herausforderungen konfrontiert wurden) in einem Wettbewerbsbeitrag, dass seine Schule wie ein Kindergarten ausschaut und er würde sich wünschen dass die Schule nicht so bunte Farben hat. Und andere seiner Altersgenossen ¿nden: Die Lehrer sollten uns zumindest in der 9. Klasse wie Erwachsene behandeln, z.B. auch von der Turnhalle direkt heimgehen lassen. Aber anstelle einer Ausweitung der Kompetenzen (im Sinne von Befugnissen) werden derzeit im Rahmen einer kontrollierten Autonomie eher ›Als-Ob-Kompetenzen‹ trainiert (vgl. Kap. 7.1.1), was wie eine Art Sandkastenspiele in einem Kindergarten höherer Ordnung anmutet.188 Dabei tritt an die Stelle von naturwüchsigen Begegnungen zwischen den Generationen immer häu¿ger die Begegnung der Jugendlichen mit professionellen Betreuern (Lehrern, Sozialpädagogen etc.). Informelle, urwüchsige Begegnungen zwischen den Generationen (ohne Distanzierungsverbot und AufsichtspÀicht, ohne professionell verpÀichtete pädagogische Intentionalität etc.) werden dadurch immer weiter zurückgedrängt und verstärken damit eine Isolation der Generationen. Anstelle einer Fortführung dieser Trennung der Generationen und einer weiteren Infantilisierung der Jugendlichen, wie sie beispielsweise die Vision einer Ausweitung von »Treibhäusern der Zukunft«189 zum Ausdruck bringt, 187 Noch Anfang der 1960er Jahre verließen 75–80% eines Altersjahrgangs die Schule bereits nach der 8. Klasse (Baumert, Cortina & Leschinsky 2003: 55). 188 Zur Entwicklung »sozialer Kompetenzen« und sog. »sozialem Lernen« in der Schule nehmen Oevermann und von Hentig folgendermaßen Stellung: »Mein Einwand kommt aus der Erfahrung, wie trivial und künstlich die sozialen Lernprozesse einer Schulklasse sind – eine Nabelschau. Wir wissen das doch aus der jahrzehntelangen Mühe um eine funktionierende Schülermitverwaltung. Schule ist ein Aufbewahrungsort. Ernstzunehmende Aufgaben entstehen nur, wenn man diesen einreißt und hohe Risiken eingeht, zu denen heute niemand freiwillig bereit ist.« (Hentig 1987: 85) Die Provokation, die die Schüler dazu führt »›wider den pädagogischen Stachel zu löcken‹ … wird seinerseits noch einmal gesteigert, wenn z.B. das ›soziale Lernen‹, das doch eigentlich der Sache selbst naturwüchsig folgen sollte, wo es von ihr her ihrer Natur nach erforderlich und funktional ist, durch eigene Maßnahmen als ›Ergänzung‹ oder ›Zutat‹ inszeniert wird, z.B. dann, wenn Gruppenarbeit angesagt ist, wo es aus der anzueignenden Sache selbst gar nicht organisch hervorgeht. Erst recht liegt eine solche Steigerung vor, wo soziale, moralische oder lebenspraktische Haltungen und Praktiken curricularisiert werden, die sich eigentlich gar nicht curricularisieren lassen, so selbstverständlich sind sie und so zwingend ergeben sie sich aus der Sache selbst.« (Oevermann 2003: 80) 189 Reinhard Kahl (2004) wählt diesen Titel für seine Filmdokumentation über innovative Schulen, die er als richtungsweisend einschätzt.
Das Muster der Dekoration in seiner Relevanz für Schule
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in denen die Jugendlichen immer aufwändiger aufbewahrt und gezogen werden, wären deshalb eher Überlegungen wünschenswert, wie eine naturwüchsige Teilhabe (als ›Freilandgewächse‹) der nachwachsenden Generation an der Gesellschaft aussehen könnte, in der sie ihrem Alter entsprechende Kompetenzen zuerkannt bekämen und daran (ohne degradierende Gängelung oder Selbständigkeits-Zeremonien) jene Kompetenzen, die sie und die Gesellschaft brauchen, ausbilden können. Anstelle einer weiteren Expansion der Verschulung des Jugendalters durch eine vereinnahmende Pädagogisierung des ›ganzen‹ Menschen und einer »Curricularisierung« von Kompetenzen (Oevermann 2003: 80f; vgl. F 188) erscheint vielmehr eine Expansion tatsächlicher Entscheidungskompetenzen erstrebenswert, die durch eine Reduktion von Beschulungs- und Verteilungszwängen bei gleichzeitiger Ausweitung des Wahlspektrums und zusätzlicher Bildungsangebote unterstützt werden könnte. Nicht nur der Aufwand für zeremonielle Arbeit könnte sich dadurch wieder auf ein verträgliches Maß190 beschränken, sondern auch die Beziehungsstruktur zwischen Lehrern und Schülern würde sich durch eine derartige Umstrukturierung des institutionellen Rahmens grundlegend verändern (vgl. Oevermann 2003; vgl. Kap. 7.1.2). Die zweite der beiden Möglichkeiten, den eingangs benannten Widerspruch zu entschärfen, würde darin bestehen, auf das Pathos hehrer Ideale zu verzichten und sich um eine nüchterne Einschätzung der Chancen und Grenzen in Bezug auf die Wirksamkeit der Institution Schule zu bemühen. Professionalität erweist sich schließlich nicht darin, alles (scheinbar) möglich machen zu können, sondern seine Grenzen realistisch einschätzen zu können (vgl. Glöckel 1998) und die Grenzen anderer dabei zu respektieren. An dem in dieser Studie rekonstruierten Muster der Dekoration wird deutlich, dass die Praxis umso anfälliger wird für illusionäre, ideologische oder gar grenzverletzende Scheinlösungen und Selbstbetrug, je mehr Pathos im Spiel ist, je größer die Versprechungen sind und je höher die Ideale gesteckt werden.
190 Es wäre naiv zu glauben, man könne gänzlich auf zeremonielle Arbeit verzichten. Sie wird neben der Zweckerfüllung immer auch eine gewisse Rolle für die Legitimation einer Institution spielen (vgl. Luhmann 1983).
305
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1
1 Einleitung .................................................................................10 Logo des Melanchthon-Wettbewerbs
Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4a–b Abb. 5a–h Abb. 6a–b Abb. 7a–b Abb. 8a–b Abb. 9a–b
3 Filminterpretation Filmausschnitt des Lehrer¿lms 3:96–4:00 ....................................30 Filmausschnitt des Lehrer¿lms 8:09–8:14 ....................................33 Fotogramme zum Sportunterricht (Schüler¿lm) ...........................41 Kamera-Einstellungen nach Steinmetz (2005: 21–23) ..................43 Fotogramme zum allgemeinen Unterricht (Schüler¿lm) ..............44 Fotogramme zum Schreiben (Schüler¿lm) ...................................45 Fotogramme zum Musikunterricht (Schüler¿lm) ..........................47 Fotogramme von Marianne (Lehrer¿lm).......................................50
Abb. 10a–d Abb. 11a–d Abb. 12a–e Abb. 13a–e Abb. 14 Abb. 15a–b Abb. 16 Abb. 17a–c Abb. 18a–b Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21a–d Abb. 22a–b
4 Der Schüler¿lm Fotogramme zum Sportunterricht heute ........................................60 Fotogramme zum Sportunterricht damals .....................................61 Fotogramme zum allgemeinen Unterricht damals .................... 64/65 Fotogramme zum allgemeinen Unterricht heute ......................66/67 Fotogramm zum Schreiben heute ..................................................70 Fotogramme zum Schreiben heute (Kameraschwenk) ..................71 Fotogramm zum Schreiben damals ...............................................72 Fotogramme zum Schreiben damals (Ranzoom) ..........................73 Fotogramme der Moderations-Szenen zum Schreiben..................75 Fotogramm zum Computerraum ...................................................77 Fotogramm zum Musikunterricht heute ........................................79 Fotogramme zum Musikunterricht damals ....................................81 Fotogramme zu Schule und Schultür ............................................86
306
Abbildungsverzeichnis
Abb. 23a–b Abb. 24a–b Abb. 25 Abb. 26a–b Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29a–d Abb. 30 Abb. 31a–b Abb. 32a–b Abb. 33a–e Abb. 34a–c Abb. 35a–c Abb. 36a–c Abb. 37a–c Abb. 38a–c Abb. 39a–f Abb. 40a–b Abb. 41 Abb. 42a–b
Fotogramme des Schlussbild-Paars ...............................................88 Fotogramme zur Szene Pinnwand .................................................90 Fotogramm zur Szene Pinnwand mit Linien .................................93 Fotogramme zur Szene ›Interview‹ ...............................................96 Vergleichs-Fotogramm zur Szene Baby (S 10.5) ........................102 Fotogramm zur Szene Baby (S 10.6) ..........................................104 Fotogramme zu den Interviews im Vergleich .............................. 111 Fotogramm zur Eingangs-Szene.................................................. 114 Fotogramme zum ¿lmfremden Vor- und Nachspann .................. 115 Fotogramme des ¿lmfremden Vorspanns .................................... 116 Fotogramme des NACHSPANNS ........................................ 118/119 Fotogramme der Fotoseiten des NACHSPANNS (S 15.1–3) .....120 Ausschnitte der Fotoseiten S 15.1–3 ...........................................121 Fotogramme von Outtake 1 .........................................................125 Fotogramme von Outtake 2 .........................................................126 Fotogramme von Outtake 3 .........................................................127 Fotogramme der Moderations-Szenen vor Sofa und Tür .....130/131 Fotogramme der Moderations-Szenen vor der Tür .....................134 Fotogramm der Szene Tür 1 (mit und ohne Fluchtlinien) ...........135 Fotogramme von Cf in der Amerikanischen im Vergleich (S 13.1–S 10.1) ............................................................................136 Abb. 43a–b Fotogramm der Szene Tür 2 (mit und ohne Fluchtlinien) ...........140 Abb. 44 Fotogramm aus der Szene Tür 2 (Vortrag der ›persönlichen Meinung‹) .........................................143 Abb. 45 Fotogramm aus der Eingangs-Szene (Ansage des Filmtitels) .....150 Abb. 46 Fotogramm der Szene Tür 2 (Schild mit Filmtitel) .....................150
Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50 Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53a–d Abb. 54
5 Der Lehrer¿lm Filmausschnitt 8:09–8:14 ............................................................159 Fotogramme 8.18 / 8:21 / 8:27 / 8:41 ..........................................159 Fotogramm des Portraits (8:13) ...................................................160 Fotogramm der Uhr (8:09) ..........................................................165 Fotogramm am Gruppentisch (mit Linien) (S 5.2) ......................168 Fotogramm am Gruppentisch mit Horizontlinie (S 5.2) .............171 Fotogramme der Auftritte von Nudelfrau , Clown, Blinder Kuh und Oberlehrer (S 4.1; S 4.4; S 4.10; S 4.6) ............................180/181 Filmausschnitt: Der Weg (0:57–1:20) .........................................185
Abbildungsverzeichnis
307
Abb. 55a–b Fotogramme der Papierstöße (2:55; 2:58) ...................................196 Abb. 56a–b Fotogramme von Marianne hinter den Papierstößen (3:05; 3:06:30) .............................................................................197 Abb. 57a–b Fotogramme von Mariannes Händen auf den Papierstößen (3:09; 3:11) ...................................................................................198 Abb. 58 Fotogramm der Trickblende (3:17) .............................................199 Abb. 59a–b Fotogramme von Handhaltungen Mariannes (7:30; 7:35) ..........200 Abb. 60 Ausschnitt: Marianne mit 3 Brillen (9:14) ..................................202 Abb. 61 Fotogramm des Clowns (3:38) ....................................................204 Abb. 62 Ausschnitt: Gesicht des Clowns (5:22) .......................................206 Abb. 63 Fotogramm des Oberlehrers (S 4.6) .............................................210 Abb. 64 Fotogramm des Dialogs zwischen Oberlehrer und Musiklehrer (S 4.7) ...............................................................213 Abb. 65 Fotogramm des Filmtitels (S 1) ...................................................214 Abb. 66 Fotogramm des Establishing Shots ins Gebäude (0:37) ..............214 Abb. 67 Fotogramm des Schlussbilds (mit Linien) (10:20) ......................218 6 Die Dekoration der Institution Schule Darstellung des Wahlzettels in der SchulentwicklungsDokumentation ...........................................................................228 Abb. 69 Foto der Gasbeton-Skulptur »Der Sitzenbleiber« .......................237 Abb. 70 Foto aus der Projekt-Dokumentation zum Sitzenbleiber.............238 Abb. 71 Foto aus der Projekt-Dokumentation zum Sitzenbleiber.............238 Abb. 72 Schülerinnen-Zeichnung »Schließfächer«...................................240 Abb. 73 Schülerinnen-Zeichnung »Schließfächer« mit ›Fluchtlinien‹ .....241 Abb. 74 Komposititonsvariation der Schülerinnen-Zeichnung »Schließfächer« ...........................................................................241 Abb. 75 Foto des Modells der Sigmund-Cyber-Schule.............................242 Abb. 76 Detailfoto des Modells der Sigmund-Cyber-Schule ....................243 Abb. 77a–d Screen-Shots aus der interaktiven Multimedia-Präsentation »Lehrer Lempels Zeitreise« ..................................................244/245 Abb. 78a–b Fotogramme des Schlussbild-Paars des Schüler¿lms (S 14.1–2) 246 Abb. 79 Fotogramm aus der Schluss-Szene des Lehrer¿lms (10:17) .......247 Abb. 68
Anhang Abb. 80a–b Strukturskizze des Schüler¿lms ..........................................328–331 Abb. 81a–b Strukturskizze des Lehrer¿lms ............................................332–335
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323
Anhang
Abkürzungsverzeichnis E S ES GS
Einstellung (als ¿lmtechnischer Terminus) Sequenz Eingelagerte Sequenz Gegen-Szenen (im Schüler¿lm, Kap. 4)
Fx H. v. A. B. i. O. Af, Bf, Cf, Bm, Cm
Fußnote x Hervorhebungen durch die Verfasserin dieser Arbeit im Original Es handelt sich hier um die in der dokumentarischen Methode übliche Form der Maskierung von beteiligten Personen (Bohnsack 2003a: 236). Bei der Bezeichnung der Darstellerinnen im Schüler¿lm wurde so auf einen generellen Rückgriff auf deren persönliche Identität verzichtet.
LUGS OECD PISA TIMSS vbw ZfE
Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen Organisation for Economic Cooperation and Development Program for International Student Assessment Third International Mathematics and Science Study Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft Zeitschrift für Erziehungswissenschaft
Anhang
324
Sequenzverlauf des Schüler¿lms191 S1 0:00–0:23
Einführung Af, Bf und Cf auf einem Sofa; (Af spricht)
0:24–0:51
Vorspann Vorspann eines Kino¿lms
S2
S3 S 3.1
0:51–0:53
S 3.2
0:53–1:01
S 3.3 S 3.4 S 3.5
1:01–1:04 1:05–1:08 1:09–1:19
Vor der Schule Af im Freien auf dem Gehsteig mit Mikrophon (Amerikanische) verkehrsreiche Straße und ein großes (Schul-) Gebäude von außen geschlossene massive Holztür des Gebäudes eine Schülerin geht in das Gebäude die Holztür in Nahaufnahme
S4 S 4.1 S 4.2
1:20–1:21 1:22–1:23
S 4.3 S 4.4
1:23–1:26 1:27–1:32
In die Schule hinein die Tür wird von innen geöffnet, Af und Cf winken herein durch die geöffnete Tür sieht man eine Steintreppe im Inneren des Gebäudes Portraitansicht von Af mit Mikrophon Af läuft die Treppe hinauf und dreht sich dann um
1:32–1:47
Informationen über das Melanchthon-Gymnasium Af liegt bäuchlings auf dem Sofa (ES)
1:47–1:49 1:49–1:54 1:54–2:00
Die Eingangshalle Af mit Mikrophon im Treppenhaus (Portrait) Schwenk durch das Treppenhaus Af geht durch das Treppenhaus (Rückansicht)
S5
S6 S 6.1 S 6.2 S 6.3
191 In die Gliederung des Sequenzverlaufs werden hier die Informationen, die die Produzenten im Verlauf des Films selber explizit zu den einzelnen Abschnitten des Filmes geben (Ton), mit einbezogen.
Sequenzverlauf des Schüler¿lms
S7 S 7.1 S 7.2 S 7.3
2:01–2:07 2:07–2:09 2:10–2:21
S8 S 8.1 S 8.2 S 8.3
2:21–2:24 2:25–2:28 2:28–2:50
S 8.4 S 8.5
2:51–2:52 2:52–3:05
S 8.6
3:06–3:09
S9 S 9.1 S 9.2 S 9.3
3:09–3:14 3:14–3:18 3:19–3:28
S 9.4
3:28–3:32
S 9.5
3:32–3:37
S 9.6 S 9.7
3:38–3:46 3:47–4:00
S 10 S 10.1 S 10.2
4:01–4:08 4:08–4:20
S 10.3 S 10.4
4:20–4:49 4:50–5:06
325
Die SMV Af steht vor einer Pinnwand, deutet darauf und spricht dazu Kameraschwenk an der Wand entlang, vorbei an einer Tür Bf spricht in ein Mikrophon, das ihr vor den Mund gehalten wird (Portrait) Der Sportunterricht: heute und damals (GS 1) Bf sitzt in legerer Haltung auf dem Sofa (ES) Bf in der Amerikanischen, im Hintergrund eine Turnhalle eine Gruppe von Schülerinnen tanzt in einer Turnhalle (Totale) Bf sitzt in legerer Haltung auf dem Sofa (ES) »Lehrerin« mit 3 Schülerinnen, die neben ihr Kniebeugen machen (Halbtotale; Monochrom-Modus) 3 Schülerinnen machen Liegestützen (Halbtotale; Monochrom-Modus) Der allgemeine Unterricht: damals und heute (GS 2) Bf sitzt in legerer Haltung auf dem Sofa (ES) »Lehrerin« (Af) kommt zur Tür herein (Monochrom-Modus) eine Schulklasse steht gemeinsam auf und setzt sich wieder (Monochrom) die Schüler sitzen in ihren Bänken; sie melden sich (Monochrom) die Lehrerin geht zu einer Schülerin und zieht diese am Zopf aus ihrer Bank nach vorne, schiebt sie dann in eine Ecke und wendet sich zur Klasse (Monochrom) Af in der Amerikanischen mit Mikrophon vor einer Tür verschiedene Körperteile (Kopf; Füße) von Schülern in der Nahen, bzw. in Großeinstellung und Schüler mit Handys Interviews im Freien Cf mit Mikrophon in der Amerikanischen im Freien eine Wiese; in der Ferne gehen 2 Personen, die allmählich immer größer ins Bild kommen Af interviewt eine Frau mit Mikrophon ein älterer Mann bekommt das Mikrophon hingehalten
Anhang
326
S 10.5 S 10.6 S 10.7 S 10.8 S 10.9
5:07–5:11 5:12–5:18 5:19–5:20 5:20–5:32 5:32–5:52
2 Säuglinge liegen im Kinderwagen ein weiterer Säugling im Kinderwagen kommt ins Bild Hinterkopf von Af Cf interviewt einen Jungen Cf sitzt auf dem Sofa (ES)
S 11 S 11.1 S 11.2 S 11.3 S 11.4 S 11.5 S 11.6
5:52–5:56 5:56–5:58 5:59–6:14 6:15–6:22 6:22–6:27 6:28–6:42
Der Computerraum heute – das Schreiben damals (GS 3) Af sitzt an einem Tisch und spricht Schwenk durch einen dunklen Raum mit großen Fenstern Af sitzt an einem Tisch und spricht Bf und Cf sitzen hinter großen weißen Monitoren Bf in der Amerikanischen im Gang ein Schüler sitzt an einem kleinen quadratischen Tisch vor einer gemalten Kulisse
S 12 S 12.1 S 12.2 S 12.3
6:43–6:56 6:57–7:05 7:06–7:28
S 12.4
7:28–7:53
Der Musikunterricht: damals und heute (GS 4) Cf sitzt auf dem Sofa (ES) Kameraschwenk im Kreis über eine Stuckdecke Kameraschwenk nach unten: Bf steht vor einem gedrechselten Notenständer und spricht liniertes, gelochtes Papier mit der Aufschrift »Fettes Brot«
S 13 S 13.1
7:53–8:18
S 13.2
8:18–8:41
S 14 S 14.1
8:41–8:49
S 14.2
8:49–8:55
Schlussbild(er) Foto: oberer Abschnitt eines Gebäudes, viel Himmel und Luftballons Foto: eine Menschenmenge von oben
8:55–9:00 9:00–9:06 9:06–9:14
Nachspann Foto von Cf mit Namensschild Foto von Bf mit Namensschild Foto von Af mit Namensschild
S 15 S 15.1 S 15.2 S 15.3
Zusammenfassung und persönliche Stellungnahme Cf steht mit einem Zettel in den Händen vor einer geschlossenen Tür und spricht (Amerikanische) Bf steht mit einem Zettel in den Händen vor einer geschlossenen Tür und spricht (Nahe)
Sequenzverlauf des Schüler¿lms
S 15.4 S 15.5 S 15.6 S 15.7 S 15.8
9:14–9:24 9:24–9:27 9:28–9:38 9:38–9:40 9:41–9:44
327
Nachspann eines Kino¿lms liniertes, gelochtes Papier mit der Aufschrift »Outtakes« Bf sitzt auf dem Gehsteig Cf kommt aus einer Wohnungstür Af läuft an einer Hauswand entlang
Anhang
328 Abb. 80a
S1
S2
S 3/4
Vorpann
Schulgebäude
S5
S 6/7
SMV ›Interview‹
Strukturskizze zum Schüler¿lm: Melanchthon – ¿nd ich super
S 8.1
S 8.2/3
S 8.4
S 85/6
S 9.1
GS 1: Sportunterricht heute – damals Der Film im Film
S 9.2–5
S 9.6
329
S 9.7
GS 1: Allgemeiner Unterricht damals – heute
Anhang
330 Abb. 80b
S 10
Im Freien
S 10.9
S 11.1–4
S 11.5
S 11.6
S 12.1
GS 3: Computer / trad. Schreiben heute – damals
S 12.2
S 12.3
S 12.4
GS 4: Musikunterricht damals – heute
Strukturskizze zum Schüler¿lm: Melanchthon – ¿nd ich super
S 13
S 14–15.5
Nachspann
Der Film im Film
331
S 15.6–8
Outtakes
Anhang
332 Abb. 81a
S1
S2
Vorspann
Gebäude Uhr
S 2.5
S3
Der Weg
Strukturskizze zum Lehrer¿lm: Kammer des Schreckens
S 4.1
Nudelfrau
S 4.3
Musiklehrer
S 4.3
S 4.4
S 4.6
Marianne
Clown
Oberlehrer
333
Anhang
334 Abb. 81b
S 4.7
S 4.9
S 4.10
S 4.12
Dialog
»ja damals«
Blinde Kuh
Klassenzimmertüraufsicht
Strukturskizze zum Lehrer¿lm: Kammer des Schreckens
S 5.1
Uhr/Stoiber
335
S 5.2–4
S 5.5
S6
Aufblick u. Aufstehen
›Untergang‹
Nachspann