Die Rückkehr der Geschichte
Joschka Fischer
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Die Rückkehr der Geschichte
Joschka Fischer
Die Rückkehr der Geschichte Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens
Kiepenheuer & Witsch 3
1. Auflage 2005 © 2005 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Linn-Design, Köln Gesetzt aus der Stempel Garamond Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindearbeiten: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-462-03035-3
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»Es war viel die Rede davon, daß sich hier das >Ende der Geschichte< ankündige. Ich halte das nicht für zutreffend. Das Ende der Geschichte, wie es einmal bei Hegel gemeint war, bestand in der Schaffung einer universellen Gesellschaft. Wir werden aber nicht Zeugen, wie die Geschichte zu Ende geht, sondern wie sie neu beginnt.« DANIEL BELL1
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Inhalt
I. »Willkommen in der Wüste des Realen« Das Ende der Nachkriegszeit und der neue Totalitarismus
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II. Bruchlinien der globalen Desintegration
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III. Zwischen Souveränität und Integration
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IV. Hobbes versus Kant »The Irony of American History«
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V. Europa, Amerika und die Zukunft des Transatlantismus
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VI. »The Great Transformation« und der Nahe und Mittlere Osten
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VII. Zwischen Gleichgewicht und globaler Kooperation das Entstehen einer neuen Weltordnung 234 Anmerkungen
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Literaturverzeichnis
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I. »Willkommen in der Wüste des Realen«2 Das Ende der Nachkriegszeit und der neue Totalitarismus »Welteroberung ist ein alter Traum, und jeder Glaube will die Welt erobern - auf die Gefahr hin, daß er dabei zum bloßen Mittel der Welteroberung wird.« THOMAS MANN3
Am Morgen des n. September 2001 ging jene neue Nachkriegszeit zu Ende, die mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ihren Anfang genommen hatte. Das 21. Jahrhundert, so Timothy Garton Ash, hatte mit einem gewaltigen Terrorschlag, der die Welt erschütterte, politisch begonnen: »Wenn der Fall der Mauer das eigentliche Ende eines kurzen Jahrhunderts darstellte, gibt es gute Gründe, die Zerstörung des World Trade Centers als den wahren Anfang des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Welcome to another brave new world.«4 Die Welt als globales Mediendorf war via CNN live dabei, als an jenem Tag Dschihad-Terroristen durch einen beispiellosen öffentlichen Massenmord Geschichte machten, und entsprechend weltweit war auch die Wirkung der Schockwellen dieses gleichsam militärischen Angriffs auf die USA, der letzten verbliebenen globalen Macht in der heutigen Welt. »Der Angriff auf Amerika wird wohl vor allem deshalb den Lauf der Geschichte ändern, weil alle Ereignisse der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr denn je von den Entscheidungen eines einzigen Landes, den Vereinigten Staaten, abhängen - und weil dieser Angriff darum höchstwahrscheinlich unberechenbare Auswirkungen auf die Psychologie dieses Landes hat.«5 Der Gang der Geschichte entscheidet sich bisweilen an einem Tag oder auch nur innerhalb weniger Stunden. An solch ganz besonderen Tagen wird Geschichte sichtbar und erlebbar für jeder-
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mann. Hochkomplexe strukturelle Entwicklungen werden auf ein Ereignis, auf eine einzige große Erschütterung konzentriert und damit aus dem Augenblick heraus erfahrbar, nachvollziehbar und verstehbar. Die Geschicke der Welt nehmen nach einem solchen Tag einen anderen Verlauf. Die Zeitgenossen spüren diese außergewöhnliche Dramatik sofort, denn die politischen Ereignisse verdichten sich zu einer sonst seltenen emotionalen Intensität. Es sind dies die Tage einer epochalen Weichenstellung, der Beginn eines neuen historischen Zeitabschnitts. Dies galt für den 28. Juni 1914, der Tag, an dem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in Sarajewo ermordet wurden, ebenso wie für den 9. November 1989, der Nacht des Mauerfalls, und auch für den 21. Dezember 1991, der Tag des endgültigen Endes der Sowjetunion und damit auch des Kalten Krieges und der bipolaren Welt. Zwischen diesen epochemachenden Ereignissen und Tagen spannte das kurze und brutale 20. Jahrhundert seinen Bogen, jenes »Zeitalter der Extreme«, wie es der große britische Historiker Eric Hobsbawm6 zu Recht benannt hat. Es gab in der gesamten Menschheitsgeschichte bisher keine andere Zeit, die soviel an Irrsinn, Gewalt, Mord und Totschlag, Diktatur, Krieg und Völkermord hervorgebracht hat, wie eben jenes extreme 20. Jahrhundert. Kein anderes Jahrhundert brachte aber auch zugleich mehr an wissenschaftlich-technischem, an sozialem und politischem Fortschritt hervor.7 In den Ersten Weltkrieg ritten die Armeen noch hoch zu Pferde hinein, und aus dem Zweiten Weltkrieg kam die Menschheit mit der Atombombe heraus. Dazwischen lagen gerade einunddreißig Jahre und zwei Weltkriege.8 Dieser tiefen Ambivalenz des 20. Jahrhunderts wird man auch anhand eines zweiten Faktums gewahr: 1914 entschieden noch überwiegend gekrönte Häupter über den Krieg. Seit 1945 hat sich zuerst nur im westlichen Teil und seit 1989 iast überall in Europa die Demokratie als Herrschaftsform durchgesetzt. Heute kann man Europa zu Recht als den Kontinent der Demokratie und des Rechts bezeichnen - welch ein Fortschritt in nur 60 Jahren! Die Menschheit schien sich nach dem Fall der Berliner Mauer
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einer neuen langen Friedenszeit erfreuen zu dürfen. Gewiß gab es unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges, ganz entgegen der hochgespannten Friedenserwartungen, die heißen Konflikte am Persischen Golf, in Ostafrika und auf dem Balkan, aber das waren - aus westlicher Perspektive gesehen - Kriege und Völkermorde an der Peripherie, auch wenn die blutigen Kriege auf dem Balkan den Europäern bereits bedrohlich nahe gerückt waren. Dennoch konnten all diese Schrecken die meisten Menschen in Europa und den USA nicht davon abhalten, die Friedensdividende nach dem Ende von Hochrüstung und Kaltem Krieg in vollen Zügen genießen zu wollen. Nach fünf Jahrzehnten globaler kalter Konfrontation war der Zeitgeist im Westen auf Rückzug eingestimmt, auf Rückzug von der Politik, auf Rückzug von den Krisen und Konflikten der Welt und auf die Dominanz des Privaten über das Politische. >Bereichert euch!< hieß es während der neunziger Jahre des ausgehenden Jahrhunderts in den Industrieländern des Westens. >Vergeßt die Krisen, vergeßt all die Konflikte und vergeßt diese ganze verfluchte Politik! Senkt die Steuern, verkleinert die Bürokratie, verringert den Staatsanteil und gebt den Bürgern ihr Geld und ihre Freiheit zurück !< So oder ähnlich scholl es einem überall aus den Medien, aus den Parlamenten und aus den Wahlkämpfen entgegen. Der Staat, seine Bürokratie und seine Finanzen waren unter schweren Legitimationsdruck geraten, die Börse dominierte, gewaltige Vermögen wurden, oft nur auf dem Papier, teilweise aber auch real, gemacht und wieder verloren. Das ausgehende 20. Jahrhundert stand in den Metropolen der Weltwirtschaft ganz im Zeichen einer epochalen technischen Innovation, dem Durchbruch der Informationstechnologie, und damit einhergehend auch im Zeichen einer nicht minder gewaltigen Finanzspekulation, die sich keß das Signum der »New Economy« oder des »Neuen Marktes« verpaßte. Das Jahrzehnt hatte mit der kühnen These von Francis Fukuyama über »Das Ende der Geschichte«9 begonnen. Und angesichts eines lang anhaltenden Aufschwungs der US-Wirtschaft verkündeten verwegene Ökonomen gar das Ende der Konjunkturzyklen und das Entstehen eines krisenfreien Kapitalismus. Nun, dies alles sollte
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sich als nichtig, eitel und schlicht falsch erweisen. 10 Die Spekulationsblase platzte, und am n. September des Jahres 2001 schlug die Geschichte erneut zu - blitzartig, brutal, zerstörend. Die Welt veränderte an diesem Tag ihren Lauf, und nicht mehr die Börse, sondern die Politik sollte fortan wieder die Kurszettel der Geschichte schreiben. All jene verheißungsvollen Träume von einer friedlicheren Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, all die Hoffnungen auf eine wirkliche Friedensdividende und all jene schönen Illusionen vom Ende der Politik, vom Rückzug des Staates und der scheinbaren Dominanz der Ökonomie über die Politik - »It's the economy, stupid!« - wurden am 11. September unter den Trümmern der einstürzenden Zwillingstürme in New York City begraben, gemeinsam mit Tausenden unschuldiger Menschen." Die Politik und mit ihr jene angeblich beendete Geschichte hatten sich in der blutigen Fratze des Terrors zurückgemeldet. Heraklit, jener vorsokratische Philosoph im alten Griechenland, der bereits im 5. Jahrhundert vor Christus vermeldet hatte, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, war plötzlich wieder weitaus moderner geworden als all die vielen Investmentbanken und Börsenkurse. Dieser neue Krieg begann nicht an der Peripherie des internationalen politischen Systems, sondern mitten im Zentrum des wichtigsten Finanzplatzes der Welt, an der Südspitze von Manhattan. Der ominöse >Ground Zero< dieses Krieges, den der Dschihad-Terrorismus gegen die USA und die westliche Welt führte, lag eben nicht mehr im Fulda Gap, sondern direkt neben der Wall Street. Diesmal traf der internationale Terrorismus das ökonomische und politische Herz der mächtigsten Nation der Gegenwart, und diese ruchlose Tat sollte ein globales machtpolitisches Beben auslösen. Die Welt erschrak zutiefst angesichts der Ungeheuerlichkeit des 11. September, und die Bilder, die Gefühle und Stimmungen von Pearl Harbor 1941 und Sarajewo 1914 traten plötzlich wieder aus dem Dunkel der fast vergessenen Geschichte hervor. »Am 11. September starben mehr als dreimal so viele Amerikaner wie durch sämtliche terroristische Anschläge der vorhergehenden dreißig Jahre. Der Verlust an
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Menschenleben war rund zwanzigmal höher als der, den Timothy McVeigh, ein einheimischer Attentäter, 1995 durch den Anschlag von Oklahoma City verursacht hatte, und mindestens ebenso hoch wie 1941 nach dem Angriff von dreihundert japanischen Bombern auf Pearl Harbor. Kommentatoren beschworen diesen anderen Blitz aus heiterem Himmel, der Amerika vor sechzig Jahren getroffen hatte, als eine Art Präzedenzfall, aber in Wirklichkeit gab es keine Parallele. Der 11. September brachte etwas völlig Neues.«12 Freilich war es diesmal keine große, feindliche Territorialmacht wie das japanische Kaiserreich, welche die USA attackiert hatte, sondern der Angriff ging von einer Bedrohung neuen Typs aus, einer asymmetrischen MachtDie Zukunft des Krieges< analysiert Martin van Creveld diese neue Realität des Zusammenpralls zwischen symmetrischer (staatlicher) und asymmetrischer (nichtstaatlicher) Macht: »Künftig werden keine Streitkräfte Krieg führen, sondern Gruppierungen, die wir heute Terroristen, Guerillas, Banditen und Räuber nennen. [...] Sie stützen sich vermutlich stärker auf das Charisma eines Anführers als auf eine Institution, und ihr Ansporn ist weniger eine >Professionalität< als eine fanatische, ideologisch untermauerte Loyalität. Die Organisation wird zwar sicherlich einer Führerschaft unterstehen, die über Zwangsmittel verfügt, aber die Führerschaft selbst wird sich kaum von der Organisation insgesamt abheben. Sie wird folglich eher dem >Alten vom
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Berge< nach der von Marco Polo überlieferten Sage ähneln als einer institutionalisierten Regierung im Sinne der modernen Welt. Die Organisation wird zwar in gewisser Weise >im Volk< verwurzelt sein, aber dieses Volk läßt sich vermutlich nicht eindeutig trennen von den harmlosen unmittelbaren Nachbarn oder von der kleinen Minderheit, die den größten Teil der Kämpfe übernimmt. Jede kriegführende Einheit von einer beliebigen Größe wird immer eine gewisse territoriale Basis >kontrollieren< müssen. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, daß diese Basis von Dauer, uneinnehmbar oder sehr groß ist. Vermutlich werden ihre Grenzen (ebenfalls ein moderner Begriff) auf keiner Karte durch eine eindeutige Linie eingezeichnet sein.«13 Martin van Crevelds Prognose sollte sich bewahrheiten. Die Welt erlebte mit dem n. September auch die politische Wiedergeburt der Assassinen. Dies ist die Bezeichnung für eine islamistische Sekte des Mittelalters, die, als Geheimbund organisiert, im damaligen Nahen und Mittleren Osten den öffentlichen politischen Mord (allerdings nicht den öffentlichen Massenmord) als Mittel ihrer Herrschaft fast bis zur Perfektion entwickelt hatte. Sie stützte sich dabei auf zum Tod und Selbstmord entschlossene Attentäter, die niemanden verschonten und so Angst und Schrecken unter den Mächten und Mächtigen der damaligen Zeit verbreiteten.14 Und in der Tat, zwei Tage vor dem Terrorschlag gegen die USA hatten zwei als Fernsehjournalisten getarnte arabische Selbstmordattentäter, vermutlich im Auftrag der Terrororganisation Al-Qaida des Osama bin Laden, den charismatischen Führer der afghanischen Nordallianz, Achmed Schah Massud, mit einer Sprengladung tödlich verletzt. Massud starb wenig später an seinen Verletzungen.15 Man ahnte an dem Tag allerdings noch nicht, daß sich dieser politische Mord in den fernen Bergen des Hindukusch als das Präludium zum Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika erweisen sollte. Am Morgen des n. September entführten Terrorkommandos der Al-Qaida vier Verkehrsflugzeuge an der Ostküste der Vereinigten Staaten, die, randvoll getankt mit Tonnen von Kerosin, zum Flug an die Westküste des Landes gestartet waren. Die terroristischen Selbstmordkommandos hatten nur ein Ziel, nämlich
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aus den Verkehrsflugzeugen tödliche Lenkwaffen zu machen, welche die Zentralen der politischen und ökonomischen Macht der USA zerstören sollten: die Zwillingstürme des World Trade Centers in Downtown Manhattan und das US-Verteidigungsministerium in Arlington/VA. Die vierte Maschine, der Flug United Airlines 93, stürzte, dank des todesverachtenden Mutes der Passagiere, die von ihrem drohenden Schicksal noch während ihres Fluges per Telefon erfahren hatten, auf freiem Feld in Pennsylvania ab, bevor die Maschine ihr bis heute unbekanntes Ziel erreichen konnte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte der Flug UA 93, so zumindest der mittlerweile veröffentlichte Kenntnisstand der Ermittlungsbehörden, das Weiße Haus oder das amerikanische Parlament auf dem Capitol Hill, inmitten der Hauptstadt Washington, zum Ziel.16 Der planvoll vorbereitete Terrorangriff der Al-Qaida auf die USA war in seinen unmittelbaren Folgen durchaus mit einem kriegerischen Angriff einer fremden Macht zu vergleichen. Niemals zuvor in ihrer Geschichte hatten die USA an einem Tag so viele Zivilisten durch einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Angriff verloren. Niemals zuvor seit dem amerikanisch-britischen Krieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Regierung der Vereinigten Staaten, waren die Machtzentren der USA einer solchen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Der Angriff Japans auf Pearl Harbor hatte eine weit entfernte Marinebasis auf den Hawaii-Inseln im Pazifik getroffen, nicht aber das Kernland der USA, geschweige denn die Hauptstadt oder gar die wichtigste Finanzmetropole der Welt. Entsprechend groß war der Schock in den USA und weltweit. Mitten im tiefsten Frieden, urplötzlich - »out of the blue« - schlug an jenem Morgen und mit einer nicht für möglich gehaltenen Todes- und Menschenverachtung ein neuer Terrorismus in den Metropolen der USA zu und tötete lausende unschuldiger Menschen - Amerikaner wie Ausländer, Muslime, Juden, Christen, Buddhisten, Hindus und Atheisten, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Alte und Junge, eine wahrhafte Ökumene unschuldiger Opfer. Dieser Terrorangriff bediente sich der zivilen Technologien der offenen westlichen Gesellschaften - Flugausbildung, Verkehrsflugzeuge, weltwei-
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te Live-Übertragung - und funktionierte diese mit geringstem Aufwand17 und selbstmörderischer Entschlossenheit zu tödlichen Waffen und zu einer furchterregenden »Propaganda der Tat« um.18 Die zerstörerische Wirkung der vollgetankten Verkehrsflugzeuge übertraf nach ihrem Einschlag in die Gebäude fast noch die Wirkung konventioneller Marschflugkörper, und entsprechend groß war die symbolische Wirkung dieses Terrorschlags und das Entsetzen, das dieses Attentat weltweit auslöste. Dennoch handelte es sich beim 11. September um einen terroristischen Angriff, es war kein kriegerischer Akt im klassischen Sinne, nämlich der Angriff eines Staates auf einen anderen, wenn man von der Verwicklung des Taliban-Regimes in Afghanistan in die Vorbereitung und Unterstützung der Al-Qaida-Organisation einmal absieht. Jenseits der zu beklagenden Opfer und des politischen Schocks bestanden ganz gravierende qualitative Unterschiede zu einem symmetrischen Krieg, wie es etwa 1941 der Angriff Japans auf Pearl Harbor gewesen war. Damals standen Staat gegen Staat, strategisches Potential gegen strategisches Potential. Im Zweiten Weltkrieg kämpften die USA mit Nazideutschland und dem japanischen Kaiserreich einen Hegemonialkonflikt unter Aufbietung all ihrer strategischen Kräfte auf den Kriegsschauplätzen in Europa, in Ostasien und im Pazifik aus. Ganz anders war die Lage am 11. September. Trotz der tausendfachen Verluste an Menschenleben, des weltweiten Entsetzens und der negativen Folgewirkungen für die Weltwirtschaft waren die militärischen und strategischen Effekte auf das Machtpotential der USA gleich null, strategisch gesehen nicht mehr als ein Nadelstich. Aber dieser Terrorschlag zielte nicht auf die strategischen Potentiale der alleinigen Weltmacht, sondern er sollte die Angreifbarkeit der Supermacht demonstrieren und diese zu einer politisch-militärischen Uberreaktion provozieren. Eine militärische Schwächung des strategischen Potentials der USA hat, weil angesichts der real existierenden Kräfteverhältnisse völlig irreal, wohl niemals in der Absicht der Terrorplaner der Al-Qaida gelegen, ihr Ziel war zuerst und vor allem ein politisch-symbolisches. Die größte Militär- und Wirtschaftsmacht
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der Geschichte, die alleinige globale Supermacht, sollte als angreifbar, verletzbar, schwach und besiegbar entlarvt werden. Todesmutige, zum Selbstmord entschlossene Glaubenskrieger konnten der größten Militärmaschine und Macht des 21. Jahrhunderts furchtbare Schläge mit geringstem Aufwand versetzen, so sollte die Botschaft lauten. Und diese Botschaft beinhaltete auch eine hegemoniale Herausforderung an die Adresse der USA. Paul Kennedy beschreibt die Vereinigten Staaten als einen nie dagewesenen militärisch-ökonomisch-politisch-kulturellen Koloss, der »extrem verwundbar [ist]. Seine Erfindung des Internets und seine Rolle bei der Entwicklung von Finanzhandelsplätzen, die rund um die Uhr geöffnet sind, machen ihn ungeheuer reich und zugleich ungeheuer anfällig für Sabotage. Seine - im Verhältnis zu Europa jedenfalls - liberalen Einwanderungsbestimmungen und die Öffnung seiner Universitäten für Studenten aus Übersee bedeuten, daß es zu einem ungeheuren Schmelztiegel von Menschen aus Übersee geworden ist, unter denen sich Individuen befinden, die für terroristische Akte rekrutiert werden könnten. Das ist keine >Festung Amerikas Im Gegenteil.«19 Diesem Befund folgend rüsteten die USA und andere offene Gesellschaften des Westens nach der Erfahrung des 11. September zum Schutz ihrer inneren Sicherheit ganz erheblich auf. Und auch dies darf man wohl als ein weiteres Ziel der terroristischen Planung unterstellen, nämlich die innere Aufrüstung und zugleich Abschottung der offenen Gesellschaften des Westens. Vor allem aber sollte der Schlag vom 11. September die USA in ihrem Entsetzen und in ihrer Wut zu einer Gegenreaktion treiben, die das eigentliche Ziel der Terrorplaner befördern würde, nämlich den Zusammenstoß zwischen islamisch-arabischer Welt und dem Westen, der »Clash ot Civilizations«, den der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington20 seit Mitte der neunziger Jahre prophezeit hatte. Zum Verständnis der politischen Strategie greift man am besten auf das Bild von der Mücke und dem Elefanten zurück. Der Dickhäuter soll durch gezielte, äußerst schmerzhafte Stiche dermaßen gereizt werden, daß er in
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blinder Wut attackiert und wild um sich tritt, so daß dort, wo er hintritt, kein Gras mehr wächst. Der terroristische Angriff auf die USA soll mittels deren blindwütiger Reaktion die Machtverhältnisse im islamisch-arabischen Raum verändern, soll dort über eine Phase des Chaos zu einem Aufstand der rechtgläubigen Massen führen, die korrupten nationalistischen Regime hinwegfegen und auf lange Sicht das Kalifat, den Gottesstaat der Rechtgläubigen, hervorbringen.21 Die USA sind in den Augen des neuen Terrorismus lediglich die entscheidende Schutzmacht, der »große Satan«, dessen Präsenz in der Region für die Unterdrückung der Rechtgläubigen verantwortlich ist. Das eigentliche Ziel liegt nicht in den USA, sondern in Saudi-Arabien, in Jerusalem, am Arabischen Golf, im gesamten Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien, ja in dem ganzen, sich weit ausdehnenden Krisengürtel zwischen Marokko und Indonesien, der entscheidend vom Islam geprägt wird. Es ist dies nichts weniger als ein revolutionärer strategischer Neuordnungsplan für den arabischen Raum und weite Teile der islamischen Welt, der mit rücksichtslosester Gewalt und mit Terror langfristig ins Werk gesetzt werden soll. Die Ereignisse des 11.September lehren uns noch etwas Weiteres, sehr Wichtiges: Seit dem Einsturz der Twin Towers in New York muß sich die westliche Welt darüber im klaren sein, daß sie vor einer neuen totalitären Herausforderung steht - »der dritte Totalitarismus«, wie ihn Yehuda Bauer völlig zu Recht klassifiziert hat -,22 die den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts durchaus vergleichbar ist.23 Wie immer ging und geht es bei den großen totalitären Ideologien, seien sie nun faschistisch oder kommunistisch gewesen oder in der Gegenwart eben islamistisch, um eine scheinbar große, ja sogar göttliche Idee, deren Durchsetzung in den Augen ihrer Anhänger noch die inhumanSLC Barbarei zu einem Akt der Gnade zu erheben scheint. 24 Totalitär ist diese Herausforderung sowohl in ihren Zielen als auch in ihren Methoden, denn der Dschihad-Terrorismus möchte einen »Gottesstaat«25 nach dem Vorbild des Taliban-Staates in Afghanistan errichten, der keine Toleranz gegenüber Andersgläubigen kennt, allein nur eine sehr verengte und radikalisierte Form des
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sunnitischen Islam akzeptiert und alle Abweichungen davon brutal unterdrückt. Ein Staat, der die extreme Intoleranz zum Programm erhebt, der Frauen und Mädchen ihrer Menschenrechte beraubt und entwürdigt, Andersgläubige, Abweichler und Minderheiten unterdrückt und verfolgt und der sich zur Durchsetzung seiner Ziele barbarischster Gewalt zu bedienen bereit ist - Terror sowohl im Inneren als auch nach außen. Dabei gibt es grundsätzlich keine moralische Schranke beim Einsatz terroristischer Mittel, da noch die verbrecherischste Tat als gut erklärt wird und allein ihre terroristische Wirkung im Kampf - dem Dschihad - gegen die Ungläubigen und abtrünnigen Verräter des wahren Glaubens zählt.26 Je zerstörerischer, desto wirkungsvoller, und je wirkungsvoller, desto besser, weil schrecklicher in ihrer furchteinflößenden Wirkung, so lautet die Formel des neuen Totalitarismus. Diese Logik macht nicht nur das Militär, die Regierungsapparate und ökonomischen Interessen der Feindstaaten zu Zielen, sondern wird vor allem versuchen, die Wirkung des terroristischen Schreckens durch einen direkten Angriff auf die Zivilgesellschaften des jeweiligen Feindes zu erhöhen. Und dies gilt ganz besonders gegenüber den westlichen Demokratien und ihren Bürgern. Je wahlloser die Opfer unter der Zivilbevölkerung, desto größer die Wirkung des Schreckens. Diese Logik weitergedacht führt unmittelbar zu einer äußerst beängstigenden und deshalb sehr ernstzunehmenden neuen Bedrohung, nämlich daß dieser Terrorismus versuchen könnte, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bis hin zu einer Nuklearwaffe zu bringen und diese dann auch einzusetzen (oder auf die mögliche nukleare Wirkung eines konventionellen Terroranschlags),27 zu setzen da er keine moralische Schranke anerkennt und grundsätzlich nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden
bereit ist.
Vergleicht man diese neue totalitäre Herausforderung mit den beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, so fallen sofort zwei wesentliche Unterschiede auf. Erstens ist dieser dritte Totalitarismus diesmal nicht aus den Alpträumen der europäischen Aufklärung und den Modernisierungskrisen
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des Westens heraus entstanden, sondern entwickelte sich in der Welt des Islam als die radikalste Antwort auf deren Modernisierungskrise.28 Der utopisch-ideologische Gehalt dieses neuen Totalitarismus zielt nicht auf die Radikalisierung der westlichen Modernisierung, wie es bei der kommunistischen Bewegung der Fall gewesen war, sondern ist ganz im Gegenteil rückwärtsgewandt und damit in der historisch-ideologischen Regression eher dem Faschismus/Nationalsozialismus ähnlich, eine scheinbar radikale Ablehnung der Moderne im Namen des Islam und die Rückkehr zu dessen unverfälschter, ursprünglicher »Reinheit«. Dennoch sollte man sich weder durch die Ideologie noch durch die Kostümierung täuschen lassen, denn der islamistische Terrorismus ist Ausdruck einer Modernisierungskrise29 und nicht die Rückkehr zu einer verlorenen Ursprünglichkeit. Dies galt auch für die totalitäre Bewegung des Faschismus/Nationalsozialismus.30 Insofern scheint der 11. September Huntington recht zu geben, nach dem sich die Welt auf einen Krieg der Zivilisationen und Kulturen hinbewegt. Freilich wird diese These Huntingtons vor allem vom Dschihad-Terrorismus geteilt, der genau an diesem »Kampf der Kulturen« ein strategisches Interesse hat. Aber weder kann eine vernünftige Politik des Westens noch die große Mehrheit der gemäßigten Muslime allen Ernstes diese These akzeptieren. Denn dies würde im 21. Jahrhundert den Alptraum schlechthin bedeuten. Die Alternative dazu sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, sie liegt in der politischen Gestaltung der Globalisierung.31 Der zweite wesentliche Unterschied zwischen den alten Totalitarismen und dem Dschihad-Totalitarismus besteht in der substantiellen Differenz ihrer jeweiligen Größe und des Charakters ihrer jeweiligen Macht und damit auch ihres Bedrohungspotentials. Hitler und Stalin nannten eine gewaltige staatliche Machtbasis ihr eigen, Osama bin Laden ist lediglich das Oberhaupt eines internationalen Terrornetzwerkes. Die europäischen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts verfügten entweder über eine gefestigte Territorialmacht in entwickelten Industriestaaten mit einem enormen modernen Militärpotential, wie
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Deutschland, oder vermochten diese Macht aus dem fast unerschöpflichen Potential eines riesigen Landes heraus zu entwikkeln, wie in Rußland nach 1917. Nationalsozialismus und Bolschewismus stellten mit ihrer territorialen, ökonomischen und militärischen Machtbasis eine globale hegemoniale Bedrohung dar und mußten entweder in einem Weltkrieg niedergekämpft (Deutschland) oder in einer jahrzehntelangen Systemkonfrontation (Rußland) erschöpft werden - im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg. Beides waren Kriege um die globale Vorherrschaft gewesen, und in beiden großen Kriegen hieß der entscheidende strategische Gegenspieler USA, der schließlich die hegemonialen Absichten Nazideutschlands und Sowjetrußlands erfolgreich durchkreuzen sollte. Hierin findet sich dann allerdings trotz aller sonstigen tiefgreifenden Unterschiede eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der gegenwärtigen und den früheren totalitären Herausforderungen. Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus standen durch die Kriege, die gegen sie geführt werden mußten, im Zentrum politischer Zentralkonflikte, die das internationale Staatensystem gleichermaßen bedrohen wie ordnen sollten. Im Falle des Nationalsozialismus war es noch ein überwiegend europäischer Zentralkonflikt, der zum Zweiten Weltkrieg führte und der sich erst im Verlauf dieses Krieges ab 1941 zu einem Weltkonflikt ausdehnte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 stand nicht nur die völlige Niederlage Hitlerdeutschlands, sondern zugleich auch die Zweiteilung Europas und der Welt unter den Hauptsiegermächten USA und Sowjetunion. Diese Zweiteilung des Staatensystems war zwischen den Alliierten in Jalta vereinbart worden, und dieses System von Jalta führte binnen weniger Jahre nach der totalen Niederlage Nazideutschlands in den Kalten Krieg, der aufgrund der gegenseitigen thermonuklearen Vernichtungsandrohung allerdings nicht mehr ausgeschossen werden konnte. Der Zentralkonflikt mit der Sowjetunion wurde nicht mehr in einem heißen Krieg aufgelöst, sondern endete nach fünf Jahrzehnten kalter Konfrontation und Wettrüstens schließlich mit der Erschöpfung und dem Verschwinden der Sowjetunion.
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Während dieser Zeit bestimmte dieser globale Zentralkonflikt die gesamte Ordnung der Welt. Im gegenwärtigen internationalen System haben wir es aber kaum mit einem neuen Zentralkonflikt zu tun, weil dazu schlicht die Kontrahenten fehlen. Die Vereinigten Staaten sind auf der Ebene des strategischen Potentials und der symmetrischen militärischen Macht (Staat gegen Staat) in einer einzigartigen, von keiner anderen Macht oder denkbaren Mächtekoalition zu gefährdenden Rolle der alleinigen Weltmacht. Der Dschihad-Terrorismus ist weit davon entfernt, diese Macht auch nur in Ansätzen erschüttern zu können. Die wirklich relevante Frage wird sein, wie hoch die allgemeinen politischen, ökonomischen und kulturellen Kosten seiner Bekämpfung und eines langfristigen Engagements der USA (und damit auch Europas) im Nahen Osten sein werden und ob diese Kosten auf Dauer zu einem Akzeptanzproblem in der Mehrheit der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit führen werden. Die Beantwortung dieser Frage wird ganz entscheidend von der Weitsicht und dem Mut der strategischen Entscheidungen des Westens bestimmt werden. Für die zukünftige internationale Ordnung und den Frieden im 21. Jahrhundert wird es andererseits von entscheidender Bedeutung sein, als wie stark, wie tief in der islamischen Welt verwurzelt und als wie geistig und politisch mächtig sich dieser neue Totalitarismus jenseits seiner einzelnen Protagonisten und Organisationen erweisen wird. Gelingt es dem Westen und gelingt es vor allem den Staaten und Gesellschaften des Islam, diese totalitäre Herausforderung einzudämmen und zu isolieren, so wird sich aus dem 11. September keine dauerhafte Gefährdung der regionalen und internationalen Ordnung ergeben. Scheitert hingegen der Versuch der Isolierung und schnellen Eliminierung dieser Gefahr und ihrer tieferliegenden Wurzeln, dann allerdings kann der Dschihad-Totalitarismus zu einer anhalenden terroristischen Gefahr für den regionalen und den Weltfrieden werden, auch wenn daraus kaum ein neuer, weltweiter Zentralkonflikt im klassischen Sinne entstehen kann. Welche Entwicklung dieser Konflikt nimmt, wird aber ganz entscheidend davon abhängen, wie die Strategie des Westens im
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Kampf gegen den neuen Totalitarismus aussehen wird. Die Folge einer kurzsichtigen und unklaren Strategie wäre eine ungewollte Eskalation des Konflikts und damit einhergehend eine Verbreiterung der Unterstützungsbasis für diesen neuen Totalitarismus in der muslimischen Welt. Und dies würde wiederum die Regenerationsfähigkeit der terroristischen Netzwerke verstärken und damit die Dauer des Konflikts wohl erheblich verlängern. Die entscheidende Frage lautet, ob es nicht nur gelingen wird, diesen Terrorismus militärisch und polizeilich niederzukämpfen, sondern ob es darüber hinaus gelingen wird, tatsächlich auch seine kulturell-gesellschaftlichen Wurzeln mittels positiver Alternativen auszutrocknen. Dies wiederum ist eine politische Herausforderung von hoher Komplexität und sehr langer Zeitdauer, die durchaus mit der positiven Beantwortung der Systemfrage während des Kalten Krieges vergleichbar ist. Gegenwärtig sind die Kraft und das Durchhaltevermögen des neuen Terrorismus tatsächlich nur schwer abschätzbar. Insofern muß man wohl von zwei Zukunftsszenarien ausgehen: einem optimistischen und einem pessimistischen. Das optimistische Szenario legt die Annahme zugrunde, daß der Dschihad-Terrorismus bereits Ende der neunziger Jahre im Niedergang begriffen war und definitiv mit dem Anschlag vom 11. September seinen Höhepunkt erreicht und überschritten hat. Ja, in dieser Interpretation wird der 11. September dem Versuch zugeordnet, durch dieses Fanal den Prozeß des Niedergangs aufzuhalten und umzudrehen. Diese These vertritt vor allem Gilles Kepel in seinem >Schwarzbuch des Dschihads Es bleibe abzuwarten, so Kepel, »inwieweit die Katastrophe vom 11. September 2001, so wie es ihre Urheber hoffen, den Prozeß des Niedergangs umdrehen kann, der die islamistische Bewegung am Ende des vergangenen Jahrzehnts erfaßt und eine Eroberung der Macht verhindert hat«.32 Der direkte Angriff auf die USA hat eine machtvolle Gegenreaktion ausgelöst, die dem totalitären Islamismus binnen kurzer Zeit seine territoriale Grundlage in Afghanistan entzogen, den internationalen Verfolgungsdruck auf die Kader der Al-Qai-
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da weltweit dramatisch verschärft und durch die schnelle militärische Niederlage in Afghanistan seine Legitimationsbasis in der arabisch-islamischen Welt erheblich geschwächt hat. Zudem haben die westlichen Gesellschaften ihre geheimdienstlichen und polizeilichen Apparate erheblich verbessert, und zahlreiche Regime in der arabisch-muslimischen Welt kooperieren freiwillig oder unter amerikanischem Druck, beidesmal aber aus Selbsterhaltungsgründen, mit der internationalen Koalition gegen den Terrorismus. Das optimistische Zukunftsszenario unterstellt dabei keineswegs ein schnelles Ende des Terrorismus, aber bereits die Zeit seit dem 11. September habe gezeigt, daß, trotz der hohen Zahl zu beklagender Opfer, die Terroristen nur noch die Kraft zum Angriff auf sogenannte »weiche« Ziele an der Peripherie hätten. Der Terror werde also noch einige Zeit eine Herausforderung bleiben, gleichwohl werde er sich nicht mehr verstärken können und insofern auf mittlere Sicht als Bedrohung durch eine offensive Politik der Stärke zumindest erheblich eingedämmt, wenn nicht gar besiegt werden. Ein Erreichen seiner totalitären und verbrecherischen strategischen Ziele kann nach diesem optimistischen Szenario bereits heute ausgeschlossen werden, denn zu mehr, als schmerzhafte und gleichwohl begrenzte Verluste an unschuldigen Zivilisten zu produzieren, ist der Dschihad-Terrorismus aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht mehr in der Lage. Zur gegenteiligen Schlußfolgerung gelangt das pessimistische Szenario, und die Auswirkungen des Krieges der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak und die anhaltende Besetzung des Landes könnten die Entwicklung in Richtung des pessimistischen Szenarios stärken. An erster Stelle stehe dabei die Gefahr, daß es dem neuen Terrorismus auf mittlere Sicht tatsächlich gelingen könnte, die Golfregion und Saudi-Arabien zu destabilisiereni, und zwar mit tatkräftiger Hilfe des Westens. Denn der Irakkrieg und seine Folgen beseitigten Schritt für Schritt die regionale Hauptkonkurrenz der radikalen Dschihadis, nämlich die abgewirtschafteten nationalistischen Diktaturen und autoritären Regime. Und darüber hinaus würden die Demokratisierungsstrategie sowie die Realität der als »Fremdherrschaft« empfundenen
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Anwesenheit amerikanischer und westlicher Truppen einen Islamisierungsschock in der arabischen und islamischen Welt auslösen. Freie Wahlen, siehe das Beispiel Algeriens oder auch das Erstarken der Hamas in den palästinensischen Gebieten, könnten so durchaus zum Instrument der Islamisierung werden. Zudem drohe, analog zu der Islamisierung des Widerstandes gegen die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten, durch den Irakkrieg und die westliche Militärpräsenz im Zweistromland eine Verschmelzung von arabischem Nationalismus und Islamismus. Sollten sich die USA und ihre westlichen Alliierten im Irak in einen militärisch wie politisch nicht zu gewinnenden Kleinkrieg verstricken, so werde dieser aus sich heraus zu einer Radikalisierung in der muslimisch-arabischen Welt führen, moderate Regierungen in der Region destabilisieren und den Westen in ein aussichtsloses Patt zwischen High-Tech-Warfare und Selbstmordterrorismus verstricken. Ein solches Patt existiere bereits heute zwischen Israel und den Palästinensern, allerdings mit einer entscheidenden Differenz: Israel kämpfe alternativlos um seine Existenz. Die USA hätten dagegen die Option Rückzug, und wenn sie sich irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, unter dem Druck anhaltender Verluste zu einem Rückzug entschlössen, der bei den Nationalisten wie den Dschihadis als ein Sieg über die USA und den Westen insgesamt verstanden würde, so hätte dies für die Stabilität der gesamten Region schwerwiegendste negative Folgen. Auch die Sicherheitsinteressen des Westens und vor allem Europas als direktem regionalen Nachbarn würden davon wohl erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Insofern bestünde für Europa, anders als für die USA und andere außereuropäische Alliierte, diese Option Rückzug nur sehr eingeschränkt. Aber auch die möglichen Konsequenzen für die Weltwirtschaft seien von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Gerade die Stabilität der gesamten Region bleibe auf mittlere Sicht eine gewaltige Herausforderung. Im Zweistromland, am arabischen Golf und auf der arabischen Halbinsel befände sich der größte Teil der Weltölproduktion und -reserven, und eine Destabilisierung dieser Region hätte erhebliche ökonomische Konsequen-
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zen für die gesamte Weltwirtschaft. Aber auch die indirekten Folgen des n. September könnten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der globalen Ökonomie führen. Wenn sich die offenen Gesellschaften des Westens, an erster Stelle die USA, in Zukunft gegen vielleicht noch gefährlichere Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen schützen müßten, so könnte dies zuerst und vor allem die Offenheit dieser Gesellschaften und damit auch des freien Güteraustauschs erheblich einschränken. Der permanente Ausnahmezustand würde dann den offenen Charakter der westlichen liberalen Gesellschaften grundsätzlich verändern, bis hin zu dauerhaften Verschiebungen des innenpolitischen Spektrums. Walter Laqueur spricht bereits heute angesichts der Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung von einem »trügerischen Sieg«.33 Der Terrorismus vermöge zwar nicht die strategische Stärke der westlichen Gesellschaften oder gar der USA zu erschüttern, gleichwohl könne er ihre Offenheit und Liberalität durch MegaAttentate grundlegend in Frage stellen und statt dessen »Sicherheitsgesellschaften« herbeizwingen.34 Und eine solche »innere Aufrüstung« würde nicht nur zu gravierenden Konsequenzen in der Innenpolitik der westlichen Gesellschaften führen. Vielmehr könnte eine solche durch den Terrorismus erzwungene Abschottung der offenen Gesellschaften des Westens vor den notwendigen Einschränkungen beim Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Informationen und Menschen nicht haltmachen. Diese Entwicklung würde notwendigerweise zu erheblichen Einschränkungen des Welthandels und damit zu erheblichen Wachstumsverlusten führen, wie sie sich bereits seit dem 11. September anhand der tiefen Krise des internationalen Luftverkehrs haben beobachten lassen. Gerade das starke Wachstum des Welthandels sei aber eine der zentralen Voraussetzungen der Wohlstandsvermehrung der vergangenen Jahrzehnte in der westlichen Welt gewesen. Nicht auszudenken also, welche Konsequenzen eine sicherheitsbedingte längere Einschränkung des freien Welthandels tatsächlich nach sich ziehen würde. So oder ähnlich lauten also die beiden Grundmuster an aktuellen Zukunftsszenarien, und die kommende politische und wirt-
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schaftliche Realität wird sich wohl irgendwo dazwischen abspielen, abhängig nicht zuletzt von den politischen Entscheidungen der wichtigsten internationalen Akteure und davon, ob es den betroffenen Gesellschaften mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft gelingen wird, Demokratie und arabisch-islamische Staaten, marktwirtschaftliche Moderne und Islam in einer erfolgreichen Entwicklung zu verbinden. Damit könnte man die anhaltende Modernisierungsblockade in diesen Gesellschaften auflösen, ohne daß dies als äußerer Zwang, als Fremdherrschaft und kultureller Imperialismus oder gar neuer Kreuzzug verstanden würde. Dazu gehört ganz gewiß auch die Lösung des nahöstlichen Regionalkonflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn in Richtung einer selbsttragenden Friedensordnung. Der Nahostkonflikt ist mitnichten die Quelle allen Übels in dieser Region. Ganz im Gegenteil diente und dient Israel seit seiner Gründung vielen Machthabern und Regimen in der arabischen Welt als willkommene Ablenkung von den eigenen gravierenden Unzulänglichkeiten und Versäumnissen. Und ebenso gewiß trägt Israel keinerlei Schuld an den großen Modernisierungsproblemen in der muslimisch-arabischen Welt.35 Dennoch ist für eine zukünftige Friedensordnung im Nahen Osten die Lösung dieses Konflikts zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Staaten von zentraler Bedeutung, da seine Fortdauer die Instabilität in der gesamten Region aufrechterhalten wird. Eine Friedenslösung im Nahen Osten muß sowohl Israels Interesse an einem Leben ohne Terror und an seiner dauerhaften Existenzsicherung als jüdischer Staat als auch den legitimen Interessen der Palästinenser nach einem eigenen demokratischen Staat in den Grenzen von 1967 gerecht werden. Gelingt mittels einer langfristigen und auf Kooperation gründenden internationalen Anstrengung die Modernisierung und damit einhergehend der Aufbau einer belastbaren Friedensordnung im Nahen Osten, so wird die Wahrscheinlichkeit einer friedlicheren Zukunft um vieles größer sein. Wenn nicht, dann wird die Konsequenz aus dem 11. September keinesfalls zurück zum Status quo ante lauten. Vielmehr rückt dann mit hoher
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Wahrscheinlichkeit die Option einer lang anhaltenden, sehr gefährlichen Krise und Auseinandersetzung im Nahen Osten in den Vordergrund, und zwar unter Einschluß all der großen Risiken und Gefahren, die eine solche Option nach sich ziehen wird. Für Europa wäre dies eine höchst bedrückende und dauerhaft gefährliche Perspektive, denn der Nahe Osten ist seine unmittelbare Nachbarregion. Hier also, im weiteren nahöstlichen Krisengürtel, wird in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts vor allem über Europas Sicherheit entschieden werden, und deswegen wird für die europäischen Interessen diese Region an der Spitze ihrer sicherheitspolitischen Agenda zu stehen haben.
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II. Bruchlinien der globalen Desintegration »Die technologischen und sozialen Umwälzungen, die sich um uns herum vollziehen, sind ein historisches Phänomen von großer Komplexität und Tragweite, von dem jeder profitieren kann und das niemand zu beherrschen vermag — nicht einmal die Vereinigten Staaten! Die Globalisierung ist nicht das Instrument einer >neuen OrdnungMacht und Ohnmacht 156 die gegenwärtige Welt politisch in zwei höchst unterschiedliche Sphären auf: Die erste Sphäre sei die des Friedens, der Diplomatie, des Rechts, der Gültigkeit von Verträgen und des Wohlstandes. Behütet werde dieses »posthistorische Paradies«, so Kagan, von der militärischen Stärke Amerikas, und genossen werde es von einem machtpolitisch schwachen EUEuropa, das sich der Illusion hingebe, die Welt bestünde im wesentlichen aus Lämmern und nicht aus Wölfen, Hyänen und Schakalen.157 Theoretisch gründe diese behütete Welt auf Immanuel Kant und seine Schrift >Vom Ewigen Frieden< (1795), in
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der dieser entgegen allen politischen Erfahrungen seiner Zeit versuchte, eine philosophische Begründung für die Bedingungen eines anhaltenden Friedens zwischen souveränen Staaten zu formulieren. Zusammengefaßt lasse sich diese Welt als die Sphäre der machtpolitischen Illusion definieren. In der zweiten Sphäre von Kagans neuer Welt gelten hingegen ganz andere Bedingungen und Regeln: Hier herrscht die nackte Gewalt und damit das Recht des Stärkeren, und hier lebt die klassische marxistisch-leninistische Tradition ungebrochen fort, in der die Macht über das Recht gestellt wurde. In ihr wurden Rechtsfragen ausschließlich als Machtfragen gesehen, und für die Macht traf der berühmte Satz von Mao Tse-tung zu: »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.«158 In dieser Sphäre müßten Recht und Vertrag sich der Gewalt beugen, entscheide allein die militärische Stärke und sei äußerste Wachsamkeit und Härte angesagt, denn hier seien solche Schurken wie Saddam Hussein, Osama bin Laden und Kim Jong II zu Hause, tobe der Kampf gegen die Achsen des Bösen, gehe es um Krieg und Unterwerfung, Massenvernichtungswaffen und Terror, Sieg oder Untergang. Und hier, in dieser wirklichen Welt der Politik und deshalb fernab der europäischen Illusionen vom Ewigen Frieden, finde ebenfalls das machtpolitische Würfelspiel der großen Mächte und ihrer imperialen Interessen um die globale und regionale Machtverteilung im 21. Jahrhundert statt. Dies sei die Sphäre der machtpolitischen Realität.159 In dieser Sphäre eines eisigen Realismus von Macht und Gewalt gibt es keinen Platz für die schönen Ideen eines Immanuel Kant und seines aufgeklärten Philosophierens, sondern hier gilt allein Thomas Hobbes, der Denker des großen Leviathan, des absoluten Staates, der keine anderen Götter neben sich duldet, sondern diese statt dessen alle vernichtet: »Wir sollten nicht länger so tun, als hätten Europäer und Amerikaner die gleiche Weltsicht oder als würden sie auch nur in der gleichen Welt leben. In der alles entscheidenden Frage der Macht [sic!] - in der Frage nach der Wirksamkeit, der Ethik, der Erwünschtheit von Macht - gehen die amerikanischen und europäischen Ansichten auseinander. Europa wendet sich ab von der Macht, oder es bewegt
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sich, anders gesagt, über diese hinaus. Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants >Ewigem Frieden< gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlaß ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen.«160 Und genau in dieser Differenz zwischen der machtpolitischen Illusion in Gestalt eines »posthistorischen Paradieses« und der Wirklichkeit der Macht in der Geschichte liege, so Robert Kagan, die Ursache für den sich immer weiter öffnenden strategischen Graben zwischen den USA und Europa: »In zentralen strategischen und internationalen Fragen sind heute die Amerikaner vom Mars und die Europäer von der Venus: Sie sind sich nur noch in wenigen Punkten einig und verstehen sich gegenseitig immer weniger.«161 Kagan folgt in seiner Analyse des gegenwärtigen internationalen Systems einem historischen Relativismus der Werte, der die schwachen Staaten als die Verteidiger des internationalen Rechts sieht, des Multilateralismus und seiner machtpolitisch wenig gewichtigen Institutionen und einer verhandelten, bisweilen erhandelten oder sogar gekauften Sicherheit. In früheren Zeiten wären die USA schwach gewesen und deshalb den sanften Imperativen in ihrer Außenpolitik gefolgt, während die europäischen Mächte stark waren und folgerichtig imperial oder zumindest hegemonial agierten und ihr eigenes Recht durch ihre Macht zu setzen versuchten. Heute sei dies eben umgekehrt, 162 und deshalb lebe man diesseits und jenseits des Atlantiks seit dem Ende des Kalten Krieges und definitiv seit dem 11. September 2001 in ganz unterschiedlichen Welten der internationalen Politik. Kagan irrt. Auch er kann sich der historischen Tatsache nicht verschließen, daß es doch vor allem die Außenpolitik der USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen ist - als die Verei-
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nigten Staaten über eine bis dahin niemals zuvor gekannte militärisch-politische, technologische und ökonomische Dominanz verfügten -, die die multilateralen Institutionen, an erster Stelle die Vereinten Nationen, und auch Sicherheitsbündnisse von großer historischer Belastbarkeit und Tragweite, wie die NATO, geschaffen hat. Und darüber hinaus war es ein Wesensmerkmal der damaligen Außenpolitik der USA und ihrer visionären, auf Normen und Interessen gründenden Weltsicht, das bis dahin überwiegend auf der Machtpolitik souveräner Staaten gründende internationale System zunehmend zu verrechtlichen. Die UN-Charta und die verschiedenen internationalen Konventionen, die heute ganz selbstverständlich zum Kernbestand des geltenden Völkerrechts und der multilateralen Institutionen gehören, legen davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Gewiß hat der Kalte Krieg und die Zweiteilung der Welt das UN-System niemals wirklich funktionieren lassen, und die fünf Jahrzehnte währende Systemkonfrontation zwischen Ost und West wurde nicht durch die UN oder das internationale Recht entschieden, ebensowenig allerdings allein durch die überwältigende militärische Macht Amerikas. Macht und Werte bildeten die Grundlage des »Westens« nach 1947, und nur diese Verbindung hat den Sieg über die Sowjetunion möglich gemacht. Trotz aller Kritik und aller Einwände hat sich das System der UN als wesentlich leistungsfähiger und belastbarer erwiesen als das ihres Vorgängers, des Völkerbundes. Gemeinsam mit dem europäischen Einigungsprozeß, mit der erfolgreichen Rekonstruktion und Reintegration von Deutschland und Japan und mit der Gründung des transatlantischen Bündnisses gehört die Schaffung der Vereinten Nationen zu den absoluten Glanzleistungen der amerikanischen Außenpolitik und ihrer »Great Generation«. Kagan stimmt diesem Befund sogar zu: »Und natürlich stand ›der Westen‹ während des Kalten Krieges für etwas.Er repräsentierte die freiheitliche, demokratische Option eines großen Teils der Menschheit, die im Gegensatz stand zu der alternativen Option, die jenseits der Berliner Mauer existierte. Diese starke strategische, ideologische und psychologische Notwendigkeit, zu beweisen, daß es tatsächlich einen geschlossenen, einheitlichen
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Westen gab, verschwand mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Sturz der Lenin-Statuen in Moskau.«163 Aber genau hier, wo Kagan dann die entscheidende Antwort auf die Zukunft des Westens zu geben hätte, verweigert er die Antwort oder flüchtet in das Raunen eines amerikanischen Unilateralismus, ohne diesen jedoch in seinen Konsequenzen für die USA und das internationale politische System des 21. Jahrhunderts wirklich auszubuchstabieren. Aber selbst die ideengeschichtliche Gegenüberstellung von Hobbes und Kant trägt nicht als theoretische Begründung für die in der Gegenwart angeblich entscheidende Differenz im außenpolitischen Grundverständnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Diese beiden Staatsphilosophen standen in unterschiedlichen Jahrhunderten vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen, und der Jüngere, Kant, gründete auf den Ideen des Älteren. Hobbes war durch die Erfahrung der innerstaatlichen Religionskriege im damaligen England, d.h. durch die Schrecken des Bürgerkrieges, geprägt. Sein Denken kreiste vor allem und fast ausschließlich um die Frage, wie sich der religiöse Bürgerkrieg dauerhaft überwinden ließe, nämlich eben durch den absoluten Staat, den Hobbesschen Leviathan. »Der Staat ist nach Hobbes nur der mit großer Macht fortwährend verhinderte Bürgerkrieg.«l64 Kant hingegen hatte es mit den nicht enden wollenden Kriegen zwischen souveränen Staaten zu tun, und seine Frage war, ob und wenn ja wie sich diese zwischenstaatlichen Kriege in einer Weltordnung dauerhaften Friedens überwinden ließen. »Wiewohl Hobbes, wenn er vom Krieg spricht, stets Bürgerund Staatenkriege im Auge hat, behandelt er doch ausführlich nur die Umwandlung des Bürgerkrieges in einen Bürgerfrieden, nicht aber die der Staatenkriege in einen Staatenfrieden. Frieden im Lande, im angelsächsischen, war das Lebensprobiem, das zu lösen er sich vorgenommen hatte, an den Frieden zwischen den Ländern wagte er sich nicht heran, die Leviathane unter sich duldeten keinen Überleviathan. [...] Es war vor allem dann Immanuel Kant, der, ausdrücklich an Hobbes anknüpfend, den bellum omnium contra omnes vor allem als zwischenstaatlichen Natur-
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und Kriegszustand deutete, aus dem herauszufinden dann zum zentralen Anliegen seiner Friedensphilosophie wurde. - Wie man sieht, ist Kant ein Zu-Ende-Denker von Hobbes, ein Konsequenzzieher (auch) aus Hobbes. Hatte der große antifeudale Hobbes das von Spätscholastikern entwickelte universalistische Völkerrecht einer >civitas orbisZum Ewigen Frieden< den Gründervätern der amerikanischen Verfassung um Faktoren näherstand
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als der Prophet des Leviathan, des absoluten Staates. Bei genauerer Betrachtung der Geschichte der USA und ihrer geistesgeschichtlichen Traditionen, die bis heute fortgelten, ist es sehr gewagt, ausgerechnet Thomas Hobbes zum Propheten der neokonservativen Weltsicht auf das 21. Jahrhundert zu machen. Immanuel Kant läßt sich ohne weiteres in die amerikanische politische Tradition integrieren, Thomas Hobbes hingegen würde deren völlige Aufgabe und Verkehrung voraussetzen. Denn nach wie vor bilden das Begriffspaar Freiheit und Demokratie jenes normative Zentralgestirn, um das sich sowohl das politische Denken als auch die Verfassungsrealität der Vereinigten Staaten drehen. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor auf einem System der Begrenzung von Macht und nicht auf deren Verabsolutierung aufgebaut, und auch die historisch beispiellose Macht dieser unvergleichlichen Nation beruht bis heute auf der Einzigartigkeit ihrer Grundsätze. Dazu paßt Hobbes genausowenig wie die Idee eines amerikanischen Imperiums. Die Vereinigten Staaten waren vor mehr als zweihundert Jahren gerade gegen die Realität der europäischen Leviathane, der absoluten Fürstenstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts, gegründet, ihre Grundsätze und ihre politische Verfassung gegen diese Hobbesschen Realitäten in Europa entwickelt worden. »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.«169 Diese in der damaligen Zeit revolutionäre und zugleich hochprovokante Präambel der amerikanischen Verfassung war nichts weniger gewesen als eine Kampfansage des amerikanischen Volkssouveräns an die unfreien absolutistischen Staaten in Europa und demnach auch eine grundsätzliche Absage an die Staatenwelt des Thomas Hobbes. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten mußte Europa nach 1945 sein Staatensystem fundamental ändern und seine geistigen Grundlagen nahezu revolutionär erneuern, wenn es jenseits des
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bellum omnium contra omnes eine Zukunft in Frieden und Freiheit haben wollte. Denn anders als die USA lebte Europa seit dem Westfälischen Frieden im hobbesianischen System souveräner Leviathane, und die Französische Revolution, das Zeitalter des Nationalismus, die bolschewistische Russische Revolution und die nationalsozialistische Deutsche Revolution luden zudem dieses europäische System noch totalitär auf bis hin zur terroristischen Absolutheit der Macht. Diese europäische Welt des Thomas Hobbes zerstörte sich schließlich selbst. Und deshalb mußte das europäische Staatensystem, dieser beständige Quell von Gleichgewichtsversuchen, Hegemonialansprüchen und Kriegen, völlig neu erfunden werden - die Europäische Union und auf ein radikal anderes Prinzip gegründet werden - das Prinzip der Integration. Genau hierin liegt ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den USA, die sich nicht neu erfinden mußten und müssen, sondern die vielmehr vor dem Problem stehen, sich mit ihrer in der bisherigen Geschichte nicht gekannten machtpolitischen Alleinstellung in der Welt arrangieren zu müssen. Anders gesagt: Europa muß sich selbst neu ordnen, während von den USA verlangt wird, die Welt neu zu ordnen - und das sind gewiß sehr unterschiedliche Ausgangslagen. Die Europäer wissen um die Unverzichtbarkeit der amerikanischen Macht für Frieden und Stabilität, global, regional und auch in und für Europa. Und sie wissen um die Unverzichtbarkeit militärischer Macht, um die Gefährlichkeit der Welt im 21. Jahrhundert und daß diese Welt keineswegs nur von Lämmern bewohnt wird. Gleichwohl wirft das erst wenige Jahre alte Jahrhundert mit seinen neuen Bedrohungen und Konflikten jene alte Grundsatzfrage aller Außenpolitik erneut auf: Was heißt Sicherheit? Und wie läßt sie sich herstellen? Schon der Kalte Krieg war ein Bruch mit aller bisherigen Geschichte gewesen, da er nur noch »virtuell« geführt und dann schließlich auch so beendet wurde.170 Die wesentliche Ursache dieser Transformation des Krieges zu einem »Als-ob-Krieg« lag in der Unführbarkeit des nuklearen Krieges und seiner unkalkulierbaren Zerstörungskraft und den noch weniger kalkulierbaren Folgewirkungen begründet. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt hatte ge-
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gen Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue politische Qualität geschaffen, die das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines möglichen bewaffneten Konflikts zwischen den beiden weltweiten Atommächten ins Jenseits des Politischen verlagert. Damit wurde durch das militärische Wettrüsten einerseits der bisherige Höhepunkt in der Geschichte der Staaten an militärischer Sicherheitsvorsorge erreicht, diese andererseits aber zugleich auch grundsätzlich transformiert. Militärische Sicherheit reichte während des Kalten Krieges und unter der Logik der Abschreckung immer nur so weit, wie sie nicht realisiert, sondern lediglich angedroht werden mußte. Der Ernstfall des Krieges hätte unter diesen Bedingungen zugleich das Ende aller Sicherheit im gemeinsamen Untergang der Kombattanten in der thermonuklearen Katastrophe bedeutet. Eine vergleichbare Transformation der Realität und des Begriffs der Sicherheit zeichnet sich nunmehr auch durch die ökonomische und technologische Entwicklung ab. Sofern man nicht von der zu schlichten These ausgeht, daß es sich bei der wirtschaftlichen Globalisierung um eine amerikanische oder westliche Verschwörung handelt, sondern vielmehr um einen historischen Prozeß, in dem sich objektive Notwendigkeiten der makroökonomischen und historischen Entwicklung ausdrücken, wird man sehr schnell erkennen, daß auch die gegenseitige Abhängigkeit voneinander im internationalen politischen System dramatisch zunehmen wird. Die großen Mächte werden im 21. Jahrhundert die Option eines bewaffneten Konflikts untereinander nicht nur wegen der verheerenden Wirkungen der Nuklearwaffen nicht mehr nutzen können. Auch die wirtschaftliche und technologische Verflechtung der globalisierten Weltwirtschaft und das politisch-wirtschaftliche Zerstörungspotential einer möglichen erneuten wirtschaftlichen Desintegration werden zwischen den großen Mächten den Preis der militärischen Option in nicht mehr vertretbare Größenordnungen hochtreiben. Die sich gegenwärtig vollziehende Entwicklung des Eintritts der beiden asiatischen Megastaaten China und Indien mit ihren gewaltigen Bevölkerungen in das westliche Markt- und Kon-
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sumsystem und damit in die Weltwirtschaft wird diesen Trend dramatisch verstärken und eine neue Qualität in der globalen Wirtschaft und Politik hervorbringen. Bisher war das westliche Wirtschafts- und Konsummodell mit seiner extremen Wachstumsabhängigkeit ein Minderheitenprogramm von zwanzig Prozent der Menschheit. Mit dem Eintritt Chinas und Indiens in die globale Marktwirtschaft wird aber diese neue Quantität auch in eine neue Qualität umschlagen, und aus dem Minderheitenprogramm wird, bezogen auf die gesamte Menschheit, ein ökonomisches und kulturelles Mehrheitsprogramm werden. Ob angesichts der begrenzten globalen Ressourcen und der manifesten Irrationalitäten des westlichen Konsummodells diese neue Qualität der globalen Wirtschaft tatsächlich funktionieren kann oder ob das westliche Markt- und Konsummodell nicht vielmehr an seine »Grenzen des Wachstums« stoßen wird und deshalb sich selbst qualitativ transformieren muß, ist aus heutiger Sicht noch nicht wirklich empirisch zu beantworten. Die Zahlen und Prognosen sprechen allerdings eindeutig für die zweite Option. Auf jeden Fall werden die ökonomische Globalisierung und ihre Folgen auch die Realitäten und Begriffe von Sicherheit und Souveränität im 21. Jahrhundert dramatisch transformieren. Es ist schwer vorstellbar, daß ausgerechnet die Struktur und die Kategorien des untergegangenen europäischen Staatensystems von 1648 mit seinem Souveränitätsbegriff, seinem Gleichgewichtssystem und seiner Dominanz der militärischen Sicherheit zur Gestaltung dieser neuen globalen Realität in dem vor uns liegenden Jahrhundert taugen werden. Allein die Vorstellung, daß die Überlastung des begrenzten Ökosystems Erde durch die quantitativ und qualitativ völlig veränderte Weltwirtschaft in einen neuen politisch-militärischen Kampf um Einflußzonen und die immer knapper und teurer werdenden Ressourcen einmünden könnte, ist grotesk rückwärtsgewandt. Denn jeder mögliche Sieger in einer solchen Auseinandersetzung wird in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mit den möglichen Verlierern so auf das engste verflochten sein, daß die Negativeffekte eines Sieges diesen innerhalb kürzester Zeit eliminieren und sogar in sein Gegenteil verkehren würden.
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Wie also wird Sicherheit im 21. Jahrhundert definiert werden? Sie wird politisch, ökonomisch und institutionell vor allem auf Kooperation und Konsens aufgebaut werden müssen, weil die Optionen Konfrontation oder gar Krieg zunehmend zu teuer und deshalb zu Nicht-Optionen (Loose-Loose-Optionen) werden, die dann nur noch Verlierer hervorbringen. Die Menschheit, ihre Staaten, ihre Volkswirtschaften, ihre Technologien, ihre Bedürfnisse sind einfach so sehr gewachsen, daß sie zu einer neuen Dimension von gegenseitiger Abhängigkeit geführt haben und damit Kooperation erzwingen. Und auch die Risiken und Gefahren im internationalen politischen System des 21. Jahrhunderts sind jenseits effizienter internationaler Kooperation und Kontrolle und wirksam arbeitender multilateraler Institutionen und Regeln kaum beherrschbar. Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Umweltkatastrophen, Epidemien, zusammengebrochene Staaten, Flüchtlingsströme, Genozide - all diese Herausforderungen der nationalen und globalen Sicherheit werden einen vornehmlich militärisch definierten Sicherheitsbegriff und einen staatlich fixierten Souveränitätsbegriff hinter sich lassen müssen. Aus all diesen Gründen werden deshalb weder »Mars« noch »Venus« weiterhelfen, wenn es um die grundsätzliche Neuordnung des gesamten Systems geht. Auch im 21. Jahrhundert wird die klassische strategisch-militärische Macht nicht verschwinden, aber ihre Lösungskompetenz zur Sicherung nationaler Interessen und zur Stabilisierung des internationalen Systems wird sich immer mehr als unzureichend erweisen. Das internationale politische System steht vor der Notwendigkeit seiner Anpassung an die wirtschaftliche, technologische und ökologische Globalisierung, und diese notwendige Neuordnung der Welt wird nicht im Zeichen einer globalen Wiedergeburt des alten europäischen Gleichgewichtssystems und seiner hegemonialen und antihegemonialen Reflexe geschehen. Alles deutet vielmehr auf eine tiefgreifende Veränderung des internationalen Systems und seiner Institutionen hin. Eine Art »kopernikanische Wende«171 im Staatensystem kündigt sich zu Beginn dieses Jahrhunderts an, die die alte, auf dem europäischen Staatensystem des Westfälischen Friedens gründende Weltordnung hinter sich lassen wird.
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Die entscheidende Frage wird dabei sein, wie friedlich oder wie gewaltsam sich diese Transformation des internationalen Systems vollziehen wird. Und die Antwort auf diese Frage wird vom Westen, also zuerst und vor allem von den Vereinigten Staaten und Europa, zu geben sein, denn nicht nur die Globalisierung, sondern auch das existierende ökonomische System und das Staatensystem sind Kinder der westlichen Moderne. Weder die globale Macht USA allein noch gar Europa allein werden dies leisten können, sondern eine solche Aufgabe wird sich nur schultern lassen, wenn sich der Westen als solcher über eine gemeinsame strategische Perspektive unter den Bedingungen dieses Jahrhunderts definiert und damit auch erneuert.172 Wenn die USA und die EU weder die Kraft noch den Willen zu einem strategischen Konsens über die Gestaltung des 21. Jahrhunderts haben, wird diese Entwicklung wesentlich krisenhafter und gewalttätiger verlaufen, als wenn diese beiden Teile des Westens die Kraft, den Willen und die Weitsicht zu einem solchen Konsens aufbringen. Das schließt andere Regionen und Mächte keineswegs aus, im Gegenteil. Wenn sich der riesige Kontinent Afrika, trotz all seiner fast unlösbar erscheinenden Krisen und Konflikte, mittels der Afrikanischen Union (AU) auf den Weg in ein System kollektiver und kooperativer Sicherheit der Zukunft gemacht hat, so ist diese Entwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dasselbe gilt für Lateinamerika, für Südostasien und auch für Rußland, wenn es seine strategische Westöffnung nicht nur als eine ökonomische begreift, sondern vielmehr auch als eine demokratische, normative und gesellschaftliche. Gewiß werden sich im 21. Jahrhundert weder die Staaten zugunsten einer Weltregierung auflösen noch wird gar die Bedeutung der militärischen Sicherheit verschwinden. All diese Elemente des internationalen Systems werden fortexistieren, aber ihre Bedeutung wird sich verändern, und andere Elemente werden neu entstehen und an Bedeutung gewinnen. Denn wenn sich die klassischen Begriffe von Sicherheit und Souveränität qualitativ transformieren, dann wird sich auch die gesamte Ordnung des internationalen politischen Systems, die davon abhängt, qualitativ verändern, und eine solche Veränderung wird auch die
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Herausbildung neuer Institutionen oder die Umdefinition bestehender Institutionen unverzichtbar machen. Und wenn diese Grundannahme richtig ist, daß das globale Staaten- und Wirtschaftssystem auf Grund objektiver Zwänge zu einer immer enger werdenden Zusammenarbeit getrieben wird - Kooperation also objektiv die zentrale Kategorie der Rationalität dieses neuen Systems sein wird -, dann werden sich auch die beiden davon abgeleiteten Kategorien Sicherheit und Souveränität in Richtung kooperativer Institutionen und kooperativer Souveränität transformieren. Die Integration von Institutionen und Souveränität ist die fortgeschrittenste Form dieser Entwicklung im 21. Jahrhundert, die auf dem Zwang zur Kooperation beruht. Eine weitere qualitative Veränderung des internationalen Systems hat ebenfalls dramatische Folgewirkungen, nämlich seine Demokratisierung. Mit dem Ende des Kalten Krieges sind zwar nicht überall die Diktaturen und autoritären Regime verschwunden, gleichwohl gibt es heute weltweit mehr liberale Demokratien und offene Gesellschaften als jemals zuvor in der Geschichte. Mit der globalen Durchsetzung der liberalen Demokratie hat sich der Begriff der Macht in seinem Wesensgehalt verändert. Im alten Staatensystem definierte sich die Macht überwiegend aus sich selbst: Die Macht kam aus den Gewehrläufen. Wer die Macht hatte, setzte sich durch und damit auch die Regeln. Heute begründet sich die Macht nicht mehr allein oder gar wesentlich aus sich selbst. Die Anerkennung der Macht durch Konsens, und d. h. die Legitimation der Macht durch Zustimmung, ist in einem sich zunehmend demokratisierenden internationalen System zu einem wesentlichen Teil von Macht geworden. Diese Entwicklung ist historisch ganz wesentlich der normativ gebundenen Außenpolitik der USA zu verdanken, für die die Demokratisierung und Verrechtlichung des Staatensystems immer von entscheidender Bedeutung war. Auch mit dieser Entwicklung hin zur Demokratisierung kündigt sich bereits die tiefgehende Transformation von Macht, Sicherheit und Souveränität und damit des gesamten Systems selbst an, wie es weiter oben beschrieben wurde. Der objektive Zwang zu Kooperation und Konsens im Jahrhundert der Globalisierung dringt in die tradier-
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ten Kategorien des internationalen politischen Systems und damit auch in seine Realitäten ein und treibt deren Transformation voran. Wenn auf diesen Druck, der aus den sich in den politischen Tiefenschichten des Staatensystems vollziehenden Verschiebungen entsteht, nicht angemessen mit der Transformation der Strukturen und der Institutionen des internationalen Systems reagiert wird, so werden die Energien dieses Veränderungsdrucks zu einer zunehmenden Dysfunktionalität des gesamten Systems führen, und dessen Handlungsrationalität und Handlungsfähigkeit wird nach und nach verlorengehen. Exakt diese Entwicklung kann man gegenwärtig im internationalen System beobachten.
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V. Europa, Amerika und die Zukunft des Transatlantismus »Europa hat allerdings das Problem, in zwei Welten gleichzeitig zu leben: der der alltäglichen Realpolitik und der des Traums von einer besseren Zukunft. An letzterem festzuhalten und dabei die sehr realen Gefahren der Gegenwart nicht aus dem Blick zu verlieren, ist die schwierige Aufgabe. Und die größte Herausforderung dabei ist, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln.« JEREMY RIFKIN
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Kann man aus der Geschichte wirklich lernen? Diese alte und von der Politik wie der Geschichtswissenschaft bis heute niemals wirklich zufriedenstellend beantwortete Frage wurde, bedingt durch die fragwürdigen politischen Begründungen für den Irakkrieg und dessen Verlauf, erst jüngst wieder von dem amerikanischen Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. aufgeworfen. Bis heute wirkt das Versagen der westlichen Demokratien gegenüber Hitler in den dreißiger Jahren in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Frage von Krieg und Frieden nach. Gerade anhand dieser konstitutiven Erfahrung der gescheiterten Politik des Appeasements von München 1938 weist Schlesinger auf die kaum auflösbare Ambivalenz historischer Analogien hin. Er zitiert dazu aus der Autobiographie Winston Churchills aus dem Kapitel über das Münchener Abkommen: »Es dürfte hier angebracht sein, einige Grundsätze der Moral und des Handelns niederzulegen, die künftig als Orientierung dienen mögen. Kein Fall dieser Art kann losgelöst von seinen Zusammenhängen beurteilt werden.« Schlesinger schildert dann, welche Erfahrungen man in den fünfziger Jahren mit der Übertragung des Beispiels von München gemacht hat: »Sechzehn Jahre nach München, als Präsident Eisenhower die Analogie zu München heranzog, um
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die Briten davon zu überzeugen, gemeinsam mit den Amerikanern die Franzosen in Indochina zu unterstützen, zeigte sich Churchill unbeeindruckt. Er wies Eisenhowers Analogie zurück, was Churchills Nachfolger als Premierminister zwei Jahre danach natürlich nicht davon abhielt, Gamal Abdel Nasser und den Nahen Osten unter den Bedingungen von 1938 zu sehen und sein Land in das Suez-Abenteuer zu stürzen. Dieses Mal war es Eisenhower, der die Analogie zu München zurückwies. Solche Vorfälle veranschaulichen die bedrückende Beharrlichkeit einer Mentalität, die Politik anhand von Stereotypen und historischen Verallgemeinerungen betreibt, die der Vergangenheit auf unzulässige Weise entwunden und mechanisch auf die Zukunft übertragen werden.«174 Letztlich kommt Schlesinger zu dem wenig verheißungsvollen Befund, daß man am Ende »zu dem Schluß kommen wird, daß die Masse der Irrtümer, die im Namen >Münchens< begangen wurden, über den ursprünglichen Irrtum von 1938 hinausgehen dürfte«.175 Man muß nun keineswegs diese pessimistische Schlußfolgerung teilen, um dennoch zu der Überzeugung zu gelangen, daß es für die alte Frage nach den Lehren aus der Geschichte keine verallgemeinerbaren Antworten gibt. Ob eine politische Entscheidung auf einer erfolgreichen Geschichtslektion gründet oder ob dieselbe Entscheidung die Lehren aus der Geschichte gründlich mißverstanden oder gar für falsche Zwecke ideologisch mißbraucht hat, weiß man leider immer erst im nachhinein. Denn alle politischen Entscheidungen sind interessegeleitet und deshalb meistens hochkontrovers. Zudem blickt die historische Erkenntnis immer zurück und niemals voraus. Die Wirkung einer jeden politischen Entscheidung ist von ihrem Ergebnis her immer zukunftsoffen und beruht folglich niemals auf Erkenntnis, sondern immer auf mehr oder weniger schlüssigen Annahmen. Die Frage nach der Möglichkeit, aus der Geschichte Lehren zu ziehen, wurde gegenwärtig ganz unmittelbar durch den Krieg gegen den Irak aufgeworfen, durch seine invaliden Begründungen und die politischen Spaltungen, die er im Westen verursacht hat. Churchill, Appeasement und München wurden dabei seitens
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der Befürworter gegen die Gegner des Krieges im Zweistromland in Stellung gebracht. Diese historisierenden Bezüge haben sich jedoch im Lichte der Ereignisse als Fehlgriffe erwiesen. In der aktuellen außenpolitischen Debatte diesseits und jenseits des Atlantiks wird mangels einer konsistenten strategischen Perspektive des Westens nur allzu gerne auf die Geschichte zurückgegriffen, wie etwa zur Erklärung der historisch präzedenzlosen Alleinstellung der USA als globaler Macht, des Krieges gegen den Dschihad-Terrorismus, der zukünftigen Weltordnung und der Kontroversen um die Gründe des Krieges gegen den Irak. Hinter diesem mit historischen Bezügen arbeitenden Legitimations- und Erklärungsanspruch stößt man jedoch zugleich auch auf eine tiefe Verunsicherung aller Akteure im Westen angesichts der gegenwärtigen unüberschaubaren Lage und einer bedrohlich erscheinenden Zukunft. Zwar leistet man sich auf beiden Seiten des Atlantiks bei der Suche nach neuen strategischen Antworten für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts den Luxus, so zu tun, als ob man auf die jeweils andere Seite verzichten könne, weil sie entweder zu machtlos (Europa) oder zu übermächtig (USA) sei. Zugleich aber ahnen beide Seiten ganz genau, daß sie sich ein Ende des Westens keineswegs erlauben dürfen, da beide Seiten, Europa und Amerika, dabei nur verlieren würden. Ein stabiler Transatlantismus, ein befriedeter, demokratisch verfaßter und marktwirtschaftlich organisierter Raum bildet sowohl für die Nordamerikaner als auch für die Europäer das Rückgrat ihrer Sicherheit. Würde man tatsächlich versuchen, diese Errungenschaft der Geschichte, bezahlt mit sehr vielen Opfern, in Frage zu stellen, oder sie auch nur langsam durch Desinteresse oder falsche Prioritätensetzung erodieren lassen, so wäre dies ein strategischer Fehler, ja mehr noch, eine historische Dummheit. Freilich werden diese Beziehungen keineswegs dadurch besser, daß man sich in ritualisierte Bekenntnisse flüchtet und sich so der unabweisbaren Notwendigkeit einer durchaus grundsätzlichen Neubestimmung entzieht. Denn ohne eine Erneuerung des Transatlantismus, getragen von den Akteuren auf beiden Seiten des Atlantiks und ruhend auf einem umfassend erneuerten stra-
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tegischen Konsens, wird der transatlantische Graben sich verbreitern und die Erosion zunehmen. Eine solche Entwicklung liegt weder im Interesse Nordamerikas noch Europas, und deshalb darf es dazu nicht kommen. Amerikaner und Europäer verfügen über wesentliche Gemeinsamkeiten, gründen in ihrem kollektiven Bewußtsein jedoch auch auf höchst unterschiedlichen historischen Erfahrungen. Deshalb reagieren sie auf dieselben Bedrohungen und Gefahren bisweilen sehr verschieden, ja sogar gegensätzlich. Dies kann auf beiden Seiten zu mangelndem Verständnis (bis hin zur Ablehnung) der Reaktionen der jeweils anderen Seite führen, und daraus entsteht dann ein ganzes Knäuel von politischer und emotionaler Fehlkommunikation. Bei all den Animositäten zwischen beiden Seiten des Atlantiks handelt es sich aber letztendlich um Ärger, um Verdruß und schlechte Gefühle innerhalb derselben politisch-kulturellen Familie, die, wie alle Familien, letztendlich aufeinander angewiesen bleibt, wenn man nicht großen Schaden für alle Beteiligten anrichten will. Und diese transatlantische Familie teilt auch die Sorgen und Ängste, die eine bedrückende Chaosperspektive angesichts der Unübersichtlichkeit der heutigen politischen Welt auslöst. Auch deshalb sucht man bisweilen seinen Halt dort, wo man sich nach wie vor sicher meint, nämlich in einer verklärten Vergangenheit, in den glanzvollen Momenten der Geschichte des Westens und in den daraus zu ziehenden tatsächlichen oder vermeintlichen Lehren. Für diese negative politische Gefühlslage in den westlichen Gesellschaften gibt es vor allem zwei objektive Gründe: die Radikalität des Bruchs von 1989/90 und die geschichtliche Unvergleichbarkeit der gegenwärtigen Lage des internationalen Systems. Bei einer Analyse des gegenwärtigen Staatensystems stößt man ganz unmittelbar auf das herausragende Charakteristikum der Unvergleichbarkeit. Etwas völlig Neues, Einmaliges scheint sich seit dem Epochenbruch von 1989/90 entwickelt zu haben, das sich in einer so bisher niemals dagewesenen globalen technologisch-ökonomischen Integration, in der weltweiten Einzelstellung einer Macht ohne Gegengewicht und in einer bisher kaum gekannten machtpolitischen Asymmetrie zwischen staat-
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liehen und nichtstaatlichen Akteuren ausdrückt, um nur einige der neuen Faktoren und Veränderungen zu benennen. Gewiß überwiegen rein quantitativ nach wie vor die Kontinuitäten im internationalen politischen System, aber es sind gerade die neuen Faktoren, die den begründeten Verdacht nahelegen, daß wir gegenwärtig Zeugen sehr tiefgreifender Verschiebungen und Veränderungen im internationalen System sind. Diese Veränderungen sind von einer Grundsätzlichkeit und Radikalität, die im Bewußtsein aller Beteiligten kaum angekommen ist, weil sie eben in der bisherigen Geschichte der Staaten so präzedenzlos sind. Nirgendwo wird diese Tatsache sinnfälliger als in den transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa. Betrachtet man entlang einer langen, mehr als dreieinhalb Jahrhunderte dauernden Linie das internationale System der Gegenwart, so wird sehr schnell sichtbar, daß sich dieses System aus der Globalisierung des europäischen Staatensystems im 20. Jahrhundert mittels zweier Weltkriege, durch die Dekolonisierung und durch das Ende des Kalten Krieges ergeben hat. Zwei Mächte haben diese Globalisierung nach 1945 in ihrem Kampf um die weltweite Vorherrschaft ganz besonders vorangetrieben, nämlich die USA und die Sowjetunion, die in diesem Zweikampf unterlegen und untergegangen ist. Gleichwohl scheint sich mit dem Ende dieses bipolaren Systems nicht einfach die globale Hegemonie der USA (und schon gar nicht ein amerikanisches Imperium) durchgesetzt zu haben, d. h. die Fortsetzung des bisherigen Systems zu den machtpolitischen Bedingungen des Siegers. Vielmehr scheint das System als solches in seinem Innersten einen fundamentalen Bruch erlitten zu haben, der alle Beteiligten — und hier an erster Stelle die USA und Europa - vor große Orientierungsschwierigkeiten stellt. Das moderne Staatensystem ist im wesentlichen von Europa geschaffen worden. Das globale Ausgreifen der europäischen Mächte bestimmte und strukturierte die Welt der Neuzeit. Obwohl die USA von Anfang an eine expansive, auf den ganzen nordamerikanischen Kontinent bezogene Außenpolitik betrieben haben, traten sie doch erst sehr viel später, nach der Sicherung ihrer Rolle als quasi alleinige nordamerikanische Kontinen-
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talmacht, in die Weltpolitik ein. Dieser Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik vollzog sich aber entlang der vom europäischen System vorgegebenen Linien. Um das gegenwärtige Problem der USA und die aktuellen Schwierigkeiten im amerikanisch-europäischen Verhältnis besser zu verstehen, sei hier das Bild eines großen Stromes verwandt, den das sich mehr und mehr global ausweitende europäische Staatensystem verkörperte. Die Vereinigten Staaten begannen ihren Einstieg in die Weltpolitik, indem sie sich in diesen von Europa und seinen Konflikten vorgegebenen Strom der Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts und definitiv 1917 mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg hineinbegaben. Sie setzten diesem System nicht eine eigene Alternative entgegen, obwohl sie diesen Anspruch, bedingt durch den ganz besonderen Charakter ihrer Gründung, in ihrer Außenpolitik durchaus immer aufscheinen ließen. Dieser mächtige europäische Geschichtsstrom bestimmte seit dem Beginn der Neuzeit das sich entwickelnde Staatensystem, und er folgte klar konturierten Strukturen und Interessen. Die Vereinigten Staaten agierten während des gesamten 20. Jahrhunderts höchst erfolgreich innerhalb dieses Stromes der europäischen Geschichte und bestimmten mehr und mehr seinen weiteren Verlauf, aber dieser europäische Strom endete abrupt mit dem Untergang der Sowjetunion. Die »Goldenen« neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts konnten im Westen noch für einige Zeit das ganze Ausmaß dieses revolutionären Bruchs im Staatensystem überdecken. Doch heute ist es offensichtlich, daß sich dieser mächtige Strom des europäisch-globalen Staatensystems in einer sumpfigen Diffusion der Weltgeschichte verloren hat, gewissermaßen in einem Pantanal der Staatengeschichte, in dem es von gefährlichen Vipern, Moskitos und wilden Bestien nur so wimmelt. Dieses Sumpfgebiet scheint keinen Anfang und kein Ende zu nehmen, und der Lauf der Gewässer läßt sich in den aufsteigenden Nebeln nur noch schwer enträtseln. So setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß mit der Zeitenwende von 1989/90 eben nicht nur die bipolare Weltordnung von Jalta ihr Ende gefunden hat, sondern daß
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diese Zäsur weitaus tiefer reicht. Auch die dreihundertfünfzig Jahre währende Geschichte des europäischen Staatensystems hat mit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion ihr Ende gefunden. In der Tat erklärt diese These vom Ende des alten europäischen Systems in den Jahren nach 1989/90 viele der gegenwärtigen Anpassungsprobleme im transatlantischen Verhältnis. Denn sowohl die USA als auch Europa reagierten, entsprechend ihrer unterschiedlichen Verfaßtheit und objektiven Lage, höchst unterschiedlich auf diesen Bruch in der Geschichte des Staatensystems: Die USA als souveräne und einzige Weltmacht fanden sich auf Grund ihrer präzedenzlosen Stärke in einer objektiv unilateralen Lage wieder, die Europäer hingegen in einer ihre Souveränität neu definierenden transnationalen Transformation, die sich in der Europäischen Union materialisiert. Nun aber wird immer offensichtlicher, welche Bedeutung es hatte und hat, daß die USA bisher, trotz ihrer einmaligen Stärke, doch im wesentlichen immer entlang der Vorgaben und damit innerhalb der Logik des europäischen Staatensystems agiert haben. Sie waren zwar in der Zeit von 1945 bis 1989 zu den Erben des europäischen Staatensystems geworden, aber das überkommene System als solches bestand in seinem Kern unverändert fort. Die wirkliche Revolution des Staatensystems ereignete sich erst mit dem Kollaps der Sowjetunion. Denn dadurch wurde die globale hegemoniale Bipolarität durch einen unilateralen Zentralismus abgelöst. Eine solche Konstellation aber hat die bisherige Geschichte des internationalen Systems bis dato noch niemals gesehen. Folgte man daher allein der objektiven Logik dieser Revolution des gegenwärtigen Staatensystems, so stünden die USA fortan allein vor der Aufgabe, ein völlig neues globales System zu entwerfen und durchzusetzen, das auf eben diesem globalen Zentralismus einer einzigen Macht beruhen müßte. Freilich gilt dies nur für die objektive Lage des internationalen Systems. Im vorangegangenen Kapitel haben wir bereits die Unmöglichkeit eines amerikanischen Imperiums erörtert, und selbstverständlich gelten all die dort angeführten Gründe auch hier. Die Herausforderungen eines globalen unilateralen Zentra-
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lismus wären zu groß, seine Legitimation zu gering, und die subjektive Verfaßtheit der Mehrheit des amerikanischen Volkes wie auch seine Traditionen und Prinzipien ließen ein solches Unterfangen kaum erfolgreich zu. Objektive Notwendigkeit und subjektive Unmöglichkeit begründen also einen kaum auflösbaren Widerspruch in der gegenwärtigen strategischen Lage der alleinigen Weltmacht USA, und das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Ordnung bzw. Unordnung im globalen Staatensystem. Freilich ist die Beschreibung eines Widerspruchs keineswegs schon eine Antwort auf die drängende Frage nach der neuen Ordnung der Welt, die nur die USA als einzige globale Macht geben kann, sonst bleibt es bei der gegenwärtigen Widersprüchlichkeit in der Realität des Staatensystems, was die Konfliktpotentiale, Krisen und Instabilitäten erheblich vergrößern und gefährlich aufladen wird. Dreimal haben die USA im 20. Jahrhundert auf eine Gefährdung des Staatensystems mit einem großen, institutionell, politisch, wirtschaftlich und normativ unterlegten Ordnungsentwurf (»Grand Strategy«) reagiert, zweimal davon recht erfolgreich. Präsident Woodrow Wilson schuf den Völkerbund als Antwort auf die Gefährdung des europäischen Staatensystems durch den Ersten Weltkrieg; Franklin D. Roosevelt entwickelte das System der Vereinten Nationen als Antwort auf den Krieg um die Weltherrschaft durch Nazi-Deutschland und das imperiale Japan im Zweiten Weltkrieg; und Präsident Harry S. Truman und sein Außenminister George C. Marshall entwarfen zu Beginn des Kalten Krieges gegen die sowjetische Bedrohung Westeuropas und anderer Regionen eine politisch-militärische Bündnisstruktur, in ihrem Zentrum die NATO und der Marshall-Plan. Eine vielleicht noch größere Anstrengung ist jetzt, als Antwort auf den neuen Totalitarismus und die Globalisierung, von den USA als führender Weltmacht zu leisten, wenn die strategische Bedrohung ihrer Sicherheit erfolgreich abgewehrt werden soll. Angesichts der Größe der Aufgabe, eine neue Weltordnung zu schaffen, darf allerdings mit guten Gründen die Frage aufgeworfen werden, ob selbst ein Staat von der präzedenzlosen Machtfülle der Vereinigten Staaten dazu allein in der Lage sein wird,
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d. h. ob dessen Ressourcen an Macht und Legitimation für diese Herausforderung ausreichen werden. Daran bestehen ernsthafte Zweifel, denn genau hier macht sich das Verschwinden des europäischen Geschichtsstromes negativ bemerkbar. Rußland, China, Indien, Japan, Brasilien - all diese und viele andere Mächte werden bei dem Entwurf einer neuen Ordnung wichtige, vielleicht sogar zentrale Akteure oder schlimmstenfalls Opponenten sein, aber nur Europa - und d. h. ein einiges und damit starkes Europa, mit seinem Instinkt und tieferen Sinn für Geschichte und seiner engen Werte- und Interessenbindung über den Atlantik hinweg - kann dabei die Rolle eines echten Partners ausfüllen. Herausgefordert ist also der Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika. Handelt es sich bei der unilateralen Position der USA am Ende nur um einen »Zufall« der Geschichte? Die Lage selbst, so eine verbreitete These, sei eben atypisch und systemwidrig und würde durch den Verlauf der weiteren Geschichte wieder korrigiert werden. Spätestens Mitte des Jahrhunderts werde es dann wieder ein Mächtegleichgewicht zwischen der VR China und den USA und vielleicht sogar noch mit anderen Weltmächten geben. All das mag zutreffen, jedoch sprechen andererseits gewichtige Faktoren dafür, daß es sich bei den aktuellen Entwicklungen im Staatensystem keineswegs nur um ein zufälliges Zwischenspiel handelt. Denn nicht nur die USA, sondern auch die Europäer befinden sich in einer Situation historischer Einmaligkeit, ja vielleicht gilt dies für Europa mit seinem ebenfalls präzedenzlosen Einigungsprozeß souveräner Nationalstaaten in einer Union sogar noch sehr viel mehr. Die Europäische Union hat sich während des letzten Jahrzehnts grundlegend verändert. Dies war sowohl das Ergebnis eigener Entscheidungen als auch neuer Herausforderungen. Aus dem Europa der 15 ist seit dem 1. Mai 2004 das Europa der 25 Mitgliedsstaaten geworden. Europa hat damit definitiv die Teilung des Kontinents überwunden, die über fünf Jahrzehnte während der gesamten Zeit des Ost-West-Konflikts bestanden hatte. Damit einhergehend wurde ein Binnenmarkt mit über 450 Millionen Menschen geschaffen. Die gemeinsame Währung
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Euro, der Binnenmarkt mit der Freizügigkeit von Personen, Waren, finanziellen Leistungen und Dienstleistungen, der Abbau der inneren Grenzen, die Unionsbürgerschaft, auch eine gemeinsame, zumindest zunehmend besser und intensiver koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich ein europäischer Verfassungsentwurf mit Grundrechten und demokratisch legitimierten europäischen Institutionen - all das sind die sichtbaren Veränderungen, welche die EU innerhalb weniger Jahre durchlaufen hat. Heute kann man von Wien bis Lissabon mit dem Auto fahren, ohne auch nur einmal an einer Grenze seinen Paß zeigen zu müssen, und darüber hinaus kann man immer mit demselben Geld bezahlen. Nach dem Ablauf eines weiteren Jahrzehnts oder weniger wird dies auch für eine Reise mit dem Auto von Estland bis Portugal gelten. Wer Europas Geschichte kennt, der weiß, welche Revolution im europäischen Staatensystem sich in diesen Veränderungen des europäischen Alltags zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausdrückt, und dabei ist es gerade erst sechs Jahrzehnte her, daß der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war und Europa zu weiten Teilen zerstört und geteilt daniederlag. Die wichtigste Veränderung brachte allerdings die letzte Erweiterungsrunde der EU vom 1. Mai 2004 mit sich. Denn durch diesen Schritt über den früheren Eisernen Vorhang hinweg wurde die Europäische Union, die bis dahin, bedingt durch die Realität des Kalten Krieges und die damit einhergehende europäische Teilung, de facto lediglich eine (west-)europäische Union gewesen war, erst wirklich zu einer (gesamt-)europäischen Union. Es erwies sich sehr schnell, daß diese scheinbar nur quantitative Erweiterung der Union der 15 um weitere zehn neue Mitgliedsstaaten auch sehr weitgehende qualitative Konsequenzen nach sich ziehen sollte, denn durch diese große Erweiterungsrunde wuchs die EU definitiv in eine strategische Verantwortung hinein, die dem europäischen Einigungsprozeß eine völlig neue Dimension aufzwang. Zu Beginn schien die Union nur eine Wirtschaftsgemeinschaft zu sein, aber dies betraf lediglich ihre äußere Erscheinungsform. Ihr Ziel war bereits damals ein politisches, nämlich
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die Durchsetzung eines neuen Ordnungsprinzips unter ihren Mitgliedern - das Prinzip der Integration. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten sollte zumindest in Teilen zusammengeführt werden, und diese integrierten Teile der bisherigen nationalstaatlichen Souveränität sollten mittels gemeinschaftlicher Institutionen fortan gemeinsam, entlang ausgehandelter Regeln, ausgeübt werden. Die Montanindustrie machte den Anfang, und der gemeinsame Markt und Agrarmarkt folgten. Die Integration der ökonomischen Interessen diente also vom ersten Augenblick an einem hochpolitischen Zweck, nämlich der dauerhaften Sicherung des Friedens zwischen den Mitgliedsstaaten, und das hieß vor allem zwischen den beiden alten Erbfeinden Deutschland und Frankreich. Aus heutiger Sicht wirkt es fast schon wie eine Ironie der Geschichte, daß hinter der Idee der europäischen Integration nichts Geringeres stand als die Vision der Vereinigten Staaten von Europa und damit die ursprünglich amerikanische Vision von Transnationalität, wie sie vor mehr als zweihundert Jahren auf dem nordamerikanischen Kontinent mit der Gründung und der Expansion der USA zu einer machtvollen Realität geworden war. Und wie um diese Ironie noch zu steigern, waren es ausgerechnet zwei große französische Staatsmänner, die über den Mut, die Stärke und die Weitsicht verfügten, um nach den Verheerungen der Epoche des europäischen Nationalismus und der fast gelungenen Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen, nach der totalen Niederlage von Hitlers Großdeutschem Reich und angesichts der Bedrohung durch Stalins großrussisches Imperium diese Vision von den Vereinigten Staaten von Europa konkret anzupacken. Wer nach einer die Zeiten überdauernden, normativ-philosophischen und zugleich machtpolitisch-visionären Begründung für einen sich erneuernden Westen im 21. Jahrhundert sucht, der kann genau hier fündig werden. Die EU und die USA als die beiden Eckpfeiler des Transatlantismus gründen nicht nur auf denselben Werten und Normen der abendländisch-christlichen Aufklärung, sondern sie folgen in ihrer jeweiligen Antwort auf die politische Krise der Moderne auch derselben Vision,
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nämlich der transnationalen Integration von Souveränität. Die Ungleichzeitigkeit dieser beiden politisch-kulturellen Prozesse führt allerdings in der transatlantischen Gegenwart, gemeinsam mit historischen Erfahrungsdifferenzen und einem bedeutenden machtpolitischen Gefälle, zu politischen Problemen und Verwerfungen, die nicht nur in der Irakkrise aufbrachen. Gleichwohl war es vor allem diese Krise, welche die transatlantischen Differenzen voll sichtbar gemacht hat. Die Verfolgung derselben Vision festzustellen heißt aber keineswegs, die real existierenden kulturellen, sozialen und historischen Unterschiede, die zwischen Europa und den USA existieren, zu übergehen. Die USA wurden auf einer fernen, kontinentalen Insel in einem nahezu geschichtsfreien Raum vor über zweihundert Jahren gegründet, von dreizehn Staaten mit etwa 2,5 Millionen aus Europa zugewanderten Einwohnern.176 Europa hingegen ist übersatt an Geschichte, verfügt über stolze und alte Nationalstaaten, eine noch stolzere und ältere Vielfalt an Sprachen und Kulturen, umfaßt heute 450 Millionen Menschen, und sein komplizierter und mühseliger Einigungsprozeß findet unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts statt. Und dennoch, trotz all dieser gravierenden Unterschiede teilen die USA und die EU im Grundsatz dieselbe Vision. Diese Tatsache wird sich in Zukunft noch als bedeutsam erweisen. Es gibt darüber hinaus weitere bedeutsame Differenzen mit weitreichenden Konsequenzen zwischen der europäischen und der amerikanischen Einigungsvision. Die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika erfolgte faktisch als Abkehr von der damaligen europäischen Welt und war deshalb zuerst und vor allem eine Trennung, ein Akt der Isolation. Die jungen USA wandten der damaligen europäischen Welt den Rücken zu und blickten in Richtung auf die offenen Grenzen ihres unermeßlich erscheinenden Westens. Europas schwieriger Einigungsprozeß hingegen ist das genaue Gegenteil eines isolationistischen Aktes, sondern vielmehr der Versuch, sein nationalistisches Fieber dauerhaft zu überwinden und damit unter völlig neuen Bedingungen als Akteur auf die Weltbühne zurückkehren zu können. Darüber hinaus vollzieht sich dieser Einigungsprozeß fast aller
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souveränen Staaten des europäischen Kontinents im Zeitalter der Globalisierung, in dem sich die Herausbildung neuer staatlicher Größenordnungen nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Regionen der Welt als Herausforderung stellt. Für die Staaten und Regionen jenseits des europäischen Kontinents lautet daher die politische Botschaft Europas, anders als beim Gründungsprozeß der USA, nicht Abkehr, sondern mögliches Vorbild. Dabei wird dieser Beispielcharakter der europäischen Einigung noch durch die Tatsache verstärkt, daß Europa für die außereuropäische Welt der Kontinent der Souveränität par excellence war und ist. Hier ist der moderne Staat erfunden worden, hier hat er seine Höhe- und seine Tiefpunkte erreicht, und auf diesem Kontinent hat sich der Nationalismus wie nirgendwo sonst ausgetobt. Wenn sich daher dieses Europa heute anschickt, eine transnationale integrative Vision in eine völlig neue politische, wirtschaftliche und soziale Realität umzusetzen, so wird sich dieser Prozeß für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts als von weitaus größerer Bedeutung erweisen, als es für den nordamerikanischen Einigungsprozeß vor mehr als 200 Jahren gegolten hat. Wer allerdings den Alltag der EU kennt, wer um die Schwierigkeiten des europäischen Interessenausgleichs mittels einer scheinbar unersättlich regelungswütigen Euro-Bürokratie weiß, wer die furchtbare Trägheit der Brüsseler Entscheidungsprozesse erlebt und zugleich das große Akzeptanzproblem der europäischen Institutionen in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten erfahren hat, der mag sich zu Recht fragen, ob die politische Union denn angesichts der Größe der Widerstände und des Schwergewichts des nationalstaatlichen Eigensinns und der Vielfalt der ererbten Kulturen, Sprachen und Traditionen jemals Wirklichkeit werden kann. Wenn man aber diese Negativbilanz mit den erstaunlichen Leistungen und Fortschritten der EU seit ihrem Beginn saldiert - eine dauerhafte Friedensordnung, Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Toleranz, Schutz der Minderheiten, Überwindung der Grenzen, ein bisher nie dagewesener wirtschaftlicher Wohlstand, technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, soziale Sicherheit, Umwelterhaltung und die
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wachsende außenpolitische Stärke der Europäischen Union -, dann überwiegt eindeutig die positive Bilanz. Die Europäische Union war und ist das historische Projekt zur dauerhaften Überwindung der europäischen Kriege. Dabei hat das Europa der Integration bereits drei Etappen durchlaufen: beginnend mit der Wirtschaftsgemeinschaft über den Staatenverbund hin zu einer wirklichen Union der europäischen Staaten. Im ersten Artikel des europäischen Verfassungsvertrages heißt es: »(i) Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedsstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedsstaaten und übt die von den Mitgliedsstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus. (2) Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen.«177 Diese Union gründet demnach nicht auf der Hegemonie eines einzelnen Staates oder einiger weniger großer Staaten über alle anderen, sondern sie beruht auf dem Kompromiß als Prinzip und der »Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor der Verfassung«,178 seien sie nun groß oder klein, reich oder arm, alte oder junge Mitglieder. Dies gilt auch für die Gleichheit der Unionsbürger vor der Verfassung. Dieser Grundsatz nivelliert aber keineswegs die fortbestehenden realen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten. Denn erstaunlicherweise gründet exakt dieser Gleichheitsgrundsatz der europäischen Verfassung auf einem Element der Ungleichheit, das bewußt eingeführt wurde, um durch eine gewisse proportionale Ungleichheit zu Lasten der großen Mitgliedsstaaten im Europäischen Parlament und im Rat die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes innerhalb der EU überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Ungleichheit gilt auch bei der Stimmengewichtung der Unionsbürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament, da bei der nationalen Sitzverteilung im Parlament die großen und bevölkerungsreichen Mitgliedsstaaten gegenüber den kleinen und kleinsten unterrepräsentiert sind.
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Ohne diesen freiwilligen Verzicht der großen Mitgliedsstaaten auf formale Gleichheit wäre allerdings eine faire Repräsentanz innerhalb der gesamten europäischen Bandbreite, die von Deutschland bis Malta, von Frankreich bis Zypern und von Polen bis Estland reicht, kaum möglich. Auch hieran kann man den in der bisherigen Geschichte beispiellos neuen Charakter der Europäischen Union erkennen, denn das repräsentative Gleichheitsprinzip wird in der EU erst durch eine konstruktive Disproportionalität sowohl zwischen den Mitgliedsstaaten als auch zwischen den Unionsbürgern ermöglicht. Anders gesagt: Die großen Mitgliedsstaaten und Bevölkerungen akzeptieren bewußt ihre Schwächung zugunsten der kleinen Staaten und Bevölkerungen. Darin besteht das eigentliche Erfolgsgeheimnis der europäischen Integration. Mehr noch, hier wird auch der Kern des fundamentalen Bruchs in der Entwicklung des europäischen Staatensystems sichtbar, den der europäische Integrationsprozeß bedeutet. Die Europäische Union war von Beginn an als ein antihegemoniales Projekt entworfen worden. Sie entwickelte durch den europäischen Integrationsprozeß deshalb das Gegenteil von hegemonialer Dominanz, nämlich einen Mechanismus zum internen Machtausgleich, der die kleinen Staaten begünstigt und damit die Unterschiede im machtpolitischen Gewicht gegenüber den großen Mitgliedsstaaten austariert. Dem entspricht auch das neue Abstimmungsverfahren in der EU-Verfassung.179 Wie bereits oben erwähnt wurde, war das Wesen der europäischen Einigungsidee vom ersten Augenblick an ein politisches, nämlich die gemeinsame Souveränität aller europäischen Staaten in der Europäischen Union. Gäbe die Union diesen Anspruch sowohl seiner geographischen Ausdehnung als auch seinem Wesen nach ganz oder auch nur teilweise auf, so würde sie sich dadurch selbst in Frage stellen. Als bloßer großer Binnenmarkt, politisch auf intergouvernemental zusammenarbeitenden nationalen Regierungen gründend und ohne die politische Integration durch starke europäische Institutionen, hätte die Union keine Perspektive. Sie würde zu einer gehobenen EFTA (European Free Trade Zone) denaturieren und sich dadurch selbst in ihrem
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Bestand gefährden. In dieser Vorstellung liegt der große Irrtum der Euroskeptiker. Dies gilt ebenfalls für alle Überlegungen eines Europa ä la carte, d. h. der Idee, daß sich die einzelnen Mitgliedsstaaten aussuchen können, an welchen Integrationsstufen sie teilnehmen und an welchen nicht. In der Konsequenz würde dies auf einen Zerfall Europas in unterschiedliche Gruppen hinauslaufen, welche die alten Rivalitäten im europäischen System unter neuen Vorzeichen und mit großen Reibungsverlusten nach innen wieder aufleben ließen. Die Irakkrise und die damit einhergegangene innereuropäische Spaltung haben von der Wirkung solch möglicher Reibungsverluste und der damit einhergehenden Selbstschwächung der EU mehr als eine Ahnung vermittelt. Andererseits aber wird die Europäische Union für die heute überschaubare Zeit nicht den Charakter eines Bundesstaates annehmen, weil dies weder dem Mehrheitswillen der Mitgliedsstaaten und ihrer Bevölkerungen noch den historisch-kulturellen Realitäten Europas entspricht. »Europa ist von seiner Geschichte her - und wird es gewiß bleiben - trotz allen Gemeinsamkeiten primär das Europa der Nationen. Eintausendfünfhundert Jahre Geschichte und Differenzierung in Nationen und Sprachen können durch bürokratische Akte >von oben< oder >von außen< nicht ausgelöscht werden und sollen es ja wohl auch nicht.« 180 Dieser Traum vom europäischen Bundesstaat wiederum ist der Irrtum der Integrationisten, denn gegen die gewachsene Staatenstruktur und ihre kulturell-historischen Unterschiede läßt sich in der politischen Wirklichkeit Europas keine weitergehende politische Integration durchsetzen. Nur wenn der europäische Einigungsprozeß diese Traditionen berücksichtigt und in die europäische Integration mit hineinnimmt, kann er auch weiterhin erfolgreich verlaufen. Die Akzeptanz der Breite dieses Prozesses ist die Voraussetzung für seine Tiefe und nicht umgekehrt. Genau diese Aufgabe ist dem Konvent mit dem europäischen Verfassungsvertrag gelungen, und darin besteht seine große historische Leistung. Die politische Integration Europas wird wohl von der geschichtlichen Entwicklung weiter vorangetrieben werden, und
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diese Prognose schließt temporäre und vielleicht sogar sehr heftige Integrationskrisen keineswegs aus, wie sie etwa durch ein Scheitern des Verfassungsvertrages ausgelöst werden könnten. Denn die Geschichte, und d. h. der sich aufbauende Druck der globalen und regionalen Herausforderungen und der politischökonomischen Entwicklung, wird diese Integration, die auch im Interesse der Union und der Mitgliedsstaaten liegt, von der EU erzwingen. Der Eigensinn, die politische Widerständigkeit der Einzelstaaten und das Beharrungsvermögen ihrer jeweiligen historisch-kulturellen Identitäten haben spätestens mit dem Verfassungsvertrag definitiv zu einer politischen Integrationsform geführt, die auf einer parallelen Verfassungsstruktur von europäischen Institutionen und selbstbewußten Mitgliedsstaaten beruht. Bereits die Zusammensetzung des Verfassungskonvents hat dieser Struktur entsprochen, denn zum ersten Mal wurde ein europäischer Grundvertrag von den Vertretern der nationalen Parlamente und der nationalen Regierungen sowie des Europaparlaments und der Europäischen Kommission ausgearbeitet. Dieses institutionelle Viereck der EU entspricht genau der parallelen Verfassungsstruktur, die sich auch im Vertrag wiederfindet. Deshalb verwundert es nicht, daß der europäische Verfassungsvertrag - neben der die Individualrechte der Unionsbürger definierenden Grundrechtecharta - im wesentlichen das Verhältnis von Union und Mitgliedsstaaten auszutarieren versucht, denn darin besteht die verfassungsrechtliche Hauptaufgabe. Auch deshalb wird die europäische Realität noch auf lange Zeit durch parallele Identitäten — nationale und europäische Identitäten - bestimmt werden. Diese Form des europäischen Verfassungsparallelismus spiegelt die Wirklichkeit der europäischen Integration wider, die auf der Zusammenführung von nationalen Souveränitäten bei fortbestehenden starken Mitgliedsstaaten als selbstbewußten Akteuren im Verfassungsgefüge der EU beruht: Europa und Mitgliedsstaat, europäische und nationale Bürgerschaft, europäische und nationale Institutionen, europäische und nationale Demokratie. Insofern läßt sich feststellen, daß die Europäische Union dabei ist, historisch etwas völlig Neues hervorzubringen, nämlich eine Union sui generis, wie es
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sie in der bisherigen Geschichte der Staaten noch nicht gegeben hat. Vergleicht man die europäische Verfassungsstruktur mit der Verfassungswirklichkeit der USA, so wird offensichtlich, daß die EU immer wesentlich föderaler und damit dezentraler verfaßt sein wird, als dies für die USA galt und gilt. Selbst wenn eines Tages der Kommissionspräsident und der Präsident des Europäischen Rates in einer Person zusammengefaßt würden, was der europäische Verfassungsvertrag nicht ausschließt, so wäre ein solcher europäischer Präsident institutionell dennoch wesentlich schwächer als ein amerikanischer Präsident, da die Rolle der Mitgliedsstaaten in der EU immer eine wesentlich stärkere sein wird als die der Bundesstaaten der USA. Die USA sind ein echter Bundesstaat, die EU hingegen bleibt mit ihrer Verfassung unterhalb des Bundesstaates und wird zugleich doch mehr sein als ein Staatenverbund - sui generis eben. Die politische und wirtschaftliche Organisation der EU und die Erfahrung mit der europäischen Integration in der Lebenswirklichkeit der Europäer haben politisch zu der Herausbildung einer europäischen Identität geführt, die sich mit den jeweils nationalen Identitäten ergänzt. Diese europäische Identität hat sich allerdings nicht nur allein auf Grund pragmatischer Alltagserfahrungen und der Realität der europäischen Institutionen entwickelt, sondern sie gründet darüber hinaus auf jenen historisch unterschiedlichen Erfahrungen, die bis in die Gegenwart hinein das Verhältnis der einzelnen Nationen zu Europa bestimmen. Man kann dabei bis heute grob vier Traditionslinien unterscheiden, aus denen sich die heutige EU zusammensetzt. Deren Verflechtung, gemeinsam mit den europäischen Grundwerten181 und den gemeinsamen Interessen, macht die europäische Identität aus und hat auch ganz wesentlich den Verfassungskompromiß im Europäischen Konvent strukturiert. Die sechs Gründungsmitglieder (Frankreich, Deutschland, Italien und Benelux) bilden die erste Traditionslinie. Diese Staaten wurden geprägt durch die Katastrophen des europäischen Staatensystems und vor allem der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Deshalb wollten diese Staaten jene über die Jahrhunderte hinweg verhängnisvolle deutsch-französische Erbfeindschaft und
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die Schlachtfelder der fortdauernden europäischen Hegemonialkriege für immer hinter sich lassen. Man kann sie deshalb auch mit einigem Recht die »Schlachtfeldeuropäer« nennen. Sie sind die Lordsiegelbewahrer der europäischen Einigungsidee und die Garanten des europäischen Integrationsfortschritts. Sie begannen einst mit der Montanunion, sie gründeten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und stießen den Prozeß der Integration an, um einen dauerhaften deutsch-französischen Ausgleich zu erzielen. Die europäische Integration hatte und hat für die Gründungsmitglieder der EU vor allem eines zu sein, nämlich der Garant einer dauerhaften Friedensordnung in (West-)Europa. Bis heute bilden diese Staaten den Motor der europäischen Integration, was jedoch keinesfalls andere Mitgliedsstaaten ausschließt. Diese Gründungsmitglieder sind nicht nur auf allen Integrationsebenen der EU präsent, sondern haben bis in die Gegenwart hinein auch meistens neue Initiativen entwickelt und vorangetrieben. Die zweite Traditionslinie gründet auf den ganz anderen geschichtlichen Erfahrungen Großbritanniens und der skandinavischen Länder. Sie verfügen auf Grund ihrer geopolitischen Lage in der Regel über eine glücklichere Geschichte als die eigentlichen Kontinentaleuropäer oder sind, wie das Vereinigte Königreich auf Grund seiner glorreichen Geschichte, geopolitisch und kulturell anders orientiert. Alle diese Länder nennen alte und erfolgreiche Demokratien ihr eigen, sie waren auch ohne die EU-Mitgliedschaft bereits ökonomisch, sozial und wissenschaftlich-technologisch hoch entwickelt und sind daher seit ihrem Beitritt in die EU eher Nettozahler. Für diese Mitgliedsstaaten war der Beitritt zur EU vor allem eine Frage der pragmatischen Vernunft, und deshalb kann man diese Gruppe auch als »Vernunfteuropäer« bezeichnen. Bis heute findet der Euroskeptizismus in diesen Ländern aus nachvollziehbaren Gründen seinen stärksten Rückhalt, denn angesichts der nationalen Erfolgsgeschichte dieser Mitgliedsstaaten war und ist den Mehrheiten in diesen Bevölkerungen der tatsächliche politische und ökonomische Mehrwert einer Mitgliedschaft in der EU nur sehr abstrakt und deshalb meistens nur mit großen Schwierigkeiten zu
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vermitteln. In diesen Mitgliedsstaaten wird jeder weitere Integrationsfortschritt der Union (und ein damit einhergehender weiterer Souveränitätsverzicht) nur allzuoft als ein nicht notwendiger, die nationale Demokratie schwächender und deshalb abzulehnender Souveränitätsverlust zugunsten einer Brüsseler Bürokratie mit zweifelhaftem demokratischen Mandat verstanden. Nur Finnland unterscheidet sich hiervon, bedingt durch seine prekäre geopolitische Lage und die ganz andere Geschichte seiner nationalen Unabhängigkeit. So verwundert es auch nicht, daß Finnland als einziges skandinavisches Land an allen Integrationsstufen der EU unter Einschluß der Währungsunion teilnimmt. Die dritte Traditionslinie wird von den Mittelmeerländern gebildet, deren Zugang zum Europa der Integration durch die Überwindung von wirtschaftlicher Rückständigkeit, Faschismus, Bürgerkrieg und Militärdiktatur geprägt wurde. Für diese Länder verbindet sich mit der EU demokratische Stabilität, wirtschaftlicher Aufstieg und sozialer Fortschritt, d.h. die erfolgreiche Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Befreiungserfahrung hat in diesen Mitgliedsstaaten zu einer tiefen emotionalen Bindung an den europäischen Integrationsprozeß und die EU geführt, deshalb kann diese Gruppe als »Freiheitseuropäer« bezeichnet werden. Die vierte und vorläufig letzte Traditionslinie entsteht gegenwärtig, bedingt durch den Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten. Sie entwickelt sich aus der Erfahrung dieser neuen Mitgliedsstaaten heraus, die Jahrzehnte unter der erzwungenen Sowjetisierung, unter dem Kalten Krieg und unter der Teilung Europas zu leiden hatten. Für eine genauere Beschreibung dieser Traditionslinie innerhalb der EU ist es noch zu früh, denn diese muß sich erst im europäischen Alltag ausformen. Gleichwohl kann man bereits heute erkennen, daß sich hier die Erfahrungen der Mittelmeerländer vermutlich wiederholen werden, verbunden mit einem starken - durch die nach wie vor als prekär empfundene geopolitische Lage und die Erfahrung der Zwangssowjetisierung bedingten — Transatlantismus. Vermutlich wird man zukünftig zwischen der Gruppe der südeuropäi-
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sehen und der osteuropäischen »Freiheitseuropäer« unterscheiden müssen. Das Schema dieser vier Traditionslinien kann selbstverständlich nur ein ungefähres Bild zeichnen, denn nicht alle Mitgliedsstaaten sind darin einzuordnen. Dennoch lassen sich mit diesem Modell sowohl die heute bestehenden Probleme und Schwierigkeiten der EU und ihres Verfassungsprozesses als auch die weiteren Chancen und Möglichkeiten der europäischen Integration recht gut analysieren. Man mag es bedauern oder gutheißen, aber die Realität der EU wird sich nur innerhalb dieser Traditionslinien abspielen und auch fortentwickeln lassen, nicht aber jenseits davon. Alles andere bleibt ein Wunschtraum und findet im europäischen Irrealis statt. Und ein Weiteres sei hier nochmals unterstrichen: Alle vier Traditionen gemeinsam bilden das, was man europäische Identität nennt, denn diese vier Traditionslinien entsprechen den historischen Erfahrungen der an der EU beteiligten Nationen, sind deren gelebte politische und kulturelle Wirklichkeit. Diese Traditionen sind alles andere als untereinander widerspruchsfrei, sie begrenzen durch ihre Widersprüchlichkeit die Möglichkeiten europäischer Kompromisse und formten und formen nicht nur die europäische Identität, sondern definieren ganz entscheidend auch den weiteren Fortgang der politischen Integration der EU. Die politische Identität der Europäischen Union artikulierte sich bisher im wesentlichen in drei Dimensionen: erstens Geschichte, zweitens pragmatischwirtschaftliche Vernunft und drittens Freiheit, Demokratie und sozialer Fortschritt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begann sich für die EU dann eine neue, eine vierte Dimension zu entwickeln - langsam und kaum merklich zuerst, aber in jüngster Zeit durch die internationale Lage und die Osterweiterung der EU immer wichtiger werdend -, die der Einfachheit halber die strategische Dimension Europas genannt werden soll. Diese entwickelt sich unter dem objektiven Druck der ökonomischen und zunehmend auch der Sicherheitsinteressen. Seit der Gründung von NATO und EU bis zum Ende des Kalten Krieges existierte in Westeuropa eine klare Arbeitsteilung: Die USA waren mittels der NATO für die Sicherheit und Vertei-
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digung zuständig, die EU für wirtschaftlichen Wohlstand und Fortschritt. Was in dieser Zeit zu Recht über Westdeutschland gesagt wurde, nämlich daß es sich zugleich um einen wirtschaftlichen Riesen und einen politischen Zwerg handele, galt damals auch für die Europäische Union. Noch zu Beginn der neunziger Jahre, als die Europäer gegenüber den USA die Lösungskompetenz in der Jugoslawienkrise für sich beanspruchten, scheiterten sie politisch und militärisch kläglich. Bereits damals war, wenn auch noch überwiegend negativ, diese neue strategische Herausforderung für die EU spürbar. Die USA orientierten sich nach dem Ende des Kalten Krieges grundsätzlich neu - weg von Europa - und damit auch verstärkt auf sich selbst, so daß sich die Frage nach einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht mehr länger ausklammern ließ. Sprach der Vertrag von Maastricht 1992 noch von einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, so wurde im Vertrag von Amsterdam 1997 diese neue strategische Dimension zum ersten Mal, wenn auch noch in sehr allgemeiner Form, aufgenommen und zwar der wörtliche Text der Petersberg-Erklärung der WEU,182 weshalb man fortan auch von den sogenannten »Petersberg-Aufgaben« in der europäischen Sicherheitspolitik sprach.183 Das eigentliche politische Problem lag jedoch vor allem in jenem seit langer Zeit bestehenden britisch-französischen Widerspruch zwischen einerseits transatlantischer (NATO) und andererseits (west-)europäischer Orientierung (WEU) in der Sicherheitspolitik, der bis dahin jeden wirklichen Fortschritt hin zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik blockiert hatte. Mit dem britisch-französischen Gipfel von Saint-Malo184 vom 3-/4. Dezember 1998 wurde diese Blockade aufgebrochen. Während der deutschen EU-Präsidentschaft auf dem Europäischen Rat in Köln vom 3-/4. Juni 1999 wurde dann diese bilaterale Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich in die Politik der Gemeinschaft umgesetzt und die ESVP geschaffen. »Der Kosovo-Konflikt eröffnete den Weg zu einer schnellen Europäisierung der in Saint-Malo erzielten Vereinbarung. Der deutsche EU-Vorsitz arbeitete erfolgreich darauf hin, die bilaterale Initiative auf die europäische Ebene zu über-
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tragen und die europäische Verteidigungsidentität in eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik umzugestalten.«185 Dies geschah mit der »Erklärung des Europäischen Rates über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«,186 die in Köln durch die Staats- und Regierungschefs verabschiedet wurde. Der klassische Verteidigungsfall zur Landes- und Bündnisverteidigung sollte dabei weiterhin ausschließlich in der Zuständigkeit der NATO oder in der souveränen Entscheidung der nicht in die NATO integrierten Mitgliedsstaaten verbleiben. Die EU beanspruchte in der »Erklärung von Köln« dagegen die ganze Breite der Konfliktprävention und des Krisenmanagements für sich. »Wir, die Mitglieder des Europäischen Rates, wollen entschlossen dafür eintreten, daß die Europäische Union ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt. Hierzu beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten an die Hand zu geben, damit sie ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerecht werden kann.«187 Dazu »muß die EU die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um - unbeschadet von Maßnahmen der NATO auf internationale Krisensituationen zu reagieren«.188 Dies war eine völlig neue, nämlich sicherheitspolitische und militärische Handlungsebene für die EU. »Wir sind nunmehr entschlossen, einen neuen Schritt beim Aufbau der Europäischen Union einzuleiten«, heißt es dazu feierlich in der »Kölner Erklärung«.189 Auf dem Hintergrund einer veränderten geopolitischen Lage in Europa und in seiner weiteren Nachbarschaft verband sich diese Handlungsebene mit jenem historisch-strategischen Element, das zum europäischen Einigungsprozeß von seinem ersten Augenblick an gehörte, zu einer neuen Dimension. Für Europa war seit der Gründung von NATO und EWG in den 1950er Jahren Sicherheit immer sehr viel mehr gewesen als allein militärische Sicherheit. Während des Kalten Krieges und der Bedrohung durch die weit überlegene militärische Schlag-
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kraft der Sowjetunion überwog selbstverständlich die militärische Komponente der europäischen Sicherheit, aber zugleich war die begonnene transnationale Integration für die Sicherheit innerhalb des verbliebenen westlichen Teils des europäischen Staatensystems von weitaus größerem Gewicht. Diese Tatsache wurde durch die scheinbar übermächtige Bedrohung von außen nur weitgehend verdeckt. Mit dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung sollte deshalb diese politisch-strategische Dimension der europäischen Integration in den Vordergrund treten. Erneut war es die Balkankrise, in der sich nicht nur Europas militärisch-strategische Schwäche, sondern auch seine politischstrategische Stärke zeigte. Gewiß war die militärische Aktion der NATO unter Führung der USA im Kosovo im Frühjahr 1999 die entscheidende Ursache für die Niederlage Milosevics. Aber noch während die Kampfhandlungen andauerten - und damit anders als in Bosnien -, wurde auf europäische Initiative hin eine langfristige politisch-strategische Antwort des Westens entwickelt, die, trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten, für die dauerhafte Abkehr der gesamten Balkanregion von einem hochgefährlichen Nationalismus und damit für ihre nachhaltige Befriedung von zentraler Bedeutung war. Diese geopolitische Entscheidung der EU und der NATO besagte aber nicht weniger, als allen Staaten dieser Region die langfristige Beitrittsperspektive zum Europa der Integration und der atlantischen Sicherheit zu eröffnen. Damit aber hatte vor allem die EU den Schritt vom Krisenmanagement zum strategischen Handeln getan. Diese neue strategische Perspektive des Wegs nach Europa und in den Westen konkretisierte sich für die Balkanländer zum ersten Mal mit dem damals beschlossenen »Stabilitätspakt Südosteuropa«. Sein Kern bestand aus der Integrationsperspektive in die EU und der Beitrittsperspektive in die NATO. Diese Parallelität von EU- und NATO-Perspektive in der Erwartungshaltung der ost- und südosteuropäischen Staaten demonstriert gerade angesichts der gegenwärtigen transatlantischen Schwierigkeiten noch ein Weiteres, nämlich daß Verwestlichung und Europäisierung keinen Widerspruch darstellen, sondern sich ganz im Gegenteil fast zwingend ergänzen. Auch dieser em-
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pirische Befund darf bei einer objektiven Analyse der Zukunft des Transatlantismus und des Westens nicht vergessen werden. Sicherheit durch Integration, so lautete und lautet die politischstrategische Formel des europäischen Einigungsprojekts. Und diese Formel eröffnete mit der Osterweiterung der EU endgültig jene neue strategische Dimension Europas, nunmehr nicht nur auf den historischen Notwendigkeiten und wirtschaftlichen Interessen der Union gründend, sondern fortan auch den geopolitischen Imperativen der europäischen Sicherheit folgend. Daraus entwickelte sich in fast notwendiger Weise eine neue außenund sicherheitspolitische Verantwortung der EU, die auch eine eigene Sicherheitsstrategie und eigene militärische Fähigkeiten einschließen muß. Sicherheit durch Integration, eigene geopolitische Interessen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und militärische Fähigkeiten - aus diesen Elementen setzt sich seitdem die neue strategische Dimension der Union zusammen. Die Osterweiterung der Europäischen Union hat im Gefolge ihrer Umsetzung zwei zentrale Fragen an den weiteren Integrationsprozeß der EU aufgeworfen, nämlich ob sich erstens die große Erweiterung der EU mit ihrer Vertiefung überhaupt widerspruchsfrei zusammenfügen läßt, und - zweitens - wo denn die Grenzen Europas liegen. Die erste Frage ist durch das Faktum der Erweiterung selbst mit einem eindeutigen Ja beantwortet worden. Europa ist komplexer und deshalb gewiß schwieriger geworden, aber dies heißt keineswegs integrationsfeindlicher, wie die bereits jetzt vorliegende Erfahrung mit der erweiterten Union lehrt. Die alte und damit auch kleinere EU der 15 ist zweimal daran gescheitert, die Vertiefungskonsequenzen der anstehenden Osterweiterung zu beschließen, nämlich in den Jahren 1997 in Amsterdam und 2000 in Nizza. Auf beiden Regierungskonferenzen wurden die wichtigsten Fragen nicht entschieden, sondern in Gestalt von sogenannten »left overs« vertagt. Die neue EU der 25 bedurfte zwar ebenfalls zweier Anläufe, aber mit nur sechs Monaten Verzögerung ist der nach der Erweiterung sehr viel größeren EU die Verabschiedung eines Verfassungsvertrages für Europa gelungen, der keine wichtigen Fragen mehr vertagt.
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Auch ein weiteres Argument wiegt schwer: Die EU wird keine künstlichen Teilungen innerhalb des Kontinents zulassen, geschweige denn selbst betreiben dürfen, ohne nicht schwersten Schaden zu nehmen. Denn die europäische Einheitsidee läßt eine erneute Teilung nicht zu, ohne ihre »Seele« zu gefährden und damit sich selbst in Frage zu stellen. Ein Auseinanderbrechen Europas in ein Zentrum und eine Peripherie würde der EU einen hohen Preis abverlangen. Zudem haben mittlerweile alle Mitgliedsstaaten eine solch enge wirtschaftliche Verflechtung im Binnenmarkt erreicht und darüber hinaus zwölf Mitgliedsstaaten ihre Währungen in der Währungsunion zusammengeführt, so daß auch das wirtschaftliche Interesse eine Gefährdung des Binnenmarktes und der Währungsunion und damit der geltenden Vertragsgrundlage von Nizza ausschließt. Überdies würden sofort die antihegemonialen Reflexe der einzelnen Länder wieder aufbrechen und die Reibungsverluste innerhalb der Union diese nicht unwesentlich schwächen. Betrachtet man also die europäische Realität, so sind dies alles Überlegungen aus der Vergangenheit, denn mit der Osterweiterung der EU wurden unwiderruflich neue Verhältnisse geschaffen. Eine kleineuropäische Option existiert faktisch nicht mehr, denn selbst wenn die Verfassung scheitern würde, bliebe die 25er-Union auf der Grundlage des Vertrages von Nizza bestehen. Spätestens mit der Osterweiterung der EU sind alle Ideen von einem Kerneuropa oder einer Avantgarde (d.h. einer kleinen Gruppe von Mitgliedsstaaten, die auf dem Weg der politischen Integration schneller vorangeht als die Mehrheit) faktisch erledigt. Für Kerneuropa ist bereits heute nicht mehr viel außerhalb der vertraglich geregelten Politiken der EU übriggeblieben. Binnenmarkt, Währungsunion, Wegfall der Binnengrenzen sowie der Raum der Freiheit und der Sicherheit (Vertrag von Schengen), Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung - all das sind heute Politiken der EU und vertraglich ebenso geregelt wie der Binnenmarkt oder der gemeinsame Agrarmarkt. Die verbleibenden Politikfelder und politischen Fragen, die sich noch nicht innerhalb des EU-Vertragssystems befinden, sind nur noch wenige. Das Vertragssystem von Schengen war nur deshalb außerhalb
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der EU-Verträge möglich, weil dieser zentrale Bereich des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Abbaus der Binnengrenzen in den europäischen Verträgen zu jener Zeit noch überhaupt nicht durch die EU geregelt war. Deshalb konnten einige Regierungen auf dem Weg der intergouvernementalen Zusammenarbeit einen Vertrag außerhalb des Integrationsbereichs der EU schließen. Aber auch diese von der EU noch nicht besetzten Räume gehören definitiv der Vergangenheit an, denn sie wurden mittlerweile in deren Vertragssystem integriert, und ein neues Schengen außerhalb der europäischen Verträge ist deshalb wegen der Ausdehnung der vertraglichen Integration der EU wesentlich schwieriger. Eine parallele europäische Integration - einen Vertrag innerhalb der Union und einen anderen Vertrag für eine Avantgarde von Staaten außerhalb - war nur so lange eine Option, wie das EU-Vertragssystem nicht umfassend ausgebaut war. Und eine EU, die dauerhaft und nicht nur als Übergangslösung unter zwei unterschiedlichen Vertragssystemen leben müßte, befände sich in einem absurden Zustand. Ein weiterer Aspekt ist hier von Bedeutung. Die Erfahrung läßt erwarten, daß es in Zukunft fast nur noch große Mehrheiten von Mitgliedsstaaten sein werden, die bei neuen und weitergehenden Integrationsinitiativen innerhalb des Vertragssystems mitmachen wollen und mitmachen können.190 Wenn aber Mehrheiten innerhalb der Verfassung agieren können (vermutlich sogar immer sehr deutliche Mehrheiten) und diese sich darüber hinaus des vertraglich garantierten Rechts der »Verstärkten Zusammenarbeit«191 oder im militärischen Bereich der »Strukturierten Zusammenarbeit«192 bedienen können, dann macht der Begriff des Kerns oder der Avantgarde keinen Sinn mehr. Die Verhältnisse haben sich damit grundlegend verkehrt und vom Kopf auf die Füße gestellt, weil die Möglichkeit einer Avantgardebildung in der Verfassung institutionalisiert und damit zu einem mehrheitlichen Integrationsinstrument gemacht wurde. Man wird sich daher in der EU zukünftig eher Gedanken darüber machen müssen, wie die Union angesichts weiterer Integrationsfortschritte mit einer Minderheit oder auch Nachhut von Mitgliedsstaaten umzugehen gedenkt und wie dafür Mechanis-
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men und auch längerfristige Übergangslösungen gefunden werden können. Innerhalb der EU werden auch in Zukunft bis zur materiellen Vollendung der Union einzelne Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorangehen. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten beschreibt die gegenwärtige Realität der Union, denn nicht alle Mitgliedsstaaten können oder wollen an allen Stufen der europäischen Integration teilnehmen. Freilich hat die Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro ein Faktum der Integration im Kernbereich der Souveränität geschaffen, das für die Mitglieder der Euro-Gruppe sehr schwer wiegt und das diese Gruppe durch den Druck der politischen und ökonomischen Verhältnisse in die weitere Integration vorantreiben wird. Eine Option B existiert dazu nicht, es sei denn, man wäre bereit, den Preis eines Scheiterns der europäischen Integration zu zahlen. Solange diese Gruppe auf Integrationskurs bleibt, kann die weitere Entwicklung der EU zwar schwierig und durchaus krisenhaft verlaufen, aber an ihrem letztendlichen Erfolg kann dann kein vernünftiger Zweifel bestehen. Ein Weiteres gilt es zu Bedenken. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten kann nur so lange funktionieren, wie es sich dabei um einen Übergangsprozeß und nicht um den erklärten Endzustand handelt. Eine Union der 25, die sich dauerhaft in der Struktur unterschiedlicher Geschwindigkeiten einrichten würde, hätte es, verstärkt durch die heterogene Wirkung der großen Zahl der Mitgliedsstaaten und ihrer historisch bedingten Unterschiede, mit gewaltigen Fliehkräften zu tun. Diese würden die Union in ihrer Funktionsfähigkeit und Effizienz erheblich einschränken, sie somit für die Bürger und die Mitgliedsstaaten in ihren Strukturen und Entscheidungen immer weniger nachvollziehbar und leistungsfähig erscheinen lassen und dann auch ihre Legitimationsgrundlagen erschüttern. Nach der Ausdehnung der EU auf 25 Mitglieder und angesichts der geopolitischen Herausforderungen Europas und unter dem Druck der Globalisierung erweist sich daher die Notwendigkeit der europäischen Verfassung als unabdingbar.
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Man kann die Bedeutung der Ratifikation der europäischen Verfassung für die Zukunft Europas und all seiner Mitgliedsstaaten und Bürger gar nicht hoch genug veranschlagen. Ein Scheitern der Verfassung würde die EU zum Verharren in einem Status quo zwingen, der schon heute ihrer Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Faktisch liefe es auf die Blockade der weiteren Integration der Union der 25 hinaus, und damit würden jene Fliehkräfte gestärkt, die für die große Union hochgefährlich werden können. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches ist es noch völlig ungewiß, ob der Verfassungsvertrag tatsächlich durch alle Mitgliedsstaaten ratifiziert werden wird. Aber selbst wenn dieser Vertrag im ersten Anlauf in wenigen Mitgliedsstaaten bei der Ratifikation scheitern sollte, so würde die durchaus bizarre Situation eintreten, daß sich die Mitgliedsstaaten, im engen Rahmen der heute bestehenden rechtlichen Möglichkeiten, dennoch so verhalten würden, als ob diese Verfassung in Kraft wäre. Dies gälte zumindest für einen (kürzeren oder längeren) Übergangszeitraum, solange die Verfassung noch nicht als endgültig gescheitert angesehen würde. Bereits heute läßt sich für diesen Fall absehen, daß die rechtlich unabweisbare Rückkehr zum weiterhin geltenden Vertrag von Nizza angesichts der veränderten Realitäten innerhalb und außerhalb der Union weder den Interessen der EU noch der Mitgliedsstaaten gerecht werden würde. Es bliebe allein die Frage, wie viele Anläufe und damit Zeit die Ratifikation in Anspruch nähme. Denn einen besseren Verfassungsvertrag wird es auf absehbare Zeit nicht geben, und ohne Verfassung wird die erweiterte Union nicht wirklich funktionieren. Insofern gibt es objektiv keine ernsthafte Alternative mehr zu dem europäischen Verfassungsvertrag, wenn man die Union will. Subjektiv können sich die Dinge im Ratifikationsverfahren allerdings völlig gegensätzlich entwickeln, denn selbst ein endgültiges Scheitern der Verfassung kann aus heutiger Sicht noch nicht ausgeschlossen werden. Diese Gefahr träte vor allem dann ein, wenn etwa entscheidende Gründungsmitglieder oder relevante Teile der Euro-Gruppe die Ratifikation dauerhaft verweigern würden. Dieser Fall wür-
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de wohl eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Union auslösen, und es wäre auf mittlere Sicht die Gefahr einer schleichenden Renationalisierung mit all ihren negativen Konsequenzen innerhalb einer fatal geschwächten EU zu befürchten. Eine solche Renationalisierung würde zwar keine Rückkehr zum alten Gleichgewichtssystem bedeuten, da der Binnenmarkt, die Gemeinschaftsinstitutionen und all die anderen Integrationsfortschritte auf der Grundlage des Vertrages von Nizza und der anderen, dann weiter fortgeltenden europäischen Verträge erhalten blieben, aber es könnte auf mittlere Sicht zu internen Gruppenbildungen und damit dauerhaften internen Rivalitäten führen. Diese Gruppen würden zwar unter dem Namen von sogenannten »Avantgarden« firmieren, aber in Wirklichkeit wäre es ein Rückzug auf eine kleineuropäische Notlösung, die den Binnenmarkt mit politischen Gruppenrivalitäten verbinden würde. Das wären keine »Integrationskerne« mehr oder ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten«, sondern nur noch politische »Rettungsboote« angesichts des Scheiterns der europäischen Verfassung. Europa wäre dadurch erheblich geschwächt, und dies in einer Zeit, in der die Welt außerhalb des europäischen Kontinents dramatische Veränderungen durchläuft. Man kann daher bereits heute eines mit Gewißheit prognostizieren: Angesichts eines großen Veränderungsdrucks wird die Welt gewiß nicht warten, bis die Europäer ihre internen Probleme gelöst haben. Entweder ist Europa als Gestaltungsfaktor bei diesen Veränderungen maßgeblich beteiligt, oder alle Europäer - alte und neue, reiche und arme, Befürworter und Skeptiker - werden gleichermaßen verlieren. Wenn allerdings die These richtig ist, daß auf absehbare Zeit keine bessere Verfassung zur Abstimmung gestellt werden wird und es in der erweiterten Union dazu nur Notlösungen und keine wirklichen Alternativen gibt, so sollte der Verfassungsentwurf auch in diesem äußerst negativen Fall für einen zweiten Anlauf zur Ratifikation bewahrt bleiben. Die zweite Frage, die durch die Osterweiterung aufgeworfen wurde, ist die Frage nach den Grenzen Europas, und diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. Der europäische Ver-
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fassungstext formuliert für die Zugehörigkeit zur Europäischen Union drei Bedingungen: »Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.«193 Die beiden letzten Bedingungen sind in der Verfassung und in den sogenannten »Kopenhagener Kriterien«194 definiert und werden durch die Kommission im Beitrittsverfahren bzw. im Alltag der Union und ihrer Mitgliedsstaaten bereits voll angewandt. Ganz anders verhält es sich mit der Frage nach der Zugehörigkeit. Welche Staaten gehören denn überhaupt zu Europa? Indem man diese gleichermaßen berechtigte wie nur scheinbar einfach zu beantwortende Frage stellt, begibt man sich in sehr ernste und kaum enden wollende Schwierigkeiten der geographisch-politischen Abgrenzung Europas. Wo endet und wo beginnt Europa? Die Frage nach den geographisch-politischen Grenzen des Kontinents wurde noch nie befriedigend beantwortet. Diese Kalamität liegt vor allem an der unklaren geopolitischen Lage Europas selbst, denn der Kontinent Europa ist der westlichste Teil der eurasischen Landmasse und verfügt nach Osten hin über keine natürliche Grenze, vielmehr verschwimmt diese dort im Ungefähren seines Übergangs nach Asien. Der frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle hat vor vielen Jahrzehnten einmal die eingängige Formel geprägt, Europa reiche »vom Atlantik bis zum Ural«,195 aber auch diese Formel hilft nicht wirklich weiter. Im Westen der Atlantik, im Süden das Mittelmeer, im Norden das Polarmeer - überall dort sind Europas Grenzen durch die Geographie klar definiert. Wo aber endet Europa im Osten? Der Gebirgszug des Ural und der gleichnamige Fluß sind eine mehr oder weniger willkürlich gegriffene geographische Grenze, die zudem den Nachteil hat, mitten in Rußland zu liegen. Was also ist mit Rußland? Was mit der Ukraine? Was mit dem Bosporus und damit der Türkei? »Wer Europa geographisch zu definieren versucht, hat Europa schon verloren«, stellte Jürgen Mittelstrass196 völlig zu Recht fest. Wenn sich aber Europa nur bedingt geographisch eingrenzen läßt, wie kann man es dann definieren? Historisch? Normativ? Religiös? Kulturell? Jeder Versuch zeigt sehr schnell, daß all
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diese Möglichkeiten einer Definition Europas für sich allein genommen nicht zureichen und sich jeweils an der von Mittelstrass angeführten gleichermaßen realen wie ideellen »Zipfligkeit« des Kontinents brechen. Letztendlich bleibt nur, aus all diesen Möglichkeiten der europäischen Selbstdefinition eine gleichermaßen pragmatische wie ideelle Quersumme zu ziehen, und das heißt, bei der politischgeographischen Abgrenzung entlang seiner Interessen und bei der Idee von Europa politisch-normativ, also wertebezogen vorzugehen. Europa verfügt im Osten über keine »natürlichen Grenzen«, und deshalb wird dort seiner Begrenzung immer etwas Voluntaristisches anhaften. Letztendlich kann und wird die Festlegung der Ostgrenze Europas also nur auf einer politischen Entscheidung beruhen können, in der sich die normativen Elemente mit den geopolitischen Interessen verbinden, und sicher werden dabei auch die Faktoren Geschichte, Kultur und Religion mit einfließen. Wenn diese Annahme richtig ist, dann lassen sich aber präzisere Festlegungen nicht abstrakt treffen, sondern man wird abzuwarten haben, welche definitiven Festlegungen der weitere Verlauf des europäischen Integrationsprozesses zu gegebener Zeit nahelegen oder gar erzwingen wird. Die Unsicherheit in der Frage nach den »natürlichen« Grenzen der EU überträgt sich bereits heute, bedingt durch die Osterweiterung der Union, in den politischen Raum und spitzt sich dort kontrovers am Verhältnis der EU gegenüber Rußland und vor allem gegenüber der Türkei zu.197 Während es bei dem Verhältnis zu Rußland »nur« um die Zukunft der strategischen Beziehungen zu Europa geht, gibt es gegenüber der Türkei seit mehr als vierzig Jahren ein Beitrittsversprechen Europas. So unterschiedlich diese beiden Fälle in ihrer Bedeutung für Europa auch gelagert sind, so steht doch in beiden Fällen die offene Frage der Zugehörigkeit zum europäischen Kontinent dahinter, und diese hat für Europa eine sehr große Bedeutung. Wo also endet Europa? Rußland ist als weltgrößter Flächenstaat rein geographisch jenseits aller europäischen Dimensionen und reicht über ganz Nordasien hinweg bis an die Küsten des Pazifiks und vor die Tore
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Alaskas an der Beringstraße. Obwohl Rußland tief in der europäischen Kultur und im orthodoxen Christentum verwurzelt ist, sprengt allein seine räumliche Ausdehnung wie auch seine politische Geschichte und Gestalt jeden europäischen Rahmen. Rußland ist geographisch die größte unter den Megamächten der Gegenwart, zu denen auch die USA, China, Indien und Brasilien zu rechnen sind. Sie bilden kraft geographischer Fläche und Größe der Bevölkerung eine ganz eigene Kategorie von Staaten (Australien und Kanada verfügen zwar geographisch über eine kontinentale Größenordnung, aber die Bevölkerungsgröße ist zu gering). Insofern kann man allein aus diesem Grund die Frage einer möglichen EU-Mitgliedschaft im Falle Rußlands definitiv ad acta legen. Die Schwierigkeiten der strategischen Beziehungen Europas mit Rußland sind dadurch aber mitnichten gelöst. Rußland war seit der Zeit Peter des Großen ein entscheidender Faktor im europäischen Staatensystem. Welchen Weg dieser riesige Nachbar Europas einzuschlagen gedenkt, wird für Europas Sicherheit auch in Zukunft von überragender Bedeutung sein. Wird die wirtschaftliche, soziale und demokratisch-rechtsstaatliche Modernisierung Rußlands gelingen oder der Abstieg des Landes von der einstigen Größe einer Supermacht weiter anhalten, begleitet von autoritär-nationalistischen Restaurationsversuchen und bedroht von weiterer sozialer und territorialer Desintegration? Europas Interessen gebieten die erste, die positive Option, aber auch die zweite negative Alternative ist keineswegs jenseits aller Realität und muß daher ernst genommen werden. Eine enge »strategische« Verbindung der EU mit Rußland, mit möglichst durchlässigen Grenzen für Menschen, Güter und Ideen, vertiefter wirtschaftlicher und kulturell-sozialer Verflechtung und damit der strukturellen Überwindung einer gegenseitigen Bedrohungsmöglichkeit — all dies steht ganz oben auf der Skala der europäischen Interessen. Aber das setzt ein demokratisches, rechtsstaatliches und wirtschaftlich wie sozial erfolgreich modernisiertes Rußland voraus und auch ein Rußland, das versteht, daß diese Form von dauerhafter strategischer Partnerschaft mit der Europäischen Union nur zustande
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kommen kann und funktionieren wird, wenn dabei für immer alle hegemonialen oder gar imperialen Absichten ausgeschlossen werden. Bei dieser anzustrebenden neuen Qualität der Beziehungen zwischen der EU und Rußland handelt es sich nun keineswegs um sympathische Träume fernab der Realität, sondern durchaus um langfristig erreichbare Ziele der operativen Politik. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Rußland im NATO-Rußland-Rat und in der OSZE. Allerdings werden sich diese strategischen Beziehungen zwischen Europa und Rußland nur dann auf längere Sicht wirklich positiv entwickeln lassen, wenn beide Seiten die unterschiedlichen strategischen Ziele der jeweils anderen Seite ernsthaft akzeptieren: Rußland möchte seine Weltmachtrolle wiedergewinnen, und dazu braucht es zwingend eine umfassende Modernisierung. Und Europa möchte den dauerhaften Ausschluß jeder hegemonialen Bedrohung von innen wie von außen sichern, und dazu braucht es seine Einheit. Beide Seiten können dabei nur gewinnen. Rußland braucht zu seiner umfassenden ökonomischen, sozialen und politischen Modernisierung die langfristige Zusammenarbeit mit der EU, zudem wird das vereinte Europa die definitive Garantie für Rußland sein, daß von Europa nie wieder eine Gefahr für Rußlands Grenzen ausgehen wird. Europa hingegen muß jedes Interesse daran haben, daß die umfassende Modernisierung Rußlands langfristig gelingt, denn nicht ein modernes, demokratisches und dann wiedererstarktes Rußland würde eine Bedrohung für Europas Sicherheit bedeuten, sondern vielmehr ein Rußland, in dem der Stagnations- oder gar Desintegrationsprozeß weiter anhielte. Eine dauerhafte strategische Partnerschaft zwischen Europa und Rußland setzt, wie bereits erwähnt, neue Prinzipien voraus, auf denen diese Partnerschaft gründen und sich entwickeln kann. Es werden dies nicht mehr die Grundsätze des alten europäischen Staatensystems sein können. Die neue Qualität läßt sich negativ in zwei Begriffen definieren: antihegemonial und antiimperial. Positiv definiert umfaßt diese neue Qualität die Prinzipien des Gewaltverzichts, der Freiheit, der Demokratie,
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des Rechts, der Unverletzlichkeit der Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts. Das sind die wesentlichen Grundsätze, auf denen das neue transnationale Staatensystem Europas gründet, das sich mit der europäischen Integration herausgebildet hat. Dieses neue europäische System schließt hegemoniale Einflußzonen oder gar imperiale Herrschafts- und Gebietsansprüche per definitionem aus, da dies eine Rückkehr zum alten System bedeuten würde. Genau diese Prinzipien des neuen Europa wurden nun im Winter 2004 durch die Wahlen in der Ukraine und durch deren massiven Fälschungsversuch aufgerufen. Zwischen Rußland und der EU gibt es drei unabhängige Staaten - die Ukraine, Weißrußland und Moldawien -, die sowohl der untergegangenen Sowjetunion angehörten als auch heute der GUS. Moldawien leidet unter seiner inneren Spaltung, weil die Bevölkerung des Gebiets jenseits des Dnjestr (Transnistrien) mehrheitlich Rußland und der Ukraine zuneigt, Weißrußland wird von einem autoritär-diktatorischen Regime beherrscht, und die Ukraine befindet sich seit ihrer Unabhängigkeit auf einem demokratisch fragilen und ökonomisch wenig dynamischen inneren Erneuerungskurs. Die bisherige, höchst unterschiedliche Entwicklung dieser drei Länder warf zwar zahlreiche Fragen und Besorgnisse auf, aber seit dem Ende der Blockkonfrontation bestand der Konsens zwischen Europa und Rußland, daß die Zukunft dieser Länder ausschließlich durch diese selbst zu entscheiden sei, nicht durch die Imperative neu entstehender Einflußzonen, egal von welcher Seite. Mit der massiven Wahlfälschung zu Lasten des tatsächlichen Wahlsiegers Viktor Juschtschenko und damit auch der Verfälschung des demokratischen Mehrheitswillens des ukrainischen Volkes bestand zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion an der östlichen Grenze Europas die Gefahr eines Rückfalls in hegemoniale Einflußzonen und in eine politische Realität, in der die Macht das Recht und die Demokratie erneut beiseite zu schieben drohte. Dies konnte und durfte Europa nicht akzeptieren. Mit dem Sieg der orangenen Demokratiebewegung in der Ukraine und der Wiederholung der Wahlen am 26. Dezember 2004 zu freien und fairen Bedingungen haben sich die Grundsät-
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ze der Demokratie und des Rechts durchgesetzt, und dies war und ist für die zukünftige Entwicklung nicht nur der Ukraine, sondern auch der strategischen Beziehungen zwischen Rußland und Europa von entscheidender Bedeutung. In der Ukraine begegnen sich Europa und Rußland, dies machte die Krise nach den gefälschten Wahlen mehr als deutlich. Der Westen des Landes schaut nach Europa, der Süden und Osten nach Rußland. Es gibt daher, wenn man die territoriale Integrität des Landes und damit seine Souveränität nicht in Frage stellen will, keine einfachen Perspektiven für dieses Land — sei es nun eine europäische oder eine Rußland zugewandte. Das Recht, über seine Zukunft zu entscheiden, liegt allein beim ukrainischen Volk, wie dies ebenso für alle anderen Staaten im neuen Europa galt und gilt. Nur wenn alle Beteiligten in der Ukraine (was bisher selbst unter schwierigsten Umständen gelungen ist) und auch alle Nachbarn und Mächte sich bei der Verfolgung ihrer legitimen außenpolitischen Interessen an die drei Grundsätze der Unabhängigkeit, der territorialen Integrität und des demokratischen Selbstbestimmungsrechts halten, wird sich die Krise dauerhaft lösen lassen. Ob die Ukraine den Weg nach Europa einschlagen oder beabsichtigen wird, eine engere Bindung mit Rußland einzugehen, dies wird allein vom demokratischen Mehrheitswillen des ukrainischen Volkes zu entscheiden sein. Alles andere hieße, von den Grundsätzen abzuweichen, auf die das neue Europa und die Beziehungen zu seinen Nachbarn gründen. Ganz anders hingegen sind die Beziehungen der EU mit der Türkei aufgebaut. Weder von der geographischen Ausdehnung noch von der Bevölkerungsgröße her gesehen ist die Türkei mit Rußland auch nur im entferntesten vergleichbar. Zwar verfügt die Türkei über eine stark wachsende Bevölkerung und wird deshalb Deutschland als demographisch größter EU-Mitgliedsstaat auf mittlere Sicht überholen, aber dennoch sprengt die Türkei damit nicht die »europäische Größenordnung«, sondern bewegt sich an deren oberem Rand. Daher verfügt die Türkei, sofern man sie entsprechend der Definition der Verfassung als europäisches Land sieht, grundsätzlich über eine Beitrittsperspektive zur Union, vorausgesetzt, sie erfüllt die dafür notwen-
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digen Kriterien von Kopenhagen. Die Kontroverse um die Türkei innerhalb der EU macht sich deshalb primär nicht an ihrer geographischen und demographischen Größe fest, sondern vielmehr an ihrer geopolitisch-kulturellen Lage und Geschichte. Kann die EU tatsächlich gemeinsame Grenzen mit Syrien, dem Irak, Iran und den Ländern des südlichen Kaukasus haben? Ist das noch Europa? Gehört die Türkei kulturell-religiös als großes islamisches Land nicht vielmehr zum Nahen und Mittleren Osten? War die Türkei über die Jahrhunderte der Expansion der osmanischen Herrschaft hinweg nicht die imperiale Herrschermacht des Nahen und Mittleren Ostens und der Sultan in Istanbul zugleich auch der Kalif (der Nachfolger des Propheten) des Islam? Und ist das Osmanenreich nicht gerade wegen seiner europäischen Eroberungen keinesfalls eine europäische Macht, sondern ganz im Gegenteil eine mehrhundertjährige Bedrohung des Abendlandes gewesen? Paßt das Land, trotz aller Veränderungen, die es in den vergangenen acht Jahrzehnten seit Kemal Atatürks Gründung der modernen Türkei durchlaufen hat, als zu weiten Teilen orientalisches und islamisches Land mit seinen ganz anderen Traditionen tatsächlich in das neue Europa der Integration? Und wird am Ende die Türkei die politische Integration nicht endgültig blockieren, weil mit ihr Europa zu groß wird und sie kulturell, politisch und wirtschaftlich zu weit entfernt ist? Kann die EU ein Land mit den kulturell-religiösen Traditionen, der geopolitischen Lage und dem Entwicklungsbedarf der Türkei überhaupt aufnehmen, ohne sich dabei zu übernehmen und das Projekt Europa dauerhaft zu beschädigen? Droht also eine politische, kulturelle und räumliche Überdehnung der EU? Dies sind in etwa die Fragen, die von den Gegnern eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union gegenwärtig vorgebracht werden, und diese Fragen sind gewiß alle sehr berechtigt und ernst zu nehmen. Sie bedürfen daher der Beantwortung, wenn man vernünftig die dahinter stehende eigentliche Frage beantworten will, nämlich wo im Südosten des europäischen Kontinents die EU enden soll: an den Ostgrenzen von Bulgarien und Griechenland oder an den Ostgrenzen der Türkei?
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Versucht man die Vielfalt an kritischen Fragen zu ordnen, so handelt es sich um historische, kulturell-religiöse, ökonomische, integrationspolitische und geopolitische Einwände. Dabei fällt sofort auf, daß sich die Debatte um den Beitritt der Türkei erstens kaum an den Fakten, an den Interessen Europas und den tatsächlichen Optionen orientiert, sondern mehr mit historischkulturellen »Gewißheiten« operiert, die starke Negativemotionen beinhalten. Und diese Debatte geht zweitens von einer falschen Grundannahme, genauer: einem falschen Zeitfaktor aus. Beginnen wir also mit den Fakten und nicht mit den Emotionen, und Fakt ist, daß es gegenwärtig überhaupt nicht um den Beitritt der Türkei geht, sondern lediglich um deren Kandidatur und somit um die Beitrittsperspektive. Dieser Prozeß wird seitens der EU bestimmt durch das Wissen um all die großen praktischen Schwierigkeiten, vor denen die Transformation der Türkei steht, durch das Wissen um die in Europa kumulierte Skepsis, um die Notwendigkeit klarer Bedingungen und langer Zeitachsen sowie der Offenheit der abschließenden Entscheidung über den Beitritt. Der Europäische Rat hat deshalb am 16./17. Dezember der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei unter folgenden Bedingungen zugestimmt, die die Vertreter der Türkei akzeptiert haben: Das Ziel der Verhandlungen ist der Beitritt, der Prozeß allerdings wird »ein Prozeß mit offenem Ende« sein, »dessen Ausgang sich nicht von vornherein garantieren läßt«; es gibt daher keinen Beitrittsautomatismus. Die Zeitdauer der Verhandlungen umfaßt mindestens 10-15 Jahre; die weitere Umsetzung der »Kopenhagener Kriterien« wird durch die EU-Kommission überprüft und in einem jährlichen Bericht dokumentiert; der weitere Fortschritt der Verhandlungen hängt auch von den Fortschritten bei der Umsetzung der »Kopenhagener Kriterien« ab; die Verhandlungen können durch den Europäischen Rat temporär ausgesetzt oder gar endgültig abgebrochen werden, wenn der Bericht der Kommission negativ ausfällt oder die Verhandlungen wegen des Wegfalls ihrer Grundlagen zu scheitern drohen. Zudem kann es auch zu erheblichen bis dauerhaften Einschränkungen bei der Personen-Freizügigkeit kommen, und bis zur kon-
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kreten Verhandlungsaufnahme im September 2005 muß die Türkei darüber hinaus die Ausdehnung des Zollabkommens mit der EU auf die Republik Zypern unterzeichnen.198 Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt sind die Interessen der EU. Niemand, selbst die schärfsten Kritiker eines türkischen Beitritts nicht, bezweifelt die strategische Bedeutung der Türkei und ihrer umfassenden Modernisierung für Europa. Und niemand stellt die Notwendigkeit fester Bindungen zwischen der EU und der Türkei als im europäischen Interesse liegend in Frage. Auch hier sprechen die empirischen Tatsachen eine eindeutige Sprache: Bereits die Vorbereitung der Türkei auf die Entscheidung des Europäischen Rates über eine Aufnahme von Verhandlungen hat Entwicklungen möglich gemacht, die bis dahin als fast utopisch galten: die Abschaffung der Todesstrafe und der Staatssicherheitsgerichte, eine umfassende Strafrechtsreform unter Einschluß des Verbotes der Folter, die Zurückdrängung der Rolle und des Einflusses des Militärs, die Stärkung der Minderheitenrechte, die Erlaubnis der kurdischen Sprache bis hin zu Radiosendungen etc. Zudem hat die Türkei in den von den UN geführten Verhandlungen um Zypern den dort gefundenen Kompromiß akzeptiert, was über Jahrzehnte hinweg als nahezu unmöglich gegolten hatte, weil die türkische Position der Zweistaatlichkeit von Zypern fast einem nationalen Tabu nahegekommen war. Statt dessen sind nunmehr nicht nur eine Lösung des Zypern-Konflikts, sondern auch eine dauerhafte Aussöhnung mit Griechenland und damit eine Lösung aller noch offenen Streitfragen in der Ägäis und im nordöstlichen Mittelmeerraum in den Bereich der Machbarkeit gerückt. Die europäische Perspektive wirkt also für die Türkei, für ihre Demokratie und die Entwicklung ihres Rechtsstaates, ihre politischen Institutionen, für Wirtschaft und Gesellschaft modernisierend und damit auch transformierend, und exakt dieses liegt im Interesse von Europa und der Türkei. Die Transformation der Türkei zu einem europafähigen Land ist das eigentliche strategische Ziel der EU, und erstaunlicherweise wird dieses Ziel sowohl von den Befürwortern als auch den Kritikern eines Beitritts der Türkei zur EU geteilt. Ob und wann dieses Ziel er-
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reichbar ist, wird die Zukunft zeigen - daher die Offenheit des Prozesses und die klaren Benchmarks und Safeguards, wie sie von der EU festgelegt wurden. In diesem ganzen Prozeß riskiert die Europäische Union lediglich den Erfolg, nämlich am Ende eine europafähige Türkei vor sich zu haben, die dann der EU als Vollmitglied beitreten kann und will. Allerdings bleibt bis dahin die letzte Entscheidung offen, und zwar für beide Seiten. Auch ökonomisch wird die feste Verankerung der Türkei in der EU alles andere als ein Nachteil werden. Gewiß würde ein langfristiger Beitritt der Türkei die gegenwärtigen Finanzierungsmechanismen der EU zu den heute geltenden Bedingungen überfordern, aber eine grundsätzliche Reform dieser Mechanismen steht, völlig unabhängig von der Türkei, spätestens in der ersten Hälfte des nächsten Jahrzehnts an. Die Wirtschaft der Türkei hatte niemals unter der Zwangssowjetisierung zu leiden, sie ist bereits heute sektoral auf den internationalen Märkten hoch wettbewerbsfähig und wird bei gelingender Staatsmodernisierung eher ein Kraftwerk denn eine Belastung für den europäischen Binnenmarkt sein. Zudem weiß die Türkei sehr genau, daß sie mit aller Energie den Ausgleich ihrer großen regionalen Ungleichgewichte anpacken muß, wenn sie, ebenfalls völlig unabhängig von ihrer europäischen Perspektive, im 21. Jahrhundert in der Welt der Globalisierung bestehen will. Die Türkei hat noch einen langen Weg an qualitativen Reformen und gesellschaftlichen Veränderungen vor sich, um wirklich europafähig zu werden. Dies ist kein formaler Prozeß allein des Schließens von Verhandlungskapiteln mit der EU, er wird vor allem durch die Umsetzung der Reformen in gelebte institutionelle und gesellschaftliche Realität bestimmt sein. Und der Erfolg dieser Modernisierung wird nicht allein im Westen des Landes entschieden, sondern vor allem im Osten und Südosten der Türkei. Erst zu dem geplanten Zeitpunkt also und im Lichte einer tatsächlich europafähigen Türkei wird die letzte Entscheidung von beiden Seiten zu treffen sein. Das langfristige Gelingen des Reformprozesses in der Türkei vorausgesetzt, darf man allerdings von einer positiven Entscheidung beider Seiten ausgehen. Gewichtet man dagegen nun die historisch-kulturellen Gegenar-
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gumente wie das Fehlen der Aufklärung, der christlichen Tradition etc., dann können sich diese Argumente durchaus als Gründe für ein Scheitern des Prozesses erweisen, sie müssen es aber keineswegs. Anders gesagt: Gelingt die Modernisierung und Europäisierung der Türkei, sind diese Argumente für die Zukunft irrelevant, gelingt sie aber aus eben diesen oder auch anderen Gründen nicht, dann wird es keine positive Entscheidung geben können. Etwas anderes gilt für die geopolitischen und integrationspolitischen Einwände, da diese Fragen selbst durch eine gelungene Modernisierung der Türkei noch nicht zureichend beantwortet werden. Die Kritik an der Beitrittsperspektive der Türkei, die sich auf eine mögliche integrationspolitische Überlastung der Union bezieht, unterstellt nun, daß eine mögliche Vollmitgliedschaft dieses Landes das endgültige Aus für die weitergehende politische Integration bedeuten würde, verbunden mit der Denaturierung der EU zu einer lose verbundenen Wirtschaftszone. Erstaunlicherweise begegnen sich bei diesem Argument die europäischen Integrationisten mit den Euroskeptikern, aber das macht ihre Causa keineswegs besser. Die einen fürchten diese Entwicklung, die anderen erhoffen sie nachgerade, aber beide Positionen befinden sich auf dem Irrweg. Sie arbeiten mit derselben Unterstellung, daß nämlich mit dem Beitritt der Türkei die weitere politische Integration der EU verunmöglicht würde, ohne dies weiter zu begründen. Allein der Verdacht der negativen Wirkung der schieren Größe des Landes wird zur Begründung angeführt. Dabei hängen die Steuerungsfähigkeit, die funktionale Effizienz und die demokratische Transparenz der EU nahezu ausschließlich von der Qualität ihrer Institutionen und deren Integrationsfähigkeit ab. Man kann daher fast den Eindruck gewinnen, daß die europäischen Integrationisten viele Probleme und Frustrationen auf die Frage des EU-Beitritts der Türkei projizieren, die ganz andere Ursachen haben. So dürfte dereinst der inhaltlich begründete Hauptwiderstand gegen eine weitergehende politische Integration Europas keineswegs von einer europafähigen Türkei ausgehen, die wohl eher an der Freiheits- und Modernisierungslinie
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der mediterranen Mitgliedsstaaten anknüpfen wird, sondern wie seit langem übrigens! - von den »Vernunfteuropäern« aus den nördlichen Mitgliedsstaaten, und zwar aus Gründen, die weiter oben erörtert wurden. An ihrer Zugehörigkeit zu Europa aber gibt es von keiner Seite irgendeinen ernsthaften Zweifel. Und das Problem einer möglichen Überforderung durch die kontinentale Größendimension der EU wurde ja bereits durch die historisch unabweisbare osteuropäische Erweiterungsrunde aus dem Jahr 2004 und die Perspektive der EU für den westlichen Balkan aufgeworfen. Beide Entwicklungen ergeben sich aus dem Verlauf der europäischen Geschichte und sind die Folgen der Überwindung der Teilung Europas und der jugoslawischen Erbfolgekriege. Darin - und nicht in einem möglichen Beitritt der Türkei liegt bereits heute das Rational für die europäische Verfassung, und diese beiden Entscheidungen der Union - und erneut nicht die Türkei - haben die kleineuropäische (westeuropäische) Perspektive der EU endgültig zu einer kontinentalen transformiert. Dies mag man bedauern oder auch nicht, aber zu einer westeuropäischen Perspektive führt für die EU ohne schwerste Beschädigungen des europäischen Integrationsprozesses, ganz unabhängig von der Zukunft der Türkei, kein Weg mehr zurück. Und auch das hier absehbare, weitere Argument der Kritiker, daß genau deswegen die EU zuerst all diese Herausforderungen bewältigen müsse, bevor weitere Entscheidungen getroffen werden könnten, führt lediglich in einen Zirkelschluß, denn nunmehr müßte man wieder darauf hinweisen, daß nicht jetzt über den Beitritt der Türkei zu entscheiden ist, sondern erst wesentlich später. Bleibt noch ein letzter Einwand zu erörtern, nämlich die geopolitische Lage der Türkei, deren Staatsgebiet geographisch ohne jeden Zweifel mehr in Asien als in Europa liegt, deren geostrategische Lage sie allerdings sowohl zum Mitglied in der NATO als auch im Europarat hat werden lassen. Die Gründe für die enge Einbindung der Türkei in die transatlantische Sicherheitsarchitektur waren während der Zeit des Kalten Krieges und der Konfrontation mit der Sowjetunion eindeutig geopolitischer
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und -strategischer Natur. Dies galt auch für die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens zwischen der damaligen EWG und der türkischen Republik am 12. September 1963. Damals versprach der deutsche Christdemokrat und erste Präsident der Kommission der EWG, Walter Hallstein, der Türkei, was seitdem galt und über die Jahrzehnte hinweg immer wieder erneuert wurde: »Die Türkei gehört zu Europa: das heißt nach den heute gültigen Maßstäben, daß sie ein verfassungsmäßiges Verhältnis zu der Europäischen Gemeinschaft herstellt. [...] Eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, daß wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit.«1" Die Türkei sollte also nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer geopolitischen Lage mittels dieses Abkommens und des Versprechens der späteren Vollmitgliedschaft fest an das entstehende Europa der Integration an- und irgendwann als Vollmitglied auch eingebunden werden. Und so steht Europa heute vor der Situation, daß es gegenüber der Türkei eben nicht mehr über eine beliebige Anzahl an Optionen verfügt, sondern daß über mehr als vier Jahrzehnte hinweg Europa der Türkei nichts weniger als die eines fernen Tages kommende Mitgliedschaft in der EU versprochen hat. Ein Bruch dieses Versprechens - und jede andere Entscheidung seitens der EU als die der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu den oben genannten Bedingungen - wäre genau darauf hinausgelaufen —, ohne daß dafür die Gründe in den mangelnden Fortschritten oder im fehlenden politischen Willen der Türkei lägen, hätte deshalb fatale strategische und geopolitische Konsequenzen für die EU. Angesichts der großen Anstrengungen und wesentlicher, noch vor kurzem nicht für möglich gehaltener Fortschritte der Türkei wäre eine negative Entscheidung der EU besonders töricht gewesen. Europa und die USA brauchten während des Ost-West-Konflikts die Türkei zur Sicherung der Südflanke der NATO gegen die Sowjetunion. Aus diesem geopolitischen Grund war die Türkei damals für Westeuropas Sicherheit unverzichtbar, und das ist auch der eigentliche Grund für die sehr früh gemachten Zusagen
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der EWG. Aus türkischer Sicht hieß seit den Tagen von Kemal Atatürks Revolution die europäische Perspektive zugleich das Bekenntnis zur eigenen Modernisierung. Gerade weil dieser Weg der europäischen Modernisierung im Innern bis heute keineswegs zu Ende gegangen ist, verbindet sich für die Türkei mit der EU-Mitgliedschaft der erfolgreiche Abschluß dieses vor mehr als acht Jahrzehnten eingeschlagenen Weges. Eine von Europa zurückgestoßene Türkei fände sich dann wieder in der außenpolitischen Vereinzelung und in den Widersprüchen zwischen europäischen Sehnsüchten und Enttäuschungen, zwischen pantürkischen Illusionen und islamisch-nahöstlicher Rückorientierung gefangen. Und dies geschähe ausgerechnet in einem historischen Augenblick, in dem es für die Sicherheit des Westens im allgemeinen und Europas im besonderen entscheidend darauf ankommen wird, daß mit der Türkei die Modernisierung eines großen islamischen Landes tatsächlich gelingt! So wichtig die Militärmacht der Türkei während des Kalten Krieges für die Sicherheit Westeuropas auch immer gewesen sein mag, so ist heute, nach dem n. September 2001 und angesichts der strategischen Gefahr, die potentiell von der unmittelbaren Nachbarregion des Nahen und Mittleren Ostens für Europa ausgeht, die feste Verankerung der Türkei und ihre gelungene Modernisierung für die europäischen Sicherheitsinteressen geopolitisch noch um Faktoren wichtiger. Eine europäische Türkei - im Innern wie in ihrer äußeren Einbindung - ist für Europas Sicherheit im 21. Jahrhundert von kaum zu überschätzender Bedeutung. Europas Sicherheit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr von Rußland bedroht werden, denn die Chancen für eine nachhaltige Ausgestaltung einer europäisch-russischen Partnerschaft stehen trotz aller Widrigkeiten auf mittlere Sicht alles andere als schlecht. Europas Sicherheit wird auch kaum durch den Aufstieg Chinas und - mit einigem zeitlichen Abstand - Indiens zu Weltmächten bedroht werden. Gewiß wird eine solche Entwicklung auch für Europa massive politisch-ökonomische und auch sicherheitspolitische Konsequenzen nach sich ziehen, aber eine direkte Bedrohung ist nicht absehbar. Ganz gewiß aber wird Europas Sicherheit in der ersten Hälfte des 21. Jahr-
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hunderts ganz entscheidend durch die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und im Mittelmeerraum beeinflußt, ja definiert werden. Die Sicherheitsfrage Europas wird sich im Mittelmeer entscheiden. Ob das Mittelmeer im 21. Jahrhundert ein Meer der Kooperation oder ein Meer der Konfrontation werden wird, ist deshalb für Europas Sicherheit die entscheidende Frage. Die Antwort wird wesentlich davon abhängen, ob in der strategischen Nachbarschaft Europas, im Nahen und Mittleren Osten und im Maghreb, gemeinsam mit der Lösung der dort bestehenden Regionalkonflikte und der Überwindung nuklearer und terroristischer Bedrohungen eine langfristige und umfassende Modernisierung dieser Region als Antwort auf den DschihadTerrorismus gelingen kann oder nicht. Dabei spielt die Europäisierung der Türkei eine herausragende Rolle. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat Europa, wenn es seine strategischen Sicherheitsinteressen begreift, eigentlich gar keine andere Option mehr, als alles auf die Karte der Modernisierung seiner nahöstlichen Nachbarschaft zu setzen. War bis dahin die geopolitische Frage nach den Grenzen mit Iran, Irak und Syrien noch ein gewichtiger Einwand gegen die türkische Mitgliedschaft in der EU, so hat sich seitdem die Bedeutung dieses geopolitischen Faktums nachgerade in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Rückzug der Europäer auf die bereits existierenden oder bald kommenden EU-Außengrenzen in Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Zypern als die definitive Südostgrenze der Union wäre angesichts der heute sichtbaren geopolitischen Bedrohung Europas eine sträfliche Kurzsichtigkeit und schierer Leichtsinn. Europa wird durch seine Sicherheitsinteressen und durch seine unmittelbare regionale Nachbarschaft dauerhaft geopolitisch mit der Krisenregion des Nahen Ostens verbunden bleiben. Deshalb wird sich die EU dieser Bedrohung stellen und sie erfolgreich beantworten müssen, indem sie ihr ganzes strategisches Potential und ihre reiche Erfahrung für die umfassende Modernisierung dieser Region, gründend auf echter Partnerschaft, langfristig einsetzt. Die Brücke Türkei gilt es dann aber nicht kleinmütig aufzugeben, sondern nachhaltig zu verstärken und zu sichern.
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Vergleicht man das Europa von heute mit dem früheren Europa, so zeigt sich, daß das europäische Zeitalter der Kriege und Eroberungen durch ein Zeitalter der Transformationen und der Beitritte abgelöst, wurde. Die »hard power« EU-Europas ist im Verhältnis zu der »hard power« des »Westfälischen« Europas zwar deutlich zurückgegangen, seine »soft power« dagegen hat exponentiell zugenommen, und darüber sollten sich die Europäer wirklich nicht grämen, ebensowenig wie unsere transatlantischen Allianzpartner. Denn die Resultate dieser neuen »soft power« namens Europa sind, selbst in harter sicherheitspolitischer Währung ausgedrückt, hervorragend. Die EU hat nichts Geringeres als einen eigenen politischen Ordnungsmagneten geschaffen, der einen ganzen Kontinent auf der Grundlage eines realisierten »Ewigen Friedens« zusammengeführt hat und zudem dabei ist, eine neue globale Macht auf der Grundlage von Demokratie, Recht und Freiheit zu schaffen. Immanuel Kant, so er heute wiederkäme, hätte an der Europäischen Union wohl seine wirkliche Freude, aber auch ein Thomas Hobbes wäre gewiß sehr erleichtert und würde gerne in den Kantschen Beifall für die europäische Einigung einstimmen. Noch nie war soviel Sicherheit und Friede auf dem europäischen Kontinent, und die Attraktion Brüssels hält, trotz aller innereuropäischen Kritik und schlechten Stimmung, ungebrochen weiter an. Während der Krise in der Ukraine hat es sich gezeigt, worin die tatsächliche Stärke der EU besteht, nämlich in ihrer transformatorischen Kraft. Und darüber hinaus wurde bereits wenige Monate nach der Osterweiterung der Union deren Mehrwert für Europa sichtbar, denn die neuen EU-Mitglieder und Nachbarn der Ukraine, Polen und Litauen, haben gemeinsam mit der EU den entscheidenden Beitrag zur Lösung der Ukrainekrise von außen geleistet. Transformation als Politik bedeutet nichts Geringeres als den Export eines gemeinsamen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, aber nicht durch hegemoniale oder gar imperiale oder koloniale Gewalt, sondern promoviert durch die »sanften« Faktoren des Gemeinschaftsrechts, der Institutionen und des von Brüssel finanzierten und überwachten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus und Fort-
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Schritts. Die EU-Erweiterungspolitik überträgt die Grundsätze der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats gemeinsam mit der sogenannten »protestantischen Ethik« Max Webers auf alle ihre Mitgliedsstaaten, nicht mehr und nicht weniger. Und sie finanziert die ökonomisch-infrastrukturelle Entwicklung ärmerer Mitgliedsstaaten vor, was sich wiederum für die reicheren Volkswirtschaften der Nettozahler als unmittelbares »Return of Investment« in Form von Aufträgen, aber auch eines expandierenden Handels positiv auszahlt. Darin besteht die große, durchaus historische Modernisierungsleistung der europäischen Erweiterungspolitik. Und diese Transformation paßt sich in die jeweilige nationale Tradition ein, zerstört sie nicht, sondern stärkt sie sogar noch in den meisten Fällen. Diese letztendlich kulturelle Umgestaltung von Politik, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft der beitretenden Staaten ist die eigentliche große strategische Stärke der EU, ohne daß dabei deren Selbstverständnis, Tradition und Alltagskultur über das notwendige Maß hinaus homogenisiert wird. Man muß nun keineswegs gleich so weit gehen wie Robert Kagan, wenn er sagt: »Die eigentliche Außenpolitik Europas ist Erweiterungspolitik«,200 aber ganz von der Hand zu weisen ist diese These nicht. Freilich wird die Erweiterungspolitik der EU innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahrzehnte definitiv an ihr Ende kommen, weil dann die Außengrenzen der Europäischen Union erreicht sein werden. Das strategische Potential der Transformationspolitik ist damit aber keineswegs erschöpft, denn diese erweist sich zunehmend als die eigentliche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und der neuen asymmetrischen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus. Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur entlang der Grundsätze der liberalen Demokratie, des Rechtsstaates, der individuellen Freiheit, der offenen Gesellschaft und der Marktwirtschaft, so muß die strategische Antwort des Westens auf die vielfältigen Modernisierungskrisen auch in anderen Regionen heißen, gründend auf der Autonomie regionaler Kulturen und echter Partnerschaft. Darin hat es der alte Kontinent Europa mittlerweile zu großer Meisterschaft gebracht.
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Neben der Herausforderung, seine räumliche und politische Integration zu vollenden, wird Europa in den kommenden Jahren darüber hinaus vor der Bewältigung zweier großer innenpolitischer Herausforderungen stehen: Gelingt ihm erstens eine nachhaltige Verbesserung seiner ökonomischen und technologisch-wissenschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit? Der Maßstab dafür wird durch die Entwicklung, das Tempo und die Dynamik in Nordamerika und vor allem in Ost- und Südasien gesetzt werden. Europa wird, wenn es sein Gesellschaftsmodell erhalten möchte, hierbei in der Weltspitze seine Wettbewerbsfähigkeit verteidigen oder, wo nötig, wiedererlangen müssen. Und dies wird bei einer abnehmenden und zugleich immer älter werdenden Bevölkerung eine wahre Herkulesaufgabe sein. Und genau daran hängt zweitens die Frage, wie Europa zu Beginn des nächsten Jahrzehnts die demographische Zäsur in seinen immer älter werdenden Bevölkerungen bewältigen wird. Vor allem diese Frage birgt gewaltigen gesellschaftspolitischen Sprengstoff in sich. Die Erweiterung der EU hat hier zwar einiges an Spielraum geschaffen, aber letztendlich steht Europa vor einer weiteren inneren Transformation, nämlich entgegen dem Eigensinn seiner Völker, Sprachen und Kulturen - und damit auch entgegen seinen nach wie vor vorhandenen gefährlichen nationalistischen Instinkten - zu einer Einwanderungsgesellschaft im großen Stile zu werden. Bereits heute ist absehbar, daß dies die Konsequenz der niedrigen Geburtenraten und der dadurch ausgelösten demographischen Zäsur zwischen 2010 und 2020 sein wird und sein muß, wenn Europa gegen Mitte des 21. Jahrhunderts nicht wirklich im Niedergang begriffen sein will. Mit der Erweiterungspolitik und dem großen Binnenmarkt, mit der die Erweiterungspolitik mehr und mehr ablösenden »Europäischen Nachbarschaftspolitik«,201 mit der strategischen Nachbarschaft mit Rußland, den Assoziationsabkommen im Mittelmeerraum und einem weiteren strategischen Umfeld vom Nahen und Mittleren Osten bis zum südlichen Kaukasus und Afrika, ist Europa in einer globalisierten Weltwirtschaft eigentlich recht gut aufgestellt. Als seine große innere Herausforderung aber werden sich die Demographie und damit die Einwanderungsfrage erweisen.
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Ganz im Gegensatz dazu hat Amerika diese Frage nicht nur seit langem gelöst, sondern die USA sind die Nation von Einwanderern schlechthin. Seit ihren ersten Anfängen ist die amerikanische Nation vor allem durch Zuwanderung gewachsen. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten wird durch Einwanderung bis zur Mitte des Jahrhunderts erheblich zunehmen, was nicht nur ein großes wirtschaftliches Wachstum nach sich zieht, sondern aus den Erträgen dieses Wachstums wird auch der weitere Ausbau der amerikanischen Macht auf höchstem Niveau relativ leichter finanzierbar sein und das strategische Potential der USA weiter wachsen. Europa hingegen wird mit der Gegenbewegung und den daraus resultierenden Wachstumsverlusten zu kämpfen haben. Wie gesagt, die EU löst einen Teil des Problems ihrer negativen Bevölkerungsentwicklung durch die erweiterungsbedingte Ausdehnung des Binnenmarktes, aber damit ist das Einwanderungsthema keineswegs erledigt. Noch brisanter wird dieses Thema für Europa, wenn man die Zuwanderungsoptionen konkreter durchdenkt. Das Zuwanderungspotential aus jenem Teil Osteuropas, der jenseits der EU liegt, ist angesichts auch dort abnehmender Geburtenraten und sogar Lebenserwartung begrenzt. Spanien verzeichnet jüngst eine ansteigende Zuwanderung aus Lateinamerika, aber dies scheint mehr eine historisch-kulturelle Ausnahmesituation zu sein. So geht der Blick Europas zwangsweise nach Süden und Südosten, und sofort verstärkt dies die Brisanz der Debatte, denn damit bekommen kulturell-religiöse Faktoren und ihre politischen Konsequenzen eine nur schwer zu überschätzende Bedeutung. Dennoch müssen sich Europa und seine Mitgliedsstaaten diesen demographischen Tatsachen stellen und dürfen deren politische, wirtschaftliche, kulturelle und strategische Konsequenzen nicht weiter ausblenden. Doch zurück zur Zukunft des Transatlantismus und jenen beiden ungleichen Partnern, Amerika und Europa. Ginge man lediglich nach der Papierform am grünen Tisch, so müßten die beiden transatlantischen Partner politisch eigentlich das ideale Paar sein, fast Yin und Yang, dem berühmten chinesischen Symbol für die Vollkommenheit, ähnelnd. Denn beide Partner sind
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politisch komplementär, d. h. bringen sich ergänzende Fähigkeiten und Schwächen in diese Beziehung ein — die eine Seite ist der Weltmeister der »hard power«, die andere Seite der »soft power«, und beide Male ist die Stärke einer jeden zugleich auch ihre Schwäche. Aber wie gesagt, dies ist eben bloß die Papierform. In der transatlantischen Realität erinnern die Zustände leider eher an ein Paar, das sich altersbedingt nicht mehr viel zu sagen hat, und wenn man, selten genug, wieder einmal miteinander spricht, dann endet dies meistens in quälenden Mißverständnissen. Aber muß das so bleiben? Läßt sich dieser transatlantische Kommunikationsknoten wirklich nicht mehr lösen? Gewiß, die transatlantischen Konflikte und Mißverständnisse sind nicht nur psychologischer Natur, sondern haben ihre Ursachen in den unterschiedlichen Realitäten. Die USA sind die einzige Weltmacht. Ihre Bezugsgröße ist global, ihre Bedrohungen real, und ihre kommenden globalen Rivalen beginnen am Horizont in Ost- und Südasien langsam sichtbar zu werden. Europas Bezugsgröße liegt noch immer vor allem in ihm selbst, und die EU wird strategisch noch für längere Zeit allerhöchstens zu einem erweiterten Regionalismus zwischen Indus und Atlantik, Afrika und Rußland fähig sein. Europa ist zu einer globalen Machtprojektion (noch?) nicht in der Lage, und deshalb würde seine volle Einbindung in die globale Machtprojektion der Weltmacht USA mittels des transatlantischen Bündnisses die europäische Seite sehr schnell überfordern. Die transatlantische Achse innerhalb der NATO war von Beginn an eine hängende, denn Europa war schon während des Kalten Krieges militärisch immer sehr viel schwächer als Amerika. Allerdings hat sich dieser militärische Neigungs- oder »Abhängigkeitswinkel« seit dem Ende des Kalten Krieges noch weiter geöffnet. All das sind objektive Entwicklungen, welche die transatlantische Zusammenarbeit schwerer und nicht einfacher machen. In den Beziehungen zwischen den USA und Europa hat also eine ziemlich radikale Veränderung der objektiven Faktoren und damit der »Lage« stattgefunden. Analysiert man diese gegenwärtige Lage und die möglichen Optionen des Transatlantismus, so gibt es eine schlechte und
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eine gute Nachricht. Zuerst die schlechte Nachricht: Für alle Militärbündnisse in der Geschichte galt bisher ein eherner Grundsatz, nämlich daß sich neue Lagen neue Allianzen suchen, und die Lage hat sich für die transatlantischen Partner fundamental verändert. Die gute Nachricht aber lautet: Erstaunlicherweise gilt dieser Befund nicht für das transatlantische Bündnis, das, allen Unkenrufen zum Trotz, mit dem Ende des Kalten Krieges mitnichten verschwand. Die Lage hat sich zwar radikal verändert, aber dennoch blieb das transatlantische Bündnis bestehen. Dafür muß es objektive Gründe geben - und zwar zwingende. Vielleicht findet sich eine Erklärung in dem Faktum, daß der Kalte Krieg die ganze Komplexität der europäisch-amerikanischen Beziehungen institutionell überwiegend auf ein Militärbündnis reduziert hat? Denn offensichtlich reicht die Substanz der transatlantischen Verbindung viel tiefer, als dies jemals in einem klassischen Militärbündnis der Fall gewesen ist. Am Charakter der NATO als einer politisch-militärischen Allianz kann kein vernünftiger Zweifel angemeldet werden, aber diese Allianz verdankt ihre spezifische Ausformung vor allem der militärischen Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion. Vielleicht war es über die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg gerade diese Dominanz des Militärischen in den transatlantischen Beziehungen, die den Blick auf den eigentlichen Kern des Transatlantismus verstellt hat, nämlich die enge normative, politisch-kulturelle und gesellschaftliche Verbindung zwischen Nordamerika und Europa, die unterhalb der ökonomischen und militärisch-strategischen Interessen das eigentliche Wesen dieser Allianz ausmachen. Gewiß sind ökonomische Interessen und strategische Sicherheitsinteressen von überragender Bedeutung, aber aus ihnen allein läßt sich die Elastizität und Fortdauer des Transatlantismus nicht begründen. Man kann daher mit hoher Plausibilität annehmen, daß das Firmenschild des politisch-militärischen Bündnisses NATO das eigentliche transatlantische Unternehmen, für das es fortgesetzt arbeitet, nämlich den transatlantischen Westen, überdeckt. Der Transatlantismus definiert in einem umfassenden Sinne, was man politisch, ökonomisch, normativ und kulturell
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den Westen nennt. Ohne den Transatlantismus, d.h. ohne diese umfassende Verbindung zwischen Amerika und Europa, gäbe es keinen Westen mehr, und damit wäre die Welt eine andere. Die europäisch-amerikanische Verbindung über den Nordatlantik hinweg definiert nicht nur eine militärische oder politische Allianz, in Wirklichkeit beruht der Transatlantismus in seinen Tiefenschichten auf einer gemeinsamen Zivilisation. Liberale Demokratie, Rechtsstaat, individuelle Freiheit, offene Gesellschaft und Marktwirtschaft beschreiben dieses Fundament, auf dem die beiden transatlantischen Pfeiler unverrückbar ruhen. Solange diese Fundamente halten, tragen die beiden Pfeiler die transatlantische Brücke auch weiterhin. Wirklich gefährlich würde es nur dann werden, wenn diese Fundamente auf einer oder gar auf beiden Seiten zu erodieren begännen. Wenn sich die These von dem gemeinsamen Zivilisationsfundament des Transatlantismus als richtig erweist, dann hat man die Diskussion über die Zukunft der NATO seit einigen Jahren in die falsche Richtung geführt. Nicht die militärischen Defizite der Europäer sind dann das Problem - wie sehr diese auch angepackt werden müssen! -, sondern die mangelnden politischen, kulturellen und zivilen Dimensionen und ihre institutionellen und operativen Ausformungen in den transatlantischen Beziehungen. Während des Kalten Krieges war Amerika, seine Demokratie, seine Wirtschaft, seine Gesellschaft und seine moderne Massenkultur Vorbild für Westeuropa. Heute wird nur allzuleicht vergessen, daß dieses zivilisatorische Fundament das politische und militärische Bündnis NATO erst wirklich stark gemacht hat. Die positive Beantwortung der sogenannten »Systemfrage« unterhalb der militärischen Abschreckung war das eigentliche Rückgrat für die Widerstandsfähigkeit Westeuropas. Heute liegen ganz andere Bedingungen in den Beziehungen zwischen Europa und Amerika vor, doch die den Transatlantismus tragenden Fundamente haben sich damit keineswegs aufgelöst, sie treiben nur nicht mehr aus sich selbst heraus die Neugestaltung der Politik auf beiden Seiten des Atlantiks voran. Warum also dann nicht einen umfassenden Ansatz bei der Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen verfolgen und sehr viel
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mehr auf den institutionellen Ausbau dieser politischen und zivil-kulturellen Elemente in den transatlantischen Beziehungen setzen, ohne dabei den Teil der militärischen Allianz zu vernachlässigen? Die totalitären Bedrohungen innerhalb Europas sind dank des Transatlantismus und der europäischen Integration endgültig Geschichte, und auch deshalb braucht der Transatlantismus eine erweiterte Dimension, die ihn nicht allein auf das Militärische reduziert. Das Festhalten an den überkommenen Strukturen und Institutionen der Allianz und an ihrer Reduktion auf das militärische Element wird das Bündnis dauerhaft in einer schwierigen Schräglage festzurren, die den Ungleichgewichten zwischen den Interessen und den militärischen Fähigkeiten der Weltmacht USA einerseits und denen der werdenden erweiterten Regionalmacht Europa andererseits objektiv entspricht. Dies kann zur Auszehrung der NATO führen und produziert zugleich Mißverständnisse und Mißtrauen über den Atlantik hinweg. Die Europäer unterstellen den USA, daß sie die NATO mehr und mehr als sogenannten »Werkzeugkasten« begreifen, aus dem sie sich nach Bedarf mal bedienen und mal nicht. Dabei droht sich Partnerschaft in Gefolgschaft zu verändern und dadurch auf mittlere Sicht die Solidarität im Bündnis in Frage gestellt zu werden. Die Amerikaner wiederum unterstellen Europa eine preiswerte sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei und, im Windschatten davon, mittels der ESVP und eigenständigen militärischen Fähigkeiten und Stäben der EU eine Abkoppelungsstrategie von Nordamerika. Angereichert werde dies alles noch durch Gedanken über Europas Zukunft in einer multipolaren Welt. Die Konsequenz dieser Entwicklungen ist absehbar, nämlich, trotz aller transatlantischen Bekenntnisse und bemühten Rhetorik, eine weiter voranschreitende Sinnentleerung und damit Erosion des Bündnisses. Ein angesichts dieser beklagenswerten Lage des Transatlantismus notwendiger Neuanfang muß mit der ehrlichen Antwort auf zwei zentrale Fragen beginnen: Wollen die USA überhaupt noch die europäische Einigung? Und wollen die Europäer ihre Einigung mit den USA oder gegen die USA erreichen? Beide Fragen entscheiden über die Zukunft des Westens,
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und nur wenn beide Seiten die jeweils an sie gerichtete Frage positiv beantworten, kann der Westen auch im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben. Beginnen wir mit der Antwort auf die Frage an Europa. Eine Begründung der europäischen Einheit gegen die USA hieße nicht nur, den Westen in Frage zu stellen, sondern liefe auch auf eine völlige Selbstüberschätzung der Kräfte Europas hinaus und müßte scheitern. Europa darf niemals vergessen, daß seine Einigungsidee auf das engste mit der Zivilisation des Westens verbunden ist. Der europäische Einigungsprozeß wurzelt in zwei Grundentscheidungen: die amerikanische Sicherheitsgarantie und die französische Integrationsidee. Die USA balancieren auch heute noch durch ihre bloße Präsenz in Europa die internen europäischen Ängste aus und sind damit gewissermaßen ein kaum noch sichtbares antihegemoniales Gegengewicht in der gesamten europäischen Einigungskonstruktion. Zudem ist auch für die Sicherheit eines vereinigten Europas das nordamerikanische Widerlager unverzichtbar, da Europa sich geopolitisch immer in einer exponierten Lage befinden wird. Weder gegenüber den neuen noch den traditionellen Bedrohungen wird Europa seine Sicherheit allein besser gewährleisten können, als dies gemeinsam mit den USA der Fall ist und bleiben wird. Auch die Frage der Multipolarität, ein Reizbegriff in den gegenwärtigen transatlantischen Beziehungen, muß dabei diskutiert werden. Wenn Multipolarität die Abkoppelung Europas aus dem Transatlantismus meint, erwächst daraus für Europa viel an Ungemach. Meint der Begriff hingegen die bloße Beschreibung der kommenden Weltordnung, in der ein erneuerter Westen (Amerika und Europa), ein intaktes und modernisiertes atlantisches Bündnis also, ein entscheidender Gestaltungsfaktor sein wird, dann ist dieser Begriff transatlantisch ungefährlich. Und schließlich das wichtigste Argument: Europa würde bei einem Einigungsversuch gegen die USA sein eigenes Fundament in Frage stellen, das für seine Stellung im 21. Jahrhundert unverzichtbar ist, nämlich das, was man den Westen nennt. Nun zu der Antwort auf die Frage an Amerika. Die USA haben die Macht, den europäischen Einigungsprozeß zu blockie-
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ren. Damit würde künstlich, d. h. durch den Eingriff einer politischen Macht von außen, die zugleich der wichtigste Partner für Europa ist, eine Blockadesituation herbeigeführt, die in der Folge eine erneute Spaltung Europas nach sich zöge. Ein schwacher europäischer Kern und noch schwächere Satrapien an der europäischen Peripherie wären die Folge. Dies hieße in der Konsequenz ein schwaches Europa, das eher früher als später zum Spielball außereuropäischer Interessen würde. Damit gingen die USA ein nicht unerhebliches Sicherheitsrisiko an ihrer strategischen Gegenküste im Nordatlantik ein. Die völlig unterdimensionierten Größen der europäischen Nationalstaaten würden sich im 21. Jahrhundert als hoffnungslos überfordert und daher für die Weltmacht USA als zunehmend irrelevant erweisen, als Risiko oder bestenfalls als Hemmschuh, aber nicht als Partner. Eine effiziente globale oder auch nur regionale Partnerschaft wird in Zukunft nur ein geeintes Europa zu leisten vermögen. Und auch hier sei die Multipolarität erörtert. Eine Absage der USA an die Vollendung der europäischen Integration würde genau jene Multipolarität mit allen negativen Konsequenzen fördern, die ein dadurch eingeleitetes Dahinsinken des Westens nach sich zöge. Multipolarität auf der Grundlage einer erneuerten Einheit des Westens ist hingegen nicht gegen Amerikas Interessen gestellt. Am Ende das wichtigste Argument: Es ist dasselbe, das auch für Europa gegolten hat. Amerika würde sehenden Auges seine strategische Selbstschwächung betreiben, wenn es das Fundament des Westens in Frage stellen würde. Ebenso wie Europa braucht Amerika den Westen, und d. h. nichts weniger, als daß die USA in ihrem wohlverstandenen historischen Eigeninteresse eine geeinte und starke EU brauchen. Alle Anstrengungen der EU, eine sicherheitspolitische Eigenständigkeit aufzubauen, haben bisher in den USA zu Abkoppelungsängsten geführt, aber nichts dergleichen hat sich bisher in der realen Welt bewahrheitet. Ganz im Gegenteil war und ist gerade auf dem Balkan die Zusammenarbeit zwischen NATO und EU überaus erfolgreich. Ähnliches galt für die alleinigen EUMissionen in Afrika, die alle auf einer engen Kooperation mit den USA beruhten. Eine umfassende Neugestaltung des Trans-
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atlantismus kann deshalb auch die dynamische Realität der Europäischen Union nicht länger negieren. Europa besteht heute nicht mehr nur aus souveränen Nationalstaaten, sondern auch aus einer sich immer weiter und tiefer integrierenden EU. Eine Erneuerung des Transatlantismus muß dieser ganz entscheidenden Veränderung der europäischen Seite endlich auch in der institutionellen Zusammenarbeit Rechnung tragen. Die einfachsten Tatsachen demonstrieren diese veränderten Realitäten, denn nach den letzten Erweiterungsrunden für NATO und EU ergibt sich folgendes Bild: In der NATO gehören nur noch zwei ihrer europäischen Mitgliedsstaaten, nämlich Island und Norwegen, nicht der EU an oder haben Kandidatenstatus. Und in der EU gehören lediglich sechs Mitgliedsstaaten nicht der NATO an Schweden, Finnland, Irland, Österreich, Zypern und Malta -, wobei nur die beiden letzteren nicht mit der NATO im »Partnership for Peace«-Programm assoziiert sind. Es bietet sich daher fast von selbst an, auch neue institutionelle Beziehungen zwischen den beiden Organisationen herzustellen, anstatt sich weiter in nur mühselig versteckten Eifersüchteleien und Reibereien zu vertändeln. Eine solche neue Qualität in den Beziehungen von NATO und EU wäre ohne jeden Zweifel ebenfalls ein wesentliches Element eines erneuerten und umfassenden Transatlantismus. Es sei dabei aber eine Priorität nicht vergessen, die sich ganz unmittelbar auf die mangelnde »hard power« Europas bezieht. So wichtig der erweiterte Sicherheitsbegriff Europas im 21. Jahrhundert auch immer sein wird, und so wesentlich dabei auch all die zivilen Elemente sein werden, so gilt doch gerade dann, daß ohne angemessene militärische Fähigkeiten all diese Strategien bloßes Papier bleiben müssen, weil die militärische Durchsetzung und Absicherung einer politischen Entscheidung nicht gelingen kann. Die militärischen Defizite Europas müssen daher, ganz unabhängig von dem amerikanischen Drängen, auch und gerade im eigenen europäischen Sicherheitsinteresse überwunden werden. Robert Cooper hat völlig recht, wenn er feststellt: »Die Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten besteht nicht nur in den Fähigkeiten, sondern genauso im Willen.
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Es ist an der Zeit, daß Europa seine Position überdenkt. Es ist unbefriedigend, daß sich 450 Millionen Europäer so sehr auf 250 Millionen Amerikaner verlassen, um von ihnen verteidigt zu werden. Verteidigung ist niemals umsonst.«202 Das heißt aber, daß die Europäer endlich ihre nationalstaatlich altmodischen und daher überteuerten militärischen Strukturen dem Integrationsprozeß auf ihrem Kontinent anpassen, ihre militärischen Fähigkeiten auf die neuen Gefahren und Bedrohungen ausrichten und ihrer Verantwortung für die neue strategische Dimension der EU und den Erfordernissen eines umfassend erneuerten Transatlantismus entsprechend modernisieren und finanzieren müssen. Die Neugestaltung eines umfassenden Transatlantismus und die aktive Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses durch Amerika (ja mehr noch, die energische Forderung nach einer schnelleren und entschlosseneren politischen Einigung Europas!) könnten einer politischen Rekonstruktion des Westens in der Tat den entscheidenden Anstoß geben. Die USA als Weltmacht, ein sich vereinigendes Europa als Macht im Werden, verbunden durch einen umfassenden Transatlantismus in Gestalt einer erneuerten NATO, die das transatlantische Bindeglied zwischen den USA und der EU verkörpert, politisch ausgerichtet an einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der militärische Sicherheit und Transformation verbindet - solchermaßen wäre der Westen gut vorbereitet, um den Bedrohungen und Gefahren des 21. Jahrhunderts erfolgreich entgegentreten und zugleich die Chancen zur Gestaltung einer neuen Weltordnung auf der Grundlage seiner universellen Werte wirksam nutzen zu können.
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VI. »The Great Transformation«203 und der Nahe und Mittlere Osten »Die Hindernisse auf dem Weg, d.h. die unzulänglichen Strukturen aus der Vergangenheit, sind überwindbar. Die arabischen Völker müssen diese sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere die politischen Strukturen beseitigen bzw. reformieren, um in der Welt des Wissens-Milleniums den Platz einnehmen zu können, den sie verdienen.« ARABISCHER BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2OO32°4
Der 11. September 2001 hat illusionslos klargemacht, von welcher Weltregion aktuell die größte Gefahr für die Sicherheit der USA, Europas und damit des gesamten Westens ausgeht. Es ist dies der Kernbereich jenes islamischen Krisengürtels, der selbst vom Atlantik bis zum Pazifik reicht, nämlich die Region des Nahen und Mittleren Osten. »Die wesentlichen Interessen Europas und Amerikas in Nahost liegen jedoch zu Beginn des 21. Jahrhunderts enger beieinander als je zuvor«, stellte Timothy Garton Ash zu Recht fest. »Politisch haben die Anschläge vom 11.9. auf neue Weise ein tiefes gemeinsames Interesse zutage gefördert. Zwar ist der Nahe Osten Europa so nah wie Amerika fern, und in der klassischen Geostrategie hätte ein solch räumlicher Abstand einen politischen nach sich gezogen, doch Osama bin Laden und Konsorten haben gezeigt, daß der Atlantik schmaler sein kann als das Mittelmeer, weil im Zeitalter der >Globalisierung< auch der Terrorismus global agiert.«20' Im Nahen und Mittleren Osten finden sich weltweit die größten Öl- und Gasvorkommen und zugleich ein zunehmendes Maß an politischer Instabilität und wirtschaftlich-sozialer Entwicklungsblockade. Diese Faktoren verbinden sich mit sehr jungen und schnell wachsenden Bevölkerungen, alten und ge-
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fährlichen Regionalkonflikten, religiös aufgeladenen totalitären Ideologien, Terrorismus, autoritären Regimes und nuklearen Ambitionen regionaler Mächte zu einem hochbrisanten politischen Gemisch, das entweder friedlich in einer grundsätzlichen Transformation und Modernisierung dieser Region kanalisiert werden kann oder aber zu einer revolutionären gewaltsamen Entladung führen muß. Diese negative Option würde für die betroffene Region und für den Westen fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Eine dritte Option, nämlich die Stabilisierung des Status quo, kann den dramatisch wachsenden Veränderungsdruck nicht mehr auffangen. Spätestens seit dem n. September ist es aus westlicher Sicht zur Gewißheit geworden, daß das weitere Festhalten am Status quo in dieser Region zugleich die Akzeptanz sehr großer und kaum noch kalkulierbarer Risiken bedeuten würde. Aus dem Nahen und Mittleren Osten erwächst für den Westen eine zunehmende totalitär-revolutionäre Bedrohung, die sich rücksichtslos terroristischer Mittel bedient und auch vor dem Einsatz primitiver Massenvernichtungswaffen nicht zurückschrecken wird, so sie denn in die Hände dieser Terrororganisationen gelangen. Eine Abschreckungslogik wird gegenüber diesen Gruppen nicht funktionieren, sondern lediglich ihre erfolgreiche Bekämpfung kann eine solche Entwicklung verhindern. Freilich stoßen wir hier auf eine der ganz aktuellen strategischen Grundsatzfragen, die zwischen Europa und Amerika keineswegs ausdiskutiert ist: Meint »erfolgreiche Bekämpfung« den Einsatz von überwiegend militärischen Mitteln bis hin zum präventiven Krieg als Instrument regionaler Neuordnung?206 Oder muß man darunter nicht vielmehr einen breiten Transformationsansatz verstehen, in dem die militärische Bekämpfung auf den Terrorismus beschränkt bleibt und ansonsten Krieg, ohne Ermächtigung durch eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, nur zum Zweck der unmittelbaren Selbstverteidigung zulässig ist, entsprechend dem Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen?207 Und was ist angesichts dieser neuen Gefahren oder angesichts eines drohenden Völkermordes zu tun, wenn sich der Sicherheitsrat als handlungsunfähig erweist, weil er durch
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eine oder mehrere Vetomächte blockiert wird? Auch über diese und einige weitere Fragen wird zu diskutieren und nach Möglichkeit ein Konsens oder wenigstens eine Annäherung der Positionen innerhalb des Westens (oder sogar innerhalb der gesamten Staatengemeinschaft) anzustreben sein, wenn man die Grundsätze einer neuen Weltordnung entwickeln will. Parallel dazu werden in der Region des weiteren Nahen und Mittleren Ostens immer noch seit Jahrzehnten währende Konflikte um Nationalstaatsbildungen und damit einhergehende Grenzfragen ausgetragen, die auf die Auflösung der großen Imperien des 19./20. Jahrhunderts zurückzuführen sind. An erster Stelle sei hier der israelisch-palästinensische Konflikt im Zentrum dieser Krisenregion genannt, aber auch die Kaukasusregion an ihrem nördlichen Rand, Kaschmir ganz im äußersten Osten dieser Region und der Westsahara-Konflikt am westlichen Ende des Krisengürtels. Die Kaukasusregion wird immer noch durch die Spätfolgen der russischen Eroberung und die Auflösung des großrussischen Imperiums namens Sowjetunion erschüttert; der Westsahara-Konflikt ist ein Ergebnis der späten spanischen Dekolonisierung und belastet bis heute die Beziehungen zwischen den maghrebinischen Nachbarstaaten Algerien und Marokko. Der Konflikt zwischen den Nachbarn Indien und Pakistan um Kaschmir ist ein Ergebnis des Rückzugs des britischen Empire vom indischen Subkontinent, und der israelisch-palästinensische Konflikt geht auf die identische Ursache zurück, nämlich auf den damals begonnenen britischen Rückzug aus der Region »östlich von Suez«. Alle diese Konflikte, so unterschiedlich sie in ihren konkreten historischen Ursachen und in ihrem Gefährdungspotential auch immer sein mögen, haben diese eine Gemeinsamkeit, nämlich daß sie in der Zeit der Dekolonisierung und der damit einhergehenden Staatenbildung entstanden und bis heute ungelöst geblieben sind. Allein die Tragödie Afghanistans ist anders gelagert, denn diese wurzelt nahezu ausschließlich im Erbe des Kalten Krieges, auch wenn es in der späteren Phase des Bürgerkrieges einen indirekten Zusammenhang mit dem Kaschmir-Konflikt gab. Gerade die tragische Geschichte Afghanistans demonstriert,
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daß ohne ein langfristiges und zugleich militärisches wie ziviles Engagement der Staatengemeinschaft und des Westens das Land nicht wirklich befriedet und wieder aufgebaut werden kann. Nur die langfristige Präsenz der Staatengemeinschaft garantiert ein erfolgreiches »Nation Building« und vermag jene regionalen und nationalen Kräfte zu neutralisieren, die das Land innerhalb kürzester Zeit erneut in den Bürgerkrieg und in jene jahrzehntelange Tragödie zurückstoßen würden. Die Fortschritte beim Aufbau der Demokratie und beim materiellen Wiederaufbau, die dabei innerhalb weniger Jahre mit Präsenz und Hilfe von außen erzielt werden konnten, sind angesichts der Lage des Landes beeindruckend: Nach dem erfolgreichen Verfassungsprozeß und nach den ersten freien Präsidentschaftswahlen wird mit den kommenden Parlamentswahlen der auf dem Petersberg bei Bonn begonnene Prozeß der demokratischen Erneuerung abgeschlossen sein. Die demokratisch voll legitimierte Zentralregierung übt mittlerweile über den größten Teil des Landes die Kontrolle aus, der Wiederaufbau kommt erfolgreich voran, und die Sicherheitslage hat sich, trotz fortbestehender terroristischer Bedrohungen, insgesamt verbessert. Die größte Herausforderung für ein demokratisches Afghanistan bleiben der massive Drogenanbau und die sich daraus ergebenden sehr ernsten Gefahren für die Stabilität des Landes und seiner Institutionen. Darüber hinaus ist das Land ein erfolgreiches Beispiel für den Einsatz der NATO und die Zusammenarbeit innerhalb des Westens geworden. Am Beispiel Afghanistan läßt sich auch nachvollziehen, daß, selbst wenn man zu Recht das Fortbestehen traditioneller geopolitischer Interessen unterstellt, das tatsächliche strategische Motiv heute - anders noch als im 20. Jahrhundert - in der Verhinderung eines zusammengebrochenen Staates und damit eines Rückzugsraumes für Terroristen liegt, in dem Ausgleich und der Eindämmung gefährlicher regionaler Rivalitäten und in der Abwehr einer humanitären Katastrophe. Doch zurück in den Kernbereich des Krisengürtels, in den Nahen Osten. Gerade am Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern kann man die Kontinuitäten in einem sich beständig verändernden weltpolitischen Umfeld sehr gut nachvollzie-
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hen. Dieser Konflikt begann definitiv mit dem Teilungsbeschluß der UN für das damalige Mandatsgebiet Palästina am 29. November 1947 und der dann am 14. Mai 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel. An diesem Tag erlosch das britische Mandat für Palästina. Am 15. Mai 1948 eröffneten die arabischen Armeen ihren Angriff auf Israel, um diesen neu gegründeten jüdischen Nationalstaat wieder von der Landkarte zu tilgen. Der Versuch scheiterte und führte zu einer Massenflucht der arabisch-palästinensischen Zivilbevölkerung. Seit der ersten Stunde des Staates Israel wurde dessen Existenzrecht von seinen Nachbarn durch Krieg in Frage gestellt. Damals war dieser Konflikt noch Bestandteil der Spätphase des europäischen Kolonialismus. Der Konflikt dauerte an und wurde seit den fünfziger Jahren Teil der Ost-West-Konfrontation, schien sich anschließend in den Jahren der sogenannten »Friedensdividende« nach dem Ende des Kalten Krieges für einen längeren historischen Augenblick einer Friedenslösung zu nähern, um schließlich heute Teil des »Krieges gegen den Terror« geworden zu sein. Im israelisch-palästinensischen Konflikt kämpften beide Seiten vom Beginn an bis heute um dasselbe Land, standen sich zwei Nationalbewegungen in Feindschaft gegenüber. Aufgeladen wird dieser nationale Konflikt noch durch dessen israelischarabische Dimension, die ihn politisch erweitert, und durch eine religiöse Dimension, die sich vor allem an hochsymbolischen, religiösen Orten festmacht, wie dem Tempelberg in Jerusalem, aber auch an anderen Orten der Westbank. Vor allem dieser Faktor erhöht die Komplexität des Konflikts, da symbolisch aufgeladene religiöse Orte pragmatischen Kompromissen nur bedingt zugänglich sind. Der Nahostkonflikt verläuft also zeitgleich auf drei Ebenen: der nationalen, der regionalen und der religiösen, und das macht seine Lösung so überaus schwierig. Freilich ist die Beschreibung des Kerns dieses Konflikts als eine Konfrontation zweier Völker um dasselbe Land nicht zureichend, wenn man nicht hinzufügt, daß dabei die israelische Seite vom ersten Augenblick an um ihre Existenz kämpfen mußte, und zwar nicht nur um ihre staatliche, sondern auch um ihre nationale und um die individuelle Existenz ihrer Bürger. Genau dies ist der Grund
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dafür, daß Israel jenseits einer »Politik der Stärke« niemals wirklich über eine zweite Option verfügte und verfügt, sobald es um seine von Beginn an prekäre Existenz ging. Dieses zentrale Faktum des Nahostkonflikts - die vom ersten Augenblick an bestehende militärische Bedrohung der Existenz des Staates Israel und der sich daraus für Israel ergebende alternativlose Zwang zu einer »Politik der Stärke« - wurde und wird von seinen Nachbarn und in der internationalen Gemeinschaft allzuoft unterschätzt. Der Staat Israel als nationale Heimstatt für alle Juden sollte die Jahrhunderte der Unterdrückung, der Entrechtung, der Beleidigung und mörderischen Verfolgung des verstreut lebenden jüdischen Volkes endgültig beenden. Das war die Grundidee des Zionismus, wie sie Theodor Herzl angesichts eines immer aggressiver auftretenden Antisemitismus in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Es ist eine furchtbare historische Tragödie, daß für die durch das nationalsozialistische Deutsche Reich ermordeten sechs Millionen europäischen Juden die Gründung des Staates Israel um wenige Jahre zu spät kam.208 Gerade deshalb aber ist die Existenzfrage für Israel und die jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels keineswegs nur eine politisch-militärische oder gar akademische, sondern es geht dabei um das »Nie wieder!« schlechthin, das auf den Erfahrungen der Shoa und des mörderischen Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten gründet, der das jüdische Volk als Ganzes vernichten wollte. Und auch den Staat Israel gäbe es nicht, wenn er nicht von Anfang an mittels einer »Politik der Stärke«, mittels seiner militärischen, aber auch ökonomischen, technologischen, wissenschaftlichen und politischen Überlegenheit seine Existenz hätte gegenüber einer feindlichen Nachbarschaft verteidigen und sichern können. Unterlegenheit und Schwäche waren für Israel nach der Shoa niemals mehr hinnehmbar, Gleichgewicht zu wenig und deshalb eine existentielle Bedrohung. Nur die Überlegenheit gegenüber den feindlichen Nachbarn vermochte die Existenz von Staat und Nation sowie die der einzelnen Bürger zu sichern. An diesem Grundsatz aller israelischen Politik hat sich bis heute nichts geändert.
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Ebenfalls vom ersten Augenblick an hatte die Ablehnung des Existenzrechts Israels für die arabisch-palästinensische Seite fatale Folgen. Der Angriff der arabischen Armeen erfolgte einen Tag nach der Ausrufung des Staates Israel und endete mit erheblichen Gebietsverlusten. Hätten die arabischen Staaten damals den Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1948 akzeptiert, so wäre das palästinensische Territorium heute wesentlich größer, als es die Grenzen von 1967 sind, die von der palästinensischen Seite und der Staatengemeinschaft für einen palästinensischen Staat beansprucht werden. Die palästinensisch-arabische Seite ist mit ihren Versuchen, durch Kriege Israel zu besiegen und dessen Gründung ungeschehen zu machen, nicht nur mehrmals entscheidend gescheitert, sondern dies hatte auch eine jahrzehntelange Tragödie für die Palästinenser zur Folge. Der Traum von der kriegerischen Rückeroberung endete in den Flüchtlingslagern, in jahrzehntelanger Okkupation und in immer weiteren Gebietsverlusten. Denn das legitime Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ließ und läßt sich nicht mit militärischen Mitteln gegen Israel durchsetzen, weil diese Strategie die existentielle Bedrohung schlechthin für Israel bedeutet. Nur im Ausgleich mit Israel und auf friedlichem Wege, d. h. mittels eines historischen Gebietskompromisses, ist dieses legitime nationale Ziel der Palästinenser erreichbar. Die Geschichte des Nahostkonflikts verlief jedoch anders. Die beiden arabisch-israelischen Kriege von 1948 und 1967 führten zu ganz erheblichen Territorialverlusten für die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten Israels, die bisher nur zu Teilen durch den israelisch-ägyptischen Frieden auf diplomatischem Wege rückgängig gemacht werden konnten. Der israelisch-jordanische Friedensvertrag umfaßte nicht mehr die Westbank und Ostjerusalem, da diese beiden Gebiete schon früher von Jordanien zugunsten der Palästinenser aufgegeben worden waren. Während des Kalten Krieges war der Nahostkonflikt Bestandteil der globalen Ost-West-Konfrontation, und mit dessen Ende kam es zu einer strategischen Gewichtsverlagerung zugunsten Israels. Ägypten war bereits zuvor aus der arabischen Ablehnungsfront ausgeschieden, aber mit dem Untergang der
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Sowjetunion verloren auch die anderen wichtigsten arabischen Feindstaaten Israels ihren entscheidenden politisch-militärischen Rückhalt. Zudem hatte sich die PLO mit ihrer Unterstützung des irakischen Diktators Saddam Hussein nach dessen Überfall auf Kuwait auch in der arabischen Welt nahezu isoliert. Und Israel erkannte während der ersten Intifada, daß es die legitimen Interessen der Palästinenser nach einem eigenen Staat nicht dauerhaft unterdrücken konnte, ohne nicht selbst schweren Schaden als Land und Demokratie zu nehmen. All diese Entwicklungen machten schließlich den Weg frei für den Friedensprozeß von Oslo. Dieser Friedensprozeß gründete auf zwei Prämissen, nämlich erstens einer perspektivischen Zwei-Staaten-Lösung zur Beendigung des Konflikts und zweitens der Schaffung eines neuen Nahen Ostens, in dem Israel mit seinen arabischen Nachbarn auf der Grundlage eines dauerhaften regionalen Friedens zum gemeinsamen Vorteil zusammenarbeiten würde. Voraussetzung dafür aber war die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die dauerhafte Beendigung aller Feindseligkeiten, das Ende der Besatzung, die Auflösung der Siedlungen und die Schaffung eines palästinensischen Staates. Dieser Prozeß sollte graduell verlaufen. Er scheiterte jedoch in seinem Verlauf im wesentlichen an drei Gründen: an der niemals wirklich getroffenen Entscheidung der palästinensischen Seite zwischen Staatsgründung und -aufbau einerseits und dem Festhalten am bewaffneten Kampf unter Einsatz von Terror gegenüber Israel andererseits; an der Unklarheit, ja Uneinigkeit über den Endstatus (d.h. über das Gebiet eines zukünftigen palästinensischen Staates) und damit an den anhaltenden Siedlungsaktivitäten Israels in den besetzten Gebieten; und schließlich an der mangelnden Planung des palästinensischen Staatsaufbaus und des »Nation Building« in diesem Friedensprozeß durch die Akteure beider Seiten und die Staatengemeinschaft. In der Folge kollabierte dieser in Oslo begonnene Friedensprozeß am anhaltenden Terror gegenüber Israel und führte zum endgültigen Scheitern der Verhandlungen. Die Konsequenzen dieses Kollapses waren weitere Territorialverluste für die Palästi-
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nenser durch die Fortsetzung des Siedlungsbaus, eine Verschärfung der Okkupation und mit der sogenannten »zweiten Intifada« ein eskalierender Terrorkrieg gegen Israel, der auf beiden Seiten zu großen Verlusten unter der Zivilbevölkerung führen sollte. In dieser Phase ereignete sich der Terrorschlag gegen die USA vom II. September 2001, und damit wurde dieser Konflikt erneut einem anderen strategischem Umfeld zugeordnet, nämlich dem von Amerika angeführten »Krieg gegen den Terror«. Israels strategischer Positionsgewinn durch das Ende des OstWest-Konflikts wurde damit ein weiteres Mal verstärkt, denn es war völlig klar, daß die USA fortan gegenüber allen Formen des Terrorismus eine Politik der Null-Toleranz verfolgen würden. Ganz besonders aber galt diese neue Politik der Supermacht nach dem Horror von New York und Washington für den islamisch-arabischen Raum und damit auch für ihre Haltung gegenüber dem Terrorkrieg gegen Israel. Es war bereits ein großer politischer Fehler anzunehmen, mit einer Doppelstrategie von Verhandlungen und Gewalt dem Ziel eines eigenen palästinensischen Staates näher kommen zu können. Denn für Israel ist die Perspektive, einen palästinensischen Staat als Nachbarn zu haben, von dessen Gebiet aus der Terror gegen das Land weitergehen würde, ein Alptraum und deshalb völlig unakzeptabel. Die Terrorkampagne machte Israel nicht kompromißbereiter, sondern lediglich unnachgiebiger, weil sich dadurch im Hintergrund erneut die Existenzfrage und damit das »Nie Wieder!« stellten. Damit war für die israelische Seite die Grenze jeglicher Kompromißfähigkeit erreicht, und es kam zu einem völligen Zusammenbruch des Vertrauens in die Palästinenser. Fortan zählten erneut allein Überlegenheit und Durchhaltevermögen. Ein noch weitaus schlimmerer Fehler aber war es, nach dem 11. September den grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Politik der USA zu ignorieren. Die Konsequenz war eine wachsende Isolierung und Schwächung der Palästinenser. Israel andererseits hatte sich nach dem Junikrieg 1967 mit der Okkupation der Westbank, Ostjerusalems und des Gazastreifens selbst in eine schwierige strategisch-demographische Lage
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gebracht, denn damit war der arabische Bevölkerungsteil unter israelischer Herrschaft erheblich angewachsen. Angesichts der wesentlich höheren Wachstumsrate der arabischen Bevölkerung in Israel und in den besetzten Gebieten und der begrenzten Möglichkeiten einer weiteren Zuwanderung von außen ist es rechnerisch absehbar, wann der arabische Bevölkerungsteil zwischen dem Jordangraben und dem Mittelmeer die Mehrheit stellen wird. Eine dauerhafte Okkupation - so die nicht nur in den Linksparteien und im Lager der »Tauben«, sondern zunehmend auch innerhalb der Likud-Partei um sich greifende Meinung — würde aus dem jüdischen Staat Israel letztendlich einen binationalen Staat machen, in dem dann die Minderheit die Mehrheit dauerhaft unterdrücken müßte. Damit würde aber auf mittlere Sicht nicht nur der jüdische Charakter Israels gefährdet, sondern auch die israelische Demokratie selbst. Wie läßt sich dieses Dilemma für Israel auflösen? Die Alternative kann dem Grundsatz nach nur ein palästinensischer Staat sein - die Zwei-Staaten-Lösung also. Allerdings darf von diesem Staat einerseits keine Bedrohung für Israel ausgehen, andererseits darf er aber auch kein territorial zersplittertes, schwaches und damit kaum lebensfähiges Gebilde sein, das die Palästinenser niemals akzeptieren können und akzeptieren werden. Bis heute ist diese Frage nicht gelöst, aber um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, muß sie beantwortet werden. Im Grunde beinhaltete bereits der Teilungsplan der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 in abstrakter Form die Lösung des Konflikts, denn nur auf der Grundlage einer Teilung des Territoriums, einer ZweiStaaten-Lösung also, können die legitimen Interessen beider Völker zu einem friedlichen Ausgleich gebracht werden. Seitdem hat sich in dieser Region viel ereignet und ist es zu großen Veränderungen gekommen, und auch die weltpolitischen Rahmenbedingungen haben sich wesentlich verändert. Die Grenzziehung des ursprünglichen Teilungsplans von 1947 ist schon längst Geschichte geworden. Die Teilungsformel der Zukunft wird anders aussehen und muß von den Konfliktparteien verhandelt werden, und dennoch bleibt dieser Ansatz grundsätzlich der einzig richtige: Die Sicherung des Existenzrechts Israels und die Sicherung
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seines jüdischen Charakters einerseits und das Recht der Palästinenser auf einen eigenen lebensfähigen demokratischen Staat andererseits lassen sich nur in einer Zwei-Staaten-Lösung friedlich in Übereinstimmung bringen. Die internationale Gemeinschaft hatte nach dem Scheitern des Friedensprozesses in Camp David versucht, den Prozeß erneut zu starten oder wenigstens Halteseile einzuziehen, mittels derer die grundsätzliche Verpflichtung der Konfliktparteien auf eine Rückkehr zum Friedensprozeß und einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten werden konnte. Wichtig war dabei die Einigung der entscheidenden internationalen Akteure auf das sogenannte »Nahost-Quartett«, bestehend aus den USA, der EU, dem Generalsekretär der UN und Rußland. Die USA sind auf Grund ihrer engen Verbindung mit Israel und ihrer überragenden Macht der entscheidende Akteur im Fahrersitz des Quartetts, aber zugleich wurde durch die Gründung des Quartetts der institutionelle Zwang zur Vereinheitlichung der Haltung der wichtigsten internationalen Akteure im Nahostkonflikt geschaffen. Damit konnte das Spiel der Konfliktparteien mit unterschiedlichen Karten wirksam begrenzt werden. Mit der sogenannten »Road Map« des Quartetts, einem Friedensplan in Stufen bis zur Schaffung eines unabhängigen, lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staates und der Reform der palästinensischen Behörde gelangen dem Quartett zwei wichtige Initiativen, die trotz des eskalierenden Terrorkrieges die Hoffnung auf einen erneuerten politischen Prozeß zwischen Israel und den Palästinensern am Leben erhielten. Israel hat auf den anhaltenden Terrorkrieg, auf die demographische Herausforderung und die Blockade des Einstiegs in die »Road Map« schließlich mit einer einseitigen Trennungs- und Abzugsinitiative reagiert. Dieser Ansatz ging von der Prämisse aus, daß Israel auf palästinensischer Seite über keinen Partner mehr verfügen würde. Mit dem Bau eines Trennungszauns in der Westbank soll der palästinensische Terror gegen Israel wirksam eingedämmt werden. Problematisch dabei ist nicht der Zaun selbst, sondern sein Verlauf, da er nicht auf israelischem Territorium verläuft, sondern tief in das palästinensische Gebiet einschnei-
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det und damit neue territoriale Realitäten zu schaffen droht, die einer Friedensregelung entgegenstehen werden. Gleichzeitig beabsichtigt Israel, sich in einem zweiten Schritt vollständig und unter der Aufgabe aller Siedlungen aus dem Gaza-Streifen und aus einigen Gebieten der nördlichen Westbank zurückzuziehen, um so einseitig seine Verpflichtungen aus der Road Map zu erfüllen, soweit dies ohne Verhandlungen mit den Palästinensern möglich scheint. Freilich konnten dabei die Befürchtungen nicht ausgeräumt werden, daß dieser Plan in einem dritten Schritt auch die einseitige Annexion von Gebieten mit großen Siedlungen auf der Westbank und in Ostjerusalem beinhalten würde und so faktisch auf das Konzept eines »Gaza first and Gaza only« hinauslaufen würde. Allerdings hat dieser Plan auch aus der Sicht israelischer Interessen einen ganz entscheidenden Nachteil. Zwar würde die demographische Herausforderung durch den vollständigen Rückzug aus Gaza entscheidend reduziert, gleichwohl entstände jenseits des Zauns auf der Westbank und in Gaza eine territoriale Realität, die tatsächlich auf eine Art palästinensischen »Staat« hinausliefe, der allerdings über alles andere als einen geordneten und friedlichen Charakter verfügen würde. Dieses palästinensische Territorium wäre aus sich heraus kaum lebensfähig, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit im Innern wie nach außen durch Gewalt dominiert, und die nationale Frage der Palästinenser würde damit mitnichten mittels eines nachhaltigen Friedens mit Israel gelöst werden. Der Konflikt würde also fortbestehen, und wieweit zumindest seine sicherheitspolitische Eindämmung auf mittlere Sicht mit diesem einseitigen Plan wirklich besser gelingen kann, bleibt angesichts der zahlreichen Einwände und offenen Fragen zweifelhaft. Denn die Konsequenz einer solchen Entwicklung könnte sehr wohl sein, daß es zwar keinen lebensfähigen, demokratischen und friedlichen palästinensischen Staat an der Seite Israels geben wird, wohl aber de facto einen »failed State« Palästina, der dauerhaft ein enormes Sicherheitsrisiko für Israel und die gesamte Region nach sich ziehen würde. Mit dem Tod Yassir Arafats und der Wahl von Mahmoud Ab-
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bas als palästinensischen Präsidenten in freien und geheimen Wahlen hat sich die Lage allerdings grundsätzlich verändert, denn Israel verfügt nunmehr erneut über einen Partner auf der palästinensischen Seite. Es besteht die Hoffnung auf ein Ende des Krieges und auf einen Verhandlungsprozeß, der in einem ersten Schritt den vollständigen Abzug Israels aus Gaza zu einer zweiseitigen Angelegenheit machen und so in die Road Map und ihre Umsetzung einbetten könnte. Damit träte die Gefahr einseitiger Annexionen und einer Beschränkung des Rückzugsprozesses auf Gaza in den Hintergrund, und die Möglichkeit eines Einstieges in eine Verhandlungslösung bis hin zu den schwierigen Endstatusverhandlungen wäre durchaus als realistisch anzusehen. Wenn sich die USA, Europa und das gesamte Quartett, gemeinsam mit den moderaten arabischen Nachbarstaaten, ernsthaft für diesen Prozeß auf Seiten beider Konfliktparteien engagieren, ein Ende von Terror und Gewalt durchsetzen und damit Sicherheit auf beiden Seiten garantieren können, wenn es gelingt, die Lebensbedingungen und die Freizügigkeit der Palästinenser zu verbessern und den palästinensischen Staatsaufbau mit internationaler Hilfe energisch voranzubringen, dann könnte sich die Lage im israelisch-palästinensischen Konflikt, in Verbindung mit dem Rückzug Israels aus Gaza und der nördlichen Westbank und einer erfolgreichen Übernahme der Verwaltung durch die palästinensischen Behörden, in der Tat dauerhaft zum Besseren wenden und einen historischen Kompromiß erreichbar machen. Die vorbehaltlose Unterstützung der Existenz des Staates Israel, der einzigen wirklichen Demokratie und modernen, auf Freiheit gründenden Zivilgesellschaft im Nahen Osten, ist für Europa nicht nur eine moralische und historische Verpflichtung, sondern ebenso von eminent politischem und sicherheitspolitischem Eigeninteresse. Und umgekehrt hat Israel mit dem Trennungsbeschluß und dem Bau des Zaunes - wenn auch vielleicht nicht intentional - eine Grundsatzentscheidung getroffen, nämlich sich dem Mittelmeerraum zuzuwenden, und dies heißt, Richtung Europa zu blicken. Die Bedeutung dieser Entscheidung wird das Land wohl erst in einiger Zeit realisieren, da die
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Hoffnung auf Europa im Israel von heute kaum existiert. Beide Seiten aber, Europa und Israel, verbindet wesentlich mehr an gemeinsamen Werten und Interessen als der gegenwärtige Zustand der Beziehungen nahelegt. Und insofern wird der Entwicklung dieser Beziehungen in Zukunft eine wesentlich größere Bedeutung zukommen, als dies in der Gegenwart der Fall ist. Diese Perspektive wäre nicht zuletzt ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und friedlichen Lösung des Nahostkonflikts. Der Nahostkonflikt besteht keineswegs nur aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt, der freilich dessen Kern ausmacht. Daneben bestehen die Konflikte Israels mit Libanon und Syrien, hinzu kommt für Israel die Notwendigkeit, zu einer allgemeinen Regelung mit den arabischen Staaten zu gelangen. Allerdings hat sich das Umfeld des Nahostkonflikts seit den Zeiten von Camp David und erst recht seit den Zeiten von Oslo fortentwickelt. Zwar ist die entscheidende Frage nach den Grenzen Israels und eines zukünftigen lebensfähigen palästinensischen Staates keineswegs gelöst, aber mehr und mehr schieben sich neue regionale Herausforderungen neben diese ungelösten Fragen des israelisch-palästinensischen und israelisch-arabischen Konflikts. Unter anderem ist dies die Gefahr eines nuklearen Rüstungswettlaufs im Nahen Osten, ausgehend von den nuklearen Ambitionen des Iran. Ein möglicher nuklearer Rüstungswettlauf würde in einer der gefährlichsten Regionen der Weltpolitik zu einer völlig veränderten strategischen Bedrohungslage führen, und auch Europa würde davon keineswegs unberührt bleiben. Nicht nur würde sich Israel durch eine Nuklearisierung des Iran bedroht fühlen, sondern auch die strategischen Gewichte in der Region unterhalb der nuklearen Schwelle würden sich im Falle einer iranischen Nuklearisierung zuungunsten Israels verschieben. Aber auch andere wichtige regionale Akteure oder direkte Nachbarn würden auf eine solche Herausforderung mit eigenen energischen Anstrengungen reagieren, und damit würde in der gesamten Region ein weiterer hochgefährlicher Destabilisierungsfaktor mit schwer absehbaren Konsequenzen entstehen.
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Der Krieg der USA gegen den Irak Saddam Husseins hat die strategische Lage im Nahen und Mittleren Osten tiefgreifend erschüttert, und die mittel- und langfristigen Konsequenzen sind auch gegenwärtig immer noch schwer absehbar. Unbeschadet der früheren Differenzen um die Kriegsgründe und die eigentlich entscheidende Frage, ob der Krieg als Mittel zur regionalen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zulässig war und in seinen Folgen begrenzbar und beherrschbar bleibt, geht es angesichts der neu geschaffenen Fakten im Irak nur noch um die Option Erfolg, nämlich daß die von den USA angeführte Intervention im Irak nicht scheitern darf, sondern daß im Gegenteil eine demokratische Stabilisierung und Bewahrung der territorialen Integrität des Iraks trotz des anhaltenden Terrors gelingen wird. Denn den Preis für ein Scheitern hätte neben der Region auch der gesamte Westen, gleich ob Kriegsbefürworter oder Kriegsgegner, zu entrichten, und erneut träfe dies vor allem auf Europa als direkten regionalen Nachbarn des Krisengebiets zu. Die USA sind durch die militärische Einnahme Bagdads und den Sturz der Diktatur Saddam Husseins zur entscheidenden Macht im Zentrum des Nahen und Mittleren Ostens geworden, und sie werden aus dieser Rolle ohne eine langfristige und erfolgreiche Umgestaltung dieser gefährlichen und großen Region nur noch um einen unverhältnismäßig hohen Preis herauskommen können. Ein Vakuum im Irak — und dies kann man am Beispiel Afghanistans nach dem Abzug der Roten Armee und dem daraufhin ebenfalls erfolgten Rückzug der USA sehr genau studieren - würde das Land dauerhaft destabilisieren, seine territoriale Integrität gefährden und die regionalen Mächte zur Einflußnahme und zur Ausfüllung dieses Vakuums einladen. Die Konsequenzen wären für das Land und die gesamte Region sehr negativ, wie erneut das Beispiel Afghanistan in den neunziger Jahren beweist. Der Sturz Saddams durch die USA hat im Irak die Kurden und die Schiiten, die Opfer der Diktatur, zu den Gewinnern des von außen herbeigeführten Regimewechsels gemacht, und unter den regionalen Nachbarn waren die Gewinner des Irakkrieges vor allem Israel und der Iran. Für Israel wurde durch den Sturz Saddams die potentielle Be-
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drohung durch die irakische Armee erledigt, die arabische »Ablehnungsfront« verlor eine weitere Bastion, und der mögliche militärische Druck auf die Jordangrenze wurde dadurch verringert. Einen noch größeren Zugewinn auf der Habenseite seines strategischen Kontos konnte jedoch der Iran verbuchen. Und genau aus dieser Tatsache könnte das Risiko einer folgenschweren Fehlkalkulation für die zukünftige iranische Politik entstehen, indem sie die regionalen Kräfteverhältnisse falsch kalkuliert. Der Iran entledigte sich durch die militärische Intervention der USA in Afghanistan und im Irak ohne eigenes Zutun zweier für ihn hochgefährlicher Regime in unmittelbaren Nachbarstaaten.209 Vor allem Saddam Hussein hatte mittels eines jahrelangen Angriffskrieges in den achtziger Jahren dem Iran schwerste Verluste an Menschen und Sachwerten zugefügt. Die Todfeindschaft gegenüber Saddam und der Wunsch nach seinem Sturz waren deshalb in Teheran sogar noch weitaus stärker ausgebildet als in Washington. Mittels freier Wahlen wird zudem eine schiitische Mehrheit für eine dem Iran freundlich gesonnene Regierung im Irak sorgen, und auch die Kurden unterhalten enge Beziehungen zu Teheran. Langfristig gedacht könnte aus der Sicht des Iran dadurch sowohl in Richtung Golf als auch über Syrien bis hin zum Libanon ein schiitisch dominierter und iranisch beeinflußter strategischer Halbmond entstehen, der eines Tages dem Iran, verbunden mit der Beherrschung der Nukleartechnik und anspruchsvoller Trägersysteme, eine mehr oder weniger diskrete hegemoniale Rolle in der gesamten Region ermöglichen würde. Hinzu kommt noch ein wachsender Einfluß Teherans auf die radikalen Kräfte unter den Palästinensern, da der Iran zunehmend die Rolle der zahlenmäßig immer geringer und machtpolitisch immer schwächer werdenden arabischen »Ablehnungsfront« zu übernehmen scheint. Denkt man diese Option zu Ende, so zeichnet sich allerdings in einer nicht allzu fernen Zukunft die Gefahr eines Konflikts mit der neuen nahöstlichen Zentralmacht USA um die regionale Hegemonie ab, und diese Entwicklung, so sie nicht gebremst oder gar in eine positive Richtung umgelenkt wird, beinhaltet ganz erhebliche Risiken.
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Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn der Iran der Fehleinschätzung unterliegen sollte, daß seit dem n. September 2001 die strategischen Karten in der Region zu seinen Gunsten neu verteilt worden seien. Zwar ist der Iran mittlerweile nahezu vollständig von den USA umringt: Im Norden in Aserbaidschan und in anderen zentralasiatischen Republiken, im Osten in Afghanistan, im Westen im Irak, und im Persischen Golf liegt einsatzbereit die amerikanische Flotte. Gleichwohl könnte man in Teheran dem Irrtum unterliegen zu meinen, die USA würden im Irak, in Afghanistan und anderswo mehr vom guten Willen des Irans abhängen als umgekehrt und daß man notfalls der symmetrischen militärischen Übermacht der USA auf der asymmetrischen Ebene mehr als genug entgegenzusetzen habe. In solchen möglichen strategischen Fehlkalkulationen liegt ein brisantes Eskalationspotential, denn wenn die Entwicklung auf die hegemoniale Entscheidungsfrage hinauslaufen sollte, wer zukünftig im Nahen und Mittleren Osten das Sagen haben wird, der Iran oder die USA, dann wird der Ausgang gewiß sein. Ein Rückzug aus dem Nahen und Mittleren Osten wird für die Weltmacht USA niemals in Frage kommen. Die USA sind auch nach dem Ende des Kalten Krieges durch ihre strategischen Interessen am Golf und auf der arabischen Halbinsel sowie durch ihre Allianz mit Israel dauerhaft in der Region gebunden. Seit dem n. September 2001 und mit der Besetzung des Irak kam noch ein drittes strategisches Interesse hinzu, nämlich der Kampf gegen den Dschihad-Terrorismus und, als Konsequenz daraus, das langfristige Interesse an einer demokratischen Transformation der gesamten Region, um dadurch nachhaltig eine zukünftige terroristische Bedrohung der USA auszuschließen.210 Dem Grunde nach teilt Europa diese strategischen Interessen, auch wenn es anderen Methoden und Instrumenten den Vorzug gibt. Dennoch überwiegen gerade in der grundsätzlichen strategischen Analyse wie auch in dem langfristigen Transformationsansatz die innerwestlichen Gemeinsamkeiten. Jenseits der gemeinsamen strategischen Interessen des Westens aber bleibt aus europäischer Sicht ein wichtiger geopolitischer Unterschied, der das europäische Interesse gegen-
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über den Entwicklungen in dieser Region sogar noch verstärkt: Die EU und der Nahe und Mittlere Osten sind direkte Nachbarn, und deshalb hat Europa, anders als die USA, an den dortigen Entwicklungen ein fast schon existentiell zu nennendes sicherheitspolitisches Eigeninteresse. Eine mögliche Nuklearisierung der Region, verbunden mit weitreichenden Trägersystemen, und ein sich verstärkender Terrorismus sind Bedrohungen, die vor allem Europa als direkten Nachbarn gefährden werden, jenseits der unmittelbar betroffenen regionalen Mächte, an deren erster Stelle gewiß Israel zu nennen ist. Der Iran könnte in der Tat zu den Gewinnern eines neuen Nahen Ostens gehören, wenn er seine legitimen Interessen nach Sicherheit und Entwicklung nicht in Konfrontation mit der neuen regionalen Vormacht USA suchen würde, sondern eher im Ausbau eines kooperativen und auf Öffnung zum Westen hin bedachten Ansatzes, wie dies ja in den Einzelfällen Afghanistan und Irak seitens Teherans durchaus geschehen ist. Die Politik des Iran im Nahostkonflikt und seine Feindschaft gegenüber Israel sind hochideologisch motiviert, was diese keineswegs weniger gefährlich macht, aber sie gründen, jenseits der Nuklearoption und einer drohenden iranischen Regionalhegemonie, nicht auf unmittelbaren Interessengegensätzen. Im Iran hat sich eine starke Zivilgesellschaft entwickelt. Der Iran verfügt unter den großen und bevölkerungsreichen Staaten der Region über ein erhebliches demokratisches Potential. Das Land ist ein bedeutender Öl- und Gasexporteur, aber es kann seine wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Grund seiner politischen Isolation und einer damit einhergehenden Autarkiepolitik nur begrenzt nutzen. Zudem steht der Iran unter dem anhaltenden demographischen Druck einer sehr jungen Bevölkerung, für die er Jahr für Jahr eine große Zahl neuer Arbeitsplätze schaffen muß, wenn er auf mittlere Sicht eine schwere soziale und politische Krise vermeiden will. Das Land braucht also die politische Öffnung und die ökonomische Integration in die Weltwirtschaft, aber dies setzt im Innern Transparenz, Reformen und die Beachtung der Menschenrechte voraus und nach außen eine Politik, die Vertrauen schafft
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und von den regionalen Partnern wie auch international als Beitrag zur Stabilität im Nahen und Mittleren Osten angesehen wird. Eine solche positive Entwicklung liegt nicht nur im Interesse des Iran selbst, sondern auch der gesamten Region und ganz gewiß des Westens. Man muß sich auch im klaren darüber sein, daß alle militärischen Eskalationsoptionen im Umgang mit dem Iran in der Konsequenz gefährliche und kaum zu begrenzende Risiken beinhalten. Deswegen wird die Politik des Westens gut beraten sein, immer von einer realistischen Analyse des Iran und nicht von Wunschdenken auszugehen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Wenn es der Politik des Westens gelingt, gegenüber dem Iran seine diplomatischen Möglichkeiten zusammenzuführen, so werden diese dadurch voll nutzbar gemacht werden können. Ziel einer gemeinsamen Strategie des Westens muß es sein, dem Iran die Öffnung zu ermöglichen, ihn dadurch mehr und mehr in die Weltwirtschaft zu integrieren und auf einen von innen kommenden, demokratischen Transformationsprozeß zu setzen. Die Alternative zu dieser Politik der Öffnung wäre ein anhaltender Prozeß der Selbstisolation des Iran, der sich aus einem Scheitern des Öffnungs- und Integrationsansatzes ergeben würde. Diese Alternative wird sich primär an der Nuklearfrage entscheiden, aber auch an der Politik des Iran gegenüber den Regionalkonflikten im Nahen Osten und an der menschenrechtlich-demokratischen Entwicklung im Innern. Trotz der brisanten Regionalkonflikte, trotz der Gefahr der Nuklearisierung und trotz der Bedrohung durch den Terrorismus besteht die eigentliche Herausforderung für die meisten Staaten und damit auch für die regionale Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten in einer anhaltenden Modernisierungsblockade in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Anders gesagt, den Volkswirtschaften in der arabischen Welt mangelt es an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, die Erlöse aus den Öl- und Gasverkäufen werden suboptimal eingesetzt, Wissen und Technologie tragen die arabischen Ökonomien nur unzureichend, und es gibt zu wenig wirtschaftliche Verflechtung, geschweige denn Integration in der Region.211 Betrachtet man das regionale
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Staatensystem, so fällt der Befund keineswegs positiver aus. Die Gesellschaften werden meistens autoritär oder gar diktatorisch regiert, Demokratie, Menschenrechte, eine unabhängige Justiz, die Gleichstellung der Geschlechter und ein modernes Bildungssystem fehlen in vielen Staaten weitgehend. Und wenn man heute über die regionale Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten spricht, so fällt auf, daß es in dieser an Gefahren reichen Region fast an jeglichem Ansatz zu einem kollektiven Sicherheitssystem mangelt. Gewiß war und ist der israelisch-arabische Konflikt dabei ein nicht zu ignorierender Hinderungsgrund, aber auch in dieser Frage dient der Konflikt, wie auch andere externe Faktoren, sehr stark dazu, um von den tatsächlichen Ursachen der Modernisierungsblockaden in der Region abzulenken.212 Das eigentliche Problem der gesamten Region liegt in einer politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungsblockade, die den Nahen und Mittleren Osten, trotz seiner gewaltigen Öl- und Gasreserven und einer sehr jungen und schnell wachsenden Bevölkerung, zu einem Krisenherd in der Weltpolitik und zu einer entwicklungsschwachen Region der Weltwirtschaft macht: »Der Widerstand der arabischen Wirtschaft, sich der Außenwelt zu öffnen und dem internationalen Wettbewerb zu stellen, gekoppelt mit zeitweise exzessivem Schutz der einheimischen Produkte durch eine Importsubstitutionspolitik, hat den Produktivitätsfortschritt und den Einsatz von Wissen verlangsamt. Der Bedarf an Wissen hat nicht nur deshalb abgenommen, weil das Wirtschaftswachstum und die Produktivität in den arabischen Ländern innerhalb der letzten 25 Jahre ins Stocken geraten sind, sondern auch, weil der Reichtum in den Händen weniger konzentriert ist. [...] Die durch die Globalisierung geförderte Öffnung der Kapitalmärkte verringerte die Möglichkeiten für lokales Wirtschaftswachstum durch Konzentration. Der enorme Kapitalbetrag arabischer Länder, der in den Industrienationen investiert wird und somit den arabischen Völkern nicht zur Verfügung steht, macht in bezug auf die menschliche Entwicklung deutlich, daß nicht der Besitz von Reichtum und Geld entscheidend ist, sondern der produktive Einsatz dieses Kapitals.« So lautet über viele weitere Seiten hinweg die nüchterne und zu-
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gleich realistische Analyse arabischer Ökonomen und Wissenschaftler über die Entwicklungsblockaden in der arabischen Welt, die diese im Auftrag des United Nations Development Programme (UNDP) verfaßt haben.213 Und auch die Antwort der Autoren für einen Ausweg aus der endemischen ökonomischen, politischen und sozialen Krise der arabischen Gesellschaften wird in diesem Bericht klar und eindeutig formuliert: »Aus einer positiven Sicht erfordert die Verwirklichung menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt, diese Defizite zu überwinden und sie in ihr Gegenteil zu verwandeln: in Vorteile, derer sich alle Araber erfreuen, und Aktivposten, auf die sie vor dem Rest der Welt stolz sein können. Um die menschliche Entwicklung in Gang zu setzen, müssen die arabischen Länder darauf setzen, ihre Gesellschaften entlang dreier klarer Prinzipien wieder aufzubauen: Vollkommene Respektierung von Menschenrechten und Freiheit als Eckstein einer guten Regierungsweise, die zu menschlicher Entwicklung führt. Vollständige Gleichstellung der arabischen Frauen in Anerkennung ihrer Rechte auf gleichberechtigte Teilnahme an Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ebenso wie an Bildung und anderen Wegen, Fähigkeiten zu entwickeln. Aktiver Erwerb von Wissen und dessen wirksame Verwendung zum Aufbau menschlicher Fähigkeiten. Als ein Schlüsselfaktor wirtschaftlichen Fortschritts muß Wissen in allen Bereichen der Gesellschaft effizient und fruchtbar zur Anwendung gebracht werden mit dem Ziel, das menschliche Wohlergehen in der gesamten Region zu steigern. Dies ist es im Kern, was nötig sein wird, um die Krise der menschlichen Entwicklung in der arabischen Region zu überwinden.«214 Die Modernisierung der postkolonialen arabischen Welt geschah im wesentlichen entlang zweier Modelle: einem nationalistisch-militärischen und einem absolutistisch-theokratischen Modell. Das erstere wurde durch säkulare nationalistische Kräfte in den arabischen Gesellschaften vorangetrieben, die meistens aus einer Verbindung nationalistisch-säkularer Parteien und nationalistischer Militärs bestanden. Diese Modernisierungsvariante war im hohen Maße panarabisch orientiert, auf Grund seiner antikolonialen Haltung seit den fünfziger Jahren meist an-
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tiwestlich und deshalb auch mit der Sowjetunion verbündet und von deren Waffenlieferungen und finanzieller und technischer Hilfe abhängig. Diese Modernisierungsvariante wollte die Industrialisierung der Volkswirtschaft erreichen, mittels der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung den Bruch mit der islamischen Tradition erzwingen und dadurch die Unabhängigkeit unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts und den Wiederaufstieg der arabischen Nationen zu früherer Stärke erreichen. Sie führte in den meisten Fällen zu Einparteienherrschaften, die den politischen Mantel für faktische Militärdiktaturen abgaben, die auf stark abgeschotteten nationalen Volkswirtschaften mit staatsmonopolistischer Dominanz (arabischer Sozialismus) gründeten. Die andere Modernisierungsvariante kann man als absolutistisch-theokratisch charakterisieren. Sie versucht auf der Grundlage absoluter monarchischer Herrschaft - im Fall von SaudiArabien unter Einschluß einer Machtteilung mit der wahabitischen Ulema (Geistlichkeit) - die Herrschaftsform der absoluten Monarchie mit der machtpolitischen und wirtschaftlichen Öffnung des Landes hin zum Westen zu verbinden. Islamische Tradition und eine technologisch-konsumistische Verwestlichung sollten hier in ein machtpolitisches und kulturelles Gleichgewicht gebracht werden. Diese Modernisierungsvariante war und ist allerdings stark abhängig von dem Faktor Öl, da sie auf dem umfassenden Import der Modernisierung von außen in Gestalt von fremden Experten, Technologien und Konsumgütern beruht.21' Dies galt vor allem seit dem großen Ölpreisschock von 1973, der gewaltige Summen in die Kassen der Öl produzierenden arabischen Staaten und ihrer Herrscherhäuser fließen ließ. Freilich war und ist der normative Widerspruch zwischen westlicher Technologie und Konsumismus einerseits und den tradierten, in einer orthodoxen Form gelebten islamischen Werten andererseits kaum zu überwinden, zumal wenn das Bildungssystem seine Präferenzen eindeutig auf die traditionelle Wertevermittlung setzt. Hier mußte sich über kurz oder lang die von Anthony Barber so zutreffend beschriebene Modernisierungsfalle »Dschihad versus McWorld«216 auftun, aus der heraus sich der
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Dschihad-Terrorismus entwickeln sollte, weil die Modernisierung als ein von außen der islamischen Gesellschaft aufgezwungenes Phänomen erschien, als Fremdbestimmung und Degeneration der tradierten Gesellschaft und ihrer ewigen islamischen Werte. Beide Modernisierungsvarianten in der arabischen Welt haben sich letztendlich erschöpft und konnten keinen eigenen, erfolgreichen arabischen Weg in die Moderne eröffnen, sondern sie stagnierten oder scheiterten. Diese negative Entwicklung führte mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und angesichts einer gewaltigen Wirtschaftsdynamik durch die Globalisierung sogar zu einer erheblichen Verschärfung der Modernisierungsblockaden. Und so entwickelte sich, getragen von dem militärischen Erfolg der islamistischen Guerilla in Afghanistan gegen die Sowjetunion, gerade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue, revolutionär-totalitäre Alternative, die das entstandene Vakuum auszufüllen begann, welches die älteren Modernisierungsmodelle zunehmend hervorbrachten. Aus dieser Mischung, hervorgegangen aus dem Scheitern der beiden traditionellen Modernisierungsmodelle, aus der Erfahrung der wachsenden relativen Schwäche der arabischen Welt, dem daraus resultierenden Gefühl kultureller Fremdbestimmung, ja Desorientierung und der intellektuellen Rückorientierung in eine glorreiche Vergangenheit des Islam und der arabischen Welt, entwickelte sich die totalitär-revolutionäre Bewegung des Dschihad-Terrorismus, den man allerdings angesichts seiner ausschließlichen Destruktivität nicht als Modernisierungsbewegung definieren kann. Vielmehr handelt es sich um eine totalitäre Gefahr, die in der Konsequenz auf Selbstzerstörung hinausläuft. Aber auch diese Erfahrung ist Europa mit seinen beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts keineswegs fremd. Die Antwort auf diese totalitär-revolutionäre Bedrohung kann in der arabischen Welt nur durch eine dritte Modernisierungsvariante, nämlich die liberale Transformation, gegeben werden, wie es die Autoren des UNDP-Reports vorgeschlagen haben, der sowohl dem EU-Mittelmeerdialog als auch der »BroaderMiddle-East-Initiative« der G8-Staaten und zahlreicher Staaten
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des Nahen und Mittleren Ostens zugrunde liegt. Allerdings gibt eine solche liberale und demokratische Modernisierung der arabischen Welt eine sehr langfristige Perspektive vor, und sie wird alles andere als einfach zu erreichen sein. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Geschlechtergleichstellung, Bildung, soziale Gerechtigkeit und Öffnung für die Globalisierung - dieser liberale und zugleich universelle Modernisierungsansatz wird nicht nur auf den entschlossenen und brutalen Widerstand des DschihadTerrorismus stoßen, sondern auch wenig Anklang bei den unterschiedlichsten konservativen Machteliten in den Staaten der Region finden. Denn eine solche umfassende Modernisierung der Staaten im Nahen und Mittleren Osten erschüttert selbstverständlich auch die überkommenen Machtstrukturen und stellt diese durch die Reformen in Frage. Zudem muß die Rolle des Westens in dieser »Great Transformation« des Nahen und Mittleren Ostens einerseits eine partnerschaftliche und keine neoimperiale sein, da ansonsten die Kräfte eines revolutionären arabischen Nationalismus den Prozeß der liberalen Transformation blockieren oder sogar bekämpfen werden. Vor allem ein dauerhaftes Bündnis oder gar eine Verschmelzung von arabischem Nationalismus und Dschihad-Terrorismus würde eine große Bedrohung in der gesamten Region und darüber hinaus bedeuten. Anderseits muß der Westen umfassend präsent sein, um in den Staaten der Region eine erneute Stagnation verhindern und Rückschlägen begegnen zu können. Dies erfordert eine strategische Klugheit, die gleichermaßen auf Entschlossenheit und Sensibilität setzt und diese beiden Eigenschaften mit einem langfristigen Durchhaltevermögen und sehr viel Weitsicht verbindet. Die Beendigung des israelisch-arabischen Konflikts durch den historischen Kompromiß einer Zwei-Staaten-Lösung, die weitere demokratische Stabilisierung des Irak und Afghanistans, die anhaltende Bekämpfung des Dschihad-Terrorismus, die Verhinderung von Nuklearwaffen im Iran und damit der Nuklearisierung des Nahen und Mittleren Ostens, die feste Verankerung der Türkei in Europa. Hinzu kommen die Verhinderung einer schleichenden Destabilisierung oder gar Implosion auf der ara-
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bischen Halbinsel durch rechtzeitige Transformation, die Stärkung und Unterstützung der demokratisch-liberalen Kräfte in der gesamten Region, die langfristige Modernisierung durch demokratischen Wandel, wirtschaftliche Öffnung und Integration und umfassende gesellschaftliche Erneuerung sowie ein regionales Sicherheitssystem, in dem die legitimen Sicherheitsinteressen aller beteiligten regionalen Akteure (unter Einschluß Israels und der Palästinenser) genauso wie die globalen Sicherheitsinteressen in der Region gewährleistet werden. So lauten die wesentlichen Elemente der politischen Agenda des Westens für den Nahen und Mittleren Osten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Westen hat zu dieser Agenda und zu einer solchen Politik der langfristigen Modernisierungskooperation mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens keine ernsthafte Alternative, wenn er seine Sicherheitsinteressen im 21. Jahrhundert ernst nimmt. Die traditionellen Modernisierungsansätze in der arabischen Welt sind erschöpft und tragen nicht mehr, dasselbe gilt für eine Politik des Erhalts des Status quo in dieser Region. Den Nahen und Mittleren Osten aufzugeben oder gar zu vergessen ist angesichts seiner strategischen Bedeutung, aber auch als unmittelbare europäische Nachbarregion ebenfalls völlig undenkbar. Ein Sieg oder auch nur ein temporärer Vormarsch des totalitär-terroristischen Dschihadismus würde nicht weniger als einen Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte andauernden Krieg gegen den Terror bedeuten. Insofern bleibt zu einer partnerschaftlichen Modernisierungspolitik, trotz all der gewaltigen Hemmnisse und Schwierigkeiten und der Langfristigkeit der Herausforderungen, keine ernstzunehmende Alternative. War dies zu Beginn des Kalten Krieges in Europa eigentlich anders, und war die damalige Herausforderung für den Westen eigentlich geringer? Es ist dieselbe Qualität von strategischer Herausforderung, wie zu Beginn des Kalten Krieges in den späten vierziger Jahren, auch wenn ansonsten die Unterschiede überwiegen, und deswegen bedarf es einer ähnlich langfristigen und komplexen Antwort. Deshalb wird sich ein erneuerter Transatlantismus politisch zuerst und vor allem an dieser gemeinsamen strategischen Herausforderung der partnerschaftlichen, demokratisch-liberalen
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Transformation des Nahen und Mittleren Osten zu beweisen haben, und das wird ein langfristiges und umfassendes Engagement unverzichtbar machen.
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VII. Zwischen Gleichgewicht und globaler Kooperation - das Entstehen einer neuen Weltordnung »Wenn die nachfolgende Friedensordnung nicht anerkennt, daß die ganze Welt eine einzige Nachbarschaft ist, und der gesamten Menschheit Gerechtigkeit widerfahren läßt, werden die Keime eines weiteren Weltkriegs als anhaltende Bedrohung der Menschheit bestehenbleiben.« FRANKLIN DELANO ROOSEVELT2'7
Wie also könnte die globale Ordnung der Welt im 21. Jahrhundert aussehen? Sie wird vor allem auf zwei Säulen ruhen, nämlich auf der Macht der alleinigen Weltmacht USA und auf der Legitimationskraft des Systems der Vereinten Nationen. Unter dieser Ebene werden die kontinentalen oder subkontinentalen Regionalorganisationen zunehmend an Bedeutung gewinnen, vor allem wenn zusätzliche Legitimation für Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Staaten oder die Bereitstellung von »harter« Macht benötigt wird. Diese Regionalorganisationen werden darüber hinaus auch für die Entwicklung kooperativer regionaler Sicherheitssysteme von zentraler Bedeutung sein. Geht man andererseits von den objektiven Faktoren und dem Druck aus, den sie ausüben werden, nämlich dem anhaltenden Bevölkerungswachstum, der quantitativen und qualitativen Erweiterung des Weltmarktes, der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie, den globalen Kommunikationsstrukturen, den globalen Finanzmärkten und den objektiven Wettbewerbszwängen der globalen Wirtschaft, so spricht alles dafür, daß sich in den vor uns liegenden Jahrzehnten die gegenseitige technologische, wirtschaftliche und politische Verflechtung verstärken wird und diese Entwicklung dann auch massiv die Ausgestal-
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tung des internationalen Systems in Richtung Kooperation und Integration beeinflussen wird. Es wird zu einer Ausdehnung der Weltwirtschaft auf sehr große Bevölkerungen kommen (dieser Prozeß vollzieht sich bereits gegenwärtig), aus der sich eine qualitativ neue Herausforderung für die Verteilung der global verfügbaren Ressourcen und Energie ergeben wird, und allein diese Tatsache wird das Ökosystem Erde auf eine bis heute nicht gekannte Weise belasten. Zur gegenteiligen, negativen Gesamteinschätzung kann man gelangen, wenn man den wachsenden sozialen Druck aufgrund der globalen Einkommens- und Chancenverteilung bedenkt. Dann könnte sich aus all diesen Faktoren nämlich ergeben, daß die Entwicklung - trotz aller Zwänge zur weiteren globalen Integration der Weltwirtschaft - ganz im Gegenteil auf einen globalen Verteilungskampf hinausläuft, der gerade nicht zu stabilen oder friedlichen Verhältnissen in der internationalen Politik führen wird. Folgt man daher dieser durchaus naheliegenden zweiten Option, so bietet sich zur Beschreibung des globalen Staatensystems des 21. Jahrhunderts das alte Westfälische System mit seinem multipolaren Wettbewerbscharakter und seinem Gleichgewichtsdenken an. Freilich wird dabei etwas sehr Wichtiges übergangen: Dieses System verfügt unter den heutigen global geltenden Bedingungen der Staatenwelt über ein entscheidendes Defizit, nämlich den Verlust der zentralen Funktion des alten Gleichgewichtssystems - und das ist der Krieg als Mittel zur Abwehr eines jeglichen Hegemonialanspruches und zum Ausgleich des Wettbewerbs der souveränen Staaten. Im Staatensystem der Gegenwart existiert die Option Krieg nur noch auf der mittleren und auf der unteren Ebene, nicht mehr jedoch auf deren oberster Ebene, dort wo sich die alleinige Weltmacht USA, die anderen Atommächte und die wichtigsten staatlichen Akteure der ersten Welt versammeln. Freilich galt dieses Faktum bereits während des Kalten Krieges im vergangenen Jahrhundert, und deshalb wurde die Auseinandersetzung zwischen Ost und West eben als ein »kalter« Krieg geführt. Im 21. Jahrhundert wird nunmehr auch die Fähigkeit zur Führung eines »kalten Krieges« zwischen den alten und den neu entstehen-
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den Weltmächten zunehmend eingeschränkt werden, da angesichts der Globalisierung und d. h. der Übernahme des westlichen Wirtschafts- und Konsummodells eine solche desintegrierende Entwicklung nur noch Verlierer ohne Gewinner produzieren würde. Die Globalisierung ist kein historischer Zufall, sondern objektive Notwendigkeit und ein Ergebnis der ökonomisch-technologischen Entwicklung der Weltwirtschaft. Aber selbstverständlich ist nichts von ewiger Dauer auf dieser Welt, und für die Geschichte bestehen immer mindestens zwei Alternativen. Insofern kann es jederzeit auch schwere Krisen und Rückschläge geben. So konnte etwa die Desintegration der Weltwirtschaft, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ausgelöst wurde, ökonomisch erst wieder in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wettgemacht werden. Aber ebenso gewiß ist es, daß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten für eine ähnlich regressive Entwicklung einhundert Jahre später weitaus dramatischer ausfallen würden.218 Gleichwohl ist auch diese Option nicht grundsätzlich auszuschließen und bleibt eine reale Zukunftsalternative.219 Und deshalb sollten auch niemals die Erfahrungen mit dem »Zusammenbruch des internationalen Systems« in den späten zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vergessen werden: Damals konnte »das System des Kräftegleichgewichts den Frieden in dem Augenblick nicht mehr sichern, als die Weltwirtschaft versagte, auf der es beruhte. Dies erklärte die Plötzlichkeit des Bruchs und das unvorstellbare Tempo der Auflösung.«"° Während des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA gab es keinen gemeinsamen globalen ökonomischen Unterbau, sondern ganz im Gegenteil zwei völlig voneinander getrennte, parallele Systeme. West und Ost, Kapitalismus und Sozialismus, Markt und Plan - die damalige Welt war politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich entlang zweier sich ausschließender, alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zweigeteilt. Nichts dergleichen ist im 21. Jahrhundert bisher absehbar. Freilich heißt dies nicht, daß der Aufstieg kommender Weltmächte, wie China und Indien, und ihre Integration in das
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internationale System krisenfrei verlaufen müßten. Diese Integration möglichst konfliktfrei zu erreichen, bleibt daher eine der herausragenden Gestaltungsaufgaben in diesem Jahrhundert. Genau hier setzen die Anhänger der Übertragung des alten europäischen Gleichgewichtsmodells auf das Staatensystem des 21. Jahrhunderts an. Sie ziehen die Parallele mit dem Europa vor 1914. Auch damals gab es noch keine ideologische Feindschaft oder Systemalternative zwischen den europäischen Mächten, sondern ausschließlich Mächterivalitäten und ein Deutsches Reich unter Wilhelm II., das gegenüber den alten europäischen Großmächten seinen »Platz an der Sonne« durchzusetzen versuchte. Dahinter wurde ein deutscher Hegemonialanspruch sichtbar, auf den das Westfälische System mit einer antihegemonialen Koalitionsbildung reagierte. Das Europa vor 1914 kannte noch keine Systemunterschiede, sondern nur hegemoniale Versuchungen und antihegemoniale Ängste, die zusammengenommen als Kriegsgründe völlig ausreichten. Gerade damals war zudem die globale ökonomische Rivalität der europäischen Mächte im Zeitalter des Imperialismus ein nicht unwichtiger politischer Destabilisierungsfaktor. Das Ergebnis ist bekannt, nämlich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Beginn der Selbstzerstörung der bürgerlichen Welt Europas. Unterstellt man allerdings die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums im 21. Jahrhundert, so wird dessen machtpolitische Absicherung durch eine konfrontative, den Markt- und Ressourcenzugang für wichtige globale Akteure einschränkende oder gar unterbindende Politik völlig kontraproduktiv wirken. Denn nur durch offene globale Märkte wird sich das Wachstumsniveau aufrechterhalten lassen, das die Integration der Schwellenländer und weiterer, bisher nicht wirklich an der Weltwirtschaft teilnehmender Regionen und Staaten ermöglicht. Von der sich erfolgreich weiter ausdehnenden Globalisierung hängt aber ganz entscheidend die Sicherheit der westlichen Welt ab, ja mehr noch, auch die Zukunft des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells als solches wird davon bestimmt werden. Deshalb werden von diesem zentralen Faktum der Globalisierung auch die machtpolitischen Interessen des Westens wesent-
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lieh bestimmt werden. Kommt es hingegen analog dem Europa vor 1914 zu einer konfrontativen und desintegrativen Entwicklung, so wird im 21. Jahrhundert davon auch der Westen massiv in Mitleidenschaft gezogen werden, und zwar nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch und gerade sicherheitspolitisch. Als um so wichtiger werden sich aber angesichts einer solchen negativen Entwicklungsmöglichkeit die Vollendung des europäischen Einigungsprozesses und ein erneuerter Transatlantismus erweisen. Es fällt schwer, sich unter rationalen Annahmen vorzustellen, daß gegen Mitte dieses Jahrhunderts einerseits eine globalisierte Weltwirtschaft unter der Teilnahme einer Mehrheit der Menschheit existieren wird und andererseits ein weiterer kalter Krieg etwa zwischen der neuen Weltmacht China und der alten Weltmacht USA das internationale System bestimmt. Die ökonomisch-technologische Basis und der machtpolitische Überbau passen in dieser Zukunftsannahme schlicht nicht zusammen. Gleichwohl wird zu Recht die Frage aufgeworfen, warum sich nicht eine Entwicklung wie im Europa vor 1914 auf der globalen Ebene des 21. Jahrhunderts wiederholen sollte. Grundsätzlich ist keine einigermaßen vernünftig begründbare Option für die zukünftige politische Entwicklung auszuschließen. Aber allein die Differenz in der Waffentechnologie, nämlich die Existenz von Nuklearwaffen, definiert die Plausibilität von Optionen völlig neu. Hinzu kommen die Unterschiede in der gegenseitigen Abhängigkeit, und zwar sowohl bezogen auf die Wirtschaft, auf die verfügbaren Ressourcen, auf die Folgen für die Umwelt als auch auf die regionale und globale Sicherheit. Wie also sollte eigentlich ein kommender kalter Krieg im 21. Jahrhundert aussehen, und worum würde er zu führen sein? Die möglichen Protagonisten einer solchen Konfrontation könnten aus heutiger Sicht nur die USA und China sein, und ein weiteres Mal hieße die Aufstellung Landmacht gegen Seemacht. Insofern bliebe man der europäischen Tradition verhaftet. Aber was wäre der Gegenstand dieses Konflikts? Chinas Rolle als aufsteigende Weltmacht? China wird mit seinen mehr als 1 Milliarde Menschen und bei
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seiner weiter erfolgreich voranschreitenden Industrialisierung und umfassenden Modernisierung diesen Status ganz von selbst bekommen. Allein die entstehende ökonomische Nachfragemacht, die Exportstärke und der gewaltige Binnenmarkt der im Aufstieg begriffenen MegaÖkonomien werden sich machtpolitisch umsetzen und weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Schon gegenwärtig sind die USA für China der wichtigste Exportmarkt, und umgekehrt ist China nach Japan bereits heute der wichtigste Gläubiger der USA und wird wohl Japan in nicht allzu ferner Zukunft in dieser Spitzenposition ablösen. Neben einer späteren hegemonialen Konfrontation zwischen der aufsteigenden und der alten Weltmacht birgt vor allem die TaiwanFrage ein nicht zu unterschätzendes Eskalationspotential — und zwar nicht nur politisch, sondern auch für die Weltwirtschaft. Für alle Beteiligten geht es dabei um eherne Grundsatzfragen, nämlich territoriale Integrität versus Demokratie. Solange die Konfliktparteien sich rational verhalten werden, ist der Konflikt eingrenzbar, ja eines Tages sogar lösbar. Das Eskalationsrisiko liegt in einer Politik begründet, die mehr auf das jeweilige Prestige und nicht auf die pragmatische Vernunft setzt. Dennoch ist auch die Gefahr einer zukünftigen hegemonialen Konfrontation realistischerweise nicht auszuschließen, aber dies wird ganz entscheidend von der Ausgestaltung des globalen Staatensystems der Zukunft abhängen. Eine der für die Zukunft der globalen Sicherheit ganz entscheidenden Fragen lautet daher, wie sich die aufstrebenden Weltmächte des 21. Jahrhunderts möglichst konfliktfrei mit ihren Interessen und Ambitionen in die globale Ordnung der Staaten integrieren lassen, ohne dabei schwere Erschütterungen oder gar Schockwellen auszulösen. Sollte sich diese Entwicklung in Zukunft in einem globalen Gleichgewichtssystem mit seinem inhärenten Konkurrenzmechanismus vollziehen, dann allerdings könnte sie in der Tat in einer negativen Prophezeiung enden. Und gerade deshalb ist die eigentlich zentrale und politisch zu gestaltende Herausforderung die Frage nach der Form und dem Charakter des Staatensystems des 21. Jahrhunderts. Die Alternative dabei lautet: Zurück zum alten Westfälischen System oder voran zu einem
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globalen System der Kooperation? Genau diese Alternative verbirgt sich auch ganz wesentlich hinter der Frage nach der Zukunft der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert, denn diese verkörpern seit ihrer Gründung den Anspruch (und nur sehr eingeschränkt die Realität) auf ein globales System kollektiver Sicherheit. Und vergessen wir dabei nicht, daß die Idee einer globalen Friedensordnung, die auf einem System kollektiver Sicherheit beruht, die amerikanische Antwort auf die Selbstzerstörung des europäischen Gleichgewichtssystem in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts war. Es wäre eine Tragödie sondergleichen, wenn die Welt im 21. Jahrhundert diese furchtbare Erfahrung erst noch ein weiteres Mal machen müßte, bevor sie bereit wäre, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Die Vereinten Nationen sind ihrem Charakter nach recht eigentlich ein Unding in der kalten, machtpolitischen Staatenwelt der souveränen Leviathane und Super-Leviathane. Genauer gesagt, sie sind deren Antithese,221 denn sie versuchen, mit dem Anspruch eines globalen Systems kollektiver Sicherheit die inhärente Anarchie des Staatensystems zu zähmen und den Krieg nach Möglichkeit als Mittel der Politik wirksam einzuhegen und auf ganz wenige Fälle zu begrenzen, die zudem der völkerrechtlichen Legitimation durch die UN und ihres Sicherheitsrates bedürfen. Sie entspringen der Erfahrung zweier Weltkriege und einer idealistisch-normativen, auf die Herstellung des Weltfriedens orientierten Außenpolitik der Vereinigten Staaten222 unter deren großen Präsidenten Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt.223 Allerdings brach schon wenige Jahre nach der Gründung der UN der Kalte Krieg zwischen den Supermächten aus, und diese globale Konfrontation der mächtigsten Staaten und ihrer Bündnisse blockierte über viele Jahrzehnte hinweg die Vereinten Nationen in ihrer Kernaufgabe, nämlich als globales System kollektiver Sicherheit zu funktionieren. Mit dem Ende der Blockkonfrontation gewann dieser globale Ansatz in der Sicherheitspolitik und damit auch die Organisation der UN ihre eigentliche Bedeutung mehr und mehr zurück. Robert Cooper weist einerseits zu Recht darauf hin, »daß das Ende des Kalten Krieges die Welt in das Jahr 1945 zurückver-
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setzte. Während Institutionen, die wegen - oder vor dem Hintergrund - des Kalten Krieges entstanden waren, wie die NATO oder die Europäische Union, nun aussahen, als hätten sie eine radikale Erneuerung nötig, waren die Vereinten Nationen eine Institution aus der Zeit vor dem Kalten Krieg und mochten daher eine funktionierende Institution für die Zeit danach werden. Bis zu einem gewissen Punkt sollte sich dies bewahrheiten. Die Vereinten Nationen sind heute aktiver, als sie es während des Kalten Krieges jemals gewesen sind. [...] Jedoch sind die Vereinten Nationen aktiver bei der Friedenserhaltung und humanitären Arbeit denn als Organisation kollektiver Sicherheit.«224 Andererseits folgt Cooper aber in seiner Analyse der UN dem klassischen Sicherheitsbegriff, der sich auf Gleichgewicht und überwältigende hegemoniale Macht stützt. Er kommt daher zu dem Schluß, daß ein solches System kollektiver Sicherheit, das als Idee sowohl hinter dem Völkerbund als auch hinter der UN gestanden habe und in dem die internationale Gemeinschaft einem gegen die Regeln verstoßenden Staat das internationale Recht aufzwingen würde, noch niemals funktioniert habe, weder in der Abessinienkrise der dreißiger Jahre noch heute. Tatsächlich würde kollektive Sicherheit auch heute durch eine Kombination zweier älterer Ideen gewährleistet, nämlich Stabilität durch Gleichgewicht und Stabilität durch Hegemonie.225 Nun hieße es, das UN-System schlicht zu überfordern, wenn man von der Weltorganisation die Gewährleistung der klassischen Sicherheit durch den Einsatz militärischer Machtmittel verlangen würde, über die sie nicht verfügt und auch in Zukunft nicht verfügen wird. Diese Machtmittel bleiben bei den mächtigsten Staaten und ihren Bündnissen konzentriert. Die spannende Frage ist vielmehr, wieweit die Interessen dieser Staaten im 21. Jahrhundert mehr und mehr der Legitimation durch die UN bedürfen, wieweit also nicht ein erweiterter, transformatorischer und kooperativer Sicherheitsbegriff das nationale Interesse dieser großen Mächte zunehmend mit dem UN-System verschränken wird. Die Welt hat sich zwischen 1945 und 2005 dramatisch verändert, und die gegenseitigen Abhängigkeiten der Stärksten und der Schwächsten haben erheblich zugenommen. Sicherheit
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wird sich nicht mehr nur durch strategisches Potential plus militärische Stärke zureichend definieren lassen, und genau hier beginnen die Aufgaben der Vereinten Nationen und eines kollektiven Sicherheitssystems im 21. Jahrhundert. Insofern sind die UN auch keine Organisation aus der Zeit vor dem Kalten Krieg, sondern sie bedürfen dringend ihrer Erneuerung, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Es bedarf nach der Epoche der Dekolonisierung, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit dem Eintritt in das Zeitalter der Globalisierung einer grundsätzlichen Anpassung der Weltorganisation an diese neue Zeit und ihre ganz spezifischen Herausforderungen, zumal der klassische Souveränitätsbegriff nach den schrecklichen Erfahrungen von Ruanda und Kosovo zunehmend auch von der Seite der Individualrechte her gegenüber innerstaatlicher Brutalität und Gewalt bis hin zum drohenden Genozid unter Druck gerät.216 Die Stärke der Vereinten Nationen besteht nicht in »harter« Macht, über die sie nicht verfügen, sondern vielmehr in der »weichen« Macht der Legitimation.227 In machtpolitischen Kategorien gedacht, sind die UN schwächer als irgendeine beliebige Mittelmacht, aber ihre Fähigkeit zur Legitimation von Entscheidungen in der internationalen Politik kann von keinem anderen Staat (und sei er noch so mächtig), Staatenbündnis oder multilateraler Organisation ersetzt werden. Der Unterschied zwischen legitimer Machtausübung und nicht oder nur unzureichend legitimierter Machtausübung ist der, daß Menschen einer legitimierten Entscheidung freiwillig folgen, während sie ansonsten mit hohem Aufwand und erheblichen menschlichen, moralischen, politischen und wirtschaftlichen Kosten zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden müssen. Legitimation gründet auf Zustimmung, und Zustimmung gründet auf Repräsentanz und Teilhabe. Die Fähigkeit der UN zur Legitimation gründet auf der Befugnis zur Völkerrechtssetzung einerseits und der Selbstbindung der Organisation an das Völkerrecht und ihre eigenen Verfahrensregeln andererseits. Und diese Verfahrensregeln gründen wiederum auf der Repräsentanz und der Zustimmung der Staaten in den Entscheidungsinstitutionen und auf der
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Akzeptanz der Charta und ihrer Verfahrensregeln durch alle Mitgliedsstaaten. Die Vereinten Nationen sind die globale, transnationale Organisation der Staaten, gründend auf einer Charta, die diese souveränen Staaten an das Völkerrecht als einer höheren Instanz zu binden versucht. Sie sind konzipiert als eine Organisation zur Überwindung des Krieges in der Staatenwelt durch ein globales System kollektiver Sicherheit, und das zielt in der Konsequenz auf die Verlagerung des Jus Bellum (jenseits des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 UN-Charta) auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dieser wird dominiert von den fünf Veto-Mächten, setzt Völkerrecht und verfügt als einzige Instanz über die rechtliche Legitimation, mit Gewalt in die Souveränität der Staaten einzugreifen und, jenseits des Selbstverteidigungsrechts der Staaten, Kriege und Militärinterventionen zur Friedenserzwingung oder Friedensbewahrung mit Mehrheit zu legitimieren. Die UN sind auch die Organisation, die sich global um die Menschenrechte kümmert, Flüchtlinge versorgt, die reichen und armen Teile der Welt zusammenzuführen versucht, sich um die sozialen und ökologischen Belange auf globaler Ebene kümmert und im Falle von Natur- und von Menschen gemachten Katastrophen Hilfe organisiert und koordiniert. Zumindest sollten die Vereinten Nationen ihren Prinzipien und ihrem Anspruch nach so sein. Die Wirklichkeit der Weltorganisation läßt sich sechzig Jahre nach ihrer Gründung allerdings auch völlig anders beschreiben: Die Organisation vermag nur höchst unzureichend kollektive Sicherheit zu schaffen, wird von schweren Skandalen erschüttert, leidet unter bürokratischer Ineffizienz und unbeweglichen Strukturen. Wesentliche Institutionen der Weltorganisation funktionieren nur defizitär, der Sicherheitsrat verkörpert die Welt von 1945, der Wirtschafts- und Sozialrat fristet ein Schattendasein, und die Menschenrechtskommission wird zunehmend von Staaten dominiert, denen selbst schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen sind; gegen UN-Blauhelm-Soldaten werden schlimme Vorwürfe bei verschiedenen Friedensmissionen erhoben. Korruption, Mißma-
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nagement, schlichte Unfähigkeit und finanzielle Verschwendung gesellen sich zu diesen Vorwürfen noch hinzu. Deswegen wird die Zukunft der Vereinten Nationen als solcher und die Legitimität und Funktionalität ihrer Grundsätze aus neokonservativen Kreisen in Frage gestellt, denn eine Organisation, in der die Diktatoren, die Menschenrechtsverletzer und die Feinde der Demokratie in der Generalversammlung wie in der Menschenrechtskommission über die Mehrheit verfügten, könne ihrer zentralen Funktion, für eine friedlichere, gerechtere und bessere Welt zu sorgen, nicht mehr gerecht werden. Diese völlig gegensätzlichen Sichtweisen auf die Vereinten Nationen sind nur in ihrer Einseitigkeit falsch, denn beide treffen gleichermaßen die Wirklichkeit der Weltorganisation. Gerade die Irakkrise228 war der Anstoß für die Reforminitiative von Generalsekretär Kofi Annan, und diese Krise hat auch die oben beschriebene doppelte Realität der Vereinten Nationen offensichtlich werden lassen: Einerseits erwiesen sich die UN als unverzichtbar, andererseits zeigte diese Krise aber auch, wie schwach und wie reformbedürftig die Organisation und das gesamte UN-System tatsächlich sind.229 Es ist auch nicht verwunderlich, wenn eine Organisation, die auf 191 Mitgliedsstaaten gründet, darunter fünf Vetomächten, in ihrer Entscheidungsfindung oft schwerfällig wirkt. Die Bürokratie und auch die komplexen Entscheidungsverfahren einer solchen globalen Organisation sind unvermeidlicherweise meist umständlicher, langsamer und weniger effizient, als dies bei nationalen Entscheidungen und Regierungen der Fall ist. Die gesamte Organisation hängt von notwendigen und zugleich komplizierten Kompromissen zwischen den verschiedenen Vetomächten, den Regionalgruppen und den Mitgliedsstaaten ab. Man kann daher der UN-Organisation ehrlicherweise nicht vorwerfen, was andererseits gerade ihre Stärke ausmacht, nämlich ihre globale Breite. Der Widerspruch zwischen der Unverzichtbarkeit der UN einerseits und ihrer politischen und bürokratisch-organisatorischen Schwäche anderseits macht sechzig Jahre nach ihrer Gründung den großen Reformbedarf der Organisation mehr als deut-
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lieh. Es muß dies eine Reform sein, welche die Politiken der Organisation, ihre Verfahren und ihre Institutionen erneuert und die vor allem ihre Fähigkeit zur Legitimation stärkt, wenn die UN ihrer wesentlichen politischen Aufgabe in der Welt der Globalisierung gerecht werden wollen, nämlich den Weltfrieden zu erhalten. Unter der Überschrift »Effektivere Vereinte Nationen für das 21. Jahrhundert« faßte die hochrangige Arbeitsgruppe in ihrem Bericht an den Generalsekretär den Kern der Reformnotwendigkeiten, nämlich die institutionellen Reformen, zusammen: »In der Absicht ihrer Gründer waren die Vereinten Nationen nie eine utopische Vorstellung. Sie sollten vielmehr ein funktionierendes System der kollektiven Sicherheit bilden. [...] Wir haben während der gesamten Arbeit der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel nach institutionellen Schwachstellen Ausschau gehalten, die bei den gegenwärtigen Antwortmaßnahmen auf Bedrohungen bestehen. Die folgenden Probleme müssen am dringendsten behoben werden: Die Generalversammlung hat an Vitalität eingebüßt; oft gelingt es ihr nicht, sich wirksam und konzentriert mit den vordringlichsten Fragen auseinanderzusetzen. Der Sicherheitsrat wird in Zukunft proaktiver vorgehen müssen. Damit dies geschieht, sollen diejenigen, die finanziell, militärisch und auf diplomatischem Gebiet am meisten zu den Vereinten Nationen beitragen, mehr an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden, und diejenigen, die an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, sollten mehr zu den Vereinten Nationen beitragen. Der Sicherheitsrat braucht größere Glaubwürdigkeit, Legitimität und Repräsentativität, um alle Anforderungen erfüllen zu können, die wir an ihn stellen. Es besteht eine große institutionelle Lücke bei der Auseinandersetzung mit Problemen von besonders belasteten Staaten und Staaten, die einen Konflikt überwunden haben. Diese Länder leiden oft unter einem Defizit an Aufmerksamkeit, politischer Anleitung und Ressourcen. Der Sicherheitsrat hat die potentiellen Vorteile der Zusammenarbeit mit regionalen und subregionalen Organisationen nicht voll ausgeschöpft. Es bedarf neuer institutioneller Regelungen, um sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen der interna-
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tionalen Sicherheit auseinanderzusetzen. Die Menschenrechtsorganisation leidet an einem Legitimitätsdefizit, das den Ruf der Vereinten Nationen insgesamt in Zweifel zieht. Das Sekretariat braucht höhere Professionalität und eine bessere Organisation, damit es zu einem weitaus stärker abgestimmten Vorgehen in der Lage ist.«230 Darüber hinaus macht der Bericht Vorschläge für »einen neuen Sicherheitskonsens«, zur »kollektiven Sicherheit und der Herausforderung der Prävention« und schließlich zur »kollektiven Sicherheit und dem Einsatz von Gewalt«. Das Staatensystem des 21. Jahrhunderts wird also bis auf weiteres global auf zwei Pfeilern ruhen: der Weltmacht USA und der Weltorganisation UN. Die Beziehungen beider Akteure sind alles andere als problemfrei, weil sich die USA in ihrer Weltmachtrolle und als entscheidender globaler Ordnungsfaktor nur allzuoft durch die UN gebremst oder gar konterkariert fühlen. Dabei sind es gerade die USA als Weltmacht, die von der Legitimationskraft der UN mehr abhängen als jeder andere Staat, weil die USA wegen ihrer Fähigkeit zur globalen Machtprojektion nur allzuoft in der Pflicht sind zu handeln. Sie tun dies sowohl entsprechend ihres nationalen Interesses als auch des Interesses an globaler Sicherheit.231 Dennoch erwächst aus dieser Doppelrolle der USA als Nationalstaat und globaler Ordnungsgarant, von nationalem und globalem (oder regionalem) Interesse ein Legitimationsproblem, das die USA am besten durch die Parallelität mit reformierten Vereinten Nationen lösen können. Insofern müßte gerade den USA, mehr als anderen, an einer Erneuerung der Weltorganisation gelegen sein. Das UN-System braucht die Weltmacht USA und umgekehrt, deshalb ist eine anhaltende Konfrontation gegen die Interessen beider gerichtet. Historisch sind die UN und die Idee kollektiver Sicherheit, die das alte europäische Gleichgewichtssystem hinter sich läßt, durch und durch Kinder Amerikas, seiner politischen Tradition, seiner Freiheitsutopie, seines liberalen Optimismus und seines Glaubens an das Recht.232 Es kommt nicht von ungefähr, daß die Charta der Vereinten Nationen mit dem fast identischen ersten Satz aus der amerikanischen Verfassung beginnt: »We the peoples of the United Nations ...Willkommen in der Wüste des RealenDarkness at Noon< nannte (deutscher Titel: >SonnenfinsternisHelle Sonne
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um Mitternachts Ja, wie wir dieses so schwer zu beurteilende Jahrhundert sehen, hängt sehr stark von Ort und Zeitpunkt unserer Betrachtung ab.« Immanuel Wallerstein: Absturz oder Sinkflug des Adlers? Der Niedergang der amerikanischen Macht, Hamburg 2004, S. 35. 8 »Das 20. Jahrhundert begann 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die vorangegangenen eineinhalb Jahrzehnte waren eine Fortsetzung der Belle Epoque, jenes Schnitzlerschen Reigens, in dem Aristokratie und Bürgertum im Habsburgerreich, im wilhelminischen Deutschland und im edwardinischen England zu den Walzern von Johann Strauß getanzt hatten. Mit dem Ersten Weltkrieg tat sich mit einmal die Hölle auf. Die Welt erlebte in einem bisher nicht gekannten Ausmaß Gewalt und Zerstörung. Alle die optimistischen Vorstellungen von der Realität, die Idee des Fortschritts, sämtliche Werte und Grundsätze wurden mit einem Mal in Frage gestellt. Heute wird uns klar, daß diese Wirklichkeit das gesamte Jahrhundert belastet hat, bis zu den ethnischen Säuberungen in Srebrenica und dem unvorstellbaren und doch so realen Mord an einer halben Million Menschen in Ruanda.« Daniel Bell: Aufstieg und Fall der Ideologien, in: SZ, 16./ 17.1.1999, S. III. 9 »Die Vereinigten Staaten und andere liberale Demokratien müssen damit fertig werden, daß mit dem Zusammenbruch des Kommunismus die Welt, in der sie leben, immer weniger die alte Welt der Geopolitik ist und daß sich die Regeln und Methoden der historischen Welt für das Leben in der posthistorischen Welt nicht eignen. Die Staaten der posthistorischen Welt werden sich überwiegend mit wirtschaftlichen Problemen befassen müssen, mit der Steigerung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, mit internen und externen Defiziten, mit dem Erhalt der Vollbeschäftigung, mit der kooperativen Bewältigung schwerwiegender ökologischer Probleme und ähnlichem [...] In der posthistorischen Welt steht das Streben nach bequemer Selbsterhaltung höher als das Streben, das Leben in einem Prestigekampf zu riskieren; die universale, rationale Anerkennung hat das Streben nach Herrschaft ersetzt.« Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992, S.379f10 Kenichi Ohmae hat die Stimmung der damaligen Zeit treffend wiedergegeben, nämlich daß der Nationalstaat gegenüber den Kräften der globalen Ökonomie nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen werde: »Etwas Seltsames - und für viele geradezu Alarmierendes - ist geschehen auf dem Weg zur >neuen Weltordnung< des früheren US-Präsidenten Bush: Die alte Welt ist kollabiert. Das sieht man vor allem daran, daß mit Ende des Kalten Krieges das alte System von Allianzen und Oppositionen zwischen den Industrieländern irreparable Brüche bekommen hat. Weniger klar ersichtlich, aber wohl bedeutsamer ist, daß der moderne Nationalstaat selbst - dieses Artefakt des 18. und 19. Jahrhunderts — bröckelt. [...] Es ist nun einmal so, daß Nationalstaaten innerhalb der Weltwirtschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.« Kenichi Ohmae: Der neue Weltmarkt. Das Ende des
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Nationalstaates und der Aufstieg der regionalen Wirtschaftszonen, Hamburg 1996, S. 20 u. 26. Auffassungen dieser Art bestimmten die westliche Öffentlichkeit während der gesamten neunziger Jahre. 11 Diese dramatische Veränderung in der Grundhaltung der USA gegenüber der Rolle des Staates nach dem 11. September findet sich sehr klar in der Rede von Präsident George W. Bush zur Lage der Nation (State of the Union Adress), die er vor beiden Häusern des Kongresses am 29. Januar 2002 gehalten hat: »Aber nachdem Amerika angegriffen worden war, war es, als habe das ganze Land in einen Spiegel geschaut und sein besseres Selbst gesehen. Wir wurden daran erinnert, daß wir Bürger mit einer Verpflichtung dem anderen gegenüber, unserem Land gegenüber und der Geschichte gegenüber sind. Wir haben weniger an die Dinge gedacht, die wir anhäufen können, und mehr an das Gute, das wir tun können. Zu lange hat unsere Kultur gesagt: Wenn es Spaß macht, dann tu's.< Jetzt hat sich Amerika eine neue Ethik und eine neue Überzeugung zu eigen gemacht: >Laßt es uns in Angriff nehmen.< In den Opfern der Soldaten, in dem heroischen Einsatz der Feuerwehrleute für ihre Mitbürger und in dem Mut und der Großzügigkeit der Bürger gewannen wir einen flüchtigen Eindruck, wie eine neue Kultur der Verantwortung aussehen könnte. Wir möchten eine Nation sein, die ihrfen] übergeordneten Zielen dient.« Bericht zur Lage der Nation 2002. Rede von Präsident George W. Bush, unter: http://usa.usembassy.de/etexts/ docs/bush.290102d.htm 12 Strobe Talbott u. Nayan Chanda (Hrsg.): Das Zeitalter des Terrors. Amerika und die Welt nach dem 11. September, München/Berlin 2002, S. 9. 13 Martin van Creveld: Die Zukunft des Krieges, München 2001, S. 288. Siehe auch folgenden Hinweis auf derselben Seite: »Im größten Teil Afrikas gleichen die kriegführenden Einheiten Volksstämmen - tatsächlich handelt es sich um Stämme oder um das, was von ihnen nach der zersetzenden Wirkung der Zivilisation noch übriggeblieben ist. Für die Zustände in Teilen Asiens und Lateinamerikas bieten möglicherweise die Raubritter den besten Vergleich, die Europa in der frühen Neuzeit unsicher machten, oder die mächtigen Feudalherren, die sich im Japan des 16. Jahrhunderts gegenseitig bekriegten. In Nordamerika und Westeuropa werden die künftigen kriegführenden Organisationen vermutlich den Assassinen gleichen. Dieser religiös motivierte Geheimbund, der angeblich ausgiebigen Gebrauch von Drogen machte, terrorisierte den Mittleren Osten vom n. bis zum 13. Jahrhundert.« 14 »Die Assassinen, eine von Hassan ben Sabbah im Jahre 1090 gegründete Sekte, waren innerhalb von zwei Jahrhunderten ein machtvoller politischer Faktor geworden. Religiös fanatisiert durch ihre Vorstellungen vom Paradies, waren die Sektenmitglieder oftmals zielstrebige Mörder im Dienst ihres Meisters, der in den unzugänglichen Bergen hauste. Die Meister, rücksichtslos in ihrer politischen Gewaltanwendung und unfehlbar in ihrer religiösen Überzeugung, kontrollierten von ihrer Festung Alamut aus, hoch
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liyya und ihren materiellen Annehmlichkeiten angezogen würden als von seiner Sicht des Islams, jahiliyya daher über den Islam triumphieren könnte. Drittens existiert in dem, was Qutb als ein Ringen zwischen Gott und Satan begriff, kein gangbarer dritter Weg. Alle Muslime - wie er sie definierte - müßten deshalb in diesem Kampf zu den Waffen greifen. Jeder Muslim, der seine Ideen ablehnt, ist lediglich ein weiterer Ungläubiger und der Vernichtung wert. Bin Laden teilt Qutbs starre Sichtweise, die es ihm und seinen Anhängern erlaubt, sogar grundlosen Massenmord als gerechte Verteidigung eines bedrängten Glaubens zu rationalisieren.« The 9/11 Commission Report, S. 51. 26 »Etwa seit sieben Jahren hält Amerika die heiligsten Länder des Islam besetzt: die Arabische Halbinsel. Es hat ihre Ressourcen gestohlen, ihren Anführern Befehle erteilt, ihr Volk gedemütigt und ihre Nachbarn in Schrecken versetzt. Es benutzt seine Herrschaft auf der Halbinsel als Waffe zur Bekämpfung der benachbarten Völker des Islam [...] Der offenkundigste Beweis kam, als die Amerikaner in ihrer Aggression gegen das Volk des Irak zu weit gingen [...] Obwohl die amerikanischen Ziele dieser Kriege religiöser und wirtschaftlicher Art sind, sollen sie auch dem jüdischen Staat zugute kommen und von dessen Besetzung des Heiligen Landes und der Ermordung der dort lebenden Muslime ablenken [...] Alle diese Verbrechen und dieses Elend sind eine unverhüllte Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und die Muslime durch die Amerikaner [...] Auf Grund dieser Tatsachen und um dem Allmächtigen zu gehorchen, sprechen wir hiermit gegenüber allen Muslimen das folgende fatwa aus: Die Amerikaner und ihre Verbündeten, ob Zivilisten oder Militärs, zu töten und zu bekämpfen, ist die Pflicht eines jeden Muslims in jedem Land, der dazu in der Lage ist [...] Im Namen Gottes rufen wir jeden Muslim, der an Gott glaubt und um Vergebung bittet, auf, dem Befehl Gottes zu gehorchen, indem er Amerikaner tötet und ihr Geld stiehlt, jederzeit und wann immer es möglich ist.« Dies sind Zitate aus der Gründungserklärung der World Islamic Front for Jihad against Jews and the Crusaders vom 22. Februar 1998. Neben Osama bin Laden unterzeichneten noch die Führer zweier ägyptischer Gruppen und von militanten Islamisten in Pakistan und Bangladesh. Nach Peter L. Bergen handelte es sich bei dieser Erklärung um das zentrale Dokument, das die Terrorattacken der Al-Qaida-Gruppe vorbereiten sollte (Heiliger Krieg Inc., S. I2of.). 27 »Vor dem 11. September hielten es nur wenige für möglich, daß ein Verkehrsflugzeug in einen Kernreaktor stürzen könnte. Im Zuge einer Auseinandersetzung über eine geplante Plutoniumfabrik am Savannah River machte eine Gruppe namens Georgianer gegen Kernenergie (GANE) geltend, daß das Risiko eines feindseligen Akts< bei der Planung der Anlage nicht in Betracht gezogen worden sei. Die Atomaufsichtsbehörde (NRC) entgegnete, daß >Bundesbehörden sich lediglich mit halbwegs vorhersehbaren Umwelteinwirkungen befassen müssen< und >GANE den Beweis schuldig bleibt, daß Terroranschläge in den Bereich halbwegs vorhersehbarer
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