DIE GESCHICHTE DER SCHOLASTISCHEN METHODE
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DIE GESCHICHTE DER SCHOLASTISCHEN METHODE
DIE GESCHICHTE DER SCHOLASTISCHEN METHODE
Nach den gedruckten und ungedruckten Quellen bearbeitet von
MARTIN GRABMANN
ERSTER BAND:
DIE SCHOLASTISCHE METHODE VON IHREN ERSTEN ANFÄNGEN IN DER VÄTERLITERATUR BIS ZUM BEGINN DES 12. JAHRHUNDERTS
1957 A K A D E M I E - V E R L AG - B E R L I N
Unveränderter Nachdruck der 1909 in der Herderschen Verlagshandlung, Freiburg im Breisgau, herausgegebenen Ausgabe
Erschienen im Akademie-Vertag GmbH., Berlin W 8, Mohrenstraße 39, in Arbeitsgemeinschaft mit der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, Hindenburgstraße 40 Lizenz-Nr. 202 • 100/621/56 Offsetdruck: VEB Druckerei „Thomas Müntzer" Bad Langensalza Bestell- und Verlagsnummer: 5209/I Printed in Germany
DEM GEDÄCHTNIS
HEINRICH DENIFLES IN DANKBARER VEREHRUNG GEWIDMET.
Vorwort. Der Gedanke, die Geschichte der scholastischen Methode zu schreiben, legte sich mir frühzeitig bei meiner Beschäftigung mit der Philosophie und Theologie des Mittelalters nahe. Ich überzeugte mich bei diesen Studien davon, daß für ein tiefer eindringendes Verständnis und eine richtige Bewertung der mittelalterlichen Spekulation die Erkenntnis der Methode, der wissenschaftlichen Arbeitsweise der Scholastiker von hohem Werte ist. Der Blick in die geistige Werkstätte der mittelalterlichen Denker, die Erforschung ihrer wissenschaftlichen Arbeitsziele, Arbeitsideale und Arbeitsmittel enthüllt uns das Werden und die Entwicklung der scholastischen Doktrin und läßt ihre Beziehungen zu früheren und späteren Denkrichtungen erkennen, fördert und unterstützt also in vieler Hinsicht eine historische Betrachtungsweise der Scholastik. Die Ergründimg der Art und Weise, auf welche die Scholastiker zu ihren wissenschaftlichen Resultaten gekommen sind, führt auch zu einem tieferen Verständnis dieser Resultate selbst, die Vertrautheit mit der Methode der Scholastiker ist auch ein Wegweiser für die inhaltliche, systematische Erkenntnis der scholastischen Lehrpunkte. Die Geschichte der scholastischen Methode läßt sich nur schreiben, wenn das gesamte Quellenmaterial, aus dem das Werden und Wesen der scholastischen Methode erkannt werden kann, durchgearbeitet wird. Und zwar genügt hier nicht das Studium der gedruckten Originalien, es müssen vielmehr die einschlägigen ungedruckten Texte in vollem Umfange durchforscht werden. Ohne diese Herbeiziehung des handschriftlichen Materials dürften wichtige Momente und Faktoren im Entwicklungsgange des Scholastizismus überhaupt nicht oder doch nicht hinreichend erkannt werden. Ich habe deswegen zunächst die gedruckten und ungedruckten Materialien zu einer geschichtlichen Darstellung der wissenschaftlichen Arbeitsweise der Hochscholastik, vor allem des hl. Thomas, gesammelt. Die geschichtliche Analyse der Methode der Hochscholastik führte mich von selbst
VIII
Vorwort.
zurück in das 12. Jahrhundert zur Frühscholastik. Bei der Untersuchung der Grundlagen der philosophisch-theologischen Methode sowohl in der Hoch- wie auch Frühscholastik stieß ich fortwährend auf patristische und antik-philosophische Schichten. So hat die Quellenforschung und Quellenanalyse mich vom Zeitalter des hl. Thomas von Aquin bis in die Jahrhunderte des christlichen Altertums zurückgeleitet. Bei der Verarbeitung und Darstellung des gesammelten Materials gehe ich den umgekehrten Weg. Ich beginne mit den ersten Anfängen und Grundlagen der scholastischen Methode in der Patristik, verfolge das Wachstum dieser Ansätze und Keime in der Vorscholastik und zeige die Ausgestaltung der scholastischen Methode durch den hl. Anselm von Canterbury. Dies ist das Thema des vorliegenden ersten Bandes. Der zweite Band wird die Weiterentwicklung der scholastischen Methode vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis an die Schwelle der eigentlichen Hochscholastik unter Heranziehung eines zu einem guten Teil ungedruckten Materials behandeln. Der dritte Band wird sich mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise des hl. Thomas und seiner theologischen Zeitgenossen, also mit der Vollendung der scholastischen Methode in der Ära der Hochscholastik befassen. Da die Materialiensammlung für den zweiten Band nahezu ganz und für den dritten Band zu einem großen Teil vollendet ist, wird das Erscheinen dieser Bände, wenn Gott mir Kraft und Gesundheit erhält, nicht lange auf sich warten lassen. Wenn auch die Probleme, denen meine Publikation gewidmet ist, streng wissenschaftlicher Natur sind und dem Arbeitsgebiete der Dogmatik und Dogmengeschichte, der Geschichte der Philosophie und der theologischen Literaturgeschichte angehören, so dürften doch meine Darlegungen ein über die Grenzmark dieser Fachwissenschaften hinausreichendes allgemeineres und auch modernes Interesse beanspruchen. Es ist ja die Methode der Wissenschaft und der einzelnen Wissenschaften ein Lieblingsgegenstand des wissenschaftlichen Nachdenkens der Gegenwart. Die scholastische Methode ist durch neueste, mit dem Modernismus im Zusammenhang stehende Kundgebungen in Kirche und Theologie mehr in den Vordergrund gerückt worden. Eine quellenmäßige Darstellung ihres Entwicklungsganges kann am ehesten zu einem richtigen Werturteil über die scholastische Methode die Wege zeigen. Schließlich ist es auch für den katholischen Priester und Theologen der Jetztzeit lehrreich, zur Hebung und
Vorwort.
IX
Klärung idealen wissenschaftlichen Sinnes dienlich, wenn ihm an der Hand der Quellen die Art und Weise gezeigt wird, wie die großen Denker der kirchlichen Vergangenheit die höchsten Fragen, die den Menschengeist beschäftigen können, sich gestellt und beantwortet haben. Es trägt dieser erste Band meiner Geschichte der scholastischen Methode die Widmung an H e i n r i c h Denifle an der Spitze. Es hat ja der allzufrüh verstorbene geniale Erforscher der mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte nicht bloß durch seine vorbildlichen und grundlegenden Werke, sondern auch durch wertvolle persönliche Anregung diese meine Arbeit gefördert. Den Vorständen der Bibliotheken, deren Handschriften- und Bücherbestände diesem ersten Bande zur Verfügung gestanden sind, vor allem der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek München, der Kgl. Universitätsbibliothek E r l a n g e n , der Vatikanischen Bibliothek in Rom, der Bibliotheque nationale in P a r i s und der Kgl. Bibliothek wie auch der Seminarbibliothek zu Eich s t a t t sei an dieser Stelle der wärmste Dank ausgesprochen. Desgleichen bin ich meinem Freunde Herrn Kgl. Gymnasiallehrer Friedrich Degenhardt und Herrn Diakon Michael Rackl für die Mithilfe bei der Korrektur der Druckbogen sowie Herrn Diakon Alois Bengel für die Anfertigung des Personenregisters zu innigem Danke verpflichtet. E i c h s t ä t t , am 21. April, dem 800jährigen Todestag des hl. Anselm von Canterbury 1909.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis. Seite
Vorwort
vn Erster Abschnitt.
Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode. E r s t e s Kapitel. Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart .
.
1
.
28
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode
37
Z w e i t e s Kapitel. Die Begriffsbestimmung der scholastischen Methode . D r i t t e s Ka p itel.
Zweiter Abschnitt.
Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik. Erstes Kapitel. Allgemeine Vorbemerkungen. Christentum und Intellektualismus. Prinzipielle Stellung der Patristik zur griechischen Spekulation. Der „Piatonismus" der Kirchenväter . . .
55
Zweites Kapitel. Ansätze der scholastischen Methode in der griechischen Väterliteratur
76
§ 1. Die Anfänge spekulativer Durchdringung und Systematisierung des Offenbarungsinhaltes mit Zuhilfenahme der griechischen, vornehmlich platonischen Philosophie § 2. Der Aristotelismus in der christlichen griechischen und orientalischen Literatur. Der Scholastizismus der ausgehenden griechischen Patristik
76 92
Xii
Inhaltsverzeichnis. Seite
D r i t t e s Kapitel. Die lateinische Patristik und die scholastische Methode
.
116
§ 1. Die voraugustinische lateinische Patristik § 2. Die vorbildliche Bedeutung des hl. Augustinus für die scholastische Methode a) Dialektik der Theologie b) Glauben und Wissen c) Systematik d) Äußere Technik § 3. Die nachaugustinische lateinische Väterzeit. Die ersten Sentenzenwerke
116 125 126 129 134 137 143
Dritter Abschnitt. Boethius, der letzte Römer — der erste Scholastiker
148
Erstes Kapitel. Boethius als Vermittler des Aristotelismus an das abendländische Mittelalter
149
Zweites Kapitel. Die Schrift „De consolatione philosophiae" und das Mittelalter .
160
D r i t t e s Kapitel. Die scholastische Methode in den Opuscula sacra des Boethius .
163
Vierter Abschnitt. Die Überlieferung und Weiterbildung der patristischen und boethianischen Anfänge der scholastischen Methode in der Vorscholastik. E r s t e s Kapitel. Die wissenschaftliche Arbeitsweise im karolingischen Zeitalter und in den darauf folgenden Zeiten . . .178 § 1. Die Signatur des frühmittelalterlichen Wissenschaftsbetriebes. Traditionalismus (auctoritas). Die Bedeutung der lateinischen patristischen Florilegien. Die Schuldialektik (ratio) § 2. Die Hauptvertreter der scholastischen Methode bis zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Ist Scotus Eriugena der Vater der Scholastik? .
179 192
Inhaltsverzeichnis.
XIII Seite
Zweites Kapitel. Am Vorabend der Scholastik. Methodische Strebungen und Strömungen in der Theologie des n . Jahrhunderts .
.
215
§ 1. Auctoritas und ratio im Kampfe zwischen Dialektikern und Antidialektikern und im berengarischen Abendmahlsstreit . . . § 2. Das Gleichgewicht von auctoritas und ratio bei Lanfrank. Petrus Damiani § 3. Abälards Sic-et-non-Methode bei Bernoki von Konstanz. Die Bedeutung Ivos von Chartres für den Werdegang der scholastischen Methode § 4. Das „Speculum universale" des Radulfus Ardens, eine ungedruckte theologische Summa am Ende des 11. Jahrhunderts . . .
215 224
234 246
Fünfter Abschnitt. Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik. Erstes
Kapitel.
Anselms wissenschaftliche Individualität Zweites
.
.
.
258
Kapitel.
Analyse der wissenschaftlichen Methode Anselms. § 1. Die Bedeutung der auctoritas für das wissenschaftliche Arbeiten Anselms 265 § 2. Die Funktionen der ratio in der Methode Anselms . . . . 272 A. Die rationelle Einsicht in den Glaubensinhalt. Anselms Arbeitsprogramm: „Credo, ut intelligam" 272 I. Inhalt und Tragweite von Anselms „credo ut intelligam" . 272 11. Die Mittel und Wege zur Verwirklichung des „credo, ut intelligam 1 ' 284 a) Spekulative Vertiefung in die Analogien des Übernatürlichen auf natürlichem Gebiete 284 b) Ethische Reinheit und Selbstheiligung 288 c) Ablehnung des Nominalismus. Anselm und Roscelin . . 293 d) Anwendung der Dialektik und Metaphysik . . . . 3 1 1 B. Die systematisierende Funktion der ratio 322 C. Die Betätigung der ratio in Lösung von Einwänden und Ausgleichung scheinbarer Widersprüche 332 Verzeichnis der benützten und angeführten Handschriften . . . 341 Personenregister 342 Sachregister 349
Erster Abschnitt. Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode. Erstes Kapitel. Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart. „Für uns HeutigeÄ, schreibt Gr. K r ü g e r 1 , „hat der Name Scholastiker keinen guten Klang. Wenn wir von einem Gelehrten, zumal von einem Theologen, wissen oder zu wissen meinen, daß er, ohne die Probleme der Gegenwart lebensvoll zu erfassen, unter dem Druck einer autoritativ wirkenden Vergangenheit mit abgestandener Methode einen abgestandenen Inhalt vergeblich zu beleuchten versucht, so nennen wir ihn einen Scholastiker." Solche Worte klingen nicht ermutigend für denjenigen, der mit der Scholastik sich befaßt, der das Lehrgebäude der Scholastik zum Gegenstand seiner Studien macht und der speziell die Geschichte der scholastischen Methode zum Thema seiner Untersuchungen sich wählt. Die Geschichte der scholastischen Methode schreiben heißt das nicht so viel, als dem Leben und Streben des modernen Geistes, dessen hervorstechende Grundzüge der Individualismus, die Hochschätzung des Individuums und der Empirismus oder Wirklichkeitssinn sind2, den Rücken kehren und einer Zeit und Denkrichtung, die, in einseitiger Hingabe an das Allgemeine und Abstrakte, für Individualität und Empirie, für Werden und Entwicklung kein Verständnis hatte, ein unverdientes Interesse zuwenden? Gleicht der Geschichtschreiber des Scholastizismus nicht dem Antiquar, dem 1
Das Dogma von der Dreieinigkeit und Gottmenschheit, Tübingen 1905, 259. Vgl. K. B e t h , Die Moderne und die Prinzipien der Theologie, Berlin 1907, 35 ff. Vgl. auch R. E u c k e n , Geistige Strömungen der Gegenwart (1904) 273 ff: „Zum Begriff des Modernen". 2
Grab mann, Scholastische Methode. I.
1
2
Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
Sammler, der alte Münzen, die längst außer Kurs stehen, alte Bilder und Gegenstände, die nur den Spezialisten und Liebhaber interessieren, emsig sich erwirbt? Gibt es in unsern Tagen, da der Ernst der Zeit eine lebendige Fühlung mit den Problemen, Strömungen und Strebungen der Gegenwart erheischt, da der Streit um Weltanschauungen die Geister auf den Kampfplatz ruft, gibt es da auch für den katholischen Theologen nicht vordringlichere Aufgaben und Arbeiten als die zeitraubende, mühsame Erforschung einer wissenschaftlichen Methode und Richtung, die vom Geistesleben der Gegenwart durch den Grenzwall von Jahrhunderten getrennt ist? Das sind Fragen, die dem Geschichtschreiber der scholastischen Methode bei Beginn seiner Arbeit sich vorlegen können. Indessen schwinden solcherlei Bedenken gar bald, wenn durch ernsthafte Vertiefung in ein weitschichtiges gedrucktes und ungedrucktes Quellenmaterial das Werden und Wesen der scholastischen Lehre und Methode in konkreteren und deutlicheren Formen vor die Seele tritt und sich dem forschenden Blick als eine in sich interessante, über Jahrhunderte sich erstreckende Erscheinung, als eine in sich bedeutsame Epoche der Geistesgeschichte der Menschheit eröffnet. Es ist an sich schon von hohem Interesse, sich in die wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweise vergangener Zeiten zu vertiefen, dem Entstehen und der Ausbildung solch einer Geistesrichtung und den hierbei tätigen Faktoren und Kräften sorgsam nachzugehen, aus den literarischen Denkmälern dieser Zeiten abzulesen, wie solch eine wissenschaftliche Richtung bei den einzelnen Denkern sich reflektiert hat, sei es daß dieselben über ihre Arbeitsweise und Arbeitsziele ausdrücklich sich und der Nachwelt Rechenschaft gegeben, sei es daß sie nur praktisch in ihren Werken diese Methode befolgt und verwertet haben. Es ist demgemäß die scholastische Methode, besonders wenn eine genetische Betrachtungsweise deren Wurzeln und Grundlagen in der Patristik bloßlegt, ein Gegenstand berechtigten geschichtlichen wie theologischen Interesses. Indessen entspricht die Behauptung, daß die Gegenwart am Scholastizismus, an der scholastischen Methode kein Interesse hat, daß die Scholastik ganz abseits von den Fragen steht, welche die wissenschaftliche Gegenwart beschäftigen, keineswegs der Wirklichkeit. Es sind nicht bloß katholische Theologen und auf dem Boden der katholischen Weltanschauung stehende Philosophen und Historiker, für welche die scholastische Methode aktuelles Interesse hat, auch
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
3
Denker akatholischer und antikatholischer Richtung äußern sich mannigfach über Scholastik und scholastische Methode, geben hierüber Werturteile ab und werfen gerade im Hinblick auf den Scholastizisnius Fragen auf, die das moderne Geistesleben auf das tiefste berühren. Es kann auch nicht anders sein. Die geschichtliche Analyse der modernen Geistesströmungen läßt sich eben nicht betätigen, ohne daß man schließlich mit dem mittelalterlichen Denken und Wissen rechnen muß. Stehen ja doch die für den Entwicklungsgang der neueren Philosophie bedeutsamsten Denker, wie Descartes, Spinoza, Leibniz *, in vieler Hinsicht mit der Scholastik im Zusammenhang. Eine Untersuchung der Gegenwartsprobleme in ihren historischen Grundlagen und Voraussetzungen wird mehr als einmal auf scholastische Schichten stoßen. Außerdem macht das innige Verwachsensein der scholastischen Denkrichtung mit dem Katholizismus jene zugleich mit diesem zu einem Gegenwartsproblem für den außerhalb der katholischen Weltanschauung stehenden Denker, der mit objektivem Sinn die Strömungen und Richtungen des modernen Geisteslebens beobachtet und beurteilt. Dieses Interesse der Gegenwart an der scholastischen Methode soll nun konkret dargetan und nachgewiesen werden, indem im folgenden verschiedene Werturteile von Denkern der Jetztzeit über Scholastizismus, und zwar tunlichst im Wortlaut, angeführt werden. Es kommen zunächst nichtkatholische Philosophen und Theologen zu Wort, sodann sollen auch Stimmen einiger katholischer Theologen und Denker unserer Tage angeführt werden. Es ist für den Geschichtschreiber der scholastischen Methode interessant, wenn er, nachdem er auf dem Wege eindringender Quellenstudien vom Werden, Wesen und Wert mittelalterlichen Wissenstriebes sich ein möglichst scharfes Bild entworfen und herausgearbeitet hat, die mannigfaltige Beurteilung und Beleuchtung seines Forschungsgegenstandes seitens führender Geister der Gegenwart wahrnehmen und mit dem Maßstabe der durch Quellenforschungen 1 Vgl. v. H e r t l i n g , Descartes' Beziehungen zur Scholastik, in den Sitzungsberichten der bayrischen Akademie der Wissenschaften 1897 und 1899; F r e u d e n t h a l , Spinoza und die Scholastik, in den Philosophischen Aufsätzen, Zeller zum 50jährigen Döktorjubiläum gewidmet, Leipzig 1887; R i n t e l e n , Leibnizens Beziehungen zur Scholastik, im Archiv für Geschichte der Philosophie 1903, 157 ff 307 ff; P e n d z i g , Pierre Gassendis Metaphysik und ihr Verhältnis zur scholastischen Philosophie, Bonn 1908. 1*
4
Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
erkannten Wirklichkeit messen kann. Diese vielfach voneinander abweichenden, oft diametral einander entgegengesetzten Werturteile, die Flut von aufgeworfenen und in der verschiedensten Weise beantworteten Fragen, der mitunter grelle Kontrast dieser Beurteilungen mit dem Quellenmaterial, all das gibt dem Historiker der scholastischen Methode die Gewähr, daß eine quellenmäßige, sine ira et studio und allein nach streng wissenschaftlichen Normen bewerkstelligte Geschichte der scholastischen Methode keine überflüssige, sondern eine recht zeitgemäße Arbeit ist. Um nunmehr die scholastische Methode im Lichte akatholischer Beurteilung vorzuführen, seien zunächst die diesbezüglichen Anschauungen der Philosophen Friedrich Paulsen, Wilhelm Dilthey und Rudolf Eucken wiedergegeben. F r i e d r i c h P a u l s e n 1 bezeichnet als den Nährboden der Scholastik „das Verlangen, Glauben und Wissen in ein einheitliches System zusammenzutragen oder die Grundartikel des kirchlichen Lehrsystems aus der Vernunft abzuleiten". „Den Glauben der Kirche als einen vernünftigen und mit der wissenschaftlichen Erkenntnis im großen übereinstimmenden zu erweisen, das war das Ziel der scholastischen Philosophie, ein doch auch uns noch verständliches Ziel.*2 Die Philosophie des Mittelalters ist nach Paulsen semirationalistisch, da bei aller Anerkennung von höheren Offenbarungswahrheiten doch die Vernunft erkennt, daß der Grund aller Dinge in einer ewigen Vernunft liegt, und da die Vernunft auch zeigt, daß die spezifischen Heilslehren des christlichen Glaubens, wenn sie auch aus der Vernunft nicht abgeleitet werden können, doch auch nicht wider die Vernunft sind3. „Die scholastische Theologie", so spricht Paulsen an einer andern Stelle diesen Gedanken in verschärfter Form aus 4 , „ist und will sein rationale Theologie; sie erkennt die Offenbarung und den Glauben der Kirche an, aber sie sucht eine höhere Form für denselben Inhalt; sie will, ähnlich wie es später die Hegeische Philosophie versucht, den Glauben umsetzen und auflösen in Wissen, in ein dialektisch-spekulatives Erkennen: fides quaerens intellectum, so hatte schon Anseimus das Programm formuliert; was denn ohne innere Wandlungen auch des Glaubens selbst nicht ab1
Philosophia militans » *• *, Berlin 1908, 33. P a u l s e n , Die deutschen Universitäten, Berlin 1902, 35 36. 3 D e r s., Philosophia militans 34. 4 D e r s., Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1906, 22. 2
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
5
ging. Zu diesem Rationalismus bildet einerseits das Haften an der Tradition, das Verlangen nach einer Anlehnung an eine Autorität einen seltsamen Gegensatz: der hieraus entspringende innere Zwiespalt war es, der am Ausgang des Mittelalters zur Auflösung der scholastischen Systeme führte." Paulsen bringt die scholastische Denkweise auch in Beziehung zur kirchlichen Autorität und findet in dieser Hinsicht, daß die Scholastik, speziell das thomistische System, eben wegen der Beziehung zwischen ratio und auctoritas, wegen der Verbindung der aristotelischen Philosophie mit dem Dogma „auch für die Befestigung der kirchlichen Autorität das zuträglichste System ist. Der autoritative Absolutismus, wie ihn Occam setzt, hat etwas Gefährliches, Revoltierendes. Der konziliatorische, semirationalistische Thomismus beschwichtigt die Ansprüche der Vernunft, indem er ihr die Ehre der Mitwirkung bei der Bildung des allumfassenden philosophisch-theologischen Systems läßt. Die Widerstände werden wie bei einem konstitutionellen System innerlich überwunden" K Paulsen sieht demnach das Wesen der scholastischen Denkweise in der Beziehung von auctoritas und ratio und läßt durch die faktische Gestaltung dieser Beziehungen auch den Werdegang und schließlich auch die Auflösung der Scholastik bedingt sein. Mit einer gewissen Vorliebe befaßt sich der Berliner Pädagog und Philosoph mit der äußeren Technik des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebes und spendet namentlich der Disputationsmethode hohes Lob: „Die Disputation war gewiß ein vortreffliches Mittel zur Sicherung und Aneignung und zur Übung im Gebrauch des Wissens. Sie war dazu geeignet, die Präsenz des Wissens und die Fertigkeit im raschen und sichern Auffassen fremder Gedanken und ihres Verhältnisses zu den eigenen zu steigern. Es wird angenommen werden dürfen, daß in beiden Stücken der mittelalterliche Gelehrte eine Virtuosität besaß, wie sie in der Gegenwart sich nicht leicht findet/ 2 1
D e r s . , Philosophia militans 37. D e r s . , Die deutschen Universitäten 29. Vgl. Das deutsche Bildungswesen 14 ff und Paulsens bedeutendstes Werk: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart I 2 , Leipzig 1896, 38. Von Paulsens objektiver Beurteilung der Disputationsmethode sticht ungünstig ab die Anschauung Theobald Zieglers, daß in den scholastischen Disputationen „der unfruchtbare Schulwitz und der Geist der Eristik vor allem gezüchtet wurde" ( Z i e g l e r , Geschichte der Pädagogik I, § 6, im Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre von A. B a u m e i s t e r P 1, 30). Als Kuriosum sei hier die Ableitung des Disputier dran ges der Scholastiker aus dem Faustrecht durch 0. Z ö e k l e r (Geschichte der Apologie [1907] 195) erwähnt. 2
ß
Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
Wilhelm D i l t h e y sieht Wesen und Wert des mittelalterlichen Denkens und Wissens in der innigen Verknüpfung der Dialektik und Metaphysik mit der Theologie. „Wie die Logik des Aristoteles von der Lage und Aufgabe der Metaphysik des Kosmos bedingt ist, so die Dialektik des Mittelalters durch die Theologie als deren Wissenschaftslehre." x „Das intellektuelle Leben des Abendlandes pulsierte bis zum Ende des 12. Jahrhunderts in der Theologie und der ihr verbundenen metaphysischen Betrachtung der menschlichen Geschichte und Gesellschaft."2 So sehr Dilthey die Geistesarbeit der Scholastik würdigt und sogar zu der Bemerkung sich versteht, „daß die mittelalterliche Metaphysik eine Erweiterung der Weltanschauung in sich schließt, welche in gewissen Grenzen noch heute fortbesteht, und daß die mittelalterliche Metaphysik ein tieferes Seelenleben enthielt als das des Altertums gewesen war", so beurteilt Dilthey die Verbindung zwischen Metaphysik und Theologie in der Scholastik als nur etwas Äußerliches: „Die Aufgabe, die großen Realitäten des Christentums und die Vorstellungen, in welche diese ausgedrückt waren, mit der griechischen, insbesondere aristotelischen Metaphysik zu vereinigen, ist von ihnen (den Scholastikern) äußerlich gefaßt worden, weil ihnen die tieferen Beweggründe der griechischen Metaphysik unzugänglich waren." 3 Nach Dilthey gleichen die Begriffe der Alten bei den Scholastikern den aus ihrem Boden gerissenen Pflanzen in einem Herbarium, deren Standort und Lebensbedingungen unbekannt sind. Diese Begriffe wurden mit ganz unverträglichen verbunden, ohne sonderlichen Widerstand zu leisten.4 Dilthey beschäftigt sich auch eingehend mit den verschiedenen Phasen, in welchen in der Scholastik die Vernunft zum Glaubensinhalt Stellung genommen hat. Während die in der Hierarchie herrschende Partei den Glaubensinhalt als eine der Vernunft unerreichbare und unserer verdorbenen Natur in der Offenbarung autoritativ gegenübertretende Tatsächlichkeit betrachtet, lebte eine von Anselm von Canterbury angeregte und zuletzt auf Augustin sich zurückführende Richtung der Anschauung, daß „in jedem, auch dem tiefsten Geheimnis des Glaubens ein Vernunftzusammenhang ist, der nur allein unter Voraussetzung des Glaubens erblickt wird" 5 . Bei diesem Bestreben nun, sich in der transzendentalen Welt zu orientieren und den Zusammenhang des Glaubensinhaltes zu entwickeln, ergeben 1 2
D i l t h e y , Einleitung in die Geisteswissenschaften I, Leipzig 1883, 349. 5 Ebd. 378. » Ebd. 342. * Ebd. 343. Ebd. 347.
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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sich an den wichtigsten Punkten für den Verstand anstatt der Darstellung in einer ihm genügenden Formel Widersprüche auf Widersprüche 1. Dilthey widmet diesem nach seiner Auffassung „innerlich widerspruchsvollen Charakter der mittelalterlichen Metaphysik", diesen Antinomien des scholastischen Denkens eine eingehende Darstellung 2 . Nach seiner Auffassung haben Albert d. Gr. und Thomas von Aquin mit formaler Geschicklichkeit einen Vertrag dieser Begriffe miteinander errichtet3. Rudolf E u c k e n legt, namentlich in seiner Schrift: „Thomas von Aquin und Kant, ein Kampf zweier Welten" 4, an die Scholastik, wie sie sich speziell im Lehrgebäude und in der wissenschaftlichen Methode des hl. Thomas, im Thomismus repräsentiert, die Maßstäbe des modernen Denkens und Wissens. Er sieht im Thomismus eine Verbindung der aristotelischen Philosophie und der kirchlich-christlichen Lehre, eine Verbindung aber gemäß der Art des Christentums 5. Vom Standpunkt historischer Denkweise aus anerkennt Eucken „das Werk des hl. Thomas als ein für seine Zeit bedeutendes und fruchtbares, das auch in der Folge der Jahrhunderte für den Zusammenhalt des Lebens und für die Disziplinierung der Geister viel gewirkt hat. Die historische Leistung bleibe bei Thomas wie bei Aristoteles in allen Ehren!" 6 Hingegen lehnt Eucken die absolute Schätzung des Thomismus entschieden ab 7 und begründet dies mit dem Hinweis auf den aristotelischen Koeffizienten im Thomismus, „auf die historische Stellung des Aristoteles, sein enges Verwachsensein mit dem Griechentum, die eigentümliche griechische Färbung seiner Lehre" 8. „Es sah sich", wie Eucken weiter ausführt, „schon das Mittelalter genötigt, die konkrete Beschaffenheit der Weltanschauung des Aristoteles möglichst zurückzudrängen und sich an die allgemeinsten Begriffe, an jenes logische Schema zu halten, in das die aristotelische Philosophie mit bewunderungswürdiger Energie die ganze Wirklichkeit gespannt hat." 9 „Wie verblaßt, wie matt und anschauungslos erscheint der von jenen logischen Allgemeinbegriffen erfüllte scholastische Aristotelismus gegenüber dem echten, von der Größe und Herrlichkeit des 1
2 Ebd. 351. Ebd. 353 ff. s Ebd. 416. Berlin 1901. Vgl. hierzu De W u l f , Kantisme et nöo-scolastique, in Revue ne'ö-scolastique 1902, n. 1. 5 E u c k e n , Thomas von Aquin und Kant, ein Kampf zweier Welten 25. 6 7 8 Ebd. 27. Ebd. 27. Ebd. 28. * Ebd. 32. 4
8
Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
klassischen Altertums getragenen Aristotelismus!"i Diese Verblassung des scholastischen Aristotelismus findet Eucken begründet in der Schwierigkeit einer Vereinigung der aristotelischen Philosophie mit dem Christentum. Das System des Aristoteles gibt sich in seiner Eigentümlichkeit, innerhalb der nächsten Welt abzuschließen, nicht als Vorstufe zu einer religiösen Überzeugung. Um aristotelische Philosophie mit dem Christentum vereinigen zu können, ist nach Eucken nicht bloß eine farblose Fassung des Aristotelismus, sondern auch des Christentums vonnöten 2. Diese Schwierigkeit einer Synthese von Aristoteles und Christentum äußert sich nach Eucken auch im mechanischen Nebeneinander, nicht organischen Ineinander beider Weltanschauungen. „Die Gedankenwelten erscheinen dort (im Mittelalter) nicht als lebendige Einheiten, deren eigentümlicher Geist in alle Verzweigungen hinabreicht, sondern sie sind aufgelöst in ein Nebeneinander einzelner Sätze, die sich ganz wohl so oder so ordnen? zusammenfügen, mit Sätzen aus heterogenen Gedankenwelten vereinbaren lassen. In dieser Weise sind auch Aristoteles und das Christentum ganz wohl zusammenzubringen." Gerade diese Form der Verbindung von Aristoteles und Christentum ist nach Euckens Anschauung auch ein Grund der Unzulänglichkeit der mittelalterlichen Denkweise für die Gegenwart. „Was für das Mittelalter langte, langt für uns heute nicht mehr aus, die wir andere Ansprüche an den inneren Zusammenhang unserer Gedankenwelt stellen müssen/ 3 Schließlich stellt Eucken den hl. Thomas in Gegensatz zu den heutigen Thomisten und ist der Meinung, daß der Aquinate sich schwerlich „einer Bewegung anschließen würde, welche die Zeit um Jahrhunderte zurückschrauben will". „Er mit seiner universalen Art, die überall auf Verständigung und Ausgleichung bedacht ist, würde schwerlich eine so gewaltige Bewegung wie das moderne Kulturleben in Bausch und Bogen verwerfen und verurteilen. *i 1
E u c k e n , Thomas von Aquin und Kant 33. Ebd. 37. Vgl. auch E u c k e n , Die Philosophie des Thomas von Aquin und die Kultur der Neuzeit, Halle 1886, 7. 3 E u c k e n , Thomas von Aquin und Kant 39. 4 Ebd. 40 f. Über die Beurteilung der Scholastik seitens verschiedener Philosophen (Windelband, Rehmke usw.) vgl. B ä u m k e r im Archiv für Geschichte der Philosophie 1897, 257 A. 175. Viel abschätziger als das Urteil von Fachphilosophen ist die Anschauung von einigen populär schreibenden sog. Philosophen über Wesen und Wert der Scholastik. So schreibt Houston S t e w a r t Chamberlain (Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Volksausgabe, II 6 , München 1906, 1028) über Scholastik folgendes nieder: „Eine aus den verschiedensten fremden Elementen 2
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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Nachdem wir gesehen, wie Scholastik und scholastische Methode von führenden nichtkatholischen Philosophen der Gegenwart bewertet werden, müssen wir auch die Auffassungen protestantischer Theologen über diesen Gegenstand, wenigstens in den Haupttypen, kennen lernen. Es kommen in erster Linie hier Vertreter der Dogmengeschichte in Betracht, welche Scholastik und scholastische Methode mit der Dogmenentwicklung und dem Dogmenfortschritt in Verbindung bringen. Es treten uns hier Adolf H a r n a c k , F r i e d r i c h Loofs und R e i n h o l d S e e b e r g als die Hauptrepräsentanten entgegen. Die Hauptzüge des Bildes, das H a r n a c k in seinem Lehrbuch wie auch in seinem Grundriß der Dogmengeschichte vom Werden, Wesen und Wert der Scholastik und speziell der scholastischen Methode entworfen hat, sind folgende. Er wendet sich zunächst gegen das Bemühen der Philosophen und Theologen, „eine besondere Definition der Scholastik zu finden und das, was dieser Name sagt, abzugrenzen gegen die altkirchliche (griechische) Philosophie einerseits, gegen die moderne Philosophie anderseits. Die Scholastik ist nichts anderes gewesen als wissenschaftliches Dönken"1. Sodann bespricht Harnack einzelne Bestimmtheiten und Eigentümlichkeiten, in welchen man das Charakteristische der Scholastik zu erkennen vermeint, und einzelne Vorwürfe, die gemeiniglich gegen die mittelalterliche Wissenschaftsmethode erhoben werden. Vornehmlich hebt er hervor, daß „weder die Abhängigkeit von Autoritäten noch das Vorwiegen der deduktiven Wissenschaft für die Scholastik besonders charakteristisch ist; denn gebundene Wissenschaft hat es zu allen Zeiten gegeben, und die dialektisch-deduktive Methode ist das Mittel, dessen sich jede Wissenschaft, die den Mut hat, die Überzeugung von der Einheit alles Seienden kräftig geltend zu machen, bedienen muß" 2 . Außerdem sei diese dialektisch-deduktive Methode zusammengeflickte, in den wesentlichen Punkten sich selbst widersprechende Kirchenlehre mußte als ewige göttliche Wahrheit, eine nur aus schlechten Bruchstücken gekannte, vielfach total mißverstandene, von Hause aus rein individuelle, vorchristliche Philosophie mußte für unfehlbar erklärt werden; denn ohne diese Ungeheuern Annahmen wäre das Kunststück unmöglich geblieben. Und nun wurde diese Theologie und diese Philosophie — die sich außerdem gegenseitig nichts angingen — zu einer Zwangsehe genötigt und diese Monstrosität der Menschheit als absolutes, allumfassendes System zur bedingungslosen Annahme aufgezwungen Anselm, der im Jahre 1109 starb, kann als der Urheber dieser Methode, das Denken und Fühlen zu knebeln, gelten." 1 H a r n a c k , Lehrbuch der Dogmengeschichte IIP, Freiburg 1897, 326. 2 Ebd.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
nicht die allein herrschende gewesen, es habe vielmehr der durch Albert und Thomas vertretene Realismus, den Impulsen Augustins folgend, die Erfahrung in ausgezeichneter Weise herbeigezogen, wenn auch die Betrachtung der äußeren Welt höchst unvollkommen gewesen sei 1 . Harnack verteidigt die Scholastik gegen den Vorwurf künstlich ersonnener Probleme. „Von ihren Prämissen aus waren diese Probleme nicht künstlich, und daß man sie kühn verfolgte, war ein Beweis der wissenschaftlichen Energie." 2 Die Behauptung von Nitzsch, daß die Scholastik formalistisch sei, findet Harnack kaum cum grano salis richtig. „Wie darf man eine Denkweise formalistisch nennen, die das höchste Interesse hat, alles auf eine lebendige Einheit zu beziehen?" 3 Positiv bestimmt Harnack die theologische Wissenschaft des 13. Jahrhunderts als „die dialektisch-systematische Beurteilung des kirchlichen Dogmas und des kirchlichen Handelns zu dem Zwecke, es zu einem alles im höchsten Sinne Wissenswürdige umspannenden einheitlichen System zu entfalten, es zu beweisen und so alle Kräfte des Verstandes und den ganzen Ertrag der Wissenschaft der Kirche dienstbar zu machen"4. „Ihre Grundvoraussetzung hat die Scholastik — wenigstens bis zur Zeit ihrer Auflösung — an der These, daß alle Dinge aus der Theologie zu verstehen, alle Dinge deshalb auf die Theologie zurückzuführen sind." 5 „Auctoritas und ratio (dialektischdeduktive Methode) beherrschen die Scholastik, die sich von der alten Theologie darin unterscheidet, daß die Autorität des Dogmas und der Kirchenpraxis eine fester gefügte ist, und daß man in der zugehörigen Philosophie (der antiken) nicht mehr lebte, sondern sie von außen hinzubrachte." 6 Der Berliner Kirchenhistoriker gibt über Scholastik und scholastische Methode ein günstiges Werturteil ab, indem er schreibt7: „Man kann sagen, daß die Scholastik ein einzigartiges Beispiel dafür liefert, daß das Denken auch unter den ungünstigsten Bedingungen seinen Weg geht und daß auch die schwersten Vorurteile, die es niederhalten, nicht stark genug sind, um es zu ersticken. In der Wissenschaft des Mittelalters zeigt sich eine Kraftprobe des Denk1 2 5 6 7
Harnack, 3 Ebd. Harnack, Ebd. 326. Harnack,
Lehrbuch der Dogmengeschichte III 3 327. Ebd. 331 A. 1. * Ebd. 443. Dogmengeschichte (Grundriß)4, Tübingen 1905, 327. Lehrbuch der Dogmengeschichte III s 328.
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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triebes und eine Energie, alles Wirkliche und Wertvolle dem Gedanken zu unterwerfen, wie uns vielleicht kein zweites Zeitalter eine solche bietet. * Harnack hat die Scholastik auch in ihrer Beziehung zur Patristik beleuchtet und das Verhältnis zwischen Scholastik und Mystik gewürdigt. In ersterer Hinsicht konstatiert er einen innigen Konnex zwischen mittelalterlicher und patristischer Wissenschaft. „In diesem Sinne sind alle wissenschaftlichen Entwicklungen des Abendlandes im Mittelalter lediglich eine Fortsetzung dessen, was die griechische Kirche in sich teils schon erlebt hatte, teils noch immer in schwachen Bewegungen erlebte." 1 Scholastik und Mystik sind nach Harnack im Grunde genommen ein und dieselbe Erscheinung: „Wo nun diese Erkenntnis so verläuft, daß die Einsicht in das Verhältnis der Welt zu Gott lediglich oder vornehmlich deshalb gesucht wird, um die eigene Stellung der Seele zu Gott besser zu verstehen und in solchem Verständnis innerlich zu wachsen, da spricht man von mystischer Theologie. Wo aber diese reflexive Abzweckung des Erkenntnisprozesses nicht so deutlich hervortritt, vielmehr die Erkenntnis der Welt in ihrer Beziehung auf Gott ein selbständigeres objektiveres Interesse gewinnt, da wird der Terminus scholastische Theologie* gebraucht. Man sieht hieraus, daß es sich nicht um zwei nebenoder gar widereinander laufende Größen handelt, sondern daß mystische und scholastische Theologie ein und dieselbe Erscheinung sind, die sich nur in mannigfachen Abstufungen, je nachdem das subjektive oder das objektive Interesse vorwaltet, darstellen." 2 F r i e d r i c h Loofs 3 betrachtet die scholastische Theologie in ihrem Verhältnis zur Patristik und zur Theologie der Übergangszeit (Vorscholastik). „Betrachtet man als das Wesen der ,Scholastik4, das Bemühen der neuen wissenschaftlichen Theologie, die seit 1050 aufkam, die gegebene Kirchenlehre durch schulmäßiges Nachdenken, wie die Dialektik es lehrte, zu begreifen und beweisbar zu machen, so hat man hiermit freilich die mittelalterliche Wissenschaft von der ,Theologie' der Übergangszeit, die wesentlich in Überlieferung der Tradition bestand, unterschieden. Doch der Theologie der patristischen Zeit, zumal der Theologie Augustins gegenüber, ist dies keine Besonderheit der mittelalterlichen Schulwissenschaft." Loofs findet demgemäß zwischen der wissenschaftlichen Arbeitsweise der 1 8
2 Ebd. 331. Ebd. 329 f. Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte4, Halle 1906, 498 499.
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Scholastik und Patristik keinen durchgreifenden Unterschied, sondern im Grund genommen eine Übereinstimmung. Er stellt zwischen mittelalterlicher und patristischer Theologie nur die Verschiedenheit fest, „daß in der Zeit der alten Kirche die Theologen innerhalb des Rahmens der noch lebenden philosophischen Weltanschauung der Alten gedacht haben, während im Mittelalter die kirchliche Tradition und die durch gelehrte Studien wieder erneuerte philosophische Bildung einander fremder gegenüber gestanden sind". Er sieht sodann die Aufgabe der philosophischen Bildung im Mittelalter auf dem eigentlich theologischen Gebiet in der „ f o r m a l i s t i s c h e n Verarbeitung der Dogmen und in der Eingliederung derselben in eine Weltanschauung, die auf Grund zahlreicher Kompromisse zwischen kirchlicher Tradition und philosophischen Studien k o n s t r u i e r t war u . Eine ausführliche Würdigung der Scholastik und der scholastischen Methode hat R e i n h o l d S e e b e r g in seinem von Gründlichkeit und Streben nach Objektivität zeugenden Artikel über Scholastik in „Herzog-Haucks Realenzyklopädie für protestantische Theologie*4 x dargeboten. Scholastik ist nach Seeberg „etwa das, was wir heute systematische Theologie oder noch spezieller Dogmatik zu nennen pflegen, und Scholastik ist kirchlich orthodoxe Theologie" 2. Scholastik wird „aber auch im Sinne einer Wertbezeichnung genommen. Das geht zurück auf die Reformtheologen des Mittelalters, die Humanisten und die Reformatoren" 3. Die prinzipielle Geringschätzung der Scholastik, die Charakteristik der Scholastik als einer Beschäftigung mit leeren Spitzfindigkeiten und Begriffsspaltereien, die Entgegenstellung von scholastischer und mystischer Theologie im Sinne differenter theologischer Schulen und Richtungen, all das findet die Zustimmung Seebergs nicht, eine derartige Betrachtungsweise bezeichnet er als irreführend und ungeschichtlich. Scholastik und Mystik sind für ihn keine Gegensätze, sondern verhalten sich wie die Dogmatik zur religiösen Kontemplation4. „Eine gerechte Beurteilung der Scholastik kann sich nur aus dem geschichtlichen Verständnis der religiösen, kirchlichen und wissenschaftlichen Verhältnisse, aus denen die Scholastik hervorging, ergeben. Diese Betrachtung führt aber zum Urteil, daß die Scholastik die höchsten Ziele menschlicher Erkenntnis sicher in das Auge gefaßt hat, und daß sie mit einem staunens1
XVII s 705—732. Vgl. auch R. S e e b e r g , Lehrbuch der Dogmengeschichte IIf Leipzig 1898, 39 ff 80 ff. 2 8 Realenzyklopädie f. prot. Theol. XVII3 706. Ebd. * Ebd. 707.
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werten, nie rastenden Scharfsinn und mit treuer Verwertung aller ihr zu Gebote stehenden Erkenntnismittel sich um die Erreichung jener Ziele bemüht hat.* 1 Seeberg läßt sich in diesem Werturteil über den Scholastizismus nicht beirren durch die Einwendung, daß im Werdegang der Scholastik die freie Bewegung des Geistes allmählich zu Formeln erstarrte und in unfruchtbare Übungen des rein formalen Scharfsinns umschlug. Er findet hierin „nicht nur eine scholastische Eigentümlichkeit". „Nichts ist hier (in der Scholastik), wenn man es nur versteht, lächerlich oder verächtlich. Im Gegenteil, wenigstens auf der Höhe der Scholastik, ist eine solche Fülle ernsten, strengen Denkens und ein solches Maß begeisterter Hingabe an eine große Sache vorhanden gewesen, wie man es nicht in allen Zeitaltern der Geschichte der Theologie findet."2 Ja Seeberg versteht sich zu der Bemerkung: „Ich zweifle, daß man nach einem halben Jahrtausend so viel originelle Theologen im 19. Jahrhundert wird auffinden können, als wir sie heute im 13. Jahrhundert wahrnehmen." 3 An diese allgemeine Bewertung der Scholastik, die ein hohes Maß von Gerechtigkeit und Objektivität bekundet, reiht Seeberg eine eindringende geschichtliche Darstellung des Entwicklungsganges der Scholastik von den Anfängen bis zum Verfall und sucht die diesen Werdegang beeinflussenden Momente herauszuheben. An diese geschichtlichen Darlegungen knüpft Seeberg noch eine Orientierung über Form und Wesen der Scholastik4. Er charakterisiert die äußere Technik des scholastischen Wissenschaftsbetriebes als „eine unendlich schwerfällige Richtung, in welcher sich die Erörterung jedes Problems hinschleppt", und hält es für begreiflich, „daß mancher David mit Schleuder, Stein und gewandtem Arm unter Humanisten und Reformationsmännern diesen gepanzerten Goliaths gefährlich wurde". Indessen gesteht er auch zu, daß diese Methode — die übrigens bei Thomas eine leichtere und einfachere Gestaltung annahm — auch einen großen Ertrag hatte und den Gelehrten und weiter der ganzen Bildung die dialektische Kunst und die logischen Kategorien in Fleisch und Blut umgewandelt hat. Noch heute lebt und wirkt in unserer Sprache und Denkweise die aristotelische Logik, die jene Jahrhunderte sich angeeignet haben5. Bei der Bestimmung des Wesens der Scho1
2 3 4 Ebd. Ebd. Ebd. 708. Ebd. 718 7 2 8 - 7 3 2 . S Ebd. 728. Seeberg beurteilt hier die äußere Technik der Scholastik viel milder als z. B. H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands IV 410: „Die Folge
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lastik wendet sich Seeberg mit Recht gegen die seit Victor Cousin übliche Mode, die Geschichte der Scholastik an dem Leitfaden des Kampfes zwischen Realismus und Nominalismus zu verfolgen1. Er stellt als allen Scholastikern gemeinsame Elemente auctoritas und ratio hin. Erstere schließt Bibel, die kirchlichen Lehren und Institutionen, das Dogma, die Tradition und den Papst in sich. Bei der Interpretation dieser auctoritas als eines überkommenen und unantastbaren Stoffes, bei der Ordnung dieses Stoffes und bei der Beziehungssetzung desselben zur weltlichen Wissenschaft tritt die ratio in Funktion. Seeberg sieht also auctoritas und ratio als die Wesenselemente der Scholastik, des scholastischen Wissensbetriebes, der scholastischen Methode an 2 . Speziell verbreitet er sich über auctoritas und ratio bei Thomas von Aquin und Duns Scotus3. Bei Thomas hat nach Seeberg die enge Verbindung der Dogmatik mit der aristotelischen Philosophie einen rationalisierenden Charakter seines Systems, eine Modifizierung des positiven Orthodoxismus durch die rationalen Elemente beursacht, da der religiöse Glaube und die philosophische Erkenntnis sich nicht unter einen Generalnenner bringen lassen. Scotus hingegen will nach der Auffassung Seebergs die Dogmatik von der Philosophie scharf trennen und als rein praktische religiöse Erkenntnis des Weges zu Gott bestimmen. Indessen gibt unser Dogmenhistoriker auch wieder zu, daß in der Darstellung der einzelnen Lehren der Unterschied zwischen diesen beiden Scholastikern oft so gut wie ganz verschwindet. Wenn bei dieser unserer einleitenden Übersicht über die Scholastik im Urteile der Gegenwart auch eine Kritik und Nachprüfung dieser Anschauungen Seebergs nicht vorgenommen werden kann — dies wird bei den betreffenden Partien unserer Geschichte der scholastischen Methode zu geschehen haben —, so sei hier doch auf seine energische Hervorkehrung von ratio und auctoritas als Wesenselemente des Scholastizismus und auf seine rationalistische Deutung des Verhältnisses von ratio und auctoritas bei Thomas von Aquin hingewiesen. Seeberg schließt seinen Artikel dieser Methode war unvermeidlich. Sie beschränkte die Theologie auf die dialektische Erörterung des Gegebenen. Gewiß hat sie dadurch in vieler Hinsicht genützt: die Epoche der Scholastik wurde zu einer Zeit der geistigen Schulung für die mittelalterliche Welt. Aber anderseits läßt sich doch nicht verkennen, daß die Theologie, solange diese Methode herrschte, zu dauernder Unfruchtbarkeit verurteilt war, Auch das charakterisiert die Scholastik." 1 2 H a u e k , Realenzyklopädie f. prot. Theol. XVII 3 729. Ebd. 3 Ebd. 729—731,
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über Scholastik mit der Bemerkung, daß trotz der Arbeit, die bisher geleistet wurde, es kein Gebiet der Dogmengeschichte gibt, auf dem bis zur Stunde soviel ungelöste Fragen vorliegen, wie in der Geschichte der Scholastik1. Nachdem wir die Anschauungen nichtkatholischer Dogmenhistoriker2 über Wesen und Wert der scholastischen Denk- und Arbeitsweise kennen gelernt, mögen über denselben Gegenstand auch noch ein paar Stimmen von Vertretern der protestantischen systematischen Theologie gehört werden. A u g u s t S a b a t i e r , dessen Religionsphilosophie bekanntlich auf die modernistische Richtung der katholischen Theologie Frankreichs einen bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, spricht sich also aus 3 : „Das Dogma hatte sich mit dem Wiedererwachen der Wissenschaften unter dem Anstoß des Scotus Erigena und des Anselm von Canterbury zu einem logischen System organisiert, es hatte auch den kühnen Versuch gemacht, seine Vernünftigkeit zu beweisen, und war in der Summa des Thomas von Aquino ein großartiges, philosophisches System geworden, welches das ganze Gebiet menschlichen Wissens umspannte und das Denken in endgültigen Lösungen abschloß. Aber der Nominalismus, der in Duns Scotus und Occam zum Sieg gelangte, brachte immer unheilbarer den Widerspruch zwischen dem Dogma der Kirche und der natürlichen Vernunft zum Vorschein. Der Ver« 1
Ebd. 732. Als Urteil eines protestantischen Kirchenhistorikers seien folgende Worte K a r l S e i l s (Katholizismus und Protestantismus in Geschichte, Religion, Politik, Kultur, Leipzig 1908, 35) angeführt: „Die Scholastik zeigt, wie sich in ihr auch architektonischer Scharfsinn und bohrender kritischer Verstand einzelner mächtiger Köpfe betätigt haben mag, doch am wenigsten inhaltliche Selbständigkeit, indem sich hier, wenn auch in großartigen Einzelschöpfungen, die bereits in der altkatholischen Periode angebahnte Verschmelzung der Gedanken der antiken Philosophie mit der in eigentümlicher Weise aufgefaßten christlichen Offenbarung zu einem Ganzen von natürlichen und übernatürlichen Wahrheiten erneut hat. Noch zweierlei kam dazu: der übermächtige Einfluß des hl. Augustinus mit seiner absolut pessimistischen Ansicht von dem ganzen diesseitigen Erden- und Menschenleben und das aus der wesentlich formalen Vorbildung der Scholastiker fließende Übermaß einer Begriffe spaltenden Dialektik in der logischen Disposition der Stoffe. Aber eben damit hat die mittelalterliche Wissenschaft den Grund gelegt sowohl für die gesamte philosophisch-juristische Terminologie wie das europäische Universitätswesen. Die formale Logik und die höchste Form des Unterrichts, die auf den Universitäten, sind wesentlich eine Schöpfung des Mittelalters." 3 Religionsphilosophie auf psychologischer und geschichtlicher Grundlage, übersetzt von A u g u s t B a u r , Freiburg 1898, 255 f. 2
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such der Scholastik war gescheitert, weil er einen Gegensatz in sich barg. Wenn das Dogma als Vernunftwahrheit bewiesen werden konnte, so wurde die Autorität der Kirche unnötig, und an ihre Stelle mußte die Autorität der Vernunft treten; sollte es aber irrational sein, dann brach im Gegensatz hierzu ein ruh- und rastloser Krieg zwischen der sich auf die kirchliche Autorität berufenden Überlieferung und dem emanzipierten Denken aus. Es ist bekannt, was geschah. Die moderne Vernunft gewann die Oberleitung der Geister, und damit begann die Krisis des Dogmas." Auch nach Sabatier ist also das Verhältnis von Autorität und Vernunft der Angelpunkt des Scholastizismus. K a r l G i r g e n s o h n gibt folgendes Urteil über die Scholastik ab *: „Die Wissenschaft des Mittelalters war in erster Linie Theologie? ihre beiden Grundvoraussetzungen waren die Autorität und der Glaube Eine Wahrheit gab es nicht erst zu suchen; sie war vorhanden, denn sie war offenbart. . . . Die Offenbarung hatte man zu glauben, die Autorität der Kirche bürgte für die Richtigkeit der offenbarten Wahrheit. Die wissenschaftliche Tätigkeit bestand nur in zwei Funktionen : erstens in dem systematischen Aufbau und Ausbau der offenbarten Wahrheit, und zweitens in dem Versuche, alle alltäglichen Erscheinungen des Diesseits mit dem System der offenbarten Wahrheit in Einklang zu bringen und die Richtigkeit der offenbarten Wahrheit durch Beibringung irdischer Analogien zu stützen und zu illustrieren. . . . Dem stellt die moderne Wissenschaft zwei Grundprinzipien entgegen: die Autonomie der menschlichen Vernunft und das exakte empirische Wissen/ Girgensohn bewegt sich also auf dem andern Extrem. Während Paulsen, Dilthey, Seeberg, Sabatier usw. in der Scholastik rationalistische oder doch semirationalistische Tendenzen sehen, tritt in den Augen dieses Theologen bei den Scholastikern die Vernunft gänzlich hinter Autorität und Glauben zurück. Eine hohe Wertschätzung der Scholastiker und der scholastischen Arbeitsweise tritt uns aus den folgenden Worten des orthodoxen Rostocker Theologen R i c h a r d G r ü t z m a c h e r 2 entgegen: „Die großen mittelalterlichen Scholastiker waren, so paradox es auch klingen mag, einst durch und durch moderne Theologen. Oder war es nicht ein gewaltig kühner Wurf, als ein Albertus Magnus und 1
Die moderne historische Denkweise und die christliche Theologie, Leipzig 1904, 21. 2 Studien zur systematischen Theologie, 2. Heft, Leipzig 1905, 62.
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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andere die durch arabische Vermittlung wieder bekannt gewordene Geisteswelt des Aristoteles dazu benutzten, um sogleich die kirchliche mit ihr zu verknüpfen? Die Kirche verbot zunächst dies Unternehmen, über die Schriften des Aristoteles Vorlesungen zu halten, bald aber überzeugte sie sich eines Besseren und war froh, daß ihre Theologen Mut und Kraft genug hatten, aus den Gedanken des Aristoteles, die zunächst als Sprengstoffe für das kirchliche System erschienen, Verteidigungswaffen für dasselbe zu entnehmen." Grützmacher überzeugt davon, wie wenig die Übertragung der Gedankenwelt Kants auf das religiöse und theologische Gebiet zum Segen gewesen ist, tritt gegenüber der Werturteilstheorie des Herzensglaubens Ritschis und seiner Schule energisch für eine intellektualistische Religionsmethode ein, er „rehabilitiert vollkommen die i n t e l l e k t u a l i s t i s c h e Methode der Scholastik, deren Preisgabe durch die kritische Selbstzersetzung von seiten der Moderne sich so bitter gerächt hat" x . Den Schluß dieser Beurteilung des Scholastizismus seitens prote*stantischer Theologen möge die nachfolgende Bemerkung des Dogmatikers A l e x a n d e r v. Ö t t i n g e n 2 bilden: „Im Beginn und Verlauf des Mittelalters hat die Mystik sowohl (Pseudo-Dionysius, Scotus Erigena) als die Scholastik (Johannes Damascenus und Thomas von Aquin) bald die platonische bald die aristotelische Philosophie in den Dienst der theologisch-dogmatischen Argumentation gestellt. Dadurch verlor die Dogmatik ihre theologische Eigenart und wurde, wo sie glaubte Herrin zu sein, die Schleppträgerin der altheidnischen Königin. Die Warnung eines Anselm vor dem ,Ja und Nein* (,Sic et non') der Abälardschen Vernunfttheorie und die Betonung des ,Credo, ut intelligam* fruchtete nichts." 3 Diese Überschau über Ansichten moderner nichtkatholischer Philosophen und Theologen vom Werden, Wesen und Wert der Scholastik und scholastischen Methode hat gezeigt, daß eine Fülle von Fragen und Problemen sich dem modernen Denker aufdrängt angesichts der Wissenschaft des Mittelalters. Diese Fragen über das Verhältnis von ratio und auctoritas, Metaphysik und Theologie, Aristoteles und Christentum, Scholastik und Mystik im mittelalterlichen Denken, diese Fragen nach Selbständigkeit und Abhängigkeit des 1
A n t o n S e i t z , Das Evangelium vom Gottessohn, Freiburg 1908, 65. Lutherische Dogmatik, I. Bd: Prinzipienlehre, München 1897, 404. 3 Es braucht nicht eigens auf den in diesen Worten liegenden groben historischen Verstoß aufmerksam gemacht zu werden. Abälards ,Sic et non' ist bekanntlich längst nach Anselms Tod geschrieben worden. 2
Grabmann, Scholastische Methode. I.
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scholastischen Denkens, nach der Beziehung des Scholastizismus einerseits zur Patristik, anderseits zur modernen Denkweise, alle diese Fragen bezeugen die Tatsache, daß Scholastik und scholastische Methode auch das Interesse der Jetztzeit in Anspruch nehmen. Und wie verschiedenartig ist die Antwort auf diese Fragen! Rationalismus, Übermacht der Vernunft und gänzliches Zurücktreten der Vernunft hinter die Autorität, Originalität des Denkens und unselbständiger Traditionalismus, gewaltige Denkenergie und öder, unfruchtbarer Formalismus und Schablonismus, innige Berührung mit der Denkweise der Patristik und Gegensätzlichkeit zu derselben, Feindseligkeit und Identität zwischen Scholastik und Mystik, alle diese Antithesen weist das Gesamtbild der Beurteilung des Scholastizismus seitens dieser modernen Denker auf. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß das Werturteil der Gegenwart über die Scholastik im allgemeinen ein objektiveres und gerechteres ist als das mancher Humanisten, der Reformatoren und der Aufklärungsperiode \ Wenn wir nun im Anschluß an diese Urteile nichtkatholischer Philosophen und Theologen über scholastische Denk- und Arbeitsweise auch die Stellungnahme von k a t h o l i s c h e n Gelehrten und s p e z i e l l T h e o l o g e n zur s c h o l a s t i s c h e n Methode ins Auge fassen, dann sind wir schon im voraus uns darüber klar, daß für den auf dem Boden der katholischen Weltanschauung stehenden Denker und Forscher, vornehmlich für den katholischen TKeologen, diesbezüglich Gesichtspunkte und Erwägungen in Betracht kommen, die den außerhalb der katholischen Kirche stehenden Gelehrten wenig oder gar nicht berühren. Es tritt eben dem katholischen Theologen die scholastische Methode als der Typus einer Denkrichtung entgegen, die durch viele Jahrhunderte für die Gestaltung der philosophischen und theologischen Wissenschaft, also für eine hervorragende Erscheinung des kirchlichen Lebens, von maßgebender Bedeutung gewesen ist und die auch heutzutage noch innerhalb der katholischen Kirche gepflegt wird. Außerdem steht der katholische Theolog vor der Tatsache, daß die scholastische Methode von Seiten der k i r c h l i c h e n A u t o r i t ä t stets wärmster Empfehlung und besondern Schutzes gegen innere und außerkirchliche Angriffe sich erfreuen konnte, und daß diese 1
Über den Umschwung in der Beurteilung der mittelalterlichen Philosophie vgl. J. A. E n d r e s , Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im Abendlande. [Sammlung Kösel.] Kempten u. München 1908, 6 f.
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kirchliche Autorisierung der scholastischen Methode auch in der Gegenwart nachdrucksvollst erneuert worden ist. Wenn wir in einem geschichtlichen Überblicke die Stellung der kirchlichen Autorität zur scholastischen Methode beleuchten wollen, müssen wir schon zurückgreifen auf die Epistola: „Tacti dolore" ad Theologos Parisienses Gregors IX. vom 7. Juli 1228 \ Dieses Schreiben mahnt die Pariser Theologen zum Festhalten an der theologischen Terminologie und Tradition und stellt in scharfen Umrissen das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie, zwischen ratio und auctoritas fest. Es ist hier sachlich die scholastische Methode im Sinne einer in den richtigen Grenzen sich bewegenden Anwendung der Vernunft und Philosophie auf die Glaubensgeheimnisse als Norm des theologischen Unterrichts von der kirchlichen Autorität festgesetzt. Im 15. Jahrhundert hat die Kirche gegenüber den Angriffen Wiclifs den theologischen Unterrichts- und Wissenschaftsbetrieb, wie er an den Universitäten sich herausgebildet hatte, und damit indirekt auch die scholastische Methode in Schutz genommen2. Gegenüber den Anfeindungen der Reformatoren hat Sixtus V. in der Bulle „Triumphantis Hierusalem" vom 14. März 1588, durch welche der hl. Bonaventura zum Doctor Ecclesiae erhoben wurde, in begeisterten Worten die scholastische Theologie und deren Hauptvertreter Thomas von Aquin und Bonaventura gefeiert und gerade aus den Angriffen der Gegner des Glaubens die Notwendigkeit und den Nutzen der scholastischen Methode für die Kirche und die kirchliche Wissenschaft dargetan3. In der Aufklärungszeit wies Pius VI. in der 1 D e n i f l e , Chartularium Universitatis Parisiensis I 114—116, n. 59. Denz i n g e r - B a n n w a r t , Enchiridion 10, Freiburg 1908, n. 442 u. 443. 2 Concil. Constantiense sess. 8 (4 Maii 1415). Errores Ioannis Wicleff. Prop. 29: „ Universitates, studia, collegia, graduationes, et magisteria in iisdem sunt vana gentilitate introdueta; tantum prosunt Ecclesiae, sicut diabolus." Denz i n g e r, Enchiridion n. 609. Gegen diese Anschauungen Wiclifs schrieb T h o m a s N e t t e r (f 1422): T h o m a s W a l d e n s i s , Doctrinale antiquitatum fidei catholicae adversus Wiclevitas et Hussitas lib. 2, art. 3, cap. 57—59, Venetiis 1757, 598 bis 618. 3 „Et rem ita se habere, ipsimet veritatis inimici sunt iudices, quibus theologia Scholastica maxime est formidolosa, qui profecto intelligunt, apta illa et inter se nexa rerum et causarum cohaerentia, illo ordine et dispositione, tanquam militum in pugnando instructione, Ulis dilucidis definitionibus et distinctionibus, illa argumentorum firmitate et acutissimis disputationibus lucem a tenebris, verum a falso distingui, eorumque mendacia multis praestigiis et fallaciis involuta, tan2*
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Konstitution „Auetorem fidei" vom 28. August 1794 die Anklagen der Synode von Pistoja gegen die Scholastik mit Entschiedenheit zurück1. Eine Reihe von Kundgebungen der kirchlichen Autorität zu Gunsten der scholastischen Methode fällt in das Pontifikat Pius' IX. In dem letzten von den vier Sätzen, die durch die Indexkongregation unter dem 11. (15.) Juni 1855 dem Traditionalisten Augustin Bonnety zur Unterschrift vorgelegt wurden, ist die von Thomas und Bonaventura angewendete Methode gegen den Vorwurf des Rationalismus verteidigt2. In dem Schreiben: „Tuas libenter", das Pius IX. am 21. Dezember 1863 an den Erzbischof von München bezüglich der Münchener katholischen Gelehrtenversammlung richtete, ist die vetus schola, die scholastische Doktrin und Methode gegen eine über sie in Deutschland verbreitete falsa opinio in Schutz genommen3. Der Syllabus vom 8. Dezember 1864 verwirft in der prop. 13 die Behauptung, daß die Methode und die Prinzipien, wonach die Scholastiker die Theologie betrieben, den Anforderungen unserer Zeit und dem quam veste detracta, patefieri et denudari. Quanto igitur magis illi hanc munitissimam Scholasticae theologiae arcem oppugnare et evertere conantur, tanto magis nos decet hoc invictum fidei propugnaculum defendere, et haereditatem patrum nostrorum conservare et tueri, et acerrimos veritatis defensores meritis honoribus, quantum possumus, decorare tf Vgl. S. B o n a v e n t u r a , Opera omnia I, ed. Q u a r a c c h i , XLIX. 1
„Insectatio, qua synodus scholasticam exagitat velut eam, quae viam aperuit inveniendis novis et inter se discordantibus systematibus quoad veritates maioris pretii, ac demum adduxit ad probabilismum et laxismum; quatenus in scholasticam reicit privatorum vitia, qui abuti ea potuerunt aut abusi sunt: — falsa, temeraria, in sanctissimos viros et doctores, qui magno catholicae religionis bono scholasticam excoluere, iniuriosa, favens infestis in eam haereticorum conviciis" (Denz i n g e r n. 1576). 2 „Methodus, qua usi sunt D. T h o m a s , D. B o n a v e n t u r a et alii post ipsos scholastici non ad r a t i o n a l i s m u m d u c i t , neque causa fuit, cur apud scholas hodiernas philosophia in naturalismum et pantheismum impingeret. Proinde non licet in crimen doctoribus et magistris illis vertere, quod methodum hanc, praesertim approbante vel saltem tacente Ecclesia, usurpaverint" (Denzinger n. 1652). 8 „Neque ignorabamus, in Germania etiam falsam invaluisse opinionem adversus v e t e r e m s c h o l a m et ad versus doctrinam summorum illorum Doctorum, quos propter admirabilem eorum sapientiam et vitae sanctitatem universalis veneratur Ecclesia. Qua falsa opinione ipsius Ecclesiae auctoritas in discrimen vocatur, quandoquidem ipsa Ecclesia non solum per tot continentia saecula permisit, ut eorundem Doctorum methodo et ex principiis c o m m u n i o m n i u m c a t h o l i c a r u m s c h ö l a r u m c o n s e n s u sancitis theologica excoleretur scientia, verum etiam saepissime summis laudibus theologicam eorum doctrinam extulit illamque
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Fortschritt der Wissenschaft nicht mehr entsprecheni. Indem ferner das Vatikanum der durch den Glauben erleuchteten Vernunft die Möglichkeit zuspricht, durch Vergleichung mit den natürlichen Erkenntnissen, durch die Betrachtung der Glaubenswahrheiten in ihrer Beziehung zueinander und zum Endziel des Menschen einen gewissen und dazu höchst fruchtbaren Einblick in die Geheimnisse zu gewinnen, spricht es sich ohne Zweifel zu Gunsten des scholastischen Intellektualismus aus und begutachtet das, was das Wesen und den Kern der scholastischen Methode ausmacht2. Es ist keine Übertreibung, wenn der protestantische Kirchenhistoriker K a r l Holl rücksichtlich des Dekretes vom 24. April 1870 (Constitutio dogmatica de fide catholica) bemerkt, daß dasselbe „eine im Sinne des Thomas gehaltene Prinzipienlehre bestätigte und damit die Scholastik als die klassische Form der katholischen Systematik für alle Zeiten festlegteu 3. Leo XIII. hat mit solchem Nachdruck zu wiederholten Malen die scholastische Doktrin und Arbeitsweise, wie sie sich konkret in Thomas von Aquin zeigt, als Norm und Ideal für die katholische Spekulation auf philosophischem und theologischem Gebiete hingestellt, daß der Name des Aquinaten mit seinem Pontifikat unzertrennlich verbunden erscheint4. Vor allem ist die vielerörterte Enzyklika „Aeterni Patris* vom 4. August 1879 für die Repristination der thomistischen Philoveluti fortissimum fidei propugnaculum et formidanda contra suos inimicos arma vehementer commendavit" ( D e n z i n g e r n. 1680). Unter dieser falsa, opinio sind wohl die Ausführungen D ö l l i n g e r s in seiner Eröffnungsrede über Vergangenheit und Gegenwart der katholischen Theologie gemeint. Döllinger bemerkt hier über die Scholastik unter anderem: „Das alte von der Scholastik gezimmerte Wohnhaus ist baufällig geworden, und ihm kann nicht mehr durch Reparaturen, sondern nur durch einen Neubau geholfen werden, denn es will in keinem seiner Teile mehr den Anforderungen der Lebenden genügen" (Verhandlungen der Versammlung katholischer Gelehrter in München vom 28. September bis 1. Oktober 1863, Regensburg 1863, 56). 1 Methodus et principia, quibus antiqui D o c t o r e s s c h o l a s t i c i Theologiam excoluerunt, temporum nostrorum necessitatibus scientiarumque progressui minime congruunt (D e n z i n g e r n. 1713). Vgl. hierüber S t a z z u g l i a , Vindiciae Syllabi Pii IX I, Ripaetransonis 1889, 150-162. 2 Vgl. V a c a n t, Etudes the'ologiques sur les constitutione du concile du Vatican d'apres les actes du concile II, Paris-Lyon 1895, 211 ff; G r a n d e r a t h, Geschichte des Vatikanischen Konzils II, Freiburg 1905, 485. 8 K a r l H o l l , Der Modernismus, Tübingen 1908, 8. 4 Vgl. De Gr.oot O. P., Leo XIII und der hl. Thomas von Aquin. Übersetzt von F u ß , Regensburg 1897.
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sophie bedeutsam geworden1. Es ist in diesem Rundschreiben die Verwertung der Philosophie zur Ergründung und Verteidigung der Glaubenswahrheiten prinzipiell und geschichtlich dargelegt und gezeigt, wie der schon in ur- und altchristlicher Zeit von den Vätern gelegte Keim in den Zeiten der Scholastik, besonders durch den hl. Thomas, zu einer herrlichen Entfaltung gelangt ist und wie die wissenschaftliche Lebensarbeit und Arbeitsweise des Aquinaten auch für die kirchliche Wissenschaft der Gegenwart, speziell für die philosophischen Studien, von Wert und Bedeutung sind. Es verbreitet sich sonach dieses Rundschreiben nicht bloß über das Wesen, sondern auch, wenigstens in den Hauptzügen, über die Geschichte der scholastischen Methode und hebt in dieser Hinsicht besonders die Kontinuität zwischen Patristik und Scholastik hervor2. Die neueste Äußerung der kirchlichen Autorität bezüglich der scholastischen Methode ist die Enzyklika „Paseendia Pius' X. über die Lehre der Modernisten vom 8. September 1907. Es wird hier als ein Kennzeichen des Modernismus der Widerwille gegen die scholastische Methode genannt und die prop. 13 des Syllabus Pius' IX. wieder in Erinnerung gebracht. Außerdem steht an der Spitze der gegen den Modernismus angeordneten Maßregeln die strenge Verordnung, daß die scholastische Philosophie zur Grundlage der kirchlichen Studien gemacht werde3. Wenn wir nach dieser Übersicht über die Kundgebungen der kirchlichen Autorität die Stellungnahme der katholischen Denker, vor allem der katholischen Theologen und Philosophen der Jetztzeit, zur 1
Acta Leönis XIII. I 255—284. Vgl. die zahlreichen Kommentare zur Enzyklika „Aeterni Patris" von Yan Weddingen, ßourquard, Schneid, Fuchs, Wehofer usw. Die inhaltlich wertvollste Erklärung ist diejenige von Franz Ehrle in den „Stimmen aus Maria-Laach" 1880 II 13 ff 292 ff 388 ff 485 ff. 2 Leo XIII. führt diesbezüglich die Worte Cajetans über Thomas an: „Qui (sc. Thomas), quia doctores sacros summe veneratus est, ideo intellectum omnium quodammodo sortitus est" (In 2, 2, q. 148, a. 4). Leider ist in der an die Enzyklika sich anschließenden thomistischeu Bewegung diese Kontinuität zwischen Patristik und Scholastik nicht genügend beachtet worden. Hätte namentlich in Deutschland die thomistische Bewegung das durch die Tübinger Schule (Möhler, Kuhn usw.) zur Blüte gebrachte Studium der Väter in höherem Maße berücksichtigt, dann wäre ein tieferes Verständnis der Scholastik erzielt, manche Einseitigkeit und manch unnötiger Schulstreit vermieden und vielleicht auch manche Reaktion gegen die Neuscholastik hintangehalten worden. 3 Rundschreiben Pius' X. über die Lehre der Modernisten. Autorisierte Ausgabe, Freiburg 1908, 92 u. 98.
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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scholastischen Methode beurteilen wollen, so tritt uns als Tatsache entgegen, daß die katholische systematische Theologie und Philosophie der Gegenwart sich zum weitaus größten Teile in der wissenschaftlichen Behandlung der Dogmen des Christentums und der philosophischen Hauptprobleme auf dem Boden der scholastischen Methode bewegt. Freilich sind hier verschiedene Abstufungen bemerkbar» Die eine Richtung nimmt das, was das eigentliche Wesen der scholastischen Methode ausmacht, an, sie strebt eine rationelle Einsicht in den Glaubensinhalt und eine Systematisierung desselben mit den Mitteln der philosophia perennis an, sie schließt sich dem scholastischen Intellektualismus an, sie adoptiert aber keineswegs die äußere Form und Technik des Scholastizismus, sondern bedient sich einer freieren, modernen Darstellungs- und Ausdrucksweise. Diese Richtung ist fernerhin auch bestrebt, auf theologischem Gebiete durch Benutzung der biblischen, patristischen, archäologischen, dogmengeschichtlichen Forschungsresultate die positiv-historische Arbeitsweise mit der scholastisch-spekulativen Methode zu verbinden und auf philosophischem Gebiete die Errungenschaften der Naturwissenschaften, die Ergebnisse der philosophiegeschichtlichen Forschung für einen gesunden Fortschritt der aristotelisch-scholastischen Philosophie nutzbar zu machen. Eine zweite Richtung eignet sich nicht bloß die wesentlichen Momente der scholastischen Methode an, sondern befürwortet auch eine möglichst ausgiebige Anwendung der äußeren Technik des Scholastizismus auf philosophischem und theologischem Gebiete. Hierher zählen vor allem Autoren lateinischer Lehrbücher der Philosophie und Dogmatik und die Verfasser von Kommentaren zur theologischen Summe des hl. Thomas 1 . In seiner Schrift „Relectio de matris dei munere in ecclesia gerendo* ahmt E. Commer 2 die äußere Technik und Struktur der mittelalterlichen „Quaestiones disputatae" nach. Der Dominikaner J. R i c h a r d 3 führt eine Reihe von Gründen für die 1
Vgl. die Lehrbücher der Philosophie von Zigliara, Remer, Mancini, Lottini, Hugon, de Maria, Schiffini, Urräburu usw., die Lehrbücher der Dogmatik von Mannens, Fei, Lottini, H. Mazzella, H. del Val, die Thomaskommentare von Satolli, Billot, Le"picier, Janssens, Buonpensiere, del Prado, Paquet, Tabarelli, Pegues. In einzelnen dieser Thomaskommentare, z. B. bei Janssens und Tabarelli, ist mit der äußeren scholastischen Technik zugleich auch ein hohes Maß von positiver historischer Arbeitsleistung verbunden. Vgl. auch B e l l a m y , La the'ologie catholique 2 au XIX e siecle, Paris 1904, 182—209. Viennae 1906. 3 Actualite de 1a methode scolastique, Revue Thomiste XV (1907/08) 770ff. Vgl. die Abhandlungen desselben Autors: Usage et abus de 1a scolastique, in Revue Thomiste XI[ (1904/05) 564—582; Proce'de's oratoires et scolastiques XV (1907/08) 174ff.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
Anwendung der äußeren Technik und Form der scholastischen Methode (Entwicklung des Beweisganges in Syllogismen, syllogistische Formulierung und Lösung von Schwierigkeiten usw.) an. Er sieht hierin ein Heilmittel gegen die intellektuellen Hauptgebrechen unserer Zeit, nämlich gegen die Unordnung und Regellosigkeit im Denken, gegen den modernen Subjektivismus als System und Tendenz, gegen die Überwucherung der Phantasie auf Kosten der Logik und die dadurch bedingte intellektuelle Anarchie und gegen die Invasion der Belletristik auf eigentlich wissenschaftliches Gebiet. Außerdem hebt Richard die hohen didaktischen Vorzüge der scholastischen Methode für das Lehren und Erlernen der Wissenschaft und die Brauchbarkeit dieses Verfahrens für die Klassifikation und Systematisierung von wissenschaftlichen Gebieten nachdrücklich hervor. V. Cathrein x verbreitet sich über die Vorzüge der scholastischen Methode auch nach ihrer äußeren Technik also: „Man hat mit Recht die Systeme der großen Scholastiker mit den herrlichen mittelalterlichen Domen verglichen. Was feinsinnige Analyse der Begriffe, Schärfe und Tiefe der Gedanken, geschlossene Konsequenz der Deduktionen betrifft, hat die Neuzeit der Scholastik nichts dem Ebenbildliches an die Seite zu stellen. Da ist kein seichtes, verschwommenes, verworrenes und orakelhaftes Gerede, wie vielfach bei den deutschen Philosophen, z. B. bei Sehelling und Hegel. Da ist Klarheit, Präzision, Schärfe, logische Konsequenz und systematischer Aufbau." Neben diesen beiden Richtungen, die entweder für die Anwendung der wesentlichen Momente der scholastischen Methode oder auch für die Handhabung der äußeren Technik und Form des Scholastizismus auf philosophischem und theologischem Gebiete sind, zeigen sich im Kreise katholischer Denker auch Richtungen und Strömungen, welche der scholastischen Methode ablehnend gegenüberstehen. Es ist solch ein ablehnender Standpunkt zum Teile in der Erwägung begründet, daß es der mittelalterlichen Scholastik an historischer Betrachtungsweise, an psychologischer Auffassung und an naturwissenschaftlichen Kenntnissen gebreche, und daß deshalb die scholastische Methode für die philosophischen und theologischen Aufgaben der Gegenwart unzulänglich sei, wenn ihr auch eine zeitgeschichtliche Bedeutung nicht abgesprochen werden könne. Indessen scheint eine solche Einschätzung der scholastischen Methode vielfach davon herzurühren, daß die innerwesentlichen Momente der scho1
Glauben und Wissen, Freiburg 1903, 196 ff.
Die scholastische Methode im Urteil der Gegenwart.
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lastischen Methode von äußeren Formen und Praktiken nicht genug unterschieden, gewisse Mängel des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebes einseitig ins Auge gefaßt werden, und daß die Frage nach der Vereinbarkeit der wesentlichen Elemente des Scholastizismus mit den wirklichen Fortschritten moderner wissenschaftlichen Methoden entweder nicht gestellt oder ohne ernsthafte Untersuchung verneint wird. Eine derartige abweisende Haltung richtet sich eigentlich nicht gegen das innere Wesen, gegen den Kern der scholastischen Methode. In direkter und scharfer Weise macht der von der kantianischen Philosophie und von der liberalen protestantischen Theologie abhängige Modernismus gegen das eigentliche Wesen der scholastischen Methode Front. Die Ablehnung des Intellektualismus und die dadurch bedingte Umwertung der Begriffe Wahrheit, Religion, Offenbarung, Glaube, Dogma, die Lösung der Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen auf dem Wege einer Verweisung der Religion in das Reich des Gefühles, die Überspannung des Entwicklungsgedankens in seiner Anwendung auf das Christentum, die Außerkurserklärung der von den mittelalterlichen Denkern vorgebrachten Beweisgründe, die rückhaltlose Aneignung der in der modernen subjektivistischen Philosophie und in der liberalen protestantischen Theologie eines A. Ritschi, Lipsius, Sabatier usw. gebräuchlichen Terminologie und wissenschaftlichen Verfahrungsweise, alle diese Seiten und Momente der modernistischen Theologie bedeuten einen prinzipiellen Bruch mit Scholastik und scholastischer Methode, und zwar mit dem eigentlichen Wesen der scholastischen Methode1, Im Anschluß an die drei charakterisierten Richtungen in Bewertung und Verwertung der scholastischen Methode seien noch die Werturteile von H e r m a n n Schell und A l b e r t E h r h a r d über die wissenschaftliche Arbeit und Arbeitsweise der mittelalterlichen Denker angeführt. Im Vorwort zum ersten Bande seiner „Katholischen Dogmatik" schreibt der Würzburger Apologet2: „Die theologische Richtung dieses Wortes ist dem traditionellen Charakter zufolge, 1 Le R o y , Dogme etCritique 5 355. D i m n e t , La pensöe catholique dan's TAngleterre contemporaine, Paris 1906. R o m o l o M u r r i , La filosofia e PEnciclicä contro il modernismo, Roma 1908. Vgl. L u c i e n R o u r e , Scolastiques et modernistes, in den Etudes par les peres de 1a Compagnie de Jesus (1908) 767—789. B e r n a r d A l l o , Foi et systemes, Paris 1908; A. G a r d e i l , La cre*dibilite* et TApologätique, Paris 1908. 2 S c h e l l , Katholische Dogmatik I, Paderborn 1889, xiv.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
den die katholische Theologie um keinen Preis verleugnen darf, scholastisch, eine Fortsetzung der scholastischen Aufgabe: wissenschaftlicher Vermittlung von Glauben und Wissen, Vernunft und Offenbarung. Auch die Methode ist scholastisch; denn diese bestand in der Anwendung einer Philosophie auf die Glaubenswahrheit, welche zugleich dem Idealismus und dem Realismus sein Recht gibt; idealistisch im Ziele, zu dem sie sich emporführen läßt; realistisch im Wege, auf dem sie vorwärts schreitet; nüchtern, streng, exakt, rechnet sie in ihren Beweisgängen nur mit Tatsächlichem." An einer andern Stelle seiner Dogmatik übt Schell an der scholastischen Denkweise folgendermaßen Kritik: „Die scholastische Denkweise hat keinen Sinn für das Werden, sondern nur für das Sein; nur für den Besitz, nicht für den Erwerb, nur, für die inhaltliche Fülle, die ruhende Beschaffenheit, nicht für die Tat, nicht für die Art ihrer Verwirklichung. Daher kristallisiert sie alle Vorzüge, welche sie für angemessen erachtet, so gut es nur geht, bereits für den ersten Augenblick und bezieht die durch die Tatsachen bekundete Entwicklung nur auf die äußerliche Übereinstimmung, Offenbarung und Darstellung. Darin ist sie mit dem spekulativen Zuge des griechischen Geistes verwandt, wie er in Plato ausgeprägt ist. . . . Diesem Kultus der habituellen Form gegenüber . . . wurde von der realistischempirischen Richtung der Neuzeit der Wert des Werdens und Wirkens, der Tat und Entwicklung bis zur äußersten Einseitigkeit betont.* Im Vorwort zum ersten Bande seiner „Apologie des Christentums" schreibt S c h e l l 1 folgende Sätze nieder: „Ich halte dafür, daß die aristotelisch-thomistische Philosophie einen bleibenden Wahrheitsbestand, eine philosophia perennis e n t h a l t e und der Gesamtphilosophie immer mehr übermitteln werde, nämlich das Z u t r a u e n auf die Kraft der V e r n u n f t , die a b s o l u t e Geltung des Kausalg e s e t z e s , die streng empirische Grundlegung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis. Darin wurzelt der m e t a p h y s i s c h e I n t e l l e k t u a l i s m u s und das w a h r e W e s e n der thomistischen Philosophie. Wer dieses preisgibt, verzichtet auf philosophisches Denken und auf apologetische Begründung überhaupt. . . ."' „Darum halten wir an der intellektualistischen Grundlage der alten Apologetik fest und verehren in ihrem Prinzip des I n t e l l e k t u a l i s m u s die philosophia perennis." 1 Apologie des Christentums, I. Bd: Religion und Offenbarung, Paderborn 1901, xiii u. xxiv.
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Von vorwiegend geschichtsphilosophischer Warte aus beurteilt A l b e r t E h r h a r d 1 Wesen und Wert der scholastischen Arbeitsweise und Arbeitsleistung. „Die Scholastik stellt sich gegenüber der Denkart der patristischen Zeit als eine Neuschöpfung dar, die als Gesamterscheinung von der altchristlichen Theologie sehr verschieden ist." „Die Entwicklung des katholischen Geisteslebens der Vergangenheit widerlegt jene Identifizierung des ganzen katholischen Denkens mit der spekulativ-deduktiven Denkweise des Mittelalters auf das wirksamste."2 „Die Scholastik ist von ihrer Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bis zu ihrem Höhepunkt in Thomas von Aquin das Produkt einer angestrengten, von hohen sittlich-religiösen Leitmotiven getragenen Geistesarbeit im Dienste der Erfassung des kirchlichen Glaubensinhaltes durch die menschliche Vernunft. . . . Ihre Errungenschaften bleibenden Wertes sind aber doppelter Natur: sie liegen einmal in der Herstellung eines in seinen Grundzügen richtigen theologisch-wissenschaftlichen Systems des Erbes der patristischen Zeit, das die großen Scholastiker, vorab der hl. Thomas, in konsequenter Fortführung der altchristlichen Systematisierungsversuche selbständig geschaffen haben, sodann in der Bereicherung des Inhaltes der Theologie selbst durch neue Erkenntnisse. . . . So hoch auch die positiven Resultate der Scholastik geschätzt werden mögen, auch ihre Blütezeit bedeutet mit nichten den Höhepunkt der Theologie überhaupt, weil sie das Produkt einer bestimmten Zeit ist und daher keinen absoluten Charakter an sich haben k a n n / 3 „Sie war das Produkt der Vorherrschaft des altchristlichlateinischen Grundfaktors, als dessen logische Offenbarung sie zugleich bezeichnet werden kann. Daher ihre wesentliche Abhängigkeit von der antiken Philosophie und der patristischen Theologie; daher auch ihr Beruf, den Geist der romanisch-germanischen Völker mit den Gedanken der altchristlich-lateinischen Zeit zu erfüllen."4 „Charakteristisch für diese Geistesrichtung war aber das Vorwalten des spekulativen Interesses an dem Verständnis des Inhaltes der geoffenbarten und von der Kirche verkündeten Lehre in ihrem Verhältnis zur menschlichen Vernunft. . . . Damit schieden die zwei großen und wichtigen Gebiete sowohl der positiven als der historischen Theologie aus dem Gesichtskreise der Scholastiker wesentlich a u s / 5 1 2 3 4
Katholisches Christentum und moderne Kultur, München 1907, 58. Ebd. 59. Ders., Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung, München 1908, 243 f 5 Ebd. 250. Ebd. 246 u. 247.
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Einführuog in die Geschichte der scholastischen Methode.
Aus dieser Übersicht über die verschiedene Stellungnahme katholischer Philosophen zur scholastischen Methode, aus den Urteilen Schells und Ehrhards über die scholastische Denkweise dürfte ersichtlich sein, daß auch für den katholischen Denker der Jetztzeit hier noch manche Frage zu lösen, mancher Widerspruch aufzuklären, manche Unklarheit zu beseitigen ist. Es treten die Fragen entgegen über die Beziehungen der scholastischen Arbeitsweise zur patristischen Theologie, über das Verhältnis der scholastischen Methode zu positiver historischer Arbeitsweise, zum Werden und Entwicklungsgedanken, zu psychologischer Betrachtungsweise, über den Wert der äußeren Technik und Form des Scholastizismus. Vor allem drängt sich die Frage auf, ob die scholastische Methode in ihren wesentlichen Momenten absolute Bedeutung oder bloß relativen zeitgeschichtlichen Charakter hat. Namentlich hat die grundsätzliche Abkehr des Modernismus von der scholastischen Methode einerseits und der energische Hinweis der Enzyklika „Paseendi" auf die scholastische Methode anderseits diese zu einem bedeutsamen Gegenwartsproblem für den katholischen Forscher gemacht. Alle diese Fragen und Probleme, die aus den Werturteilen katholischer wie nichtkatholischer Philosophen, Theologen, Historiker uns entgegentreten, werden nur dann eine befriedigende Lösung finden, eine alle Verhältnisse ins Auge fassende, wahre, gerechte Beurteilung der Scholastik wird nur dann möglich sein, wenn eine aus eingehendem und mühsamem Studium des gesamten gedruckten und ungedruckten Quellenmaterials herauswachsende Geschichte der scholastischen Methode den wirklichen Entwicklungsgang der scholastischen Denk- und Arbeitsweise mit allen dabei tätigen Faktoren von den ersten Anfangen an bis zur vollen Ausgestaltung aufzeigt. Zweites Kapitel.
Die Begriffsbestimmung der scholastischen Methode. Nachdem wir die Scholastik und die scholastische Methode in der verschiedenartigen Beleuchtung, die ihr im Urteil von katholischen und nichtkatholischen Denkern der Jetztzeit zu teil wird, geschaut und uns überzeugt haben, wie der Scholastizismus auch dem modernen Forscher eine Reihe von Fragen von teilweise aktueller Tragweite vorlegt und so zu einem Gegenwartsproblem wird, müssen wir nunmehr daran denken, eine vorläufige Begriffsbestimmung der scholastischen Methode zu geben, das, was das Wesen und den Kern
Die Begriffsbestimmung der scholastischen Methode.
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derselben ausmacht, festzustellen und von mehr zufälligen und äußeren Erscheinungen auszuscheiden. Es handelt sich hier um eine vorläufige Begriffsbestimmung zu dem Zwecke, das Terrain, auf dem unsere geschichtliche Untersuchung sich bewegen wird, zu überschauen und abzugrenzen. Eine abschließende und erschöpfende Bestimmung dessen, was die scholastische Methode ist und bedeutet, wird erst das Resultat der geschichtlichen Untersuchung ihres Werdeganges sein können und dürfen. Das eigentliche Wesen der scholastischen Methode und ihr eigentlicher Wert wird sich uns erst dann voll und ganz zeigen und enthüllen können, wenn wir auf Grund der geschichtlichen Untersuchung gesehen haben, wie und woraus und wodurch die scholastische Methode geworden und entstanden ist. Bei dieser unserer vorläufigen Begriffsbestimmung der scholastischen Methode werden wir auch manche unrichtige und einseitige Anschauung zurückweisen müssen und manche aprioristische der geschichtlichen Wirklichkeit nicht gerecht werdende Konstruktion abzulehnen haben. Wenn wir bei modernen Autoren nach einer Begriffsbestimmung der scholastischen Methode uns umsehen, bemerken wir vielfach ein Haftenbleiben an der Außenseite der Scholastik oder besser eines Teiles der scholastischen Literatur ohne tieferes Eindringen in das Wesen, in die Seele des Scholastizismus. So finden wir in Rudolf E i s l e r s „Wörterbuch der philosophischen Begriffe"1 folgende Charakteristik der scholastischen Methode: „Scholastische Methode (Scholastizismus) ist charakteristisch durch die Spitzfindigkeiten (Subtilitäten) in der Wort- und Begriffsanalyse und Definition, in der übermäßigen Wertung des Abstrakt-Begrifflichen, Sprachlichen an Stelle des Ausgehens von der Erfahrung, von Tatsachen, Erlebnissen überhaupt/ Im engeren Sinne besteht die Methode darin, „daß ein zugrundegelegter Text durch Einteilung und Erklärung in eine Anzahl von Sätzen aufgelöst wird, daß daran Fragen geknüpft und die darauf möglichen Antworten zusammengestellt werden, daß endlich die zur Begründung oder Widerlegung dieser Antworten aufzuführenden Argumente in der Form von Schlußketten vorgetragen werden, um schließlich eine Entscheidung über den Gegenstand herbeizuführen" 2. Nach Wundt besteht das Wesen des Scholastizismus „erstens darin, daß man in der Auffindung eines fest gegebenen und auf die verschiedensten Probleme in gleichförmiger Weise angewandten 1 2
II 2 , Berlin 1904, 298. W i n d e l b a n d , Geschichte der Philosophie 248.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
Begriffsschematismus die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Forschung erblickt, und zweitens darin, daß man auf gewisse Allgemeinbegriffe und folgeweise auch auf die diese Begriffe bezeichnenden Wortsymbole einen übermäßigen Wert legt, wodurch dann eine Analyse der Wortbedeutungen, in extremen Fällen eine leere Begriffstüftelei und Wortklauberei an die Stelle der Untersuchung der wirklichen Tatsachen tritt, aus denen die Begriffe abstrahiert sind" 1. R i c h a r d F a l c k e n b e r g 2 gibt in der seiner „Geschichte der neueren Philosophie" beigegebenen Erläuterung der wichtigsten philosophischen Kunstausdrücke über Scholastik und scholastische Methode diesen Aufschluß: „Scholastik, die Philosophie des Mittelalters seit dem 9. Jahrhundert (vorher Patristik), welche, Kirchenlehre und aristotelische Philosophie verbindend, Glauben und Wissen für vereinbar hält und wissenschaftliche Vertretung eines autoritativ gegebenen Lehrinhalts der Philosophie zur Aufgabe setzt. Scholastisch heißt dasjenige Verfahren, welches sachliche Schwierigkeiten mit schulmäßigem Formalismus durch abstraktes Raisonnement und spitzfindige Distinktionen zu erledigen meint/ Ähnlich äußert sich auch über das Wesen des Scholastizismus P a u l W e r n l e 3 : „Zur Scholastik gehören immer zwei Elemente, eine heilige dogmatische Tradition, festgelegt in Bekenntnisworten und Vätertexten und ein rein äußerlich herzugebrachter philosophischer Denkapparat, mit dessen Hilfe (Definition, Syllogismen etc.) die von der Tradition noch nicht ganz erledigten Punkte, besonders Widersprüche innerhalb der Tradition glatt zu erledigen sind. Während wissenschaftliches Denken von den Tatsachen selbst ausgeht, hält sich die Scholastik stets an die Gedanken anderer über die Tatsachen oder an die Gedanken, welche andere über die Gedanken anderer gedacht haben." Von dieser Auffassung der scholastischen Methode als eines schulmäßigen Formalismus zum Behufe einer Überbrückung von sachlichen Widersprüchen und Schwierigkeiten, die durch den überlieferten Lehr1
Philosophische Studien XIII 345. Geschichte der neueren Philosophie4, Leipzig 1902, 565. 3 Einführung in das theologische Studium, Tübingen 1908, 216. Nach F r i e d r i c h Loofs (Dogmengeschichte 499) bezeichnet „der Sprachgebrauch der Gegenwart als ,scholastisch* diejenige Wissenschaft, welche sachliche Schwierigkeiten, die eine vor der wissenschaftlichen Arbeit feststehende Überzeugung drücken, durch schulmäßigen Formalismus zu erledigen sucht und a b g e n ö t i g t e Kompromisse zwischen Vernunft und Autorität als vernunftgemäß zu erweisen bestrebt ist". 2
Die Begriffsbestimmung der scholastischen Methode.
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stoff in Bezug auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Autorität nahegelegt sind, von dieser Beschreibung und Begriffsbestimmung der scholastischen Methode ist grundverschieden eine andere Anschauung, welche unter scholastischer Methode die hauptsächlich seit Abälard allgemein in Gebrauch gekommene Anwendung des dreigliedrigen Schemas: Einwendungen und Gegeninstanzen (videtur, quod non; sed contra), Lösung der Frage (respondeo dicendum, corpus) und Beantwortung der Einwände (ad primum etc.) versteht. Diese Begriffsbestimmung ist dann richtig, wenn man hier scholastische Methode in einem engeren Sinne als die namentlich im 13. Jahrhundert übliche Lehrmethode, als die äußere Technik des Unterrichts und großenteils auch der schriftstellerischen Tätigkeit dieser Zeit faßt. Es ist hier die formale Gestaltung der Scholastik, die äußere Form, welche die scholastische Methode im mittelalterlichen Schulbetriebe angenommen hat, ins Auge gefaßt. De Wulf 1 , der sich über die Methode der Scholastik, speziell der scholastischen Philosophie verbreitet, unterscheidet zwischen konstruktiven und zwischen pädagogischen oder didaktischen Methoden der Scholastik. In ersterer Hinsicht sieht er, namentlich in den Zeiten der Vor- und Frühscholastik (Scotus Erigena, Anselm von Canterbury, Alanus de Insulis), die synthetische oder deduktive Methode, in den Zeiten der werdenden Hochscholastik auch die analytische Methode und in der eigentlichen Hochscholastik, vornehmlich bei Thomas von Aquin, die analytisch-synthetische Methode angewendet. Von den konstruktiven Methoden unterscheidet de Wulf die pädagogischen Methoden, die Lehrmethoden der Scholastik und verbreitet sich über die verschiedenen Formen und Betätigungen dieser didaktischen Methoden (Kommentierung von Texten, systematische Exposition, Anwendung des Syllogismus usw.). Unter diese didaktischen Methoden fällt nun auch dieses dreigegliederte Schema, welches bei der Erörterung einzelner Fragen durch Darbietung von Einwänden und Gegeninstanzen, von prinzipieller Lösung des Problems und von Beantwortung der Einwände Anwendung fand. Dieses Schema kann nur in dem Sinne als scholastische Methode bezeichnet werden, wenn unter dieser die scholastische Lehrmethode verstanden ist 2 . 1
introduction ä 1a philosophie ne"o-scolastique, Louvain-Paris 1904, 32—46. Ganz korrekt und treffend redet deswegen J. A. E n d r e s , Über den Ursprung und die Entwicklung der scholastischen Lehrmethode, in Philos. Jahrbuch 1889, 52 ff, während P i c a v e t weniger genau sich ausdrückt: Abelard et Alexandre de Haies, ereateurs de 1a rnethode scolastique, Paris 1896. 2
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Indessen ist dieses Schema keineswegs das, was das Wesen und die Seele der scholastischen Denk- und Arbeitsweise ausmacht, ist nicht die scholastische Methode schlechthin. Sie ist nur eine Seite, eine Äußerung der eigentlichen scholastischen Methode und sicherlich eine wichtige und äußerst beachtenswerte Äußerung derselben, was sich aus dem schon durch den Namen Scholastik, scholasticus angedeuteten innigen und innerlichen Verhältnis der mittelalterlichen Wissenschaft zum Schulbetrieb und dem daraus fließenden Charakter der scholastischen Philosophie und Theologie als S c h u l w i s s e n schaft ergibt1. Daß jedoch dieses Schema, diese im mittelalterlichen Schulbetrieb in Schwung gekommene Lehrmethode, nicht das Wesen der scholastischen Denk- und Arbeitsweise, der scholastischen Methode ausmacht, ergibt sich aus folgenden Erwägungen. Fürs erste drängt dieses Schema selbst dazu, einen tiefer liegenden Grund für dasselbe zu suchen. „Dieses Schema", bemerkt Cl. Bäumker 2 , „ist nicht bloße Darstellungsform, nicht bloß ein äußeres Kleid für den mittelalterlichen Gedanken. Auch hier offenbart sich in der Form die Eigenart der spekulativen Denkweise des Mittelalters selber." Es will also dieses Schema aus tiefer liegenden Ursachen und Wurzeln erklärt und bestimmt werden. Fürs zweite würde eine solche Identifizierung dieses Schemas, dieser Lehrmethode mit der scholastischen Methode schlechthin zu der Konsequenz führen, daß wir einer Reihe von hervorragenden Scholastikern und von bedeutsamen scholastischen Publikationen die Anwendung der scholastischen Methode absprechen müßten, weil wir bei denselben diese äußere Technik, dieses Schema gar nicht oder nur sporadisch entdecken. Es würden so die Werke des hl. Anselm, des Vaters der Scholastik, de3 Hugo von St Viktor, das „Breviloquium" des hl. Bonaventura, die „Summa contra Gentes" und das „Compendium theologiae* des Aquinaten usw., lauter Perlen scholastischer Wissenschaft, nicht nach scholastischer Methode gearbeitet sein. Wenn wir eine vorläufige Begriffsbestimmung der scholastischen Methode geben wollen, wenn wir feststellen wollen, was das eigent1
Zur geschichtlichen Entwicklung und Bedeutung des Wortes „scholas t i c u s " vgl. D u c a n g e , Glossarium; H e r g e n r ö t h e r - K i r s c h , Handbuch der allgemeinen Kirchengeschichte II, Freiburg 1904, 494 A. 1; Ü b e r w e g H e i n z e, Grundriß der Geschichte der Philosophie II 9 , Berlin 1905, 158. 2 Geist und Form der mittelalterlichen Philosophie, in der Internationalen Wochenschrift, 1. Jahrg. 1907, 464.
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liehe Wesen des Scholastizismus ausmacht, dann werden wir am besten schon im voraus die Scholastiker selbst zu Rate ziehen und bei ihnen uns befragen müssen, worin sie das Wesen, den Kern, das Ziel ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise gesehen haben. Es genügt hier, zu dem Zwecke einer vorläufigen Begriffsbestimmung nur einige gewichtige Zeugen aufzurufen. Es sei vor allem auf das „fides quaerens intellectum" und das „credo, ut intelligam" des hl. Anselm von C a n t e r b u r y hingewiesen. Unsere geschichtliche Darstellung wird den Nachweis erbringen, daß hier das großartige wissenschaftliche Arbeitsprogramm des Vaters der Scholastik ausgesprochen ist, und daß dieses Arbeitsprogramm zugleich das Echo der Patristik, besonders Augustins, und auch das wirksame Vorbild für die folgende Scholastik gewesen. Der Sinn und die Tragweite dieses Arbeitsprogramms Anselms ist das Erstreben eines Verständnisses der Glaubenswahrheit, einer rationellen Einsicht in den Offenbarungsinhalt, und zwar auf dei festen und unerschütterlichen Grundlage des Glaubens. Die durch die auetoritas (Kirche, Schrift, Väter) gegebene certitudo fidei soll durch Versenkung der durch den Glauben erleuchteten Vernunft in die OffenbarungsWahrheit zur fidei ratio, zum fidei intellectus fortschreiten. Auetoritas und ratio sind die Angelpunkte der wissenschaftlichen Methode Anselms von Canterbury. Vernehmen wir einen weiteren Zeugen. In der ungedruckten Glosse des Petrus von Poitiers zu Petrus Lombardus, der ältesten Erklärung zum „Magister sententiarum" 11 findet sich folgende Stelle: „Omnis", inquit „doctrina vel rerum est vel significationum. S a t i s hie r e d o l e t l o q u e n d i modus d o c t o r e m scholasticum. In hunc enim modum in logicam introducendi doctrina tradi solet. Logices intentio circa duo versatur scilicet circa significantia et significata. Quod autem, ait Augustinus, vel rerum vel signorum idem est ac si dixisset significantium et significatorum. Nonnulla tarnen est differentia inter theologiae signa et liberalium artium significantia. In illis enim voces significantia, in hac res signa dieuntur." Weiter unten heißt es dann 2 : „Auctoritatibus veteris et novi testamenti prius veritas est astruenda, seeundo rationibus, tertio similitudinibus/ Es ist hier als Kennzeichen des doctor scholasticus die innige Beziehung und Fühlung der Philosophie (Logik) mit der Theologie angegeben und sind zugleich die auetoritates und rationes als Grundelemente der theologischen Wissenschaft namhaft gemacht. 1
Cod. Paris. Bibl. nat. lat. 14423 fol. 41 r .
Grab mann, Scholastische Methode. I.
2
Ebd. fol. 42 r 3
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
Sehr bestimmt spricht sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts Petrus von Capua 1 in seiner gleichfalls ungedruckten Summa über die theologische Methode aus: „Modus autem tractandi quaestiones theologicas secundum magistrum talis est. Primo iacietur fundamentum auctoritatum, secundo erigentur parietes argumentorum et quaestionum, tertio supponetur tectum solutionum et rationum, ut quod in domo Dei auctoritas quasi certum proponit, argumentatio sive quaestio discutiat, solutio sive ratio elucidet et darum reddat." Es tritt uns hier die Verbindung von auctoritas und ratio entgegen, und zwar in einer bestimmten äufceren Technik, in einer äußeren schulmäßigen Form. Der durch die auctoritas gegebene Offenbarungsinhalt gibt der menschlichen Vernunft Veranlassung und Anregung zu einer Reihe von Fragen, Einwänden und Schwierigkeiten, deren Beantwortung und Lösung eine rationelle Einsicht in die übernatürliche Wahrheit, natürlich unbeschadet des Geheimnischarakters, gewährt. Auch Wilhelm von A u x e r r e 2 , dieser in seiner Bedeutung für die eigentliche Hochscholastik bisher noch nicht gewürdigte Theologe, stellt an der Spitze seiner „Summa aurea" als wissenschaftliches Verfahren, als Methode sowohl der magistri (Scholastik) wie auch der patres (Patristik) das Streben nach rationeller Ergründung und Begründung der Glaubenswahrheiten hin: „Rationibus humanis nituntur probare tidem vel articulos fidei." Er rechtfertigt sodann dieses Verfahren mit dem Hinweis auf die Bedeutung desselben für die Mehrung und Befestigung des Glaubens im Gläubigen selbst, für die defensio fidei contra haereticos und für die promotio simplicium ad veram fidem. Der hl. B o n a v e n t u r a 3 äußert sich über den bei Behandlung des Trinitätsgeheimnisses einzuschlagenden Weg folgendermaßen: „De ipsa SS. Trinitate tripliciter contingit tractare, quoniam primo contingit ipsam c r e d e r e , secundo creditam i n t e l l i g e r e , tertio intellectam dicere vel enuntiare. Credere autem est per auctoritatem, intelligere per rationem, dicere per catholicam et rationabilem locu1
Cod. Yat. Lat. 4296 fol. l r . Guilelmi A l t i s s i o d o r e n s i s Summa aurea, Praefatio, Parisiis 1500, fol. 1 r . 3 Sent. L, d. 2 divisio textus. Weiter unten schreibt ders.: „Modus scribendi de Trinitate debet esse fundatus supra intellectum fidei et cum modestia et timore propter periculum. I n t e n t i o scribentium de Trinitate est ostendere, quod Pater et Filius et Spiritus Sanctus sunt tres personae et unus Deus. 0 r d o scribendi est, primo per auctoritates ostendere veritatem, deinde per rationes et congruas similitudines." 2
Die Begriffsbestimmung der scholastischen Methode.
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tionem. Ideo primo de ipsa Trinitate et Unitate agit, secundum quod creditur; secundo de ipsa, secundum quod credita per rationem intelligitur; tertio, secundum quod credita et intellecta rationabiliter et catholice exprimitur." Zur auctoritas und ratio gesellt sich hier noch das Streben nach einer kirchlich wie wissenschaftlich korrekten theologischen Terminologie. Mit der ihm eigenen Klarheit und Schärfe umschreibt der hl. Thomas 1 das Wesen der in der Theologie zu befolgenden Methode. Er stellt sich die Frage: „ Utrum determinationes theologicae debeant fieri auctoritate vel ratione?" und gibt hierauf zur Antwort: „Disputatio ad duplicem finem potest ordinari. Quaedam enim disputatio ordinatur ad removendum dubitationem an ita sit; et in tali disputatione theologica maxime utendum est auctoritatibus, quas recipiunt illi, cum quibus disputatur. . . . Quaedam vero disputatio est magistralis in scholis non ad removendum errorem, sed ad instruendum auditores, ut inducantur ad intellectum veritatis quam intendit: et tunc oportet rationibus inniti investigantibus veritatis radicem, et facientibus scire quomodo sit verum quod dicitur: alioquin si nudis auctoritatibus magister quaestionem determinet, certificabitur quidem auditor quod ita est, sed nihil scientiae vel intellectus acquiret, sed vacuus abscedet." In dieser Darlegung stellt der Aquinate als die beiden treibenden Faktoren der theologischen Methode die auctoritas und ratio in der Weise hin, daß durch die auctoritas uns das Daß die Wirklichkeit und Wahrheit der übernatürlichen Geheimnisse und Tatsachen verbürgt ist, und daß durch die ratio ein Eindringen in das Wie und W a r u m dieser Glaubensinhalte und hiermit eine gewisse Einsicht in dieselben erstrebt wird. Auctoritas und ratio stehen hier nicht als Gegensätze, nicht als Repräsentanten zweier verschieden gearteter theologischer Richtungen einander gegenüber. Die auctoritas bildet vielmehr die Voraussetzung, die unverrückbare Basis für die Betätigung der ratio in der Ergründung und Begründung der Glaubenswahrheiten. Indessen scheint der Schwerpunkt für den wissenschaftlichen Betrieb der Theologie in diesem thomistischen Texte auf die ratio verlegt zu sein. Die Kommentatoren haben für die Unterscheidung von theologia positiva und speculativa sive scholastica sich mehrfach auf diese Stelle berufen. 1
Quodlib. 4, q. 9, a. 18; cf. S. theol. 1, q. 1, a. 7; S. c. Gent. 1, cap. 3 u. 8. Eine eingehende Würdigung und Analyse dieser Texte wird natürlich erst bei der geschichtlichen Darstellung der Methode des hl. Thomas vorzunehmen sein. 3*
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Einführung in, die Geschichte der scholastischen Methode.
Wenn wir nun aus diesen Äußerungen mittelalterlicher Denker über ihre wissenschaftliche Methode eine vorläufige Begriffsbestimmung der scholastischen Methode ableiten wollen, dann sehen wir in negativer Hinsicht, daß die Scholastiker selbst keineswegs in äußerem Formalismus und auch nicht in der Anwendung des dreigliederigen Schemas, was wir oben als scholastische Lehrmethode bezeichneten, das Wesen und den Kern der scholastischen Methode gesehen haben. In positiver Hinsicht begegnet uns hier als das Charakteristikum der theologischen Methode das Bestreben, vornehmlich durch Verwertung der Philosophie eine Einsicht in die Glaubenswahrheit zu erzielen. Aus dieser Auffassung des eigentlichen Wesens der scholastis€hen Methode erklären sich auch die verschiedenen Erscheinungen und Äußerungen des mittelalterlichen philosophischtheologischen Wissenschaftsbetriebes. Bei dem Bemühen, die übernatürliche Wahrheit dem Denken näher zu bringen, in das Wie und Warum derselben, unbeschadet ihres Geheimnischarakters, eine rationelle Einsicht zu gewinnen, manifestiert sich der Komplex der übernatürlichen Wahrheiten als ein erhabener Organismus von Geheimnissen, es treten tiefe Zusammenhänge und lebensvolle Verbindungen zwischen diesen Wahrheiten zu Tage und regen den Theologen zur Darstellung dieser Zusammenhänge, zur systematisierenden Tätigkeit an. Bei diesem Streben nach rationeller Einsicht in den Offenbarungsinhalt werden sich auch mannigfache Einwände und Schwierigkeiten auf Seiten der Vernunft und der Philosophie erheben, es zeigen sich Antinomien zwischen auctoritas und ratio, die behoben werden wollen. Daher die den Scholastikern geläufige Gepflogenheit, Einwände zu erheben und zu lösen, Fragen und Probleme aufzustellen und zu beantworten. Diese systematisierende Tendenz und noch mehr dieses Verfahren, Einwände, Schwierigkeiten zu machen und zu lösen, haben unter dem Einfluß verschiedener äußerer Faktoren in allmählicher Entwicklung auch zur Festlegung einer äußeren Technik und Darstellungsform der wissenschaftlichen Arbeit geführt. Wenn wir all diese Momente zusammenfassen, können wir die folgende Begriffsbestimmung der scholastischen Methode geben: Die s c h o l a s t i s c h e Methode will durch A n w e n d u n g der V e r n u n f t , der P h i l o s o p h i e auf die Offenbarungsw a h r h e i t e n m ö g l i c h s t e E i n s i c h t in den G l a u b e n s i n h a l t gewinnen^ um so die ü b e r n a t ü r l i c h e W a h r h e i t dem d e n k e n d e n M e n s c h e n g e i s t e i n h a l t l i c h n ä h e r zu b r i n g e n , e i n e s y s t e m a t i s c h e , o r g a n i s c h zusammen-
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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fassende G e s a m t d a r s t e l l u n g der H e i l s w a h r h e i t zu ermöglichen und die gegen den O f f e n b a r u n g s i n h a l t vom V e r n u n f t s t a n d p u n k t e aus erhobenen Einwände lösen zu können. In a l l m ä h l i c h e r E n t w i c k l u n g h a t die schol a s t i s c h e M e t h o d e sich eine b e s t i m m t e ä u ß e r e Technik, eine ä u ß e r e Form geschaffen, sich gleichsam vers i n n l i c h t und v e r l e i b l i c h t . Diese Begriffsbestimmung wird wenigstens in der Hauptsache von mehreren neueren Autoren vertreten. So bemerkt J. V. B a i n v e l 1 ganz richtig, daß die scholastische Methode unter einem doppelten Gesichtspunkte betrachtet werden kann: secundum substantialia und secundum processum stricte dialecticum. Secundum substantialia besagt die scholastische Methode in erster Linie den „usus rationis in rebus fidei, prout est conatus fidei quaerentis intelligere quod credit". Der processus stricte dialecticus ist weder der scholastischen Methode allein eigentümlich noch auch mit ihr notwendig verbunden, er ist jedoch, wenn in der rechten Weise gehandhabt, von großem Nutzen für die Zwecke der Begriffsbestimmung, der Unterscheidung und der Beweisführung. Wie Bainvel ganz richtig andeutet, beziehen sich auch die Kundgebungen der kirchlichen Autorität zu Gunsten der scholastischen Methode auf deren substantielles Element. In dieselbe Richtung fällt auch die Bestimmung der scholastischen Methode durch H. Kihn 2 : „Sie ist eine Methode der Theologie, in welcher ganz vorzüglich von der Philosophie Gebrauch gemacht wurde, indem sie den Inhalt, welchen die positive Theologie aus den Quellen der Offenbarung mitteilte, mit der Spekulation durchdrang, um weitere Erkenntnisse daraus abzuleiten, die gewonnenen tiefer und allseitiger zu erfassen und nach ihrem inneren Zusammenhange zu einem System zu gestalten." D r i t t e s Kapitel.
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode. Eine Darstellung der Geschichte der scholastischen Methode und ein auf eine solche Darstellung sich stützendes Werturteil über Scholastizismus wird nur dann der objektiven Wirklichkeit ent1 2
De magisterio vivo et traditione, Paris. 1905, 91. Enzyklopädie und Methodologie der Theologie, Freiburg 1892, 53.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
sprechen, wenn ein umfassendes Studium und eine gewissenhafte Analyse der Quellen die Grundlage bildet. Die Verschiedenheit der über die Scholastik bestehenden Auffassungen rührt zu einem guten Teile davon her, daß man, statt auf dem Wege mühsamer Quellenstudien und sorgsamer Quellenkritik sich über die Einzelheiten der Scholastik genau zu unterrichten und erst auf Grund genauester Einzelerkenntnisse zu einem allgemeinen Urteil fortzuschreiten, sich mit Hilfe sekundärer und tertiärer Darstellungen ein Bild vom Werden, Wesen und Wert der Scholastik konstruiert und so Richtungen, Entwicklungen und Zusammenhänge in das mittelalterliche Denken hineinträgt, die niemals wirklich waren. Eine derartige Mischung von Dichtung und Wahrheit ist nicht gut möglich, wenn man in der Darstellung der Geschichte der Scholastik analytisch und induktiv verfährt und sich die Mühe nicht reuen läßt, das gesamte einschlägige Quellenmaterial durchzuarbeiten und durchzuprüfen. Diese Durchprüfung darf sich nicht lediglich auf die gedruckten Quellen beschränken, sondern muß auch die ungedruckten umfassen. Denn es ist sowohl aus der Vorscholastik, Früh- und Hochscholastik wie auch aus der Verfallzeit der Scholastik eine Fülle bedeutsamen Materials ungedruckt geblieben. Ja man kann ohne Übertreibung behaupten, daß der relativ größere Teil der scholastischen Schriften des Mittelalters noch ungedruckt in den Handschriftenbeständen der Bibliotheken begraben liegt. Wenn schließlich auch die bedeutendsten Vertreter der einzelnen Perioden der Scholastik im Drucke zugänglich sind, so sind doch Schriften, die für Gewinnung eines Einblickes in die Genesis der Scholastik sowohl nach der Methode wie auch nach dem Inhalte sehr wertvoll sind, ungedruckt geblieben. Bei den großen Scholastikern tritt uns Methode und Doktrin mehr oder minder als etwas Fertiges, Abgeschlossenes, als etwas Gewordenes entgegen. Das wissenschaftliche Interesse erheischt nun eine Analyse dieser fertigen, abgeschlossenen Methode und Doktrin in die geschichtlichen Komponenten und Elemente, eine Erforschung der Faktoren, welche solch ein wissenschaftliches Verfahren und solche wissenschaftliche Gedankengänge bewirkt haben. Diese genetische Betrachtungsweise wird nun gerade auf dem Gebiete der Scholastik, wenn der Forscher sich lediglich auf die gedruckten Quellen stützt, auf viele Fragen keine Antwort geben, wird viele Erscheinungen nicht geschichtlich erklären können. Es ist oft der Fall, daß gerade diejenigen scholastischen Quellen, welche die Veranlassung
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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zu bestimmten methodischen Verfahrungsweisen und auch zu bestimmten Lehranschauungen gegeben haben, ungedruckt sind. Außerdem ist zu erwägen, daß bei der ersten Drucklegung der scholastischen Schriften nicht immer der innere Wert und die geschichtliche Bedeutung eines Werkes maßgebendes Motiv gewesen ist. Es haben vielmehr nicht selten zufällige umstände dazu zusammengewirkt, daß Werke gedruckt wurden, die an allgemeingültigem Werte und an geschichtlichem Interesse tief unter Werken stehen, denen die Ehre der Druckveröffentlichung nicht zu teil geworden ist. Im Laufe unserer Darstellung der Geschichte der scholastischen Methode, vornehmlich bei der Behandlung des 12. Jahrhunderts und bei der Darstellung der ersten Dezennien des 13. Jahrhunderts, wird sich oftmals Gelegenheit geben, auf diese Tatsache der Nichtdrucklegung beachtenswerter scholastischer Werke hinzuweisen. Es seien hier vorderhand nur einige Belege summarisch angeführt, die zugleich die Notwendigkeit, das ungedruckte Quellenmaterial zu berücksichtigen, beweisen. Aus der Vorscholastik sind die für die scholastische Methode in mehrfacher Hinsicht belangreich gewordenen lateinischen patristischen Florilegien großenteils ungedruckt. Desgleichen ist die durch Traube, Steinmeyer-Sievers, Rand usw. angeregte und unternommene Untersuchung der handschriftlichen Glossenliteratur des 9. und 10. Jahrhunderts noch lange nicht abgeschlossen. Ein für die Geschichte der Scholastik sehr interessantes Anekdoton ist das nur in zwei Handschriften erhaltene „Speculum maius" des Radulfus Ardens (ca 1100). Aus den ersten Dezennien des 12. Jahrhunderts sind die Sentenzen des Wilhelm von Champeaux und auch diejenigen des Anselm von Laon seit kurzem teilweise ediert, während die Sentenzen des Wutolf und eine Reihe gleichzeitiger anonymer Sentenzensammlungen noch ungedruckt sind. Auch zur Beurteilung Hugos von St Viktor kann, wie im zweiten Bande dieser Geschichte der scholastischen Methode dargetan werden wird, die handschriftliche Forschung noch manches neue Ergebnis beibringen, wie auch die von Denifle angestellte Untersuchung der Schule Abälards auf eine Reihe ungedruckter theologischer Traktate aufmerksam gemacht hat. Ungedruckt sind die für die Sakramentenlehre des 12. Jahrhunderts bedeutsamen Sentenzen des Gandulphus und mehrer'e Traktate aus der Schule Gilberts de 1a Porree. Die für die Geschichte der scholastischen Methode hochbedeutsame Schrift Walters von St Viktor gegen Abälard, Lombardus, Peter von Poitiers und Gilbert de 1a Porree (Contra quatuor labyrinthos Franciae) ist
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nur in einzelnen Bruchstücken ediert. Das vielleicht bedeutendste und umfassendste Sentenzenwerk aus dieser Zeit, die Sentenzen oder eigentlich die „Summa theologiae" des Robert von Melun, ein Werk, dessen Nachwirkung noch im 13. Jahrhundert zu verspüren ist, ist noch ungedruckt. Das Ende des 12. und der Anfang des 13. Jahrhunderts weisen eine große Zahl ungedruckter Sentenzenwerke bzw. Summen auf, die als Produkte einer Übergangszeit sowohl für den Werdegang der scholastischen Methode wie auch für die Beurteilung der Lehrentwicklung von hohem Werte sind. Es seien hier, abgesehen von vielen anonymen Werken, die mehr praktischen Tendenzen gewidmeten Summen des Petrus Cantor, Robert de Courtjon, Stephan von Langton, Guido d'Orchelles genannt. Dann die vorzugsweise spekulativ und dialektisch gehaltenen Summen des Magister Martinus, Petrus von Capua, Simon von Tournai, Martinus de Fugeriis und besonders des auch vom hl. Thomas zitierten und benützten Präpositinus. Auch die Summa des ersten Pariser Theologieprofessors aus dem Dominikanerorden, des Roland von Oremona, liegt noch ungedruckt in der Bibliotheque Mazarine zu Paris. Eine Durchforschung der scholastischen Handschriftenbestände wird auch auf den mächtigen Einfluß der auch gedruckten und in wenigen Druckexemplaren, jedoch in sehr vielen Handschriften erhaltenen dogmengeschichtlich sehr bedeutsamen „Summa aurea" des Wilhelm von Auxerre stoßen und eine förmliche Schule, die sich um diesen Theologen schart, entdecken. Als Repräsentanten dieser Schule kommen außer einigen Epitomatoren hauptsächlich Johannes von Treviso und Gaufrid von Poitiers in Betracht. Eine wertvolle ungedruckte Summa, in der schon merklich die metaphysischen und physischen Schriften des Aristoteles sich geltend machen, ist die „Summa de bono* des Pariser Universitätskanzlers Philipp Greve. Aus dieser summarischen Übersicht erhellt, daß der größere Teil der Sentenzen und Summen, die den großen Summen des Alexander von Haies, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Heinrich von Gent vorangingen, noch ungedruckt sind. Auch hinsichtlich der Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus verhält es sich ähnlich. Der älteste in Form einer Glosse abgefaßte Kommentar zum Lombarden aus der Feder des Petrus von Poitiers, dessen Sentenzen auf Thomas eingewirkt haben, ist bloß als Manuskript in nur drei Exemplaren erhalten. Auch spätere, methodisch interessante Sentenzenkommentare, z. B. jene
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des Hugo de St-Cher, Robert Kilwardby, Robert Fitzacker, sind nicht gedruckt worden. Desgleichen stehen die ältesten Typen der Quästionen- und Quodlibetalienliteratur, die durch Robert von Melun, Simon von Tournai u. a. vertreten sind, und auch bedeutsame spätere Erzeugnisse dieser Literaturgattung, z. B. von Gerhard von Abbatisvilla, Wilhelm von Melitona, nur dem Erforscher von Handschriften zur wissenschaftlichen Verfügung. Auch die größere Zahl der für die Arbeitsmethode der Scholastik in mehr als einer Hinsicht belangvollen Enzyklopädien, Glossare usw. ist uns nur handschriftlich erhalten. Was die philosophische Prolegomenaliteratur betrifft, so ist uns jetzt durch L. Baur die „Divisio philosophiae" des Gundissalinus erschlossen, während das spätere parallele Werk des Robert Kilwardby noch nicht ediert ist. Auch auf dem Gebiete der Aristotelesübersetzung und der Aristotelesbenützung in den verschiedenen Epochen der Scholastik kann nur durch handschriftliche Forschungen manches Dunkel aufgehellt werden. Selbst aus den Zeiten der Hochscholastik ist so manches wissenschaftliche Wertstück noch in den Handschriftensammlungen verborgen. Hierher zählt der größte Teil der literarischen Nachlassenschaft des Robert Greathead von Lincoln und der von ihm abhängigen ältesten Franziskanertheologen Englands. Wieviel wertvolles theologisches Material gerade aus der Franziskanerschule noch un gedruckt ist — von dem reichen literarischen Nachlaß z. B. des Matthäus von Aquasparta ist nur ein Teil erst in neuester Zeit ediert worden — und wie namentlich die Zwischenglieder zwischen der älteren Franziskanerschule und Duns Scotus noch nicht untersucht ist, davon können wir uns aus den Prolegomena zu den einzelnen Bänden der monumentalen Bonaventura-Ausgabe von Quaracchi einen Begriff machen. Aus der Schule Alberts des Großen ist neben vielem andern die gewaltige Summa des Ulrich von Straßburg noch nicht gedruckt. Selbst das Studium der Werke des hl. Thomas gewinnt durch handschriftliche Studien vielfach an Beleuchtung und Vertiefung. Wenn man nämlich die zu einem guten Teile ungedruckten Werke der ihm vorhergehenden Zeit und seiner theologischen Zeitgenossen berücksichtigt, wird man in der Lage sein, die auf die Genesis der thomistischen Doktrin einwirkenden Einflüsse zu bestimmen und namentlich die vom Aquinaten als „quidam" eingeführten, bekämpften oder richtiggestellten Theologen zu identifizieren. Außerdem ist zu be* achten, daß die Schriften der dem Aquinaten am treuesten ergebenen
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unmittelbaren und mittelbaren Schüler, wie eines Bernhard von Gannat, Thomas von Suttona, Bernhard von Trilia, Johannes von Neapel, Herväus Natalis usw., entweder ganz oder großenteils Anekdota sind, Schriften, die über die wissenschaftlichen Intentionen des großen Lehrers einen authentischen Aufschluß geben können. Auch die für die Beurteilung des Aquinaten beachtenswerte, durch das „Correctorium fratris Thomae" des Franziskaners Wilhelm de 1a Mare hervorgerufene Verteidigungsliteratur, ist bis auf eine einzige Ausnahme noch ungedruckt, ebenso wie auch die ältesten tabulae, alphabetischen Inhaltsübersichten und Verzeichnisse der Differenzen zwischen dem Sentenzenkommentar und der Summa des hl. Thomas. Aus dieser gedrängten Übersicht, die nur den Charakter eines vorläufigen summarischen Überblickes hat, dürfte sich zur Genüge die Notwendigkeit einer systematischen Berücksichtigung und Durcharbeitung auch des ungedruckten Quellenmaterials zum Behufe einer den wirklichen Verhältnissen gerecht werdenden Darstellung und Würdigung der scholastischen Methode und Doktrin ergeben. Die Schwierigkeiten eines solchen Studiums, auf welche F r a n z E h r l e 1 vor 25 Jahren aufmerksam gemacht hat, bestehen freilich in wesentlichen Punkten auch heutzutage noch fort. Wenn wir nunmehr das für den Historiker der scholastischen Methode in Betracht kommende Q u e l l e n m a t e r i a l , das gedruckte wie das ungedruckte, mit einem Blicke überschauen wollen, so führt die Analyse der im 13. Jahrhundert bei Thomas von Aquin und Bonaventura in fertiger und vollendeter Gestalt uns entgegentretenden scholastischen Methode in ihre historischen Komponenten uns zurück bis in die Zeit der Väter. Es ist dies die Zeit der ersten Ansätze, der Grundlegung der scholastischen Methode als des Bestrebens, die Geheimnisse des Glaubens dem vernünftigen Denken näher zu bringen, dieselben als eine Gesamtheit und Einheit, als System darzustellen und sich zeigende Schwierigkeiten und Einwände zu lösen. Es werden deswegen für diese Epoche als Quellen die Werke nach ihrer methodischen Seite, namentlich nach dem Gesichtspunkte der Anwendung der Philosophie auf die Glaubenslehre, des Verhältnisses zwischen Glauben und Wissen, auctoritas und ratio sowie auch nach dem Gesichtspunkte der Systematik ins Auge zu fassen sein. Vorzüglich kommen jene Väter in Betracht, auf welche 1
Das Studium der Handschriften der mittelalterlichen Scholastik, in Zeitschrift für kath. Theologie 1883, 1—51.
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die Scholastiker gerade in methodischer Hinsicht verweisen und deren Schriften auf die Scholastik einen nicht bloß inhaltlichen, sondern auch methodischen Einfluß ausgeübt haben. Für die an die Patristik sich anschließende Übergangszeit, die der eigentlichen Scholastik vorausgeht, kommen als Quelle hauptsächlich jene Autoren in Betracht, welche antik - philosophisches und patristisches Material weiter tradiert und Ansätze zur Verwertung der Dialektik im Dienste der Theologie und zur Systematik gemacht haben. Die Hauptquellen für die Darstellung der scholastischen Methode der eigentlichen Scholastik, sowohl der Früh- wie auch der Hochscholastik, sind die gedruckten und ungedruckten Werke der Scholastiker selbst, betrachtet unter dem Gesichtspunkte der Methode, der wissenschaftlichen Arbeitsweise. Also das ganze Gebiet der Sentenzenwerke und der Summen, der „Quaestiones disputatae" und der „Quodlibeta", welch letztere als eine Art philosophisch-theologischer Seminarübungen gerade über den Wissenschaftsbetrieb schätzenswerte Aufschlüsse geben, ferner der theologischen Enzyklopädien und Glossare, der Glossen- und Exzerptenliteratur, teilweise auch der exegetischen, kanonistischen, liturgischen und naturwissenschaftlichen Schriften ist nach der methodischen Seite zu untersuchen und zu beurteilen. Besondere Aufmerksamkeit ist auch den zuerst in den Dom- und Klosterschulen und dann auf den Universitäten für den philosophischen wie theologischen Unterricht zu Grunde liegenden Text- und Schulbüchern und der Verwertungsweise derselben zuzuwenden. Desgleichen gewährt die polemische Literatur einen Einblick in die Strategie der mittelalterlichen Geisteskämpfe. Neben den Schriften der Scholastiker selbst kommen als subsidiäre Quellen für den Geschichtschreiber der scholastischen Methode in Betracht die mittelalterlichen literatur-historischen Versuche, die pädagogisch-didaktischen Schriften und besonders die auf den äußeren Betrieb und die Technik des gelehrten Unterrichtes bezüglichen Dokumente, vor allem die Studienpläne und Statuten der Universitäten und die das höhere Studienwesen behandelnden Ordenssatzungen der Dominikaner und Franziskaner. Auch die mittelalterliche historische Literatur, namentlich die Chroniken — es sei nur an Otto von Freising, Robert von Monte, Alberich von Trois-Fontaines, Salimbene usw. erinnert — lassen manches Licht auf den Entwicklungsgang der scholastischen Methode fallen. Auch die Korrespon-
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denz der mittelalterlichen Theologen dürfte teilweise mit Nutzeh herangezogen werden können. Nach dieser Übersicht über das weitschichtige Quellenmaterial, das für die Geschichte der scholastischen Methode benützt und bearbeitet werden will, müssen wir näher auf die Frage eingehen, unter welchen Gesichtspunkten der einzelne Autor, das einzelne scholastische Werk zu betrachten und zu würdigen ist. Wir müssen hier zuvörderst eine wichtige Unterscheidung machen. Entweder hat ein Scholastiker sich ex professo über Fragen der philosophischen und theologischen Methode geäußert und über die von ihm in seinen Schriften befolgte Methode sich explicite ausgesprochen oder er hat dies nicht bzw. nur spärlich und gelegentlich getan und nur praktisch und faktisch eine bestimmte Methode in seiner literarischen Tätigkeit in Anwendung gebracht. Im ersten Falle haben wir Darlegungen der Scholastiker über die scholastische Methode selbst, wir haben hier Quellen für die Geschichte der scholastischen Methode im eigentlichen und formellsten Sinne. Im letzteren Falle müssen die methodischen Grundsätze des betreffenden Autors aus seinem wirklichen wissenschaftlichen Verfahren abgeleitet werden. Um zunächst diesen letzteren Fall, welcher der häufigere und für den Geschichtschreiber der scholastischen Methode ausgiebigere sein wird, ins Auge zu fassen, so sind hier eine Fülle von Gesichtspunkten wahrzunehmen, nach welchen aus der schriftstellerischen Leistung die in derselben befolgte Methode und die methodologischen Grundsätze abstrahiert werden können. Durch eingehendes Studium der Werke eines mittelalterlichen Philosophen oder Theologen muß man sich in seine ganze Arbeitsweise hin ein vertiefen and sich alle die Bedingungen, Ziele und Mittel, mit denen derselbe gearbeitet hat, vergegenwärtigen, so daß im Lichte genetischer Betrachtungsweise das Werden und Entstehen eines scholastischen Werkes in all seinen Stadien und mit allen dabei wirksamen Vorlagen und Vorbildern zu Tage tritt. Es ist deswegen das gesamte wissenschaftliche Material, das dem Scholastiker zur Verfügung stand und ihm als Vorlage diente, zu berücksichtigen. Der gesamte Umfang der literarischen Hilfsmittel und des dem Autor zugänglichen und von ihm verwerteten Stoffes muß als eine seiner wesentlichen Arbeitsbedingungen in Rechnung gezogen werden. Es kommen sowohl ältere Materialien, seien es antik-philosophische, seien es patriotische, seien es frühmittelalterliche, und zwar in der Form und Gestaltung, in der sie dem betreffenden Scholastiker gegenübertraten,
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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in Betracht, wie auch die Werke früherer Scholastiker und die Elaborate von unmittelbaren Vorgängern und wissenschaftlichen Zeitgenossen des betreffenden Autors, insofern sie für denselben Quelle gewesen sind, heranzuziehen sind. Es wird zu diesem Zwecke gut sein, die dem betreffenden mittelalterlichen Theologen zur Verfügung stehende Bibliothek zu rekonstruieren. Die mittelalterlichen Bibliothekskataloge, um deren teilweise Edition sich Delisle, Bekker, Ehrle, Denifle, Gottlieb, Faucon usw. Verdienste erworben haben, und deren Gesamtherausgabe, soweit sie Deutschland angehören, von dem Kartell der deutschen Akademien in Angriff genommen ist, leisten hier treffliche Dienste. Es ist indessen nicht bloß der Umfang des von einem Scholastiker benützten Quellenmaterials festzustellen, sondern auch die Art und Weise, wie er dieses Quellenmaterial verwertet, zu bestimmen und zu diesem Zwecke achtzugeben, ob ein mittelalterlicher Denker seinem Stoffe lediglich als Kompilator gegenübersteht oder ob er denselben selbständig verarbeitet, ob er die beigebrachten Zitate lediglich aus dem Zusammenhang reißt oder ob er bei Auswahl und Beurteilung der Zitate auch den Zusammenhang, aus dem sie genommen, berücksichtigt. Es wird sich hier auch Gelegenheit geben, allenfallsige Spuren eines historischen Verständnisses nachzuweisen. Aus der Art der Quellenbenützung seitens eines Scholastikers wird sich sonach für die Charakteristik seiner Methode eine Fülle von Anhaltspunkten ergeben. Es wird sich hier auch zeigen, inwieweit der einzelne Scholastiker in seiner Methode, in seinen wissenschaftlichen Arbeitsgrundsätzen und Arbeitsroutinen von Vorlagen bedient und abhängig ist. Unter fortwährender Vergegenwärtigung des Milieus, aus dem die wissenschaftliche Lebensarbeit eines Autors herausgewachsen, der Quellen, aus denen er geschöpft, der Einflüsse, die auf ihn eingewirkt haben, wird seine wissenschaftliche Methode im einzelnen zu untersuchen sein. Es wird vor allem seine prinzipielle und faktische Stellung zur auctoritas und ratio, zur kirchlichen Autorität, Schrift und Vätern einerseits, und zur profanen Wissenschaft, speziell zur Philosophie anderseits zu erörtern sein, damit über seine Theorie und Praxis in der Anwendung der Vernunft und Philosophie zur Ergründung und Begründung der Glaubenswahrheit Klarheit geschaffen werden kann. Im einzelnen ist die Verwertung der Philosophie, der Dialektik und eventuell auch der Metaphysik im Dienste der Theologie nachzuweisen, indem die Form der Problemstellung, das Arrangement der Beweisführung, die Behandlungsweise schwie-
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
riger Fragen, die Handhabung der Terminologie, die Beibringung von Analogien und Konvenienzgründen usw. zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Besonders muß die Auffassung des betreffenden Scholastikers von den Grenzen des menschlichen Erkennens in Bezug auf die Glaubensgeheimnisse, von der Tragweite und Leistungsfähigkeit der Dialektik und eventuell der metaphysischen Spekulation in dem Erstreben einer rationellen Einsicht in den Glaubensinhalt gewürdigt werden. Pernerhin ist auch die systematisierende Tätigkeit eines Scholastikers ins Auge zu fassen, und es sind die systembildenden Faktoren bei ihm näher zu analysieren. Es wird sich auch Gelegenheit geben, den Einfluß von religiösen und ethischen Motiven auf die scholastische Methode aufzuzeigen, die Beziehungen zwischen mystischer Denkweise und scholastischer Arbeitsweise festzustellen und auch Äußerungen einer psychologischen Betrachtungsweise bei einzelnen Scholastikern nachzuweisen. Wenn auch für die Darstellung der Geschichte der scholastischen Methode die Entwicklung und Ausgestaltung der Methode in erster Linie aus den Schriften der einzelnen Scholastiker abgeleitet werden muß, so finden sich doch auch in der mittelalterlichen Literatur ausdrückliche Äußerungen über den philosophisch-theologischen Wissenschaftsbetrieb, mehr oder minder eingehende prinzipielle Erörterungen über die scholastische Methode selbst. Freilich in der Vorscholastik fließen diese eigentlichen und formellen Quellen der scholastischen Methode nur spärlich. Es gehören hierher hauptsächlich die aus diesen Zeiten des Überganges und der Vorbereitung stammenden Abhandlungen über die Philosophie und deren Einteilung, Ansätze zu einer Wissenschaftslehre. Ein Typus hierfür ist ein aus dem 11. Jahrhundert stammender „Dialogus inter discipulum et magistrum de philosophia et eius speciebus" in einer Münchner Handschrift1. Um das Jahr 1100 bietet das „Speculum maius" des Radulfus Ardens eine förmliche Wissenschaftslehre dar. Reichlicher fließen diese formellen Quellen der scholastischen Methode im 12. Jahrhundert, in den Zeiten der Frühscholastik. Das „Heptateuchon" des Thierry von Chartres und teilweise auch die Schrift „De eodem et diverso" Adelards von Bath bieten ein Lehrbuch bzw. einen Abriß der artes liberales. Für die Technik der scholastischen Methode ist Abälards Einleitung zu seiner Schrift „Sie et non" bedeutsam. Für Wissenschaftslehre und Wissenschafts1
Clm. 14401 fol. 154 r —169 r .
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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methode geben Hugos von St Viktor „Eruditionis Didascalicae libri septem", außerdem „Conradi Hirsaugiensis dialogus super auctores Didascalion" und eine an Hugo von St Viktor gemahnende Wissenschaftslehre in einer Bamberger Handschriftl Aufschluß. Eine wertvolle Quelle für die scholastische Methode um die Mitte des 12. Jahrhunderts ist die den Sentenzen des Robert von Melun in der Brügger Handschrift2 vorangestellte Abhandlung „De modis colligendi summas et docendi". Sehr reich an Mitteilungen über den Unterrichtsbetrieb, namentlich in der Logik, sind der „Metalogicus", „Entheticus" und stellenweise auch der „Polykraticus" des Johannes von Salisbury. Eine schätzenswerte Quelle für den Betrieb der Dialektik nach der Mitte des 12. Jahrhunderts ist der „Föns philosophiae" des Gottfried von St Viktor3, während desselben Verfassers „Tres libri microcosmi"4 eine Wissenschaftslehre enthalten. Walters von St Viktor gewöhnlich „Contra quatuor labyrinthos Franciae" betitelte Streitschrift gegen Abälard, Lombardus, Petrus von Poitiers und Gilbertus Porretanus läßt interessante, freilich allzu grelle Streiflichter auf den Scholastizismus des 12. Jahrhunderts fallen, wie dies auch bei den polemischen Äußerungen eines Stephan von Tournai, Peter von Blois usw. gegen die Dialektik der Fall ist. Die äußere Technik der scholastischen Methode wird durch die in einer Münchner Handschrift5 erhaltenen „Flores biblici Radulfi" theoretisch kurz dargelegt und praktisch angewendet. Eine Quelle für die Geschichte der scholastischen Methode noch aus dem 12. Jahrhundert ist der Prologus zu der Schrift „De arte seu articulis fidei catholicae" und die „Theologicae regulae" des Alanus de Insulis. A l e x a n d e r N e c k a m , dessen Leben und schriftstellerische Tätigkeit schon in das 13. Jahrhundert hineinragt, handelt im zweiten Buche seines enzyklopädischen Werkes „De naturis rerum" in zwei umfassenden Kapiteln6 „De septem artibus" und „De locis, in quibus artes floruerunt liberales". Im 13. Jahrhundert, besonders in der eigentlichen Hochscholastik, sind die methodologischen Erörterungen über Wesen, Aufgaben und Behandlungsweise der Theologie meist Gegenstand der Einleitungen zu den Summen und Sentenzenkommentaren, wozu die ungedruckten Summen aus dem Ende des 12. und Beginn des 13. Jahrhunderts 1 3 4 5
2 Q. VI 30. Cod. Brug. 119. Cod. Paris. Bibl. Mazarine 1002 fol. 145 v —220 v . Cod. Paris. Bibl. nat. lat. 14 515 fol. 24 v ff. G Clm. 686. Kap. 173, 174.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
bereits einen merklichen Anlauf nehmen. Oftmals hat diese theologische Methodologie, wie z. B. in den Summen des Ulrich von Straßburg, Heinrich von Gent und im 14. Jahrhundert in der Summa des Gerhard von Bologna1, einen bedeutenden Umfang angenommen und sich zu förmlichen monographischen Erörterungen der theologischen Einleitungsfragen ausgebaut. Der hl. Thomas hat, abgesehen von seinem Prolog zum Sentenzenkommentar, von seiner Einleitungsquaestio zur theologischen Summa und den einführenden Kapiteln der „Summa contra Gentes % über prinzipielle Fragen der theologischen Wissenschaftslehre und Methode sich in seiner „Expositio in librum Boethii de Trinitate" geäußert, während der hl. Bonaventura in seinen Proömien zum Sentenzenkommentar und „Breviloquium" in seinen „Collationes in Hexaemeron" und besonders in seinem Büchlein „De reductione artium ad theologiam" in ungemein anregender Weise die theologische Methode beleuchtet und eine sehr ideale Auffassung vom Wesen und Wert der theologischen Wissenschaft zum Ausdruck gebracht hat. Für die äußere Technik des Wissenschaftsbetriebes an der Pariser Universität ist Gualterius, cancellarius Parisiensis, von Bedeutung, der in seinen „Quaestiones theologicae"2, speziell in der quaestio 19, ausführlich „De.magistris et cancellario et studio Parisiensi" handelt. Von hohem Interesse ist speziell für den Modus der Licentiatsexamina in Paris der Traktat „De conscientia" des Robert de Sorbon, woselbst das Weltgericht mit diesen Prüfungen zur Erlangung der akademischen Grade in eine detaillierte Parallele gestellt ist. Für die mannigfaltigsten Fragen und Seiten der philosophischen und theologischen Methode und des Wissenschaftsbetriebes in den letzten Dezennien des 13. Jahrhunderts sind, freilich mit der nötigen Kritik und mit Ablehnung aller Übertreibungen, die Schriften Roger Bacons heranzuziehen. Das sind also in einer gedrängten Überschau Erörterungen der Scholastiker über ihre Methode, Quellen der Geschichte der scholastischen Methode im formellen und eigentlichen Sinne. Freilich wird, wie schon bemerkt, der Werde- und Entwicklungsgang der scholastischen Methode hauptsächlich aus den Werken der Scholastiker selbst, aus ihrem praktischen wissenschaftlichen Verfahren abgeleitet werden müssen. 1 2
Cod. Vatic. Borghes. 27. Bibliotheca S. Antonii in Padua Cod. 152 fol. 150.
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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Wenn wir nunmehr nach der Behandlung der Quellen zur Geschichte der scholastischen Methode zur Besprechung der L i t e r a t u r übergehen, so ist diese Literatur, falls man darunter auf Grund der Quellen abgefaßte allgemeine oder spezielle Darstellungen der Geschichte des Scholastizismus versteht, als eine spärliche und äußerst lückenhafte zu bezeichnen. Es gibt wohl eine Reihe höchst allgemeiner Abhandlungen über die scholastische Methode, aber auf eindringenden Quellenstudien fußende Untersuchungen dieses Gegenstandes fehlen bis in die neueste Zeit fast gänzlich. Aus der Zeit der verfallenden Scholastik und des ausgehenden Mittelalters kommen als Literatur für die Geschichte der Scholastik allenfalls die Äußerungen des N i k o l a u s de Clemanges 1 und J o h a n n e s Gerson 2 über die Reform der theologischen Studien in Betracht. A n t o n i n von F l o r e n z 3 hat in seiner moraltheologischen Summa sich prinzipiell „De doctoribus et scolaribus" geäußert. Eine ziemlich scharfe Kritik an Scholastik und scholastischer Methode hat E r a s m u s von R o t t e r d a m 4 geübt. Aus L u t h e r s 5 Feder stammt eine „Disputatio contra scholasticam theologiam". Wenn auch die Reformatoren gegen die Scholastiker große Abneigung zeigten, so blieb doch das Verfahren der protestantischen Theologie auf lange Zeit ein im Wesen scholastisches6. Ganz anders als Luther hat der spanische Humanist J o h a n n e s Ludwig V i v e s 7 die scholastische Methode einer Kritik unterzogen, er hat die .Mängel und Einseitigkeiten des damaligen Scholastizismus gerügt, ohne den guten Kern dieser Methode zu verkennen. Es hat diese Kritik des Vives deshalb die Zustimmung seines Gegners Melchior Cano gefunden. Melchior Cano spricht sich im achten und 1
Liber de studio theologiae. D'Achery, Spicilegium I 473ff. Vgl. Denifle, Chartularium Univ. Parisiensis III xxxiff. 2 Opera omnia. Ed. Du Pin. I, Antwerpiae 1706, LXXXV—ci 106—110 117—119 120—124. Besonders einschlägig die S. 120—124 abgedruckten Duae epistolae de reformatione theologiae. 8 Summa theol. Pars 3, tit. 5, Veronae 1740. 4 De ratione verae theologiae. Opp. V, Lugd. Batav. 1703. Vgl. K e r k e r , Erasmus und sein theologischer Standpunkt, in Tübinger Quartalschrift 1859, 541 ff. 5 F i e b i g, Luthers Disputatio contra scholasticam theologiam, in Zeitschrift für Kirchengeschichte XXVI (1905) 104—112. 6 Vgl. E. W e b e r , Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907. 7 Vgl. Fr. K a y s e r , Johannes Ludwig Vives, in Historisches Jahrbuch 1894, 338 ff. Grabmann, Scholastische Methode. I.
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
zwölften Buche seiner klassischen „Loci theologiei" für die Handhabung einer mit der Patristik in Fühlung stehenden, von dialektischen Übertreibungen freien scholastischen Methode aus. Seine Darlegungen sind ein interessanter Beitrag für die Geschichte des Werturteils über die Scholastik. Neben Melchior Cano zählen unter den tridentinischen Theologen A n d r e a s de Vega 0. Min. *, Dom i n i k u s Soto 2 u n d F r a n z i s k u s H o r a n t i u s (Orantes) O.Min.3 zu den Verteidigern der scholastischen Methode gegen die Angriffe der Reformatoren. In der nachtridentinischen Theologie wurde die scholastische Methode vielfach, namentlich in den Einleitungen zu den systematischen theologischen Werken und zu den Erklärungen der theologischen Summa des hl. Thomas, zum Gegenstand prinzipieller und apologetischer Erörterung gemacht. Ab und zu zeigen sich auch Versuche zu einer geschichtlichen Darstellung und Würdigung des Scholastizismus. In den Prolegomena zu den „Dogmata theologicaa des Petavius finden sich Materialien für die Grundlegung der scholastischen Methode in der Patristik. Der Würzburger Professor M a x i m i l i a n S a n d a e u s 4 (van der Sandt) schrieb „Prolegomena theologiae scholasticae*. A l e t i n o 5 verfaßte eine Verteidigungsschrift der scholastischen Theologie. Einen kurzen Abriß der Geschichte der scholastischen Theologie und Methode gab A n t o n i u s P o s s e v i n 6 heraus. Eeichliches, jedoch nicht kritisch verarbeitetes Material über verschiedene Fragen der theologischen Methode birgt die „Bibliotheca theologica" des Karmeliten D o m i n i c u s a S S . T r i n i t a t e 7 in sich, welche in sieben Folianten die „Theologia scholastica, positiva, polemica, methodica, symbolica et mystica" behandelt. Im sechsten Bande ist auf ca 30 Seiten die Methode des Areopagiten, des hl. Augustinus, des hl. Johannes Damascenus, des Petrus Lombardus, des Johannes Sapiens (gemeint ist Johannes Kyparissos, den 1
De iustificatione doctrina universa 1. 8, c. 10, Coloniae 1572, p. 194. De natura et gratia. Praefatio. 3 Locorum catholicorum pro Romana fide adversus Calvini Institutiones libri 7, Venetiis 1564, 1. 5, c. 3. 4 Coloniae 1653. 5 Difesa della Scolastica Teologia, Roma 1703. 6 Bibliotheca selecta de ratione studiorum ad disciplinas et ad salutem omnium gentium procurandam. Liber 3: De theologia scholastica I, Coloniae 1607, 111—117. 7 Bibliotheca Theologica septem libris distincta, Romae 1666 ff. 2
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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der Autor irrtümlich für einen Zeitgenossen des Lombarden hält), des hl. Thomas und des Katechismus besprochen. Eine kurzgefaßte, treffliche Würdigung der scholastischen Theologie und Methode begegnet uns i n M a b i l l o n s 1 „Traite des etudes monastiques". Etwas eingehender verbreitet sich G a u t i e r 2 in seiner Einführung zum „Thesaurus theologicus" Zaccarias über Wesen, Geschichte und Wert der scholastischen Methode in der Theologie. Eine eingehende Behandlung widmet der scholastischen Theologie und Methode der spanische Jesuit J o h a n n Gener 3 ; der im ganzen ersten Bande seiner „Theologia dogmatico-scholastica" geschichtliche, prinzipielle und apologetische Erwägungen über die theologia scholastica anstellt. Die bedeutendsten Beiträge zur Geschichte der scholastischen Methode liefern aus dieser Zeit Du B o u l a y s 4 (Bulaeus) „Geschichte der Universität Paris'', und Du P l e s s i s d ' A r g e n t r e s 5 monumentale „Collectio iudiciorum". Vom protestantischen Standpunkte aus fällten über Scholastik und scholastischen Wissensbetrieb Binder 6 , T r i b e c h o v i u s 7 , J a k o b T h o m a s i u s 8 ziemlich harte Urteile. Auch die Geschichtschreiber der Philosophie, wie B r u c k e r 9 , Tiedemann 1 0 , Tennemann 1 1 , 1
Tractatus de studiis monasticis. Latine vertit Iosephus Porta, Venetiis 1745, 134—142, Über scholastische Methode verbreitet sich auch B o s s u e t , Defense de 1a tradition et des saints Peres 1. 3, eh. 30. 2 Prodromus ad theologiam dogmatico-scholasticam (Bd I des „Thesaurus theologicus"), Venetiis 1762. 3 Theologia dograatico-scholastica Prodromos ad Theologiam complectens I, Romae 1767. Auch separat in verkürzter Form unter dem Titel „Scholastica vindicata" (Genuae 1766) erschienen. 4 Historia Universitatis Parisiensis I, Paris. 1665, 511—520; II 64 502 556 ff. Vgl. auch I. Launoy, De varia Aristotelis fortuna in academia Parisiensi, Paris. 1653, und De scholis celebrioribus a Carolo M. et post ipsum instauratis, Paris. 1762, 5 Collectio iudiexorum de novis erroribus, qui ab initio saec. 12 in Ecclesia proscripti sunt et notati III, Paris. 1724—1736. 6 De scholastica theologia, Tübingae 1624. Ebd. 24 ff findet sich eine Zu-saxnmenstellung von Spitzfindigkeiten und kuriosen Fragen aus der Scholastik (Verfallzeit der Scholastik). 7 De doctoribus scholasticis et corrupta per eos divinarum humanarumque rerum scientia, Giessae 1665. 8 De doctoribus scholasticis, Lipsiae 1676. 9 Historia critica Philosophiae, tom. III, period. II, pars 2, üb. 2, Lipsiae 1747. 10 Grundriß der spek. Philosophie IV, Marburg 1791, 35 ff. 11 Geschichte der Philosophie VIII, Leipzig 1810, 5—42. 4*
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
D e s l a n d e s 1 usw., haben die mittelalterliche Philosophie in teilweise recht ungünstigem Lichte dargestellt und jener harten und schiefen Beurteilung auch der bedeutendsten Scholastiker, wie sie z. B. in Prantls „Geschichte der Logik des Abendlandes" uns abstößt, die Wege geebnet. In der Aufklärungszeit ist die Scholastik auch von Seiten katholischer Theologen und Philosophen geringgeschätzt und bekämpft worden2, und nur wenige Stimmen, z. B. die G e r d i l s 3 , wurden zur Verteidigung der mittelalterlichen Wissenschaft laut. Von der Zeit des Aufschwunges der katholischen Theologie seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart hat sich zur Geschichte der scholastischen Methode eine reichlichere Literatur gebildet als in den vorhergehenden Jahrhunderten. Eine mehr allgemeine Charakteristik des Wesens und Entwicklungsganges der scholastischen Theologie haben Möhler 4 , S t a u d e n m a i e r 5 , K l e u t g e n 6 und Kuhn 7 gegeben. Eine freilich skizzenhafte und der handschriftlichen Grundlage entbehrende Studie über die theologischen Summen haben wir von J. Simmler 8 . B o u r q u a r d 9 hat in einem Werke über die Methode in der theologischen Disziplin auch die scholastische Methode, jedoch ohne geschichtliche Vertiefung, berücksichtigt. Über die äußere Organisation der Studien an der 1
Histoire critique de 1a philosophie III, Amsterdam 1756, 279 ff. Vgl. J. B. S c h w a b , Franz Berg. Ein Beitrag zur Charakteristik des kath. Deutschlands im Zeitalter der Aufklärung, Würzburg 1869; A. Fr. Ludw i g , Weihbischof Zirkel von Würzburg in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration- I, Paderborn 1904; G. H u b e r , Graf v. Benzel-Sternau und seine „Dichterischen Versuche über Gegenstände der kritischen Philosophie", in Kantstudien XI (1906) 1. 3 Saggio d'instruzione teologica. Opp. ed. Rom. X 267. Vgl. auch Boy er, Defense de 1a me'thode d'enseignement suivie dans les öcoles catholiques. 4 Gesammelte Schriften und Aufsätze I. Herausgegeben von Döllinger, Regensburg 1839, 129 ff. Möhler gibt S. 129 von der Scholastik folgende Begriffsbestimmung: „Die Scholastik überhaupt können wir jenen vom Ende des 11. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts dauernden Versuch nennen, das Christliche als rational und das wahrhaft Rationale als christlich zu erweisen, womit das Bemühen sich notwendig vereinte, klar, scharf und bestimmt die Begriffe der christlichen Lehren festzusetzen." 5 Die christliche Dogmatik I, Freiburg 1844, 230—257. 6 Die Theologie der Vorzeit IV 4 , Münster 1873, 18—131. 7 Katholische Dogmatik I, Tübingen 1846, 226—271. 8 Des Sommes de Theologie, Paris 1871. 9 Essai sur 1a me'thode dans les sciences the*ologiques, Paris 1860. 2
Quellen und Literatur der Geschichte der scholastischen Methode.
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Pariser Hochschule haben wir neben Darstellungen in der „Histoire litteraire de 1a France" x eine Schrift von C h a r l e s Thurot 2 , über das Studienwesen der Dominikaner handelte Douais 3 , über das der Franziskaner H i l a r i n F e l d e r 4 . Das mehrbändige Werk von F e r e t 5 über die Pariser theologische Fakultät ist keine quellenmäßige Arbeit und an vielen Stellen ungenau und unzuverlässig. Über die scholastische Lehrmethode schrieben F. P i c a v e t 6 und J. A. E n d r e s 7 . Die bedeutendsten Vorarbeiten für eine Geschichte der scholastischen Methode verdanken wir H e i n r i c h Denifle 8 . Es kommen hier vor allem in Betracht sein Werk über die Universitäten des Mittelalters und sein „Chartularium Universitatis Parisiensis". Namentlich der erste Band des letzteren monumentalen Werkes enthält eine Fülle wertvollen Urkundenmaterials über den Wissenschaftsbetrieb an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert9. Bahnbrechend auf dem Gebiete der Geschichte der scholastischen Methode ist Denifles eindringende Studie: „Die Sentenzen Abälards und die Bearbeitungen seiner Theologie vor Mitte des 12. Jahrhunderts" 10. Dazu kommt noch eine Reihe von Abhandlungen des genialen Erforschers der mittelalterlichen Literatur- und Kirchengeschichte, z. B. seine Untersuchung über das dem theologischen Unterricht in Paris zu Grunde liegende Buch ll . Von großem Werte 1
XVI 1—337. De l'organisation de l'enseignement dans l'Universite de Paris au moyenäge, Paris-Besancon 1850. 3 Essai sur l'organisation des etudes dans l'ordre des freres prScheurs, Paris 1884. Über die Mängel dieses Werkes vgl. D e n i f l e , Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters I 184 Anm. 1. 4 Geschichte der wissenschaftlichen Studien im Franziskanerorden bis um die Mitte des 13. Jahrhunderts, Freiburg 1904. 5 La faculte de theologie de Paris et ses docteurs les plus celebres, Paris 1894 ff. 6 Abe"lard et Alexandre des Haies, cre*ateurs de 1a me*thode scolastique, Paris 1896. 7 Über den Ursprung und die Entwicklung der scholastischen Lehrmethode, in Philosophisches Jahrbuch 1889, 52 ff. 8 Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885; vgl. besonders S. 45—48 745 ff 758 u. 759. 9 Vgl. M. G r a b m a n n , P. Heinrich Denifle 0. P. Eine Würdigung seiner Forschungsarbeit, Mainz 1905, 21 ff. 10 Archiv f. Literatur- u. Kirchengesch. d. Mittelalters I 402—469 584—624. 11 Quel livre servait de base a l'enseignement des maitres en theologie dans l'Universite de Paris? in Revue Thomiste II 149—162. 2
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Einführung in die Geschichte der scholastischen Methode.
und Behelfe sind für den Geschichtschreiber der scholastischen Methode die zahlreichen Mitteilungen Denifles über das Leben und die Werke von Scholastikern, namentlich seine Aufschlüsse über ungedruckte Scholastiker. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht auch sein letztes Werk: „Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Iustitia Dei (Rom 1,17) und Iustificatio". Endlich beleuchten auch die epochemachenden Publikationen Denifles über die deutsche Mystik des Mittelalters in mehr als einer Beziehung das Wesen der scholastischen Denk- und Arbeitsweise 1. 1
„Hatte Luther die Scholastik als erstarrtes Knochengebein, tot für die lebendige Frömmigkeit, entwertet, und galt infolgedessen die von Luther geschätzte Mystik des Mittelalters als ,evangelisch', so hat Denifle den zwingenden Nachweis für den Aufbau der Mystik gerade auf der Scholastik, die sie durchweg voraussetzt, geführt" ( W a l t h e r K ö h l e r , Katholizismus und Reformation, Gießen 1905, 47).
Zweiter Abschnitt. Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik. Erstes Kapitel. Allgemeine Vorbemerkungen. Christentum und Intellektualismus. Prinzipielle Stellung der Patristik zur griechischen Spekulation. Der „Piatonismus" der Kirchenväter. Daß die Wurzeln der scholastischen Methode schon in der Patristik sich finden, daß bereits die Schriften der Väter Ansätze und Anfänge des Scholastizismus aufweisen, läßt sich schon im voraus aus der Abhängigkeit der Scholastik von der Patristik und aus dem eigentlichen Kern und Wesen der scholastischen Methode vermuten. Denn bei der inhaltlichen Kontinuität zwischen patristischer und scholastischer Theologie liegt auch eine Kontinuität der wissenschaftlichen Methode in beiden großen Epochen nahe. Zudem berufen sich die Scholastiker bei Aufstellung und Handhabung methodologischer Prinzipien mehrfach auf patristische Aussprüche und Vorbilder. Wenn fernerhin die Anwendung der Vernunft und Philosophie zur Erlangung einer rationellen Einsicht in den Offenbarungsinhalt, zur Systematisierung der Glaubenslehre und zur Lösung sich entgegenstellender Denkschwierigkeiten das eigentliche Wesen der scholastischen Methode ausmacht, dann ist es selbstverständlich, daß die Väter bei der Explikation und Verteidigung der christlichen Lehre sich der wesentlichen Momente dieser Methode, wenn auch nicht in der ausgebildeten und entwickelten Form, wie es das Mittelalter, namentlich die Hochscholastik getan, bedient haben. Indessen ist auf aposterioristischem Wege aus den Schriften der Väter selbst abzulesen, ob und inwieweit sich bei ihnen Ansätze und Keime der scholastischen Methode finden, in welchen Ent-
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
wicklungsphasen die Grundlegung der scholastischen Methode in der patristischen Literatur sich vollzogen hat. Bevor im einzelnen diesen Spuren des Scholastizismus in der griechischen wie lateinischen Patristik nachgegangen werden kann, ist eine Frage mehr allgemeiner und prinzipieller Natur zu erörtern. Es ist eine in der modernen protestantischen Dogmengeschichte* feststehende Behauptung, die auch bei namentlich französischen katholischen Theologen ein Echo gefunden2, daß das Christentum des Evangeliums lediglich Erlebnis, lebendige Empfindung der Gottvereinigung usw. ist, in keiner Weise aber eine an den Intellekt sich wendende Lehre und noch weniger Spekulation ist. Das Christentum des Evangeliums Jesu ist hiernach weder Dogma noch Kirche noch Theologie, sondern lediglich Leben, religiöse Erfahrung, etwas dem begrifflichen Denken Entrücktes. Aus dieser Voraussetzung ziehen diese Dogmenhistoriker die Folgerung, daß durch Anwendung der griechischen Dialektik, der griechischen Philosophie das Wesen des Christentums umgestaltet, der spezifische Inhalt des Christentums verändert worden ist, und daß die Hellenisierung des Evangeliums einen Abfall vom Evangelium der Bergpredigt bedeutet. Es sehen diese Dogmenhistoriker schon im Urchristentum einen Entwicklungsprozeß, eine Umbildung des Evangeliums Jesu im Paulinismus vor sich gehen. Dogma und Theologie sind nach dieser Auffassung auf griechischem Boden entstanden. „Der Grieche", bemerkt E. v. D ob s c h ü t z 3 , 1 Außer den Lehrbüchern der Dogmengeschichte von A. Harnack, Fr. Loofs, R. Seeberg kommen hier hauptsächlich in Betracht die Werke über das Urchristentum von 0. Pfleiderer, F. G. Heinrici usw. Über das Verhältnis von Griechentum und Christentum handeln E d w i n H a t c h , Griechentum u. Christentum. Übersetzt von E. Preuschen, Leipzig 1892, und besonders P. W e n d l a n d , Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum (1907). Yg\. auch P. W e r n l e , Einführung in das theologische Studium, Tübingen 1908, 67 ff 165 ff. 2 L a b e r t h o n n i e r e (Le Realisme Chre*tien et L'Idealisme Grec, Paris 1904) sieht zwischen dem Christentum als praktischer Lebensauffassung, als religiösem Leben und zwischen dem Christentum als Intellektualismus, als Spekulation einen grundsätzlichen Gegensatz, so daß durch Anwendung der griechischen Philosophie das Christentum der Bibel alteriert wurde. Noch mehr nähern sich die modernistischen Theologen Loisy, Le Roy üsw. der Auffassung der protestantischen rationalistischen Dogmengeschichte über den antiintellektualistischen Charakter des Urchristentums. 3 Griechentum und Christentum, Abhandlung in Das Christentum. Fünf Einzeldarstellungen, Leipzig 1908, 59 f.
Allgemeine Vorbemerkungen etc.
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„muß systematisch denken, er muß alles von einem Prinzip aus verstehen, er muß alle Einzelerkenntnisse miteinander verknüpfen. So entsteht erst auf dem Boden des Griechentums eine eigentliche Theologie. . . . Der schlichte Glaube wurde in komplizierte philosophische Spekulationen umgesetzt. Es ist eine der interessantesten Aufgaben der Dogmengeschichte, zu verfolgen, wie platonische und aristotelische Formeln herhalten müssen, um Jesu Wesen verständlich zu machen, wie dabei diese ältere christliche Theologie hilflos zwischen dein Gedanken höchster Inspiration eines Menschen und dem der Inkarnation eines Gottwesens hin und her schwankt, einfach weil sie nicht im stände ist, das große Geheimnis: Gott war in Christo, anders als in physischen Kategorien zu durchdenken." Nach H a r n a c k 1 ist „das dogmatische Christentum (die Dogmen) in seiner Konzeption und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums, die begrifflichen Mittel, durch die man sich in der antiken Zeit das Evangelium verständlich zu machen und zu versichern gesucht hat, sind mit dem Inhalt desselben verschmolzen worden". H a r n a c k 2 gibt auch die Etappen dieser Umbildung des Urchristentums zu einem Christentum der Theologie und des Dogmas an. Nach ihm haben die Apologeten des 2. Jahrhunderts „durch ihren Intellektualismus und exklusiven Doktrinarismus das philosophisch-dogmatische Christentum begründet". Derselben Anschauung ist auch Loofs 3 , demzufolge „die Apologeten den Grund zur Verkehrung des Christentums in eine offenbarte Lehre gelegt haben". R. S e e b e r g 4 bemerkt, daß „die Probleme, welche die Formel: ,fides et ratio4 in sich birgt, sich schon im 2. Jahrhundert mit innerer Notwendigkeit in der Theologie herausgebildet haben, indem die ratio an die Stelle des Tzveufia trat und sich erhielt, obgleich der Positivismus auch ihr widerstrebte". Indem Harnack 5 den Werdegang dieser Umwertung des Christentums zum Dogma und zur Theologie weiter verfolgt, sieht er „bei Melito, Irenäus, Tertullian, Hippolyt, Novatian die Anfänge einer kirchlich-theologischen Explikation und Bearbeitung der Glaubensregel im Gegensatz zum Gnostizismus unter Voraussetzung des Neuen Testamentes und der christlichen Philosophie der Apologeten", er 1 2 8 4 5
Dogmengeschichte4, Tübingen 1905, 4. Lehrbuch der Dogmengeschichte I 3 , Leipzig 1894, 506. Leitfaden der Dogmengeschichte4, Halle 1906, 129. Lehrbuch der Dogmengeschichte l 2 , Leipzig 1908, 289. Lehrbuch der Dogmengeschichte 1 3 507 ff.
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
findet hier eine „Verknüpfung der rationalen Theologie mit dem kirchlichen Glauben, eine antignostische kirchliche Spekulation*. Durch Klemens von Alexandrien und Origenes wurde endlich nach Harnacks Meinung „die Umbildung der kirchlichen Überlieferung zu einer Religionsphilosophie und damit der Ursprung der wissenschaftlichen Theologie und Dogmatik herbeigeführt"1. Wenn wir nun zu diesen Auffassungen, welche einen Gegensatz zwischen dem Christentum des Evangeliums und zwischen Spekulation und Intellektualismus lehren2 und damit die scholastische Methode schon in ihren Anfangsformen mit einer Umwertung und wesentlichen Umgestaltung des Christentums in Zusammenhang bringen, wenn wir zu diesen Auffassungen Stellung nehmen sollen, dann kann es sich selbstverständlich nicht um eine Erörterung aller hier einschlägigen dogmengeschichtlichen Probleme handeln, es können vielmehr nur die für den Nachweis der Keime der scholastischen Methode im christlichen Altertum bedeutsamen Gesichtspunkte hervorgehoben werden. Zunächst ist die Behauptung, daß das Christentum der Heiligen Schrift etwas dem begrifflichen Denken schlechthin Entrücktes sei, sich in keiner Weise an den Verstand wende, nicht den Charakter einer geoffenbarten Lehre an sich habe, sondern lediglich Erlebnis sei und ausschließlich praktisches Gepräge habe, als unrichtig zurückzuweisen. Es findet sich nämlich in der Heiligen Schrift neben praktischen Anweisungen für die Erlangung der Seligkeit auch eine Fülle theoretischer Sätze, die sich an den Intellekt richten, Lehren über das Verhältnis zwischen Gott und der Welt, über das Jenseits, über die Person des Erlösers, über Sünde und Erlösung usw. Christus nennt sich Lehrer und seine Jünger Schüler. Von einer Lehre Christi ist in den Evangelien und in andern neutestamentlichen 1
Lehrbuch der Dogmengeschichte I 3 590 ff. Auch moderne Geschichtschreiber der Philosophie und der römisch-griechischen Literatur behaupten eine Entstellung des Christentums des Evangeliums durch die griechische Spekulation. So W i n d e l b a n d , Geschichte der alten Philosophie2, München 1894, 209: „Die philosophische Verweltlichung des Evangeliums, welche sonach mit der Organisation und dem politischen Machtgewinn der Kirche parallel geht, wird mit dem Namen Patristik bezeichnet und zieht sich vom 2. bis in das 4. und 5. Jahrhundert nach Christus hinein11. P. W e n d l a n d (Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christen» tum [1907] 6) ist der Meinung, man könne über die Entwicklung, welche die alte Kirche gewonnen habe, als Motto das Wort des Horaz setzen: Griechenland besiegte seinen Sieger. 2
Allgemeine Vorbemerkungen etc.
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Büchern die Rede. Auch die praktischen Anweisungen und Vorschriften Christi setzen theoretische Urteile voraus. In den paulinischen Briefen vollends finden sich Anfänge und Ansätze von spekulativen Begründungen und Beweisführungen1. Angesichts dieser Tatsachen ist es begreiflich, wenn die Väter und Scholastiker sich für ihr Bestreben, eine Einsicht in den Grlaubensinhalt und Glaubenszusammenhang zu gewinnen, mehrfach auf Stellen der Heiligen Schrift berufen. Besonders häufig wird in diesem Sinne die Stelle Is 7, 9 in der Septuagintaübersetzung: 5A«v /JLTJ TciaveoarjTe, öödk fj>i} (Tüvijzs (nisi credideritis, non intelligetis) angerufen2. Mit Vorliebe werden von den Scholastikern paulinische Texte, so die Stellen Tit 1, 9; 2 Kor 10, 5, als Grundsätze für das theologische wissenschaftliche Arbeiten angeführt3. Die Glaubensdefinition Hebr 11, 1 steht gleichsam als Leitsatz und normgebender Grundgedanke an der Spitze theologischer Summen4; eine Reihe paulinischer Aussprüche bilden das Motto zu den Prologen von Sentenzenkommentaren und den daselbst sich findenden Versuchen einer mehr oder minder ausgebreiteten theologischen Einleitungslehre5. Für die Verwendung der heidnischen Literatur, besonders der heidnischen Philosophie berufen sich die mittelalterlichen Denker auf das Beispiel des hl. Paulus, der heidnische Autoren zitiert (Apg 17, 28. 1 Kor 15, 33. Tit 1, 12). So stützt sich z. B. R o b e r t von Melun 6 zum Erweis des Satzes: „Quod licet veritatem undecumque sumere ad eorum confirmationem quae in Sacra Scriptum sunt docenda* auf das Beispiel des hl. Paulus: „Quod vero ita sit, auctoritate apostoli Pauli manifeste monstrari potest. Ipse enim in epistola ad Titum auctoritate cuiusdam Epimenidis poetae ostendit quae Cretensium natura esset...-. Apud Athenienses etiam de ignoto deo disputans suae praedicationis fidem faeit auctoritatem cuiusdam Arati inducens. . . . Ex his, ut 1
Vgl. C h r i s t i a n P e s c h , Theologische Zeitfragen. Vierte Folge: Glaube, Dogmen und geschichtliche Tatsachen, Freiburg 1908, 162 ff. 2 Vgl. über diese Stelle A. S c h o l z , Die alexandrinische Übersetzung des Buches Jesajas (1881) 46; K n a b e n b a u e r , Comment. in Is. I, Paris. 1887, 158. 8 Siehe S. T h o m a s , S. theol. 1, q. 1, a. 8. 4 Vgl. daslncipit der „Summa aurea" des Wilhelm von Auxerre (gedruckt 1500). 5 Vgl. das Incipit des Sentenzenkommentars des Dominikaners Robert Fitzacker: 0 altitudo divitiarum etc. (Rom 11, 33). Cod. Oxford. Balliol. Coll. 57; Nov. Coll. 112. 6 Summa Roberti Melodunensis de theologia, Cod. Innsbruck 297, fol. 115v. Vgl. auch S. T h o m a s , S. theol. 1, q. 1, a. 8, ad 2 m ; In Boeth. de Trinit. p. 2, a. 3.
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
dixi, patet quae vera sunt undecumque licere sumere ad confirmationem veritatis doctrinae christianae.u Auch für die theologische Spekulation, für die Ableitung einer Wahrheit aus einer andern durch Schlußfolgerung berufen sich die Scholastiker auf paulinische Vorbilder. So zitiert z. B. Thomas von Aquin in diesem Sinne 1 Kor 15, wo der Apostel auf Grund der Auferstehung Christi die Gewißheit der Auferstehung der Toten überhaupt beweist1. Bei der Vertiefung der scholastischen Denker in die paulinischen Briefe2 ist ein Einwirken paulinischer Gedanken auf die Auffassung der führenden Scholastiker vom Arbeitsziel und von der Arbeitsweise der theologischen Wissenschaft recht wohl erklärlich. Es ist somit im gewissen Sinne richtig, wenn P i c a v e t 3 bemerkt: „La philosophie theologique du moyen-äge commence au 1er siecle avec saint Paul, chez les chretiens." Auch die Stelle 1 Petr 3, 15: „Parati semper ad satisfactionem omni poscenti vos rationem de ea, quae in vobis est, spe" wird sowohl bei den Vätern wie auch in der Scholastik mehrfach zur Rechtfertigung einer dialektischen Behandlung des Offenbarungsinhaltes beigezogen. Es steht diese Stelle als Leitsatz an der Spitze der „Summa Sententiarum" Hugos von St Viktor. Bonaventura bemerkt im Anschluß an diese Stelle 4 : „Cum ergo multi sint, qui fidem nostram impugnant, non tantum rationem de ea poscunt; utile et congruum videtur per rationes eam astruere et modo inquisitivo et ratiocinando procedere." Auch für die Systematik, für die Architektonik der mittelalterlichen Theologie wurden leitende Gedanken aus der Heiligen Schrift entnommen. So sieht Ulrich von Straßburg im Prolog des Johannesevangeliums einen Aufriß der Gesamttheologie: „Theologus Ioannes summatim in principio sui evangelii perstringens primo agit de deo secundum se cum dicit: ,In principio erat Verbum' et adiungit de ipso tractatum in quantum est principium cum dicit: ,omnia 1
S. theol. 1, q. 1, a. 8. Einen Einblick in die scholastische Literatur zu Paulus gibt D e n i f l e , Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Iustitia Dei (Rom 1, 17) und Iustificatio, Mainz 1905. Mit Recht bemerkt F. P r a t S. J., La Theologie de saint Paul I, Paris 1908, 17: „Paul est 1e docteur des docteurs et pendant de longs siecles 1e monde chretien a pense par lui. C'est un fait notoire que 1a theologie d'Augustin, et par Augustin celle de saint Thomas, et par saint Thomas toute 1a scolastique, de"rivent en droite ligne de 1a doctrine de Paul." 3 Esquisse d'une histoire generale et comparee des philosophies mediövales, Paris 1905, 49. 4 I. Sent. Prooemii q. 2 sed contra. 2
Allgemeine Vorbemerkungen etc.
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per ipsum facta sunt1 et complet tractatum in opere redemptionis, per quod hoc principium nos in se reducit, cum dicit: ,fuit homo missus a Deo'."A Der hl. Thomas von Aquin liest selbst aus den Briefen des hl. Paulus eine gewisse systematische Anordnung und Einheit heraus. Das Thema dieser Briefe, so führt er in der Einleitung zu seinem Pauluskommentar des näheren aus, ist die Gnade, welche eine dreifache Auffassung zuläßt. Die Gnade, insofern sie im Haupte, d. h. in Christus ist, ist die leitende Idee des Hebräerbriefes; die Gnade, insofern sie in den vornehmeren Gliedern des mystischen Leibes ist, bildet den Gegenstand der Briefe an Timotheus und Titus. Die Gnade, insofern sie im mystischen Leibe selbst ist, bildet unter verschiedenen Gesichtspunkten den Grundgedanken der paulinischen Briefe an die Heiden. Diese Darlegungen dürften zeigen, daß die Behauptung eines grundsätzlich antiintellektualistischen Charakters des Christentums des Evangeliums unbegründet und unrichtig ist, und daß die Scholastiker für ihren Intellektualismus, für ihre Methode gerade aus der Heiligen Schrift mancherlei Anregungen, eine Fülle von Gesichtspunkten und Leitmotiven entnommen haben. Zu der aus dem angeblich antiintellektualistischen Charakter des Christentums der Heiligen Schrift gezogenen Folgerung, daß durch Benützung der griechischen Philosophie der spezifische Inhalt des Christentums eine Umänderung erfahren habe, werden wir am besten Stellung nehmen, wenn wir zuerst eine mehr prinzipielle Erwägung und sodann eine allgemein geschichtliche Erörterung geben. Aus dem Nachweis dafür, daß das Christentum der Heiligen Schrift nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zum Intellektualismus steht, nicht bloß Erlebnis und praktische Anweisung, sondern auch Lehre ist, ergibt sich mit unzweifelhafter Konsequenz, daß eine begriffliche Fassung des Inhaltes des Christentums, eine spekulative Vertiefung in den Zusammenhang und in die Eonsequenzen der im Christentum der Heiligen Schrift enthaltenen theoretischen Lehren ganz gut bewerkstelligt werden kann, ohne daß dadurch eine inhaltliche wesentliche Umwertung des Christentums bedingt ist. Wenn nämlich das Christentum nicht bloße praktische Erfahrung, sondern eine an den Intellekt sich richtende geoffenbarte Lehre ist, dann ist es verständlich, daß der Menschengeist das Bestreben und die 1
Ulrici Argent. Summa theologica (Cod. Vatic. Lat. 1311; Cod. Paris. Bibl. oat. lat. 15 900 u. 15 901; Cod. Erlang. 819 u. 619 etc.) lib. 1, tract. 2, cap. 2. Vgl. M. Grabmann, Studien über Ulrich von Straßburg III, in Zeitschrift für kath. Theologie XXIX (1905) 495.
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
Möglichkeit hat, die geheimnisvollen Ideen und außerordentlichen Tatsachen des Christentums in sich aufzunehmen und soweit als möglich zu erfassen. Der Menschengeist hat das Bestreben und die Möglichkeit, den wahren und echten Sinn der einzelnen theoretischen Vorstellungen des Christentums aufzufassen und diesen Sinn in passender Form, in entsprechenden termini auszusprechen. Die Möglichkeit der durch den Glauben erleuchteten Vernunft, den wahren Sinn der Offenbarungswahrheiten aufzufassen, liegt in der Natur der Offenbarung und des Glaubens begründet. Die Offenbarung besagt eben die göttliche Mitteilung einer übernatürlichen Wahrheit an den Menschen und bedingt deswegen auch die Möglichkeit eines richtigen Erfassens dieser Wahrheit seitens des Menschen. Desgleichen wäre auch der Glaube nicht möglich, wäre ein Akt ohne Inhalt, wenn die geoffenbarte Wahrheit nicht in ihrem richtigen Sinne erkannt und erfaßt und von irrigen Darlegungen unterschieden werden könnte. Außerdem liegt dem menschlichen Geiste das Bestreben nahe, in die ihm im Christentum entgegentretenden geheimnisvollen Wahrheiten tiefer einzudringen. Es sind dies zwar übernatürliche Inhalte, deren innere Möglichkeit sich nicht apodiktisch erweisen läßt, es sind ferner zwar geheimnisvolle Wahrheiten, die adäquat zu begreifen auch der vom Lichte des Glaubens bestrahlte Menschengeist mit nichten im stände ist, aber trotzdem, ja gerade wegen des übervernünftigen Charakters dieser Wahrheiten möchte der menschliche Verstand sich in dieselben hineinvertiefen, er möchte diese Wahrheiten in ihren Konsequenzen verfolgen, in ihrer Anwendung und Tragweite für das Leben werten, er möchte diese Wahrheiten sich verdeutlichen und sich durch Vergleichung mit andern Wahrheiten, die durch die bloße Vernunft erreichbar sind, dem Denken näher bringen. Auf diese Weise wird, ohne daß der Charakter des Übernatürlichen, des Geheimnisvollen dem Offenbarungsinhalte benommen wird, eine rationelle Einsicht in denselben erzielt. Die menschliche Vernunft verlangt Zusammenhang, Einheit, Zusammenstimmung des Mannigfachen und Verschiedenen, es liegt im Menschengeist der Zug, die Einzelerkenntnisse als Ganzes zusammenzufassen und darzustellen, die Tendenz zur Systematik. Nun tritt das Christentum der Heiligen Schrift dem Menschen geiste nicht als förmliches System von Wahrheiten, nicht als ein theologisches System entgegen, aber der menschliche Geist findet doch bei einiger Vertiefung in die Offenbarungsinhalte mannigfache Zusammenhänge, er entdeckt erhabene Standorte, von denen aus das Gebiet der Ideen
Allgemeine Vorbemerkungen etc.
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und Tatsachen des Christentums als Einheit, als Ganzes sich überschauen läßt. Bei intensiverer Versenkung in die Wahrheiten, Tatsachen und auch praktischen Vorschriften des Christentums wird das Christentum der Heiligen Schrift sich als ein geheimnisvoller Organismus des Übernatürlichen, als ein majestätisches ehristozentrisches System, als eine Einheit und Ordnung voll lebendiger Zusammenhänge und von erhabenster Teleologie dem staunenden Geistesblicke, offenbaren. Bei dieser Beschäftigung mit dem Christentum der Heiligen Schrift wird indessen der Menschengeist sich auch vor Einwände und Schwierigkeiten gestellt sehen, die teils im eigenen Innern sich erheben, teils von außen, namentlich von Gegnern der christlichen Weltanschauung gemacht werden. Der Boden, aus dem diese Einwände, diese Denkschwierigkeiten herauswachsen, ist gemeiniglich das Gebiet des natürlichen Wissens. Zur Lösung dieser Einwände, zur Klarlegung dieser Schwierigkeiten sieht sich der wahrheitsuchende und vom Glaubenslichte geführte Menschengeist veranlaßt, die Offenbarungsinhalte mit den theoretischen Vorstellungen, die durch die bloße Vernunft gewonnen werden und zugleich den Ausgangspunkt für die erhobenen Schwierigkeiten bilden, in Beziehung zu setzen. Gerade durch diese Vergleichung der Offenbarungswahrheit mit natürlichen Wahrheitsgebieten wird der Intellekt in der Lage sein, darzutun, daß die erhobenen Einwände entweder nicht aus sichern, natürlichen Erkenntnissen sich ableiten oder doch mit der richtig verstandenen christlichen Wahrheit in keinem evidenten Widerspruch stehen. Aus diesen Erwägungen dürften sich drei Pol gerungen ziehen lassen. Fürs erste dürfte hierdurch klar gelegt und sowohl in der Eigenart des Christentums der Heiligen Schrift wie auch in der Eigenart und in der Psychologie des menschlichen Denkens begründet sein, daß eine intellektualistische und spekulative Apperzeption des Inhalts des Christentums durch den menschlichen Geist vorgenommen werden kann, ohne daß damit notwendig eine Umwertung dieses spezifischen Inhalts des Christentums gegeben ist. Eine solche Umwertung ist wohl in einzelnen Punkten und auch bei einzelnen Denkern möglich und ist auch wirklich gewesen, aber für das menschliche Denken als solches und für die Gesamtheit all derjenigen, die den Inhalt des Christentums durchdenken, ist eine solche spezifische Umbildung desselben keineswegs notwendig. Infolgedessen ist eine intellek-
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
tualistische Auffassung des Christentums ohne solche Umgestaltung ganz wohl möglich. Eine katholische Lehre vom „consensus unanimis patrum" und vom „magisterium ecclesiae" verbürgt, daß die Auffassung des Christentums der Bibel durch die Gesamtheit der Kirchenväter und die Formulierung des Offenbarungschristentums in den kirchlichen Dogmen ohne solche inhaltliche Umbiegung und Umgestaltung des ursprünglichen Christentums vor sich gegangen ist bzw. vor sich geht. Fürs zweite ergibt sich aus den obigen Erwägungen, daß durch das Herantreten des menschlichen Geistes an das Christentum die wesentlichen Funktionen der scholastischen Methode in Tätigkeit gesetzt werden, daß also das, was das eigentliche Wesen, den eigentlichen Kern der scholastischen Methode ausmacht, in der Relation des menschlichen Geistes zum Wesen des Christentums grundgelegt ist. Wir sind also a priori berechtigt, schon in den ältesten Zeiten des Christentums den Spuren dieser Methode nachzugehen, wenn diese auch erst im Laufe der Zeiten feste Gestalt und bestimmte Formen angenommen hat. In diesem Sinne bemerkt Kardinal Newman 1 , den man mit Unrecht in einen grundsätzlichen Widerspruch zur Scholastik zu stellen sucht, folgendes: „Ich ziehe in Erwägung, daß die katholische Geistesrichtung stufenweise und im Laufe der Zeiten gewisse festumrissene Formen und Gestalten angenommen und sich die Form einer Wissenschaft mit eigener Methode und Sprachweise errungen hat unter der geistigen Führung bedeutender Männer, wie der Heiligen Athanasius, Augustinus und Thomas, und ich empfinde keine Neigung, das uns für diese Spätzeit überlieferte große Geistesvermächtnis in Stücke zu schlagen." Eine dritte Konsequenz aus obigen prinzipiellen Erwägungen ist endlich, daß bei dem Herantreten des Offenbarungsinhaltes an den Menschengeist und bei der intellektualistischen Vertiefung des Menschen in diesen Offenbarungsinhalt die Philosophie eine Rolle spielt. Denn die scharfe Auffassung und Aussprache des rechten Sinnes der Offenbarungsinhalte, die Abgrenzung dieses rechten Sinnes gegenüber falschen und unklaren Vorstellungen, außerdem die Verdeutlichung dieser übernatürlichen Inhalte durch Zuhilfenahme natürlicher Wahrheiten, die Ergründung der Konsequenzen und der Zusammenhänge der Mysterien des Christentums, mit einem Worte ein tieferes 1
Apologia chap. 5. Vgl. B e l l e s h e i m , Kardinal Newman als Gegner dos Modernismus, in Katholik 1908, 4. Heft, S. 251.
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Eindringen in das Christentum der Heiligen Schrift wird ohne systematische Verwertung philosophischer Mittel, Gesichtspunkte und Resultate nicht gut möglich sein. Wenn aber diese Verwertung philosophischer Mittel ohne inhaltliche Veränderung des Christentums sich betätigen soll, dann darf diese für die Verdeutlichung, Systematisierung und Verteidigung des Christentums verwendete Philosophie in ihrer Grundrichtung in keinem fundamentalen Widerspruch zum Christentum selbst stehen, sie muß vielmehr im großen und ganzen für das Christentum gestimmt sein oder doch auf dasselbe gestimmt werden können. Es muß diese Philosophie, um einen scholastischen Terminus zu gebrauchen, eine „potentia oboedientialis" für die Verwertung im Dienste des Christentums besitzen. Es ist sonach klar, daß das Christentum nicht mit jedem philosophischen System einen Bund eingehen kann, am wenigsten mit einer ausschließlich subjektivistischen, jede Metaphysik ablehnenden Philosophie, da hierdurch die Objektivität des Offenbarungsinhaltes gefährdet wäre und die Person und Lehre Christi dem Strudel rasch wechselnder Modephilosophien preisgegeben würden. Es kann eben, wie bereits bemerkt, nur eine solche Philosophie für die Verwendung im Dienste des Christentums in Betracht kommen, die den allgemeinen Überzeugungen des Menschengeschlechtes entspricht und dadurch den Charakter des Dauernden und Ewigen hat, eine Philosophie, die für die erhabenen übernatürlichen Inhalte und Ideale des Christentums ein natürlicher Untergrund und Unterbau sein kann, die an der Objektivität des Offenbarungsinhaltes nicht rüttelt und die Ideen des Christentums darzulegen, zu ergründen und zu verteidigen im stände ist, ohne dieselben inhaltlich und innerlich umzugestalten. Selbstverständlich bedingt eine solche Verwendung der Philosophie für die Zwecke des Christentums eine Reinigung des betreffenden philosophischen Systems oder der betreffenden philosophischen Systeme von allenfallsigen Irrtümern und überhaupt eine vielfache Zurechtrichtung und Anpassung philosophischer Materialien. Es ist schließlich auch einleuchtend, daß eine Philosophie um so brauchbarer sein wird, wenn sie eine Fülle von Formen, Termini usw. enthält, in welche der Inhalt des Christentums, ohne alteriert zu werden, gegossen werden kann. Wenn wir nun unter Voraussetzung dieser allgemeinen Erwägungen an die Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Christentum und griechischer Philosophie herantreten und zu der Behauptung der rationalistischen Dogmengeschichte, daß durch Verwertung der griechischen Philosophie, durch den griechischen Intellektualismus Grabmann, Scholastische Methode. I.
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der spezifische Inhalt des Christentums verändert worden sei, Stellung nehmen sollen, so ist diese Behauptung schon durch die Widerlegung der Aufstellung, daß das Christentum der Heiligen Schrift einen antiintellektualistischen Charakter habe, in der Wurzel abgewiesen. Noch mehr wird diese Behauptung entkräftet, wenn wir die Beweggründe, Ziele und die Art und Weise dieser Verwertung der griechischen Philosophie ins Auge fassen. Es kommen hier zunächst die ersten Ursprünge und Anfänge dieser Benützung der griechischen Philosophie im Dienste des Christentums in Betracht, da dieselben für die ganze Patristik und indirekt auch für die Scholastik richtunggebend gewesen sind1. Mannigfache äußere Faktoren haben frühzeitig die Blicke des christlichen Altertums auf die griechische Philosophie gelenkt. So erheischte der Zweck der lehrhaften Unterweisung und des religiösen Unterrichts eine logische und sprachliche Einkleidung und Formulierung wie auch eine übersichtliche Gruppierung der christlichen Lehren. Die Ausbreitung des Christentums über die Grenzen Palästinas hinaus führte gar bald zu einer Berührung auch mit den gebildeten und gelehrten griechischen Kreisen. Der Übertritt von gebildeten Griechen und Römern, ja selbst von griechischen Philosophen zum Christentum legte eine Annäherung, eine Vergleichung der griechischen, vornehmlich platonischen Philosophie und der christlichen Weltanschauung nahe. Im Denken eines solchen christlich gewordenen Philosophen mußten die Einheitspunkte sowohl wie auch die Verschiedenheiten zwischen Christentum und griechischer Spekulation in mehr oder minder scharf ausgeprägter Form zur Geltung kommen. Fernerhin veranlaßte das Auftreten der Häresien, die christliche Vorstellungen mit jüdischen Elementen und auch mit Gedankenreihen der griechischen Philosophie zu einem synkretistischen Ganzen vermengten, eine Auseinandersetzung der Lehrer und Verteidiger des Christentums mit der griechischen Philosophie, eine Untersuchung darüber, was in der griechischen Philosophie für und was gegen die christ1 Über das Verhältnis von Christentum und griechischer Philosophie handeln: G. v. H e r t l i n g , Christentum und griechische Philosophie 61-—75 (Münchner internationaler katholischer Gelehrtenkongreß 1900); W i l l m a n n , Geschichte des Idealismus II 2 , Braunschweig 1907, 107—177. An älterer Literatur hierüber vgl. D. B e c k e r , Das philosophische System Piatos in seiner Beziehung zum christlichen Dogma, Freiburg 1862, 14—38; H. K e l l n e r , Hellenismus und Christentum (1866); J. K l e u t g e n , Philosophie der Vorzeit I 2 , Innsbruck 1878, 737 ff; M a t t e s , Das Christliche in Plato, in Tübinger Quartalschrift 1845, 844ff
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liehe Lehre ist. Namentlich gegenüber dem Gnostizismus, der durch seine ungesunde Vermengung der philosophisch-mystischen Spekulation mit christlichen Gedanken eine Karikatur des Christentums lehrte, war eine in rechten Grenzen sich haltende Benützung der griechischen Philosophie zur Erzielung einer tieferen Einsicht in die Offenbarung, zur Erlangung einer wahren christlichen Gnosis angezeigt. Dies war nur dadurch möglich, daß die Irrtümer der griechischen Philosophie abgestreift und die für das Christentum wertvollen Elemente derselben herausgeschält wurden. Ebenso wie die Häresie drängte auch der bald sich erhebende Kampf der heidnischen Kulturwelt gegen das junge Christentum zu einer zielbewußten Stellungnahme der christlichen Denker zur griechischen Philosophie, zu einer Bekämpfung der Gegner mit deren eigenen Waffen. Mit diesen äußeren Momenten und Faktoren ging das durch den erhabenen, geheimnisvollen Inhalt der christlichen Lehre und durch die Begeisterung der Christen für ihren Glauben angeregte und entflammte Streben nach möglichst tiefer Einsicht in die Offenbarung, nach möglichst intensivem Verständnis des Glaubensinhaltes Hand in Hand, um eine gesunde Verbindung der christlichen Wahrheit mit der hellenischen Kultur anzubahnen und eine Systematisierung und wissenschaftliche Gestaltung der christlichen Weltanschauung mit den Mitteln der griechischen Philosophie ohne inhaltliche Umprägung des ursprünglichen Christentums in die Wege zu leiten. Die Schriften der Apologeten und der großen Denker der christlichen alexandrinischen Schule sind hierfür die Dokumente. Die griechische Philosophie, vor allem die platonische und auch die aristotelische, bot den christlichen Denkern eine Fülle von Anhaltspunkten, von Anknüpfungen für ihre spekulativen, systematischen und apologetisch-polemischen Arbeitsziele. Das aus der Philosophie Piatos sprechende Streben und Sehnen nach höherer Wahrheit, die Begeisterung dieses großen attischen Philosophen für das Übersinnliche, Allgemeine und Ewige, eine Fülle von Vernunftwahrheiten über Gott, Unsterblichkeit der Seele, die zugleich Inhalt oder doch Voraussetzung der christlichen Offenbarung und auch Gegenstand des Erörterns und Ahnens in der griechischen Spekulation gewesen, all das sind Berührungspunkte zwischen dem Christentum und der griechischen Philosophie, sind Rechtstitel für die Verwertung der griechischen Philosophie zur Begründung einer christlichen Spekulation. In formeller Beziehung bot die Art und Weise, wie Plato mit den Sophisten wissenschaftlich abrechnete, in vieler Hinsicht
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ein Vorbild, eine Hodegetik für die Verteidigung des Christentums gegen die Einwürfe heidnischer und häretischer Gegner, während die aristotelische Logik für die Gliederung und Anordnung der theologischen Beweisführung und für die Grundlegung einer mehr schulmäßigen und systematischen wissenschaftlichen Behandlungsweise der christlichen Lehre eine Fülle von Winken und Gesichtspunkten an die Hand gab. Und selbst einseitige und wegen dieser Einseitigkeiten irrige Doktrinen der griechischen Philosophie konnten richtiggestellt und für die Zwecke der christlichen Spekulation brauchbar gemacht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Korrektur der platonischen Ideenlehre, welche ihres hyperrealistischen Charakters entkleidet und im Sinne von vorbildlichen Gedanken Gottes, im Sinne eines christlichen göttlichen Exemplarismus umgeformt wurde. Endlich stellte die griechische Philosophie den christlichen Denkern eine Fülle von Termini und Formen zur Verfügung, in welche die christlichen Gedanken ohne die Not wendigkeit inhaltlicher Veränderung gegossen werden konnten. Die griechische Weltweisheit konnte der erwachenden christlichen Spekulation die wissenschaftliche Sprache leihen. Es sei hier bloß an die Ausdrücke ouota, bnoavam^ ola> bp.oo6oio xal dv&pa)7:i»a)i> xal zwv TOÜTIÜ^ ahi'wv (Strom. 1, 5 [Ed. Stählin II 19]).
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spricht sich auch über die Rangordnung der verschiedenen Wissenszweige aus. Die freien Künste verhalten sich zur Philosophie als wie zu ihrer Herrin, die Philosophie steht wieder in einem ähnlichen Verhältnis zur Gnosis1. Es ist dies ein Gedanke, dem wir in noch deutlicherer Form und in schärferer Präzisierung bei Johannes von Damaskus begegnen werden, ein Gedanke, der wiederum ein Gemeingut der Scholastik geworden ist, Die ersten Wurzeln dieses Gedankens finden sich bei Philo, der nicht bloß auf exegetischem Gebiete Klemens von Alexandrien beeinflußt hat. Auch Ansätze zur Systematik können wir in dem von Klemens uns hinterlassenen Schrifttum wahrnehmen. Er hat eine einigermaßen systematische Zusammenfassung der kirchlichen Lehre in seiner Trilogie angestrebt, indem er im Protreptikus den Leser dem Heidentum zu entreißen, im Pädagogus denselben nach christlichen Grundsätzen zu unterrichten und in den Stromata in die wahre Gnosis einzuführen und einzuweihen bemüht ist2. Der erste eigentliche Systematiker der christlichen Wahrheit ist O r i g e n e s gewesen, „der größte Theolog der griechischen und bei der Geisteskraft, die seine unzähligen Schriften voraussetzen, vielleicht der größte Theolog aller Zeiten"3. „Origenes war", bemerkt R. Seeberg 4 , „ein methodisch forschender Gelehrter. Sein Werk Ilep} äpycbv ist in mehrfacher Hinsicht der erste große Typus derjenigen wissenschaftlichen Arbeitsweise, welche die großen Denker des Mittelalters, vornehmlich Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin, bei der Struktur ihrer theologischen Lehrgebäude betätigt haben." Vor allem sind die Arbeitsgrundsätze, welche Origenes in der Einleitung zu Ilspl äp^äw entwickelt, in vielen Stücken nichts anderes 1
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auiißaklerat
7tpog v erinnern. Da Anselm dieses Werk des Origenes nicht benutzt hat, so dürften diese Anklänge ein Beweis und ein Zeichen dafür sein, daß einem vom Glaubenslichte erleuchteten Denker bei seinem Herantreten an den Offenbarungsinhalt jene wissenschaftlichen Auffassungen und Arbeitsgrundsätze mehr oder minder deutlich zum Bewußtsein kommen, die das eigentliche Wesen der scholastischen Methode ausmachen. Des Origenes dogmatisches Hauptwerk ist in methodischer Hinsicht für Patristik und Scholastik fernerhin auch deshalb von hoher Bedeutung, weil es nach Form und Inhalt die erste systematische D a r s t e l l u n g der Theologie, besonders das e r s t e System der D o g m a t i k vorstellt. Die in der Einleitung ausgesprochene Idee einer theologischen Synthese ist im Werke selbst im großen Stile realisiert1. F. P r a t steht nicht an, das Werk Ttspi äpy&v als eine l'exegete VIII : „Ona beaucoup exagere", sans nul doute, l'influence de 1a philosophie sur ses doctrines the'ologiques"; A . D e n i s , La philosophie d'Origene, Paris 1884 59 u. 60: „Je ne crois pas qu' Origene ait puise* dans 1a science hellenique aucun de ses principes essentiels. . . . II s'est donc incontestablement servi de 1a philosophie grecque pour l'expression de ses idees. . * . Mais, quant aux idees ellesmömes, je crois que c'est ailleurs qu'il en faut chercher l'origine"; K o e t s c h a u , Origenes *, Leipzig 1899, xxxvi—XLII : Origenes und die griechische Philosophie. 1 „C'est Origene, qui, 1e premier parmi les penseurs chre*tiens, eut l'idäe d'une synthese the"ologique efc 1a realisa" ( D u c h e s n e , Histoire ancienne de l'Eglise 6*
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
t h e o l o g i s c h e Summa, ja sogar als eine Summa der scholas t i s c h e n T h e o l o g i e im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes zu bezeichnen1. Der Gottesbegriff, die Gotteslehre steht an der Spitze dieses geistesmächtigen theologischen Systems, das in vier Büchern von Gott, Trinität und Geisterwelt, von der Welt, den Geschöpfen in der Welt und vom Wirken Gottes zum Heil der Welt, von dem Menschen als freiem Wesen, Sünde und Erlösung und endlich von der Heiligen Schrift, deren Inspiration und Erklärung handelt2. Zum Aufbau dieses spekulativen Lehrsystems, das Origenes der heidnisch-philosophischen Gnosis als Bollwerk entgegenstellen wollte, hat er auch von der griechischen Philosophie, namentlich der (neu)platonischen reichen Gebrauch gemacht. „Er machte zuerst*, bemerkt S c h w a n e 3 , „einen umfassenden und allseitigen Versuch, die Philosopheme des Piatonismus und Neuplatonismus, soweit es ihm möglich schien, mit den christlichen Glaubenslehren zu einem Ganzen zu vereinen." Vom methodischen Gesichtspunkte aus ist endlich noch eine bei Origenes sich findende Einteilung der Wissenschaften beachtenswert. Die betreffende Stelle lautet: „Moralis autem disciplina dicitur, per quam mos vivendi honestus aptatur, et instituta ad virtutem tendentia praeparantur. N a t u r a l i s est ea, ubi uniuscuiusque rei natura discutitur, quo nihil contra nataram geratur in vita. . . . I n s p e c t i v a dicitur, qua supergressi visibilia, de divinis aliquid et coelestibus contemplamur, eaque sola mente intuemur, quoniam corporeum supergrediuntur aspectum." 4 Es zeigt sich in dieser Wissenschaftseinteilung jene aufsteigende vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, Unerschaffenen und Göttlichen sich erhebende Methode, die wir auch bei den großen Denkern des Mittelalters, bei Albertus 352.) „Er (Origenes) ist der erste, der auf dem Boden der kirchlichen Tradition und der Heiligen Schrift ein umfassendes philosophisch-theologisches System aufgebaut hat" (Fr. L o o f s , Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte 191). 1 „11 nous presente donc non pas une philosophie de 1a nature, mais 1a science des conclusions rationelles fondees sur 1a revelation. C'est dans toute 1a force du terme, une somme de theologie, et meme, ä proprement parier, de theologie scolastique" (F. P r a t , Origene, 1e theologien et l'exegete l).j 2 Über Idee und Plan von nepl äp%a>\> siehe P r a t a.. a. 0. 1—6 ; D u c h e s n e, Histoire ancienne de l'Eglise 353—356; H a r n a c k , Dogmengeschichte4 131 ff. 3 Dogmengeschichte der vornicänischen Zeit2 130. 4 Prolog, in Cant. Cant. (M., P. Gr. XIII 73). Vgl. C a p i t a i n e , De Origenis ethica. Münster 1898, 12 ff.
Ansätze der scholastischen Methode in der griechischen Väterliteratur.
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Magnus, Bonaventura und Thomas von Aquin, in ihrer Wissenschaftseinteilung und Wissenschaftseinschätzung wahrnehmen'1. Bei Origenes findet sich auch zum erstenmale die berühmte, in der Folgezeit oft wiederholte allegorische Auslegung von Ex 11, 2, wonach unter den goldenen und silbernen Gefäßen und Gewändern, welche die Israeliten den Ägyptern weggenommen haben, um sie für den Schmuck des Heiligtums zu gebrauchen, die Schätze der Wissenschaft zu verstehen sind2. Enge an Origenes schloß T h e o g n o s t u s , zur Zeit Diokletians Vorsteher der alexandrinischen Schule, sich an, dessen verloren gegangene Hypotyposen nach dem Berichte des Photius eine systematisch geordnete und stark von Origenes beeinflußte Dogmatik darstellten3. Im ersten Bache handelte, wie Photius berichtet, Theognostus von dem Vater und beweist gegenüber denjenigen, welche eine Ewigkeit der Materie lehren, daß er Schöpfer ist; das zweite Buch enthält Gründe für das Dasein des Sohnes, das dritte solche für das Dasein des Heiligen Geistes. Das vierte Buch handelt von den Engeln und Dämonen, das fünfte und sechste Buch erörtert die Menschwerdung des Sohnes Gottes, deren Möglichkeit Theognostus zu beweisen sucht. Das siebte Buch handelt von verschiedenen andern Dingen. Von den griechischen Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts ist vor allem der hl. A t h a n a s i u s nicht bloß von hervorragender dogmengeschichtlicher Bedeutung, sondern für die Geschichte des Entwicklungsganges der theologischen Methode von Interesse. Dieser große Vorkämpfer der Orthodoxie gegenüber dem Arianismus hat durch seine scharfe und klare Darstellung der kirchlichen Lehre und durch seine sorgfältige Begründung der Glaubenssätze der Trinitätslehre und Christologie aus der Heiligen Schrift hauptsächlich der positiven Theologie die Wege gezeigt. Wenn er auch die von ihm verteidigten Glaubenssätze im Zusammenhang mit dem Ganzen der christlichen Lehre erörterte und in der Widerlegung der Gegner großen dialektischen Scharfsinn bekundete, so kultivierte er doch die Theologie weniger nach der spekulativen Seite durch Verwertung 1
Vgl. A. de 1a B a r r e , Ecole chre'tienne d'Alexandrie, in Dictionnaire de. theologie catholique I 820. 2 Siehe N o r d e n , Die antike Kunstprosa II, Leipzig 1898, 676. 3 Vgl. H a r n a c k , Die Hypotyposen des Theognost, in Texte und Untersuchungen N. F. IX 3, Leipzig 1903, 78—92; B a r d e n h e w e r , Geschichte der altkirchlichen Literatur II, Freiburg 1903, 195 ff.
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Die Anfänge der scholastischen Methode in der Patristik.
der griechischen Philosophie zur Ergründung und Systematik des Dogmas. Seine wissenschaftliche Arbeit war mehr eine polemische, und monographische, sie war in der Darlegung, Begründung und Verteidigung einzelner Lehrsätze von vorbildlicher Gründlichkeit und Gediegenheit. Dagegen trat das spekulative und konstruktive Element in der theologischen Lebensarbeit des hl. Athanasius mehr zurück. Dem rastlosen Bekämpfer der Häresie war es nicht gegönnt, mit ungestörter Ruhe in die großen Zusammenhänge, in den Organismus und Pragmatismus der Heilswahrheiten und Heilstatsachen sich zu versenken und ein theologisches System von großen Perspektiven zu entwerfen1. Der hl. Cyrill von J e r u s a l e m hat in seinen 18 bzw. 19 Katechesen ad illuminandos, die eine Erklärung des Taufsymbols der jerusalemischen Kirche bilden, und in seinen fünf mystagogischen Katechesen, die über Taufe, Firmung und Eucharistie belehren, „eine beinahe vollständige Dogmatik"2, ein zugleich populär und inhaltlich tief orientiertes System der dhxistlichen Wahrheit hinterlassen. Tür die Geschichte der wissenschaftlichen Behandlung der Dogmen, für die Darstellung der Keime und Ansätze der scholastischen Methode in der Väterzeit kommen auch die drei g r o ß e n Kappadozier in Betracht. Gregor von N a z i a n z , der Theolog, hat in fünf - seiner Reden (Nr 27—31), die er selbst ol TVJQ {tsoXopag Xoyot genannt hat, die kirchliche Trinitätslehre gegenüber den Eunomianern und Mazedonianern dargestellt, begründet und verteidigt3. Den Inhalt seiner gedankentiefen trinitarischen Spekulation entnimmt er der kirchlichen Lehrentwicklung, für die sprachliche und begriffliche Einkleidung seiner theologischen Gedankengänge leisten ihm seine klassischen Studien, seine Kenntnis der platonischen und aristotelischen Philosophie treffliche Dienste. Er nimmt hierbei jedoch energisch Stellung gegen jedwede inhaltliche Beeinflussung der Theologen durch die hellenische Philosophie, durch den Piatonismus und macht deutlich auf den kausalen Zusammenhang solch inhaltlicher Ein1
Zur Charakteristik der theologischen Methode des hl. Athanasius vgl. Ferd i n a n d C a v a l l e r a , Saint Athanase, Paris 1908, 33ff; S e i d e r , Artikel Athanasius, in Buchbergers Kirchl. Handlexikon I 386. 2 S c h e e b e n , Dogmatik I 423. 3 Vgl. J. H e r g e n r ö t h e r , Die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit nach dem hl. Gregor von Nazianz, dem Theologen, Regensburg 1850, 9—16; daselbst findet sich eine allgemeine Charakteristik der Arbeitsweise des hl. Gregor.
Ansätze der scholastischen Methode in der griechischen Väterliteratur.
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flüsse der griechischen Philosophie mit den trinitarischen Häresien aufmerksam. In der Theologie Gregors von Nazianz ist das polemische, spekulative und mystische Element harmonisch miteinander verbunden. Seine Spekulation wird zur Kontemplation, zum Gebet. Er betont deswegen auch das ethisch-aszetische Moment beim Theologen. Nur ein Reiner kann den unendlich reinen Gott erfassen1. Wir finden somit in der theologischen Arbeitsweise des hl. Gregor von Nazianz alle die schönen Züge und Richtungen geeint, die auch den Werken der mittelalterlichen Scholastiker, besonders eines hl. Anselm, eines Hugo von St Viktor, Bonaventura und Thomas von Aquin, eigen sind. Durch Johannes von Damaskus, der reichlich aus Gregor von Nazianz geschöpft hat, ist die abendländische Scholastik des Mittelalters mit den Gedankenreihen des Kappadoziers in Fühlung getreten. In seiner Wertschätzung der profanen Wissenschaften besonders in ihrer propädeutischen Bedeutung für die Theologie ist Gregor von Nazianz eines Sinnes mit B a s i l i u s d. Gr., von dem eine Rede „an die Jünglinge, wie sie aus heidnischen Schriften Nutzen schöpfen können"2, stammt. In den Werken des hl. Basilius finden sich deutliche Spuren dessen, was die scholastische Arbeitsweise dem Wiesen nach ausmacht. Seine Epistola 38 (Fp^yopcw dosÄcpco Tisp) diawopac, oöaiaq xal UTCoazdcFeajq
= De discrimine essentiae et hypostasis)3 ist eine scharfsinnige Untersuchung über die theologische Terminologie, die an analoge Untersuchungen der mittelalterlichen Spekulation gemahnt. Er betont jedoch in diesen tiefen spekulativen Erörterungen entschieden den Vorrang und Vortritt des Glaubens vor der Spekulation, vor dem Wissen4. Den Grundsatz: „Fides praecedit intellectum" bringt er auch deutlich am Anfange seiner Homilie zum Ps 115, in welcher über das Verhältnis von Glauben und Wissen sich anregende Gedanken finden, zum Ausdruck5. 1
H e r g e n r ö t h e r a. a. 0. 13 A. 5. Vgl. K. W e i ß , Die Erziehungslehre der drei Kappadozier, Freiburg 1903, 172; J a k . H o f f m a n n , Die Beurteilung und Stellung der altklassischen Bildung in der Kirche, in Monatsblätter für den katholischen Religionsunterricht an höheren Lehranstalten II (1901) 2 . - 4 . Heft. 3 M., P. Gr. XXXII 325—340. 2
4 "Qamp yäp im TÜJV rotg dy>#aA/j.oig <pai\>ofj£\>ü)v xpstTTCov ipdvy rou Äoyou Tijq alriag ^ Tzzipa • OUTOJ xal za>v bTTspßsßrjxözwv doyfidziüv xpzizzwu i xaTaÄrj(/>£üjg ij 7rig, xal C«>^
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u7TOT£Td%ap.£)>, TTJV äXrj&siav TWV slpTjßivajv
TZiüTouixEvot (ebd. 4
xal ix- rrjg TLOV naXatihv
pLap-
1272).
Ebd. 1308—1316. Über das Todesdatum des Joh. von Damaskus vgl. Vailhe", Date de 1a mort de S. Jean Damascene (4 dec. 749), in Echos d'Orient 1906, 28—31. 5
Ansätze der scholastischen Methode in der griechischen Väterliteratur.
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Stellung und Gruppierung des von den früheren griechischen Vätern erarbeiteten theologischen Wissensgutes. Auf selbständige Arbeit verzichtet er von vornherein1. Im ersten Teile gibt er eine Übersicht über die für die Theologie bedeutsamen philosophischen Stammbegriffe (x£ie Überlieferung und Weiterbildung etc.
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breiten. Der übrige Teil des ersten Buches ist mit starker Hervorkehrung des praktischen Gesichtspunktes dem „sacramentum fidei", der Taufe, gewidmet. Entscheidungen der Päpste und Konzilien, Aussprüche und Darlegungen der Väter, vor allem Augustins, und auch früherer mittelalterlicher Theologen, z. B. des Rhabanus Maurus, werden hier in großer Zahl aufgeführt. Das zweite Buch von Ivos Dekret hat dogmatisches Gepräge, insofern es an der Hand eines reichen patristischen Materials in einer Reihe von Kapiteln die Eucharistielehre erörtert. Daß unser Autor hier noch unter dem Eindrucke des Berengarschen Abendmahlsstreites steht, davon geben das neunte Kapitel, das einige längere Exzerpte aus Lanfranks Streitschrift enthält, und das zehnte Kapitel, welches die professio Berengarii bietet, uns Kunde. Die Bücher 3—16, also der weitaus größte Teil des Dekrets, sind fast ausschließlich kanonistischen und liturgischen Inhalts. Für die Dogmatik sind allenfalls die Erörterungen des fünften Buches „De primatu Romanae Ecclesiae" von Interesse. Auf rein dogmatischem und teilweise auch moralischem Boden bewegen sich die Gedankengänge des letzten und 17. Buches: „continens speculativas sanctorum patrum sententias de fide, spe et caritate". Psychologische Gegenstände, z. B. die Würde des Menschen, die Natur der Seele, eine eingehendere Darstellung der Prädestinationslehre, die Engellehre, eschatologische Gedanken über Hölle, Antichrist, Weltgericht und Seligkeit, und schließlich einige Auslassungen ethischen Charakters finden hier mit den Worten der Väter, namentlich des hl. Augustin und Gregors d. Gr., eine wissenschaftliche Aussprache. Wenn wir nunmehr die Tragweite dieser dogmatischen Teile des Dekretes Ivos für die Entwicklung der scholastischen Methode beurteilen wollen, so tritt uns hier zunächst der Gesichtspunkt der Stoffzufuhr entgegen. Der Bischof von Chartres hat zu einer Reihe von Dogmen größeres und teilweise zusammenhängendes, patristisches Material beigebracht und hierdurch die positive Seite der Theologie gefördert1. Das in den Sentenzenwerken des 12. Jahrhunderts angesammelte und verarbeitete patristische Material wird, soweit es nicht auf dem Wege unmittelbaren Studiums von Väterhandschriften, sondern durch Einblicke in Exzerptensammlungen gewonnen ist, zum guten Teile durch Ivos Dekret vermittelt sein. Die Quellenanalyse 1
Vgl. T u r m e l , Histoire de 1a thöologie positive depuis l'origine jusqu'au concile de Trente xxivff: „Le Decret de FevSque de Chartres fait donc epoque dans Thistoire de 1a theologie positive."
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dieser Sentenzensammlungen wird eine mehrfache Abhängigkeit dieser theologischen Literaturgattung nachweisen können. Doch es liegt dieser Detailnachweis bereits über den Grenzen des in diesem Bande gesteckten Arbeitszieles. Die dogmatischen Partien des ersten Buches von Ivos Dekret stellen zugleich mit den auf die Sakramentenlehre bezüglichen Kapiteln des zweiten Buches so ziemlich den Inhalt der Sentenzenwerke, wie sie aus den ersten Dezennien des 12. Jahrhunderts uns handschriftlich erhalten sind, dar. Die Sentenzen des Anselm von Laon, Wilhelm von Champeaux, des Wutolf und eine Reihe anderer handschriftlich erhaltener Sentenzen, über welche im zweiten Bande gehandelt werden wird, bieten nach Inhalt und Anordnung des Stoffes ungefähr dasselbe Bild dar wie diese dogmatischen Bestandteile von Ivos Dekret. Es ist deswegen ganz wohl begreiflich und berechtigt, wenn in einer Handschrift Ivo unter der Zahl der Sententiarier aufgeführt wird. Der Cod. 425 der an wertvollen scholastischen Handschriften so reichen Bibliothek von Troyes enthält den „Liber Pancrisis (7tayyp6<j£OQ), quia hie auree continentur sententie vel questiones, sanetorum Augustini, Heronimi, Ambrosii, Gregorii, Isidori, Bede et modernorum magistrorum Wilhelmi Catalaunensis episcopi, Ivonis Carnotensis episcopi, Anselmi et fratris eius Radulphi". Ivo von Chartres wird in diesem von Petrus Cornestor zusammengestellten Sammelwerke zugleich mit Wilhelm von Champeaux und den beiden Brüdern Anselm von Laon und Radulfus als Sententiarier genannt. In der Trinitäts- und Inkarnationslehre bietet Ivos Dekret sogar ein reicheres Material als die Werke der soeben genannten Autoren. Fournier hat in seinen bahnbrechenden Forschungen über Ivo von Chartres, speziell in den Untersuchungen über „Les collections canoniques attribuees ä Yves de Chartres" auf den nachhaltigen Einfluß, den derselbe durch seine Schriften auf die Theologen und Kanonisten des 12. Jahrhunderts ausgeübt hat, hingewiesen. Die kanonistische,n Sammlungen des gelehrten Bischofs von Chartres haben auf eine Reihe handschriftlicher kanonistischer Sammelwerke, auf die Sentenzen Algers von Lüttich, auf die Schriften Hugos von St Viktor, auf Abälards „Sie et non" eingewirkt. Was die „Collectio trium partium", das „Decretum" und „Panormia" für das Dekret Gratians bedeuten, ist am ehesten aus einer Übersicht über die von dem großen Bologneser Kanonisten aus Ivos Schriften herübergenommenen Eanones ersichtlich1. Vgl. Corpus iuris canonici, ed. Richter-Friedberg I, Lips. 1879, LIV—LXVIII.
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Ivo von Chartres hat mithin in methodischer Hinsicht das kanonische Recht und die Theologie in nicht zu unterschätzender Weise beeinflußt. Er hat eine Gesamtübersicht über das Gebiet des kirchlichen Rechts und über ein gutes Stück dogmatischer Fragen gegeben und dadurch den Sinn für Systematik geweckt, er hat eine Reihe neuer Fragen auf kanonistischem Boden aufgerollt wie auch zu lösen versucht und hat dadurch den wissenschaftlichen Gesichtskreis erweitert und in mancher Hinsicht einen Fortschritt, eine geistige Vorwärtsbewegung bedingt. Er hat fernerhin durch sein Bestreben, die Kanones und Autoritäten auszugleichen und aus der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erzielen, ähnlich, wenn auch nicht in demselben Maße und in demselben ausgebildeten, prinzipiellen Fundament wie Bernold von Konstanz, schon vor Abälard dessen sog. Sic-et-non-Methode erfolgreich in Anwendung gebracht. Für die dogmatischen Werke des 12. Jahrhunderts, für die Sentenzensammlungen hat Ivos einschlägige schriftstellerische Tätigkeit eine Fülle von Väterstellen zur Verfügung gestellt und auch nach Inhalt und Anordnung des Stoffes in mehr als einer Beziehung vorbildlich gewirkt. „Auf dieser (nämlich der von Ivo von Chartres geschaffenen) Grundlage", bemerkt B a r t h 1 in Anlehnung an die Feststellungen Fourniers, „sollte der Geist der Schulen des 12. und 13. Jahrhunderts weiterbauen, generalisierend in seinen Strebungen, fein in seinen Distinktionen; man sieht dann das scholastische Gebäude des kanonischen Rechts sich neben demjenigen der Theologie erheben. Es wäre Übertreibung, Ivo als einen der Baumeister zu bezeichnen, die an diesem Gebäude gearbeitet haben, aber es ist nicht mehr als gerecht, wenn man anerkennt, daß er das Terrain hierfür bereitet, die Materialien aufgehäuft, das Bauen selbst ermöglicht hat/ § 4. Das „Speculum universale" des Radulfus Ardens, eine ungedruckte theologische Summa am Ende des 11. Jahrhunderts. Mehr schon in die Zeit Anselms von Canterbury als Lanfranks fällt die Wirksamkeit des R a d u l f u s A r d e n s ; eines hervorragenden Kanzelredners, über dessen Lebensgang nur wenige Daten uns bekannt sind, und der auch bisher wenig Beachtung gefunden hat. Gebürtig aus Beaulieu in der Picardie, erscheint Radulfus, wegen seiner feurigen Beredsamkeit Ardens zubenannt, später als Berater des Herzogs Wilhelm IV. von Aquitanien, den er 1101 in das Heilige Hildebert von Lavardin, Stuttgart 1906, 6.
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Land begleitete. Von diesem Zeitpunkte an verschwindet sein Name aus der Geschichte. Über seinen Studiengang, über die Schule, in der er die Grundlage zu seinem ohne Zweifel hervorragenden und universellen Wissen gelegt, fehlen leider jegliche Nachrichten1. In der Geschichte der Theologie wird Radulfus Ardens wegen seiner mehr denn 200 Homilien auf die Episteln und Evangelien des Kirchenjahres2 aufgeführt. Es geben diese Homilien, die mehrfach gedruckt worden und auch bei Migne 3 ediert sind, Zeugnis von der hohen und umfassenden geistigen Durchbildung ihres Autors. Vor allem tritt uns eine innige Vertrautheit mit einem umfangreichen kirchlichen wie profanen Wissensmaterial entgegen. Seine Belesenheit in der Heiligen Schrift und in den patristischen Schriften, vor allem in den Werken Augustins, des hl. Hieronymus, Gregors d. Gr., des Sulpicius Severus, des Beda Venerabilis usw., ist eine staunenswerte. In dogmatischen Fragen ist Augustin sein Führer, in der Moral Gregor d. Gr. An Augustin schließt er sich besonders enge in der Gnadenlehre an. In einer Homilie über die Epistel der Gründonnerstagsmesse trägt er scharf und klar die Lehre von der eucharistischen Wesensverwandlung (Transubstantiation) vor4. Auch über das Bußsakrament finden sich in dieser dogmengeschichtlich bisher noch nicht ausgewerteten Homiliensammlung bedeutsame Äußerungen. Desgleichen verraten die Predigten des Radulfus gründliche Kenntnisse im kanonischen Rechte. Ein Beleg für seine Kenntnis des Eherechts ist seine Homilie auf den zweiten Sonntag nach Epiphanie5. Auch in profanen Autoren, in Dichtern, Philosophen und Historikern scheint sich Radulfus umgesehen zu haben. So zitiert er z. B. Vergil6. Seine Latinität ist verhältnismäßig rein, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er auch etwelche Kenntnis des Griechischen und Hebräischen besaß. Für seine logische Schulung sind die klaren Einteilungen, die er vornimmt, ein Beleg. 1 Zur Lebensbeschreibung des Radulfus Ardens siehe Histoire litt^raire de 1a France IX 254—265. H u r t e r , Nomenciator I 3 1097. 2 „Homiliae in Epistolas et Evangelia de tempore" und „Homiliae in Epistolas et Evangelia Sanctorum". 8 P. L. CLV 1299—1626 1667—2118. 4 Ebd. 5 Ebd. 1742ff. Vgl. D e n i f l e , Luther und Luthertum I* 257 A. 1 und 260 A. 4. 6 M., P. L. CLY 1423.
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Di e Überlieferung und Weiterbildung etc.
So interessant und beachtenswert die Homilien des Radulfus Ardens für die Geschichte der mittelalterlichen Predigt und auch des Dogmas sind, so ist es doch ein anderes Werk aus seiner Feder, das in seiner ganzen Anlage und nach seinem Inhalte noch wertvoller ist als seine Predigtsammlung und das in hervorragendem Maße für den Geschichtschreiber der scholastischen Methode in Betracht kommt. Es ist dies sein ungedruckt gebliebenes, nur in ganz wenigen Handschriften erhaltenes „Speculum universale". Zwei Handschriften dieses „Speculum universale" befinden sich in der Bibliotheque Mazarine zu Paris, nämlich die Codd. 709 (1080) und 710 (423). Cod. 709 ist ein Pergamentcodex aus dem 15. Jahrhundert und enthält sämtliche 14 Bücher des „Speculum universale", während Cod. 710, eine Pergamenthandschrift des 13. Jahrhunderts, nur die Bücher 9—14 umfaßt. Eine weitere Handschrift ist in der Vatikanischen Bibliothek, nämlich Cod. Vatic. Lat. 1175, der in zwei Bänden (pars I und II) das ganze Werk in 14 Büchern in sich faßt. An der Spitze des ersten Teiles steht auf fol. l r in roter Schrift der Titel: „Incipit speculum universale distinctionum magistri radulfi ardentis de virtutibus et vitiis eisdem oppositis". Unmittelbar daran schließt sich eine „Tabula super capitula primi libri". Hierauf beginnt mit fol. l v das erste Buch: „Expliciunt capitula primi libri. Incipit liber primus. Quid sit scientia et eius species. Capitulum primum" etc. Die vatikanische Handschrift ist auch in der nachfolgenden Darstellung der Bedeutung des „Speculum universale" für den Entwicklungsgang der scholastischen Methode zu Grunde gelegt. Unter drei Gesichtspunkten ist dieses Werk des R a d u l f u s A r d e n s hier für uns von Interesse, nämlich unter dem Gesichtspunkte der S y s t e m a t i k , der W i s s e n s c h a f t s l e h r e und der Anwendung der p h i l o s o p h i s c h e n T e r m i n o l o g i e auf theologische Fragen. Was die S y s t e m a t i k des „Speculum universale" angeht, so ist dasselbe eine Gesamtdarstellung der christlichen Glaubens- und Sittenlehre mit Vorwiegen des moralisch-aszetischen Momentes* Während in dieser Zeit Gesamtübersichten über das kirchliche Recht mit Berücksichtigung der Dogmatik und Moral uns bereits begegnen — es sei hier auf das Dekret Ivos von Chartres hingewiesen —, dürfte das „Speculum universale" des Radulfus in der damaligen Zeit nicht leicht seinesgleichen finden lassen.
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Um den Aufbau dieses inhaltsreichen Werkes, die freilich etwas lose Struktur desselben und den Anlauf zu einem System der christlichen Doktrin, den dasselbe macht, in etwas würdigen zu können, sei eine gedrängte Inhaltsübersicht im folgenden geboten. An der Spitze des ersten Buches und damit des ganzen Werkes steht eine Wissenschaftslehre, eine Abhandlung über den Begriff und die Einteilung der Wissenschaft, ähnlich wie auch die großen systematischen Werke, die Summen der Hochscholastik, an erster Stelle eine mehr oder minder ausführliche theologische Einleitungslehre bieten. Das erste Buch (fol. lv—15V) selbst erörtert die Grundbegriffe der Ethik, die Begriffe des sittlich Guten, der Tugend, der Sünde, speziell der Erbsünde. Wir haben hier eine Art ethischer Prinzipienlehre vor uns. Das zweite Buch (fol. 15y—28v) handelt von Christus und von der Erlösung, es verbreitet sich gleichsam über die dogmatischen Grundlagen und Voraussetzungen für die christliche Lehre von Tugend und Sünde. Das dritte Buch (fol. 28v—44v) enthält eine ausführliche Lehre von den Versuchungen, verfolgt eine vorwiegend praktisch-aszetische Tendenz und zeugt auch von großer Kenntnis der Wandlungen und Strebungen des menschlichen Herzens. In geistreicher Weise sind die drei Feinde des Menschen (caro, dyabolus, homo mundanus) charakterisiert. Diesen drei Feinden stellt das vierte Buch (fol. 44V—60v) drei Freunde des Menschen entgegen: Spiritus, bonus angelus und vir iustus, deren segensvolle Wirksamkeit in anregender Weise geschildert wird. Wirklich packend ist die fürsorgende Tätigkeit des Schutzengels behandelt. Den Gegenstand des nächsten, des fünften Buches (60v—85r) bilden die menschlichen Gedanken, insofern sie Quellen der Tugend oder auch des Lasters sind. Warm ist hier die christliche Wachsamkeit über die Gedankenwelt empfohlen. Am Schlüsse dieses Buches ist bemerkt, daß das sechste Buch, welches über das Gebet handeln sollte, von dem Verfasser ausgelassen und auf später verschoben wurde, aber infolge seines Todes nicht mehr ausgearbeitet wurde1. 1
„Explicit liber quintus. Hie deest sextus liber, in quo proposuerat magister se de oratione traetaturum quemque cum ad maiora festinabat quousque consummasset distulit; sed postea morte intervenierte perficere non potüit* (fol. 85r). Aus der Bezeichnung magister ist ersichtlich, daß Radulfus nicht bloß Prediger, sondern auch Lehrer und Leiter einer höheren Schule gewesen ist.
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Das siebte Buch (fol. 85r—113T), das „De divisione virtutis in speeiebus" betitelt ist, jedoch nur vom Glauben handelt, ist der Hauptsache nach rein dogmatischer Natur. Es wird der Glaube als fides credens und fides credita ins Auge gefaßt und unter dem letzteren Gesichtspunkte ein förmlicher Traktat „De Deo uno et trino" geboten. Wir finden hier Ausführungen über das Wissen und Vorherwissen Gottes, über den Willen Gottes und am Schlüsse der Abhandlung „De Deo uno" auch einen Exkurs über die Prädikamente in ihrer Bedeutung für die Gotteslehre, ein Beweis der Vertrautheit des Radulfus mit den damals bekannten aristotelisch-boethianischen philosophischen Schriften. Die Trinitätslehre ist getrennt im Anschlüsse an die allgemeine Gotteslehre behandelt. Das 88. und letzte Kapitel dieses Buches behandelt die Frage: „An prelati ecclesie possint dare Spiritum Sanetum." Auch das achte Buch (fol. 113V—147T) hat einen dogmatischen Charakter und Inhalt, es enthält die Inkarnations-, Sakramentenlehre und Eschatologie und als moraltheologischen Bestandteil eine Abhandlung über die zehn Gebote: „Incipit liber octavus, in quo agitur de incarnatione verbi et de septem sacramentis et de decem preceptis et de iudicio et ipsum consequentibus." Für die Dogmengeschichte ist es von Interesse, daß hier schon zu Ende des 11. Jahrhunderts die Siebenzahl der Sakramente so formell in einem theologischen Werke ausgesprochen ist. Es rührt somit nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, das älteste authentische Zeugnis für die formelle „Siebenzahl" vom hl. Otto (um 1127), Bischof von Bamberg und Apostel der Pommern, her 1 . Wir haben hier wieder einen Beweis dafür, daß eine Durchforschung der ungedruckten theologischen Werke des 11. und 12. Jahrhunderts gerade für die Sakramentenlehre neue geschichtliche Resultate darbietet. Das neunte Buch (fol. 148r—174V) handelt in 62 Kapiteln über die Kardinaltugend der prudentia und im Zusammenhang damit auch über sapientia, scientia usw. Für die Dogmatik sind die Ausführungen über die Arten der Gotteserkenntnis von Interesse. Die drei andern Kardinaltugenden, namentlich die iustitia, bilden den Gegenstand des zehnten Buches (fol. 175r—220r), während das elfte Buch, „in quo tractatur de effectuosis virtutibus", ausführlich und mit mystischer Wärme die Caritas erörtert und feiert (fol. 220r—268r). 1
Vgl. über diese bisherige Anschauung P o h l e , Lehrbuch der Dogmatik III 21; V a n N o o r t , Tractatus de sacramentis eccleaiae I, Amstelodami 1905, 8; S p e c h t , Lehrbuch der Dogmatik II, Regensburg 1908, 155. 2
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Die folgenden Bücher verfolgen ausschließlich moralisch-aszetische Ziele. Das zwölfte Buch (fol. 268r—318r) handelt in geistvoller Weise von der Verachtung im guten und schlechten Sinne und den daraus entspringenden Tugenden bzw. Sünden („De contemptu malo sive bono"), das dreizehnte Buch (fol. 318r— 339T) befaßt sich mit der Regelung des äußeren Menschen, speziell mit der Beherrschung der Zunge („De moribus exterioris hominis bonis sive malis et primo de moribus lingue"), das vierzehnte und letzte Buch mit den fünf Sinnen und den darauf bezüglichen Tugenden und Fehlern. Auf fol. 361T schließt das Werk ab. Es folgt dann bis fol. 377v eine tabula, ein ausführliches alphabetisches Sachregister. Es finden sich auch im Texte selbst mehrfach Tabellen, Figuren zur Veranschaulichung der Gedankengänge angebracht. Wenn auch das „Speculum universale* des Radulfus nicht die scharfgegliederte und einheitliche Architektonik der großen theologischen Summen der Hochscholastik aufweist, so bekundet dasselbe doch ein für die damalige Zeit nicht gewöhnliches Streben nach einer Überschau über das Gesamtgebiet der Theologie und verrät speziell in der Anordnung, Gliederung und Einteilung einzelner Partien ein unverkennbares Talent für Systematik. Besonders zeigen die beiden rein dogmatischen Bücher, das siebte und achte, eine ziemlich in geordneter Gedankenabfolge fortschreitende Darstellung der katholischen Glaubenslehre. Wir haben wenigstens in den Hauptzügen hier das dogmatische Schema der theologischen Sentenzen und der Summen des 12. Jahrhunderts vor uns: Gottes- und Trinitätslehre, Inkarnations- und Sakramentenlehre und Eschatologie. R a d u l f u s A r d e n s hat an die Spitze seines „Speculum universale" eine eigentliche W i s s e n s c h a f t s l e h r e gestellt, in welcher er eine hohe Auffassung auch vom profanen Wissensbetrieb bekundet. Schon die von ihm gegebene Definition bekundet eine ideale Anschauung und hohe Wertschätzung der Wissenschaft: „Scientia est vera perceptio mentis infinita finite eomprehendens." Die Wissenschaft, die synonym auch „ars" genannt werden kann, wird eingeteilt in die Theorica, Ethica, Logica und Mechanica. Die Theorica befaßt sich in spekulativer Weise mit der Natur und den Ursachen der Dinge, die Ethik mit der Normierung unseres sittlichen Verhaltens , die Logik ist die Kunst des Redens und Denkens, die Mechanica, die nur im uneigentlichen Sinne Wissenschaft ist, hat das für das körperliche Leben Notwendige und Zweckdienliche ins Auge zu fassen.
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An dieser Wissenschaftseinteilung des Radulfus Ardens ist die Tatsache geschichtlich bedeutsam, daß wir hier bereits die später von Hugo von St V i k t o r in seiner „Eruditio didascalica*1 getroffene Einteilung der Philosophie in Theorie, Praxis, Logik und Mechanik, eine Einteilung, welche eine selbständige und fortgeschrittene Verwendung und Erweiterung des aristotelischen Einteilungsschemas durch Hereinbeziehung der artes mechanicae und der Logik bedeutet, vor uns haben. Es erinnert auch Hugo von St Viktors Wesensbestimmung der Philosophie: „Philosophia est disciplina omnium rerum divinarum atque humanarum rationes probabiliter investigans"2, sachlich an die Begriffsbestimmung der Wissenschaft durch Radulfus. Wir finden also bei Radulfus Ardens jene Einteilung der Wissenschaft bzw. Philosophie, die noch für Albertus Magnus und Robert Kilwardby maßgebend gewesen ist und als deren erster Vertreter bisher Hugo von St Viktor galt 3 . Von einer hohen Wertschätzung dieser vier Disziplinen gibt die Bemerkung des Radulfus Zeugnis, daß der gütige und barmherzige Gott dieselben uns verliehen habe als Gegengift und Gegenmittel gegen die vier aus der Erbsünde herrührenden Gebrechen der menschlichen Natur, die Theorie gegen die Unwissenheit des Verstandes, die Ethik gegen die Ungerechtigkeit des Willens, die Logik gegen die Fehlerhaftigkeit der Zunge und Rede, die Mechanik gegen die körperliche Gebrechlichkeit und Armseligkeit4. 1
L. 2, c. 2 (M., P. L. CLXXVI 752). L. ß a u r , Dominicus Gundissalinus 358 ff. 8 M„ P. L. CLXXVI 752. 3 Vgl. B a u r a. a. 0. 362 A. 2. * „Scientia est vefa perceptio mentis infinita finite comprebendens. Dicitur quippe scientia colleetive. Unde et ars nuncupatur ea videlicet ratione, quum infinitatis confusionem sub certorum locorum et regularum artat et concludit brevitate. Scientia vero sive ars quadrifariam recipit partitionem. Dividitur siquidem i n t h e o r i c a m , e t h i c a m , l o g i e a m e t m e c h a n i c a m . Porro theorica est scientia quae invisibiles rerum naturas et causas spiritualiter speculatur. Unde theorica id est speculativa nuncupatur. Ethica vero est scientia, que in moribus nos conformat et componit. Unde et ethica dicitur id est moralis. Logica est eloquendi ratiocinandique scientia. Unde et logica dicitur id est sermocinalis sive ratiocinativa. Logos enim grece sermo sive ratio dicitur latine, Mechanica autem est scientia ministrandi ea que sunt necessaria eorporee fragilitati. . . . Itaque theorica inquirit de re, an sit, quid, quanta, qualis sit, a quo et cur sit* Ethica, quid iustum sit, Logica, quid verum sit, Mechanica ad necessitatis suffragationem. Has igitur quattuor artes pius et misericors Deus provide nobis contulit, ut essent nobis tamquam quattuor antidota contra quattuor humane fragili-
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Die Theorie teilt er im Anschluß an Boethius ein in Physik, Mathematik und Theologie und bestimmt auch die Objekte und Methoden dieser drei Disziplinen mit Berufung auf die Ausführungen des letzten Römers in seiner Schrift „De trinitate". Die Ethik wird eingeteilt in eine ethica solitaria, domestica, politica, insofern sie sich auf die einzelne Person, auf die Familie und auf den Staat bezieht. Es ist diese Einteilung, die auch von Hugo von St Viktor vorgenommen wird, sachlich nichts anderes als die bereits bei Eudemus ausgesprochene und schließlich bei Aristoteles grundgelegte Dreiteilung der Ethik in Ethik, Ökonomik und Politik1. Die Logik gliedert sich bei Radulfus Ardens in Grammatik, Dialektik und Rhetorik. Am eingehendsten und detailliertesten ist die Klassifikation der Mechanik, die in eine Siebenzahl von Disziplinen zerfällt, von denen jede wiederum eine große Zahl von Unterabteilungen aufweist. Diese bei Radulfus angegebenen sieben Zweigdisziplinen der Mechanik stimmen mit der bei Hugo von St Viktor gegebenen Siebenzahl nicht vollständig überein. Auch die drei Wissenschaften der Theorica, die Physik; Mathematik und Theologie, zerfallen bei Radulfus wieder in Zweigwissenschaften, so daß sich eine ziemlich entwickelte und komplizierte Gliederung des Wissenschaftsorganismus ergibt2. Für jeden Fall bedeutet eine so ausführliche Wissenschaftstatis molestias sive calamitates. Natura nimira humana in qnattuor fuerat corrupta per primariam protoplasti praevaricationem. Peccaverat quippe protoplastus in quattuor scilicet in intellectu, in voluntate, in sermone et in carne. Et in intellectu quidem peccavit quum cum in honore esset non intellexit, comparatus est iumentis et sirailis factus est Ulis. In voluntate peccavit, quum lignum vetitum concupivit. In sermone peccavit quum domino interrogante noluit peccatum suum confiteri. . . . In carne peccavit, quum in pomi vetiti comestione illectus est delectatione. Quum igitur noluit intelligere ut bene ageret, vulneratus est in voluntate per iniquitatem. Quum in sermone peccavit, vulneratus est per ineloquentiam. Quum in carne peccavit, vulneratus est in carne per miseriam. Itaque contra quattuor has incommoditates adhibentur quattuor remedia per quattuor prenominatas artes. Theorica nimirum medetur ignorantie, ethica iniustitie, logica ineloquentie, mechanica miserie. Theorica intellectum illuminat, ethica voluntatem iustificat, logica linguam disertam reddit, mechanica humanam miseriam fulcit" (fol. l r ). 1 Vgl. B a u r a. a. 0. 311 u. 360. 2 Die Einteilung der Wissenschaften des Radulfus Ardens ist im Cod. Vatic. Lat. 1175 fol. 2V auch graphisch dargestellt in Form eines Baumes, in dessen Verästelung und Verzweigung die einzelnen Disziplinen ausgeschieden sind. Am Fuße des Baumes ist eine männliche Figur ohne Kopf angebracht, die die Axt gegen den Baumstamm erhebt. Es soll damit vielleicht in drastischer Weise
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lehre an der Spitze eines zusammenfassenden theologischen Werkes zu Ende des 11. Jahrhunderts einen Fortschritt der wissenschaftlichen Methode. Wir finden außerdem bei Radulfus, dessen „Speculum universale" von einer aszetisch-mystischen Lebensauffassung an vielen Stellen zeugt, keineswegs die ablehnende Stellung der Antidialektiker gegen die profanen Wissenschaften, sondern vielmehr eine hohe Wertschätzung derselben. Er sieht in den weltlichen Wissenschaften Geschenke Gottes und versteht es meisterhaft, dieselben in den Dienst der Theologie, und der Frömmigkeit zu ziehen. Die Verwertung der profanen Wissenszweige, speziell der Philosophie für die Theologie, zeigt sich bei Radulfus Ardens in besonders hervorstechender Weise durch die A n w e n d u n g d e r p h i l o s o p h i s c h e n T e r m i n o l o g i e auf t h e o l o g i s c h e F r a g e n und Materien. Ja er benützt nicht bloß praktisch die philosophischen Termini zur Darlegung und Verdeutlichung der Glaubensgeheimnisse, ausgedrückt sein, daß nur Gedanken- und Kopflosigkeit gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt sind. Die in diesem Wissensbaume vorgestellte Gliederung der Wissenschaften soll im nachfolgenden Schema reproduziert werden.
Bhysica Anthropophysica Cosmophysica Pneumatophysica
Victuaria I continet Agriculturam Venatoriam Piscatoriam Aucupariam Panificariam Coquinariam
Scientia: Theorica I Mathematica Theologia I. dividitur in quattuor partes Arithmetica ! Musica prima agit de ipsa divinitate Astronomia secunda de divina operatione Geometria tertia de divino cultu quarta de divina retributione
Ethica I Solitaria — Domestica — Politica Logica I Grammatica Dialectica Rketorica i I I docet recte scribere et discernere ad probandum loqui ad persuadendum ioqui ad intelligendum vel improbandum Mechanica I Suffragatoria Medicinaria Patrocinaria Lanificaria Architectoria Negotiatoria (Militaria) I I Textoriam Cementariam Purgatoriam Commutationem Iumentoriam Tueri pa.triam Pellipariam Carpentariam Emptionem Instrumentalem Confortatoriam Tueri religionem Coriariam Fabrilem Venditionem Temperatoriam Vehicularem Tueri constituSutoriam quae dividitur in Conservatoriam Mutuationem tiones legum AccommoMaleatoriam Tueri unicuique dationem Fusoriam ius suuni Exclusoriam
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er stellt sogar eine m e t h o d o l o g i s c h e U n t e r s u c h u n g über die B e r e c h t i g u n g und die A r t und Weise der Ü b e r t r a g u n g der p h i l o s o p h i s c h e n T e r m i n o l o g i e auf theol o g i s c h e s Gebiet an. Hier liegt der Hauptakzent der Bedeutung des Radulfus Ardens für die Geschichte der scholastischen Methode. Im 14. Kapitel des der Gottes- und Trinitätslehre geweihten siebten Buches legt er sich ex professo die Frage vor: „Qua necessitate quave intentione nomina sint translata a naturali facultate ad theologiam?" Von Interesse ist hier schon der Gebrauch des Ausdruckes naturalis facultas. D e n i f l e 1 macht in seiner monumentalen Geschichte der mittelalterlichen Universitäten die Bemerkung, daß der Ausdruck facultas im Sinne einer gemeinsamen scientia oder Disziplin speziell für Paris in einem Schreiben Honorius' III. vom 18. Februar 1219 an die Scholaren von Paris sich findet. Denifle bemerkt weiterhin, daß vereinzelt die Anwendung obigen Ausdruckes in dieser Bedeutung schon früher, z. B. bei Peter von Blois (f 1200) sich findet2. Aus der oben angegebenen Fragestellung des Radulfus Ardens ist ersichtlich, daß die Wendung naturalis facultas als Bezeichnung des profanen Wissensgebietes im Gegensatz zur Theologie bereits ca 100 Jahre vor Peter von Blois sich findet. Desgleichen ist in obiger Fragestellung auch der Gebrauch des Wortes „theologia" in dem umfassenden Sinne von Glaubenswissenschaft gegenüber dem natürlichen Wissenschaftsgebiete beachtenswert. Es wird ja auch hier unter theologia in erster Linie die Gottes- und Trinitätslehre gemeint sein, wie das noch zur Zeit Abälards fast ausschließlich der Fall war 3 , jedoch scheint die Inkarnations- und Sakramentenlehre und die Eschatologie unter der theologia mitverstanden zu sein, wie dies auch aus der Anfügung dieser Gegenstände des Glaubens unmittelbar an die Trinitätslehre sich ergibt. Desgleichen spricht für diese weitere Fassung des Begriffes theologia bei Radulfus Ardens auch die von ihm vollzogene Zerlegung der theologia in vier Teile: „De ipsa divinitate, De divina operatione, De divino cultu et De divina retributione". Wenn wir nun auf die Antwort, die Radulfus auf die obige Frage sich gibt, näher eingehen und seine Grundsätze über die Verwertung der philosophischen Terminologie für theologische Zwecke analysieren, so finden wir wenigstens in groben Umrissen hier schon 1
2 Die Universitäten des Mittelalters I 71. Ebd. A. 1. Vgl. C o r n e l i a s K r i e g , Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften nebst Methodenlehre 36 f. 3
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Die Überlieferung und Weiterbildung etc.
die Gedanken der Scholastiker des 12. und 13. Jahrhunderts über die Zurechtlegung der philosophischen Ausdrücke für die Darlegung und Verdeutlichung der Glaubenswahrheiten. Radulfus Ardens geht von der Erwägung aus, daß man in der facultas naturalis, worunter zunächst die Philosophie zu verstehen ist, durch die Erkenntnis der Dinge zur Erkenntnis der dieselben bezeichnenden Wörter und Ausdrücke gelangt. In der Theologie handelt es sich um Dinge, um Inhalte, die unserem natürlichen Denken unbekannt sind, die über die Tragweite unseres natürlichen Denkens hinausliegen. Wenn nun dementsprechend auch die Terminologie, die diese geheimnisvollen Inhalte ausdrückenden Bezeichnungen unbekannt wären und so den über unsere Fassungskraft erhabenen Gegenständen der Theologie auch gleichfalls über unser Denkvermögen hinausliegende Termini entsprechen würden, dann wären auf theologischem Gebiete uns sowohl die res, die Gegenstände und Inhalte, wie auch die vocabula, die sprachliche und begriffliche Einkleidung dieser Inhalte, gänzlich unbekannt und unverständlich. Wir könnten dann weder durch die Erkenntnis der Dinge zur Erkenntnis der Namen noch durch die Erkenntnis der Namen zur Erkenntnis der Dinge gelangen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, von der Philosophie uns bekannte Wörter und Termini auf die Theologie zu übertragen, damit wir so auf dem Wege einer uns bekannten und geläufigen Terminologie wenigstens einigermaßen zum Erkennen und Verständnis des uns an sich unbekannten Gegenstandes der Glaubenswissenschaft fortschreiten und vordringen können 1. Aisdana verbreitet sich Radulfus ausführlicher über die Art und Weise der Übertragung der philosophischen Terminologie auf theologisches Gebiet. Er ist vor allem davon überzeugt, daß diese profanwissenschaftlichen Termini, wenn sie auf Gott Anwendung finden sollen, nicht voll und ganz ihre ursprüngliche Bedeutung und Eigentümlichkeit beibehalten können, sondern eine entsprechende Zurecht1
„Qua necessitate quave intentione nomina sint translata a naturali facultate ad theologiam? In naturali facultate per cognitionem rerum pervenitur ad cognitionem vocabulorum. In theologia vero quum res incognite sunt, si habere quoque propria sibique cognita vocabula tarn res quam vocabula forent nobis incognita et sicut per res possemus pervenire ad cognitionem nominum, ita nee per nomina possemus pertingere ad cognitionem rerum. Oportuit igitur a naturali facultate nota vocabula transferri ad theologiam ut per nota vocabula proficeremus qualitercumque ad rei incognite cognitionem. Nemo tarnen estimet naturalia nomina, cum de Deo dieuntur, inventionis suae retinere proprietatem, at subtiliter perquirat transsumptionis rationem."
Am Vorabend der Scholastik etc.
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richtung und Umformung erheischen. Um über die Art und Weise dieser Zurechtlegung und Umformung sich Klarheit zu verschaffen, wird vor allem die Ursache, der Berechtigungsgrund dieser Herübernahme philosophischer Begriffe in die Theologie zu berücksichtigen sein. Dieser Grund, diese Ursache ist die similitudo. Es folgt hierauf eine Einteilung dieser similitudo in eine similitudo absoluta, similitudo im eigentlichen Sinne, und in eine similitudo collativa, welch letztere auch proportio heißt. Als Beispiel für erstere führt er die Ähnlichkeit eines weißfarbigen Dinges mit einem andern weißfarbigeri an, als Beispiel für letztere gibt er die Ähnlichkeit zwischen genus und materia an, insofern sich nämlich das logische Genus zur spezifischen Differenz ähnlich verhält wie die Materie zur Form. Gerade die zweite Form der similitudo, die proportio, zieht Radulfus heran, um die Art und Weise, wie philosophische Begriffe auf Gott und Göttliches anzuwenden sind, näher zu bestimmen. Seine ziemlich komplizierten Darlegungen bezwecken sachlich den Nachweis, daß und wie diese philosophischen Termini in einem analogischen Sinne auf Gott übertragbar sind.
Grabmann Scholastische Methode. I.
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Fünfter Abschnitt. Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik. Erstes Kapitel. Anselms wissenschaftliche Individualität. Eine Zeit der Erhebung, des idealen Aufschwunges brach für das kirchliche Leben in den letzten Dezennien des 11. Jahrhunderts an. Während zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein düsterer Pessimismus auf den Gemütern lagerte und der ernste Gedanke des nahen Weltendes die edelsten Geister erfaßte, erwachte gegen Ende dieses Jahrhunderts eine mächtige religiöse Begeisterung, eine hoffnungsfreudige Sehnsucht nach dem Göttlichen und Ewigen. „Die religiöse Flamme verlangte nach Freiheit, in der Wärme, die sie verbreitete, zersprangen alle Fesseln, in welche der Geist gebunden war." 1 Es entstand der gewaltige Kampf um die Kirchenfreiheit, um Loslösung der Kirche von der Gewalt des Staates. Papst Gregor VII.2, der Kämpfer für diese Kirchenfreiheit, strebte auch die ethische Freiheit, die sittliche und intellektuelle Hebung des Klerus an, eine Freiheit der Gesinnung. Diese Sehnsucht nach Freiheit, nach Befreiung von all dem, was den einzelnen Menschen und die Gesamtheit am Aufschwünge zu den höchsten Zielen hemmt, hat die abendländische Christenheit in großen Scharen hinübergeführt in das Heilige Land, um die ehrwürdigsten und heiligsten Stätten von der Knechtschaft des Islams zu befreien, hat das Zeitalter der Kreuzzüge heraufgeführt. Dieses Freiheitsehnen, dieser ideale Zug und Schwung, der in jenen Zeiten die christlichen Länder erfaßte, hat auch eine Erneuerung, eine mächtige Erhebung des wissenschaftlichen Lebens und Strebens hervorgerufen, hat die Scholastik, ein Rittertum des Geistes inauguriert. 1
M ö h 1 e r, Anselm, Erzbischof von Canterbury, in Vermischte Schriften I 84. Vgl. über die Bestrebungen Gregors VII. H e r g e n r ö t h e r - K i r s c h , Kirchengeschichte II 4 368—373. 2
Anselms wissenschaftliche Bedeutung.
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Derjenige, der „unter der Devise.: ,Fides quaerens intellectum' das Rittertum des Geistes, d. h. das männlich ernste und kühne, von der Begeisterung des kindlichen Glaubens getragene und von der zartesten Liebe beseelte Ringen nach dem Vollbesitz der christlichen Wahrheit eröffnete"1, war Anselm von Canterbury, der wahre und eigentliche Vater der Scholastik. Anselm von C a n t e r b u r y 2 (geb. am 6. Mai 1033 zu Aosta in Piemont, 1060 Mönch, 1078—1093 Abt im Kloster Bec, 1093—1109 Erzbischof von Canterbury) ist eine jener mächtigen Individualitäten, deren Wirken nicht unter dem Gesichtswinkel einer einseitig sozialpsychologischen Betrachtungsart erfaßt werden will. Sein Lebenswerk kann nicht restlos aus dem Milieu, aus der Umwelt, die auf ihn einwirkte, erklärt werden. Anselm von Canterbury wird nicht vollkommen gewürdigt und verstanden, wenn die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung auf ihn mechanisch angewendet werden. Während in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vorscholastik, in den Zeiten des Traditionalismus und der Rezeptivität auch die bedeutenderen Vertreter und Träger der kirchlichen Wissenschaft in ihrer literarischen Tätigkeit sich in der Regel nicht über das Niveau der Schule, aus der sie hervorgegangen, erheben konnten, tritt uns Anselm von Canterbury als ein Denker von scharf ausgeprägter wissenschaftlicher Individualität, als ein seine Zeitgenossen hoch überragender, spekulativer Genius entgegen. „Der Übergang ist so plötzlich, der Abstand zwischen Anselm und Lanfrank so groß, daß man sich unwillkürlich fragt, von welch entfernter Triebkraft der Geistesflug dieses Mannes getragen war." 3 1
S c h e e b e n , Dogmatik I 424. Über Anselms Persönlichkeit und Lehre vgl. C e i l l i e r , Hist. geiiör. des auteurs sacres et eccl. XXI 267—349; Hist. litt, de 1a France IX; H a s s e , Anselm von Canterbury, Leipzig 1843—1852; M. R u l e , Life and times of S. Anselm, London 1883; R a g e y , Histoire de St Anselme, Paris 1890; J. M. R i g g , S. Anselm of Canterbury, London 1896; Van W e d d i n g e n , Essai critique sur 1a philosophie de St Anselme de Canterbury, ßruxelles 1875; V i g n a , S. Anselmo filosofo, Milano 1899; Dornet de V o r g e s , Saint Anselme ; B a i n v e 1, Artikel Anselme in Dictionnaire de theologie cath. 1 1327—1360; M. de Wulf, Hist. de 1a philosophie nie'die'vale2 173 ff 179; J. A. E n d r e s , Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im christlichen Abendlande 41 ff. In Vorbereitung sind „La theologie de St Anselmeu von B a i n v e l für die Bibliotheque de theologie historique und eine „Geschichte des anselmianischen Gottesbeweises" von P. August in Daniels O. S. B. für die Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. 3 J. A. E n d r e s , Honorius Augustodunensis 96. — Die überragende Bedeutung Anselms bringt mehr denn hundert Jahre nach seinem Tode der Chronist und 17* 2
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
Man hat eine Inspiration Anselms durch Scotus Eriugena vermutet und behauptet. Diese Behauptung einer Abhängigkeit Anselms von dem Hofphilosophen Karls des Kahlen entbehrt, wie schon früher dargetan wurde, sicherer innerer und äußerer Gründe. D r ä s e k e 1 , der Anselms „Monologium" und „Proslogium" auf die Quellen hin untersucht hat, ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Anselm nicht von Scotus Eriugena und von Pseudo-Areopagita, sondern von Augustin inspiriert ist. Der Hauptgrund für Anselms weit über seine Zeit und auch über ein gutes Stück der Folgezeit hinausragende geistige Bedeutung liegt in seiner Persönlichkeit selbst, in seiner außerordentlichen ethischen und intellektuellen Veranlagung. Dabei haben die Klosterschule von Bec unter Lanfranks Leitung und die Klosterbibliothek 2, in deren patristische Schätze sich der jugendliche Anselm vergrub, die frühzeitige Entwicklung dieses hervorragenden Talentes gefördert. Der Mönch Eadmer, dei; als Biograph und Schüler zu Anselm in ähnlicher Beziehung steht wie Possidius zu Augustin und Wilhelm von Thocco zu Thomas von Aquin, läßt uns einen Blick werfen in das reiche Geistesleben des Mönches und Priors Anselm und berichtet uns von der Begeisterung und Energie, mit der sich derselbe nicht bloß den Übungen des monastischen Lebens, sondern auch dem Studium der heiligen Wissenschaft hingab, einer Begeisterung und Energie, die ihm die schwierigsten Fragen durchdringen und lösen half3. Cisterciensermönch Alberich von Trois-Fontaines also zum Ausdruck: „Prima dominica quadragesimae pridie Nonas Martii (1092) eligitur tandem in archiepiscopum Cantuarie sanctus Anseimus abbas de Becco Herluini et per annos 16 prefuit. Qui inter ecclesiasticos doctores sui tempons precipuus enituit et multa laude digna scripsif (M. G. SS. XXIII 802). 1 Zu Anselms Monologium und Proslogium, in Neue kirchliche Zeitschrift XI (1900) 243—257. Ders., Zur Frage nach dem Einfluß des Joh. Scotus Erigena, in Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie L (1907) 326 ff. 2 Ein Katalog der Bibliothek von Bec aus dem 12. Jahrhundert ist abgedruckt bei B e k k e r , Catalogi bibliothecarum antiqui 257—266, n. 127. Wenn dieser Katalog, den Ravaisson aus Cod. 1942 der Bibliothek von Avranches zum erstenmal publiziert hat, auch erst aus nachanselmianischer Zeit stammt, so war doch sicherlich der Grundstock der in diesem Katalog namhaft gemachten Codices schon zur Zeit, da Anselm in Bec weilte, in der dortigen Klosterbibliothek vorhanden. Es weist dieser Katalog eine erstaunlich große Zahl von Väterhandschriften, namentlich von Augustinushandschriften auf. 3 „Factumque est, ut (sc. Anseimus) soli Deo, coelestibusque disciplinis iugiter occupatus, intantum speculationis divinae culmen ascenderit, ut obscurissi
Anselms wissenschaftliche Bedeutung.
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Anselm ist also mit einer außerordentlich hervorragenden, spekulativen Begabung und mit unermüdlicher Arbeitslust an die Verarbeitung, Durchdringung und Durchheilung des biblischen und patristischen Materials, das er mit Fleiß und Begeisterung in sein reiches Innenleben aufgenommen, herangetreten. Er hat den Mechanismus und Schablonismus der bisherigen Väterbenützung ebenso wie den Formalismus und die besonders seit Berengar hervortretende antidogmatische Tendenz der Dialektik abgestreift und dieses geläuterte Väterverständnis und diese klug in die rechten Bahnen zurückgelenkte Dialektik mit den großen Ideen, mit den Inspirationen seines reichen Genius durchdrungen, beseelt und ausgefüllt1. Er hat das Väterstudium und die Dialektik unter große Gesichtspunkte gebracht, auf hohe Ziele hingeführt. Anselm hat den Beweis erbracht, wie mit wenig dialektischen Mitteln ein großangelegter, fruchtbarer Geist Werke schaffen kann, vor denen eine über unvergleichlich reichere Mittel verfügende spätere Zeit staunend steht. De Wulf 2 hat mit Recht Anselm den Gregor VII. der Wissenschaft genannt. Wie Gregor VII. die Kirche aus der das kirchliche Leben erstickenden Umarmung des Staates zu befreien und namentlich den Klerus zu sittlicher Freiheit und Reinheit zu erheben strebte, so hat auch Anselm die Wissenschaft aus den beengenden Banden formalistischer Dialektik und kompilatorischer Väternachbeterei befreit. Wie Gregor VII. auf religiösem und kirchenpolitischem Gebiete die kirchliche Organisation befestigt und die Beziehungen zwischen Staat und Kirche geregelt hat, so hat auch Anselm auf wissenschaftlichem Gebiete organisatorisch gewirkt, die Beziehungen zwischen Glauben und Wissen scharf formuliert und die hierüber von ihm gewonnenen Grundsätze konsequent durchgeführt. mas et ante tempus suum insolutas de divinitate et nostra fide quaestiones Deo reserante perspiceret ac perspectas enodaret, apertisque rationibus quae dicebat rata et catholica esse probaret" (S. Anselmi Vita auctore Eadmero c. 2; M., P. L. CLVIII 54 f). 1 „Cette alliance d'une logique ferme et d'une inspiration eleväe est 1a grande nouveaute" que nous reconnaissons dans l'oeuvre de saint Anselme. Saint Augustin volait vers 1a ve'rite' d'un coup d'aile; saint Anselme 1a voit, lui aussi, mais il s'attache ä etablir solidement les degres pour y arriver" (Dornet de V o r g e s, Saint Anselme 326). 2 Histoire de 1a philosophie me'die'vale2. „S. Anselme fait penser ä Grögoire VII qui, dans Tordre religieux et politique acheva l'organisation de l'Eglise et definit ses rapports avec l'Etat; il est 1e Gre"goire VII de 1a science. Ces deux figures sont Thonneur de l'äpoque de restauration et de Constitution definitive que fut leXI e siecle."
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
In Anselms Brust haben Glauben und Wissenschaft, Theologie und Frömmigkeit, ethischer Adel und Tiefe der Spekulation sich aufs innigste verbunden und umschlungen. Anselm war eine reine, heilige Seele, die durch den hehren Schwung der Betrachtung und Beschauung an Johannes und Augustin gemahnt. Er war kein bloßer Intellektualist, der mit der abstrakten Erfassung und Darbietung der Wahrheit sich begnügt hätte, ihn zog es hin zu liebevoller Versenkung in die Wahrheit. Seine Spekulation ist zugleich Meditation und Kontemplation1. Welche Innigkeit und Wärme, welche Mystik liegt nicht in seinen Homilien, Meditationen und Gebeten! Namentlich sind die „Meditationes" und „Orationes" Anselms von innigstem Verlangen beseelt, Gott nicht nur durch Erkenntnis, sondern auch durch liebende Hingabe zu ergreifen und zu besitzen. Der Grundzug dieser „Meditationes", welche im Mittelalter, wie die vielen Handschriften beweisen2, gern gelesen und später auch häufig gedruckt und in neuere Sprachen übersetzt wurden3, ist das begeisterte und jubelnde Aufstreben einer großen Seele zu Gott, ein Streben und Sehnen nach Gott, das in folgenden herrlichen Worten sich kundgibt: „Nun sei du bei mir, mein Gott, den ich suche, den ich liebe, den ich mit Herz und Mund bekenne, den ich mit ganzer Kraft lobe und anbete. Mein Geist, „Arne vraiment pure, vraiment sainte, d'une hauteur de meditation incomparable et qui eüt e*gale saint Augustin, s'il füt ne dans des circonstances plus heureuses8 (Dornet de V o r g e s , Saint Anselme 68). E a d m e r bemerkt über das kontemplative Leben Anselms: „Sanctis meditationibus insistebat, ex conteniplatione summae beatitudinis et desiderio vitae perennis immensos lacrymarum imbres effundebat" (S. Anselmi Vita 1. 1, c, 2; M., P. L. CLVIII 56). 2 Die „Meditationes" des hl. Anselm finden sich in mittelalterlichen Handschriften häufig mit aszetischen Schriften Augustins, Bernhards, Bonaventuras oder auch des Aquinaten usw. zusammengestellt, z. B. Clm. 3708; Clm. 676. 3 Die Drucke sind notiert bei C e i l l i e r (Hist. gene>. des auteurs sacr&s et eccl. 43, § 14). Ceillier äußert sich über Anselms „Meditationes" also: „Ses Medit a t i o n s et ses 0 r a i s o n s sont tres-e"difiantes, remplies d'instructions salutairos, de sentiments de pie"te et de reconnaissance envers Dieu. Ce sont proprement des effusions de son coeur, qui brülait d'amour pour Dieu et pour 1e salut des hommes. Aussi 1e style en est-il tendre, jusque dans les reproches qu'il fait aux p^cheurs. On y trouve des pense"es mystiques, et on voit, par d'autres endroits des ouvrages de saint Anselme, qu'il aimait a s'en entretenir" (ebd. 43). Die Bedeutung der „Meditationes" Anselms für das Verständnis seiner Persönlichkeit und seiner Doktrin erhellt auch daraus, daß Kardinal Saenz d'Aguirre, der als Verfasser einer dreibändigen „Theologia S. Anselmi" sich als vortrefflichen Anselmuskenner gezeigt hat, den von ihm leider nicht mehr realisierten Plan faßte, in einem vierten Bande einen Kommentar zu den „Meditationes" und „Orationes" des hl. Anselm zu geben.
Anselms wissenschaftliche Bedeutung.
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ganz dir sich hingebend, von deiner Liebe entflammt, nach dir strebend und nach dir sich sehnend, mein Geist, der nur dich zu sehen verlangt, weiß nichts Süßeres, als von dir zu reden, von dir zu hören, von dir zu schreiben, von dir sich zu besprechen, über deine Herrlichkeit häufig nachzudenken, auf daß die liebliche Erinnerung an dich inmitten der Wirrsale dieses Erdenlebens meine Ruhe sei. Dich rufe ich an, nach dem mein tiefstes Sehnen geht, zu dir rufe ich empor mit mächtigem Aufschrei in meinem ganzen Herzen. Und wenn ich zu dir rufe, dann rufe ich zu dir in mir selbst; denn mit nichten wäre ich, wärest du nicht in mir; und wenn ich nicht in dir wäre, wärest du nicht in mir. In mir bist du, weil du in meinem Gedenken bleibst. Aus meinem Gedächtnis habe ich dich erkannt, und in ihm finde ich dich, wenn ich mich deiner erinnere, und ich frohlocke in dir über dich, aus dem, durch den und in dem alles ist." 1 In Anselms „Proslogium" begegnen uns Erhebungen des Gemütes zu Gott, die an Augustins „Confessiones" anklingen. Die Briefe Anselms sind der Ausdruck einer durch und durch edeln Seele2. Selbstlosigkeit, aufrichtige Demut, treueste Hingabe an die Kirche und deren Oberhaupt, Milde und Liebenswürdigkeit, alle diese Züge leuchten aus diesen Briefen uns entgegen. Anselm von Canterbury ist eine ungemein liebenswürdige und anziehende Persönlichkeit. „Groß ist und bleibt er als theologische Persönlichkeit. Seiner Liebe Gegenstand, seines Sinnens und Denkens Ziel bei Tag und Nacht war das Himmlische, von dem daher sein Mund jederzeit überfloß. Alles in allem genommen steht er vor uns als ein Mann, welcher durch die tiefe Harmonie seines Wesens für immer eine der edelsten Gestalten der Kirche bleiben wird/ 3 Die liebenswürdige und bezaubernde Art der Persönlichkeit Anselms ist auch über seine Schriften ausgegossen4. Es ist Gemüt 1
Meditatio 14, n. 1 (M., P. L. CLVIIT 779). Über die Briefe Anselms siehe C ei l i i e r a. a. 0. 25—33, § 6. 3 K u n z e in seinem Artikel über Anselm in RE. I 3 560. Eine schöne Darlegung der traits caracteristiques der Persönlichkeit Anselms gibt B a i n v e l (Artikel „Anselme" in Dictionnaire de theologie catholique I 1341). 4 „C'est d'abord que, chez Anselme, l'homme apparait partout dans l'auteur. II est 1e protagoniste des dialogues. II intervient au debut de tous ses traites, ponr nous dire ce qu'il a voulu faire, ou comment teile ide*e lui est venue et comment il a etö amene* a ecrire ou ä publier tel traite\ dans quelle circonstance il l'a compose' et quelle disposition il desire dans 1e lecteur; il intervient ä 1a fin pour prendre conge" par un mot aimable et modeste, tout cela avec cette huinilite simple et vraie qui parle de soi contme on ferait de l'autre" (ebd. 1342). 2
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Anselm von Canterbury. 4er Vater der Scholastik.
in seinen Schriften; Gefälligkeit, reine Latinität und ästhetischer Sinn zeichnen seine Darstellung aus1. Er wählte mehrfach den Dialog, um die Darlegung abstrakter Materien lebendiger und packender gestalten zu können und um die bei der Erörterung erhabener Geheimnisse sich einstellenden Denkschwierigkeiten in Rede und Gegenrede entwickeln und lösen zu können. Die Schriften Anselms haben nicht den unpersönlichen Charakter der späteren scholastischen Werke. Er schickt mit Vorliebe und Vorbedacht seinen Schriften ein Vorwort voraus, in welchem er sich über die Veranlassung, die Tendenz und Methode der jeweiligen Publikation verbreitet. Meist verdanken ja die Schriften unseres vielbeschäftigten Theologen, Ordensmannes und Bischofs ihre Entstehung der Anregung und dem Drängen lernbegieriger Mitbrüder. So steht denn Anselms Bild vor uns als das eines genialen Denkers voll religiöser Begeisterung und tief schauen der Spekulationskraft, verklärt durch den Reiz persönlicher Liebenswürdigkeit. Selbst Abälard nennt ihn einen „magnifieus Ecclesiae doctor* 2, und Roscelin hat für seinen Gegner die rühmenden Worte: „Sed de domno Anselmo archiepiscopo, quem et vitae sanctitas et doctrinae singularitas ultra communem hominum mensuram extollit, quid dicam?" 3 Aus der Individualität Anselms erklärt sich auch großenteils die Art und Weise seiner Spekulation, seine theologische Methode. Wie in seinem Innern liebende Achtung vor der Autorität der Schrift, der Väter und der Kirche mit selbständiger, auch vor den höchsten Fragen nicht zurückbebender Denkenergie sich harmonisch vereinte, so hat er es auch in seinen Schriften meisterhaft verstanden, auctoritas und ratio, diese beiden treibenden Faktoren der Scholastik, in die rechte Beziehung zu setzen und dadurch der scholastischen Spekulation die sichere Bahn zu zeigen. 1
„La latinite de S. Anselme, est pure, et 1a fa9on particuliere d'exprimer ses pensees serree, concise, fort coupäe et sans ornement, mais claire et ordinairement naturelle" (Hist. de 1a France IX 460). 2 M., P. L. CLXXVIII 357—358. 3 Roscelins Brief an Abälard von J. A. S c h m e l l e r in den Abhandlungen der philos.-philolog. Klasse der kgl. bayrischen Akademie der Wissenschaften V, 3, 189 (1851) ediert.
Analyse der wissenschaftlichen Methode Anselms.
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Zweites Kapitel. Analyse der wissenschaftlichen Methode Anselms. § i. Die Bedeutung der auctoritas für das wissenschaftliche Arbeiten Anselms. Anselm von Canterbury war bei seiner wissenschaftlichen Tätigkeit von der Autorität der Kirche, der Heiligen Schrift und der Väter geleitet. Anselm hatte eine hohe und tiefe Auffassung von Kirche und kirchlicher Autorität. In seinen Homilien finden sich schöne Darlegungen über das dogmatische Wesen der Kirche, meist im Anschluß an Schrifttexte1. Besonders wird hier das Verhältnis zwischen Christus und der Kirche beleuchtet. In seinen Briefen begegnen uns warme und begeisterte Worte über die Rechte und Freiheit der Kirche, für welche er mutig gekämpft und freudig Verfolgung und Verbannung erduldet hat 2 . In theologischen Fragen betont er überall seinen streng kirchlichen Standpunkt3. In einem Briefe an Bischof Fulko von Beauvais z. B., wo er sich über Roscelins Trinitätslehre scharf ablehnend äußert, spricht er mit vollster und innerster Überzeugung sein unentwegtes Festhalten an den kirchlichen Grlaubenssymbolen aus und verurteilt jeden gegenteiligen Standpunkt als unkirchlich und unchristlich4. In dem Widmungsschreiben an Papst Urban II., das er an die Spitze seines gegen Roscelin geschriebenen Buches „De fide Trinitatis et incarnatione Verbi" stellt, 1
Homil. i (M., P. L. CLV1I1 385 ffj; Homil. 3 (ebd. 597 ff). Über Anselms Lehre von der Kirche vgl. B a i n v e l , L'idee de l'Eglise au moyen-äge, in Science catholique, fevrier 1899. 2 Z. ß. 1. 1, epist. 47 48 49 (M., P. L. CLIX 228ff). 3 Vgl. A b r o e l l , S. Anseimus Cantuariensis de mutuo fidei et rationis consortio, Würzburg 1864, 60 ff. 4 „De me autem hanc veram omnes homines habere volo sententiam. Sie teneo ea quae confitemur in symbolo, cum dieimus: Credo in Deum Patrem omnipotentem creatorem coeli et terrae. Et: Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae. Et: Quicumque vult salvus esse, ante omnia opus est, ut teneat catholicam fidem et ea quae sequuntur. Haec tria christianae confessionis prineipia, quae hie proposui, sie inquam haec et corde credo et ore confiteor ut certus sim quia quicumque horum aliquid negare voluerit, et nominatim quicumque blasphemiam, quam supra posui me audisse a Roscelino dici pro veritate asseruerit, sive homo sive angelus, anathema est; et confirmando dicam, quamdiu in hac perstiterit pertinacia, anathema sit" (1. 2, Epist. 4 1 ; M., P. L. CLVIII 1193).
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
bringt er seine Hingabe an den apostolischen Stuhl zum Ausdruck und spricht seine Überzeugung von der Autorität des Papstes in Sachen des Glaubens klar und entschieden aus 1. Von maßgebender Bedeutung für die wissenschaftliche Arbeit Anselms war die auctoritas Sacrae Scripturae. Mit liebevoller Begeisterung hat sich Anselm in das Studium der Heiligen Schrift vertieft. Sein Schüler Eadmer berichtet uns bei Schilderung von Anselms Lernjahren von dessen unermüdlichem Eifer, in das Studium der heiligen Schriften einzudringen2. In Anselms Briefen begegnen uns Mahnungen zu fleißigem Studium der Heiligen Schrift3. Diese ist ihm Norm für seine Spekulation. Er ist zu innerst davon überzeugt, daß jede Anschauung und Behauptung, die offenbar der Heiligen Schrift widerspricht, falsch sei4. Nie und nimmer, so äußert er sich, können wir etwas zum übernatürlichen Wohle Zuträgliches verkünden, es sei denn, die vom Heiligen Geiste wunderbar befruchtete Heilige Schrift spreche dasselbe ausdrücklich aus oder enthalte es wenigstens stillschweigend. Ist nun ein spekulativer Gedanke weder ausdrücklich in den heiligen Schriften ausgesprochen noch auch aus derselben durch Deduktion zu gewinnen, so wird dieser spekulative Gedanke in folgender Weise an der Heiligen Schrift zu messen und danach anzunehmen oder abzulehnen sein: Stützt dieser Gedanke sich auf ganz klare und einleuchtende Gründe und widerspricht die Heilige Schrift in keiner Weise diesem Gedanken, dann wird derselbe ebendeshalb, weil die Heilige Schrift ihn nicht negiert, von der Heiligen Schrift autorisiert und ist deswegen als Wahrheit anzunehmen. Wie nämlich die Heilige Schrift keiner Wahrheit zuwider ist, so ist sie auch für keinen Irrtum zugänglich. Ist jedoch die Heilige Schrift diesem unserem spekulativen Gedanken 1
„ Quoniam divina providentia vestram elegit sanctitatem, cui vitam et fidein christianam custodiendam et Ecclesiam suam regendam committeret; ad nulluni alium rectius refertur, ut si quid contra catholicam fidem oritur in Ecclesia, ut eius auctoritate corrigatur« (M., P. L. CLVIII 261). 2 „Divinis namque Scripturis tantam fidem adhibebat ut indissobubili firmitate cordis crederet nihil in eis esse, quod solidae veritatis tramitem ullo modo exiret. Quapropter summo studio animum ad hoc intenderat, quatenus iuxta fidem suam mentis ratione mereretur percipere, quae in ipsis sensit multa caligine tecta latere* (S. Anselmi Vita.l. 1, c. 2; M., P. L. CLVIII 55). 3 Z. B. 1. 1, epist. 2 (M., P. L. CLVIII 1064). 4 „Certus enim sum, si quid dico quod Sacrae Scripturae sine dubio contradicat, quia falsum est; nee illud tenere volo, si cognovero" (Cur Deus homo 1. 1, c. 18; M., P. L. CLVIII 388).
Analyse der wissenschaftlichen Methode Anselms.
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offenbar entgegen, so ruht derselbe, mag er sich auch scheinbar auf noch so unumstößliche Beweisgründe stützen, nicht auf dem Fundament der Wahrheit. In dieser Weise autorisiert also die Heilige Schrift jede Wahrheit, die unsere Vernunft findet, jeden spekulativen Gedanken, insofern sie ihn entweder ausdrücklich enthält und bestätigt oder ihn doch nicht negiert1. Es liegt in diesen Gedankengängen, in diesen methodischen Grundsätzen Anselms ein wahrheitsfroher Zug. Er findet in der Autorität der Heiligen Schrift kein Hemmnis der Spekulation, der selbständigen Spekulation, im Gegenteil die Heilige Schrift verleiht seinem Wahrheitsfluge, seiner Spekulation Freiheit und Sicherheit zugleich. Dadurch, daß Anselm in dieser Weise die Heilige Schrift in den Mittelpunkt des theologischen Studiums gestellt hat, hat er für die Früh- und Hochscholastik ein richtunggebendes methodisches Grundprinzip theoretisch ausgesprochen und praktisch in Anwendung gebracht. Wenn im 13. Jahrhundert bei Bonaventura Gottesgelehrsamkeit mit Schriftgelehrsamkeit, Sacra Scriptura mit theologia gleichbedeutend ist, wenn in der Blütezeit der Scholastik das Studium der Heiligen Schrift so hohen Ansehens sich erfreute und in der technischen Sprache des mittelalterlichen Universitätswesens magister sacrae paginae, magister Sacrae Scripturae den Lehrer der Theologie bezeichnete, so lag eine derartige Hochschätzung der Heiligen Schrift in der Konsequenz der von Anselm gegebenen Grundsätze und Inspirationen2. Mit Hochachtung der auctoritas Sacrae Scripturae ging bei Anselm von Canterbury Hochschätzung der Patristik Hand in Hand. Er war von tiefer Ehrfurcht vor den Vätern der Kirche erfüllt. 1 „Siquidem nihil utiliter ad salutem spiritualem praedieamus, quod Sacra Scriptura Spiritus Sancti miraculo foecundata non protulerit, aut intra se non contineat. Nam, si quid ratione dicamus aliquando, quod in dictis eius aperte monstrare aut ex ipsis probare nequimus, hoc modo per illam cognoscimus utrum sit accipiendum aut respuendum. Si enim aperta ratione colligitur et illa ex nulla parte contradicit; quoniam ipsa sicut nulli adversatur veritati, ita nulli favet falsitati: hoc ipso, quia non riegat quod ratione dicitur, eius auctoritate suscipitur. At, si ipsa, nostro sensui indubitanter repugnat; quamvis ratio nostra videatur inexpugnabilis, nulla tarnen veritate fulciri credenda est. Sie itaque Sacra Scriptura omnis veritatis, quam ratio collegit, auetoritatem continet, cum illam aut aperte affirmat aut nullatenus negat" (De concordia praescientiae Dei cum Hbero arbitrio q. 3, c. 6; M., P. L. CLVIII 528). 2 Vgl. P. H i l a r i n F e l d e r , Geschichte der wissenschaftlichen Studien im Franziskanerorden 492.
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
Namentlich war es Augustin, in dessen Schriften er sich mit Liebe, Begeisterung und Kongenialität vertiefte. Er kann deswegen in der praefatio zu seinem „Monologium" sagen, daß in demselben nichts enthalten sei, was nicht aufs innigste mit den Schriften der heiligen Väter, insbesondere des hl. Augustin, zusammenhänge. Er kann deswegen den Leser, der in dieser Schrift Neologien oder gar Irrtümer vermute, getrost auffordern, daß er ihn nicht vorschnell als kühnen Neuerer oder als Verfechter des Irrtums verschreien, sondern zuerst des heiligen Lehrers Augustinus Bücher über die Dreieinigkeit bedachtsam durchlesen und erst dann ein Urteil über dieses sein Schriftchen sich bilden soll1. Anselm legt ein großes Gewicht darauf, daß die Leser seines „Monologiums" sich seiner Konformität mit den Vätern und vor allem mit Augustinus bewußt seien, und bittet deshalb, man möge bei Abschriften dieses seines Werkchens stets auch die über Zweck und Methode desselben orientierende praefatio beifügen. In der Tat, Anselm von Canterbury steht ganz auf den Schultern des großen afrikanischen Kirchenlehrers. Seine Schriften sind voll von augustinischen Inspirationen sowohl in den Hauptgedanken wie auch in der Detailausführung. Es ist keine Übertreibung, wenn N o u r r i s s o n 2 meint, Anselm habe sozusagen keine Zeile geschrieben, bei der ihm nicht eine Augustinusstelle vorgeschwebt habe; es ist nicht zu viel behauptet, wenn Dornet de V o r g e s 3 1 „ Nihil potui in venire me in ea dixisse, quod non cafcholicorum Patrum et raaxime beati Augustini scriptis cohaereat. Quapropter, si cui videbitur quod in eodem opusculo aliquid protulerim, quod aut nimis novum sit, aut a veritate dissentiat, rogo ne statim me aut praesumptorem novitatum aut falsitatis assertorem exclamet: sed prius libros praedicti doctoris Augustini de Trinitate diligenter perspiciat, deinde secundum eos opusculum meum diiudicet" (Monologium, praef.; M., P. L. CLVIII 143 f). 2 La philosophie de St Augustin II 2 167: „Anselme n'a pas ecrit, pour ainsi dire, une page qu'il n'ait eu present ä l'esprit, comme point de repere, quelque passage de saint Augustin." Vom fl Monologiumu bemerkt derselbe ebd. 168: „Le Monologium est tout entier de filiation augustinienne/ 3 Saint Anselme 323. Über die Beziehungen zwischen Augustin und Anselm siehe auch S a e n z d ' A g u i r r e , Theologia S. Anselmi I, Romae 1688, 40—64. Th. H e i t z , La philosophie et 1a foi chez les mystiques du XI e siecle, in Revue des sciences philosophiques et thäologiques II (1908) 524: „ Anselme semble avoir he'rite' 1e culte des Peres, en particulier de saint Augustin. L'influence de ce docteur se trahirait dans les theories de notre philosophe et dans son style, meme si les innombrables citations empruntees au theologien africain, et les titres des ouvrages d'Anselme ne nous rendaient attentifs ä cette patente spirituelle. . .
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sagt, daß der große Bischof von Hippo dem hl. Anselm „tout 1e fond de sa doctrine" überliefert habe. Die Schriften des hl. Augustin müssen Anselms Lieblingslektüre gewesen sein. Und doch wird durch diese innige Beziehung zu Augustin, durch dieses Durchdrungensein von augustinischen Ideen keineswegs Anselms Selbständigkeit beeinträchtigt, keineswegs Anselms wissenschaftliche Größe verringert. Anselms Art, Augustinus zu benützen und zu verwerten, ist grundverschieden von der Augustinusverwertung seiner Vorläufer und Zeitgenossen. Diese sahen wohl in Augustin den Inbegriff der kirchlichen Lehre, sie exzerpierten seine Schriften, sammelten Stellen aus denselben zur Widerlegung der Häresien, aber die großen spekulativen Grundgedanken, die großen Gesichtspunkte Augustins haben sie nicht erfaßt und in sich aufgenommen, zur Seele der augustinischen Lehre sind sie nicht vorgedrungen. Anselm hat nicht, wie seine kompilatorisch angelegten Zeitgenossen, einzelne Augustinuszitate aufgehäuft, er hat diese Zitatensammlungen nicht geübt und geliebt, er hat vielmehr die tiefen, fruchtbaren spekulativen Gedanken Augustins sich zu eigen gemacht, mit kongenialem Verständnisse dieselben innerlich verarbeitet und in selbständiger Form zum Ausdruck gebracht. Anselm hat sich so tief in die augustinischen Schriften hineinversenkt und hat sein eigenes reiches Geistesleben so sehr am Lichte der augustinischen Spekulation entfacht, daß nicht bloß der Inhalt seiner Schriften unter augustinischer Einwirkung steht, sondern auch ihre stilistische Gestaltung das leuchtende, lebensfrische augustinische Kolorit verrät. Es ist eine ganz richtige Einschätzung des Verhältnisses Anselms zu Augustin, wenn R. S e e b e r g 1 bemerkt: „Die Bedeutung Anselms besteht darin, daß er von den Formeln Augustins zu dem Geiste und der Denkweise Augustins zurückführte. Er hat selbst wieder Enfin, Anselme, tient d'Augustin, l'amour de 1a Spekulation; et c'est precisement 1e röle eminent que celle-ci joue dans son oeuvre qui 1e söpare de son inaitre Lanfranc et plus encore des the"ologiens asce'tiques." 1 In seinem gehaltvollen und objektiv geschriebenen Artikel „Scholastik" in RE. XVII 8 709. Sehr schön bemerkt über Anselms Verhältnis zu Augustin Dornet de V o r g e s a. a. 0. 324: „Celui-ci (Anselme), par 1a confraternite* du ge"nie, a saisi tout d'abord ce qu'il y avait de föcond dans l'enseignement de son glorieux pre'de'cesseur. Le premier il a ose* s'essayer, ä ces nobles späculations dont saint Augustin nous a laisse" un modele si admirable. II a su les reproduire dans toute leur beaute" avec une note qui lui ötait propre. II n'y a qu'un grand maitre pour comprendre ainsi un grand maitre, s'assimiler sa doctrine et de*velopper tous les tr&sors qui y sont renfermes."
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augustinisch -empfunden und gedacht, er hat in der Art Augustins theologische Probleme wieder religiös verstehen und praktisch wertvoll lösen gelehrt." Anselm von Canterbury hat durch sein tiefes Augustinusverständnis der Früh- und Hochscholastik das Beispiel eines begeisterten Studiums der Werke des größten lateinischen Kirchenlehrers gegeben, er hat die Motive und Ziele seines eigenen wissenschaftlichen Arbeitens aus Augustins Schriften geschöpft und genommen. Seine wissenschaftliche Arbeitsweise ist von der Eigenart augustinischen Forschens nachdrücklich berührt und bestimmt. In Anselm traten Augustinus und die Scholastik sich nahe, durch Anselm ist Augustinus der Scholastik nicht bloß als auctoritas, sondern auch als Repräsentant der ratio, als spekulativer, die Glaubenswahrheit mit der Kraft seines mächtigen Geistes durchdringender Genius dargestellt und übergeben worden. Der Vorscholastik galten Augustins Schriften fast ausschließlich als Codex der katholischen Lehre, aus dem Zitate als auctoritates gegen die Häretiker sich entnehmen ließen. Die Augustinusbenützung war in diesen Zeiten der Rezeptivität vorwiegend eine mechanische. Für die in Augustins Schrifttum sich äußernde Kraft der menschlichen durch das Glaubenslicht erleuchteten Vernunft in Ergründung, Begründung und Darstellung der Offenbarungswahrheiten hatte diese Zeit im allgemeinen wenig Verständnis. Erst Anselm von Canterbury hat gleichsam in die Seele, in die inneren treibenden Kräfte der augustinischen Lehre geschaut, hat ohne Einbuße seiner Selbständigkeit Augustins Denkkraft und Denkweise auf sich einwirken lassen, hat in seinen Schriften einen organischen und lebendigen Augustinismus der Ideen dargeboten und denselben an Stelle des äußerlichen und mumienhaften Augustinismus der Zitate gesetzt. An diesem Augustinismus Anselms konnte die Früh- und Hochscholastik sich orientieren nach Inhalt und Methode. Anselm von Canterbury hat demnach die Autorität der Väter, besonders des hl. Augustin hochgeschätzt und hochgehalten, er hat sich in ihre Schriften liebend und sinnend versenkt, er ist aber bei einer bloßen Reproduktion der Patristik, wie eine solche bei seinen Vorläufern und Zeitgenossen im Schwünge war, nicht stehen geblieben. Im Gegenteil, das Väterstudium war für ihn ein Prinzip des Fortschrittes, ein Ansporn zum Ausbau der patristischen Gedanken nach Weite und Tiefe. Vernehmen wir hierüber seine methodische Anschauung, wie er sie so überzeugungsklar im Vorworte zu seiner Schrift: „De fide Trinitatis et incarnatione Verbi" ausgesprochen. Er
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geht hier den folgenden Gedankengang: Wenn auch nach der apostolischen Zeit heilige Väter und die späteren Theologen vieles zur Ergründung und Begründung unseres Glaubens geschrieben haben, zur Abwehr von Unwissenheit und Unglauben, zur Stärkung und Beglückung der Gläubigen, wenn auch diese Schriften der heiligen Väter niemals ihresgleichen in der Beschauung der Wahrheit finden werden, so verdient deshalb doch derjenige mit nichten einen Tadel, der mit voller Glaubensüberzeugung und Glaubensfestigkeit ausgerüstet es unternimmt, eine Einsicht in den Glaubensinhalt zu gewinnen. Denn 1. das Menschenleben ist so kurz, daß die heiligen Väter nicht alles über diese Wahrheiten sagen konnten, was sie bei längerem Leben hätten sagen können. 2. Die veritatis ratio ist so weit und so tief, daß sie von einem geschaffenen Geiste nie ganz ausgeschöpft, nie ganz ergründet werden kann. 3. Außerdem hört Christus nicht auf, in seiner Kirche, bei der er seiner Verheißung gemäß bis zur Vollendung der Weltzeit bleiben wird, die Geschenke seiner Gnade auszuteilen. 4. Auch die Heilige Schrift mahnt zur Ergründung der Glaubenswahrheit mit den Worten: „Nisi credideritis, non intelligetis" (Is 7, 9). Diese Stelle enthält eine offenkundige Mahnung zum Erstreben eines Glaubensverständnisses, da sie uns den Weg hierzu zeigt. 5. Endlich liegt dieses Glaubens Verständnis in der Mitte zwischen dem Glauben und dem himmlischen Schauen. Je mehr deswegen hienieden diese Glaubenseinsicht sich steigert, desto näher kommen wir der jenseitigen Anschauung, diesem unserem heißersehnten Lebensziel1. 1
„Quamvis post Apostolos, sancti Patres et doctores nostri multi et tot et tanta de fidei nostrae ratione dicant ad coiifutandam insipientiam et frangendam duritiam infidelium, et ad pascendum eos, qui iam corde fide mundato, eiusdem fidei ratione (quam post eius certitudinem debemus esunre) delectantur, ut nee nostris nee futuris temporibus ullum illis parem in veritatis contemplatione speremus; nulluni tarnen reprehendendum arbitror, si fide stabilitus, in rationis eius indagine se voluerit exercere. Nam et Uli, quia ,breves dies sunt' (lob 14, 58), non omnia quae possent si diutius vixissent, dicere potuerunt: et veritatis ratio tarn ampla tamque profunda est ut a mortalibus nequeat exhauriri; et Dominus in Ecclesia sua, cum qua se esse usque ad consummationem saeculi promittit, gratiae suae dona non desinit impertiri. Et, ut alia taceam, quibus sacra pagina nos ad investigandam rationem invitat, ubi dicit: ,Nisi credideritis, non intelligetis' (Is 7, 9), aperte nos monet intentionem ad intellectum extendere; cum docet qualiter ad illum debeamus proficere. Denique quoniam inter fidem et pseciem intellectum, quem in hac vita capimus, esse medium intelligo, quanto
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Das Schrift- und Väterstudium ist also für Anselm ein Mahnruf zu selbsttätiger Erforschung der Offenbarungswahrheit. Die durch die kirchliche Autorität, durch Schrift und Väter gewährleistete fidei certitudo drängt ihn vorwärts zur Ergründung der fidei ratio, geleitet ihn zur veritatis contemplatio, die auctoritas selbst schlägt ihm die feste Brücke zur ratio. § 2. Die Funktionen der ratio in der Methode Anselms. Wir finden bei Anselm von Canterbury eine dreifache Funktion der Vernunft, der ratio, in Behandlung der Glaubenswahrheiten: A. Die Vernunfttätigkeit soll eine rationelle Einsicht in den Glaubensinhalt erstreben. B. Die Vernunfttätigkeit soll eine zusammenfassende Überschau über einzelne Gebiete der Glaubenslehre bezwecken. C. Endlich soll die Vernunfttätigkeit die bei der spekulativen Ergründung der Glaubenswahrheit sich aufdrängenden Schwierigkeiten lösen und auch die von den außerhalb der christlichen Überzeugung stehenden Gegnern erhobenen Einwürfe widerlegen. A. Die rationelle Einsicht in den Glaubensinhalt. Anselms Arbeitsprogramm: „Credo, ut intelligam".
I. I n h a l t und T r a g w e i t e von Anselms „credo, ut intelligam". Die erste und grundlegende Funktion der Vernunft bei Behandlung der christlichen Glaubenslehre ist in der Theorie und in der wissenschaftlichen Praxis Anselms von Canterbury die Erzielung einer rationellen Einsicht in den Glaubensinhalt. Die durch Kirche, Schrift und Väter erlangte und gesicherte fidei c e r t i t u d o soll die feste Basis bilden für die fidei r a t i o . Der Ausdruck ratio hat bei Anselm einen subjektiven und objektiven Sinn. Im subjektiven Sinne besagt ratio die auf das Wesen und den Inhalt der Dinge vordringende Menschenvernunft (mens rationalis). Weiterhin schließt der Begriff ratio im subjektiven Sinne auch die Funktion der Vernunft ein1. Im objektiven Sinne bezieht sich ratio auf den Inhalt der Offenbarungslehre. aliquis ad illum proficit. tanto eiim propinquare speciei (ad quam omnes anhelamus) existimo" (De fide Trinitatis et incarnatione Verbi, praefatio; M., P. L. CLVIII 259 ff). 1 „Ratio quae et princeps et iudex omnium debet esse, quae sunt in nomine" (ebd. c. 2; 272).
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Bei Anselm kehren in diesem Sinne die Wendungen „Veritatis ratio, fidei ratio, ratio quomodo sit id, quod Ecclesia docet" wieder. Es ist hiermit der ideale Gehalt, die Vernünftigkeit, die Konvenienz, die Zweckmäßigkeit, der organisch-pragmatische Zusammenhang der mit fester Glaubenszuversicht festgehaltenen Heilswahrheiten gemeint. Indem diese Gesichtspunkte an der Offenbarungslehre von der Vernunft wahrgenommen und aufgenommen sind, ist von fidei rationes, von Vernunftgründen, Vernunftbeweisen die Rede1. Aus allen Schriften Anselms leuchtet uns sein Streben und Sehnen entgegen, einen Einblick in den Inhalt, in die geheimnisvollen Zusammenhänge, in die erhabene Teleologie der mit vollster Glaubensfreudigkeit als gewiß und unfehlbar wahr hingenommenen Offenbarungswahrheit zu gewinnen. Schon die Titelüberschriften, die er ursprünglich seinem „Monologium" und „Proslogium" gab — er bezeichnete die erstere Schrift als „exemplum meditandi de ratione fidei" und die letztere als „fides quaerens intellectum"2 —, weisen deutlich auf Anselms Tendenz hin, eine rationelle Einsicht in den Glaubensinhalt zu gewinnen. Er spricht aber diese seine Absicht zu Beginn seines „Proslogiums" mehrfach klar und deutlich aus: „Non tento Domine penetrare altitudinem tuam; quia nullatenus comparo illi intellectum meum, sed desidero aliquatenus intelligere veritatem tuam, quam credit et amat cor meum. Neque enim quaero intelligere, ut credam; sed c r e d o , ut i n t e l l i g a m . Nam et hoc credo, quia nisi credidero non intelligam."3 Dieses „credo, ut intelligam"4, der 1
Vgl. Monolog, c. 64 (M., P. L. OLVIII 210); De fide Trinitatis et incarnatione Verbi, praefatio (ebd. 259 ff): „Fidei nostrae ratio; veritatis ratio tarn ampla tamque profunda est, ut a mortalibus nequeat exhauriri; eorum, quae credimus, ratio"; ebd. c. 2; 263: „Quaerere rationem quomodo sit (sc. id quod Ecclesia credit)"; Cur Deus homo 1. 1, c. 1 (M., P. L. CLVIII 361): „Cuiusdam quaestionis de fide nostra rationes." 2 Proslogium, prooemium (M., P. L CLVIII 225). 3 Ebd. c. 1; 227. 4 Über Anselms „credo, ut intelligam" handeln S t ö c k l , Geschichte der Philosophie des Mittelalters I 154 ff; Ü b e r w e g - H e i n z e , Grundriß der Geschichte der Philosophie II 9 189 ff; S c h w a n e , Dogmengeschichte der mittleren Zeit 230ff; H a f f n e r , Grundlinien der Geschichte der Philosophie, Mainz 1881, 485 ff; B a c h , Dogmengeschichte des Mittelalters II 41—88; Van W e d d i n g e n , Essai critique sur 1a philosophie de S. Anselme de Cantorbery 361 ff; B a i n v e l , Artikel „Anselme" in Dictionnaire de theologie cath. 11343; Dornet deVorges, Saint Anselme 132 ff; A b r o e l l , S. Anseimus Cantuariensis de mutuo fidei ac rationis consortio. Die Hauptstellen des hl. Anselm über Glauben und Wissen sind auch zusammengestellt bei M i r b t , Quellen zur Geschichte des Papsttums 2 114, Nr 204. Grabmann, Scholastische Methode. I.
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Widerhall der Denk- und Redeweise Augustins, drückt in kürzester Weise das theologische Arbeitsprogramm Anselms aus, ist der Kernpunkt seiner theologischen Methode, ist gleichsam die weithin strahlende Aufschrift über dem Portal der eigentlichen Scholastik, die von Anselm inauguriert wird. Denselben Gedanken spricht Anselm auch in seiner Schrift „Cur Deus homo" aus: „Sicut rectus ordo exigit, ut profunda fidei prius credamus priusquam ea praesumamus ratione discutere, ita negligentia mihi videtur, si postquam confirmati sumus in fide, non studemus quod credimus intelligere."a An dieser Stelle erachtet Anselm das Bestreben, eine Einsicht in den Glaubensinhalt zu gewinnen, geradezu als Pflicht. Es ist die letztere Stelle in den Zeiten der Hochscholastik, so von Matthäus von Aquasparta, zugleich mit ähnlichen Stellen aus Augustin und Richard von St Viktor als autoritativer Beweis für die Möglichkeit und Bedeutsamkeit spekulativer Durchdringung, Ergründung und Begründung der Offenbarungslehre aufgeführt worden2. Der hl. Anselm will ein Verständnis der Glaubenswahrheit, eine rationale Einsicht in den Offenbarungsinhalt erlangen, und zwar auf der festen und unerschütterlichen Grundlage des Glaubens. Der Glaube soll durch diese Vernunfteinsicht weder gesetzt noch ersetzt, sondern vorausgesetzt werden. Anselm setzt die Offenbarungslehre als unanzweifelbare Wahrheit voraus und vertieft sich mit seinem reichbegabten, scharfen Denkergeist in diese Wahrheiten, um deren organischen Zusammenhang und erhabenen Ideengehalt einigermaßen zu erkennen und um die logischen Konsequenzen dieser erhabenen Wahrheiten darzulegen3. Während Augustin seine Anschauung über das Verhältnis von Glauben und Wissen in der Formel „intellige, ut credas, Eane eingehende Würdigung dieses anseimischen Fundamentalprinzips gibt J. B. B e c k e r in seiner vortrefflichen Abhandlung: „Der Satz des hl. Anselm: Credo, ut intelligam, in seiner Bedeutung und Tragweite*, in Philos. Jahrbuch XIX (1906) 115—127 312—326. Gleichfalls expresse handelt hierüber Th. H e i t z , La Philosophie et 1a Foi chez les mystiques du XI e siecle, in Revue des sciences philo» sophiques et theologiques II (1908) 526—535. 1 Cur Deus homo 1, c. 2 (M„ P. L. CLVIII 362). 2 M a t t h a e i ab A q u a s p a r t a Quaestiones Disputatae selectae q. 5 de fide, ed. Quaracchi 1903, 140. 3 „Prenant pour acquises les donnees de 1a foi, il applique toutes les ressources de sa belle intelligence ä s'expliquer les verites qu'il croit de tout son coeur, a les eclairer des faibles rayons de 1a lumiere creee, ä les coordonner en Systeme, a en montrer 1e Ken et les conse'quences rbgiques" ( B a i n v e l , Artikel „Anselme" in Dictionnaire de theologie catholique I 1343).
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crede, ut intelligas"1 ausspricht, ist Anselms wissenschaftliche Richtlinie lediglich durch „credo, ut intelligam" markiert. Während der größte Denker in der Väterzeit auch das Verhältnis der Vernunfterkenntnis zur Genesis des übernatürlichen Glaubens, das dem Glauben vorausgehende Wissen, die praeambula fidei ins Auge zu fassen durch apologetische Erwägungen sich veranlaßt sieht, kommt für Anselm, der dieses apologetische Moment weniger im Auge hat, das auf den Glauben folgende Wissen, das für die durch den Glauben erleuchtete Vernunft hienieden erreichbare Verständnis der Heilswahrheit in erster Linie in Betracht. Anselm hat dieses sein methodisches Grundprinzip „credo, ut intelligam" praktisch in seinen Schriften, besonders in seinem „Monologium", „Proslogium" und „Cur Deus homo" verwirklicht. Im „Monologium" und „Proslogium" hat er die allgemeine Gotteslehre und die Trinitätslehre lediglich mit spekulativen Darlegungen und Begründungen entwickelt, ohne die Äußerungen der Heiligen Schrift und der Tradition in seine Darstellung aufzunehmen2. Wenn Anselm von Canterbury hier auch nicht Schrift- und Väterstellen als Autoritätsbeweis anführt, so ist seine spekulative Erklärung der Glaubenswahrheit dennoch von den spekulativen Gedanken der Patristik, namentlich Augustins, getragen und geleitet. Anselm hat der Scholastik und überhaupt der gesamten späteren Dogmatik ein Beispiel gegeben, wie die sog. ratio theologica, die spekulative Begründung der Dogmen organisch aus der Schrift- und Väterlehre hervorwachsen soll. In der Tat sind die Konvenienzgründe, welche die großen Scholastiker des Mittelalters für die einzelnen Glaubenswahrheiten entwickeln, vielfach patristischer, vornehmlich augustinischer Provenienz. Von einer formellen Aufführung von Schrift- und Väterstellen zum Zwecke einer positiven Beweisführung steht der Verfasser des „Monologium" und „Proslogium" gänzlich ab, da er die Offenbarungslehre als sicher zu Recht bestehend voraussetzt. Hingegen sind die spekulativen Ideen der Patristik für das von ihm angestrebte Glaubens1
S. Aug., Serm. 43, c. 7, n. 9. „Sed si quis legere dignabitur duo parvula opuscula mea, M o n o l o g i o n scilicet et P r o s l o g i o n , quae ad hoc maxime facta sunt, ut quod fide tenemus de divina natura et eius personis praeter Incarnationem, necessariis rationibus sine Scripturae auctoritate probari possit; si, inquain, ea aliquis legere voluerit, puto quia et ibi inveniet de hoc quod non improbare poterit nee contemnere volet" (De fide Trinitatis c. 4; M., P. L. CLV1II 272). Über Anselms „Monologium" und „Proslogium" vgl. B i l l r o t h , De Anselmi Cautuariensis Proslogio et Monologio, Leipzig 1832; K l e e , De S. Anselmi Cant. Proslogio et Monologio, Leipzig 1832. 18* 2
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Anselm von Canterbüry, der Vater der Scholastik.
Verständnis (fides quaerens intellectum; credo, ut intelligam) wertvoll und werden deshalb von ihm ohne Namensnennung in seine Darstellung hineingewoben. Dieses Absehen von Zitationen, das diesen Schriften Anselms das Gepräge einer selbständigen, ausgereiften und in sich abgeschlossenen Arbeitsweise gibt, ist namentlich hinsichtlich der patristischen Zitate auch von späteren Scholastikern, denen es um eine kurze, zusammenfassende Überschau über das theologische Gesamtgebiet zu tun war, mit Nutzen nachgeahmt worden, so von Alanus de Insulis in seiner „Ars fidei catholicae", von Bonaventura in seinem „Breviloquium", von Thomas von Aquin in seinem „Compendium theologiae ad fratrem Reginaldum". Ein ähnliches, die Schrift- und Vätertexte, den Autoritätsbeweis ausschaltendes Verfahren wie in seinem „Monologium" und „Proslogium" schlägt Anselm auch in seiner dogmen geschichtlich beachtenswertesten Schrift „Cur Deus homo" ein. Er will in dieser Schrift, wie F u n k e 1 zutreffend bemerkt, „den historischen Christus in seinem Sein und Streben, wie die Offenbarung ihn darstellt, aus seinen gegebenen Voraussetzungen heraus, soweit es dieselben gestatten, allein mit Hilfe der Vernunft gleichsam zu Recht konstruieren und so rationell begründen". Anselms methodisches Fundamentalprinzip „credo, ut intelligam" ist namentlich in Hinsicht auf seine Schriften „Monologium", „Proslogium" und „Cur Deus homo" Gegenstand vielfältigen Mißverständnisses und der entgegengesetztesten Mißdeutungen gewesen. Man hat diesen Ausspruch im traditionalistischen Sinne dahin gedeutet, daß nach Anselm jede menschliche Erkenntnis auf der Offenbarung, auf dem Glauben beruht (Ritter, Prantl, ÜberwegHeinze)2. Diese Auffassung gründet in der durch Anselms Texte in keiner Weise gerechtfertigten Anschauung, als ob das „credo, ut intelligam" ganz allgemein das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen ausdrücke. Anselm hat hier doch das Verhalten der Vernunft zu den christlichen Wahrheiten, und zwar nach der gläubigen Annahme dieser Wahrheiten im Auge. Auf dem andern Extrem bewegt sich die Deutung des Anselmschen Satzes im rationalistischen Sinne. Danach hat nach Anselm die Vernunft die Kraft, ein volles, inhaltliches Verständnis der Glaubenswahrheiten zu erlangen, so daß dieselben aufhören, Geheimnisse zu sein. J. B. B e c k e r 3 führt 1 2
Grundlagen und Voraussetzungen der Satisfaktionstheorie des hl. Anselm 97. J. B. B e c k e r , Credo, ut intelligam, in Philos. Jahrbuch XIX (1906) 120ff. Ebd. 312 ff.
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Kunze und Hase als Vertreter dieser Auffassung auf, welche dem Vater der Scholastik einen offenen oder doch zum mindesten versteckten Rationalismus zuschreibt. Auch J. A. E n d r e s 1 sieht im „credo, ut intelligam" ein Können der Vernunft in Bezug auf die Glaubensgeheimnisse ausgesprochen, das der Lehre der Hochscholastik nicht ganz entspricht. Th. H e i t z 2 bemerkt, Anselm habe unbewußt den Rationalismus gestreift, ohne aber in denselben zu verfallen. Es ist richtig, daß bei Anselm Wendungen und Ausdrücke sich finden, welche, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen und nicht im Zusammenhalt mit der Gesamtdoktrin des scharfsinnigen und konsequent denkenden Theologen von Canterbury aufgefaßt werden, den Vorwurf eines wenigstens versteckten Rationalismus einigermaßen rechtfertigen könnten. Es kommen hier vor allem jene Stellen in Betracht, an welchen von rationes necessariae, von zwingenden Vernunftgründen die Rede ist 3 . Speziell charakterisiert Anselm Beweisgänge in seinem „Monologium" und „Cur Deus homo" als rationes necessariae. Wir geben mit B a i n v e l 4 und De R e g n o n 5 gerne zu, daß Anselm in seinen Ausdrücken manchmal überschwenglich ist. Anselm ist 1
Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im christlichen Abendlande 43. „Quoiqu'il ait toujours proteste de son respect pour 1e principe d'autorite", il cötoyait inconsciemment 1e rationalisme — sans toutefois y tomber — en pro' tendant demontrer par 1a seule raison l'existence de 1a Trinitö et l'absolue nöcessite de l'Injcarnation. C'est dire que dans l'oeuvre de saint Anselme 1a raison tient un röle eminent" (Th. H e i t z , La Philosophie et 1a Foi chez les mystiques du XI e siecle, in Revue des sciences philosophiques et the'ologiques II [1908] 534). 3 „Videtur mihi huius tarn sublimis rei secretum transcendere omnem intellectus aciem humani; et idcirco conatum explicandi qualiter hoc sit, continendum puto. Sufficere namque debere existimo rem incomprehensibilem indaganti, si ad hoc ratiocinando pervenerit ut eam certissime esse cognoscat; etiamsi penetrare nequeat intellectum, quomodo ita sit. Quapropter si ea, quae de summa essentia hactenus disputata sunt, n e c e s s a r i i s r a t i o n i b u s sunt asserta, quamvis sie intellectu penetrari non possint, ut et verbis valeant explicari; nullatenus tarnen certitudinis eorum nutat soliditas" (Monolog, c. 64; M., P. L. CLVIII 210). In „Cur Deus homo" läßt Anselm durch Boso an sich das Ersuchen richten: „Ita volo me perducas illuc, ut rationabili necessitate intelligam esse oportere omnia illa, quae nobis fides catholica de Christo credere praeeipit, si volumus salvari" (1, c. 25; M., P. L. CLVI1I 400). Vgl. die praefatio Anselms zu „Cur Deus homo" (ebd. 361): „Quod (sc. opus) seeundum materiam, de qua editum est, Cur Deus homo nominavi et in duos libellos distinxi. Quoniam prior . . . tandem remoto Christo (quasi nunquam aliquid fuerit de illo) probat r a t i o n i b u s n e c e s s a r i i s esse impossibile ullum hominem salvari sine illo." 4 Artikel „Anselme" in Dictionnaire de the"ologie catholique I 1346. 5 Etudes de the'ologie positive sur 1a sainte Trinite' II 23: „ Vraiment on ne sait ce qu'on doit de plus admirer dans saint Anselme. ou de 1a force de sa foi 2
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
eben eine Augustinus kongeniale Natur. Die Einwirkung von Augustins überquellendem Spiritualismus, die Begeisterung und geniale Selbständigkeit, mit der Anselm der Ergründung der höchsten Wahrheiten sich hingab, seine mit den wachsenden Schwierigkeiten sich noch steigernde Wissenssehnsucht haben ihn zuweilen zu Wendungen und Ausdrücken fortgerissen, die für sich betrachtet bei einem lediglich mit dem Winkelmaß der Distinktion und des Syllogismus operierenden Schultheologen Anstoß erregen können. Aber wenn man derlei Wendungen mit der Gesamtdoktrin des hl. Anselm, mit seinen sonstigen Auffassungen und Äußerungen, mit den Grundlagen und Voraussetzungen seiner systematischen Monographien in Beziehung bringt, dann wird man diese rationes necessariae, dieses rationelle von Schrift und Vätern abstrahierende Verfahren in der Trinitäts- und Inkarnationslehre keineswegs als Kundgebungen rationalistischer Tendenzen erkennen1. Was die rationes necessariae, von welchen Anselm in seinem „Monologium" bei Behandlung der Trinitätslehre spricht, betrifft, so hat Säenz d ' A g u i r r e 2 guidant et poussant sa raison vers les re'gions sublimes, ou de 1a sublimite de son intelligence percant toutes les profondeurs de 1a inötaphysique. Mais l'alliance de cette foi et de cette raison e*tait si intime, que 1e pieux penseur n'a pas songe" ä distinguer dans sa meditation 1a part de chacune d'elles. On dirait d'un aigle qui, ouvrant ses ailes ä un vent puissant, se laisse empörter pour planer au plus haut et qui, dans 1a joie de son vol, ne sait plus discerner entre ses battements d'ailes et 1e souffle qui 1e souleve. Sans doute, 1a memoire d'un si grand docteur demand qu'on interprete ses expressions dans 1e sens 1e plus favorable. On pourrait dire qu'il s'est uniquement propose de fournir pour les dogmes des raisons , probables' et de montrer que les objections ne concluent pas necessairement." 1 Vgl. B e c k e r , Credo, ut intelligam, in Philos. Jahrbuch XIX (1906) 320. 2 Theologia S. Anselmi II 17 disp. 51, sect. 5: „Supponit fidem Trinitatis in iis, quos erudiendos accipit in hoc opusculo et deinde accedit ad excogitandum varias rationes quibus utcumque suadeat seu ostendat non abhorrere a vero, quidquid de Trinitate credimus paretque viam seu modum ad occurrendum argumentis infidelium seu haereticorum contra disputantium," — Ebd. II 808 disp. 99, sect. 4: „Quare nee rationes ipsae, quibus utitur S. Doctor ad eas veritatis probandas, sunt plane demonstrativae seorsim a doctrina fidei, qua ipse instruetos supponit et vult lectores huius opusculi. . . . Si quae igitur habent vim demonstrationum, certe illam habent, quatenus supponunt veritatem revelatam a Deo, ex qua manuducitur intellectus fidelis ad exquirendum discursu ac subsidio naturalis rationis veritatem aut nonrepugnantiam mysterii crediti." Eingehend behandelt derselbe die Stellung der Vernunft zum Trinitätsgeheimnis in disp. 8 u. 9 (I 171—208), wobei er auf die sachliche diesbezügliche Konkordanz zwischen Augustin, Anselm und Thomas aufmerksam macht.
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darauf aufmerksam gemacht, daß diese rationes den Glauben an die Trinität voraussetzen, unter Voraussetzung der Offenbarungslehre die Wahrheit und innere Widerspruchslosigkeit des Trinitätsgeheimnisses durch spekulative Erwägungen darzutun versuchen, daß also diese rationes necessariae in keiner Weise die Bedeutung einer von der Glaubenslehre unabhängigen, demonstrativen Beweisführung beanspruchen. Die späteren Scholastiker, ein Alexander von Haies, Albert d. Gr., Bonaventura, Thomas von Aquin, Richard von Mediavilla usw.x, haben bei der Verhandlung über die Stellung der Vernunft zum Trinitätsdogma keinerlei Veranlassung genommen, sich mit Anselm auseinanderzusetzen, ein Zeichen dafür, daß sie mit den Anschauungen des Vaters der Scholastik prinzipiell einverstanden waren. Selbst Richard von St Viktor2, der in vordringlicherer Weise als Anselm seine rationes necessariae in der Trinitätslehre zur Geltung bringt, hat sich von der Linie der traditionellen, über das Verhältnis von Vernunft und Mysterium korrekt denkenden Theologie nicht entfernt. Einen freilich etwas andern Sinn hat die zu einer Zeit, da durch die großen Scholastiker des 13. Jahrhunderts die Stelle der Vernunft in der Ergründung und Darlegung der christlichen Geheimnisse scharf umschrieben war, durch Raimundus Lullus versuchte „Probatio articulorum fidei per necessarias rationes". Und selbst über die Inkorrektheit der diesbezüglichen Anschauungen Lullus' ist noch nicht die geschichtliche Forschung zu einem abschließenden Resultat gekommen3. Die neueren Dogmatiker, die sich mit Anselms Trinitätslehre eingehender befaßt haben, sehen fast alle hier keinerlei Überspannung der Vernunft auf Kosten des Glaubens, keinerlei rationalistische Ten1
A l e x . Hai., S. th. 1, q. 2, m. 2, a. 3. Bonav., Sent. I, d. 3, p. 1, a. 1, q. 4. A l b e r t u s M., Sent. I, d. 3, a. 18. S. T h o m a s , S. th. 1, q. 32, a. 1. Rieh, de M e d i a v i l l a , Sent. I, d. 3, a. 2, q. 2. Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei D i o n y s . C a r t h u s i a n u s , Sent. I, d. 3, q. 4. 2 De Trinitate 1. 1, c. 4 (M., P. L. CXCVI 892). Vgl. P o h l e , Lehrbuch der Dogmatik I 2 321. 3 Es kommt hier besonders die von Raimundus Lullus 1296 verfaßte und mit einer Widmung an Bonifaz VIII. eingeleitete Schrift „Probatio articulorum fidei per necessarias rationes * in Betracht. Eine Handschrift hiervon enthält Cod. Vatic. Lat. 1054, s. 14, fol. 1—14 mit der von späterer Hand stammenden Aufschrift: „Raimundi traetatus ad Bonifacium VIII, quod fides catholica potest probari per necessarias raciones." Auch Cod. 81 der Handschriftensammlung zu Cues enthält fol. 72r—82 v dieses Schriftchen Lullus'.
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denzen. So bemerkt der in seinen historischen Urteilen sehr beachtenswerte Tübinger Dogmatiker Kuhn 1 , daß Anselm eine rein aprioristische Deduktion, d. h. eine Ableitung des positiven Inhalts aus der bloßen Vernunft, weder beabsichtigt noch viel weniger liefert. L. J a n s s e n s 2 , ein bedeutender Anseimus- und Thomaskenner, kommt bei seiner Analyse und Bewertung der betreffenden Texte des „Monologiums" zu dem Ergebnis, daß Anselm an den Stellen, an denen er scheinbar der Vernunft einen zu großen Spielraum zuerkennt, nicht die auf sich selbst gestellte, sondern die durch den Glauben gestützte Vernunft im Auge hat. Die rationes necessariae Anselms sind im wesentlichen nichts anderes als die auch vom hl. Thomas angenommenen rationes, welche, Trinitate posita, die Konsequenz und Kongruenz der im Glauben erkannten und festgehaltenen Wahrheiten dartun wollen3. Auch die Spekulation des hl. Anselm über die Inkarnationslehre, wie er sie in seiner Schrift „Cur Deus homo" in so scharfsinniger Weise entfaltet, hat außer einer metaphysisch-dialektischen Grundlage auch spezifisch dogmatische Voraussetzungen, vor allem die Unwandelbarkeit des ursprünglichen, durch die Sünde nicht umzuwerfenden , göttlichen Beseligungsdekretes. Die Spekulation des hl. Anselm ist im Boden der übernatürlichen Offenbarung festgeankert 4. Außer diesen Erwägungen gibt es noch eine Reihe von Gründen, welche entschieden von Anselms Theologie jeden Verdacht und Vorwurf des Rationalismus abwenden. Zugleich verbreiten diese Gründe — und dies ist die Ursache, weswegen wir dieselben näher ins Auge 1
Katholische Dogmatik I 239—244. Summa Theologica, ßd III: De Deo Trino, 414. F r a n z e l i n (De Deo trino 2 321) beurteilt Anselms rationes necessariae also: „At haec non est demonstratio Trinitatis ex solo lumine rationis, sed est theologica deductio ex veritate revelata eiusdemque veritatis analogica aliqua paulo distinctior intellectio ex analogia Spiritus creati." Vgl. S c h w a n e , Dogmengeschichte III 149ff; A. v. Schmid, Apologetik 144; V a n N o o r t , Tractatus de Deo uno et trino, Amstelodami 1907, 202; K l e u t g e n , De Deo ipso, Ratisb. 1881, 577. Eine sehr treffende Beurteilung Anselms gibt S c h e e b e n , Mysterien des Christentums 739 ff. 3 S. th. 1, q. 32, a. 1, ad 2M. 4 Eine eingehende Untersuchung über Anselms Absicht bei Abfassung seiner Schrift „Cur Deus homo", über die dialektisch-metaphysische Grundlage und über die dogmatischen Voraussetzungen dieses Buches und damit den Schlüssel zu einer richtigen Beurteilung derselben gibt F u n k e , Satisfaktionstheorie des hl. Anvon Canterbury 122—166. 2
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fassen — Licht über Sinn und Bedeutung des anselmianischen Axioms: „Credo, ut intelligam". d) Vor allem erklärt Anselm selbst, daß er nichts behaupten wolle, was sich nicht durch die Heilige Schrift und die Schriften der Väter verteidigen lasse. Bezüglich seiner Trinitätslehre, wie er sie im „Monologium" aufgebaut und gegliedert, hat er sich in einem Briefe an seinen Lehrer Lanfrank ausdrücklich geäußert. Er will diese seine Schrift nur in innigster Anlehnung an Augustinus verstanden, gleichsam als den einfachsten, kürzesten Ausdruck der augustinischen Lehre aufgefaßt und gewürdigt wissen1. Bezüglich seiner Inkarnationslehre erklärt Anselm am Anfang seiner Schrift „Cur Deus homo", daß er seine Darlegungen in folgendem Sinne verstanden wissen wolle: „Wenn ich etwas sage, was eine höhere Autorität nicht bestätigt, so soll das, mag ich es auch mit Vernunftgründen erhärten, doch mit keiner andern Gewißheit angenommen werden, als daß es eben vorderhand meine persönliche Anschauung sei, bis mir Gott auf irgend eine Weise Besseres zeigt."2 ß) Fernerhin ist Anselm von der Unbegreiflichkeit und Unerfaßbarkeit der höchsten Geheimnisse überzeugt. Er hat dieser seiner Überzeugung bezüglich des Trinitätsgeheimnisses im 64. und 65. Kapitel seines „Monologium" unverhohlen Ausdruck verliehen und die ineffabilitas dieses Mysteriums betont mit Berufung auf die Isaiasstelle: „Generationem eius quis enarrabit" (Is 53, 8). Auch bezüglich des Inkarnationsdogmas hat er nachdrucksam die durch keine Spekulation ergründbare Tiefe dieses Geheimnisses hervorgehoben3. 1
„Nam haec fuit mea intentio per totam illam qualemcumque disputationem, ut omnino nihil ibi assererem, nisi quod aut canonicis aut beati Augustini dictis incunctanter posse defendi viderem: et nunc quotiescunque ea quae dixi retracto nihil aliud me asseruisse percipere possum. . . . Ea enim ipsa sie beatus Augustinus in libro de Trinitate suis magnis probationibus probat, ut eadem quasi mea breviori ratiocinatione inveniens, eius confisus auetoritate dicerem: ,Quod dico, non aliquid eorum quae dixi apud nos defendendo; sed ea me non a me praesumpsisse, sed ab alio assumpsisse ostendendo'" (Ep. 1, 68; M., P. L. CLVII1 1139). 2 „Tentabo pro mea possibilitate . . . quod quaeritis non tarn ostendere quam tecum quaerere; sed eo pacto, quo omnia, quae dico, aeeipi volo: videlicet ut si quid dixero quod maior non confirmet auetoritas, quam vis illud ratione probare videar, non alia certitudine aeeipiatur, nisi quia interim mihi ita videtur, donec mihi Deus melius aliquo modo revelet" (Cur Deus homo 1, 2; M., P. L. CLVIII 363). Denselben Gedanken fast mit demselben Wortlaut spricht Anselm auch in seinem „Monologium" c. 1 aus (M., P. L. CLVIII 145). 3 „Sciendum est, quidquid homo inde dicere vel scire possit, altiores tantae rei adhuc latere rationes" (Cur Deus homo 1, 2; M., P. L. CLVIII 364).
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y) Außerdem ist der Leserkreis, an den die Schriften des hl. Anselm sich richten, ins Auge zu fassen. Seine Schriften wenden sich an Mönche, welche durch seine Darlegungen nicht erst zur christlichen Überzeugung kommen wollen, sondern welche tiefer in den von ihnen freudig festgehaltenen Glaubensinhalt eingeführt werden wollen, welche an seiner spekulativen Entwicklung des Offenbarungsinhalts sich erfreuen und erbauen möchten. Er hat diese Stimmung seines Leserkreises klar im ersten Kapitel des ersten Buches seines „Cur Deus homo" also ausgesprochen: „Die Mönche haben mich um Abfassung dieser Schrift gebeten, nicht damit sie durch die Vernunft zum Glauben gelangen, sondern damit sie durch das Verständnis und die Betrachtung dessen, was sie glauben, erfreut würden und auch soviel als möglich gerüstet seien, jedem, der Rechenschaft fordert vom Gegenstand unseres Hoffens, Rede zu stehen." l Die Schrift „Cur Deus homo" ist, wie F u n k e 2 überzeugend dargetan hat, keine Streitschrift gegen die Ungläubigen. Freilich hat Anselm dabei auch ein apologetisches Interesse, jedoch nicht in primärer und ausschließlicher Weise. Er will zunächst seinen Schülern, glaubensfreudigen Mönchen, durch rationelle Begründung des geoffenbarten Christus in seinem Sein und Werk einen Gegenstand der Betrachtung und des spekulativen Nachdenkens darbieten und ihnen dadurch Freude bereiten. Als Nebenzweck hat er dabei auch die apologetische Schulung seiner Leser im Auge. 3) Zur Beurteilung von Anselms Methode und methodischem Leitgedanken „credo, ut intelligam" ist auch die Natur dieses intellectus, dieser ratio fidei, dieser rationellen Einsicht in den Glaubensinhalt ins Auge zu fassen. Vor allem dürfen wir diesen intellectus, diese ratio fidei nicht als eine den Erkenntnisgegenstand adäquat erkennende, aus seinen Ursachen erschöpfende Verstandestätigkeit auffassen. Der später vom hl. Thomas adoptierte und entwickelte, aristotelische Wissensbegriff darf auf diesen intellectus fidei nicht angewendet werden. Dieser intellectus fidei, dieses intelligere besagt 1 „Saepissime et studiosissime a raultis rogatus sum et verbis et litteris, quatenus cuiusdam quaestionis de fide nostra rationes, quas soleo respondere quaerentibus, memoriae scribendo commendarem: dicunt enim sibi placere eas et arbitrantur satisfacere. Quod petunt, non ut per rationem ad fidem accedant, sed ut eorum, quae dicunt intellectu et contemplatione delectentur, et ut sint quantum possunt parati semper ad satisfactionem omni poscenti se rationem de ea, quae in nobis est, spe" (Cur Deus homo 1, 2; M., P. L. CLVIII 361). 2 Satisfaktionstheorie des hl. Anselm von Canterbury 133.
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eben nur eine Einsicht in das Inhaltliche der Offenbarungslehre, soweit sie in diesem Erdenzustande erreichbar ist. Ein den Geheimnischarakter der Offenbarungslehre zerstörendes Wissen oder gar Begreifen ist dieser intellectus fidei keineswegs. Die gläubige Vernunft will nicht bloß gleichsam an der Außenseite, am Äußeren der Glaubenswahrheit haften bleiben, sie will auch einigermaßen in das Innere, in die inneren Zusammenhänge der Heilswahrheit vordringen, sie will über das durch den Glauben verbürgte Daß auch in etwas zum Verständnis des W a s und Wie der über den Menschengeist erhabenen und denselben zugleich erhebenden übernatürlichen Wahrheiten emporsteigen. Es ist hierbei wohl zu beachten, daß dieser intellectus fidei keineswegs eine mit bloß natürlichen Mitteln erlangte Einsicht ist, sondern vielmehr unter dem Einfluß übernatürlicher Gnadenwirkung entsteht. Die Vernunft ist hier nicht lediglich auf ihre natürliche Spannkraft und Tragweite angewiesen, sie ist über ihr natürliches Vermögen erhoben durch Gnade und Glauben. Der Glaube verleiht dem Geiste die Schwingen zum Höhenfluge der Betrachtung himmlischer Geheimnisse1. Aus diesen Gründen, die zugleich den Sinn und die Bedeutung des anselmianischen „credo, ut intelligam" näher aufhellen, ergibt sich ganz klar, daß die Spekulation des hl. Anselm von jeder Form des Rationalismus entfernt ist. Anselm von Canterbury hat durch die Art und Weise, wie er das Verhältnis von Glauben und Wissen theoretisch fixiert und wie er praktisch seinen scharfblickenden Denkergeist in der Begründung und Ergründung der Offenbarungswahrheit gezeigt hat, dasselbe getan und geleistet, was ein Klemens von Alexandrien und Origenes 1
A b r o e l l , S. Anseimus Cantuariensis de mutuo fidei ac rationis consortio 82: „Fides animo alas praebet, ut volatum sublimem ad coelestia peragat; fides scala quaedam est, qua ad contemplanda revelationis mysteria ascenditur. . . . Intellectus iste, de quo loquimur, a fide, quae est virtus infusa, theologica, nullo modo divelli aut separari potest." Ähnlich äußert sich auch Th. H e i t z , La Philosophie et 1a Foi chez les mystiques du XI e siecle, in Revue des sciences Philosoph, et theol. II (1908) 534: „Appuye'e sur 1a foi et les vertues morales, nourrie par 1e travail the"ologique, 1a raison atteint, des cette vie, ä l ' i n t e l l i g e n c e des ve>ites öternelles. Ici l ' i n t e l l i g e n c e ne designe pas l'absolue evidence du philosophe, mais plutöt 1a foi du croyant, qui, de simple et nai've qu'elle etait au seuil des recherches scientifiques, s'est enrichie des conclusions the'ologiques qui sont comme des illuminations, des revelations supplömentaires, si Ton peu ainsi parier, descendues d'en haut pendant 1a möditation des divins mysteres. Tel est, ce nous semble, 1e sens de 1a formule ,credo, ut intelligam'."
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begonnen und was namentlich Augustinus in vorbildlicher Weise verwirklicht hat 1 . Die mannigfachen Ansätze und Elemente der scholastischen Methode in der Patristik haben in Anselm sich zu lebensvoller Einheit zusammengefügt. Anselms Arbeitsprogramm: „Fides quaerens intellectum; credo, ut intelligam" ist nach rückwärts die Zusammenfassung der patristischen, vornehmlich augustinischen Theologie und theologischen Arbeitsmethode und ist zugleich nach vorwärts der methodische Grundgedanke der Früh- und Hochscholastik. Anselm ist der Vorläufer des hl. Thomas gewesen, der, mit einem viel reicheren, philosophischen Apparat ausgerüstet, das anselmianische „credo, ut intelligam" verwirklichen konnte. Saenz d'Aguirre bemerkt mit Recht: „Quare Anseimus id ipsum fere praestitit, quod centum quinquaginta post ipsum annis uberius executus fuit D. Thomas : qui in prima parte suae Theologicae Summae et in libris contra Gentes atque alibi saepe, rationibus explicare et probare utcumque nititur ea ipsa, quae supponuntur a christianis credita per fidem: ut qui prius crediderant, postea intelligant sive sciant.u 2 II. Die M i t t e l und Wege zur V e r w i r k l i c h u n g „credo, ut i n t e l l i g a m " .
des
Nachdem wir über Inhalt und Tragweite von Anselms „credo, ut intelligam" klar geworden sind, müssen wir auf die Mittel eingehen, mit denen er diesen intellectus fidei zu erreichen suchte. Diese Mittel sind hauptsächlich folgende : a) S p e k u l a t i v e Vertiefung in die A n a l o g i e n des Ü b e r n a t ü r l i c h e n auf n a t ü r l i c h e m G e b i e t e ; b) E t h i s c h e R e i n h e i t und S e l b s t h e i l i g u n g ; c) A b l e h n u n g des N o m i n a l i s m u s ; d) Anwendung der D i a l e k t i k und M e t a p h y s i k . a) Anselm schafft sich nach augustinischem Vorbild einen erkenntnistheoretisch sichern Weg zur Erforschung des Übernatürlichen, indem er in die mannigfachen Analogien, die das Übervernünftige im Bereiche des Geschöpflichen hat, sich vertieft. Vernehmen wir hierüber seine methodischen Grundsätze, wie er sie speziell rück1
Vgl. C a p p e n b e r g , De Fidei et Scientiae christianae ratione mutua secundum Patrum Alexandrinorum, S. Augustini et scholasticorum sententias, Monasterii 1844. 2 S a e n z d ' A g u i r r e , Theologia S. Anselmi I 67, disp. 1, sect. 8.
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sichtlich der Trinitätslehre entwickelt. Wenn auch Gottes Wesen in seiner Eigennatur unaussprechlich ist, so kann man doch über Gott in der Weise nachdenken und sich ausdrücken, daß diese Spekulation und Disputation Wahrheitsinhalt besitzt. Wir reden ja auch über vieles, was wir nicht in seinem eigensten Wesen benennen, sondern durch etwas anderes bildweise bezeichnen, und wir vermeinen, damit auch Wahrheit auszudrücken. In ähnlicher Weise können wir auch durch Bilder, Gleichnisse usw. über Gottes höchstes Wesen uns ausdrücken, ohne daß hierdurch die Unbegreiflichkeit Gottes in Frage gestellt und die Wahrheit unserer Ausdrucksweise beeinträchtigt wird. Gottes Natur ist also unaussprechlich, Gott kann, so wie er in sich ist, nicht durch Worte ausgedrückt werden. Zugleich ist das, was wir von Gott durch Bilder reden, keineswegs unrichtig. Wenn nun Gott durch Bilder, durch seine Geschöpfe erkannt wird, so wird dieses schöpferische Gotteswesen, dieses Vorbild alles Geschaffenen, um so tiefer und innerlicher erkannt, je näher das Bild, das Geschöpf, wodurch Gott erkannt wird, seinem Wesen steht. Nun ist aber unter der Fülle des Geschaffenen der vernunftbegabte Geist es allein, der zur Ergründung des Göttlichen sich zu erheben vermag. Zugleich aber ist der vernunftbegabte Geist durch seine Natur am meisten Gottes Ebenbild, steht Gott am nächsten. Es ergibt sich hieraus ganz klar, daß der vernünftige Geist zu einer um so intensiveren Gotteserkenntnis sich emporschwingt, je mehr er in sein eigenes Wesen sich versenkt, je mehr er sich verinnerlicht. Der Menschengeist ist sich selbst ein Spiegel, in welchem er das Bild desjenigen betrachtet, den er von Angesicht zu Angesicht nicht zu schauen vermag1. 1 „Sie ergo illa natura et ineffabilis est; quia per verba, sicuti est, nullatenus valet intimari; et falsum non est, si quid de illa, ratione docente, per aliud vel in aenigmate potest aestimari" (Monolog, c. 65; M., P. L. CLVIII 212). — „Procul dubio itaque tanto altius creatrix essentia cognoscitur, quanto per propinquiorem sibi creaturam indagatur. . . . Patet igitur quia sicut sola est mens rationalis inter omnes creaturas, quae ad eius investigationem assurgere valeat, ita nihilominus eadem sola est, per quam maxime ipsamet ad eius inventionem proficere valeat. Nam, iam cognitum est quia haec illi maxime per naturalis essentiae propinquat similitudinem. Quid igitur apertius, quam quia mens rationalis quanto studiosius ad se discendum intendit, tanto efficacius ad illius cognitionem ascendit; et quanto seipsam intueri negligit, tanto ab eius speculatione descendit?" (Ebd. c. 66; 212—213.) — „Aptissime igitur ipsa sibimet esse velut speculum dici potest, in quo speculetur, ut ita dicam, imaginem eius, quem facie ad faciem videre nequit" (ebd. c. 67; 213).
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Anselm von Canterbury hat zur Verdeutlichung des geheimnisvollen, innertrinitarischen, göttlichen Lebens die Vorgänge im Innern der Menschenseele benützt, er hat das trinitarische Bild in der Menschenseele in markanten Zügen gezeichnet und ist an der Hand dieser Analogie der Vorgänge im menschlichen Geiste zu einer tief spekulativen Betrachtung und Darlegung des Trinitätsmysteriums gelangt1. Anselms Darstellung und Verwertung der trinitarischen Signatur der Menschenseele ist wesentlich augustinisch2. K u h n 3 bemerkt mit Recht: „Die augustinische Nachweisung der göttlichen Trinität aus der Analogie des menschlichen Geistes hat durch Anselm von Canterbury eine schärfere Begrenzung und planmäßigere Ausführung erfahren." Diese Adaptierung und prägnante Formulierung der psychologischen Trinitätstheorie Augustins durch Anselm von Canterbury hat ohne Zweifel viel zur Verbreitung und Einbürgerung derselben in der Früh- und Hochscholastik beigetragen4. So haben die Sentenzenkommentare in Sent. 1, dist. 3 das Bild des dreieinigen Gottes in der Menschenseele zum Gegenstand eingehender Untersuchungen und zum Ausgangspunkt tiefsinniger, trinitarischer Spekulation gemacht. Thomas von Aquin steht in seiner diesbezüglichen Darstellung „prinzipiell auf demselben Boden mit Anselm"5. Diese Verwertung der Vorgänge des menschlichen Seelenlebens zur Verdeutlichung des Trinitätsmysteriums ist ein Typus des Verfahrens, die übervernünftigen Glaubenswahrheiten überhaupt durch geschöpfliehe Analogien unserem Denken näherzubringen. Es ist dieses Verfahren sowohl der Patristik wie der Scholastik eigen. Es gehen hier Origenes, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, 1
Vgl. Monolog, c. 33 (M., P. L. CLVIII 188). Ebd. c. 3 9 - 4 1 ; 192 ff. Aug., De Trinit. 1. 9, c. 12, n. 18. Vgl. ebd. 1. 14, c. 8, n. 11; ebd. 1. 15, c. 7, n. 11; De Civit. Dei 1. 11, c. 26. Sehr prägnant De Trinit. 1. 15, c. 6, n. 10: „Sie enim et in nomine invenimus trinitatem, id est mentem, et notitiam, qua se novit, et dilectionem, qua se diligit." Eine kurze Darstellung der augustinischen Trinitätslehre geben K u h n , Katholische Dogmatik II 596—602; S c h w a n e , Dogmengeschichte II: Patristische Zeit2 188—194; L o o f s , Leitfaden der Dogmengeschichte 364 ff; So ü b e n , Nouvelle Theologie dogmatique II, Paris 1903, 108—114. 3 A. a. 0. 602. 4 „Depuis 1e XIII e siecle, eile (1a theorie augustinienne) regne sans rivale dans l'enseignement de l'Ecole, et il n'est que juste de rappeler ici l'influence preponderante que les ecrits de saint Anselme ont exerce en sa faveur* (Soüben a. a. O. 114). 5 K u h n a. a. 0. Vgl. S. T h o m a s , S. c. Gent. 1, 11; S. th. l r q. 43, a. 6. 2
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Basilius und die beiden Cyrille, Hilarius und Augustinus dieselben Bahnen wie Anselm, die Viktoriner, Alexander von Haies, Bonaventura, Albert d. Gr. und Thomas von Aquin *. Es handelt sich hier um eine wesentliche Funktion der scholastischen Methode, um eine hervorragende Betätigung der tides quaerens intellectum, die ein Gemeingut der patristischen und scholastischen Spekulation bildet. Die Konvenienzgründe, die rationes theologicae der Scholastiker erweisen sich bei näherer, geschichtlicher Analyse meist als patristische Gedanken, wenn auch in den Zeiten der Hochscholastik aristotelische und arabische Ideen auf die Gestaltung der theologischen Vernunftbeweise erheblich eingewirkt haben. Um nur auf einige scholastische Erklärungen des Übernatürlichen durch natürliche Analogien hinzuweisen, so hat z. B. der hl. Thomas die übernatürliche Gnadenausstattung der Seele durch Hinweis auf das natürliche Kräftesystem der Seele, fernerhin die Notwendigkeit und Konvenienz der Sakramente durch den Parallelismus mit dem Entwicklungsgange und den Erfordernissen des natürlichen, individuellen wie sozialen Lebens dargetan. Anselm von Canterbury hat namentlich durch Exposition des Trinitätsdogmas unter Anlehnung an das menschliche Seelenleben sein Programm „fides quaerens intellectum" großzügig verwirklicht und der folgenden Früh- und auch Hochscholastik den Weg gezeigt, auf dem eine rationelle Einsicht in den Offenbarungsinhalt erreichbar ist. Anselm hat unter dem Einflüsse der Patristik, besonders Augustins, einer spekulativen Behandlung der Dogmen in der Scholastik Bahn gebrochen. Die von Anselm aus Augustinus entnommene Lehre, daß der Menschengeist Gottes Ebenbild sei, daß in den drei Grundkräften der einen Menschenseele sich die göttliche Trinität widerspiegle, hat nicht nur spekulativen Wert, indem sie den Weg zur Gotteserkenntnis weist, sie hat auch eine praktische, eine ethische und aszetische Bedeutung, indem gerade diese Lehre den Christen zur Einkehr in 1 Vgl. J a n s s e n s , De Deo trino 396 ff. Diese Kontinuität zwischen Scholastik und Patristik zeigt sich auch darin, daß die scholastische Theologie ihre Tiefe und Inhaltlichkeit solange wahrte, als sie in die patristischen Gedankengänge sich vertiefte, und daß die Scholastik den Schwerpunkt von der inhaltlichen Seite auf die formelle Seite verlegte und in übertriebene Dialektik und endlose Begriffsspalterei ausartete und damit auch dem Verfall entgegenging, sobald sie dem befruchtenden Einfluß großer Vätergedanken sich mehr und mehr entzog. D e n i f l e (Chartularium Univ. Paris. III ix) findet diese Tatsache auch bestätigt durch Abnehmen der Väterhandschriften in der Zeit des Verfalls und durch inhaltliche Sterilisierung der Scholastik.
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sich selbst und zur Ausgestaltung dieses Gottesbildes im eigenen Innern mahnt. Die vernünftige Kreatur soll ihr ganzes Können und Streben darauf hinrichten, daß sie an das höchste Gut, nach dessen Bild und für das sie geschaffen, sich erinnere, dasselbe erkenne und liebe1. Anselm steht mit dieser aszetisch-mystischen Verwertung der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Menschenseele in inniger Fühlung mit Augustin, der zur Rückkehr in das eigene Herz, wo das Bild Gottes ist, mahnt. Desgleichen spricht hier Anselm einen Gedanken aus, den auch die Mystik des Mittelalters sich angeeignet hat. Scholastik und Mystik reichen sich hier bei Anselm die Hand. Die Verinnerlichung, das Betrachten des Gottesbildes im eigenen Herzen drängt und führt auch zur Selbstheiligung, zur ethischen Reinheit, dem zweiten Mittel, das zum intellectus fidei führt. b) E t h i s c h e R e i n h e i t und S e l b s t h e i l i g u n g . In scharf pointierter Weise betont Anselm im zweiten Kapitel seiner gegen Roscelin gerichteten Schrift „De fide Trinitatis"2 die Notwendigkeit einer entsprechenden ethischen Disposition für die Ergründung der Geheimnisse Gottes. Er will hier den Hochmut derjenigen zurückweisen, die in frivoler Leichtfertigkeit es wagen, gegen etwas, was der christliche Glaube lehrt, zu disputieren, weil sie es mit ihrem Verstande nicht fassen können und weil sie in ihrem Wissensdünkel meinen, nie und nimmer könne das existieren, was sie nicht begreifen, anstatt daß sie mit Demut und Weisheit bekennen, daß es vieles geben könne, was sie nicht zu begreifen vermögen3. Anselm stellt diesem verkehrten Verfahren gegenüber folgenden Grundsatz auf: „Kein Christ darf darüber disputieren, wie etwas, was die katholische Kirche innerlich glaubt und nach außen bekennt, n i c h t ist. Vielmehr soll der Christ diesen katholischen 1
Das 68. Kapitel des „Monologium" ist diesem Gedanken gewidmet. „Consequi itaque videtur quod rationalis creatura nihil tantum debet studere, quam hanc imaginem sibi per naturalem potentiam impressam, per voluntarium effectum exprimere. . . . Ciarum est ergo rationalem creaturam, totum suum posse et velle ad memorandum, et intelligendum, et amandum summum bonum impendere debere, ad quod ipsum esse suum se cognoscit habere" (M., P. L. CLVIII 211). 2 De fide Trinitatis et incarnatione Verbi contra blasphemias Ruzelini sive Roscelini c. 2 (M., P. L. CLVIII 263—265). 3 „Aliquid praemittam ad compescendam eorum praesumptionem qui nefanda temeritate audent disputare contra aliquid eorum, quae fides christiana confitetur, quoniam id intellectu capere nequeunt: et potius insipienti superbia iudicant nullatenus posse esse, quod nequeunt intelligere quam humili sapientia tateantur esse multa, quae ipsi non valeant comprehendere" (ebd. 263).
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Glauben, ohne zu zweifeln, festhalten, lieben und zur Lebensrichtschnur nehmen. Erst dann kann er demütigen Sinnes sich die Frage vorlegen, wie dieses Glaubensgeheimnis zu verstehen ist. Gewinnt er Einsicht in den Glaubensinhalt, so danke er Gott, gewinnt er eine solche Einsicht nicht, so beuge er in Demut sein Haupt und verehre das Geheimnis1. Anselm entwirft hierauf eine Schilderung von dem verkehrten Verfahren derjenigen, die in eitlem Wissensdünkel ohne die entsprechende sittliche Reife an die Erforschung des Göttlichen sich heranwagen. Es gibt manche, so führt er aus, die nicht wissen, daß jemand, der etwas zu wissen meint, noch nicht weiß, wie er es wissen muß, die aber trotzdem, bevor sie durch Glaubensfestigkeit und Glaubensüberzeugung die Fittiche erlangt, den Höhenflug zu den erhabensten und schwierigsten Fragen über die Glaubenswahrheiten wagen. Die Folge davon ist, daß sie, während sie zu den Höhen der Wahrheit mit ihrer natürlichen Geisteskraft, ohne dem Wort der Schrift gemäß (Is 7, 9) die Leiter des Glaubens zu benützen, sich zu erheben suchen, durch das Versagen ihrer Denkenergie in den Abgrund mannigfacher Irrtümer herabgeschleudert werden. Es ist offensichtliche Tatsache, daß jene nicht die Festigkeit des Glaubens besitzen, welche deshalb, weil sie den Glaubensinhalt nicht einsehen, gegen die von den heiligen Vätern erhärtete Glaubenswahrheit disputieren. Es nimmt sich das gerade so aus, als wenn die Fledermäuse und Nachteulen, die nur zur Nachtzeit den Himmel sehen, mit dem Adler, dessen scharfer Blick in die Sonne schaut, einen Disput über die Natur der Mittagssonnenstrahlen anfangen würden 2. 1
„Nullus quippe Christianus debet disputare, quomodo quod Ecclesia cathelica corde credit et ore confitetur, nonsit; sed semper eamdem fidem indubitanter tenendo, amando et seeundum illam vivendo, humiliter quantum potest quaerere rationein, quomodo sit. Si potest intelligere, Deo gratias agat; si non potest, non immittat cornua ad ventilandum, sed submittat caput ad venerandum" (ebd.). 2 „Solent enim quidam, cum coeperint quasi cornua confidentis sibi scientiae producere nescientes quod si quis existimat se scire aliquid, nondum cognovit quemadmodum oporteat eum scire, antequam habeant per soliditatem fidei alas spirituales, praesumendo in altissimas de fide quaestiones assurgere. Unde fit ut, dum ad 111a, quae prius fidei scalam exigunt, sicut scriptum est: ,Nisi credideritis, non intelligetis* (Is 7, 9), praepostere prius per intellectum conantur ascendere, multimodos errores per inteliectus defectum cogantur descendere. Palam namque, est quia illi non habent fidei firmitatem, qui, quoniam quod credunt intelligere non possunt, disputant contra eiusdem fidei a sanetis Patribus confirmatam veriGrabmann, Scholastische Methode. I.
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Diesem verkehrten Verfahren gegenüber stellt nun Anselm die Vorbedingungen zu einem richtigen Verständnis der Heilswahrheiten in folgender Weise fest: Vorerst ist das Herz durch den Glauben zu reinigen, sind die Augen des Geistes durch treue Beobachtung des göttlichen Gesetzes zu erleuchten. Vorerst müssen wir durch demütige Hinnahme der Zeugnisse Gottes Kinder werden, Kindessinn annehmen, auf daß wir Weisheit lernen gemäß dem Worte des Psalmisten: „Das Zeugnis des Herrn ist getreu und gibt Weisheit den Kleinen" (Ps 18, 8). Wir müssen zuerst das, was fleischlich ist, hintansetzen und nach dem Geiste leben, bevor wir die Tiefen des Glaubens erforschen und ergründen wTollen; denn „der sinnliche Mensch faßt nicht, was des Geistes Gottes ist; der Geistige aber beurteilt alles" (1 Kor 2, 14 15). Je getreuer \vir die Tugendvorschriften der Heiligen Schrift befolgen, eine desto erhabenere und tiefere Erkenntnis der in der Heiligen Schrift enthaltenen Geheimnisse dürfen wir erhoffen1. Die Notwendigkeit dieser ethischen Vorbedingungen zum intellectus fidei, zur Einsicht in den Glaubensinhalt begründet Anselm positiv also: Wer nicht glaubt, der wird diese Einsicht in die Offenbarungswahrheit nicht haben. Denn wer nicht glaubt, der wird diese Wahrheit nicht erleben, und wer sie nicht erlebt, wird sie auch nicht verstehen. Wie die eigene unmittelbare Erfahrung das bloße Hören von einer Sache weit überragt, so übertrifft auöh das Wissen der Erfahrung, des Erlebens weit ein nur durch Hören erlangtes Wissen2. Negativ erweist Anselm die Notwendigkeit dieser tatem; velut si vespertiliones et noctuae nonnisi in nocte coelum videntes, de meridianis solis radiis disceptent contra aquilas solem ipsum irreverberato visu, intuentes* (M., P. L. CLVIII 263—264). 1 „Prius ergo fide mundandum est cor, sicut dicitur deDeo: ,Fide mundans corda eorum' (Act 15, 9) et prius per praeceptorum Domini custodiam illuminandi sunt oculi, quia ,praeceptum Domini lucidum illuminans oculos' (Ps 18, 9); et prius per humilem obedientiam testimoniorum Dei debemus fieri parvuli, ut discamus sapientiam, quam dat Testimonium Domini fidele, sapientiam praestansparvulis* (Ps 18, 8). . . . Prius, inquam, ea quae carnis sunt postponentes, secundum spiritum vivamus quam profunda fidei diiudicando discutiamus . . . Verum enim est quia quanto opulentius nutrimur in Sacra Scriptura ex his quae per obedientiam pascunt, tanto sublimius provehimur ad ea, quae per intellectum satiant* (ebd. 264). 2 „Nimirum hoc ipsum quod dico, qui non crediderit, non intelliget. Nam qui non crediderit, non experietur; et qui exportus non fuerit, non intelliget. Nam quantum rei auditum superat experientia, tantum vincit audientis cognitionem, experientis scientia" (ebd.).
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ethischen Ausrüstung für eine segensvolle theologische Spekulation aus den Konsequenzen, die aus dem Mangel solch sittlich-religiöser Lebensauffassung sich ergeben. Es ist eine von eitlem Wissensdünkel geleitete, nicht von Glaubensinnigkeit und treuer Beobachtung der göttlichen Gebote beseelte Erforschung des Göttlichen verhängnisvoll, indem nicht bloß die höhere Erkenntnis verhindert und entzogen wird, sondern mitunter auch bei solcher Hintansetzung der Reinheit des Gewissens das Gut des Glaubens verloren geht1. Wie treu Anselm selbst diese ethischen Vorbedingungen, die Glaubensfreiidigkeit und Glaubensinnigkeit, die überzeugungsvolle Hingabe und Weihe seines ganzen Selbst an Gott und Gottes Gebote, diese edle, lautere Gesinnung in seinem eigenen wissenschaftlichen Arbeiten erfüllt hat, davon geben nicht bloß seine Homilien, Meditationen und Gebete, sondern auch seine streng wissenschaftlichen Werke Zeugnis. Anselms Spekulation atmet die Innigkeit tiefen, religiösen Empfindens, seine Gedankengänge haben die Eigenart des religiös Erlebten an sich2. So schließt er sein „Proslogium" mit einem inbrünstigen Gebete. Mit dieser religiösen Innerlichkeit und Innigkeit verbindet sich bei Anselm auch aufrichtige Demut, edle Bescheidenheit. Er ist sich der Grenzen des menschlichen Wissens wohl bewußt, er ist kein Freund von unnützen Subtilitäten, sein theologisches Forschen ist ein sapere ad sobrietatem. Er ist auch gerne bereit, Belehrung und Verbesserung anzunehmen. Belege hierfür sind die Schlußsätze seiner Schrift „Cur Deus homo" und seiner Verteidigungsschrift gegen Gaunilo3. 1 „Et non solum ad intelligendum altiora prohibetur mens ascendere sine fide et mandatorum Dei obedientia, sed etiam aliquando datus intellectus subtrahitur, et fides ipsa subvertitur, neglecta bona conscientia* (ebd.). 2 Sehr treffend schildert T r i c a l e t u s (Bibliotheca manualis ecclesiae Patrum VIII, Venetiis 1783, 85) diese Eigenart von Anselms Theologie: „Ex S. Anselmi scriptis et operibus manifeste elucet, ipsum peritum fuisse philosophum, acutum metaphysicum expertumque theologum. Lectores ex illorum lectione ediscere possunt viam solidam et exactam ratiocinandi et supra sensus se attollendo gustare veritates tantummodo intellectuales et obiecta fidei christianae. Sublimis est in suis cogitationibus, acutus et subtilis in ratiocinationibus, humilis tarnen et modestus in proponendis, quare sublimitatem scientiae cum virtutis splendore mire coniungit." 3 „Si quid diximus quod corrigendum sit; non renuo correctionem, si rationabiliter lit. Si autem testimonio veritatis roboratur quod nos rationabiliter invenisse existimamus, Deo, non nobis attribuere debemus, qui est benedictus in saecula. Amen" (Cur Deus homo 2, c. 20; M., P. L. CLVJII 432). — „Gratias ago benignitati tuae et in reprehensione et in laude oj)usculi mei. Cum enim ea, 19*
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Anselm steht in seiner nachdrücklichen Betonung der ethischen Reinheit und Selbstheiligung als Vorbedingung fruchtreicher, theologischer Spekulation auf augustinischem Boden1. Er hat damit zugleich auch der Früh- und Hochscholastik einen fundamentalen, methodischen Grundsatz an die Hand gegeben. Diejenigen Denker der Scholastik, welche ihre wissenschaftliche Lebensaufgabe unter diesem übernatürlichen ethischen Gesichtspunkte ins Auge faßten und mit Glaubensfreudigkeit, Seelenreinheit und Demut an die Ergründung der göttlichen Mysterien herantraten, waren zugleich auch die Repräsentanten eines inhaltlichen und methodischen Fortschrittes in der mittelalterlichen philosophischen und theologischen Spekulation. Übertriebene Dialektik und Sucht nach Subtilitäten liebten diese Denker nicht. Es tritt uns diese Hochhaltung des ethischen Momentes entgegen in den Schriften eines Rupert von Deutz und Bernhard von Clairvaux, eines Hugo und Richard von St Viktor, eines Wilhelm von Auxerre und Wilhelm von Auvergne, eines Alexander von Haies, Bonaventura und Matthäus von Aquasparta, eines Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Der nähere geschichtliche Nachweis hierfürwird bei der Darstellung derEntwicklungsphasen der scholastischen Methode in der Früh- und Hochscholastik zu erbringen sein. Die Außerachtlassung dieses übernatürlich ethischen Motivs ging mit dem Überhandnehmen übertriebener Dialektik und endloser Streitigkeiten Hand in Hand und bereitete den Niedergang der Scholastik vor. Es ist deshalb begreiflich, wenn in den Zeiten, da die mittelalterliche Scholastik ihren Zenit bereits überschritten hat, die Klagen über die curiositas, über die Vorliebe der Theologen für Spitzfindigkeiten immer häufiger uns begegnen. Ein kräftiges Beispiel solch einer Klage ist der in der Pariser Nationalbibliothek handschriftlich erhaltene „Libellus de fide contra vanos curiosos philosophos" des Franziskaners S e r v u s D e i 2 . quae tibi digna susceptione videntur, tanta laude extulisti, satis apparet, quia quae tibi infirma visa sunt, benevolentia. non malevolentia reprehendisti" (Liber apolog. contra Gaunilonem c. 10; M., P. L. CLVIII 260). Belege von Anselms Bescheidenheit sind auch seine Briefe. Vgl. 1. 1, ep. 63 68; 1. 2, ep. 11 (M., P. L. CLVIII 1134 1138 1159). 1 S. A u g u s t i n u s , De Trinit. 1, c. 1, n. 3; ebd. 14, c. 1, n. 3. Sehr viele augustinische Belegstellen bei Z ä n k e r , Der Primat des Willens vor dem Intellekt bei Augustin. 2 Biblioth. nat. Nouv. acqu. lat. 259. Vgl. über diese Handschrift auch D e l i s l e , Melanges de Paleographie et de Bibliographie, Paris 1880, 489 ff.
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Anselm von Canterbury hat die Notwendigkeit ethischer Reinheit für die Gewinnung einer rationellen Einsicht in den Glaubensinhalt auch deshalb so nachdrücklich und eindringend betont, weil die übertriebenen. Dialektiker seiner Zeit, die Nominalisten, ohne diese ethische Ausrüstung an die Ergründung des Göttlichen herantraten. c. Ablehnung des Nominalismus. Anselm und Roscelin. In unmittelbarem Anschluß an die soeben entwickelten Äußerungen über die Notwendigkeit ethischer Reinheit für die theologische Spekulation nimmt Anselm im zweiten Kapitel seiner Schrift „De fide Trinitatis et incarnatione Verbi"x gegen den Nominalismus Roscelins in scharf ablehnender Weise Stellung. „Wenn schon alle zu mahnen sind", so führt er aus, „daß sie mit zartester Vorsicht an die Fragen der Heiligen Schrift herantreten, dann sind die Dialektiker unserer Zeit oder vielmehr die Häretiker der Dialektik, welche die universellen Substanzen bloß für leeren Wortschwall halten, welche in ihrem Denken die Farbe nicht vom Körper und die Weisheit nicht von der Seele trennen können, ganz und gar von der wissenschaftlichen Erörterung übernatürlicher Fragen fernzuhalten. Bei diesen übertriebenen Dialektikern ist die Vernunft, die doch alles im menschlichen Seelenleben beherrschen, richten und schlichten muß, so sehr in die sinnlichen Phantasievorstellungen hineingetaucht, so sehr von denselben beherrscht, verhüllt und verdunkelt, daß sie sich davon nicht loszumachen und das, was rein für sich von dem vernünftigen Denken betrachtet werden muß, aus diesen Phantasievorstellungen nicht herauszuheben vermag. Wer nämlich nicht einsieht, wie mehrere Menschen in der Spezies ein Mensch sein können, wie wird der bei der Betrachtung des erhabensten und unbegreiflichsten göttlichen Wesens nur einigermaßen erfassen können, wie drei Personen, von denen jede vollkommener Gott ist, ein Gott sind? Und wird derjenige, dessen Geist nicht das Pferd und die Farbe des Pferdes zu unterscheiden vermag zwischen dem einen Gott und der Mehrzahl von Relationen in Gott unterscheiden können ? Wer im Menschen nur das Individuum als etwas Reales erkennt, der wird notwendig unter einem Menschen immer nur die menschliche Person verstehen, denn 1
Über diese Streitschrift Anselms siehe E a d m e r , S. Anselmi Vita 1. 1, n. 10 (M., P. L. CLVIII 84); C e i l l i e r , Histoire generale des auteurs sacr^s et ecclesiastiques XIV 11; B a i n v e l , Artikel „Anselme" in Dictionnaire de th&>logie catholique I 1330 ff.
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jeder individuelle Mensch ist eine menschliche Person. Ein solcher wird nicht erfassen können, wie bei der Menschwerdung vom Sohne Gottes nicht eine menschliche Person, sondern die menschliche Natur angenommen wurde." 1 Nach dieser allgemeinen Konstatierung des Einflusses des Nominalismus auf die Trinitäts- und Inkarnationslehre erbringt er im weiteren Verlaufe seiner Streitschrift zunächst den Nachweis, daß die christliche Trinitätslehre keine Dreiheit von Göttern bedingt, daß in Gott zwar tres res personales sind, jedoch nur una res essentialis ist. In Bezug auf die Inkarnationslehre stellt er fest, daß aus der Wesenseinheit der drei göttlichen Personen keineswegs die Menschwerdung aller drei Personen sich ergeben müsse, und daß umgekehrt die Menschwerdung lediglich einer göttlichen Person keineswegs die Einheit der göttlichen Natur in den drei Personen aufhebe. Den tiefsten Grund hierfür, daß die Menschwerdung der einen göttlichen Person keineswegs eine Inkarnation der andern göttlichen Personen bei Voraussetzung der Natureinheit der göttlichen Personen zur Folge haben müsse, findet Anselm von Canterbury darin, daß die menschliche Natur mit der göttlichen nicht zu einer Natur, sondern zu einer Person in der Inkarnation sich vereinigt hat 2 . Auch in 1
Cumque omnes, ut cautissime ad sacrae paginae quaestiones accedant, sint commovendi: illi utique nostri temporis dialectici (immo dialectice haeretici, qui non nisi flatum vocis putant esse universales substantias, et qui colorem non aliud queunt intelligere quam corpus, nee sapientiam hominis aliud quam animam) prorsus a spiritualium quaestionum disputatione sunt exsufflandi. In eorum quippe animabus ratio, quae et prineeps et iudex omnium debet esse quae sunt in nomine, sie est in imaginationibus corporalibus obvoluta, ut ex eis se non possit evolvere nee ab ipsis ea, quae ipsa sola et pura contemplari debet, valeat discernere. Qui enim nondum intelligit quomodo plures homines in specie sint unus homo; qualiter in illa secretissima et altissima natura comprehendet quomodo plures personae, quarum singula quaeque est perfectus Deus, sint unus Deus? Et cuius mens obscura est ad discernendum inter equum suum et colorem eius, qualiter discernet inter unum Deum et plures relätiones eius? Denique qui non potest intelligere aliquid esse hominem nisi individuum nullatenus intelliget hominem nisi humanam personam. Omnis enim individuus homo persona est, Quomodo ergo iste intelliget hominem assumptum ssse a Verbo, non personam, id est aliam naturam, non aliam personam esse assumptam? (De fide Trinitatis c. 2; M., P. L. CLVIII 265.) 2 Während in Kapitel 3 in äußerst scharfsinniger und schlagfertiger Weise der Tritheismus Roscelins widerlegt ist, beginnt mit Kapitel 4 die kritische Analyse der mit dem Tritheismus Hand in Hand gehenden schiefen Vorstellungen seines Gegners auf dem Gebiete der Inkarnationslehre. Speziell das Kapitel 6 ist dem Nachweis „quomodo in Christo non sunt duae personae, sicut sunt duae naturae" gewidmet.
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seinen Briefen1 kommt Anselm auf Roseelins Lehre, daß in Gott entweder die drei Personen als drei voneinander getrennte Realitäten nach der Analogie von drei Engeln sich finden und nur eine moralische Einheit des Willens und der Macht bilden oder eine Inkarnation nicht bloß des Sohnes, sondern auch des Vaters und des Heiligen Geistes angenommen werden muß, nachdrucksam zu sprechen und verwahrt sich namentlich in einem Briefe an Falko2 gegen die Unterstellung, daß er (Anselm) selbst und sein Lehrer Lanfrank ähnliche irrige Theorien vertreten hätten. Bevor wir diese energische Stellungnahme gegen die mit dem Namen Roseelins von Compiegne in Verbindung stehenden, philosophischen und namentlich theologischen Anschauungen nach ihrer Bedeutung für Anselms Methode und für den Entwicklungsgang der scholastischen Methode überhaupt näher charakterisieren und würdigen können, müssen wir zuerst ein Wort sowohl über die Eigenart des von Anselm bekämpften Nominalismus wie auch über die Beschaffenheit des von ihm vertretenen Realismus reden. Wir müssen diese Voruntersuchungen über Anselms Standpunkt in der Universalienfrage um so mehr anstellen, als in der Beurteilung desselben vielfache Differenzen zu Tage getreten sind. Selbstverständlich kommt die Entwicklung der Universalienfrage hier nur insoweit für unsere Darlegungen in Betracht, als Anselms Auffassung, seine Methode und die scholastische Methode überhaupt hierdurch berührt und beeinflußt sind. Die im Verlaufe des 12. Jahrhunderts zu Tage getretenen Wandlungen und Richtungen des Universalienproblems kommen selbstverständlich hier noch nicht in Betracht. Das Interesse der mittelalterlichen Spekulation für die Universalienfrage, die im Grunde so alt ist als die Philosophie selbst und deren typische Lösungen, wenigstens der Hauptsache nach, in der antiken Philosophie vertreten sind, knüpft sich zu einem guten Teil an eine Stelle der schon der vorscholastischen Periode durch die Übersetzung des Boethius bekannten „Isagoge" des Porphyrius3. Dieser stellt die Frage, ob die Gat1
L. 2, ep. 35 41 51 (M., CLVIII 1187 1192 1206). L. 2, ep. 41. In diesem Briefe drückt er Roseelins Lehre kurz und prägnant also aus: „Audio (quod tarnen absque dubietate credere non possum) quia Roscelinus clericus dicit in Deo tres personas esse tres res ab invicem separatas, sicut sunt tres angeli, ita tarnen ut una sit voluntas et potestas: aut Patrem et Spiritum Sanctum esse incarnatum, et tres deos vere posse dici si usus adraitteret." 3 Über die nähere Entwicklung des Universalienproblems in der Vorscholastik siehe Darlegung, Quellen und Literatur bei Ü b e r w e g - H e i n z e . 2
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tungen und Arten wirklich existieren oder nur in leeren Vorstellungsbildern bestehen, ob sie, falls sie existierten, körperlich oder unkörperlich sind, und ob sie getrennt von den sinnfälligen Dingen oder in und an denselben ihr Dasein haben1. Boethius, der Übersetzer und Kommentator des Porphyrius und Aristoteles zugleich, hat durch die Zusammenfassung der Begriffe Gattung und Art nach ihrer logischen Seite unter dem Namen „universale" (der lateinischen Übertragung des1 aristotelischen XOMAOD) für die seit Cousin in ihrer Bedeutung für den Werdegang der scholastischen Spekulation vielfach überschätzte Universalienkontroverse die technische Benennung bereitgelegt. Boethius hat auch in der Erörterung seines zweiten Isagogekommentars zu den eben aufgeführten Fragen die Ansicht der aristotelischen Schule des späteren Altertums niedergelegt und damit eine aristotelisch-boethianische gemäßigte Richtung in der Universalienfrage eingeleitet. Diese aristotelisch-boethianische Richtung hat in der voranselmianischen Zeit hauptsächlich in den Kommentaren zur „Isagoge" des Porphyrius, so in dem Kommentar des sog. Jepa und in einem von Prantl fälschlich einem Schüler des Rhabanus zugeschriebenen, wahrscheinlich aber erst aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammenden Isagogekommentar eine Vertretung und teilweise auch eine Modifizierung erfahren 2. Außer dieser aristotelisch-boethianischen Richtung verschaffte sich in der Vorscholastik auf dem Gebiete der Universalienlehre eine platonistische Auffassung, die auf dem Piatonismus bzw. Neuplatonismus beruht, Geltung. Dieselbe tritt uns in einer extremen Form besonders bei Scotus Eriugena, in einer gemäßigten Form bei ReGrundriß der Geschichte der Philosophie II 9 170ff; De W u l f , Histoire de 1a Philosophie me'die'vale2 161—173; W i l l n e r , Des Adelard von Bath Traktat de eodem et diverso, Münster 1903, 51 ff; R e i n e r s , Der aristotelische Realismus in der Frühscholastik. Ein Beitrag zur Geschichte der Universalienfrage im Mittelalter, Aachen 1907. Trotz der umfassenden Literatur ist ein scharfes, befriedigendes Bild von dem wirklichen geschichtlichen Verlauf des Universalienstreites in der Vorscholastik und auch in der Frühscholastik noch nicht herausgearbeitet. Die Verdienste der für die Geschichtschreibung der Universalienfrage so einflußreichen französischen Forscher W. Cousin und B. Haure"au beruhen mehr auf der Edition von einschlägigen ungedruckten Texten wie auf der Beurteilung und richtigen Interpretation des gedruckten wie ungedruckten Materials. Vgl. B ä u m k e r , in Archiv für Geschichte der Philosophie X (1897) 133 f. 1 Über die Bedeutung des Porphyrius und des Boethius für die Universalienlehre siehe R e i n e r s a. a. 0. 5—13. 2 Ebd. 14 ff.
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inigius von Auxerre und Odo von Cluny entgegen *. Der Nominalismus begegnet uns in den Marginalnoten des Heiricus von Auxerre zu der pseudo-augustinischen Schrift „Categoriae"2. In dem von Haureau mitgeteilten Text Heiricus' finden sich Wendungen, die an die oben angeführten Mitteilungen Anselms über den Nominalismus Roscelins erinnern3. Der Nominalismus Roscelins hängt wohl mit den hyperdialektischen Tendenzen des 11. Jahrhunderts innig zusammen und scheint eine Abzweigung der aristotelisch-boethianischen Richtung in der Universalienlehre zu sein. Ob der Nominalismus Roscelins sein originelles Werk ist oder ob und inwieweit die Genesis des Nominalismus in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts mit Johannes Sophista als eventuellem Vorgänger Roscelins4 in Beziehung steht, darüber hier zu entscheiden ist wegen Mangels an Quellen — wir haben von Johannes Sophista gar kein literarisches Produkt und von Roscelin nur einen für diesen Zweck belanglosen Brief — nicht gut möglich und ist schließlich für die Charakteristik der Stellungnahme Anselms zu Roscelin auch nicht notwendig. Welches ist nun die Eigenart, das Wesen des von Anselm so energisch bekämpften Nominalismus Roscelins?5 Es bestehen hier1
W i l l n e r a. a. 0. 51. Ebd. 52. Ü b e r w e g - H e i n z e a. a. 0. 173. 3 H e i r i c u s von A u x e r r e : „Si quis dixerit album et nigrum absolute sine propria et certa substantia, in qua continetur, per hoc non poterit certam rem ostendere, nisi dicat albus homo vel equus aut niger" ( H a u r e a u , Hist. de 1a philos. scol. I 192). — A n s e l m : „Et cuius mens obscura est ad discernendum inter equum suum et colorem eius, qualiter discernet inter unum Deum et plnres relationes eius?" (De fide Trinit. c. 2; M., P. L. CLVII1 265.) 4 Vgl. C l e r v a l , Les ecoles de Chartres au moyen-äge 70 120. 5 Über Roscelin und Anselms Stellung zu demselben siehe Ü b e r w e g H e i n z e a. a. 0. 180—183. Außer der dortselbst angegebenen Literatur vgl. noch M i g n o n , Les origines de 1a scolastique et Hugues de Saint-Victor I, Paris 1895, 58; S c h w a n e , Dogmengeschichte der mittleren Zeit 152 ff; L o o f s , Leitfaden der Dogmengeschichte4 499 ff; H a r n a c k , Dogmengeschichte4 328; Lehrbuch der Dogmengeschichte III 3 336 A. 3 u. 468; De R e g n o n , Etudes positives sur 1a s. Trinite II 59—65; Dornet d e V o r g e s , Saint Anselme 141 bis 167; V a n W e d d i n g e n , Essai critique sur 1a philosophie da St Anselme de Canterbury 191—242; K a i s e r , Pierre Abelard Critique 211—214; S c h m i d l i n , Bischof Otto von Freising als Theologe, in Katholik 1905, 165; Die Philosophie Ottos von Freising, in Philos. Jahrbuch 1905, 316; Artikel „Roscelin" in RE. 3 XVII 137—143; A d l h o c h , Roscelin und St Anselm, in Philos. Jahrbuch 1907, 442—456; E. B o n a i u t i , Un Filosofo della contingenza nel secole XI Roscellino di Compiegne, in Revista storico-critica delle scienze teologiche 1908, 195—212. 2
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über verschiedene Deutungen und Anschauungen. So ist H a u c k 1 der Ansicht, daß Anselm die Theorie Roscelins karikiert hat, „wie wenn dieser eigentlich dem gröbsten Sensualismus gehuldigt und den allgemeinen Begriffen alle Bedeutung darum abgesprochen hätte, weil er sie nicht realistisch als Substanzen betrachtete, während die Ansicht Roscelins war, daß die allgemeinen Begriffe in Gedanken unserer Seele bestehen, diese Gedanken aber nicht zugleich etwas außer der Seele Subsistierendes bezeichnen. Das Positive zu diesem Negativen ist aber, daß nur das Individuellexistierende (was nicht nur ein Sinnliches sein muß) das Reale ist. Es ist daher als eine Verdrehung von Seiten Anselms zu bezeichnen, wenn er Roscelin vorwirft, er könne das Pferd nicht von der Farbe unterscheiden, während er doch nur meint, die Farbe existiere nicht für sich als Substanz, sondern nur als Eigenschaft eines Pferdes und sei für sich nur ein Begriff; ebenso ist es eine Verdrehung des Sachverhaltes, daß Roscelin nicht begreifen könne, wie mehrere Menschen in specie unus homo seien, da Roscelin nur leugnet, daß diese species mehr sei als eine Abstraktion. Den Ausdruck flatus vocis hat Roscelin offenbar nur gewählt, um den Gegensatz gegen den so unvermittelten Realismus Anselms recht schroff bis zum Schein des Paradoxen zu bezeichnen." Wenn man diese Darlegungen Haucks liest, gewinnt man unmittelbar den Eindruck, als seien wir über die Lehre Roscelins auf das beste, etwa aus eigenen Schriften desselben, unterrichtet und seien so in den Stand gesetzt, den Kontrast zwischen dem wirklichen echten Roscelin und zwischen dem von Anselm entstellten, karikierten und verdrehten Roscelin haarscharf, gleichsam aktenmäßig nachzuweisen. Indessen kennen wir die Lehre Roscelins gerade fast ausschließlich aus dem Bericht und der Kritik Anselms. Die Charakteristik, die Abälard in einem Briefe von dem Pseudo-Dialecticus Roscelin entwirft, lehnt Hauck ebenfalls als unbefugte Konsequenzmacherei ab. Wie kann nun Hauck mit solcher Bestimmtheit einen Gegensatz zwischen der angeblichen wirklichen Lehre Roscelins und zwischen der Darlegung derselben von Seiten Anselms behaupten? Wie kann er den der Hauptsache nach übereinstimmenden und zudem voneinander unabhängigen Berichten Anselms und Abälards über Roscelins Lehre in Bausch und Bogen den Vorwurf der Verdrehung und Entstellung machen? Hauck kann dies nur auf dem Wege einer Fiktion bewerkstelligen, indem er kurzerhand die Lehre Roscelins (Landerer f) Artikel „Roscelin' in RE.3 XVII 141 f.
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als Konzeptualismus etwa im Sinne des Petrus Aureolus oder des O k k a m 1 auffaßt und an diesem Maßstabe die Darstellung Anselms bemißt. Nur im Lichte einer solchen freilich recht willkürlichen Fiktion lassen sich die oben angegebenen Ausführungen Haucks über die verschiedenen Verdrehungen Anselms begreifen. Eigentümlich nimmt sich die Bemerkung aus, Roscelin habe den Ausdruck flatus vocis gewählt, um den Gegensatz gegen den so unvermittelten Realismus Anselms recht schroff zu bezeichnen. Der Realismus Anselms ist wahrlich kein unvermitteltes und zum Widerspruch anreizendes Element. Da wir Roscelins Lehre fast nur durch Anselm kennen und da eine Gegenüberstellung des wirklichen und des durch Anselm geschilderten Roscelin nicht möglich ist, so gibt es für Hauck nur einen Weg, auf dem eine Entstellung der Lehre Roscelins von Seiten Anselms eventuell mit Grund behauptet wTerden könnte, nämlich den aus den Worten Anselms selbst geschöpften Nachweis der Voreingenommenheit und Tendenz. Wenn aber dieser auch energisch Roscelins Doktrin als glaubensgefährlichen Irrtum zurückweist, so verraten seine Worte keinerlei Entstellungssucht, keinerlei wahrheitswidrige Tendenz. Außerdem wäre ein solches Verfahren mit dem Charakter, mit der durch und durch lautern und edeln Denkungsart Anselms nicht wohl vereinbar. Ferner ist wohl zu beachten, daß Roscelin sich nirgends über eine falsche Deutung seiner Lehre von seiten seines großen Gegners beschwert. In seinem Briefe an Abäl a r d 2 , dem einzigen uns bekannten Schriftstück Roscelins, kommt dieser auf Anselm in der ehrendsten Weise zu sprechen und beklagt sich mit keiner Silbe einer etwaigen Verdrehung seiner Anschauungen durch denselben. Übrigens ist Haucks Behauptung, daß Anselm die Universalienlehre Roscelins entstellt habe, von Haureau inspiriert3. So sehr auch die rastlose Arbeit Haureaus in der Veröffentlichung bisher 1
Eine quellenmäßige Darstellung von Okkams Konzeptualismus siehe bei S t ö c k l - W o h l m u t h , Lehrbuch der Logik, Mainz 1905, 332 ff. 2 Veröffentlicht aus Clm. 4643 von J. A. S c h m e 11 e r in den Abhandlungen der philos.-philol. Klasse der kgl. bayrischen Akademie der Wissenschaften V 3 (1851), 189 ff. Die lobende Erwähnung Anselms lautet: „Sed de domino Anselmo archiepiscopo, quem et vitae sanctitas honorat et doctrinae singularitas ultra communem hominum mensuram extollit, quid dicam?" 8 H a u c k verweist auch auf H a u r ö a u , Hist. de 1a philosophie scolastique I 178 181 185.
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ungedruckter wertvoller Texte den Dank und die Anerkennung des Literarhistorikers der Scholastik verdient, so vorsichtig muß mitunter seine philosophische Würdigung und Klassifizierung der Texte entgegengenommen werden. So ist Haureau gerade in Bezug auf Roscelin das Versehen unterlaufen, daß er dessen Tritheismus als Sabellianismus bezeichnet1, und daß er einen handschriftlich erhaltenen Traktat „Sententia de universalibus secundum magistrum R." als eine Arbeit Roscelins ansieht, obgleich ein richtiges Verständnis des Inhalts dieses Traktates eine derartige Zueignung an Roscelin verbietet2. Während nun Hauck in dem Bericht des hl. Anselm über Roscelins Universalienlehre eine Karikatur, eine Verdrehung der wirklichen Doktrin desselben sieht, finden andere Autoren in der von Anselm vorgetragenen und kritisierten Lehre Roscelins keinen eigentlichen Nominalismus Roscelins, ja überhaupt keine wirkliche und ernsthafte Behandlung der Universalienfrage. So bezeichnet de Wulf 3 diesen angeblichen Nominalismus Roscelins als pseudo-nominalisme, da derselbe das, was wir heutzutage unter Nominalismus verstehen, nicht gelehrt habe. Der wirkliche Standpunkt Roscelins könne füglicher mit der negativen und relativen Bezeichnung Antirealismus eingeschätzt werden. Adlhoch 4 scheint wenigstens am Eingang seiner Untersuchung über das Verhältnis zwischen Roscelin und Anselm das Universalienproblem, ja überhaupt philosophische Fragen aus der zwischen diesen beiden Männern stattgehabten Kontroverse ausscheiden zu wollen: „Abgesehen davon, daß unser Begriff Nominalismus keineswegs identisch ist mit der Roscelinschen Lehre vom flatus vocis, scheinen Anselm und Roscelin selber von einem derartigen Streithandel so viel wie nichts zu wissen! Eher könnte man den Gegenstand der Auseinandersetzung im Verhältnis von persona und substantia singularis suchen, weil damit Roscelins dialektische Abirrung auf das Trinitätsdogma bequemer einleuchtete, was vom flatus vocis aus immerhin ein Problem für sich bleibt. Allein die Gleich1
Ü b e r w e g - H e i n z e , Grundriß der Geschichte der Philosophie II 9 184. Tgl. B ä u m k e r in Archiv für Geschichte der Philosophie X (1897) 134; W i l l n e r , Adelard von Bath 64. 3 Hist. de 1a philos. me'dievale2 172: „Le n o m i n a l i s m e de Roscelin est un p s e u d o - n o m i n a l i s m e , si on prend ce mot dans 1e sens precis qu'ii recoit aujourd'hui. Ou plutöt les sources anciennes qui s'en servent l'entendent dans 1e sens negatif et relatif d'antirealisme." 4 Roscelin und Sfc Anselm, in Philos. Jahrbuch 1907, 443 ff. 2
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Setzung von Einzelsubstanz—Person ist kein Nommalismus, sondern naturalistischer Empirismus gegenüber den ungleich höheren Tatsachen der Übernatur. Der hl. Anselm schreibt zwar ein Buch gegen Roscelin: ,De fide Trinitatis contra blasphemias Roscelini'. Allein schon der bloße Titel charakterisiert die Auseinandersetzung als wesentlich theologische." Adlhoch kann sich ebensowenig wie Pic a v e t 1 erklären, wie die Lehre vom flatus vocis wirklich ihrer Natur nach zur trinitarischen Irrung führen mußte. Ist nun wirklich die von Anselm in kurzen, aber scharfen Strichen gezeichnete Lehre Roscelins kein Nominalismus, ist in den Darlegungen Anselms wirklich die Universalienfrage gar nicht behandelt, und falls sie wirklich ins Auge gefaßt ist, ist sie dann als für die Trinitätslehre belanglos aufgefaßt? Was die erste dieser durch die soeben vernommenen Aufstellungen de Wulfs, Adlhochs und Picavets nahegelegten Fragen betrifft, so muß der von Anselm charakterisierten Roscelinschen Lehre entschieden nominalistische Tendenz zugeschrieben werden. R. F a l c k e n b e r g 2 gibt in seiner Erläuterung der wichtigsten philosophischen Kunstausdrücke, die er seiner »Geschichte der neueren Philosophie" beigefügt hat, in folgender Weise die gebräuchliche Begriffsbestimmung des Nominalismus wieder: „Nominalismus, mittelalterliche Bezeichnung für die Theorie, daß die U n i v e r s a l i e n (die Gattungen, das Allgemeine) keine Realität haben, bloße Vorstellungen (Begriffe, Konzeptualismus), ja b l o ß e N a m e n (nomina) seien.u Als neuzeitliche Vertreter des Nominalismus führt er Hobbes, Locke. Berkeley auf. In Bezug auf letzteren bemerkt er: „Ein dritter Punkt, an dem Locke seinem Nachfolger (nämlich Berkeley) nicht weit genug gegangen war, betrifft den in England einheimischen N o m i n a l i s m u s . Locke hatte mit seinen Vorgängern behauptet: Alles Wirkliche ist individuell, allgemeine Wesen gibt es nur im abstrahierenden Verstande. Von hier aus geht Berkeley noch einen Schritt weiter, den letzten, der in dieser Richtung möglich war, indem er selbst die Möglichkeit a b s t r a k t e r V o r s t e l l u n g e n in Abrede stellt. Wie alle Wesen Einzeldinge, so sind alle Ideen Einzelvorstellungen." Wenn wir nun dieser Begriffsbestimmung des Nominalismus und diesen Formen desselben in der neueren Philosophie 1 Roscelin philosophe et thöologien d'apres 1a legende et d'apres l'histoire 26. 2 Geschichte der neueren Philosophie4 560.
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
die Ansicht Roscelins gegenüberstellen, müssen wir diese als nominalistisch geartet erkennen. Sowohl für Roscelin wie auch für den modernen Nominalismus ist nur das Individuelle wirklich, das Allgemeine ist nur Kollektivname ohne objektiven realen Wert, ist vocis flatus. Und wenn Anselm als Quelle des nominalistischen Irrtums Roscelins das Unvermögen, zwischen Verstand und Phantasie zu unterscheiden, angibt, so gilt das noch viel mehr für den neuzeitlichen, sensualistischen und positivistischen Nominalismus. Aus diesen Erwägungen und Vergleichungen ergibt sich ganz klar, daß die Bezeichnung des durch Anselm ohne Zweifel objektiv wiedergegebenen wissenschaftlichen Standpunktes Roscelins als Nominalismus geschichtlich gerechtfertigt und dem philosophischen Sprachgebrauch entsprechend ist K Selbstverständlich ist damit zugleich auch dargetan, daß in dem anselmianischen Bericht über Roscelin auch wirklich von der Universalienfrage die Rede ist. Schon der Umstand, daß von substantiae u n i v e r s a l e s die Rede ist und daß die Einheit von drei menschlichen Personen und die Einheit der drei göttlichen Personen einander gegenübergestellt werden, würde an und für sich schon, selbst wenn die von Anselm entwickelte Lehre Roscelins sich nicht als Nominalismus bestimmen ließe, dafür sprechen, daß die Universalienfrage in diesem Texte erwähnt und berücksichtigt ist. Es ist aber auch nicht in Abrede zu stellen, daß diese Hereinziehung der Universalienlehre gerade mit Rücksicht auf die Trinitätsund auch auf die Inkarnationslehre geschah, daß demzufolge zwischen der nominalistischen Lehre vom vocis flatus und zwischen der trinitarischen Irrung, dem Tritheismus Roscelins ein innerer, und zwar ein recht inniger Zusammenhang besteht. Daß dem wirklich so ist, ergibt sich ganz klar und unzweideutig aus einem allgemeinen ge1
Beda Adlhoch gewinnt aus den Äußerungen Abälards über Roscelin den Eindruck, daß dieser „ein verblüffend realistisch gerichteter und vokalistischer oder phonetischer Dialektiker ist" (Roscelin und St Anselm, in Philos. Jahrbuch 1907, 452). Desgleichen folgert er aus den Texten Anselms, daß „Roscelin eine zu empirisch-realistische Dialektik vokalistischer Art lehrte" (ebd. 456). Es ist einleuchtend, daß diese Bezeichnungen ganz gut auf den Nominalismus passen. Der Realismus, den hier Adlhoch dem Roscelin zuschreibt, ist wahrlich kein Realismus im erkenntnistheoretischen Sinne, kein Realismus im Sinne der Universalienlehre. Es ist dies ein Realismus im metaphysischen Sinne, etwa nach Art des Materialismus, es ist dies ein Realismus, der auf erkenntnistheoretischem Gebiete Nominalismus bedingt. Es sei hier auf ein Analogon in der neueren Philosophie, auf Herbart hingewiesen.
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schichtlichen Exkurs und dann auch aus dem Kontext des anselmianischen Referates über Roscelin. Daß Universalienlehre und Trinitätslehre, daß speziell auch Nominalismus und Trinitätslehre miteinander in Kontakt stehen, dafür haben wir treffliche Beweise aus der Patristik. Zur Erklärung und Verdeutlichung der Homousie, der Einheit der göttlichen Natur bei der realen Verschiedenheit der göttlichen Personen voneinander, wurde von den Vätern mehrfach als Analogon die Einheit von drei menschlichen Personen benützt, wobei der große Unterschied zwischen diesen beiden Einheiten beleuchtet wurde. Selbstverständlich mußte bei der Bestimmung und Beurteilung der Einheit von drei menschlichen Personen der eigentliche Kernpunkt des Universalienproblems, wenn dieses auch noch nicht formell als solches zur Verhandlung vorlag, scharf ins Auge gefaßt werden. So haben wir hierüber ganz deutliche Darlegungen von Gregor von N a z i a n z und J o h a n n e s von Damaskus, die in einer sachlich ganz korrekten, wenn auch sprachlich noch nicht völlig durchgearbeiteten Weise die Eigenart der Einheit von drei menschlichen Personen bestimmt haben1. Gregor von N y s s a hat in seiner an Ablabius gerichteten Schrift rcspl TOD jui] ol'eaäai Xiyew rpelg SSOUQ2 die Natureinheit von drei menschlichen Personen in exzessiv-realistischem Sinne gedeutet und hierdurch die strenge Natureinheit der drei göttlichen Personen zu veranschaulichen gesucht. Indessen hat dieser exzessiv-realistische Standpunkt Gregors von Nyssa auf seinen dogmatischen Standpunkt in der Trinitätslehre keinen Einfluß ausgeübt. Daß man in der griechischen Patristik die Bedeutung der Universalienfrage für die Exposition des Trinitätsdogmas wohl zu würdigen wußte, dafür ist eine Abhandlung über die Existenz der Allgemeinbegriffe in dem von Diekamp edierten und untersuchten griechischen Florilegium „Doctrina Patrum de incarnatione Verbi" ein sprechender Beweis. Es trägt diese Abhandlung die nachfolgende Überschrift: Vrc im
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1 Vgl. hierüber die gründlichen Ausführungen von K u h n , Katholische Dogmatik, Bd II: Die Trinitätslehre 436—447. Über die einschlägige Lehre des hl. Gregor von Nazianz siehe J. H e r g e n r ö t h e r , Die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit nach dem hl. Gregor von Nazianz 34 ff. 2 M., P. Gr. XLV 116—136. Vgl. auch Gregor von Nyssas Schrift npöq r 'EUy»ac ix rwu xowwv Iwoiatv (ebd. 176—185). Über Gregors von Nyssa einschlägige Lehre handeln S c h w a n e , Do^mengeschichte II 2 156ff; P e t a v i u s , De Trinitate 1. 4, c. 9, n. 2 ff (ed. Vives 1JI 2 ff}.
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Anselm von Canterbury, der Vater der Scholastik.
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