Karla Sander
Die Brauerei auf dem Kissen
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Karla Sander
Die Brauerei auf dem Kissen
Eulenspiegel Verlag Berlin
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Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Ein Mord ist geschehen. Ein Zettel in der Handtasche der Ermordeten weist auf die Spur des mysteriösen „Truthahngeiers“ hin. Die Provinzstadt Ballamaddy ist in heller Aufregung. Seit nun bald acht Jahren wirkt der geheimnisvolle Raubvogel ungestört in ganz Schottland. In willkürlichen Zeitabständen verursacht er das plötzliche Ableben bis dato unbescholtener Bürger. Fourthjuly Macpherson, Lokalreporter vom „Scotch Evening Mercury“, wittert die Sensation für sein Blatt und sieht sich bereits zum Starreporter avanciert. Doch zunächst wird er entlassen – die Konkurrenz brachte die Meldung über das jüngste Kapitalverbrechen schneller. Aber Macpherson gibt nicht auf. Von Niederlagen unbeeindruckt, sucht er den Mörder und merkt dabei nicht, wie er selbst immer enger in die Maschen des „Truthahngeiers“ gerät. Doch zum Glück gibt es noch die schottische Polizei, die Macpherson zwar um seinen Ruhm bringt, ihm aber das Leben rettet.
Seit gestern regnete es ununterbrochen auf Ballamaddy herunter. Ab und zu verschob sich an „Glennys’ Konditorei“ eines der Gardinchen, und Miß Glennys äugte trübe in die himmlischen Niagarafälle, die Ballamaddys Hausfrauen von ihren Petits fours und Richmondtörtchen fernhielten. „Noch so einen miesen Tag überlebe ich nicht!“ sagte sie gähnend und meinte damit ihr Backwerk. Das kleine Mädchen, das früh die Semmeln und nachmittags etwaige Bestellungen austrug, wiederholte ergeben: „Noch so einen miesen Tag überleben wir nicht.“ Auch der Linienbus von Edwardswhinnie, der viermal täglich verkehrte, brachte nichts Neues. Fourthjuly Macpherson, Reporter vom „Scotch Evening Mercury“, lungerte seit der zehnten Morgenstunde in der Gendarmeriestation herum und bettelte die beiden Polizisten alle zwei Stunden um eine kleine Meldung an, die er dann zu einem Zwei-, vielleicht auch zu einem Dreispalter ausbauen wollte.
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„Ihr könnt mich doch nicht unverrichteterdinge vor die Tür jagen, Jungs!“ Seine roten Apfelbäckchen fielen vor Kummer zusammen wie schlecht gegangener Backpulverteig, und die kindlichen braunen Augen, durch die starken Brillengläser unnatürlich vergrößert, schienen den Tränen nahe. „Noch dazu bei diesem Mistwetter! Das käme einem Selbstmord gleich.“ „Dann schreib doch darüber“, erwiderte der asthmatische Sergeant nicht ohne Sinn für Ironie und fuhr fort, die Ablage zu ordnen. „Für eure Provinzspalte wäre dein plötzliches Ableben sowieso nur von Vorteil.“ Fourthjuly Macpherson, dem seine patriotische Mama Myrtle Macpherson vor zwanzig Jahren diesen Namen gegeben hatte, um alle Engländer, die mit ihrem Sohn in Berührung kämen, zartfühlend an jene historische Niederlage zu erinnern, die noch nicht einmal 200 Jahre zurücklag, beachtete diese Pöbelei nicht. Er trat ans Fenster und richtete seine Blicke auf eine hochgewachsene Dame mittleren Alters, die mit gewaltigen Schritten die Pfützen durchque rte. Ihre Überschuhe glichen geknöpften Kommißstiefeln und ihr Regenschirm einer blaugeblümten Zwergpagode. Sie steuerte direkt auf die Gendarmeriestation zu. „Oh, guten Abend, Mrs. Killigrew“, sagte der Sergeant freundlich. „Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs? Nichts Ernstes, hoffe ich?“ „Wie man’s nimmt.“ Die Dame führte mit ihrem Schirm mehrere heftige Lufthiebe aus, als habe sie ein Flugsaurier angefallen, und stellte ihn sodann befriedigt in den Papierkorb.
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„Wissen Sie, Sergeant, ich mache mir Sorgen um Eileen. Sie ist gestern vormittag nach Edwardswhinnie gefahren, um meine Halbjahresrechnung zu erledigen. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, arbeite ich seit Jahren für den Kunstgewerbeladen am Viadukt. Außerdem sollte sie noch Nähseide und Stickgarn mitbringen. Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Das alles sieht ihr so gar nicht ähnlich… Kurz und gut, sie ist bis heute noch nicht zurückgekehrt, und jetzt ist es bereits Viertel nach drei.“ „Was sagen Sie, erst Viertel nach drei?“ rief der asthmatische Sergeant enttäuscht und horchte an seiner Armbanduhr. „Es ist so düster draußen, daß ich annahm, es gehe schon auf sechs. Nun, liebe Mrs. Ki lligrew, ich sehe darin keinen Grund zur Besorgnis. Ihre Tochter wird bei einer Freundin geblieben sein – bei diesem Kotzwe tter, entschuldigen Sie, ist das durchaus verständlich.“ „Eileen hatte keine Freundinnen in Edwardswhinnie! Und auch keine Freunde oder etwas in der Art, merken Sie sich das – ich weiß, was Sie sagen wollten!“ donnerte die Dame den Hilfspolizisten Biff an, der gerade den Mund geöffnet hatte. Biff machte den Mund bestürzt wi eder zu. Das Gähnen war ihm vergangen. „Meine Eileen ist ein anständiges Mädchen! Voriges Jahr hat sie die Handelsschule mit Auszeichnung beendet, und seitdem habe ich sie zu Hause unter meiner Aufsicht, denn ich bin oft unpäßlich und gehe kaum vor die Tür.“ Der Sergeant begann unterdessen im Telefonbuch zu blättern.
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„Hier habe ich die Nummer des Kunstgewerbeladens am Viadukt“, unterbrach er die aufgeregte Mrs. Killigrew. „Wir wollen mal sehen; hallo? Ja, hier Gendarmeriestation Ballamaddy…“ „Na also“, schnaufte er zufrieden und legte seine kleinen sommersprossigen Hände liebevoll vor sich auf die Schreibunterlage aus grünem Plast. „Na also – sie war dort und ist auch nach einer halben Stunde, so lange dauerte die Abrechnung, wieder fortgegangen. Sie hatte es sehr eilig, denn sie wollte noch irgendwelche Besorgungen machen, bevor der Nachmittagsbus abging.“ „Das war gestern!“ riß ihn Mrs. Killigrew mit eisiger Stimme aus seiner Zufriedenheit. „Dazwischen liegen vierundzwanzig Stunden, mein lieber Sergeant. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie bäte, ein Protokoll aufzunehmen?“ Fourthjuly Macpherson, der im Dunkel der Fensternische geblieben war, begann freudig zu blinzeln und wühlte mit den Händen in seiner Brusttasche nach dem Stenoblock. „Sie sind meine Rettung, Madam“, sprudelte er, vor Dankbarkeit überfließend, „oder, wenn ich vielleicht so formulieren darf: Ihr Fräulein Tochter ist meine Rettung. Gestatten, daß ich mich vorstelle: Mein Name ist Macpherson, Fourthjuly Macpherson vom ‚Scotch Evening Mercury’!“ „Von der Provinzseite“, knurrte Biff gehässig. Mrs. Killigrew musterte den „Evening-Mercury“Mann, der ihr kaum bis an den Mantelkragen reichte und dessen Augen hinter der Brille großen, feuchten Kastanien glichen, die vollen Bäckchen von der Farbe
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aufgeblühter Rosen (Marke „Kordes Sondermeldung“), und den billigen Tweedanzug, bevor sie sich abwandte, um mit den Fingernägeln einen ungeduldigen Wirbel auf die Tischplatte zu trommeln. „Wilhelm Tell“, bemerkte Macpherson verbindlich. Unter der Nylonkapuze hervor starrten ihn Mrs. Killigrews überbuschte Augen mißtrauisch an. „Sagten Sie nicht eben noch, Sie hießen Macpherson?“ „Verzeihung… ich meinte nur… die Ouvertüre von Rossini, die Sie soeben anschlugen…“ Der arme Macpherson duckte sich wie eine ertappte Maus im Speiseschrank. „Sind Sie hier eine Absteige für Schwachsinnige oder eine Gendarmeriestation?“ fuhr Mrs. Killigrew den Sergeanten an, der erst halb mit dem Auswechseln des Farbbandes fertig geworden war. „Ich habe schließlich nicht meinen Schirm im Bus stehenlassen, sondern meine Tochter ist verschwunden! Na, los, los, schreiben Sie schon: Killigrew, Eileen, siebzehn Jahre, langes blondes Haar, grüne Augen, blasser Teint, etwa ein Meter fünfundsechzig groß… haben Sie ein Meter fünfundsechzig?“ „Ich bin noch bei ‚langes blondes’“, stöhnte der asthmatische Sergeant im verzweifelten Wettkampf zwischen seinen kurzen Fingern und dem Mundwerk der erregten Mutter, „ich muß doch erst die Tasten suchen!“ „Sind Sie endlich soweit? Also:
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Bekleidet mit einem karierten Regencape, Material Nylon, einem blauen Kostüm, weißer Hemdbluse, geblümtem Büstenhalter… Halt, das ist wohl unwichtig!“ „Aber nein, Madam, was denken Sie!“ Biff im Hintergrund verlor mit einemmal seine Reserviertheit. „Blaue Kostüme und weiße Blusen gibt’s wie Sand am Meer; aber bei dem, was sie drunter haben, wird’s individuell. Ich hab’ da eine richtige Philosophie entwickelt. Also: Junge Mädchen tragen meistens Weiß oder, wie Sie sehr richtig sagten, Blümchen, Witwen Rosa oder Lila geschlossen. Bei Schwarz und offen dagegen können Sie Gift drauf nehmen, daß es eine…“ „Geschenkt, Biff!“ Macpherson klopfte dem übereifrigen jungen Hilfspolizisten mahnend gegen die Schulterblätter. „Das Interesse der Allgemeinheit an deinen persönl ichen Erfahrungen ist geringer, als du annimmst!“ „Halten Sie gefälligst den Mund, alle beide! Weiter, Sergeant: karierte Gummistiefel in der Farbe des Capes, eine rote Handtasche, über den Inhalt bin ich mir nicht so sicher, vermißt seit gestern nachmittag, das war der 15. Juni!“ Ohne nachzulesen, setzte sie „Vanessa Killigrew“ darunter. „Biff wird es sofort nach Edwardswhinnie durchgeben, Madam.“ Der arme Sergeant versuchte, mit dem dicken Zeigefinger den würgenden Uniformkragen zu lockern. „Wenn Sie darauf bestehen, Mrs. Killigrew, können wir ja auch gleich mit dem Spürhund eine kleine Runde um den Ort machen… Vielleicht ist Miß Killi-
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grew gestern auf dem Heimweg übel geworden, und sie liegt noch irgendwo?“ Seine wimpernlosen Augen flehten um Nachsicht, denn draußen fiel noch immer das Wasser aus allen Wolken, und das Perlgrau des Nachmittags hatte sich in die berühmte ägyptische Finsternis gewandelt. „Ich komme selbstverständlich mit Ihnen“, sagte Mrs. Killigrew beruhigend und zog ihren Regenschirm aus dem Papierkorb. Fourthjuly Macpherson hielt sich dicht hinter dem Sergeanten, der von Zeit zu Zeit stehenblieb und das Gesicht im Lodenumhang barg, um verstohlen „Dr. Needlecoats patentierten Inhalator“ in Anspruch zu nehmen. Allein Macphersons Hoffnung, hinter dem Dicken ein wenig gegen den Regen geschützt zu sein, erwies sich als trügerisch. Die nach wie vor herabklatschenden Wassermassen machten es ihm unmöglich, durch seine Brille das Geringste wahrzunehmen. In kurzen Abständen tappte er mit der Hand, um sich zu vergewissern, daß der Sergeant noch vor ihm war. Biff ging an der Spitze, stolpernd und blind vor Regen, und überließ sich der bewährten Führung des Polizeihundes Bloomsbury. Mrs. Killigrew, die mit Leichtigkeit und ohne sichtbare Behinderung ausschritt, war die einzige, die noch einen trockenen Faden am Leib hätte aufweisen können. Der Wind peitschte ihren hellen Regenmantel in abenteuerliche Falten, und die spitze Kapuze ließ sie dem Mitglied eines Femegerichts gleichen. Nicht ohne Geschick drehte sie ihren Schirm gegen die Regenböen, so daß die ablaufenden Sturzbäche entweder Biff
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zu ihrer Rechten oder den Sergeanten hinter ihr trafen. Nach jeweils hundert Metern verhielt Biff den Schritt, zog einen von Mrs. Killigrew mitgebrachten Unterrock ihrer Tochter aus dem Umhang und gab ihn Bloomsbury zu riechen. „Geben wir’s auf, Madame“, keuchte der Sergeant. „Glauben Sie denn wirklich, daß der Hund bei diesem Schweinewetter Witterung nimmt?“ Denn Bloomsbury änderte nach jeder Geruchsprobe gefällig die Richtung. In den Einfamilienhäuschen rechts und links ihres Wegs wurden der frühen Dunkelheit halber bereits die Lampen entzündet, und trauliche Teetische, dampfende, gefüllte Teeschalen, zierliche Berge von Teekuchen und ganz frischer Buttertoast säumten den qualvollen Alleingang der kleinen Karawane, wie um sie zu höhnen. „Jetzt sind wir schon dreimal um den Ort, Madam!“ brüllte Biff gegen den Wind. „Glauben Sie immer noch, daß wir hier was finden?“ Die sitzt schön im Trocknen, das verfluchte Gör, dachte er grollend, während wir uns hier ihretwegen eine Lungenentzündung holen. Wer weiß, bei welchem Kerl in Edwardswhinnie sie jetzt gerade im Bett liegt. Aber das wird sie ihrer guten alten Ma nicht auf die Nase binden… „Gehen wir noch mal Richtung Landstraße!“ gab Mrs. Killigrew mit gleicher Lautstärke zurück. „Da ist doch die Haltestelle für die Brauereiarbeiter. Eileen pflegte oft dort auszusteigen. Hinten durch die Wiesen, an der Brauerei vorbei, sei der Weg zu unserm Haus ein bißchen kürzer, sagte sie immer.“
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„Mir kommt’s fast vor, als wären wir schon dreimal dort gewesen“, knurrte Biff in seinen durchweichten Kragen hinein. Zum viertenmal pilgerten sie die menschenleere Landstraße entlang. Das Wasser der Schlaglöcher flutete um ihre Knöchel; für das übrige sorgte der Abendbus nach Edwardswhinnie, der die Suchkolonne überholte. Endlich stießen sie wieder auf das Wart ehäuschen. Geschmackvoll aus braunen Klinkern errichtet, erinnerte es entfernt an ein Bühnenbild zu „Hänsel und Gretel“. Hier bogen sie nach links in den kleinen Wiesenweg ein. „Ich fürchte, Ihre Taschenlampen haben bald das Pensionsalter erreicht“, kritisierte Mrs. Killigrew mit beißendem Spott die Hilfsmittel der beiden Polizisten. Sie förderte ihre eigene aus dem Regenmantel zutage, die das Format eines Totschlägers und die Sichtweite eines Autoscheinwerfers in sich vereinte. Jählings, von dem Lichtstrahl aus der Nacht gerissen, ragten vor ihnen die schwarzen Mauern und bezinnten Türme einer gotischen Burg auf. Einer sehr neugotischen Burg aus den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts – die Brauerei von Ballamaddy. An ihr vorüber führte der Pfad durch die sumpfigen Gemeindewiesen bis zu den rückwärtigen Obstgärten der Siedlung. Die zerfahrenen Lichtbündel der drei Taschenlampen glitten die hohen Fenster entlang, von Spitzbogen zu Spitzbogen, die grüne Bierflaschenböden höchst stilecht verkleideten, und strichen unschlüssig über die mächtige Zugbrücke, die vom Pförtner der Brauerei nach Feierabend gewissenhaft aufgezogen wurde, worauf er das Werk durch den Hin-
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terausgang verließ. Leider ließ man den Abwassergraben immer noch vorn am großen Tor vorbeisickern, wohl um der Zugbrücke nicht ihre angestammte Funktion zu nehmen. Erst nach fünfzig Metern verlor er sich zwischen wildem Hopfen und Stachelbeerbüschen, um später unbeachtet in den Leewater zu münden. „Widerliches Gebäude, das!“ bemerkte Mrs. Killigrew mit Nachdruck, gab Bloomsbury einen aufmunternden Tritt und schickte sich an weiterzugehen. Plötzlich hörten sie einen erstickten Schrei. Fourthjuly Macpherson, der durch eine unerwartete Wendung des Sergeanten seinen Vordermann verloren hatte, war blindlings weitergetappt und hinter der Brauerei in den Abwasserkanal gefallen. Die beiden Polizisten zerrten ihn zwischen den Sträuchern hervor. „Typisch Provinzseite“, feixte Biff hämisch. Macpherson faßte sich an die Augen. „Meine Brille, Jungs, meine Brille ist noch dort unten. Leuchtet doch mal ‘runter, vielleicht seht ihr sie?“ Die Brille hatte den Sturz nicht überstanden. Aber dafür sahen sie etwas anderes. Im seichten Schmutzwasser lag eine junge Frau: kariertes Regencape, karierte Gummistiefel in der Farbe des Capes. Ihr langes, blondes Haar, vom Wasser getragen, war in ständiger Bewegung wie die Saugfäden einer Tiefseerose. Zwischen ihren Knien schwamm ein rotes Handtäschchen, und die leeren Hände waren so weiß wie Papier. „Hab’ ich nicht gleich gesagt, ihr ist wahrscheinlich auf dem Heimweg schlecht geworden?“ triumphierte der asthmatische Sergeant und fügte nach kurzer Prüfung hinzu: „Vermutlich Rasiermesser.“
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Mit Biffs Hilfe zog Mrs. Killigrew ihre Tochter Eileen aus dem Abwassergraben. „Wenn ich nur weinen könnte“, klagte sie fassungslos. „Wenn ich Tränen hätte, wäre mir leichter. Aber ich kann’s nicht, ich kann’s einfach nicht. Auf alles war ich gefaßt nur nicht auf so was Entsetzliches. Nehmen Sie die Handtasche, Sergeant, vielleicht ist was Hinweisendes drin. Ich trage meine arme Eileen.“ Der folgende Tag war so schön, wie ein Tag nur sein kann, an dem es nicht regnet. In den Vorgärten stand der Faulbaum in weißer Blüte, in den Geschäften von Ballamaddy glühten die Klinken, und das Gerücht von dem Mord flog blitzschnell umher wie ein Mauersegler. In aller Frühe, gleich nach dem Milchauto und dem Brotwagen, so ging die Legende, seien eine schwarze Limousine und ein gleichfalls schwarzer Lieferwagen mit eingeätztem Palmwedel auf der Hinterscheibe aus Edwardswhinnie gekommen. Der letztere habe nach kurzem Aufenthalt die arme Eileen Killigrew in die Stadt gebracht. Die Limousine aber parkte, für alle noch Ungläubigen weithin sichtbar, schon seit Stunden vor der Gendarmeriestation. Der arme Biff wurde vom Heranholen mutmaßlicher Zeugen sowie vom Teebereiten so in Anspruch genommen, daß es über seine Kräfte ging, gleichzeitig den Vernehmungen zu folgen. Um so eifriger flogen die Seiten in Macphersons Stenoblock. Inspektor Waverley von der Mordkommission in Edwardswhinnie und sein Assistent Banquo Knox oblagen der Untersuchung mit beispielhafter Arbeitsteilung, indem der Inspektor Fragen an die mutmaßlichen Zeu-
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gen stellte, die der Qualität seiner billigen Zigarre entsprachen, und Knox die Aussagen schriftlich niederlegte. Macpherson, der einen neugierigen Blick auf die Aufzeichnungen des jungen Beamten warf, konnte jedoch zu seinem Befremden nur ein symbolistisches Porträt der trauernden Mrs. Killigrew entdecken, das einen wildblickenden Rabenvogel darstellte, der, mit Mrs. Killigrews Hut und Schleier angetan, sich auf einer Zinne der Brauerei festkrallte. Auf dem Schreibtisch des asthmatischen Sergeanten hatten Waverley und Knox den Inhalt von Eileens Handtäschchen ausgeleert, so daß es aussah, als habe das blasse Mädchen außer einem leeren Portemonnaie, einem Ausweis, einer angerissenen Packung Butterfudge, einem Stielkamm, einem zusammengefalteten Zettel, zehn Rollen Nähseide, einem Quittungsdurchschlag, zehn Zöpfen Seidengarn, einem Taschentüchlein, einer Nagelfeile und einem einzelnen Handschuh aus rotem Leder auch zwei halbgeleerte Teetassen und eine erkaltete Zigarre darin aufbewahrt. Nach kurzer Prüfung der Utensilien war beiden klar geworden, daß es sich bei dem Fall Eileen Killigrew wieder einmal um ein Werk des mysteriösen „Truthahngeiers“ handelte, betont nachlässig als Raubmord getarnt. Den Beweis dafür erbrachte der Zettel in Eileens Handtasche: die verschlüsselte Order des „Truthahngeiers“ an den Mörder, welche dieser nach vollbrachter Arbeit stets dem Opfer zuzustecken pflegte – eine Art „schwarzer Fleck“. Der „Truthahngeier“ schien Stevenson sehr zu schätzen. Seit nun bald acht Jahren wirkte der geheimnisvolle Raubvogel ungestört in ganz Schottland, wo er allem Anschein nach auch sein gemütliches Nest besaß. In
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willkürlichen Zeitabständen verursachte er das plötzliche Ableben gutsituierter, bis dato unbescholtener schottischer Bürger mit gleichförmigem, rechtschaffenem Lebenswandel, Männer wie Frauen, den unterschiedlichsten Altersstufen angehörend. Das älteste Opfer war das 81 Jahre zählende Oberhaupt des McBuridan-Clans gewesen, der ohnehin nur noch auf besagten zwei grießkörnerbedeckten Augen geruht hatte; das jüngste die vorliegende Eileen Killigrew, 17, Tochter des vor zwei Jahren verunglückten Schnapsvertreters Lionel Killigrew. Obwohl sich der „Truthahngeier“ stets freimütig mit gleichsam höhnischem Stolz zu seinen Taten bekannte, fühlte sich die (wenn man von diesem und einigen anderen Fällen absah) im großen und ganzen recht erfolgreiche Kriminalpolizei Schottlands seit acht Jahren wie Gänse vor einem Bretterzaun. Allerdings hatten sich die maßgeblichen Köpfe mit der Zeit zu der Annahme durchgerungen, daß sie es mit einem außergewöhnlich raffinierten Mördersyndikat zu tun haben mußten. Einer allein konnte unmöglich alles schaffen, denn an Tagen, an denen er in Hochform war, gab der „Truthahngeier“ mitunter an vier verschiedenen Orten seine todbringende Visitenkarte ab. Alle Verhöre und Verhaftungen der mehr oder weniger nutznießenden Hinterbliebenen ergaben niemals auch nur den Hauch eines Hinweises, da die jeweils hinterlassenen Vermögenswerte in keinem Fall den phantasiereichen Aufwand rechtfertigten, der die persönliche Note des „Truthahngeiers“ ausmachte. Und bei den Opfern edleren Geblüts war seit mehr als siebzig Jahren kein Fall von Blutrache mehr vorgekommen. Es hatte vielmehr
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den Anschein, als wähle sich der „Truthahngeier“ seine Beute mit verbundenen Augen aus den Einwohnerlisten der Städte, Dörfer und Flecken des gesamten Landes, ähnlich dem „Bibelstechen“. Der Sinn und Zweck des Mördersyndikats „Truthahngeier“, von den seinetwegen auf der Rangleiter sitzengebliebenen Beamten bissig auch „Leichenhenne“ genannt, war und blieb dunkel wie eine Opiumhöhle. In den letzten acht Jahren waren weder Rauschgift noch Falschgeld auf dem Markt erschienen, die Opfer wurden weder verstümmelt noch geschändet, keine Sträflinge wurden aus den Zuchthäusern geschleust noch kleine Kinder entführt, von den Wäscheleinen verschwanden weder Höschen noch Büstenhalter, und die Irrenanstalten hatten seit mindestens fünfzehn Jahren niemanden entlassen. Daß der „Truthahngeier“ seine Verbrechen nicht selbst verübte, wenn überhaupt ein einzelnes Oberhaupt existierte, lag so klar auf der Hand wie die Pointe eines Kriminalstücks nach der großen Pause. Sowohl was die Wahl von Ort und Zeit wie erst recht die manuelle Ausführung betraf, glich kein Mord dem anderen. Einige Fälle waren sogar als Selbstmorde gestellt – regelrechte lebende Bi lder mit einer toten Figur als Mittelpunkt. Nur der Befehl des „Truthahngeiers“ an den jeweils verantwortlichen Mörder, den das beklagenswerte Opfer mal im Knopfloch, mal im Hutfutter, zwischen den Zähnen oder im Strumpfband stecken hatte, wies der ratlosen Polizei die Richtung: Der „Truthahngeier“ benutzte stets das gleiche feine Briefpapier und lavendelblaue Tinte, niemals Filzstift oder Kuli. Außerdem wies sein Briefstil die kapriziöse Eigen-
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art auf, alle Anordnungen in verschlüsselten, blumigen Sätzen zu servieren, wobei Opfer wie ausübende Kreaturen mit Vogelnamen belegt wurden. Das Ganze mutete an wie eine über Jahre dauernde, makabre Schnitzeljagd, bei der die Mitspieler kleine verschlüsselte Botschaften und Aufträge erhalten, deren Sinn und Zweck ihnen zwar unbekannt bleibt, die sie jedoch brav und ordnungsgemäß ausführen, um weiter im Rennen zu bleiben. Eileens Zettel, wenn diese Bezeichnung für das feine Japanpapier nicht eine Beleidigung enthielt, lautete: Der Löwenzahn des Kolkraben ist welk geworden. Er muß am Abend des nächsten Regentags gepflückt werden. Der Stieglitz wird den Mittagsbus mit einer kleinen Feder schmücken. Truthahngeier. Während Inspektor Waverley den Busfahrer vernahm, der zur fraglichen Zeit die Strecke Edwardswhinnie – Ballamaddy befahren hatte, rätselte Knox zum viertenmal an dem Briefchen herum. Löwenzahn – das war die blonde Eileen, während die Identifizierung des Kolkraben erst recht keinen Zweifel aufkommen ließ. Aber wer war „Stieglitz“? Und „Mittagsbus“ gab es strenggenommen nur einen – der Punkt zwölf Uhr von Edwardswhinnie abfuhr, um etwa gegen ein Uhr in Ballamaddy einzutreffen. Also befand sich der Stieglitz zur Tatzeit in Edwardswhinnie, und der Mörder, für den die „Feder“ bestimmt war, mußte demzufolge unter den Einwohnern Ballamaddys gesucht werden. Aber ob die-
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ses lediglich ausführende Organ überhaupt wußte, wer sich hi nter dem Pseudonym „Truthahngeier“ verbarg? Der Busfahrer war leider nicht imstande, sich an ein kariertes Regencape zu erinnern, da ihn die nasse Straße und eine Fußballübertragung vollkommen in Anspruch genommen hatten. „Möglich, daß sie ‘n Auto mitgenommen hat“, bemühte er sich noch von der Tür her zur Aufklärung des Falles beizutragen. „Fahren ja immer welche hier durch, zum Loch Connery oder zum Volksfest nach Jacobswhinnie.“ „Bei dem Scheißwetter zum Loch Connery!“ murmelte Biff, der an der Wasserleitung Tassen spül te, verächtlich. Inspektor Waverley schmatzte gedankenvoll an seinem Zigarrenstummel herum und spielte mit dem Stickgarn. „Die Quittung lautete über fünfundvierzig Pfund, Madam?“ wollte er wissen und reichte sie Mrs. Killigrew über den Tisch. „Keine Ahnung, Inspektor. Ich war nie genau über meine Außenstände informiert. Ich bin so unpraktisch. Früher erledigte das alles mein Mann für mich und später die arme Eileen, das gute Kind.“ Mrs. Killigrews Stimme kam hinter einem Wasserfall schwarzen Krepps hervor, der bei jedem ihrer Worte aufflatterte. Ab und zu lüftete sie mit einer schwarzbehandschuhten Hand anmutig die Trauerwolke, um ihre Tasse Tee zum Mund zu führen, der sie einen reichl ichen Schuß Rum aus ihrem Taschenfläschchen zugesetzt hatte. „Hm, tja… das spricht für Sie, ich meine, das ist nicht viel… Knox, ist noch einer draußen, oder sind wir fertig?“ Banquo Knox hob diensteifrig den
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Kopf, dessen Frisur derjenigen glich, die dem bibl ischen Prinzen Absalom so frühzeitig zum Verhängnis geworden war. „Da die Leiche in der nächsten Umgebung der Brauerei gefunden wurde, habe ich mir erlaubt, den Pförtner herzubeordern, der vorgestern zur fraglichen Zeit Dienst hatte. Manchmal hören solche Leute doch was, soll ja vorkommen…“ Waverley winkte mit drei Fingern in Richtung Biff. „Soll reinkommen, der Junge! Und wenn Sie mir noch eine Tasse Tee einschenken könnten?“ „Aye, aye, Sir, Tee einschenken, Pförtner reinlassen“, wiederholte Biff. Das würde der vierte Aufguß werden, denn der kleine Teeblättervorrat der Gendarmeriestation war nicht für mehrstündige Vernehmungen eingerichtet. „Name?“ fragte Inspektor Waverley und nickte auffordernd zu Knox hinüber, der pflichtgemäß den Kugelschreiber zückte, um dem Trauerhut seines Raben noch ein paar künstlerische Schatten einz ustricheln. „Macniff, Herr Inspektor, Murdock Macniff“, stotterte der Pförtner und blickte, verlegen grinsend, zwischen den Anwesenden hindurch. Die hochnotpeinliche Atmosphäre von Zigarrenqualm, Teeblättern, Biffs Lunchpaket und dem blumig-feuchten Duft aus Mrs. Killigrews Privatfläschchen verwirrten den braven Alten wie ein Herrenmagazin. „Sie hatten also vorgestern abend Dienst. Wie lange?“ „Jaja, ‘s wird wohl so gewesen sein“, gab der Pförtner bereitwillig zu und kaute heftig nichts, was der Volksmund „mümmeln“ nennt. „Nu, so bis nach zehne,
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bis die Spätschicht ‘raus war. Ich muß doch abschließen.“ „Haben Sie am späten Nachmittag oder am Abend verdächtige, unbekannte Personen bemerkt, die in der Nähe der Brauerei herumschlichen?“ Der Alte hielt jäh mit Mümmeln inne. „Verdächtige? Unbekannte? Nu das gerade nich.“ „Sie haben also niemanden bemerkt“, sagte Waverley zufrieden. Auf den „Truthahngeier“ war Verlaß. Er blockierte zwar seit Jahren die Rangleiter der Kriminalpolizei, machte aber dafür keinerlei Fehler, denen man in mühseliger Kleinarbeit hätte nachspüren müssen. Er lieferte lückenlose Präzisionsarbeit, sozusagen „alte Schule“. „Nu, das gerade nich“, wiederholte der Pförtner freundlich und ließ seine Fuseläuglein, zutraulicher geworden, im Kreise wandern. Der Inspektor hustete ungnädig an seiner Zigarre vorbei. „Also haben Sie doch jemanden gesehen?“ „Jaja, ‘s wird wohl so gewesen sein.“ „Können Sie die Person beschreiben, Mr. Macniff? Ich meine groß oder dick, klein oder mit Schirm, Regenmantel oder Haarfarbe – Sie verstehen mich? Was man bei Regen eben so sehen kann!“ Murdock Macniff nickte eifrig. „Nunu, Herr Inspektor. Also, so gegen zehne war’s, kurz vor Spätschichtschluß, ‘s kann auch früher gewesen sein, aber nich viel. Die Person hatte ‘nen rosa Jumper an und war so groß wie ich, also nich sehr groß. Ich schätze, sie muß so um die Vierzig sein, die Person, und hübsch was am Leibe hatte sie auch, na
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ja, eben so ‘ne Mollige. Meine Alte sagt zwar immer, der ihre Haare wären gefärbt, aber das kann ich als Mann nich so beurteilen…“ „Und das wollen Sie alles nachts um zehn bei dem dichten Regen gesehen haben?“ staunte Waverley und legte die Zigarre betroffen auf die Plastunterlage des Schreibtischs. „Hatte die Person denn keinen Regenmantel an?“ „Doch, doch, das hatte sie, so ‘nen durchsichtigen, wissen Sie. Und ‘nen Schirm hatte sie auch, aber den konnte sie schlecht halten, weil sie doch in der anderen Hand die große Schachtel tragen mußte!“ „Vielleicht haben Sie Adlerauge auch gesehen, was in der Schachtel drin war, he?“ fragte Waverley mit offenem Zynismus. „Wo denken Sie hin, Herr Inspektor, ich mach’ doch dem Herrn Brauereidirektor seine Geburtstagstorte nich auf!“ verwahrte sich der biedere Kustos. „Und die paar Windbeutel und kleinen Kuchen – ich bin nich so für das Labberzeug. Ja, wenn’s ‘ne Schlackwurst oder Räucherschinken gewesen wär’…“ „Woher wissen Sie den überhaupt, guter Mann, was die Schachtel beinhaltete?“ „Nu, die Person, von der wir die ganze Zeit reden, kam zu mir in die Pförtnerloge und sagte: Guten Abend, Mr. Macniff, und ob ich wohl so liebenswürdig wär’, die Bestellung für den Herrn Brauereidirektor mitzunehmen, sie brauchten’s morgen früh zum Geburtstag. Dann zeigte sie mir noch den Zettel, wo alles draufstand. Die Frau Brauereidi rektor hatte noch draufgeschrieben, die bewußte Person sollte’s mir abends noch bringen, weil sie’s vergessen hätte zu
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bestellen, und ich wohn’ doch auch oben bei der Villa. Ich hab’s also auf dem Gepäckträger von meinem Moped festgeschnallt, und dann wußt e die Frau Brauereidirektor von überhaupt keiner Bestellung, ‘s war nämlich gar kein Geburtstag nich. Und das hab’ ich der bewußten Person ja gleich gesagt, weil wir da immer Freibier kriegen, und das hatten wir doch erst vor vier Monaten.“ Waverley saß da, nun seinerseits mümmelnd, und wußte beim besten Willen nicht, wie er die falsche Geburtstagstorte mit Eileens Leiche in Verbindung bringen sollte. Nach einer achtungsvollen Vorgabe von fünf Minuten, die Waverley ungenützt verstreichen ließ, richtete Banquo Knox das Wort an den Pförtner. „War Ihnen die Person bekannt, Mr. Macniff?“ „Jaja, ‘s wird wohl so gewesen sein“, bekannte der bereitwillig. „Das war doch Miß Glennys von ‚Glennys’ Konditorei’!“ Nur Macpherson fiel auf, daß Mrs. Killigrews Rumfläschchen auf dem Weg zur Teetasse sekundenlang in der Schwebe verhielt. „Es ist gut, Mr. Macniff. Kann er gehen?“ Inspektor Waverley nickte träumerisch. Er dachte an Lendenbraten mit Rosenkohl. „Sie können gehen“, gab Knox das Nicken akustisch weiter, „aber es kann sein, daß wir Sie noch mal für eine Gegenüberstellung brauchen. Kommen wir heute noch hin?“ Waverleys schwerer Kopf raffte sich abermals zu einer rhythmischen Wiederholbewegung auf.
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„Melden Sie der Betriebsleitung, wir kämen heute nachmittag mal hin, Mr. Macniff!“ Und Banquo Knox verbarg hinter dem angewiderten Blick eines faulen Krokodils erfolgreich die Intelligenz, die allem äußeren Schein entgegen dennoch vorhanden war. Nach einem Seitenblick auf seinen Chef, der im Moment jedoch gegen Telepathie völlig immun schien, ließ sich Knox eigenmächtig zu einer Erklärung, den Fall „Truthahngeier“ betreffend, herab. Der Sergeant, Biff und Macpherson lauschten offenen Mundes, wobei die Hand des letzteren wie von selbst über den Stenoblock glitt. Mrs. Killigrews Lippen dagegen blieben, wenn man dem Schleier trauen durfte, damenhaft geschlossen. Sie zeigte weder Interesse noch Überraschung, was den mutmaßlichen Mörder betraf. „Fassen wir zusammen“, sagte Knox. (Waverley stierte noch immer auf einen imaginären Punkt, der etwa 40 cm über dem Aschenbecher lag.) „Der Pförtner: Zum Lügen scheint er mir zu beschränkt. Er und auch andere haben den Bestellzettel gesehen – das Beweisstück existiert also. Die Familie des Brauereidirektors wußte aber nichts davon – ergo ist er eine plumpe Fälschung, um Miß Glennys zur Tatzeit in die Nähe des Tatorts zu locken. Ferner sorgte man dafür, daß sie auch bemerkt wurde. Das alles paßt nicht zu dem ‚Truthahngeier’, wie wir ihn seit vielen Jahren kennen und…“ (beinahe hätte er schätzen gesagt)… „und… nun ja… respektieren. Unser ‚Truthahngeier’ steht immer zu seinen Vorgängen. Er hat noch nie den Verdacht auf andere Personen gelenkt. Das würde sein Image zerstören. Entweder hat hier Miß Killigrews Mörder auf eigene Faust etwas arran-
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giert, oder jemand hat sich mit Miß Glennys einen dummen Scherz erlaubt, ohne zu ahnen, daß fast zur selben Zeit an diesem Ort ein Mord passieren würde.“ Der asthmatische Sergeant keuchte mitfühlend. „Wie leicht hätte Miß Glennys dem Mörder begegnen können! Dann wären es zwei Leichen gewesen. Die Arbeit – ich darf gar nicht daran denken!“ „Sie selbst kann es wohl nicht gewesen sein?“ warf Macpherson voll naiven Eifers dazwischen. „Was meinen Sie, Sergeant? Ich kenne sie zuwenig.“ Biff brüllte vor Lachen, auch der asthmatische Sergeant erlaubte sich in Gegenwart der beiden Herren aus Edwardswhinnie ein gedämpftes „Chachacha“. Diese undienstliche Heiterkeit brachte Leben und Chefbewußtsein in Inspektor Waverleys Augen zurück. „Moment mal!“ Er langte über die grüne Plastunterlage, die jetzt ein häßlicher Brandfleck zierte, hinüber nach Macphersons Stenoblock. „Kleine Maßnahme.“ Und er riß ein Büschel Seiten, die das enthielten, was Knox vorhin ohne dienstliche Erlaubnis preisgegeben hatte, herzlos mit einem einzigen Ruck heraus. „Von unserer Leichenhenne kommt nichts in die Presse! Es hat schon vor acht Jahren genug Stunk gegeben, als all die miesen Käseblättchen über die beliebte ‚Unfähigkeit der Polizei’ herzogen. Endlich ist Gras über die Sache gewachsen, denn die immer noch laufend anfallenden Morde werden nur von uns – ich betone: allein von uns! – als Marke ‚Truthahngeier’ abgeheftet und streng geheimgehalten. Solange dieser Unglücksrabe, pardon, Madam, noch nicht hinter eisernen Gittern sitzt, kein Wort an die Bevölkerung. Kapiert? Das gleiche gilt auch für Sie, Madam!“
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Mrs. Killigrew schwieg verächtlich. Sie schien den „Unglücksraben“ in die falsche Kehle bekommen zu haben. „Ähem… was ich noch fragen wollte, Madam…“, Waverley räusperte sich mit verlegener Ausführlichkeit, „Sie haben natürlich keine Ahnung, inwiefern Ihre Tochter mit dem ‚Truthahngeier’ in Verbindung stand und warum sie ihm plötzlich unbequem wurde?“ Der schwarze Schleier geriet in verneinende Wallung. „Na ja, ich hab’ mir sowieso keine Illusionen gemacht. Die Angehörigen der Ermordeten haben nie das geringste gewußt. Behaupteten sie wenigstens. Dieses verfluchte Biest, ich meine den ‚Truthahngeier’, hat mich um den Kommissar gebracht. Na, nächstes Jahr gehe ich in Pension, dann können Sie sich als Vogelfänger betätigen, Knox!“ Waverley lachte schadenfroh. „Also heute nachmittag die Brauereiarbeiter und die Konditorin. Apropos – was ich schon lange fragen wollte –, wo kann man hier einigermaßen anständig und preiswert zu Mittag essen, Sergeant?“ Während Mrs. Killigrew gleich einer schwarzen Galeere davonzog und gewaltig Fahrt machte, um den vielen Beileidsbezeugungen zu entgehen, steuerte Macpherson als netter kleiner Vergnügungsdampfer in die geöffneten Arme von „Glennys’ Konditorei“. Er hätte natürlich auch sein Zimmer im Gasthof mit dem sinnigen Namen „The Last Lover Of Queen Bess“ aufsuchen können, denn der nächste Bus nach Edwardswhinnie ging nicht vor einer Stunde. Aber diesem Zimmer mangelte es neben verschiedenen anderen
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notwendigen Dingen auch entschieden an Atmosphäre, worunter der bescheidene Macpherson Stuhllehnen, Sitzkissen und warme Getränke verstand. Außerdem wollte er sich die mysteriöse Konditorin, die in regenschweren Mordnächten fingierte Geburt stagstorten austrug, unbedingt ein wenig näher ansehen. Bisher hatte er ihr Etablissement immer gemieden. Nicht, daß er etwas gegen Richmondtörtchen gehabt hätte, aber den Angestellten des „Scotch Evening Mercury“ verboten sich derartige Ausschweifungen von selbst. An allen fünf Tischen und auf allen fünf Sofas der Konditorei war heute Hochbetrieb. Bei Fourthjuly Macphersons Eintritt blieben Löffelchen voll Schlagsahne und altbackener Törtchenmasse wie vom Donner gerührt in der Schwebe, und das muntere Gegacker verstummte. „Der war doch dabei, wie sie die Leiche gefunden haben!“ wisperte Mrs. Clarydoodle. „Mein Herzchen, was für ein aufregender Beruf!“ Miß Glennys, die nicht mehr ganz nymphenhafte Gestalt elegant von achatfarbenem Jersey umglitten, trat ihm würdig entgegen. „Ich hätte gern eine stille Ecke“, raunte Macpherson ernstlich beunruhigt in ihr Ohr, das sich diskret zu ihm herüberneigte. „Ich möchte meinen Aufzeichnungen und Eindrücken schon ein wenig Kolorit geben, bevor ich in die Redaktion fahre.“ Miß Glennys legte die Lider halb über die sinnlichen braunen Äugelchen, die sich ihrer Blickrichtung nie so
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recht einig werden konnten, und dirigierte ihn in ihr eigenes Wohnzimmer hinter dem Backraum. Es war das getreue Abbild einer königlichen Hochzeitstorte unter besonderer Berücksichtigung der obersten Etage, wo Tempelchen, Kutschen und Liebessymbole aus weißem und rosa Marzipan ihren Platz haben. Miß Glennys persönlich rückte ihm das weißrosa Stühlchen zurecht und belächelte mütterlich sein Erstaunen, das sie für verhaltenes Entzücken nahm. Ihre kleinen, plustrigen Streichelpfötchen, für Backwerk und einsame Witwer wie geschaffen, hantierten so reichlich mit der Tortenschaufel, daß Macpherson das entwaffnende Lachen der beiden Polizisten verstand, als er vorhin seine Verdächtigung preisgegeben hatte. Rings um seinen Stenoblock baute Miß Glennys einen Schutzwall aus Kuchentellern. Sie selbst zerfloß sitzenderweise – nur für ein paar Minütchen! – auf der Sofalehne, um in Ruhestellung wieder klare Konturen anzunehmen. „Ich könnte manches erzählen“, sagte sie sinnend und geheimnisvoll. „Seit über zwei Jahren geschehen in dieser Familie Dinge – wenn das alles nur Schicksalsschläge sind, will ich auf Hülsenfrüchte umsatteln! Aber ich weiß gar nicht, ob das überhaupt für Sie von Interesse ist, Mr. Macpherson?“ „Gewiß doch, Madam, ich bitte Sie inständig darum!“ Fourthjuly Macphersons Herz begann in heißer Erregung zu klopfen. Und während er abwechselnd Kirschtorte und Windbeutel zwischen die Lippen stopfte, schossen Kometen durch sein Hirn, so schwindelnd hoch, wie sie noch nie geflogen waren, seit er vor
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zwanzig Jahren in Gussieness das Licht der Welt erblickt hatte. „Reporter entlarvt den mysteriösen Truthahngeier!“ „Fourthjuly Macpherson, der neue Sherlock Holmes Schottlands!“ „Von der Provinzseite zum Starreporter!“ Er fühlte seine Sternstunde nahen. „Es mag etwas über zwei Jahre her sein“, begann Miß Glennys ihre schaurige Geschichte, „ja, ich glaube, es war im Frühjahr, als Mr. Killigrew verunglückte. Etwas Genaues haben wir hier nicht erfahren, es hieß, er sei in angetrunkenem Zustand über eine Klippe gefahren und mitsamt dem Auto in den Fjord gestürzt. Die Leiche wurde nie gefunden, man trug einen leeren Sarg zu Grabe. Mrs. Killigrew kam allein von dieser Reise aus Edinburgh zurück. Ich sehe sie noch wie heute – die Haltestelle ist ja direkt gegenüber der Konditorei –, wie sie aus dem Bus stieg: mit ihrem ulkigen Pfadfinderhut, das Gesicht vollständig von einem schwarzen Kreppschleier verhüllt, genau wie heute. Das Leid hatte sie nicht gebeugt, wie man natürlicherweise angenommen hätte. Nein, sie schritt so fest und aufrecht daher wie nie zuvor. So, als ob es ihr nicht das geringste ausmache, plötzlich eine Witwe mit zwei halberwachsenen Töchtern zu sein. Ich muß schon sagen, wir haben uns damals alle sehr gewundert…“ Versunken hielt Miß Glennys inne, um sich in der Erinnerung abermals zu wundern. „Bitte, bitte!“ Macpherson würgte an dem letzten Stück Kirschtorte und wedelte mit seinem Kugelschreiber.
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„Immer schön langsam zum Mitschreiben. Also zuerst mal: Was war das für eine Reise?“ „Ja, wissen Sie, mein Lieber, die Killigrews haben in Edinburgh eine alte Erbtante, soll irrsinnig reich sein, eine Großkusine der ersten Mrs. Killigrew, wenn ich recht unterrichtet bin. Die besuchten sie jedes Jahr. Um aber auf die zweite Mrs. Killigrew zurückzukommen: Sie kann kaum einen Gruß erwidern; es ist schon eine Gnade, daß sie sich morgens die Brötchen ins Haus bringen läßt. Finster und unnahbar. Sie soll angeblich eine Freundin der ersten Mrs. Killigrew gewesen sein, aber sie ist nicht aus unsrer Gegend, das kann ich mit Bestimmtheit sagen.“ Fourthjuly Macpherson hatte vor Verwirrung zu schreiben aufgehört. „Wie war das bitte – ist der Mann nun zuzeiten der ersten oder zweiten Frau verunglückt? Und woran starb die erste? Gift?“ Miß Glennys war beleidigt. „Sie machen sich lustig über mich! Das ist nicht recht von Ihnen. Ich habe es nur gut gemeint. – Sie starb an den Masern, und zwar vor achtzehn Jahren.“ „Entschuldigen Sie tausendmal, verehrte Miß Glennys, aber mir ist ganz und gar nicht lustig zumute. Ich habe nur etwas Schwierigkeiten, den Windungen der Geschichte zu folgen; schließlich habe ich geschlagene sechs Stunden lang Inspektor Waverleys Verhöre mitstenographiert. Erzählen Sie doch weiter: wieso zwei Töchter? Ist denn außer der Ermordeten noch eine vorhanden?“ „War, lieber Macpherson, war!“ bemerkte Miß Glennys noch immer leicht reserviert und stapelte die lee-
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ren Kuchenteller. „Als die erste Mrs. Killigrew vor achtzehn Jahren wie gesagt an den Masern dahinsiechte, hinterließ sie dem völlig verzweifelten Mr. Killigrew eine kleine Tochter von nur wenigen Monaten. Das war Maureen… Hilflos, als Mann so allein mit dem Baby, bat er die Freundin der Verstorbenen, doch zu ihm zu ziehen. Na ja, und der Leute wegen hat er sie kurz darauf auch geheiratet. Ich betone noch einmal – von Liebe kann hier nicht die Rede gewesen sein. Sie haben sie ja selbst kennengelernt: ein barscher Gesellschaftsmuffel. Aber Kräfte hat sie wie ein Mannsbild! Sie wurde nicht nur mit Mr. Killigrew und dem Baby fertig, sondern nach neun Monaten gab es sogar noch ein zweites Baby im Haus. Das war Eileen…“ „Waren sie hübsch?“ wollte Macpherson wissen, der die Heldinnen seiner Artikel gern recht farbig schilderte. „Ich meine, von der Toten kann man ja nicht mehr viel sehen.“ „Und ob sie hübsch waren! Vielleicht weniger im landläufigen Sinn…“, Miß Glennys stillte ihre damenhaft gedämpfte Rührung mit einem Papiertaschentuch. „Kennen Sie die Mädchen auf den Bildern von BurneJones?“ Macpherson nickte geschäftsmäßig, um sich keine Blöße zu geben. „So sahen sie aus. Beide groß und schlank, mit Augen so grün wie Pistazien. Man konnte sogar behaupten, sie sahen sich ausgesprochen ähnlich. Nur, daß Maureen rötlich war und Eileen blond. Maureen hatte das Temperament ihrer Mutter geerbt; dauernd kamen ihr neckische Einfälle. Eileen war stiller. Ach, wie oft sind sie heimlich zu mir gekommen, um schnell ein
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Windbeutelchen oder einen Plumcake zu naschen! Mrs. Killigrew durfte das nicht wissen, bei ihr gab es höchstens Zwieback, und selbst das nur an hohen Feiert agen. Darf ich Ihnen noch ein Täßchen Schokolade nachschenken?“ „Oh, danke vielmals, nein, wirklich nicht!“ Macpherson lächelte verbindlich. „Ich habe Ihre Gastfreundschaft schon über Gebühr in Anspruch genommen. Aber wie war das mit der anderen Tochter? Wurde sie auch unter so mysteriösen Umständen ermordet?“ „Ich muß Sie doch bitten, Mr. Macpherson!“ Empört richtete Miß Glennys ihren Zeigefinger wie eine kleine Kanone aus Marzipan auf seine Kehle. „Den Ausdruck ‚Mord’ habe ich nie in den Mund genommen! Nein, Maureen verschwand kaum eine Woche nach Mr. Killigrews Begräbnis. Eines schönen Morgens war sie plötzlich nicht mehr da, kein Mensch wußte, wohin. Nur die kleine Eileen fuhr wie immer dreimal wöchentlich nach Edwardswhinnie zur Handelsschule. Ich habe sie einmal daraufhin angesprochen; schließlich sind mir beide Kinder von den Windeln an vertraut, und es muß doch einen Grund haben, wenn ein Mensch, ohne sich vorher zu verabschieden, wie vom Erdboden verschluckt ist. Falls sie zu der Erbtante gefahren wäre, hätte sie doch bestimmt nach Hause geschrieben. Aber Miß Hamilton von der Post, eine gute Freundin von mir, behauptet, es sei nie eine Zeile gekommen. Das erschien mir äußerst seltsam, und so fragte ich eines Tages Eileen geradeheraus, wo denn ihre Schwester sei. Sie sah mich an mit ihren grünen Augen, und ich kann mir nicht helfen, ich glaubte damals im Blick dieses stillen, blonden Mädchens etwas Hinterhältiges, ja geradezu
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herausfordernd Spöttisches zu lesen. Maureen sei in einer Heilanstalt, sagte sie kurz angebunden, und sie hätten kein Interesse daran, es groß auszuposaunen. Worin ich ihr nicht ganz unrecht geben kann. Und nun, nach zwei Jahren, ist auch Eileen nicht mehr… Ich will Ihnen mal was im Vertrauen sagen, mein lieber Mr. Macpherson: Ich setze den Betrag Ihrer heutigen Rechnung dagegen – diese Mrs. Killigrew ist mir unheimlich. Wenn Sie es herausgefunden haben, daß sie ihre ganze Familie auf dem Gewissen hat, erstatte ich Ihnen die Summe bis auf den letzten Cent zurück, das ist mir der Triumph wert!“ Hochaufatmend, noch völlig verblüfft von der großzügigen Prämie, die sie soeben auf Mrs. Killigrews Kopf ausgesetzt hatte, lehnte sich Miß Glennys an ihr himbeercremefarbnes Sofa zurück. Fourthjuly Macpherson war nicht minder verblüfft. Er hatte die reichbesetzte Tafel in Miß Glennys’ eigenem Wohnzimmer für eine Geste der Gastfreundschaft gehalten. Seine Absichten, als er herkam, hatten einen Mohrenkopf oder zwei Liebesknochen nicht überschritten. Für das Sündengeld hätte ich im „Last Lover“ drei Tagesgerichte bekommen, dachte er verärgert. Aber wart’s nur ab, du habgieriger Teigklumpen, die Wette gilt! Das hol’ ich mir wieder, und wenn’s vier Jahre dauert! Mit Spesen würde kaum etwas zu machen sein. Der „Scotch Evening Mercury“ zahlte ihm außer seinem Gehalt gerade noch das üble Zimmer im Gasthof. Spesen wurden nur in ganz großen Ausnahmefällen rückerstattet, und selbst der alte Sir Wilkie im Archiv, der seit der Gründung dabei war, konnte sich nicht an solch einen Ausnahmefall erinnern.
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Langsam wurde es Zeit für den Bus. Macpherson zahlte Miß Glennys den genauen Betrag auf den Tisch. (Trinkgeld schien ihm in dieser privaten Atmosphäre unangebracht.) Über den unerwarteten Verlust noch völlig verstört, vergaß er ganz, nach Miß Glennys’ Spaziergang im Regen zu fragen, dessentwegen er doch eigentlich gekommen war. Als er bereits mit einem schiefgelaufenen Schuh auf der Bustreppe stand, kam Miß Glennys noch einmal, Einhalt gebietend, aus der Konditorei gestürzt. „Gehen Sie doch auch zu Ginevra Bothwell, wenn Sie sowieso nach Edwardswhinnie fahren. Die Bothwells sind Nachbarn der Mrs. Killigrew, und Ginevra war die Freundin der beiden Mädchen. Im Moment“, Miß Glennys dämpfte ihre Stimme um einige Phon, „im Moment geht es ihr leider nicht so besonders. Soweit ich unterrichtet bin, ist sie als Kellnerin in einem Lokal tätig. Es heißt ‚Lord Darnleys End’!“ Nein, dachte Macpherson zustimmend, während er abermals seine Börse zog, um das Fahrgeld zu entrichten. Da geht es ihr allerdings nicht besonders! „Lord Darnleys End“ war eine billige Amüsierkneipe, wenn nicht überhaupt die billigste, die Edwardswhinnie zu bieten hatte. Der „Scotch Evening Mercury“ war ein hohes, schmalbrüstiges Gebäude zwischen der Ginfabrik und der Korsettnäherei von Edwardswhinnie. Von weitem erweckte es den Eindruck, als ob die beiden geschäftstüchtigen Häuser das Abendblatt nur mit Mühe aufrechterhielten. Müde und begriffsstutzig stierten seine schmutzigen Fenster auf die Leicester-Road hinunter
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und schienen den Sohn des Hauses, Fourthjuly Macpherson, der mit blitzenden Brillengläsern eben den Haupteingang erstürmte, nicht wiederzuerkennen. Die Redaktion der Provinzseite befand sich unterm Dach, wo die Holztreppen von Eisenstufen, ähnlich einer Feuerleiter, abgelöst wurden. Die Provinzreporter waren alles junge, muntere Leute, die erst mit zunehmendem Dienstalter und abnehmender Behendigkeit in die Holztreppen-Etagen absteigen durften. Auf der Schreibtischecke, die ihm vorbehalten blieb, tippte Macpherson mit fliegenden Fingern eine bescheidene, aber korrekte Spesenaufstellung, unter deren Endsumme er den Zettel aus „Glennys’ Konditorei“ (mit dem gepopten Guglhupf über der Firma) pappte. Da schrillte das Haustelefon, was niemals etwas Gutes verhieß, da für gewöhnlich mündliche Aufforderungen bevorzugt wurden, die sich dann innerhalb von zwei bis drei Tagen zuverlässig herumsprachen. Der Korrespondent aus Jacobswhinnie hatte den Hörer abgenommen. In seinen Augen nistete Schadenfreude, als er sagte: „Du sollst zum Alten kommen, Unabhängigkeitstag!“ Schon lange neidete er Macpherson das Druckpöstchen in Ballamaddy, denn er hatte dort eine Freundin mit Eigenheim und Ersparnissen. Malcolm Hume, der Chefredakteur des „Scotch Evening Mercury“, saß nicht wie gewöhnlich hinter seinem Schreibtisch. Seine langen, dürren Beine, umschlottert von Nadelstreifenhosen, trabten auf ungemütliche Weise immer rund um besagtes Möbelstück. Auf seinem Hals, dessen Adamsapfel jeder Krawatte die Eleganz nahm, saß ein überschmaler Schädel mit militärischem Bürstenhaarschnitt. Das markige Profil konnte am tref-
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fendsten mit einer Mondsichel verglichen werden. Jetzt war es verzerrt wie nach einer Facialislähmung, und seine Finger zerknüllten in hemmungsloser Wut eine Zeitung. „Was zum Henker ist das hier?“ brüllte er dem arglosen Macpherson entgegen. Der empfing das Papier aus den Händen seines Chefs und antwortete nach kurzer Untersuchung, dies sei ohne Zweifel die „Daily Post“, das Mittagsblatt, präzise ausgedrückt: die heutige Ausgabe. „Lesen Sie, Sie Vollidiot, solange Ihre Kassenbrille noch ganz ist!“ Malcolm Hume deutete mit dem Zeigefinger so heftig auf einen rotangestrichenen Artikel, daß er die Zeitung durchstach wie eine gereizte Wespe. „Weibliche Leiche im Abwassergraben der Brauerei von Ballamaddy…“, stotterte Macpherson, „…gestern abend gegen 17.30 Uhr wurde… Der mitanwesende Reporter des ‚Scotch Evening Mercury’, Fourthjuly Macpherson, stürzte in den Graben, wobei er seine Brille verlor und die Leiche entdeckte…“ Macphersons kastanienbraune Augen weiteten sich in kindlicher Ungläubigkeit über soviel Perfidie. „Chef, ich wette meinen Kopf, daß bis heute mittag kein einziger Reporter in Ballamaddy war! Ich habe bis dreizehn Uhr den Vernehmungen beigewohnt, und niemand hat in der Gendarmeriestation angerufen! Das ist eine glatte Ente, vielmehr ist es natürlich keine Ente, aber ich wette meinen Kopf, daß…“ „Warum, um aller Heiligen willen, haben Sie Unglückswurm nicht schon gestern abend angerufen, als die Vorsehung Sie in den Kanal geschubst hatte? Dann
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wäre es wenigstens heute abend drin gewesen! Jetzt hat uns di eses Käseblättchen die Sensation vor der Nase weggeschnappt, nur, weil die so clever waren, sich den Fahrer der Gerichtsmedizin zu kaufen! Für zwei Flaschen Bier pro Tip! Und wir haben einen eigenen Mann am Tatort, bezahlen ihm Unsummen für ein Appartement im dort igen Gasthof und müssen aus der Konkurrenzpresse erfahren, was los war. Eine glatte Ente, sagt er!“ Hume lachte hysterisch und haute sich die geballte Faust blutig, da er statt bloßer Luft einen Nagel getroffen hatte, an dem eine Reproduktion von Morris hing. „Ab nächsten Monat kommen wir für die Miete im ‚Last Lover’ nicht mehr auf. Ob Sie das Zimmer dennoch beibehalten, ist Ihre Sache!“ Er riß dem grau gewordenen Macpherson die Papiere aus den schlaffen Fingern. „Sechs Tassen Schokolade, zwei Sherry, drei Stück Kirschtorte, vier Windbeutel… wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Was soll dieser Wisch hier? Oder ist das vielleicht gar Ihr Artikel über den Mordfall?“ „Spesen…“, stammelte Macpherson, „ich habe in der Konditorei gesessen, bevor der Bus abging und dort wertvolle Hinweise auf die eventuellen Hintergründe des Mordes erhalten. Wenn ich berichten dürfte… das kann eine Bombe werden, Chef!“ „Haben Sie außer diesem schriftlichen Beweis Ihrer Völlerei etwa noch andere Beweise?“ schnarrte Hume und ließ die Spesenaufstellung mit Aplomb in seinen Papierkorb segeln. „Auf den Tratsch von Bäckersleuten gebe ich nichts, das dürften Sie sich denken!“
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„Nur ganz kurz, Chef“, haspelte Macpherson und sah schon wieder einen Strohhalm am Horizont, „also, die alte Dame, die Mutter des ermordeten Mädchens, ist im ganzen Ort als unheimlich verschrien, verkehrt mit niemandem, grüßt keinen und so weiter. Vor zwei Jahren verunglückte ihr Mann unter mysteriösen Umständen, die die Polizei nie aufgeklärt hat. Seine Leiche wurde nämlich nicht gefunden. Kurz danach verschwand die Tochter aus des Mannes erster Ehe, die Stieftochter mit anderen Worten, angeblich in eine Heilans talt. Obwohl kein Mensch vorher irgendwelche Anzeichen von Krankheit bei ihr bemerkt hatte. Können Sie mir folgen, Chef?“ Macphersons hoffnungsvoller Blick wurde enttäuscht. Hume beklebte seine Hand sorgsam mit Heftpflaster. So fuhr er denn mit weinerlicher Stimme fort: „Und jetzt hat sie auch die zweite Tochter geschafft. Man nimmt allgemein an, daß es mit einer reichen alten Erbtante in Edinburgh zusammenhängt; vielleicht gönnte die Alte den anderen die zu erwartende Erbschaft nicht. Werde mich über diesen Punkt noch genauer informieren. Wenn wir die alte Dame entlarven – ‚Die Massenmörderin von Ballamaddy’ – klingt gut, was? –, wird das der Coup des Jahres, Chef! Exklusiv für den ‚Scotch Evening Mercury’! Werde nicht nachlassen, bis alle Beweise zutage liegen. Heute abend fange ich damit an, habe bereits den ersten Hinweis erhalten. Außerdem hat mir die Inhaberin der Konditorei eine kleine Prämie ausgesetzt.“ „Ich glaube fast, die viele Schlagsahne ist Ihnen ins Gehirn gestiegen, Macpherson!“ Hume machte mit dem gekrümmten Zeigefinger eine international be-
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kannte Geste. „Warum hat denn Ihre gute Bekannte aus dem Bäckerladen das alles nicht der Polizei erzählt, wenn sie so von der Schuld jener Dame überzeugt ist, he? Am Ende ist sie’s noch selber gewesen! Nein, Macpherson, überlassen Sie das Rumschnüffeln lieber Inspektor Waverley, der wird dafür bezahlt; während Sie Schlafmütze an jedem Gehaltstag mit der Miene eines Menschen, der seine Pflicht getan hat, unser gutes Geld einstecken. Und wofür?“ Sein verächtlicher Tonfall schlug jäh in schrilles Gebrüll um. „Damit uns andere die Butter vom Brot fressen, Sie schafsdämlicher Trottel, Sie! Wenn ich an all die Gehä lter denke, die Sie in den letzten beiden Jahren von uns weggeschleppt haben, dreht sich mir das Herz um. Warum sind Sie noch nicht draußen?“ Mit feuchten Händen hielt Fourthjuly Macpherson die Türklinke, innerlich fest entschlossen, um der großen Sache willen nichts unversucht zu lassen. „Es ist wegen der Hi nweise, Chef, die ich heute abend in ‚Lord Darnleys End’ erhalten soll. Schließlich muß ich dieser Kellnerin doch wenigstens ein Bier spendieren, und so dachte ich, daß dieser Fall außergewöhnlich genug wäre, um vielleicht dafür ein paar Spesen springen zu…“ Ein gewi sser Zug im Antlitz Malcolm Humes, dessen scharfes Kinn nach ihm zu treten schien wie eine Stiefelspitze, ließ es Macpherson geraten erscheinen, lieber morgen noch einmal wegen der Spesen vorzusprechen. Als Fourthjuly Macpherson Ginevra Bothwell zum erstenmal erblickte, saß sie zusammen mit vier anderen Mädchen auf einer brombeerfarbenen Plüschbank und
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ging der beschaulichen Tätigkeit des Handstrickens nach. Hin und wieder genehmigte sie sich einen nicht übermäßigen Schluck aus dem Portweinglas, das vor ihr auf dem nackten Beistelltischchen von altschottischer Schlichtheit stand. Auch an dem Austausch fröhlicher Scherzworte, die zwischen den beiden Kunden an der Bar und den Mädchen auf der Plüschbank hin und her flogen, nahm sie in angemessener Form teil. Zu Häupten der jungen Damen hing ein Ölbild von einem Orchardson-Schüler und der Breite des Sofas. Es stellte den einzigen, dafür aber um so eindrucksvolleren Schmuck des Lokals dar, wenn man von den versengten Schirmen der Wandlämpchen (rosa Kunstseide) absah. Da lag, in seinem fürstlichen Blut schwimmend, der junge Lord Darnley, der im dramatischen Fall einen Fenstervorhang mit herabgerissen hatte, das blonde Schafsgesicht emporgewandt zum schwarzgekleideten Mörder, Graf von Bothwell, in dessen Händen noch die blutige Klinge dampfte, während im Hintergrund bereits die Königin Mary im geöffneten Nachtgewand erschien, um den Sieger als dritten Ehegemahl in die ansehnlichen Arme zu schließen. Dieses Gemälde rechtfertigte den düster-patriotischenen Namen des Etablissements und verhalf der schwarzlockigen Ginevra nicht selten zu einem ExtraKunden, dem die Namensgleichheit den unvergleichl ichen Schauer verursachte, mit einer „von der Bank gefallenen“ echten Fürstentochter zu schlafen. Fourthjuly Macpherson trat an die kleine Bar, als brächte er all seine Abende damit zu, an Bars zu treten, und verlangte mit sachlicher Kürze Miß Ginevra Bothwell zu sprechen.
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„Ginnie, mein Sonnenschein“, rief der Barkeeper mit der salbungsvollen Stimme eines Juweliers, der ein Smaragdenhalsband aus der Vitrine holt, „jemand für dich!“ Und zu Macpherson gewandt: „Was nehmen Sie, Sir?“ „Natürlich Whisky“, sagte Ginevra, indem sie Macpherson die ungewohnte Entscheidung zwischen mehreren geistigen Getränken abnahm, und steckte den angefangenen Jumper zu der Wolle in die Handtasche. Unbefangen schob sie ihr Händchen unter Macphersons Arm und lenkte ihn mit routinierten Drehungen in eine der Nischen, die von Lämpchen diskret und rötlich erhellt wurden. Hier hatte Macpherson Muße, Ginevras echt schottische Schönheit zu bewundern: Ihre Augen waren blau wie der Loch Connery an nebelfreien Tagen; ihre schwarzen Locken erinnerten in ihrer charmanten Ungepflegtheit an die Wacholdersträucher der schottischen Heide, und das edle, längliche Antlitz mit den kräftigen Kinnbacken und der zornigen Nase gehörte der kampfgewohnten schottischen Geschichte an. Hatte er bis vor zwei Minuten wirklich noch angenommen, es mit einer Kellnerin zu tun zu haben, so belehrte ihn der umwerfende Duft nach Königsveilchen sowie die Art, mit der Ginevra Bothwell ihr Knie an das seine drückte und ihren Zeigefinger streichelnd unter die Manschette seines Hemdsärmels schob, spätestens jetzt eines zwar nicht Besseren, zumindest aber eines anderen. „Woher kennst du denn die kleine Ginnie? Ich hab’ dich doch nie hier gesehen, Häschen?“
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„Nein, das stimmt“, gab Macpherson zu und fühlte sich hilflos werden. „Für gewöhnlich verkehre ich nicht in diesem Stadtteil.“ „Das sieht man dir an, Baby-Darling!“ Ginnie fischte aus ihrer umfangreichen Handtasche ein Kämmchen und zog ihm mütterlich den Scheitel nach. Tief innerlich fand Macpherson, dies sei unbedingt der Gipfel der Verworfenheit. Dennoch senkte er gehorsam den Kopf auf die Brust und gab sich der Prozedur ohne merkbaren Widerstand hin. Der abgegriffene Baumwollsamt des ehemals purpurroten Cocktailkleides, der mit der Zeit die Farbe von Erdbeerkompott angenommen hatte, bewegte sich in verwirrendem Rhythmus dicht vor seinen Brillengläsern auf und ab. Sie beschlugen auf der Stelle. „Wissen Sie, Miß Bothwell“, stotterte Macpherson in die Geborgenheit ihres Busens hinein, wo die Königsveilchen, nach der Intensität ihres Dufts zu schließen, so groß wie Gladiolen sein mußten, „wissen Sie, vielleicht sind Sie jetzt enttäuscht, aber ich bin gar nicht Ihretwegen gekommen. Es handelt sich vielmehr um eine Familie namens Killigrew.“ Ginnie hörte auf, ihn zu strählen, und stieß ihm statt dessen unter spitzen Schreien des Vergnügens den Kamm in die Milzgegend. Ihr Gelächter hörte sich an wie das Ratschen eines Glücksrads im Lunapark. „Was, du willst gar nicht? Und ich schieße hier ahnungslos aus allen Rohren…“ Sie wußte sich vor unbändiger Heiterkeit nicht zu fassen, warf sich jauchzend an Macphersons Schulter und bearbeitete die Tischplatte mit machtvollen Hi eben. Es bedurfte eines zweiten Whiskys, um ihre an-
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spruchslose Fröhlichkeit zu stillen. Für sich hatte Macpherson eine Coca Cola kommen lassen, da das Lokal keinen heißen oder kalten Tee führte. „Für eine junge Dame trinken Sie reichlich viel“, bemerkte er mit säuerlichem Lächeln. „Das ist schon der zweite. Aber zur Sache: Ich hätte gern etwas Näheres über die Killigrews erfahren. Ich bin Reporter des ‚Scotch Evening Mercury’ und mit Recherchen beauftragt. Man hat mir erzählt, Sie seien mit dem gestern abend ermordet aufgefundenen Mädchen befreundet gewesen?“ Immer noch japsend, setzte Ginnie das geleerte Glas auf den Tisch zurück. „Befreundet ist leicht übertrieben, mein Zukkerstückchen. Wir waren sozusagen Nachbarn, und ich hab’ als Kind mit den beiden Mädels gespielt. Eileen war ja’n bißchen fad, aber Maureen – das war ein verrücktes Huhn! Hatte sie sich doch in den Kopf gesetzt, zum Zirkus zu gehn! Als Messerwerferin! Wochenlang hat sie im Schuppen geübt, mit richtigen spitzen Messern! Und immer mit Eileen als Zielscheibe. Die Ärmste ist jedesmal vor Angst fast gestorben. Aber Maureen sagte bloß: Wenn du nicht mitmachst oder Mutter was petzt, schneid’ ich dir heute nacht die Kehle durch! Und weiß der Allmächtige – die Messer waren verdammt scharf… Einmal hat sie damit ihren sämtlichen Puppen die Köpfe abgesäbelt… Ideen hatte die!“ „Fanden Sie, daß bei Maureens Verschwinden vor zwei Jahren irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging?“ bremste Macpherson Ginnies whiskyselige Kindheitserinnerungen. „Und wie war das Verhältnis der
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Mutter zu den Töchtern? Man behauptet, Mrs. Killigrew sei nicht sehr beliebt in Ballamaddy?“ „Hör bloß auf mit Ballamaddy!“ Ginnie schnaubte abfällig. „Was glaubst du – wenn ich auf die Idee käme, mich öffentlich dort blicken zu lassen, was mir natürlich nicht im Traum einfällt, die würden die Kinder von der Straße wegrufen, als hätt’ ich den bösen Blick, und mir nachstarren, als käm’ ich frisch aus dem Zuchthaus. Mrs. Killigrew ging kaum in den Ort, weil sie das alles anstank, glaube ich. Ich hab’ sie wenig zu Gesicht bekommen und würde sie heute bestimmt nicht wi edererkennen. Natürlich hatte sie hin und wieder Krach mit Maureen, aber das darfst du ihr nicht verübeln. Maureen war das verzogenste Aas, das man sich denken kann, aber daran ist nur der Vater schuld gewesen. Mr. Killigrew hat Maureen mit einer Affenliebe verhätschelt und ihr die verrücktesten Wünsche erfüllt. Als damals das Fernsehen in Ballamaddy war und die Wochenschau, weil die alte Kneipe mit dem ulkigen Namen, die angeblich das erste Haus von Ballamaddy gewesen sein soll, 400-Jahr-Feier hatte, wollte Maureen für den großen Festzug unbedingt ein echtes Kostüm als Lady Arbella Stuart haben. Und du legst dich lang hin – er hat ihr eins aus Edinburgh kommen lassen! Alles bestickte Seide mit ‘nem Spitzenkragen wie’n Pfau, der Rad schlägt. Dabei war er als Schnapsvertreter bestimmt nicht so dicke da. Kurz danach ist er dann verunglückt. Das war die gerechte Strafe für seine gottlose Verschwendung, sagt meine Mutter immer. Und Maureen hat auch nichts davon gehabt, das arme Luder. Mir tat es direkt leid um den feinen Fummel, denn Eileen stand er nicht halb so gut. Überhaupt
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eine Taktlosigkeit, wo sie doch Trauer hatten, nicht wahr? Sie war zwar maskiert, aber ich kannte das grüne Kleid unter Tausenden heraus; es war so ein Apfelgrün, aber auch wieder nicht…“ „Mich interessieren weder Äpfel noch Jubiläen, sondern die Umstände, unter denen die ältere Miß Killigrew so plötzlich verschwand“, nörgelte Macpherson und sah zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. „Es ist schon zwanzig nach acht, und ich darf den Abendbus nach Ballamaddy nicht verpassen. Ist Ihnen denn gar nichts Verdächtiges bei den Killigrews aufgefallen? Ich hab’ meinem Chef versprochen, daß die Alte die Mörderin beider Töchter und ihres Gatten war und daß ich’s bewe isen werde, damit der ‚Scotch Evening Mercury’ diesmal der erste ist, der die Sensation bringt!“ Über die von Miß Glennys ausgesetzte Prämie hielt er wohlweislich den Mund. Ginnie gähnte uninteressiert. „Meine Kehle ist so verdammt trocken, daß ich einfach kein Wort herauskriege.“ „Also gut, noch einen Whisky!“ klagte Macpherson mit einer Modulation, als habe man ihm eben einen Zehennagel ohne Narkose gezogen. „Aber das bleibt der letzte! Teilen Sie ihn sich gefälligst ein! Wissen Sie überhaupt, daß ich keinen Penny Spesen zurückbekomme? Versetzen Sie sich mal in meine Lage!“ Ginnie nahm ihm sanft die Brille weg und küßte ihn mehrmals mit whiskyfeuchten Lippen auf die Augendeckel. „Ist ja gut, Schätzchen, reg dich wieder ab. Ich denk’ ja schon die ganze Zeit nach. Aber damals, als
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Maureen verschwand, war ich nicht mehr so oft drüben. Ich war ja schon über achtzehn und ging lieber mit den Jungs ins Brauereiwäldchen. Mrs. Killigrew wollte aber nicht, daß ihre Töchter durch mich vorzeitig aufgeklärt würden, so hat sie jedenfalls meiner Mutter gesagt. Als ob wir den ganzen Zimt nicht schon als Kinder gewußt hätten, thi! Ich glaube, Eileen hat mir damals erzählt, wo Maureen hin ist. aber ich hab’s wieder vergessen.“ „Zahlen!“ rief Macpherson unruhig. „Ich werde den Bus verpassen und die dreißig Kilometer zu Fuß gehn müssen. Wo haben Sie meine Brille hingetan, Miß Bothwell? Ich sehe kaum bis zur Theke!“ „Warte mal, Süßer!“ kreischte Ginnie und zog ihn mit zärtlicher Gewalt wieder in die Nische zurück. „Warte mal! Eben ist der kleinen Ginnie was eingefallen. Nämlich kurz vor dem Kneipen-Jubiläum war ich drüben bei Eileen; das Kostüm war schon da, aber Maureen und Mr. Killigrew nicht mehr. Meine Ma wollte mir nämlich auch so ‘ne historischen Klunkern nähen, und die Killigrews, mußt du wissen, haben Bücher mit so alten Bildern. Mrs. Killigrew hatte keine Ahnung, daß ich da war. Die saß in ihrer Stube und guckte sich was im Fernsehn an. Eileen ist extra noch mal ‘rüber zu ihrer Ma, ob das Stück noch ‘ne Weile lief, damit wir in Ruhe ein bißchen Sherry nippen konnten. Inzwischen bin ich auf Strümpfen ‘rüber in die Speisekammer, um den Sherry zu holen. Und jetzt paß auf, Baby, damit du die drei lumpigen Whisky nicht umsonst berappt hast: In dem Moment, wie ich mir die Pulle aus dem Regal angle, hör’ ich ganz deutlich über mir das Trappeln von Füßen. So, als ob sich’s nach dem Wohn-
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zimmer ‘rüber entfernte, und dann kam’s wieder zu mir. Ich war so erschrocken, ich hätt’ beinah den Schnaps stehnlassen. Eileen wollte wissen, was ich denn hätte, ob mir ‘n Gespenst begegnet wär’. Aber gehört hab’ ich bestimmt eins, sag’ ich, du, Eileen, auf eurem Boden spukt’s! Du mußt wissen, Baby, die Killigrews haben nicht wie normale Leute im ersten Stock die Wohnräume und drüber die Schlafzimmer, sondern unten die Betten, und über Stube und Küche direkt den Boden. Eileen hat bloß gelacht. Das könnte das alte Spinnrad gewesen sein, da machten sich die Ratten immer mit zu schaffen. Und ob wir mal hochgehn wollten und nachsehn… Weißt du auch, warum ich dir das alles so haargenau erzähle? Weil es Eileen überhaupt nicht ähnlich sah, nachts auf den Boden zu steigen und die Ratten zu beobachten. Das wäre eine waschechte Maureen-Idee gewesen! So, jetzt mußt du rennen, damit du deinen Bus noch kriegst. Denk dran, daß du zurückkommst, wenn er weg ist, hörst du, Kleiner? Im Bett von Ginnie ist mächtig viel Platz!“ Die letzten beiden Sätze flogen Macpherson um die Ohren wie zwei verwelkte Blumensträuße, während er durch das Gewirr fremder Gassen hastete und finstere Biedermänner an den Straßenecken nach dem QueenVictoria-Platz fragte, wo die Überlandbusse abzugehen pflegten. Zu einer Straßenbahnfahrt konnte er sich nicht entschließen, da ihn der heutige Tag schon über Gebühr zur Ader gelassen hatte. „Na, endlich, Unabhängigkeitstag“, sagte der Busfahrer. (Sie hatten sich heute morgen auf der Gendarmeriestation näher kennengelernt.) „Gut, daß du
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kommst. Länger hätte ich wirklich nicht warten können, es ist schon fünfundzwanzig Minuten über meine Zeit. War’s hübsch? Und was hat dein Alter zu der Sensation gesagt?“ „Er kannte sie schon aus der ‚Daily Post’!“ keuchte Macpherson und warf sich auf den Invalidensitz. Er war der einzige Fahrgast. Und so stellte er sich schlafend, um sein arbeitendes Kombinationsgebläse und den zu entwerfenden Schlachtplan für morgen nicht durch albernes Geschwätz zu gefährden. Hilft alles nichts, ich muß Mrs. Killigrew persönlich auf die Bude rücken, dachte er. Und wenn ich es diplomatisch anfange, kann ich mir vielleicht sogar den Bodenraum ansehen. Schließlich und endlich bin ich der Dame ja kein Unbekannter mehr. Als Macpherson am nächsten Morgen noch einmal in der Gendarmeriestation vorsprach, traf er nur Biff an, der hinter einer Literflasche dicker Milch saß und sich mit einem interessanten Spiel beschäftigte, das unter dem Namen „Rock und Hose“ allgemein bekannt und verbreitet ist. Der Witz besteht darin, daß man verschiedene numerierte Punkte in der Zahlenfolge mit dem Bleistift nachzieht, worauf sich dem überraschten Zeitungsleser dann eine originelle Figur darbietet. Biff hatte bereits einen üppigen Schenkel und eine dementsprechende rechte weibliche Brust erarbeitet. „War gestern nachmittag noch irgendwas los?“ Macpherson trat hinter den werkenden Biff und stellte leicht mißgestimmt fest, daß jenes launige Rätsel zur Wochenendbeilage der „Daily Post“ gehörte. Wieder einmal mußte er feststellen, daß Hume nicht der Mann war, der den Mut zu fortschrittlichen Ideen aufbrachte.
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So etwas hätte der „Scotch Evening Mercury“ nie gedruckt! „In der Brauerei war nichts weiter rauszukriegen. Aber hinterher“, Biff ließ genußvoll einen halben Liter Dickmilch in sich hineinlaufen, „hinterher waren wir alle noch in ‚Glennys’ Konditorei’ wegen der falschen Geburtstagstorte, also wegen des blöden Zettels meine ich. Alle haben ihn gesehen, aber keiner will ihn geschrieben haben. Mrs. Crawton, die Alte vom Brauereidirektor, hat ihn vor Wut zerfetzt. Sie mußte den Kasten voll Kuchen nämlich bezahlen, weil sie nicht nachweisen konnte, daß sie die Bestellung nicht geschrieben hat. Als sie tobte, hat Miß Glennys ihr ein paar von den alten Bestellzetteln gezeigt, und es war wirklich ihre Schrift, das mußte sie zugeben.“ „Ich denke, ihr habt den Wisch gar nicht mehr zu Gesicht bekommen?“ „Haben wir auch nicht“, gab Biff freundlich zu und vollendete mit sicherer Hand von Nummer 35 bis 41 eine sehenswerte linke Brust. „Aber Mrs. Crawton hat es zugegeben und bedauert, daß sie ihn in den Abort geschmissen hat. Existiert hat er also. Auch der Konditor von Miß Glennys hat ihn gelesen, als er ihn gegen abend aus dem Küchenbriefkasten nahm. Komisch… der Bauch muß doch rund sein, aber hier läuft ‘ne Que rlinie von der Brustwarze zur rechten Hand. Verstehst du das?“ Macpherson legte einen hinweisenden Zeigefinger auf eine kleine Fußnote, die, besagte, daß zwischen Punkt 41 und 42 eine Pause zu machen sei. „Was ist das für ein Mann, der Konditor?“ Der innere Spürhund in Macpherson hob witternd die Nase. „Viel-
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leicht hat er anhand der alten Bestellzettel einen ne uen fingiert, um seine ahnungslose Chefin zur Nachtzeit an den Tatort zu locken, damit sie in Mordverdacht kommt! Wahrscheinlich ist er es selbst gewesen? Es war zwar kein Lustmord, aber immerhin. Habt ihr den Mann daraufhin schon verhört?“ Biff malte mit schiefgelegtem Kopf den Unterleib und begann gewisse Partien aus freien Stücken zu schraffieren, was im Spiel gar nicht vorgesehen war. „Der alte Jeffie McCulloch ist 83 Jahre alt und muß beim Arbeiten sitzen, weil er Hammerzehen hat. Er hat sie uns übrigens gezeigt, die Zehen meine ich. Es stimmte tatsächlich. Außerdem hat er ein Alibi. Der Gerichtsarzt hat die Todeszeit der kleinen Killigrew auf zwischen drei Viertel zehn und Viertel elf Uhr abends festgelegt. Bis halb zehn hat der alte McCulloch noch an der Zitronentorte gemanscht, weil die Bestellung doch so spät kam und Miß Glennys sie noch bis um zehn beim Pförtner abliefern wollte. Kurz nach halb zehn sind sie dann beide aus dem Haus: Miß Glennys in Richtung Brauereiwäldchen, er nach seiner Bude. Er hätte es nie geschafft, sie einzuholen, er braucht für 100 Meter zehn Minuten – wir haben ihn nämlich nach der Stoppuhr laufen lassen. Übrigens sitzt der Chef seit gestern nachmittag in der Konditorei zwecks ‚Überwachung’.“ Und Biff imitierte für Macpherson das Bild des asthmatischen Sergeanten, indem er laut atmete und imaginäre Kuchenstücke auf ein gleichfalls imaginäres Gäbelchen spießte, worauf die beiden jungen Leute in herzliches Gelächter ausbrachen.
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„Spesenrechnung“, fügte Biff beruhigend hi nzu, was den armen Macpherson dem Gedanken nahebrachte, daß er seine eigene Karriere unter völlig falschen Voraussetzungen begonnen habe. „Ihr habt also Miß Glennys unter ernstlichem Verdacht?“ bohrte er weiter. Biff, der sein Kunstwerk mit ausgestrecktem Arm bewunderte, feixte mitleidig. „Quatsch! Miß Glennys kommt nicht in Frage. Was hätte sie für ein Motiv, die Göre umzubringen? Liebhaber war keiner vorhanden; hier noch nicht, dort nicht mehr. Außerdem sagt Inspektor Waverley“ (hier übernahm Biff aus respektvoller Verehrung für den berühmten Mann dessen ihm eigentümliche Betonung unbedeutender Silben) „außerdem ist Rasiermesser eine ausgesprochen männliche Mordwaffe, und zwar das Ausdrucksmittel eines anomalen, bestialischen Naturells. Die fette Miß Glennys dagegen ist äußerst normal. Ich wette drei Pennies gegen zehn, daß der Chef die Nacht aus dem Inhalieren kaum rausgekommen ist, hähä! Wo willst du denn heute noch hin?“ „Mama Killigrew!“ Und Macpherson legte in diese beiden Worte all seine Bänglichkeit, Zweifel und Hoffnungen, die er an den bevorstehenden Besuch knüpfte. Mrs. Killigrews Backsteinvilla stand bis zu den Knien in Fliedersträuchern, an deren Spitzen noch die häßl ichen, wie verrostet aussehenden Dolden des Vorjahres starrten. Einige spärliche Obstbäume mit viel Grün und wenig Blüten gruppierten sich wie arme Verwandte hinterm Haus. Fourthjuly Macphersons Blicke stiegen
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von den vergitterten Dielenfenstern zum ersten Stock auf, wo ein weißer Vorhangschal wehte wie ein verstohlenes Zeichen. Auf einem Fensterbrett im zweiten Stock, vermutlich der Küche zugehörig, sonnten sich etliche Milchflaschen. Darüber kam gleich der Boden: schmale Guckschlitze, flaches Dach mit Ziegelkrone und zwei Schornsteinen. Ein Haus wie viele… „Ist der Garten nicht zum Heulen?“ krächzte es von links, und über der Eisbeerenhecke, die das Killigrewsche Grundstück vom nächsten trennte, erschien ein rotgelbes Kopftuch, unter dem viel graues Werg hervorquoll. „Seit zwei Jahren hat sie keine Brennessel gezogen! Alles wächst, wie’s will, und wenn Sie hier die Wege suchen, müssen Sie Gras angucken, Sir! Früher hat sie hier Gurken geerntet, ich schwöre beim Leben meiner Tochter, man hätte einen Kerl damit erschlagen können! Und Endivien so knusprig wie Blätterteig, so zart wie Seide! Und seit dem Tod von Mr. Killigrew nicht mal einen Stengel Schnittlauch. Haben Sie Worte? Alles kauft sie auf dem Markt, will sagen, die Tochter mußte es holen. Immer wenn ich den Garten seh’, muß ich weinen!“ Die kräftigen Kinnbacken, unter denen das Kopftuch zornig verknotet war, und die tiefliegenden Augen, so blau wie der Loch Connery an Tagen ohne Nebel, kamen Macpherson merkwürdig bekannt vor. So würde Ginnie in 30 Jahren aussehen. Wenn sie in „Lord Darnleys End“ bliebe, vielleicht schon in 20 Jahren. „Mrs. Bothwell, glaube ich?“ „Miß Bothwell, Sir, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Sie sind wohl einer von der Zeitung? Ach ja, das arme
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junge Ding – heute rot, morgen tot. Seitdem hab’ ich immer Angst um meine Ginnie. Sie ist im gleichen Alter, mein kleines Mädchen, und so allein in der Stadt… Aber klingeln Sie nur mal! Ich wette mit Ihnen, daß sie nicht aufmacht!“ Doch Miß Bothwell die Ältere sollte nicht recht beha lten. Die Haustür öffnete sich, und Mrs. Killigrews athletische Gestalt kam mit weitausgreifenden Schritten über den Rasen daher. Sie trug ein schwarzes Gewand, das im Schnitt den Reformkleidern des ersten Weltkrieges entlehnt war und offenbar als Hauskleid diente. „Sie wünschen?“ fragte sie kurz angebunden. Macpherson erinnerte sie in seiner bescheidenen Art an ihre vor zwei Tagen geschlossene Bekanntschaft, wenn auch vielleicht die Umstände, unter denen sie geschlossen wurde, wie er zartfühlend betonte, dazu beigetragen hätten, ihre Erinnerung an seine Person in den Hintergrund treten zu lassen. „Ich vergesse niemanden, den ich einmal gesehen habe“, schnitt ihm Mrs. Killigrew die Rede ab. „Noch einmal: Was kann ich für Sie tun?“ „Der ‚Scotch Evening Mercury’ hat die Aufklärung des Mordes an Ihrer Tochter Eileen übernommen“, beeilte sich Macpherson zu lügen. „Ich bin beauftragt, zu diesem Zweck ein paar Fragen an Sie zu richten. Es liegt, wie wir annehmen, gewiß auch in Ihrem Interesse, Madam, und ich versichere Ihnen, es wird nicht lange dauern.“ „So kommen Sie ‘rein“, gestattete Mrs. Killigrew und wandte den Kopf mit majestätischer Gelassenheit zur Eisbeerenhecke.
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„Bei diesen Nachbarn möchte man im Garten nicht mal ein Beet umgraben – sie behaupten gleich, man hätte eine Leiche verscharrt.“ Doch Miß Bothwell die Ältere hatte ihren umgestülpten Eimer schon längst fluchtartig verlassen. Das Wohnzimmer im zweiten Stock, in das Macpherson geführt wurde, entsprach dem herben Charakter seiner Bewohnerin. Kein gutes Service im Glasschrank, keine Keramikkrüge mit Flieder und Schneeball, keine Familienmitglieder im Wechselrahmen, keine Schale mit alten Briefen. Auch jene reizend-unnützen Andenken kunstgewerblichen Ursprungs, deren Erinnerungswert mit ihrer Unansehnlichkeit steigt, fehlten vollkommen. Die einzigen traulichen Elemente dieses nüchternen Raumes waren der Fernsehapparat, ein Dudelsack, der handgearbeitete Gobelin über der Couch und einige im gleichen Stil gearbeitete Sofakissen, alles Motive nach der Natur, berühmte schottische Ausflugsziele darstellend. „Wollen Sie sich nicht setzen, junger Mann?“ Mrs. Killigrew bot ihm drei Sessel zur Auswahl an, deren Bezugsstoff von häßlichen Cumberlandsoßenflecken verunziert schien, die sich aber bei näherem Hinsehen als Rosenmuster entpuppten. Dann öffnete sie den rechten Flügel eines eichenen Mausoleums, dessen Mittelteil Bücher enthielt, und entnahm ihm eine Flasche nebst zwei Gläsern. „Ich hoffe, Sie schlagen einen kleinen Drink nicht ab?“ fragte sie, verkniffen lächelnd. „Der Kognak ist noch von meinem Mann, und der kaufte nichts Billiges.
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Wenn er nicht das Beste haben konnte, wollte er lieber gar nichts. Und Maureen war genauso. Eigentlich ein ganz unschottischer Zug, finden Sie nicht auch?“ Macpherson beeilte sich, das gleichfalls zu finden. Anschließend hätte er gern etwas Lobendes gesagt, um seine Gastgeberin günstig zu stimmen. Aber worüber? Mrs. Killigrew machte nicht den Eindruck, als wolle sie Komplimente über ihr Äußeres hören. Er musterte noch einmal daraufhin das großflächige, stark gepuderte Gesicht, die stechenden grünen Augen, unter denen sich bereits leichte Tränensäcke abzuzeichnen begannen, und die schmalen, rotgemalten Lippen mit dem dunklen Schatten eines Damenbartes. Das Haar, von der Farbe frischgeschabter Karotten, trug sie straff nach oben frisiert mit einem Tuff neckischer GretaGarbo-Löckchen über der Stirn. Blieb also nur die Einrichtung. „Sie haben es nett hier“, begann er vorsichtig. „Das Einfachste ist immer noch das Geschmackvollste, nicht?“ „Ich liebe keinen Firlefanz“, wies ihn Mrs. Killigrew streng zurecht, „und dazu zähle ich unaufrichtige Komplimente!“ Macphersons Wangen wurden noch um eine Schattierung röter, als sie es von Natur waren. „Ich meine es ehrlich, Madam. Wenn Sie mein Zi mmer im Gasthof gesehen hätten, würden Sie mir glauben.“ Er nahm eins der gestickten Kissen auf den Schoß.
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„Ausgesprochene kleine Kunstwerke, ganz allerliebst. Haben Sie das wirklich und wahrhaftig selbst angefertigt?“ Mrs. Killigrew enthielt sich einer Antwort und begnügte sich damit, hoheitsvoll und ein wenig verächtlich auf die kleinen Kunstwe rke herabzublicken. „Petit point“, sagte sie. „Wird zwar ganz gut bezahlt, ist aber recht langwierig. Es war ein hübscher Nebenverdienst zu meiner Witwenrente, aber ich glaube, ich werde damit aufhören.“ „Sieh mal an, das ist ja die Brauerei von Ballamaddy!“ rief Macpherson und spielte den Lokalenthusiasten. „Mit all den netten Zinnen und Türmchen, sogar die Zugbrücke ist da!“ Plötzlich hielt er inne und biß sich auf die Lippen. Wie saudumm von ihm, sich ausgerechnet über die Brauerei zu verbreiten, die unglückselige Fundstelle! Aber ein Blick aus den Augenwinkeln beruhigte ihn. Mrs. Killigrew beschäftigte sich angelegentlich damit, die gläsernen Pokale erneut mit Martell zu füllen, und schien nichts gehört zu haben. Während er krampfhaft nach irgendwelchen Routinefragen suchte, die nicht allzu blöd klängen und sich gut als Überleitung zu der rätselhaften ersten Tochter und dem Unfall von Mr. Killigrew eignen könnten, starrte er immerfort auf das Sofakissen, als könne er sich nicht satt sehen. Mit einemmal aber fiel ihm an der gestickten Landschaft etwas auf, was ihn so zu beschäftigen begann, daß seine Unterlippe sanft herabsank. „Merkwürdig“, murmelte er. „Was ist merkwürdig?“ wollte Mrs. Killigrew wi ssen.
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„Die Perspekt ive!“ gab Macpherson zurück. „Haben Sie das Kissen auf einem Baum sitzend entworfen?“ „Nein, vom Eiffelturm aus. Was für eine Frage! Die Brauerei ist von den Hinterfenstern des Hauses aus bequem zu sehen!“ „Aber doch gewiß nicht aus der Vogelperspektive?“ beharrte Macpherson und schien plötzlich von etwas besessen. „Hinter der Brauerei macht die Landstraße eine Krümmung, das sieht man auch hier ganz deutlich…“, und dabei fuhr sein Finger die graue Stickgarnstraße entlang. „Meiner Schätzung nach wird diese Krümmung von der Brauerei selbst und dem Wäldchen verdeckt, wenn man nur aus dem zweiten Stock blickt!“ Triumphierend fixierte er Mrs. Killigrew, als habe er sie des Mordes an ihrer gesamten Familie überführt. „Nein, jetzt entsinne ich mich: Ich bin auf den östlichen Schornstein geklettert!“ entgegnete Mrs. Ki lligrew mit höhnischer Ruhe und neigte ihren Oberkörper nach vorn, als wolle sie sich im nächsten Augenblick auf Macpherson werfen. „Aber sonst ist bei Ihnen noch alles beisammen? Keine Klagen? Dann gehn Sie mal hurtig in Ihren Gasthof zurück, ehe ich Sie aus dem zwe iten Stock werfe, damit Sie die Vogelperspektive“ (sie betonte das Wort in einer für Macpherson beleidigenden Weise) „am eigenen Leibe kennenlernen!“ Mit den letzten Worten, die den Anfang des Satzes an Lautstärke bei weitem übert rafen, war sie aufgestanden. Macpherson hatte dies bereits einige Sekunden früher getan und erweckte den Eindruck, als sei er nicht gesonnen, sich allzulange mit Abschiednehmen
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aufzuhalten. Doch Mrs. Killigrew verfolgte ihn nicht weiter. Das wäre ihrer unwürdig gewesen. Immerhin fühlte er ihre Blicke durch den ungewaschenen Store wie das Zielfernrohr einer Jagdflinte in seinem Rücken. Seine Bemühungen, das Gartentor in lässigem Schlenderschritt zu erreichen, waren nur stellenweise von Erfolg gekrönt, und er atmete tief durch, als es sich hinter ihm schloß. Über der Eisbeerenhecke lauerte schon das geflammte Kopftuch von Miß Bothwell der Älteren, die einem kleinen Gedankenaustausch über die Lebensart ihrer Nachbarin nicht abgeneigt schien. Aber sie mußte erleben, daß der vorhin so dankbare Zuhörer ihr jetzt nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte als einer verwelkten Dahlie. Macphersons Hirn arbeitete mit der Präzision und Schnelligkeit eines Dampfhammers. Der Boden, dachte er, ich muß unbedingt auf den Boden! Warum nur wollte sie nicht zugeben, daß sie das Kissen vom Bodenfenster aus entworfen hat? Da ist doch nichts dabei! Was ist oder war auf dem Boden? Eine Besichtigung dieser Örtlichkeit wird mir weiterhelfen, denn dort oben laufen alle Fäden zusammen: Das Erschrecken von Miß Bothwell der Jüngeren über das Geräusch trippelnder Füße und eines umfallenden Spinnrads. Und wann war das? Kurz nach dem tödlichen Unfall des Mannes, dessen Leiche keiner gesehen hat, und nach dem Verschwinden der ersten Tochter Maureen. Vermutlich ist dort oben kein Platz mehr für die zweite Tochter gewesen, deshalb hat sie sie im Regenwetter an der eins amen Haltestelle abgepaßt und hinter der Brauerei in den Graben geworfen.
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Das könnte ungefähr stimmen. Kopfarbeit, alles nur Kopfarbeit! Wie delikat sie darauf hinwies, daß sie das Handarbeiten aufzugeben gedenkt! Das Geld muß ihr doch fehlen – hier hakt die Sache mit der vermutlichen Erbschaft ein. Also zuerst Besichtigung der Mördergrube, sprich Boden, dann muß ich das Beweisstück haben, das Kissen. (Das wird ein raffinierter Aufhänger werden für meinen großen Entlarvungsartikel – „Die Brauerei auf dem Kissen oder Wie man sich bettet, kommt doch alles an die Sonnen“.) Mal sehen, was sich in dem Kunstgewerbeladen am Viadukt machen läßt. Drittens brauche ich nur noch das Motiv, die Summe der zu erwartenden Erbschaft, das heißt also die Adresse der alten Dame in Edinburgh. Aber das wäre das Wenigste. Die erfahre ich hier auf der Post von dieser neugierigen Schalterkrähe, der Hamilton. Hat ihre Schnüffelei endlich mal was Gutes! Das Schwerste bleibt zuletzt – dem Alten das Reisegeld nach Edinburgh und zurück unter den Nägeln hervorquetschen. Zur Not müßte ich meine eigenen kleinen Ersparnisse angreifen. Wenn ich die Killigrew zur Strecke bringe, kommt das mit Zinsen wieder ‘rein… Tja, aber erst muß ich’s halt doch vorstrecken. Das täte ich äußerst ungern. Nur im allergrößten Notfall… Unter diesen, seine kühne und kombinationsschnelle Kopfarbeit abschließenden Gedanken, die ihn etwas trübe stimmten, hatte Macpherson das Postamt von Ballamaddy erreicht. Vor fünfzehn Jahren hatte Miß Clelia Hamilton das Haus ihres Vaters an die Gemeinde Ballamaddy verkauft, mit der Erlaubnis, ein Postamt darin einzurich-
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ten. Ihre Bedingungen waren gewesen, daß man ihr zwei Zimmer im Obergeschoß als Wohnung ließ und daß sie selbst den Schalterdienst versehen dürfe. Als Briefbote wurde ein alter ehemaliger Landarbeiter eingestellt, der zwar mit handschriftlichen Adressen kämpfte wie mit Hieroglyphen, aber sonst recht gut zu Fuß war. Auf diese Weise war vor fünfzehn Jahren das Leben in Clelia Hamiltons altjüngferliches Dasein getreten, wenn es auch nur das Leben der anderen war, das ihrer Nachbarn und Mitbürger. Nur sie allein wußte beispielsweise, daß der Metzgermeister Cliff Cameron eine junge Dame in Jacobswhinnie aushielt, die auf den Namen „Pussycat“ hörte und der die Cameronschen Würste bereits den zweiten Pelz eingebracht hatten. Keiner außer ihr ahnte ferner, daß Mrs. Vivian Crawton, die Gattin des Brauereidirektors. ihre Nächte liebeleer und klimakterisch verbrachte und deshalb um Rat an die Briefkastentante eines renommierten Damenjournals geschrieben hatte. Im allgemeinen behielt Miß Hamilton ihr Wissen für sich. Nur in besonders aufgeräumter Laune ließ sie sich herab, ihrer besten Freundin, Miß Glennys von der Konditorei, auserlesene Kostproben aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Erst von Miß Glennys ausgehend, unterwanderten dann die Gerüchte den ganzen Ort. Miß Hamilton selbst schwieg wie ein toter Briefkasten. Im Korridor wandte sich Macpherson nach links in das ehemalige Herrenzimmer des seligen Mr. Hamilton, Apotheker i. R. das auch jetzt noch, nach all den Jahren, einen schwachen Duft nach Baldrian und Eukalyptus bewahrte. Miß Hamilton hinter der Glaswand erhob
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sich mit jugendlicher Behendigkeit, so daß der arnikafarbene Häkeljumper ins Schlottern geriet. „Guten Morgen, Mr. Macpherson, was darf es sein? Eine kleine Eilnachricht, ein nettes Blitzgespräch mit dem Kontinent oder wünschen Sie gar einen Sammlerausweis für Sondermarken?“ Ihr dünner Mäusemund zeigte beim Sprechen überraschende Breite. „Diesmal nicht, meine liebe Miß Hamilton“, säuselte Macpherson. „Heute benötigte ich nur eine kleine Auskunft. Meine Zeitung hat mich mit der Aufklärung des mysteriösen Mordfalls Killigrew beauftragt“ (er schwenkte undeutlich ein Schriftstück, das wie sein zwei Jahre alter Einstellungsvertrag aussah), „und ich bin aus diesem Grund an der Adresse aller Verwandten der Familie interessiert. Soviel ich weiß, existiert da nur noch eine alte Dame in Edinburgh. Sie werden verstehen, daß ich Mrs. Killigrew in ihrem tiefen Schmerz nicht mit derartigen Lappalien belästigen möchte und mich deshalb vertrauensvoll an Sie wende!“ Es gelang ihm ohne größere Mühe, die Lauterkeit und das Pflichtbewußtsein eines summenden Teekessels auf sein Antlitz zu zaubern. Miß Hamilton lächelte geschmeichelt, ohne die Zähne zu zeigen, die nicht mehr ihre eigenen waren. „Ach, Sie meinen Mrs. Tipplewater! Sie ist eine Großkusine der ersten, verstorbenen Mrs. Killigrew und hatte einen Engländer geheiratet. Mr. und Mrs. Killigrew besuchten sie aber trotzdem jedes Jahr im Sommer. Nur vor zwei Jahren fuhren sie überraschenderweise schon Ende April. Das bekam Mr. Killigrew leider nicht sehr gut, denn er verunglückte, wie Sie vielleicht schon gehört haben. Man soll eben nicht von lieben
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alten Gewohnheiten abgehen, ich bin sicher – wäre er im Sommer gefahren wie immer, ihm wäre nicht das geringste zugestoßen. Aber er wird wohl seine Gründe gehabt haben, denn diesen letzten Besuch kündigte er Mrs. Tipplewater nicht wie sonst mit einem Brief an, sondern er schickte ein Telegramm, in dem er seinen Grund leider nicht angab. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, weil Mr. Killigrew damals gerade dazukam, als ich am Abend den Briefkasten leerte. Er forderte einen Brief zurück, den er am Nachmittag eingeworfen habe…“ Miß Hamiltons schwarze Ärmelschoner beschrieben in der Luft die traurigen Gebärden, mit denen man sich etwas Liebgewonnenes vom Herzen reißt. „Er fand ihn auf Anhieb und zeigte mir den Absender zum Zeichen, daß es seine Richtigkeit hätte. Leider bin ich gar nicht dazu gekommen, die Anschrift zu lesen. Er sagte nur, die Sache habe sich inzwischen erledigt, und dann gab er das Telegramm auf. Und am nächsten Tag fuhren sie schon los, wissen Sie, mit so einem alten Daimler… Warten Sie, ich suche Ihnen gleich die Adresse heraus… Jetzt haben wir Juni, wo ist der April, April, April… Nanu, nichts? Ach so, ich bin ganz durcheinander! Ich muß natürlich das Ausgangsbuch von vorvorigem Jahr durchsehn…“ Miß Hamiltons Quellaugen, deren Lider vom jahrelangen nächtlichen Lesen in fremden Briefen gerötet waren, blinzelten Macpherson verschwörermäßig zu, und ihre Finger, die sich ständig neue Feuchte aus dem Schwammdöschen holten, zappelten durch die Seiten der alten Kladde. „Ah, da haben wir’s ja schon!“
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Macpherson zückte seinen Stift und ließ ihn startbereit auf einer neuen, unbescholtenen Seite seines Stenoblocks tänzeln. „Mrs. Maureen Tipplewater… wahrscheinlich hatten sie die erste Tochter nach ihr benannt… Edinburgh, 3. Bezirk, King-Charles-Corner Nr. 663 a oder 663 b, das ist nicht genau zu lesen. Zufrieden?“ „Sie sind wunderbar, Miß Clelia!“ Macpherson drückte im Vorgefühl des nahen Sieges seine Lippen auf die Schalterscheibe. „Tausend Dank im Namen der Gerechtigkeit und des Spürsinns!“ Er ließ die arme Miß Hamilton in süßer Verwirrung zurück, die Ärmelschoner schützend an den überhäkelten Busen gepreßt. Und ihre ersten Gedanken waren ein überzeugtes Zweifeln an dem Sinn von gläsernen Trennwänden auf Postämtern. Diesmal verbrachte Macpherson die Wartezeit bis zum Zwei-Uhr-Mittags-Bus nicht bei Miß Glennys, sondern bei Linsen mit Blutwurst im „Last Lover Of Queen Bess“. Angesichts des morschen Tischtuchs, das ohne Zweifel noch aus den Beständen des allerersten Wirts (Robin Ruthven 1536-89) stammte, kam ihm der angemessene Gedanke, sich einen kleinen Überblick seiner finanziellen Verhältnisse zu erarbeiten. Falls er die Klärung des Mordfalls nicht bis Ende des Monats im Kasten hatte, um die Scharte mit der zu spät gemeldeten Leiche wieder auszuwetzen, war von Hume keine Gnade mehr zu erwarten. Das Endergebnis seiner Berechnungen war alles andere als tröstlich. Dennoch lag Macpherson nichts ferner, als sich dem Pessimismus hinzugeben. Er stieg im Gegenteil noch einmal in sein Zimmer hinauf, um die Mrs. Killigrew zu
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Ehren umgebundene schwarze Krawatte durch eine andere mit Pfauenaugenmuster zu ersetzen. Als er seine Tür mittels Drehung eines messingnen Knopfes geöffnet hatte, bot sich seinen Augen das Bild des Stubenmädchens mit einem Glasröhrchen zwischen den Lippen, welches in eine Haushaltflasche „Air Fresh“ mündete, und aus Leibeskräften pustend. „Was machen Sie denn da?“ „Fichtennadel“, sagte das Mädchen. Es hieß Rowena und war nicht sehr wortgewandt. Macpherson schnupperte. Der vierhundertjährige Mief der alten Wände kämpfte mit dem scharfsüßlichen aus der Flasche, den auszuströmen sich jede anständige Fichtennadel geschämt hätte. „Können Sie mein Zimmer nicht auslassen?“ Rowena machte mit dem Kopf eine bezeichnende Bewegung nach den unteren Räumlichkeiten hin, was besagen sollte, daß der Wirt dies angeordnet habe und sie lediglich ausführendes Organ sein. Macpherson seufzte ergeben. Bittere Erfahrungen mit Mr. Lindsay, dem derzeitigen Wirt, lagen bereits hinter ihm, so daß er seinen Protest auf das weite Öffnen des Fensters beschränkte. Es ging auf das strohgedeckte Schuppendach hinaus, unter dem früher die Kavaliere ihre Pferde anzubinden pflegten. Mr. Lindsay hatte daraus ein Billardzimmer gemacht. Ein Blick auf seinen kleinen Reisewecker, den er vorigen Sommer auf dem Volksfest in Jacobswhinnie gewonnen hatte, belehrte Macpherson, daß bis zum Abgang des Busses noch etwa anderthalb Stunden Zeit waren. Die Linsen lagen in seinem Magen wie Schrot-
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kugeln, und so beschloß er, noch eine Stunde zu schlafen. Das hölzerne Bettgestell, dessen kahle Pfosten, längst ihrer brokatnen Vorhänge beraubt, wie ein Galgen zur Zi mmerdecke ragten, machte dem Namen des Gasthofs alle Ehre. Falls je ein Liebhaber der Königin Bess darin geschlafen hatte, mußte es der letzte gewesen sein. Einem weiteren hätte das ehrwürdige Lager nicht standgehalten. Zu seinem Glück war Macpherson kein Liebhaber. Als er seine rotgeschlafene Wange vom Kopfkissen löste, hatten seine Kleider den Duft der destillierten Wälder in sich aufgesogen, und der Reisewecker zeigte zwanzig Minuten vor fünf Uhr nachmittags. Er überlegte blitzschnell: Eine Stunde brauchte der Fünf-Uhr-Bus bis Edwardswhinnie, also noch Zeit genug, da die Geschäfte erst um sieben Uhr schlossen. Macpherson atmete auf, griff nach Ersatzbrille und Jackett und begab sich mit der Miene eines Erfolgsmenschen auf den Weg zur Haltestelle. Im Traum hatte er Mrs. Killigrews Boden aufgesucht und dort die Leichen von Mr. Killigrew und der schönen, wilden Maureen entdeckt. Seltsamerweise waren sie in Stanniol verpackt gewesen wie riesige Schmetterlingspuppen. Im Kunstgewerbeladen am Viadukt mußte Macpherson geraume Zeit warten. Hinter dem gewebten Vorhang spielte sich die dreistimmige Tragödie einer abendlichen Kassendifferenz ab. So hatte er Muße genug, um über den Nutzeffekt jener aus alten Seidenstrümpfen gefertigten Zwerge nachzudenken und sich über die Galionsfiguren zu wundern, denen statt Wir-
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belsäule ein Zimmert hermometer durch den Teakholzbauch lief. Endlich kam ein junges, verheultes Fräulein hinter dem Vorhang heraus, das ihn, von Schnauben unterbrochen, nach seinen Wünschen fragte. „Ich hätte gern eine gestickte Kissenplatte“, gestand Macpherson, „und zwar hat man mir die von Mrs. Vanessa Killigrew aus Ballamaddy empfohlen. Was können Sie mir davon zeigen?“ „Oh“, sagte die Kleine und war nahe daran, wieder ihre Schleusen zu öffnen, „damit kann ich Ihnen leider nicht mehr dienen. Mrs. Killigrew hat heute vormittag angerufen und uns mitgeteilt, sie möchte nichts mehr verkaufen. Sie will mit Sticken aufhören und sich den verbliebenen Rest für persönliche Geschenke vorbehalten. Es ist schon alles verpackt und hinten im Lager.“ Macpherson biß sich auf die Lippen. Wenn er jetzt aufgab, konnte er hinterher gleich in die Redaktion gehen und seine Entlassung selber tippen. „Mein liebes, kleines Fräulein“, er mußte mehrmals das Standbein wechseln, ehe er die elegant -saloppe Haltung von Richard Burton heraus hatte, „mein liebes, kleines Fräulein! Ich weiß, Sie haben soeben ungerechterweise großen Kummer erfahren. Aber versuchen Sie trotzdem, mich zu verstehen. Meine alte Mutter feiert morgen ihren 80. Geburtstag, und ihr sehnlichster Wunsch seit Jahren ist ein solches Ki ssen. Am liebsten eins mit einer Ansicht aus ihrem lieben, alten Ballamaddy, das sie wohl nie mehr mit eigenen Augen sehen wird. Was ich noch fragen wollte – seit wann arbeitet denn Mrs. Killigrew für Sie?“
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„Ungefähr seit zwei Jahren, aber ich kenne sie gar nicht. Es kam immer nur Miß Killigrew. Wenn Sie warten wollen. Sir, hole ich Ihnen das Paket aus dem Lager. Auf ein Kissen mehr oder weniger kommt es ja nun auch nicht an. Wir hätten es ja genausogut schon gestern verkauft haben können, nicht wahr?“ Nach einer Viertelstunde kam die Kleine wieder und trug das Paket vor sich her. Zwei Gobelins waren darin und sieben Kissenplatten. Verdammt, dachte Macpherson, hätte ich bloß nicht das Märchen von meiner Mutter erfunden! Wenn hier nichts von Ballamaddy dabei ist, bin ich moralisch verpflichtet, dennoch ein anderes zu kaufen. Aber was zum Teufel soll ich mit „Schwänen auf dem Loch Ness“ oder „Frühling in den Hochlanden“? „Das ist doch was Hübsches, nicht?“ begeisterte sich die minderjährige Verkäuferin und hielt eins der Kissen an den Zipfeln hoch. „Dabei nur ein Pfund fünfzig, weil es ein unbekanntes Motiv ist!“ Macpherson zog stumm die Brieftasche. Es war die Brauerei von Ballamaddy. Obwohl es stark auf sieben ging, hörte Macpherson aus dem Zimmer des Chefredakteurs noch Maschinengeklapper. Vor einer halben Stunde war die Meldung über den Ministerwechsel durchgegeben worden, und Malcolm Hume konnte es nicht lassen, seine persönl iche Meinung darüber sofort in einem Leitartikel breitzutreten. Macphersons Pochen wurde überhört. Also nahm er sich die Freiheit, das Allerheiligste ohne direkte Aufforderung zu betreten.
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Hume saß hemdsärmlig im Klubsessel für wichtige Besucher und diktierte. Das Mundstück seiner Bruyere hob und senkte sich skandierend in der blaubewolkten Luft. Mary Ann Boyd, seine Sekretärin, wiederholte getreulich: „…daß sich Schottland endlich dazu durchringen möge, nicht nur England gegenüber seine Pflicht zu tun, sondern in erster Linie…“ Mary Anns tiefgebeugte Haltung verriet einem aufmerksamen Beobachter ihren seelischen Tiefstand. Ihr Verlobter hatte zu heute abend Karten für den „Klofrau-Report“ besorgt und wollte vor dem Kino auf sie warten. Humes Diktate dauerten immer lange. Durch die Rauchschwaden hindurch gewahrte Hume nach geraumer Zeit Macphersons Umrisse. „Sehen Sie Unglücksvogel denn nicht, daß ich noch dringend zu arbeiten habe?“ brüllte er, wobei er, der Deutlichkeit halber, die Bruyere zwischen die Zähne klemmte. Stumm, aber deshalb seiner Wirkung nicht weniger gewiß, entfaltete Macpherson die Kissenplatte. Er legte sie vor Hume auf den Schreibtisch, als bringe er seinem Feldherrn eine feindliche Standarte. „Schon wieder Spesen, was?“ Hume lachte kurz und gnädig. Er beabsichtigte, einen köstlichen Witz zu machen. „Na, was hat das Ding denn gekostet?“ „Sie haben es erraten, Chef“, Macpherson war erleichtert, so viel Verständnis zu finden. „Es war gar nicht so teuer. Nur ein Pfund fünfzig. Aber für uns, als Beweisstück, ist es meiner Meinung nach das Zehnfache wert, unbedingt!“ „Ich glaube gar, der Esel hat meinen kleinen Scherz für Ernst genommen! Nehmen Sie gefälligst den Lap-
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pen von meinem Schreibtisch, aber ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf! Ihre Frechheit, Macpherson, nimmt langsam Formen an, wo sie kriminell wird!“ Humes Meinung über den Ministerwechsel hatte sich bedauerlicherweise auch auf den Korrespondenten der Gemeinde Ballamaddy ausgedehnt. „Eine Minute, Chef“, bat Macpherson demütig und schrieb im Geist das Pfund fünfzig zu den anderen Ausgaben in die Esse. „Ein Duplikat des Beweisstückes hier vor Ihnen, handgearbeitet von Mrs. Killigrew persönlich, befindet sich in deren Haus. Als ich sie nämlich heute morgen aufsuchte, fiel mir die merkwürdige Perspektive ins Auge, aus der die Brauerei – übrigens sinnigerweise der Tatort! – gesehen ist. Das Haus der bewußten Dame ist zweistöckig wie die meisten Häuser von Ballamaddy. Allenfalls vom Boden aus kann man die Brauerei aus der Vogelperspektive sehen. Auf meine diesbezüglichen Fragen wurde die Killigrew ziemlich unsachlich, so daß ich meinen Abschied vorverlegen mußte, ohne den Boden gesehen zu haben. Nun die große Frage, Chef: Warum ist sie auf den Boden gestiegen, um das Kissen zu entwerfen? Warum wurde sie so eigentümlich, als ich eben dies bemerkte, statt es harmlos zuzugeben? Und warum hat sie, gleich nachdem ich sie verließ, in dem Kunstgewerbeladen angerufen und gebeten, den Verkauf der noch dort befindlichen Sachen einzustellen? Das letztere kann ich Ihnen beantworten – weil sie verhindern wollte, daß wir dieses Kissen hier in die Finger kriegen. Mit dem Boden stimmt was nicht, Chef, ich rieche das! Auch das Mädchen aus Lord Darnleys End hat vor zwei Jahren, kurz nach dem Tod des Mannes und dem Ver-
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schwinden der ersten Tochter, etwas Ungewöhnl iches zur Nachtzeit dort oben gehört. Die ganzen nächsten Tage werde ich auf der Lauer liegen, bis die Killigrew mal ihren Bau verläßt. Dann besehe ich mir den Boden aber gründlich, darauf können Sie sich verlassen!“ Malcolm Hume sog hörbar und schweigend an seiner Bruyere, was Macpherson als positives Zeichen nahm. Auf der gebuckelten Chefredakteurstirn wechselten die Denkfalten wie bei einem Fadenspiel. „Sie haben zuviel Phantasie, Macpherson“, knurrte er endlich links neben der Bruyere heraus. „Das ist überflüssiger Ballast in einem Beruf wie dem unseren. Ich gebe Ihnen einen väterlichen Rat: Bemalen Sie Tonkrüge, oder übernehmen Sie eine Generalvertretung für Bruchbänder. Schon wie Sie damals herkamen, mit keiner Empfehlung als einem miserablen Gymnasialzeugnis, hatte ich so ein ungutes Gefühl. Will der Kerl einen Mordfall aufklären und hängt sich an ein Sofakissen!“ Humes Stimme wechselte vom anfangs friedlichen Tonfall in seine gewöhnliche Brüllstärke. „Und wenn die Killigrew auf die Westminsterabtei klettert, um den Big Ben zu sticken, so ist das einzig und allein ihre Sache. Mich nimmt nur Wunder, daß Sie nicht auch ihren Hüfthalter auf Würgemale untersucht haben! Nee, nee, Macpherson, auf diese Art und Weise werden Sie Ihre Blamage nie aus der Welt schaffen. Aber meinetwegen!“ Hume machte Anstalten, sich wieder dem Ministerwechsel zuzuwenden. Macpherson zweifelte noch, we lchem Vorgang das vieldeutige letzte Wort seines Chefs zugedacht war – ob der Fortsetzung seiner Recherchen
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oder der massenmörderischen Tätigkeit von Mrs. Killigrew? Er versuchte das Beste für sich daraus zu entnehmen. „Da Sie also einverstanden sind, Mr. Hume, wäre es doch ungerecht, mich die ganzen Unkosten der Aufklärung allein tragen zu lassen! Während Sie später den Ruhm einheimsen!“ Er horchte, aber es kam nichts. „Nur ein Pfund fünfzig!“ lockte er weiter. „Wenn der Fall abgeschlossen ist und wir die Bombe im Kasten haben, können Sie es immer noch Ihrer Gattin schenken, falls die Kripo es nicht beschlagnahmt.“ „Jetzt hab’ ich aber genug!“ Hume riß sich wutentbrannt die Bruyere aus dem Mund. „Sind wir vielleicht die Vanderbilts? Ich stecke keinen Penny mehr in Geschäfte, von denen ich nicht genau weiß, daß für uns was dabei rausspringt. Diese Dummheit ist mir in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal passiert – als ich Sie einstellte! Und ich habe zwei Jahre lang jeden Monat dafür gebüßt!“ Zuletzt kaute er noch boshaft: „Man braucht ja nur die Hühneraugen auf Ihrem Schlips anzusehen, um zu wissen, wie Sie Ihr Geld oder besser gesagt unseres vergeuden. Da sollte es Ihnen auf ein paar Ausgaben mehr oder weniger auch nicht ankommen, zumal es um Ihr schwer angeschlagenes Image geht!“ Macpherson warf im Abgehen den hämischsten Blick, dessen seine runden braunen Augen fähig waren, auf das zimtfarbene Stück Baumwolle, das sich schamvoll unter dem dritten Knopf in Humes Hemd verkroch. „Demnächst werde ich als Tippelbruder auftreten und dazu betonen, daß ich vom Scotch Evening Mercury, komme!“
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Und der Ärger über seine geschmähte Lieblingskrawatte sowie das verlorene Pfund fünfzig lieh ihm den Mut, die Tür zum Zimmer des Chefredakteurs nicht ganz lautlos hinter sich ins Schloß fallen zu lassen. „Streit gehabt?“ fragte der Busfahrer, als er Macphersons kriegerisch funkelnder Brillengläser ansichtig wurde. „Warum bleibst du denn nicht mal über Nacht bei ihr? Wenn du jeden Abend schon um neun abhaust, wirst du nicht lange Freude an ihr haben. Glaub einem erfahrenen Mann – ich kenne die Weiber!“ „Quatsch, Weiber!“ knurrte Macpherson unwirsch. „Ich hab’ weiß Gott andere Sorgen!“ Er flederte sein Päckchen mit dem ominösen Sofakissen neben sich auf die Sitzbank. „Warum fährst du nicht los?“ „Das Kino ist noch nicht aus“, erwiderte der Fahrer gleichmütig und begann sich mit einem Käsebrot zu beschäftigen. „Ich hab’ ein paar Leuten versprochen, daß ich warte. Seit wann hast du’s denn so eilig, in deine Wanzenbude zu kommen?“ Macpherson wechselte auf einen der hintersten Plätze, aber ansonsten tat er nichts, um die gegen den ehrenwerten Mr. Lindsay erhobene Beschuldigung zu entkräften. Nach einer halben Stunde trafen die Kinogänger ein: der Damenschneider Mr. Glenkairn mit Mrs. Glenkairn, die dem kauenden Fahrer klarmachte, daß sie sich einen derart blutrünstigen Film nicht ein zweites Mal ansehen würde und daß sie sich von jetzt an selbst in ihrem friedlichen Ballamaddy nicht mehr sicher fühle. Das nicht mehr ganz junge Pärchen, das ihnen folgte, hatte, nach seiner innigen Schwermut zu schließen,
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die Exzesse im „Klofrau-Report“ beobachtet. Weitere Bürger Ballamaddys waren nicht zu erwarten. In der milden, leicht windigen Nacht trottete Macpherson heimwärts. Viele Fenster standen weit offen wie Mäuler, um den Jasminduft ein- und die Maschinengewehrsalven und schrillen Schreie auszuatmen: „Johnny, duck dich – tacktacktack – aaah!“ Diese blöden Kriminalfilme müßte man verbieten, dachte er grimmig und wünschte allen Fernsehapparaten Ballamaddys eine anhaltende Bildstörung. Selbst der „Last Lover Of The Queen Bess“ machte keine Ausnahme; in dieser Beziehung hielt Mr. Lindsay nicht sehr auf Tradition. Als Macpherson den Küchenhof überquerte, um zum Haupteingang zu gelangen, beteuerte eine bellende Stimme aus Mr. Lindsays Schlafzimmerfenster: „Wenn du Schwein nicht endlich aufhörst, uns nachzuschnüffeln, mach’ ich dich nieder wie einen tollen Hund!“ „Genau das wollte ich auch sagen“, zischte es hinter Macpherson. Als er herumfuhr, erblickte er neben den Mülltonnen einen hochgewachsenen Mann, der seine zweifellos unsympathischen Züge hinter einem Nylonstrumpf verbarg. „Was wollen Sie von mir?“ Mit unmerklichen Rückwärtsschrittchen versuchte Macpherson den Abstand zu dem Individuum zu vergrößern. Körperliche Auseinandersetzungen waren nicht seine Stärke. Er verließ sich lieber auf seinen Kopf. Doch diese zwar nicht übermäßig flink, aber immerhin zuverlässig arbeitende Waffe wurde durch einen harten Schlag unbrauchbar gemacht, ehe er noch bis drei zählen konnte. Das letzte, was sein schwin-
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dendes Bewußtsein aufnahm, war ein Lichtschein, der in Form eines Rechtecks auf den gepflasterten Hof fiel. Das erste, was vor seinen schwimmenden Blicken wieder klare Konturen annahm, waren Rowenas Lokkenwickler. Sie hatte sich, wie sie das jeden Monat tat, in der Küche noch die Haare gewaschen. Und da zuzeiten der Königin Elisabeth die Ausgußbecken in Gasthöfen noch nicht erfunden waren, konnte Rowena nicht umhin, das Spülwasser nach Art des Hauses in den Hof zu kippen, wo sie es auch hergeholt hatte. So bewahrte sie durch ihr Erscheinen den armen Macpherson davor, auf längere Zeit berufsuntauglich gemacht zu werden. „Wo ist der Kerl?“ lallte er und faßte sich mit einem Schmerzenslaut an den Kopf. „Wie ‘n Hühnerei“, stellte Rowena sachlich vergleichend fest und fügte beruhigend hinzu: „Keiner da.“ Sie zerrte Macpherson in die Küche und preßte das Messer, mit dem der vorige Wirt seine hauseigenen Schweine abzustechen pflegte, auf die Beule. Sodann schnippelte sie dem Wehr- und Widerstandslosen eine kreisförmige kahle Stelle in die Frisur, tupfte sie mit Weingeist ab und beklebte sie kreuzweise mit gewaltigen Pflastern. Macphersons Seele dagegen labte sie mit einem guten Kognak, den sie ohne Gewissensbisse aus dem Schankraum holte. Mr. Lindsay wußte schon, was er an Rowena besaß. Sie machte nicht viel Worte, was er sehr an ihr schätzte, und handelte dafür desto energischer, was er noch mehr schätzte. Nachdem sie den Blessierten wohlbehalten in seinem Bett mit den vier Kletterstangen untergebracht hatte, verrammelte sie auf sein schwaches Geheiß noch das
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Fenster. Sie wuchtete den Waschtisch davor, in dem man bequem zwölf Kaninchenfamilien hätte Logis bi eten können. Als sie ihn dann noch auf hochkant kippte, um das Fenster auch wirklich abzusichern, erhob sich ein Konzert von Manschettenknöpfen, Schuhspannern und diversen Fläschlein mit Nasentropfen und Klettenwurzelöl, die klappernd und klirrend durcheinanderrollten. Leicht beunruhigt blickte sich Rowena daraufhin nach Macpherson, dem Eigentümer dieser Dinge, um. Aber der hütete sich, etwas Mißbilligendes zu äußern. Er war augenblicklich in Schlaf gefallen. Nach zehnstündigem Schlaf endlich erwacht, lag Macpherson nahezu zwölf Minuten völlig reglos. Er war der festen Überzeugung, sich im unterirdischen Verließ einer Gangsterbande zu befinden. Als seine ängstlich tastenden Hände jedoch den Re isewecker und den eisernen Leuchter vom Nachttisch fegten, kam ihm die Umgebung schon bekannter vor. Er entzündete ein Streichholz (elektrisches Licht widersprach dem Stil des Hauses) und erkannte, daß die totale Finsternis von seinem Waschtisch herrührte, der als unbezwingbares Bollwerk vor dem Fenster aufragte. Erst die Beule, die eine zufällige Berührung in wildes Brodeln versetzte, brachte ihm den nächtlichen Überfall in allen Einzelheiten zurück. Da er noch angezogen war (so weit hatten sich Rowenas Hilfeleistungen nicht erstreckt), beschränkte er sich auf die Morgentoilette nach Art der französischen Könige. Anschließend legte er drei Schmerztabletten auf den Handteller und spülte sie mit einem Schluck
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abgestandenen Brunnenwassers hinunter. Sofort ve rspürte er einen fast visionären Appetit auf Buttertoast, Erdbeerjam und heißen Tee, der ihm aber auf dem Weg zur Gendarmeriestation wieder abhanden kam. Denn als er an der Bushaltestelle vorüberschlich, erblickte er auf nüchternen Magen die schwarzumwallte Mrs. Killigrew, die mit einer Reisetasche im Nationa lmuster soeben den Zehn-Uhr-Bus bestieg und mit ihm davonfuhr. Dieses Erlebnis bewirkte, daß mit dem Appetit auch Macphersons Vorhaben – den gestrigen Überfall bei dem asthmatischen Sergeanten zu melden – in den Hintergrund trat. Der Boden des Killigrewschen Hauses war wichtiger, und wer wußte, ob sich eine derart günstige Gelegenheit im nächsten Jahr noch einmal bot. Vermutlich ist sie in den Kunstgewerbeladen gefahren, um ihren Krempel abzuholen, dachte Macpherson, noch immer etwas mühsam sein verläßliches Gehirn bewegend. Vor ein Uhr mittags kann sie also nicht wieder hier sein – was besagt, daß ich drei Stunden Zeit habe. Da er sich so jählings vom Glück begünstigt sah, begann sein Leichtsinn hohe Wogen zu schlagen und veranlaßte ihn dazu, in „Glennys’ Konditorei“ zwei Frühstückshörnchen zu erstehen. Zu seiner Erleichterung war Miß Glennys abwesend und außer dem kleinen Ladenmädchen so früh noch keine Menschenseele beim Schlemmen. Er wollte jetzt möglichst von ni emandem gesehen werden und wählte den einsamen Heckenweg, um sich von hinten an die Obstgärten heranzupirschen. Am letzten Hörnchenzipfel kauend, barg er die empfindliche Beule unter einer alten Leinwandmütze mit
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Schirm und bahnte sich seinen Schleichpfad durch Haselruten, Holunder und wilde Stachelbeeren. Ab und zu hob er witternd den Kopf aus dem Unterholz, um zu prüfen, ob er nicht bald in der Höhe von Mrs. Killigrews Grundstück sei. Niemand sah ihn über den Zaun klettern, denn da es zu dieser Jahreszeit noch kein Obst zu ernten gab, verirrte sich außer tobenden Kindern, die aber jetzt in der Schule waren, kaum jemand in die hi nteren Teile der Gärten. So gelangte er ungestört bis an die Hintertür des Hauses, die wohl seit dem Tod von Mr. Killigrew, gleich dem Gemüsegarten, nie mehr beansprucht worden war, denn verkrustete Spinneweben hingen schlaff an ihr herunter. Wird ganz schön verquollen sein, dachte Macpherson mißmutig und holte aus der Brusttasche sein Sortiment Haarnadeln, daß er immer bei sich trug, seit er seinen Zimmerschlüssel einmal in der Redaktion hatte liegenlassen. Doch zu seiner ungemeinen Verblüffung öffnete sich die Tür beinah wie von selbst und bewegte sich lautlos und gefällig in den Angeln. Er säuberte seine Schuhe auf dem dafür hingestellten Holzrost, um sodann dreist, wenn auch mit leicht stotterndem Herzschlag, in den ersten Stock aufzusteigen. Die erste Tür, die er für den Aufgang zum Boden hielt, führte ihn ins Badezimmer. Sein Instinkt riet ihm, sich ruhig auch hier umzusehen, aber sein Taktgefühl siegte angesichts eines schmuddligen fraisfarbenen Morgenrocks, dessen rechter Ärmel im Ausguß hing. Im zweiten Stock hatte er mehr Glück – die Tür mit dem Katzenloch war die richtige. Der Bodenraum, der sich ihm nun endlich darbot, war von Sonnenstäub-
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chen durchtanzt, die durch die Guckschlitze drangen, und alles in allem mit einem Blick zu übersehen. Ni rgends eine abgeschlossene Kammer, alles stand säuberlich an den Längsseiten aufgereiht: Reisekörbe, eine häßliche schwarze Kommode, Liegestühle und Schlitten, ein Puppenwagen mit verblichener Paradedecke und ein ausrangierter Küchenherd. In der Kommode befanden sich nur alte Kleidungsstücke, eine Zeltbahn, zerdrückte Hüte und ähnlicher Trödel. Allerdings entdeckte Macpherson darunter eine lange, schmale Präsentschachtel mit Sankt Nikolaus auf dem Deckel. Sie enthielt ein halbes Dutzend spitzer, schwerer Messer. Auf der Innenseite des Deckels las er von einer noch recht jugendlichen Hand geschrieben „Maureen Killigrew – beste Messerwerferin der Welt und Schottlands“. Macpherson lächelte, aber als er im Vorübergehn auch einen Blick in den Puppenwagen warf, gerann ihm das Lächeln wie Sahne, die zu lange gestanden hat. Auf dem blaßblauen Kopfkissen grinsten vier grauweiße Puppenköpfe mit staubigen Haaren, die bereits an den Hälsen aufhörten, Puppen zu sein. Er mußte an Ginevra Bothwells Erzählung denken und an das schlechte Beispiel, das dieser Heinrich VIII. dank der Geschichtsbücher immer noch den Kindern gab. Ja, von England war noch nie etwas Gutes gekommen… Aber wie er auch in den Reisekörben stöberte, unter die Kommode und sogar ins Ofenloch schaute – weder von Maureen noch von Mr. Killigrew die geringste Spur. Sollte er sich doch auf einer falschen Fährte befinden? Auch das damals angeblich umgefallene Spinn-
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rad war nirgends aufzufinden. Wahrscheinlich hatte es nie existiert. Was sollte er jetzt noch mit Vogelperspektive und Brauerei, wo sich doch der geheimnisvolle Bodenraum sowenig verdächtig erwies wie die Gendarmeriestation selber! Traurig spazierte er auf die linke Seite hinüber, um mit einem Abschiedsblick auf das neugotische Monstrum seine große Idee zu begraben. Da lag die Brauerei von Ballamaddy: zu ihrer Rechten das berüchtigte Wäldchen und zwischen sich und Macpherson die feuchten Gemeindewiesen voller Kuhschelle und Margeriten breitend. Von links nahte sich ihr in sanftem Bogen die Landstraße, um sie an dem Klinkerhäuschen fast zu berühren und sodann in scharfer Kurve hinter dem Gehölz in Richtung Edwardswhinnie dem Auge des Beschauers zu entschwinden. Aber dennoch war es nicht in allen Einzelheiten die gleiche Draufsicht wie auf dem Sofakissen. An einer Stelle wurde die Landstraße von den Zinnen der Brauerei und zwei Baumwipfeln bis über die Mitte verdeckt. Macpherson trat suchend zurück – war da etwa noch ein weiterer Guckschlitz, näher der Giebelwand, der die Gotenburg noch mehr nach links hätte treten lassen und somit das visuelle Hindernis aus dem Blickfeld des Beschauers geräumt? Es war keiner da. Um die Landstraße völlig frei sehen zu können, hätte man den Kopf durch die Giebelwand stecken müssen wie die Zwölfender an den Wänden fürstlicher Jagdzimmer. Kopfschüttelnd murmelte sich Macpherson die Bodentreppe hinunter, verließ das Haus durch die Hintertür, die er aber in seiner Verwirrung nur anlehnte, stieg über den Zaun und watete sinnend durch die endlose Wiese zum
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Wartehäuschen der Brauerei. Er hatte sein Unterbewußtsein so erzogen, daß es auch ohne ihn weiterarbeitete. In diesem Fall hatte es ihm davon abgeraten, zerkratzt und angeschlagen in den Ort zurückzukehren und dort, vor aller Augen, den Nachmittagsbus zu besteigen. Als er mit grummelndem Magen auf dem Invalidenplatz mehr lag als saß, den ihm nie jemand streitig machte, da Ballamaddys drei Invaliden den Ort sowi eso nie verließen, drehte er noch immer apathisch seine Gedankenmühle: Soll ich ein Loch in die Stirnwand hacken, oder soll ich ganz von vorn anfangen? Selbst, wenn ich ein Loch in die Stirnwand hacke, muß ich trotzdem wieder von vorn anfangen. Mit zwei heißen Würstchen und vier Dosen Bier zog er sich in die städtischen Anlagen von Edwardswhinnie zurück und sah gelassen zu, wie die Dämmerung langsam zwischen die Fliederbüsche kroch und der Himmel sich verfärbte wie ein angeschlagenes Auge, was alles in allem etwa fünf Stunden in Anspruch nahm. Diesmal war „Lord Darnleys End“ etwas stärker besucht als vor zwei Tagen, fand Macpherson, als er die Schwingtür aufstieß. Die vier Dosen Bier in seinem relativ nüchternen Magen hatten nicht vermocht, ihn fröhlicher zu stimmen. Jene unergründliche Melancholie, die uns an Bernhardineraugen so rührt, wurde durch Macphersons starke Brillengl äser in wahre Tragik verwandelt. Ohne das geringste Schamgefühl klapperte er die Nischen ab, um Ginnie Bothwell ausfindig zu machen. Er verspürte das heftige Bedürfnis, sich an
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ihrem entgegenkommenden Busen auszuweinen und alle hochfliegenden Pläne auf ewig darin zu versenken. Als er seine Runde das dritte Mal abschritt und bereits unliebsames Aufsehen zu erregen begann, kreischte es hinter einem bulligen Rücken hervor: „Hallo, Schätzchen, suchst du vielleicht wieder die kleine Ginnie?“ Fourthjuly Macpherson, heilfroh, endlich außer Sichtweite der anzüglichen Zurufe zu gelangen, quetschte sich schutzsuchend zu Ginnie in die Nische. „Ich fürchtete schon, Sie seien heute gar nicht da, Miß Bothwell!“ „Kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben, Bursche!“ belferte der bullige Rücken und hob den dazugehörigen platten Schildkrötenkopf von Ginnies Nacken. „Halt die Fresse, Goldfingerchen“, warf das Mädchen begütigend dazwischen, „der Kleine da ist schon richtig. Der faßt mich nich mal unterm Tisch an, geschweige so wie du, nimm die Pfote weg! An so was denkt der nich mal im Traum. Also sei kein Spielverderber und geh schön auf die Toilette, Goldfingerchen. Du wolltest doch vorhin schon!“ Goldfingerchen knurrte etwas Unverständliches, wuchtete sich mühsam hinterm Tisch hoch und trollte sich, nicht ohne vorher seinen flachen Echsenkopf mit einer Sportmütze bedeckt zu haben. Verwirrt musterte Macpherson Ginnies gelbe Bluse, deren Farbe sich in der Mitte zwischen Schwefelblüte und Brausepulver hielt. Er hatte sich auf das rote Samtkleid von vorgestern eingestellt und mußte sich erst akklimatisieren. „Stört dich was?“ Ginnie machte
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scherzhafte Anstalten, die obersten Knöpfe zu lösen. Aber Macpherson schüttelte verzweifelt den Kopf und hielt ihre Finger fest. „Es ist alles aus“, verkündete er im Grabeston und ließ das Haupt mit dem mächtigen Pflaster in der Mitte pendeln wie ein Eisbär. „Heute vormittag war ich heimlich auf dem Boden der Killigrews – nichts! Nur alter Krempel, keine Spuren, keine Leichen. Hume wird mich entlassen, weil ich ein Versager bin, weil ich richtige Sensationen verbummle und falschen nachjage. Und ich hab’ schon soviel Spesen in die Sache gesteckt! Davon werde ich keinen einzigen süßen, kleinen Penny mehr wiedersehn. Ach, Miß Bothwell, noch nie in meinem Leben war ich derart…“ „Ich versteh’ bloß immer alter Mann mit Bart“, stoppte Ginnie sein Lamento. „Nu erzähl mal schön von Anfang an, wie du überhaupt auf die Idee gekommen bist, die alte Killigrew zu verdächtigen, ihre ganze Familie um die sogenannte Ecke gebracht zu haben. Die kleine Ginnie ist nämlich gar nicht so dumm, wie sie sich meistens stellt. Aber für meinen jetzigen Beruf ist es unangebracht, wenn man allzuviel Intelligenz zeigt; denn wer will schon mit ‘ner Dame ins Bett gehen, die mehr Geist als Busen hat, nich?“ „Da brauchen Sie aber wirklich keine Angst zu haben“, wurde sie von Macpherson beruhigt, der bewundernd die dünne Bluse anstarrte, die wie ein Gelbfilter zwischen Ginnie und dem Auge des Beschauers eingesetzt war. Als er jetzt die berühmte Kissenplatte aus dem Jackett zog, übersah er die beiden frischen Whi skygläser so völlig, daß Gi nnie sie vorsorglich an sich
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nahm. Und so erläuterte und steckte er seine Pläne anhand des Ki ssens ab wie an einer Generalstabskarte. Ginnie verstand ihn merkwürdig schnell, obwohl er selbst zugeben mußte, daß seine Ausführungen ziemlich gewundenen Wegen folgten. Sollte an der sogenannten weiblichen Intuition doch was dran sein? dachte Macpherson, indem er auf ihre verblüffend sachlichen und durchdachten Fragen antwortete. Vielleicht sogar mehr als an meiner verläßlichen männl ichen Logik? „Gefunden oder nichts gefunden – da oben war was, davon lass’ ich mich nicht abbringen!“ rief Ginnie und wischte mit dem Handballen die nassen Gläserringe fort. „Damals vor zwei Jahren meine ich – das Poltern genau über der Speisekammer! Und der Überfall auf dich gestern abend – warum wollte man dich unschädlich machen, wenn an der Sache nichts faul ist? Hör mal, Süßer, die kleine Ginnie hat eine von ihren großen Eingebungen! Wir machen jetzt schnell, daß wir verschwinden, ehe Goldfingerchen vom Klo zurückkommt und Stunk anfängt. Schmeiß dich rasch zu Bobby an die Theke und bezahl die zwei Whiskys, das andere geht ja auf Goldfingerchens Rechnung. Ui, wird der toben! Ich warte lieber draußen, unterwegs erklär’ ich dir alles!“ Ginnies Bestimmtheit und ihre Zuversicht weckten in Macphersons Seele die Hoffnung, daß vielleicht doch noch nicht alles so verrannt und verfahren war, wie es schien. Ohne Mucken beglich er die beiden Getränke, von denen er keinen Tropfen selbst genossen hatte, und ließ sich draußen von der eifrig schwatzenden Ginnie unterfassen.
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Nach zehn Minuten hatte er begriffen, daß sie beide jetzt dem Queen-Victoria-Platz zustrebten, um den 21Uhr-Bus nach Ballamaddy noch zu erreichen. Ginnies Plan war, ihre alte Dame aufzusuchen, sie über wesentliche Punkte unverfänglich zu verhören (Ja nicht verraten, um was es dir wirklich geht! warnte Ginnie. Sie kann’s nicht für sich behalten, das ist nicht ihre Schuld. Morgen würde es der ganze Ort wissen!) und früh mit dem Sechs-Uhr-Bus von der Brauerei aus ungesehen wieder nach Edwardswhinnie zurückzukehren. „In der Nacht ist alles nur halb so gefährlich und so triste wie am Tag“, philosophierte Ginnie, „da kommen einem die tollsten Gedanken und die schicksten Männer… du wirst sehn, Baby-Darling, wir erreichen heute nacht mehr als du an all den Tagen zusammen. Und zu meiner Ma wagt sich kein Unbekannter mit Knüppeln, da kannst du Gift drauf nehmen. Ma kann nämlich Judo – noch vom Krieg her!“ Ginnie kicherte, während sie die hohe Bustreppe nahm und der Fahrer Gelegenheit hatte zu bemerken, daß ihre Strümpfe mit kleinen Münzen am Halter befestigt waren. Als Macpherson den Fahrpreis für zwei Personen entrichtete, flüsterte ihm der Fahrer einige anerkennende Worte zu: „Na, Unabhängigkeitstag, du bist mir schon ein alter Heimlichtuer! Von so was kann unsereins nur träumen! Na, viel Spaß dann noch, deine Bettfedern werden nichts zu lachen haben, oder habt ihr noch die historischen Strohsäcke dort? Machen wir halbpart, he?“ Macpherson ließ ihn quatschen und setzte sich zu Ginnie, deren aufreizende gelbe Bluse ein normaler, alter Regenmantel verbarg. Sie trug sogar ein Paar
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zerknitterte Handschuhe, was bei dem warmen Wetter den Gipfelpunkt der Damenhaftigkeit bedeutete. Auf Ginnies Klingeln hin mußten sie ziemlich lange warten, bevor in einem der Fenster Licht wurde wie bei einer Eule, die ein Auge öffnet. Miß Bothwell die Ältere schien schon geschlafen zu haben. „Nach zehn empfange ich nicht mehr!“ krächzte sie abweisend von oben herunter. „Red keinen Unsinn, Ma, und komm aufmachen!“ gab ihre Tochter in gewohnter lärmender Fröhlichkeit zurück. „Ich bin’s, Ginnie!“ Aus dem Häuschen drang ein entzückter Pfauenschrei. Gleich darauf sahen sie Miß Bothwell die Ältere die Haustür aufnesteln und über die Beete heranfegen, als reite sie auf einem Besenstiel. Sie war in einen eichhörnchenbraunen Bademantel gewickelt und hatte in der Eile dennoch Zeit gefunden, ihre überlaufende Frisur mit dem bekannten rotgelben Kopftuch zu schürzen. „Meine kleine Ginnie, mein kleines Mädchen, willkommen daheim!“ Angesichts der echten, temperamentvollen Wiedersehensfreude von Mutter und Tochter hielt sich Macpherson bescheiden im Hintergrund, bis Ginnie sich besann und ihn in ihrer freimütigen Art mit der „alten, guten Ma“ bekannt machte. „Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet?“ Miß Bothwell die Ältere neigte den Kopf neckisch zur Seite und lächelte holdselig, wobei ihr nur das Selige des Ausdrucks zur Zufriedenheit gelang.
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„War das nicht erst gestern vormittag, als Mrs. Killigrew Sie rausfeuerte? Aber abgesehen davon ist mir jeder ein lieber Gast, den mir mein kleines Mädchen mitbringt. So jung sie noch ist, hat sie doch schon eine gute Menschenkenntnis, meine Ginnie…“ Während sie in Bademantel und Pantoffeln angeregt und trällernd in der Küche herumfuhrwerkte, um die späten Gäste noch gebührend zu bewirten, marschierte Ginnie durch die mütterliche Wohnstube und umfing alles mit zärtlichen Blicken: die Wände, deren Stockflecken mit allerlei bunten Bildchen aus Illustrierten beklebt waren, die düstere Hängelampe, die einer zugebundenen Sonnenblume glich, und den Teewagen mit dem gläsernen Zuckerkörbchen und der Gebäckdose. Kauernd und zufrieden vor sich hin summend, deckte sie den nächtlichen Teetisch, probierte an dem alten Radio herum und warf sich wippend auf die als Chaiselongue getarnte Matratze. Sie war zu Hause, wie nur der zu Hause sein kann, dem es selten beschieden ist, wirklich zu Hause zu sein. „Meinje, Ginnie, bis du fein angezogen! Extra für deine alte Ma?“ Miß Bothwell die Ältere hatte teekesselschwenkend den Raum betreten und prüfte bewundernd das durchsichtige Gelb zwischen den Fingerspitzen. „Aber du wirst dich erkälten, Liebling. Warte, ich bring’ dir meine gute Strickjacke!“ Unter Gelächter und kleinen Späßen (taktvollerweise hütete sich Miß Bothwell, ihre Tochter nach dem Ergehen ihres Berufes zu fragen) nahm der Tee seinen Fortgang. Miß Bothwell, jeder Zoll Hausherrin, präsidierte in Bademantel und Kopftuch. Nach zehn Minuten
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schon waren die ungesellige Nachbarin und der schreckliche Mordfall Thema Nummer eins. „Möcht’ nur wissen, was sie jetzt wieder vorhat“, zischelte Miß Bothwell, ohne das Likörglas aus der Hand zu lassen. „Denkt euch, heute morgen ist sie mit dem Zehn-Uhr-Bus weggefahren und noch nicht wieder zurück.“ Macpherson und Ginnie wechselten einen erstaunten Blick. „Woher willst du das wissen, Ma, ob sie nicht schon längst in ihrem Bett liegt? Du hast doch auch schon geschlafen, als wir kamen“, provozierte Ginnie vorsichtig. „Ich weiß, was ich weiß!“ Miß Bothwell die Ältere schmunzelte geheimnistuerisch über den Rand ihres Gläschens hinweg. „Ich erwähnte vielleicht nicht, daß sie mit ‘ner Reisetasche rauskam? Da interessiert es einen als Nachbarn doch, ob das ‘ne größere Reise wird oder bloß ‘ne Tagestour, nicht? Ich hab’ den ganzen Tag über aufgepaßt, und von meinem Bett aus kann ich sehn, wenn sie im Badezimmer Licht macht. Ich hab’ noch nicht geschlafen, wo denkt ihr hin! Nein, Kinder, ich leg’ meine Hand ins Feuer oder wohin ihr sonst wollt – das Haus da drüben ist so leer wie mein Sparkassenbuch!“ Sie wollte sich über ihren eigenen Witz halbtot lachen. Ginnie trat Macpherson mit dem Absatz ans Schienbein, daß er vor Schmerz Miß Bothwells letzte Zitrone über seiner Teetasse auswand. „Die Sache ist nämlich so, Ma – mein Freund Fourthy hier hat gestern in der Eile sein Zigarettenetui drüben bei dem alten Drachen liegenlassen. Echtes Silber und graviertes Monogramm, noch von seinem Urgroßvater,
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sagt er. Als er das merkte, hat er sich begreiflicherweise nicht wieder hingetraut. Das wäre doch ‘ne günstige Gelegenheit, was meinst du, Ma?“ Ihre Mutter bewegte zustimmend den geflammten Turban. „Sie ist eine Schande für den ganzen Ort, diese Mrs. Killigrew. Wenn jemand schon die Schlafzimmer unten hat und die Wohnzimmer oben! Ich bitte euch, wo ist das üblich? Da kann sich nun ein anständiger Mensch nicht mal bei Tag mehr hinwagen, um sein Eigentum zurückzuholen. Mitten in der Nacht muß er sich durch die Hintertür ins Haus schleichen, um sicherzugehen, daß ihn dieses Weib mit ihren Basiliskenaugen nicht in einen Kohlrabi verwandelt! Geht nur, meine Kinder, ich werde inzwischen an der Gartentür Wache halten. Wenn sie wider Erwarten mit einem Taxameter kommen sollte – aber diese Ausgabe hat sich noch ni emand gemacht, den ich kenne –, werde ich einen Uhu nachahmen. Paßt auf, so!“ Und Miß Bothwell die Ältere heulte wie ein sibirischer Wolf im Winter. Während sie vorn beim Gartentor Posten faßte, zerrte Ginnie Macpherson in den hinteren Garten, wo früher jene dünne Stelle in der Hecke zu sein pflegte, deren sie und die Killigrew-Mädchen sich immer bedient hatten. „Was zum Teufel wollen wir denn noch mal drüben?“ knurrte er. „Ich hab’ doch heute früh schon den ganzen Boden abgekämmt. Außerdem dürfen wir sowieso kein Licht machen.“ „Wir poltern!“ erwiderte Ginnie, die mit dem Ernst eines Kindes bei der Sache war. „Hier ist Mas Taschenlampe. Hab’ ich dir nicht versprochen, Baby-Darling,
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daß wir heut nacht mehr erfahren werden als du all die Tage zusammen? Und wenn nichts dabei herauskommt, kannst du wenigstens mit gutem Gewissen die Finger von der Chose lassen!“ setzte sie tröstend hinzu. „Halt, die Lücke!“ Macpherson begnügte sich damit, resignierend auf dem Bauch hinter ihr herzukriechen, in das taunasse, hohe Gras des Killigrewschen Grundstücks hinein. Dank seiner Nachlässigkeit brauchten sie sich jetzt nicht mit dem Öffnen der Hintertür aufzuhalten. Das durfte nicht wieder vorkommen! Wenn die alte Dame das spitzgekriegt hätte! „Abtreten!“ befahl Macpherson knurrig. „Schließlich sind wir hier bei fremden Leuten und dürfen keinerlei Spuren hinterlassen.“ Folgsam trampelte Ginnie auf dem Holzrost herum, wobei sie sich lautstark über gewisse Leute verbreitete, die von der Erfindung des Scheuerlappens noch immer nichts gehört hätten. „Können Sie sich nicht etwas leiser mokieren?“ bat Macpherson. Ginnie lachte nur und schwenkte kühn die Taschenlampe, so daß ihr Schatten, ins Riesenhafte verzerrt, die Treppenwand hinaufkroch. „Wenn Ma Wache schiebt, fürchte ich mich nicht vor dem Teufel!“ „Und wenn die Killigrew aus irgendwelchen Gründen ihr Haus heimlich von hinten betritt, so wie ich heute morgen?“ gab Macpherson zu bedenken. Das hatte gesessen! Ginnie wurde merklich unsicher, wenngleich sie betont forsch vor Macpherson die Bo-
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dentreppe erklomm. So warm und stickig es heute vormittag noch unterm Dach gewesen war, so kühl und zugig wehte es jetzt zur Nachtzeit die beiden Eindringlinge an. „Wenn die Straßenseite rechts ist, befindet sich die Speisekammer im hintersten Winkel“, bemerkte Ginnie mit dünnem Stimmchen und rührte sich nicht von der Stelle. Macpherson verstand noch immer nicht: „Und was erhoffen Sie sich davon? Wollen Sie an dieser Stelle ein Loch bohren und sich von oben in die Einmachgläser runterlassen? Das können Sie einfacher haben, und zwar durch die Küchentür!“ Er versuchte, seinen Ärger hinter feiner Ironie zu verbergen. „Ich betone nicht gern, daß ich intelligenter bin als andere Leute, aber langsam beginne ich deinem Chef recht zu geben, Schäfchen. Hast du Apfelmus statt Gehirn oder was?“ Ginnie bewahrte nur mühsam ihre guten Umgangsformen. „Natürlich geh’ ich in die Küche ‘runter und stell’ mich in die Speisekammer, genau wie damals. Und du bewegst dich jetzt im Laufschritt in den hintersten Winkel rechts und polterst – ebenfalls wie damals. Kapiert? Heilige Clarissa, dir muß man aber auch alles erklären wie’n miesen Witz! Nu mach schon, ich leuchte dir ja. Die Lampe nehm’ ich mit ‘runter.“ Blitzartig schnellte in Macphersons Gehirn eine Klappe hoch wie bei der Abfahrt von D-Zügen. In seiner Freude darüber konnte er nicht umhin, dies Ginnie mitzuteilen. Doch statt des erwarteten Lobes kam nur ein rohes „Wurde auch Zeit!“ von ihren Lippen. Ge-
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wichtig schritt er in die bezeichnete Ecke und wandte den Kopf zur Seite, als er den Puppenwagen passierte. „Ist das Spinnrad noch da?“ hallte Ginnies Stimme hohl durch das lebendige, fremde Dunkel. Miß Bothwells Taschenlampe reichte kaum drei Meter weit. „Nein“, gab Macpherson gepreßt zurück, „wahrscheinlich hat es nie existiert. Ich nehme etwas anderes, den schweren Hörnerschlitten hier.“ „Zähle bis fünfzig und wirf ihn dann mit aller Kraft zu Boden“ (Macpherson nickte, was Ginnie aber nicht sehen konnte), „dann läufst du in die andere Ecke hinüber und wieder zurück. So, ich geh’ jetzt ‘runter.“ Das Lämpchen in Ginnies Hand zitterte verräterisch. Macpherson blickte dem schwachen Schein nach, der rasch entschwand, zählte bis fünfzig und ließ den Hörnerschlitten aus hocherhobenen Armen poltern. Sodann trippelte er, wie angeordnet, nach links und wi eder zurück, stand im Finstern und harrte Ginnies Rückkehr. Der schwache Schein tastete sich wieder die Treppe herauf, assistiert von Ginnies Gestöckel. Sie schien mit irgend etwas nicht zufrieden zu sein. „Warst du auch wirklich im hintersten Winkel, so wie ich es dir gesagt hab’?“ „Natürlich, ich steh’ ja immer noch da!“ „Es hat aber nicht über der Speisekammer gepoltert, sondern über der Küche. Auch das Trappeln war nicht genau über mir. Machen wir’s noch mal. Aber jetzt werde ich poltern, und du gehst ‘runter!“ Ginnie schwirrte wie ein Glühwürmchen durch den Boden, drückte Macpherson die Taschenlampe in die Hand und begann halblaut zu zählen.
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Vom Korridor im zweiten Stock gingen vier Türen ab, zwei auf jeder Seite. Rechts hatte Ginnie die hinterste weit offenstehen lassen, so daß Macpherson nicht fehlgehen konnte. Auf dem Herd langweilten sich ein Tiegel mit erkalteten Fettresten und ein verbogener Teekessel. Daneben stand der Abfalleimer (Mrs. Killigrew schien sich seit der Ermordung ihrer Tochter hauptsächlich von Kartoffeln und Eiern ernährt zu haben), dann kam die Tür zur Speisekammer. Macpherson leuchtete die fast leeren Regale ab, in denen kein einziges Einmachglas zu finden war, dafür aber etliche Würste, eine Schüssel mit geschabtem Rettich und eine erkleckliche Anzahl Bierdosen. In dem Moment ließ Ginnie oben den Hörnerschlitten herabsausen. Sie hatte recht gehabt: Das Poltern war nicht über der Speisekammer! Er rannte in die Küche hinüber und kam gerade noch zurecht, um genau über seinem Kopf das zurückkehrende Stakkato von Ginnies Absätzen zu hören. Er schloß sorgfältig die Küchentür und eilte nach oben, um sie nicht allzulange ohne Licht zu lassen. „Du hast recht gehabt“, keuchte er, wobei es keinem von beiden auffiel, daß Macpherson zum erstenmal das förmliche „Sie“ beiseite ließ. „Es war über der Küche! Aber wenn wir beide im hintersten Winkel des Bodens gepoltert haben – was ist dann über der Speisekammer? Es muß hier ein Geheimkabinett geben, gleich hinter uns, und zwar muß es in der Breite der Speisekammer von einer Seite des Hauses zur anderen reichen.“ „Meine Gedanken“, bestätigte Ginnie und versetzte dem unschuldigen Hörnerschlitten einen Tritt, der das Liegestuhlgebäude ins Wanken brachte.
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Fieberhaft begannen sie beim Funzelschein des Taschenstrahlers die mit Brettern verkleidete Giebelwand abzutasten und abzuklopfen. Macpherson riß sich einen Schiefer unter den Fingernagel und erging sich in häßlichen Ausdrücken und ungehörigen Wünschen, das gesamte Mobiliar des Killigrewschen Haushalts betreffend, was für gewöhnlich nicht seiner eher zurückhaltenden Art entsprach. Nichts! Keine Ritze, kein noch so winziges Schlüsselloch – nur ein Brett neben dem andern. Auch klang es durchaus nicht hohl, wenn man dagegen klopfte, sondern dumpf und ausgefüllt, als sei es doch nur eine verkleidete Ziegelwand. „Da wir kein Beil haben, müssen wir die Wand einrennen“, flüsterte Macpherson und sah Ginnie hilfesuchend an, „ich trau’ mir’s schon zu…“ Und kurz entschlossen trat er drei Schritte zurück, um sich mit Anlauf dagegen zu werfen. Aber Ginnie winkte ihm nur ängstlich mit der Hand, er möge still sein. „Hörst du nichts?“ Macpherson lauschte befehlsgemäß. „Huhuuu, huhuuu…“, heulte unten im Garten der wölfische Uhu. „Das ist Ma!“ Ginnie schluckte hörbar, packte Macpherson am Handgelenk und zog ihn zur Treppe. „Mach die Lampe aus!“ Sie bückte sich im Laufen, um die unbequemen Schuhe von den Füßen zu streifen. Völlig von Finsternis umgeben, hasteten sie die Stiegen herunter und verhielten alle paar Sekunden Schritt und Atem, in der furchtbaren Erwartung, Mrs. Killigrews Schlüssel im Schloß knirschen zu hören. Dennoch gelang es ihnen, ungefährdet den Hinterausgang
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zu erreichen und mit fliegenden Pulsen hinter einem zerfallenen Frühbeet Deckung zu suchen. Dort kauerten sie minutenlang, ohne das geringste verdächtige Geräusch wahrzunehmen, bis hinter der Eisbeerenhekke Miß Bothwells krächzende Stimme erscholl. „Hallo, Kinderchen, Ginnielein – seid ihr schon unten?“ „Oh, Ma, verdammt – hast du uns einen Schrecken eingejagt!“ Ginnie stand auf und zog sich die Schuhe wieder an. „Ist sie denn gekommen?“ „Keine Spur!“ Miß Bothwell die Ältere gab ein rasselndes Gelächter von sich, als ob man mit einem Blechlöffel einen Topf auskratze. „Ich hörte zwar, wie sich ein Auto näherte, aber es fuhr zum Glück vo rüber. Das war Mr. Cameron, der Metzger. Wahrscheinlich kam er wieder mal aus Jacobswhinnie von seiner Liebsten, hihi! Aber es hätte ja genausogut ein Taxameter sein können, deshalb hab’ ich vorsichtshalber den Uhu schreien lassen. Wenn ihr wollt, könnt ihr noch mal raufgehn.“ Aber weder Macpherson noch Ginnie konnten sich dazu entschließen. So war ihnen Miß Bothwell dabei behilflich, die Grundstücke wieder zu wechseln. Auf dem Weg ins Haus wagte Macpherson eine kurzgefaßte Bitte, die er vorerst heimlich an Ginnie richtete, bevor er die Hausherrin selbst darum anzugehen wagte: „Könnte ich vielleicht hier übernachten?“ Er dachte an das Individuum mit dem Nylonstrumpf und Knüppel. Wer gab ihm die Gewähr, daß es ihm heute nicht schon wieder vor dem Gasthof auflauerte? Schließlich konnte er von Rowena nicht erwart en, daß
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sie sich seinetwegen jeden Abend die Haare wusch. Auch diesmal stellte Ginnie ihre überdurchschnittliche Intelligenz unter Beweis, indem sie ihn sofort verstand. „Kann mein Freund Fourthy nicht heute nacht auf der Couch in der Wohnstube schlafen, Ma?“ Schmeichelnd umschlang sie den braunen mütterlichen Bademantel. „Er hat zwar ein Zimmer drüben im ‚Queens Lover’, oder wie der Schuppen heißt, aber du weißt doch, Ma, was das für Betten sind! Strohsäcke sind Kükenflaum dagegen…“ Miß Bothwell kicherte, wobei sie schelmisch drohend den Zeigefinger hob. „Wenn du mir versprichst, daß du deine Tür abschließt, Ginniemädchen?“ Ginniemädchen versprach es und besiegelte das Ganze durch lautes, ungehemmtes Gähnen. „Sagen Sie mal, junger Mann“, Miß Bothwell die Ältere kam mit Kopfkissen und Wolldecke noch einmal zu Macpherson in die Stube und blickte ihm auf seltsame Weise tief in die Augen, die voll Dankbarkeit auf sie gerichtet waren, „es geht mich zwar nichts an – aber haben Sie das silberne Etui denn auch gefunden?“ Macpherson schüttelte langsam den Kopf, dessen rosa Pflaster mittlerweile die Patina eines Kartoffelsacks angenommen hatte. „Sehen Sie“, sagte Miß Bothwell befriedigt, „das wollte ich nur wissen. Ich hab’ nämlich gleich gemerkt, daß Sie gar kein Raucher sind. Während des ganzen Tees haben Sie kein einzigesmal daran gedacht, sich eine anzustecken. Aber, es geht mich, wie gesagt, nichts an, was Sie in Wirklichkeit bei Mrs. Killigrew gesucht haben. Außerdem bin ich sicher, daß meine Gin-
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nie nie etwas Une hrenhaftes mitmachen würde. Schlafen Sie gut! Ich werde Sie kurz nach fünf wecken, damit wir noch gemütlich frühstücken können, bevor ihr wieder abreist!“ „Was willst du jetzt weiter unternehmen?“ Ginnie blinzelte träge in die Morgensonne, die den Bus auf seiner Fahrt von Ballamaddy nach Edwardswhinnieie begleitete. Sie hatte arglos den Mantel geöffnet und rief mit dieser Darbietung die unterschiedlichsten Gefühle bei den Mitreisenden hervor. Während die männlichen Fahrgäste je nach Temperament verstohlen schielten oder anzüglich glotzten, bekamen die beiden älteren Damen, die in Edwardswhinnie einen Krankenbesuch abstatten wollten, vor Entrüstung Augen wie Spiegeleier. Macpherson war zu sehr mit sich und seinen Problemen beschäftigt, um der ungewöhnlichen Teilnahme stärkere Beachtung zu schenken. „Zuerst werde ich ins Städtische Bauamt gehn und versuchen, in die Baubewilligungen der letzten zwanzig Jahre Einblick zu erhalten. Wenn da nichts dabei sein sollte, eben die nächsten zwanzig Jahre. Mit dem Beweis in der Hand rück’ ich Hume auf die Pelle, bis er mir endlich einen schriftlichen Auftrag mitgibt. Denn der bedeutet für mich soviel wie bares Geld. Damit geh’ ich einfach an die Kasse zum alten Ted Crambleeggs und lass’ mir das Fahrgeld nach Edinburgh und zurück aushändigen. Ted, sag’ ich dann, was willst du – Auftrag ist nun mal Auftrag; und wenn der Alte sagt, ich muß nach Edinburgh fahren, kann ich es mir nicht leisten abzulehnen, so gern ich in Ballamaddy bliebe,
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Ted, das kannst du mit glauben!“ Macpherson kicherte morgenfroh. Das Frühstück von Miß Bothwell der Älteren war gut und gehaltvoll gewesen. „Ach ja, und vorher ruf ich noch mal bei Miß Hami lton auf der Post an, ob unsre Dohle wieder eingeflogen ist. Aber wenn meine Vermutungen stimmen, werde ich sie am Sterbebett der alten Erbtante wiedertreffen!“ Ginnies markantes Antlitz glänzte. Sie tätschelte vor aller Augen Macphersons Hand. „Siehst du, mein Wachtelhündchen, jetzt bist du wieder flott wie ‘n alter Freibeuterkahn! So mag ich dich! Und gestern abend wärst du am liebsten in den Leewater gesprungen! Das hast du alles der kleinen Ginnie zu verdanken – die hat bis jetzt noch jedem Lebensmüden wieder Mut und so weiter eingeflößt.“ „Haben Sie gehört?“ tuschelte Miß Abraham in das Ohr ihrer Nachbarin, das einer großen wächsernen Calla glich. „Sie hat ‚Wachtelhündchen’ zu ihm gesagt! Und dieser Unhold schreibt über unser Ballamaddy in der Zeitung! Ich werde das unflätige Blatt noch heute abbestellen! Ich nehme wohl an, daß Sie das gleiche tun?“ „Selbstverständlich, meine Liebe“, flüsterte Miß Mayrose und ließ ihre Ohren unter dem Hut aufblühen, damit ihr ja nichts von dem Gespräch entgehe. Aber insgeheim beschloß sie lüstern, den Genuß dieses verderbten Presseerzeugnisses auf keinen Fall aufzugeben. Bei aller Sympathie und Dankbarkeit, die er für Ginnie hegte, fühlte sich Macpherson dennoch leicht geniert und hätte ihr seine Hand gern entzogen, wenn
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dies möglich gewesen wäre, ohne Ginnie ernstlich zu verletzen. Endlich fuhren sie in Edwardswhinnie ein, und er würde seinen peinlichen Präsentierteller verlassen können. „Sehen wir uns heute noch?“ gurrte Ginnie und faßte seine Jackenaufschläge, um ihn zu küssen. Macpherson ahnte instinktiv ihre Absicht und versuchte, sie im letzten Moment davon abzuhalten, indem er ihr kameradschaftlich auf die Schulter haute. Die Fahrgäste aus Ballamaddy hatten sich noch immer nicht zerstreut. Sie drückten sich in kleinen Grüppchen auf dem Queen-Victoria-Platz herum und zeigten bedenklich wenig Lust, ihrer Arbeit oder ihren Besuchen nachzugehen. Nach kurzem Kampf hatte Ginnie ihren Willen durchgesetzt. „Laß mir doch meinen Spaß, Süßer“, hauchte sie zwischen zwei Küssen, „siehst du denn nicht, daß ich diese blöden Spießer bloß ein bißchen ärgern will? Gucken sie sehr?“ „Wenn du nicht bald aufhörst, kannst du hingehn und ihre Pupillen aufsammeln wie Eicheln“, sagte Macpherson und wischte sich den Lippenstift ab. „Warum diesen Leuten noch ein Schauspiel liefern? Das war wirklich nicht nötig!“ Ginnie versteckte ein bitteres Lächeln hinter den Kußhänden, die sie ihm stürmisch nachwarf. „Du mußt nicht alles glauben, was ich sage!“ schrie sie ihm hinterher. Macpherson drehte sich um: „Wie bitte?“ Ginnie schüttelte den Kopf. Dann klapperte sie betont aufreizend an den Männern und den beiden ältli-
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chen Damen vorbei und musterte sie mit ihrer üblichen „Lord Darnleys End“-Miene von den preiswerten Schuhen bis zu den dreimal umgepreßten Hüten. „Fast so schön wie Fernsehn, was?“ höhnte sie. „Ach, ihr lahmarschigen Ziegenböcke und alten Puten, ihr!“ „Wir werden uns bei Ihrer Mutter beschweren!“ Miß Abraham heulte auf wie eine gesengte Katze. „Das brauchen wir uns nicht sagen zu lassen! Nicht von Ihnen!“ „Fallobst! Fallobst!“ brüllte Ginnie fröhlich zurück und machte mit den Fingern eine unanständige Geste. Die Männer grienten frech. Eine knappe Stunde später wurde Sir Gilbert McBetty, der Archiv-Vorsteher des Städtischen Bauamtes von Edwardswhinnie, bei der Lektüre des „Conservative Observator“ gestört. Der Leiter der Abteilung „Bauund Anbaugenehmigungen für Ein- und Zweifamilienhäuser“, der ihm schon durch seine brutale Art, Türen zu öffnen, zuwider war, trampelte mit seinen Hochlandstiefeln in Sir Gilberts Morgenfrieden, gefolgt von einem jungen, salopp gekleideten jungen Menschen, den Sir Gilbert vor dreißig Jahren nicht einmal zum Fensterputzen angestellt hätte. Wieder einer von diesen Dorftrotteln, die um jeden Preis Beamte werden wollen, dachte er angeekelt. Und wem halst man sie zuerst auf? Mir! Arme Aristokratie! „Unser junger Freund hier ist Reporter vom ‚Scotch Evening Mercury’“, krähte der von der Bau- und Anbaugenehmigung, wobei er höchst plebejisch mit den Fingern gegen die Zeitung in Sir Gilberts Händen
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schnipste. „Er will einen Artikel über die baulichen Veränderungen Ballamaddys in den letzten zwanzig Jahren schreiben. Sie haben ja gerade nichts weiter zu tun, also suchen Sie ihm bitte die entsprechenden Unterlagen ‘raus! Angenehmen Morgen noch!“ Ohne Macpherson einer persönlichen Ansprache zu würdigen, begab sich Sir Gilbert gemessenen Schritts nach nebenan in das Aktenlager, kehrte mit einem einzigen mageren Leitzordner zurück und ließ ihn elegant auf ein Ablagetischchen fallen – so, als sei das alles (seine Tätigkeit und die ihn umgebenden Requisiten) nur eine Farce, im Grunde aber weit unter seiner Würde. Mit halbgeschlossenen Lidern und zwei nonchalant deutenden Fingern wies er Macpherson auf den herbeigeholten Aktendeckel hin, um sich sodann wieder stumm der Spalte „Kleine Nachrichten“ zu wi dmen. Macpherson war rechtschaffen enttäuscht: zwanzig Jahre – in diesem dünnen Mäppchen? Na ja, schließlich war Ballamaddy kein Neubauviertel, aber immerhin… Er blätterte und blätterte: Metzgermeister Cameron hatte vor vier Jahren ein neues Kühlhaus angebaut… Miß Glennys war auch darunter. Vor zehn Jahren hatte sie endlich ihr Verlangen nach einer Glasveranda befriedigt… dann der Umbau der Post zu Lasten der Gemeindeverwaltung… vor achtzehn Jahren war das Pfarrhaus abgebrannt… da – das allerletzte Blatt! Vor zwanzig Jahren hatte Mr. Lionel Ki lligrew die Erlaubnis erhalten, dem Haus seiner Frau, Eleanor Killigrew, zweieinhalb Meter anzubauen! Zweieinhalb Meter – vom Erdgeschoß bis zum Boden. Das war des Rätsels Lösung, das Geheimkabinett auf dem Boden – zweieinhalb unheimliche Meter, hinter
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einer verkleideten Ziegelwand versteckt! Macpherson pfiff den River-Quai-Marsch, bis Sir Gilbert gequält den aristokratischen Mund rechts ein wenig auftat und „Gefälligst aufhören!“ quäkte. Aber inzwischen war die Abschrift im Block. Sogar die Unterschrift des damaligen Leiters von „Bau- und Anbaugenehmigungen“ fehlte nicht. Sir Gilbert war währenddessen von den Kleinen Nachrichten zu „Verloren – Gefunden“ übergegangen, so daß er die Mappe nicht beachtete, die ihm Macpherson dankend hinhielt. Jetzt müßte eigentlich alles programmgemäß verlaufen, dachte er glücklich: Hume – Auftrag – Edinburgh – Mrs. Tipplewater – und ebenda am Kranken- oder Sterbebett Mrs. Killigrew als Alleinerbin eines beträchtlichen Vermögens ertappen. Später ihr Porträt auf der ersten Seite des „Scotch Evening Mercury“, eingerahmt von Macphersons Artikel, das Haupt gebeugt unter der Last einer zündenden Überschrift… dann würde sich nicht nur der Ruhm einstellen, sondern seine Spesen würden auch mit Zins und Zinseszins zu ihm zurückkehren, jedes Fahrgeld, jeder spendierte Whisky… „Na ja“, knurrte Hume, als ihm Macpherson den Aktenauszug des Städtischen Bauamts verlesen hatte. „Geheimkabinett klingt schon salonfähiger als Sofakissen. Aber solange Sie mir nicht beweisen können, daß es sich nicht bloß um eine vergessene Rumpelkammer handelt, sehe ich keine Notwendigkeit, einen schriftlichen Auftrag in Ihre linken Hände zu überantworten. Von mir aus fahren Sie ruhig nach Edinburgh, wenn Sie sich was davon versprechen, aber nicht von unserm
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Geld. Wissen Sie übrigens, daß in zehn Tagen der Erste ist? Guten Morgen!“ Mit bitterem Humor äffte Macpherson seinen Chef nach, aber wohlweislich auf der anderen Seite der gepolsterten Tür. Er stieg die eiserne Hühnerleiter zur Provinzredaktion hinauf, um zu telefonieren – fester denn je entschlossen, auch ohne Hume sein Programm zu verfolgen. Er fühlte sich der Endlösung zu nahe, um jetzt aufgeben zu können. „Oh, guten Morgen, Miß Cl elia, wie geht es Ihnen? Hier ist Macpherson! Sie erinnern sich doch noch an mich? Das ist schön, ja… äh, was ich fragen wollte: Ist Ihnen zufällig bekannt, ob Mrs. Killigrew von ihrer gestrigen Reise schon zurück ist? Bis jetzt noch nicht? Nein, nein, das ist nicht schlimm, im Gegenteil! Ich wollte nur sicher gehn. Vi elen Dank, Miß Clelia, ich hoffe, wir sehen uns bald wi eder!“ Befriedigt hängte Macpherson den Hörer hin, nahm sich einen neuen Stenoblock aus dem gemeinsamen Schreibtisch und verließ den „Scotch Evening Mercury“. Nach zwei Minuten kehrte er allerdings im Laufschritt zurück, um sich bei der Bahnhofsauskunft über die nächste Zugverbindung nach Edinburgh zu erkundigen. Dienstgespräche gingen zu Lasten der Zeitung, und wenn er schon das Fahrgeld vorstrecken mußte, sollte man wenigstens an kleinen Dingen sparen. Kurz vor elf Uhr – also noch eine knappe Stunde Zeit, um sein Konto aufzulösen und sich im Bahnhof rasieren zu lassen. „Wollen Sie nicht wenigstens ein halbes Pfund stehenlassen, Sir?“ bat der Kassenbeamte. Macpherson schüttelte hartherzig den Kopf.
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„Ich brauche alles, bis auf den letzten Penny. Wenn ich Glück habe, werde ich in Kürze ein neues Konto bei Ihnen eröffnen. Wenn’s schiefgeht, hätte ich hinterher sowieso notgedrungen abservieren müssen – kommt also aufs gleiche ‘raus.“ „Oh, Sir, Sie wollen spekulieren? Tun Si e das nicht Sir, auf diese Weise hat der Bruder meines Großvaters sein ganzes Vermögen eingebüßt!“ jammerte der alte Beamte und hielt schützend seine Hände über das Häuflein Scheine. „Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen, Sir?“ „Hab’ schon zuviel in die Sache investiert, mein Li eber“, Macpherson verzog mit ehrlicher Reue die Mundwinkel. „Vier Tage sind nicht mehr zurückzudrehen. Vielleicht würde ich von der Sache Abstand nehmen, wenn ich wenigstens die Spesen erstattet bekäme, aber es gibt keine Gerechtigkeit mehr in Schottland. Also geben Sie schon her, ich muß zum Bahnhof!“ Zu Macphersons Leidwesen war bei den Kleinbahnen die vierte Klasse schon lange vor seiner Geburt eingestellt worden. Er mußte dritter lösen. Von einem Damenterzett über die Behandlung und Verpflegung in staatlichen Krankenhäusern, dem Schweigen eines Kaplans und den Witzen zweier Schnapsvertreter sanft gewiegt, begann Macphersons verläßliches Gehirn alles zusammenzusuchen, was mit Mrs. Tipplewater und Edinburgh zusammenhing, während seine Finger dem Mund fleißig Nahrung in Form von Haferkeksen zuführten. Da war zuerst die alljährliche Sommerreise der Killigrews nach der Hauptstadt. Mit einer Erbtante, und das war Mrs. Tipplewater ohne Zweifel, mußte man
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schließlich Kontakt halten. Soweit war alles klar. Aber schon verwickelte es sich: die letzte überstürzte Reise vor zwei Jahren, die Mr. Killigrew nicht wie sonst mit einem Brief, sondern mit einem so viel teureren Telegramm ankündigte. Warum diese Dringlichkeit, diese Eile, und warum schon im April statt wie gewöhnlich im Sommer? Fühlte er sich bedroht? Aber von wem? Von seiner eigenen Frau? Und was mochte das für ein mysteriöser Brief gewesen sein, den er sich mit der Begründung, die Sache habe sich erledigt, wieder zurückgeben ließ? Während des Aufenthalts in Edinburgh oder – wenn man die Grenzen weiter zog – während seiner Abwesenheit von Ballamaddy verunglückte Mr. Killigrew auf merkwürdige Art und Weise mit seinem Wagen. Wieso war seine Frau nicht bei ihm gewesen? Wenn ja, warum war ihr nicht das geringste zugestoßen? Dann, nach dem Tod des Vaters, das spurlose Verschwinden Maureens, der Tochter aus erster Ehe. Wozu diese Komödie mit der Anstalt oder dem Sanatorium, aus dem sie nie nach Hause schrieb? Entweder war sie ermordet worden wie vor wenigen Tagen ihre Schwester Eileen, oder sie hatte sich die ganze Zeit über bei der Großkusine ihrer Mutter aufgehalten. War sie am Ende gar zu ihr geflüchtet, weil sie sich vor der Stiefmutter fürchtete? Als Macpherson nach zweimaligem Umsteigen endlich die Notbremse eines richtigen D-Zugs über sich fühlte, hatten sich seine Überlegungen so hilflos verknäuelt wie ein Teller Spaghetti. Nur noch eine einzige Frage war klar umrissen übriggeblieben und bewegte ihn bis in die Bahnhofshalle von Edinburgh hin-
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ein: Wie zum Teufel war er überhaupt auf die verdammte Schnapsidee gekommen, sich mit diesen alten Schnuspeln zu befassen, die genaugenommen nichts gemeinsam hatten, als daß die eine vor achtzehn Jahren den Witwer von der Großkusine der anderen geehelicht hatte. Nach gut fünfundvierzig Minuten hatte sich Macpherson fast bis zur King-Charles-Corner durchgefragt. Von jetzt ab brauchte er höchstens noch drei Kilometer zu gehen, denn der bewußte Winkel lag nicht direkt im Stadtzentrum, war aber kaum zu verfehlen, wenn man dem Stadtplan glauben durfte, den Macpherson im Nordbahnhof zu Rate gezogen hatte. Mit den ihm fremden Buslinien hätte er garantiert die doppelte Zeit vergeudet, von dem Fahrgeld ganz zu schweigen. Nach und nach stiegen ihm berechtigte Zweifel auf, ob die seiner Berechnung nach steinalte Dame überhaupt noch verhandlungsfähig sei. Ob es sich nicht vielmehr um ein bettlägeriges Muttchen handle, dem Speichel aus den Mundwinkeln und Tränen aus den Augen rannen, bewacht von einem beschränkten Dragoner in Schwesterntracht. Vielleicht war King-CharlesCorner die Adresse eines Pflegeheims? Aber diese Sorge wurde bald von ihm genommen. Bei Tür Nummer 663 a handelte es sich um den Abstieg in einen Bierkeller, der drei Stockwerke Wohnungen auf seinen schmalen Schultern trug. Sein Name war ausnahmsweise nicht der Historie entlehnt, sondern lautete kurz und bieder „Bloody Dog“. Vor den abwärts führenden Stufen des „Bloody Dog“ spielten zwei Knaben. Der eine von ihnen stand mit hocherhobenen Armen und blickte die Wand an, die
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mit den Jahren etwa in Meterhöhe ihres ursprünglichen rosa Anstrichs verlustig gegangen war. Der andere begnügte sich damit, dem ehemaligen Tonarm eines alten Grammophons Salven wahnwitziger Schüsse zu entlocken. „He, komm mal einer von euch her“, bemerkte Macpherson halblaut. Der Erschossene wandte verächtlich den Kopf: „Bist du ‘n Bulle? Dann kannste wieder abhauen. Wir sehn nie was!“ „Seh’ ich vielleicht so aus?“ Macpherson wußte mit Sicherheit, daß er nicht so aussah, und die Knaben anerkannten das nach kurzer Musterung einstimmig. „Geht klar“, krähte der mit dem Tonarm, zu seinem Freund gewandt. „Ich glaub’, der ist von denen, die immer singen und retten. Wieviel spuckste aus?“ Und er hielt Macpherson seine kleine, dreckige Pfote unter das Undergroundkinn, als fürchte er, es könne bei der geringsten Bewegung herabfallen. „Wie die Ware, so der Lohn“, verkündete Macpherson weise, „aber nicht so auf der Straße. Wie wär’ es mit dem Hauseingang hinter uns?“ „Meine Ma hat gesagt, ich soll ja nich mit fremden Männern in ‘nen Hausflur gehn“, lehnte der Erschossene ab. „Soße in Kopp!“ Sein Freund stieß ihn wohlmeinend an den erwähnten Behälter. „Wo ich mit dabei bin! Der will doch bloß was über jemanden wissen. Wolln Sie doch bloß, Sir?“ Macpherson nickte väterlich, worauf er mit den beiden Knaben in einen nach Urin riechenden Hausflur trat und beim magischen Schummerlicht eines Jugend-
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stil-Glasfensters Näheres über Mrs. Tipplewater zu wi ssen begehrte. Viel Nennenswertes kam nicht zutage. Über die Vermögensverhältnisse der alten Dame wußten die Jungen wenig auszusagen: Immerhin hielt sich Mrs. Tipplewater eine Aufwartung, die dreimal die Woche erschien, und war Eigentümerin eines japanischen Kleinstfernsehers, eines Vierhundert -LiterKühlschranks und verfügte über Telefonanschluß. An schönen Tagen ging sie aus, an trüben versagte sie sich das Vergnügen. Eine feste Zeit dafür schien sie nicht zu haben. Ob in den letzten beiden Jahren etwa ein junges Mädchen bei ihr gewohnt habe? Die Jungen sahen sich an. „Miß McDiarmuid kann’s schlecht sein“, zweifelte der eine. „Die wohnt doch außerhalb.“ Macpherson wurde hellhörig. „Beschreibt sie mir mal ein bi ßchen, eure Miß McDiarmuid – alt, jung und so weiter.“ „Ach, das is so ‘ne Fette“, gab der Coltbesitzer seinen Eindruck wieder und polkte einen alten Bubblegum aus dem Umschlag seiner Gummistiefel. „Die keucht immer mächtig, wenn sie mit ihrem Fahrrad ankarriolt kommt. Dann schließt sie’s mit drei Schlössern an und schafft?s in’n Kohlenkeller, ehe sie aufwarten geht.“ „Und meine Mutter sagt, sie hat zwei uneheliche Kinder“, kreischte der Tote wichtigtuerisch dazwischen. Macpherson winkte dankend ab. So grundlegend konnte sich Maureen zwischen ihrem sechzehnten und achtzehnten Jahr wohl kaum verändert haben. Eigentlich eine Schande, daß er noch nicht einmal ein Foto der Mädchen gesehen hatte. Es mußten doch Klassen-
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bilder existieren. Ginnie nach Fotos fragen, notierte er in Kurzschriftschnörkeln. „Weiter fällt euch nichts ein?“ Die Knaben blickten hilfesuchend auf eine Inschrift an der Flurwand, die aufschlußreiche Einzelheiten über einen gewissen Bob Milcanny bekanntgab und durch eine seine Potenz rühmende Zeichnung höchst schmeichelhaft ergänzt wurde. „Meine Ma sagt, Mrs. Tipplewater trägt falsche Haare“, erhöhte der Gummikauende zögernd den Einsatz, im Ohr den lieblichen Klang kleiner Münzen, die Macpherson in der hohlen Hand tanzen ließ. „Hat sie vielleicht gestern nachmittag Besuch von einer großen schwarzgekleideten Dame bekommen?“ Doppeltes Kopfschütteln. Unter weitschweifigen Ermahnungen zur Sparsamkeit verteilte Macpherson ein Sixpencestück. Dann wählte er die linke der beiden ihm gegenüberliegenden Türen, die Nummer 662 b. In der zweiten Etage verhielt Macpherson vor einem ovalen, altmodischen Porzellanschild mit dem handgemalten Namenszug „Byron Benjamin Tipplewater“ und darunter in der gleichen Ausführung „tobacconist exp. & imp.“, woraus er unschwer schloß, daß der verblichene Mr. Tipplewater mit den Blättern gewisser ausländischer und einheimischer Pflanzen gehandelt haben mußte. Als er den dazugehörigen elfenbeinfarbenen Knopf niederdrückte, erhob sich in jedem Zimmer der Wohnung zartes, durchdringendes Läuten. Wahrscheinlich ist die Alte schwerhörig, dachte Macpherson. Er flehte im Geist sowohl alle noch tätigen als auch schon abgedankten Heiligen um eine Inspiration
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an, wie er das Vertrauen von Mrs. Tipplewater und die dazugehörige Einladung ins Innere des Appartements erringen könne. Während er fieberhaft überlegte und wieder verwarf, war es ihm entgangen, daß sich inzwischen die Tür geöffnet hatte und ihn jemand über die Sicherheitskette hinweg scharf fixierte. In seiner Verblüffung rückte Macpherson mit der Wahrheit heraus, von kleinen Vorbehalten abgesehen, was sich, wie schon so oft, auch hier als das beste erwies und seiner Einfalt Türen auftat, die als uneinnehmbar galten. Nachdem die gepflegte kleine Knochenhand seinen Presseausweis in Empfang genommenen und zur Begutachtung an die pechschwarze Äuglein weitergereicht hatte, kam es ihm vor, als ob in jene plötzlich ein munteres, listiges Funkeln trete. So, als ob sich die alte Dame über irgend etwas köstlich amüsiere. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, junger Mann“, piepse ein zartes Greisenstimmchen. Die Kette fiel, und Macpherson sah sich einem zierlichen alten Frauchen gegenüber, dessen Pagenfrisur seidig und schneeblau die dezent geschminkten Wangen einrahmte. Der magere Körper war in einen goldblonden Kimono gewickelt, auf dessen Grund allenthalben feuerspeiende Drachen ihre gespaltenen Zungen zeigten. Auch der Salon, in den das exotische Muttchen ihn führte, glich einer Schmierenbühne, die „Butterfly“ aufführt. Wie ein Vögelchen ließ sich Mrs. Tipplewater auf der Ottomane nieder, um aber sogleich geschäftig wi eder aufzufliegen. Sie bereitete einen – wie sie behauptete – echt japanischen Tee, den Macpherson insgeheim ziemlich dünn fand und lieber gegen schottische
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Machart umgetauscht hätte. Von der Teekanne und den Schalen grinsten ihn merkwürdig verzeichnete Figuren an, die Sonnenschirme geschultert trugen und immerfort über kleine Brücken marschierten. Wer sie auch immer gemalt haben mochte – eins stand außer Zweifel: Japan hatte er nie gesehen. „Sie bewundern mein Service?“ Mrs. Tipplewater nippte anmutig an ihrer Teeschale. „Wenn Sie wüßten, wo ich diesen Schatz aufgetrieben habe – Sie würden es nicht glauben, Mr. Macpherson. Bei einem Trödler in Dover, als Mr. Tipplewater und ich vor dreißig Jahren eine Reise nach dem Kontinent antraten!“ Macpherson nickte sachverständig und verschluckte im letzten Moment ein gedankenloses „So was Ähnl iches hatte ich mir gedacht.“ Da es zwischen den engstehenden Häusern der King-Charles-Corner früher dämmerte als allgemein um diese Jahreszeit üblich, knipste Mrs. Tipplewater einen rotseidenen Lampion an, der den ganzen ostasiatischen Salon mit Tangobeleuchtung versorgte. „Wollten Sie mich nicht über Vanessa Killigrew ausfragen, junger Mann, mit der ich – genaugenommen – gar nicht verwandt bin? Die arme Eleanor, die erste Mrs. Killigrew, war meine Großkusine. Die zweite Frau von Lionel ist mir von Anfang an unsympathisch gewesen – kein Fluidum, keine Phantasie, bar jeglichen Charmes, aber was rede ich, Sie kennen Sie wohl selbst zur Genüge!“ Mrs. Tipplewater brach in prustendes Gekicher aus, das nicht enden zu wollen schien. „Jaja“, fügte sie abschließend noch etwas rätselhaft hinzu, „Lionel hat immer gewußt, was er tat. Und er
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tat es ganz gut, auf jeden Fall tat er es konsequent, das muß man ihm lassen, jaja…“ „Sie geben mir das Stichwort“, versuchte Macpherson einzuhaken, denn Mrs. Tipplewater schien sich auf einen neuen Heiterkeitsausbruch vorzubereiten, „könnten Sie mir bitte etwas Näheres über die letzte Reise von Mr. und Mrs. Killigrew mitteilen? Soweit ich unterrichtet bin, waren Sie das Ziel des Besuchs. Weshalb ging diese Reise so überstürzt vor sich, und wie kam es zu dem merkwürdigen Unfall?“ Mrs. Tipplewater kreuzte die welken Händchen über dem goldblonden Kimono, wobei sie einen Drachen verdeckte, und lächelte sehr süffisant. „Aus der Art Ihrer Fragestellung ersehe ich, daß Ihnen jegliche Subtilität abgängig ist. Für Salonstücke und große Monologe wären Sie nicht geeignet, höchstens für den Opernchor, die nehmen ja heutzutage alles. Aber was ich fragen wollte: Gehen Sie immer so… äh… ich möchte nicht sagen primitiv, aber so tolpatschig vor?“ Macpherson erwog noch den Gedanken, eine dieser scheußlichen Tassen wie unbeabsichtigt fallen zu lassen, als Mrs. Tipplewater schon weitersprach. Und diesmal glaubte er echte Herzlichkeit herauszuhören. „Nichts für ungut, junger Freund, ich bin manchmal ein wenig boshaft! Sie müssen eine alte Frau nicht so ernst nehmen, die in ihrer Einsamkeit etwas wunderlich geworden ist. Ich bin sicher, wir werden uns noch ausgezeichnete Stichworte geben!“ Macphersons Unterbewußtsein, wie immer treu auf der Hut, warnte ihn, das Kokettieren mit dem Alter und den damit verbundenen Schrullen sei nichts als The a-
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ter und dieses greise bunte Drachenvögelchen mache sich nur einen unterhaltsamen Abend mit ihm. Und er hatte gefürchtet, ein triefäugiges Mütterchen vorzufinden! Aber all das Zwitschern, das Kimono- und Seidenpapiergetue täuschte ihn nicht über das Gefühl hinweg, es mit einer geriebenen alten Füchsin zu tun zu haben. „Ja, Lionels letzte Reise…“, fuhr Mrs. Tipplewater fort, „ich kann mich noch gut entsinnen, daß er ein Telegramm sandte, denn seit dem Ableben von Mr. Tipplewater bin ich gottlob von solchen Aufregungen verschont geblieben. Sie müssen nicht annehmen, daß es Lionels Art war, mich mit Telegrammen zu bombardieren. Er war im Gegenteil immer sehr rücksichtsvoll. Es muß eine unaufschiebbare Angelegenheit sehr privater Natur gewesen sein, die ihn bewog, die Sommerreise schon im April anzutreten und noch dazu so von heute auf morgen, nicht wahr? Ich war gar nicht darauf eingerichtet. Aber zum Glück brauchte ich diese unangenehme Person, ich spreche von Vanessa, nicht so lange wie sonst zu ertragen.“ „Hat Mr. Killigrew Ihnen als Verwandte denn nicht seine Gründe anvertraut?“ bemühte sich Macpherson, die Kundgebung weiblicher Antipathie abzukürzen. Was zum Henker redet sie bloß immer um den Brei herum und versucht mich mit solchen blöden Abstechern hinzuhalten, dachte er mißtrauisch. „Leider nein“, Mrs. Tipplewater zeigte sich betrübt und bieder, „das hat er nicht getan. Aber ich glaube nicht fehlzugehen mit der Annahme, daß es dabei um Maureen ging, wie schon manches Mal zuvor. Das arme Kind litt schon längere Zeit an einer schwachen
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Lunge, und die Stiefmutter drängte Lionel, er solle das Mädchen in ein Sanatorium bringen. Aber Lionel hing abgöttisch an Maureen, er brachte es einfach nicht übers Herz. Während der Mahlzeiten, die sie bei mir einnahmen, warf er seiner Frau mehrmals eigenmächtige Handlungen vor, die er gerade noch habe verhindern können. Sie hatte sich wohl brieflich an einen berühmten Professor zu wenden versucht. Ach, das war eine häßliche Szene! Ich weiß noch, daß ich aufstand und hinausging. Denn als Vanessa erfuhr, daß Lionel ihren Brief abgefangen hatte, wurde sie so ausfällig, wie ich es noch nie von einer Dame gehört habe. So hätte sich meine arme Eleanor nie aufgeführt! Diese Frau aber drohte mit ich weiß nicht was allem – kurz und gut, ich verließ mein eigenes Zimmer! Dann ve rsöhnten sie sich wieder, es hatte jedenfalls den Anschein. Lionel holte Portwein, wenngleich er sehr still und nachdenklich schien. Am Nachmittag fuhren sie spazieren, das heißt, Vanessa wollte Ostergeschenke für die Mädchen kaufen. Was Lionel vorhatte, teilte er mir nicht mit. Beide versprachen, zum Abendessen zurück zu sein. Gegen fünf kam Vanessa allein mit zwei wohlfeilen Schlafanzügen. Bis Mitternacht warteten wir auf Li onel, dann meldeten wir sein Verschwinden der Polizei. Er hatte Vanessa im Einkaufszentrum abgesetzt, so erzählte sie jedenfalls, und war dann weitergefahren, ans Meer hätte er gesagt, um auf andere Gedanken zu kommen. Nach Tagen fand man dann bei Ebbe den zertrümmerten Wagen unterhalb einer Klippe. Ob es nun ein Unfall war oder die anderen Gedanken, auf die Lionel gekommen war, vermag ich nicht zu sagen. Aber Lionel wußte schon immer, was er woll-
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te. Nur ihn selbst fand man nie. Vermutlich haben die Wellen die Leiche ins offne Meer hinausgetragen, was weiß ich.“ „Sie kann es also nicht gewesen sein…“, meditierte Macpherson halblaut, „wie wäre sie sonst nach zwei Stunden von der Küste wieder hierhergelangt. Nein, das ist technisch unmöglich. Schade, sehr schade!“ „Warum schade, mein lieber, junger Sherlock Holmes?“ Mrs. Tipplewater lächelte wieder, sehr süffisant und sah ganz und gar nicht mehr bieder aus. „Weil ich Mrs. Killigrew des Mordes an ihrem Mann und ihren beiden Töchtern überführen will“, entgegnete Macpherson grober, als es in seiner Absicht lag. „Oh, wie plump“, sang denn auch Mrs. Tipplewater und richtete die Blicke in nachsichtiger Verachtung auf ihren roten Lampion. „Und was hatten Sie ihr für ein Motiv zugedacht, wenn ich fragen darf?“ Macpherson beschloß, alles auf eine Karte zu setzen: „Das Motiv sollten Sie sein, Madam. Genauer ausgedrückt: Ihr Vermögen!“ Die kleine, alte Faschingsgeisha jauchzte und schlug die Händchen zusammen. „Mein Vermögen!“ Mit einem Schlag wurde sie ernst und starrte Macpherson böse an. „Außer dem exotischen Krempel, den Sie hier sehn und ein paar antiken Stücken im Schlafzimmer besitze ich nicht einen Pfifferling! Ich lebe von den Zinsen der Lebensversicherung Mr. Tipplewaters, und die sind nicht darauf eingerichtet, große Ersparnisse zurückzulegen“, erwiderte sie im gleichen groben Ton, den er angeschlagen hatte. „Und selbst wenn ich Millionen besäße, würde Vanessa nicht einen Fart hing erben, das weiß sie selbst nur zu gut!“
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Macpherson ließ sich nicht anmerken, wie ihn dieser erneute Schlag ins Wasser traf, der seinem schönen Plan den Lebensnerv durchschnitt, sondern begann im harmlosesten Plauderton seine Hypothese darzulegen: „Aber was halten Sie davon, Mrs. Tipplewater: Die beiden sind gar nicht erst am Nachmittag losgefahren, sondern bereits am Vormittag, hm? Mrs. Killigrew veranlaßte ihren Gatten zu einer längeren Spazierfahrt, um sich einmal richtig auszusprechen, überrumpelte den Arglosen – schließlich ist sie einem Mann kräftemäßig durchaus gewachsen – und versteckte die Leiche an einem sicheren Ort, einer Höhle unterhalb der Klippen, was Sie wollen. Anschließend warf sie den Motor an und ließ den Wagen seelenruhig über die Kl ippen hinabstürzen. Worauf sie noch genug Zeit besaß, um zur nächsten Bahn- oder Busstation zu pilgern, in Edinburgh Unterwäsche einzukaufen und zu Ihnen zurückzukehren. Na?“ Mrs. Tipplewaters flinke Mausaugen musterten ihn aufmerksam, solange er sprach. Als er geendet hatte, wiegte sich das geputzte Weiblein vor Lachen hin und her. Das schrille Gekicher riß nicht ab. Endlich ermannte sie sich und streichelte ihm die Hand. „Wie wollen Sie das beweisen, Mr. Holmes? Und wo bleibt das Motiv? Ich wiederhole noch einmal: Ich habe Vanessa nie sonderlich attraktiv gefunden, aber einen Mord – nach Ihrer Version sogar drei – würde ich ihr niemals zutrauen. Dazu ist sie viel zu nüchtern. Zum Morden gehört Phantasie. Ich denke so: Lionel war einfach der Welt und Vanessas überdrüssig und ist im letzten Akt gegangen; was ist da so Besonderes dran?
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Sie haben sich da in etwas Unsinniges verrannt! Geben Sie es auf!“ „Wird mir wohl nichts andres übrigbleiben“, murmelte Macpherson und erhob sich, um für den Tee zu danken und zu gehen. In dem Moment fiel ihm die noch immer ungeklärte Funktion des Geheimkabinetts ein sowie Mrs. Killigrews Bemühungen, dessen Existenz nicht ruchbar werden zu lassen. Schon setzte er an, um Mrs. Tipplewater danach zu fragen, als ihm sein allzeit waches Unterbewußtsein den Finger vor die Lippen hielt. Warum, wußte er nicht zu erklären. Zudem bestand wenig Wahrscheinlichkeit, daß Mrs. Tipplewater davon wußte. Hatte sie doch noch nie einen Fuß in das gute, alte Ballamaddy gesetzt; denn das hätte Miß Hamilton ihm nicht verschwiegen. Aber wenn, überlegte Macpherson weiter, Mrs. Tipplewater doch in das Geheimnis der Bodenkammer eingeweiht war und trotzdem mit keinem Wort daran rührte, bedeutete das für ihn selbst nur ein Grund mehr, über seine Entdeckung den Mund zu halten. Schon um der eigenen Sicherheit willen. Und er dachte an das Strumpfgesicht mit dem Knüppel. Da er auf dem spartanischen Pfühl der Bahnhofsmission lange keinen Schlaf fand und die ebenda genossene Pennysuppe unruhig durch seine Därme klagte, versuchte Macpherson wieder und wieder, in Mrs. Tipplewaters Bericht eine schwache Stelle zu finden. Doch nur bei einem Satz schlug sein vielzitiertes Unterbewußtsein aus wie eine Haselrute über der unterirdischen Quelle: „Lionel hat immer gewußt, was er tat. Und er tat es ganz gut, auf jeden Fall tat er es 117
Und er tat es ganz gut, auf jeden Fall tat er es kons equent, das muß man ihm lassen…“ Aber trotz Hin- und Herwendens konnte er dem Ausspruch keinen anderen Sinn als die Erklärung des vermutlichen Selbstmordes abgewinnen und rang sich letzten Endes zu der Erkenntnis durch, daß ihn die alte Dame fürchterlich zum Narren gehalten habe, vielleicht gerade dadurch, daß sie bei gewissen Punkten so nahe bei der Wahrheit blieb. Aber auch diese Annahme konnte er nicht begründen. In den frühen Mittagsstunden kehrte Macpherson nach Edwardswhinnie zurück. Ohne Umschweife begab er sich nach dem Queen-Victoria-Platz zum Zwölf-UhrBus, da er keine Veranlassung sah, Hume mit seiner totalen Niederlage zu behelligen. Davon würde jener früh genug erfahren. Immerhin blieben ihm noch acht Tage, um sich mit aller Kraft und Dipl omatie in das Geheimnis der mysteriösen Bodenkammer hineinzuknien. Außerdem galt es, dem Benehmen von Mrs. Killigrew schärfste Aufmerksamkeit zu wi dmen. In der kleinsten, für sie ungewöhnlichen Handlung konnte der Schlüssel zu allem liegen. Ob sie schon zurück war? Ein jäher Schreck durchzuckte ihn wie eine Hitzewelle: Wenn sie nun überhaupt nicht wiederkam? Wenn sie nach der beendeten Familienliquidierung das Weite gesucht hatte, um ihren (Macpherson leider unbekannten) Plan bis zu Ende zu verfolgen? Geschickt eingefädelt, das mußte er zugeben: An der kleinen Reisetasche war nichts Verfängliches; hatte er nicht selbst zuerst angenommen, sie wolle nur in den Kunstgewerbeladen fahren? Zwar behaupteten die beiden Knaben, daß ihnen kein Damenbesuch aufgefal-
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len sei, aber dabei war zu berücksichtigen, daß sie sich nach Einbruch der Dunkelheit wahrscheinlich in ihre elterlichen Hauptquartiere zurückzogen. Bei dem Gedanken, daß Mrs. Killigrew während seiner Unterredung mit Mrs. Tipplewater hohnlachend im Nebenzimmer gesessen haben könne, begann ihn die verharschte Beule erneut zu schmerzen wie die Wunde jenes Sagenhelden beim Auftreten seines Mörders. Obwohl sein Hemd zwei Tage alt war und er sich seit 26 Stunden nicht rasiert hatte, widerstand Macpherson seinem Verlangen nach dem gepumpten Grundwasser des „Last Lovers“ und wählte den Umweg durch die bewußte stille Straße. Um offenen Mundes vor dem Gitterzaun Wurzeln zu schlagen… Im hohen Gras des Killigrewschen Gartens stand ein Liegestuhl. Darin räkelte sich ein unwahrscheinlich langbeiniges Mädchen und drehte voll lässiger Anmut mit der nackten Zehe am Skalenknopf eines Kofferradios. Sie hielt die Arme unter dem Kopf verschränkt, von dem ein Wasserfall aprikosengoldenen Haares bis ins Gras herabfloß. Auf ihrem Gesicht lag ein flaches Strohhütchen, wohl um es vor der prallen Sonne zu schützen; denn daß sie nicht schlief, bewiesen ihre Füße, die ihm Rhythmus des italienisch gekeuchten Hits auf und ab wippten. Das Mädchen schien Macphersons stiere, hilflose Blicke auf sich zu fühlen, denn es lüftete das Hütchen ein wenig, um ihm aus zusammengekniffenen Augen ein Blinzeln zu schenken. Mit brennender Scham wurde er sich plötzlich seines Aufzugs bewußt: Hemd offen bis zum Nabel, die lockere Krawatte zeigte auf halb
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acht, das Jackett ließ er im Staub nachschleifen, und die Leinwandmütze mit ihren Spuren von Vogeldreck und Spinneweben setzte allem im wahrsten Sinn des Wortes die Krone auf. Seine trockene Kehle machte einige unsinnige Schluckbewegungen, bevor er, tölpelhaft wie ein Golem, seine Gehwerkzeuge anhob. Erst ein gezischtes „Hehe! Mr. Macpherson! Hehe!“ brachte ihn nach Ballamaddy zurück. Hinter der Eisbeerenhecke lauerte Miß Bothwell die Ältere und machte mit den Händen, die in zerlöcherten Gartenhandschuhen steckten, beschwörende Gesten, wie eine Hexe, die ein schwarzes Huhn in einen Jüngling verwandeln will. Der Schutz der Hecke löste den Bann, der sich beim Anblick des rothaarigen Mädchens auf Macpherson gesenkt hatte. Miß Bothwell zerrte ihn um ihr Häuschen herum zu den Salatbeeten, an denen sie gerade gejätet hatte. Erst hier schien sie sich sicher und außer Hörweite zu fühlen. „Was sagen Sie dazu!“ krächzte sie und wies mit dem Handschuhdaumen in die bewußte Richtung. „Gestern nachmittag ist sie zurückgekommen, und wen hat sie mitgebracht? Maureen! Maureen ist wieder aufgetaucht, Sie wissen doch, die vor zwei Jahren so spurlos verschwunden war. Mrs. Killigrew hat sich sogar herabgelassen und heute morgen mit mir ein paar Worte gewechselt, als der Junge die Milch brachte. Sie hätte sich nach Eileens schrecklichem Ende so allein gefühlt, hat sie gesagt, daß sie sich kurzerhand entschlossen hätte, ihre Stieftochter aus dem Sanatorium zu nehmen. Die sei ja nun wieder völlig gesund, nur noch ein wenig zart und erregbar. Und wir sollten ihr
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nicht verraten, auf welche Weise Eileen umgekommen sei. Maureen hätte ja so an ihrer Schwester gehangen, und sie selbst habe ihr erzählt, die arme Eileen sei an Gehirnentzündung gestorben. Und mich hat sie beauftragt, das ein bißchen unter die Leute zu bringen!“ (Worin Miß Bothwell sich schon fleißig übte.) „Mich! Na hörn Sie mal, hab’ ich ihr geantwortet, halten Sie mich am Ende für ein Klatschweib, meine Beste? Lassen Sie’s doch austrommeln, oder schlagen Sie in der Konditorei ‘nen Zettel an! Der Blick von ihr – ich versichere Ihnen, wenn der Suppe gewesen wär’, ich hätt’ sie nicht ausgelöffelt!“ Dann neigte Miß Bothwell sich vertraulich zu Macphersons Ohr: „Vielleicht kriegen Sie von der Kleinen da Ihr echt silbernes Zigarettenetui zurück, hehehe!“ Sie stieß ihn neckisch vor die Brust, um ihn in ihrer feinfühligen Art an die vorletzte Nacht zu erinnern und an das kleine Geheimnis, das sie miteinander verband. Sie erkundigte sich noch, ob Ginnie gut in Edwardswhinnie gelandet sei, und lud ihn sodann zu einer Tasse Tee ein. Aber Macpherson lehnte dankend ab. Ihm stand der Sinn mehr nach Wasser ohne Zusätze, mochten diese nun aus Indien oder China stammen. Erst als er sich aus dem weißen Steinzeugbottich in seinem Zimmer ein wenig erfrischt hatte und von seinem Bett aus die Wasserflecke studierte, die zusammen mit dem Kerzenblak ein modernes Deckenfresko ergaben, wurde er sich bewußt, daß er wieder einen Stich verloren hatte. Aber wer konnte ahnen, daß die Killigrew Maureen so lange in der Hinterhand behielt, um sie erst in letzter Sekunde auszuspielen? Was sollten ihm jetzt noch das Sofakissen und die läppische
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Rumpelkammer? Wahrscheinlich handelte es sich um einen toten Raum. Außerdem war es möglich, daß Mrs. Killigrew überhaupt nichts davon wußte; war er doch angebaut worden, bevor sie ins Haus kam. Und das Poltern, das Ginnie erschreckt hatte, mochte ein loser Ziegelstein gewesen sein, mit dem die Ratten Boule gespielt hatten. Vermutlich wäre auch für die Brauerei auf dem Kissen eine Erklärung gefunden worden, wenn er Mrs. Killigrew nicht durch seine undelikate Art zu fragen brüskiert hätte. Hume hatte schon recht, wenn er ihm seinen Überschuß an Phantasie als Ballast für den Beruf eines Korrespondenten der Provinzseite vorwarf. Statt die Meldung über den Mord damals sofort durchzugeben, wie es seine Pflicht gewesen wäre, hatte er sich von persönlichen Antipathien leiten und von dieser Plundergebäckwachtel Miß Glennys Flöhe ins Ohr setzen lassen. Teure Flöhe, nebenbei gesagt. Ein Verdacht, der auf solch schwachen Hühnerfüßen stand, mußte ja notgedrungen zusammenfallen. Das einzige positive Ergebnis – die Entdeckung des mutmaßlichen Geheimkabinetts – war allein der Mitarbeit und Initiative Ginnies zu verdanken. Er für sein Teil hatte nur Fehlschläge zu verzeichnen: z.B. die kleine, alte Dame, die in Edinburgh über einem Bierkeller wohnte, die das Vorhandensein mordverursachenden Vermögens bestritt und ihn dadurch seines schönen Motivs beraubte und die nicht zuletzt der Killigrew ein Alibi lieferte, an dem man nur mit handfesten Beweisen deuteln konnte. Als er sich erhob, um sich in seinen besten Anzug zu werfen und mit dem 17-UhrBus nach Edwardswhinnie zu fahren, hatte er einen traurigen, aber festen Entschluß gefaßt.
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Die Mittagshitze war zu einem angenehmen Nachmittag erschlafft, die Schmetterlinge flogen langsamer, und überall wurden die Kinder mit Untersetzern und Sahnekännchen in den Garten geschickt, um die Teetische zu decken. Allein Macpherson verspürte weder Hunger noch Durst. Zumindest keinen irdischen. Der rehbraune Anzug, die geliebte Pfauenaugenkrawatte und der zögernde, würdige Schritt, mit dem er die Stufen zum Postamt erklomm, erweckten von weitem gesehen den Anschein, als sei er im Begriff, um Miß Hamiltons Hand anzuhalten. Nur sein Gesicht paßte im Ausdruck nicht ganz zu dem erwähnten Bild. Es glich eher einem bebrillten, rotbäckigen Orpheus, der seine Eurydike zum zweitenmal und nun für immer verloren hat. Nach kaum einer Viertelstunde verließ Macpherson das Postgebäude wieder im Trauermarschtempo. Hinter ihm schloß Miß Hamilton eine halbe Stunde zu früh das Postamt ab, um mit kleinen Schreien der Verzükkung in ihr Jungfernstübchen hinaufzueilen und Baldrian auf Zucker zu nehmen. Hume war ausnahmsweise mal glänzender Laune. Sein Leitartikel über den Ministerwechsel hatte ihm fünf begeisterte Zuschriften eingetragen. Wohlwollend musterte er Macphersons guten Anzug. „Hübsche Anschaffungen von unserem Geld gemacht, he? So was kann ich mir nicht leisten! Wenn ich an den Einsegnungskittel denke, in dem Sie damals hier vorstellig wurden… Na, lassen wir das. Was haben Sie denn da für einen Wisch? Wohl wieder eine von Ih-
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ren originellen Spesenaufstellungen? Na, geben Sie schon her!“ Wortlos reichte ihm Macpherson das Papier, in seiner Würde zu sehr verletzt, um etwas zu erwidern. Hume paffte mehrere Verlegenheitswolken aus seiner Bruyere. „Sieh mal an, Mr. Macpherson kündigt! Hätte Ihnen gar nicht so viel Ehrgefühl zugetraut, alter Junge!“ Er schien fast gerührt. „Haben Sie schon was Neues in Aussicht?“ Macpherson nickte stumm. „Darf wohl nicht verraten werden, was? Großes Geheimnis?“ „Briefträger“, gab Macpherson betont gleichmütig zurück. „Ach nee!“ Ehrlich verdattert warf Hume die Fotografie seiner Frau auf den Rücken. „Hier bei uns?“ „Nein, in Ballamaddy.“ „Ach, ich verstehe – Sie wollen am Ball bleiben! Haben den Blödsinn mit der Massenmörderin immer noch nicht aufgegeben, stimmt’s? Nein? Also doch eingesehen, daß das Ganze ‘ne faule Ente war. Besser spät als nie. Tja, mein lieber Macpherson, dann wünsche ich Ihnen alles Gute, äh… na ja, und so weiter. Und wenn Sie die Dame doch noch überführen sollten“, versuchte er sich zum Abschied in einem jovialen Scherzchen, „Sie wissen ja, ich halte Ihnen auf der ersten Seite ein Plätzchen warm!“ Mit einem förmlichen Kopfnicken entfernte sich Macpherson aus dem Zimmer des Chefredakteurs. Und zehn Minuten später, nachdem er aus der Provinzredaktion noch seine alte Thermosflasche, seine Teetasse, seine Spalttabletten und seinen Büchsenöffner ge-
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holt hatte, verließ er für immer den „Scotch Evening Mercury“. In „Lord Darnleys End“ war heute schwacher Umlauf. Die Mädchen wetzten die brombeerfarbene Plüschbank ab, gähnten ausgiebig und umhäkelten Taschentücher. Nur Ginnie strickte. Macphersons Auftritt in dem rehbraunen Zweireiher wirkte wie der Einzug Escamillos im letzten Akt von „Carmen“. Ginnie warf sich ihm an den Hals, und die vier anderen sekundierten ihr mit ekstatischem Fan-Geheul. Dann drängte sie ihn in ihre alte Nische und verschlang die Neuigkeiten wie Konfitüre. „Ich werd’ verrückt, Maureen ist wieder da! Was sagst du – lungenkrank? Daß ich nicht kichere! Der hat nie was gefehlt außer ab und zu ‘ne Tracht auf den Hintern! Na ja, ich will nicht so sein, vielleicht ist wirklich was dran gewesen.“ Plötzlich sah sie Macpherson mißtrauisch an: „Bist du auch sicher, Liebling, daß es wirklich und wahrhaftig Maureen ist? Was hat sie für Haare?“ „Rote“, flüsterte Macpherson verträumt, und seine Hände malten beredt den Fall der seidigen Mähne vom Kopf ins Gras hi nunter, „aber eigentlich trifft es Rot nicht ganz. Es geht mehr ins Goldene, so wie Orangen…“ „Quatsch, Gold!“ Verächtlich stieß Ginnie ihr geleertes Whiskyglas von sich. „Rote Haare sind rote Haare! Du hast dich wohl in sie verguckt, Schätzchen? Ich würde Tag und Nacht ‘ne Perücke tragen, wenn mir so ‘ne Feuernelke auf’m Kopf wüchse. Da lob’ ich mir mein Schwarz – immerhin bin ich bis jetzt damit noch nicht verhungert!“
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Und triumphierend schleuderte sie das kühne Haupt in den Nacken, das der billige Haarlack in einen Saunabesen verwandelt hatte. „Da bist du also jetzt Briefträger, mein kleines Sweetheart! Wenn ich mir dich so vorstelle, mit der großen Posttasche, wie du mir einen Liebesbrief bringst… Richtig süß ist das! Der Gasthof wird nun aber zu teuer für dich. Du mußt woanders hinziehn. Ich hab’s! Du gehst einfach zu Ma! Mein Schlafzimmer ist doch schon so lange leer, und wie ich Ma kenne, wird Sie’s dir halb umsonst lassen, schon aus Freude darüber, daß sie jemanden zum Qua tschen hat. Na, wie finnste das?“ Ginnie bekam unversehens einen ihrer kindlichen Heiterkeitsausbrüche bei dem Gedanken, Macpherson auf diese Weise nun doch noch in ihr Bett zu bekommen, und beeilte sich, ihn gleichfalls in den Genuß dieser Vorstellung zu bringen. Mitten im Gelächter aber wich die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht und machte einem schwer deutbaren Ausdruck Platz. „Dann wirst du direkt neben Maureen wohnen, hast du schon daran gedacht, Baby?“ Sie forschte in seinen Augen hinter den starken Gläsern. Macpherson mied ihren Blick, denn gerade das war sein allererster Gedanke gewesen. Ginnie verstand ihn dennoch und brüllte in falschem Übermut nach frischem Whisky. „Heute abend bin ich ziemlich wohlhabend!“ versuchte Macpherson sie zu trösten und beklopfte prahlerisch seine linke Brustseite. „Ich hab’ mein Konto abgeräumt, bevor ich nach Edinburgh fuhr.“ „Mach keinen Unsinn, Kleiner“, Ginnie sah ihn unter den bemalten Lidern hervor ernst und mütterlich an. „Du hast jetzt ‘n bißchen Marie nötiger als vorher. Ach
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ja, Edinburgh… ich hab’ noch gar nicht gefragt, wie’s ausgegangen ist. Blöd von mir – natürlich war’s ‘ne Fehlmeldung, sonst hättest du ja nicht den ganzen Kram hingeschmissen, hab’ ich recht?“ Macpherson nickte dreimal gedankenschwer und berichtete von Mrs. Tipplewaters Salon über dem „Bloody Dog“, dem abgestrittenen Vermögen und von ihrer Darstellung der Ereignisse im April vor zwei Jahren, die zum mutmaßlichen Unfall Mr. Killigrews geführt hatten. „Und wenn’s nun so gewesen ist, wie du es gesagt hast, und die Alte hat’s für die Kripo bloß ‘n bißchen frisiert? Die Abfahrt der beiden paar Stündchen später stattfinden lassen?“ Macpherson zuckte interesselos mit den Schultern. „Kann ich’s ihr beweisen? Soll ich mich vielleicht anseilen und die Klippen kilometerweit auf Knochen durchfleddern? So schlau wird die Polizei schon damals gewesen sein, schätze ich. Nein, laß nur, Mädchen. Der Zug ist abgefahren. Das Motiv ist futsch, die Stieftochter wieder aufgetaucht, der Mord am Ehemann unwahrscheinlich, und die einzige Leiche, die wir sicher haben, ist ausgerechnet ihre eigene Tochter gewesen. Denk doch an den Zettel vom ‚Truthahngeier’, der bei Eileen gefunden wurde – sogar die Polizei selbst hat eingestanden, daß sie noch keinen einzigen dieser Fälle aufgeklärt hat. Reden wir von was anderem. Willst du noch einen Whisky?“ „Aber Spätzchen, seit wann bist du so leichtsinnig?“ Ginnie umarmte ihn mit allen Armen wie ein netter, kleiner Polyp, so daß der Duft nach Königsveilchen über Macpherson zusammenschlug.
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„Heute wünschte ich, sie hätten neulich lieber Maureen gefunden statt Eileen“, brummelte sie in seinen Jackenaufschlag hinein. „Was hast du gesagt?“ Macphersons Gedanken schwebten ungefähr dreißig Kilometer von Edwardswhinnie entfernt durch einen gewissen verwilderten Garten. „Ach, nichts weiter. Aber du wirst deinen Bus verpassen, Fourthy!“ „Ich fahr’ heute nicht nach Hause“, erklärte Macpherson und schämte sich, daß er nur Mitleid und Freundschaft empfand, nichts sonst. Mein guter Ruf ist sowieso im Eimer, dachte er noch, warum soll ich also nicht wirklich tun, was man ohnehin von mir annimmt? Heute ist der Tag der großen Entschlüsse… Und insgeheim kam er sich herrlich weltmännisch und verlottert vor. Ginnie starrte ihn ungläubig an: „Nicht nach Ballamaddy? Aber wo willst du dann schlafen?“ „Du begreifst doch sonst so schnell, Miß Bothwell. Im Grandhotel war leider schon alles belegt.“ Ginnie bearbeitete die Tischplatte wie ein Schlagzeug. „Ja, bist du denn überhaupt schon achtzehn?“ juchzte sie. Macpherson fühlte sich leicht gekränkt. „Ich bin zwanzig!“ Mit Miß Hamilton war ein gutes Auskommen. Sie fand alles wunderbar, was Macpherson sagte, und nahm jeden seiner kleinen Verbesserungsvorschläge auf wie eine neue Heilslehre. Am dankbarsten zeigte sich der alte Landarbeiter. Seit Jahren schon hatte er
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sich zur Ruhe setzen wollen, war aber von den flehentlichen Bitten der Gemeindeverwaltung und winzigen Aufstockungen seines Gehalts davon abgehalten worden, bis Macpherson ihn ablöste. Er überschüttete die beiden förmlich mit Zuckererbsen und Mirabellchen aus seinem Hausgarten. Ballamaddy war drei Kilometer weit auseinandergezerrt, wenn man die letzten Häuser mitzählte, die sich bis auf den Weg zum Loch Connery hin verstreuten. So war Macpherson den ganzen Tag unterwegs; denn wenn auch nicht für alle Briefe ankamen, so waren doch jeden Tag die verschiedensten Zeitungen und Prospekte von Samenhandlungen und Geflügelfarmen, von Schönheitsmitteln und Reisebüros auszutragen. Mit der Zeit hatten sich die Leute an den neuen Briefträger gewöhnt, wenn es auch anfangs nicht an spitzen Bemerkungen und dummen Witzen gemangelt hatte. Noch schneller aber hatten sie sich daran gewöhnt, daß Mrs. Killigrew sich jetzt nicht mehr wie ein Einsiedlerkrebs in ihrer Backsteinhöhle verkroch, sondern auszugehen begann, was seit dem Tod ihres Gatten so gut wie nie vorgekommen war. Zuerst nur stundenweise: kleine Spaziergänge mit Maureen in die nähere Umgebung – zum Brauereiwäldchen oder zum Loch Connery. Später wagte sie schon kleine Busfahrten allein nach Edwardswhinnie. Und bald trieb sie ihre für eine Witwe immerhin befremdliche Unternehmungslust so weit, daß sie hin und wi eder eine Nacht überhaupt nicht nach Hause kam. Es schien, als sei mit Eileens Tod all ihre mißtrauische Zurückgezogenheit abgefallen und mit Maureens Heimkehr ein in ehrbaren Grenzen gehaltener Leichtsinn eingezogen. Wenigstens
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kam es Macpherson so vor, der als nächster Nachbar nicht umhin konnte, gewisse Vergleiche mit früher anzustellen. Miß Bothwell, seine betuliche Schlafmutter, hatte ähnliche Feststellungen gemacht. Eines Abends gar überraschte sie ihn damit, sie habe am Nachmittag, während des Pflaumenschüttelns, ein Motorrad beobachtet, das bei der Brauerei die Landstraße verlassen habe und auf dem kleinen Wiesenweg mit gedrosseltem Motor bis an Mrs. Killigrews Obstgarten herangeprescht sei. Und die Fahrerin, behauptete Miß Bothwell, sei niemand anders als die Eigentümerin des oben erwähnten Obstgartens gewesen! Diese Vorstellung war so unglaublich und grotesk, daß Macpherson darüber zu lachen wagte: Mrs. Killigrew, immer noch in tiefer Trauer, auf einer schweren Maschine! Miß Bothwell war nicht so schnell zu beleidigen. Sie lachte im Gegenteil herzlich und knarzend mit, während sie Macpherson den Gurkensalat etwas näher schob. „Mir sollen auf der Stelle die Augen platzen, wenn ich lüge!“ stieß sie zwischen zwei Lachsalven hervor. „Mit der Fabrikmarke kenn’ ich mich ja nicht so aus, aber das Dings war noch nagelneu! Es funkelte über die ganze Gemeindewiese. Wahrscheinlich hatte sie’s gerade erst gekauft und wollte nich, daß die Leute sie so sehn. Es war ja auch zum Kranklachen – das Riesenweib mit ihren schwarzen Trauerfummeln auf dem ratternden Dingsda, den Rock sah man überhaupt nich mehr, die Beine in den schwarzen Strümpfen angewinkelt wie ‘ne Heuschrecke, ihren Pfadfinderhut im Ge-
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nick und über der Nase ‘ne Motorradbrille. Ich dachte zuerst auch, ich hätt’ ‘ne Erscheinung. Aber sie war’s – oder ich will nicht mehr Bothwell heißen!“ „Hat sie denn früher auch das Auto ihres Mannes gefahren?“ „Dazu hatte sie kaum Gelegenheit. Wochentags brauchte Mr. Killigrew es doch selber, und sonntags blieben sie meistens daheim. Aber der trau’ ich alles zu – warum soll sie nich auch Motorrad fahren können?“ Miß Bothwell goß sich mit erhabener Verachtung die vierte Tasse Tee ein. Eine Frau mit Fahrerlaubnis war in ihren Augen schlimmer als eine priemende Nonne. „Das ist ja interessant…“ Macpherson lehnte sich gesättigt zurück und kaschierte ein leichtes Aufstoßen. Die regelmäßige Bewegung in der frischen Luft und die reichlichen Mahlzeiten Miß Bothwells – er aß früh und abends zu Hause – schlugen bei ihm an wie eine Badekur. Blühend und wohlgenährt radelte er tagtäglich von einem Ende Ballamaddys zum anderen und ließ sich auf Miß Bothwells frauliches Anraten hin sogar ein dunkles Bärtchen auf der Oberlippe stehen. Das Fahrrad hatte Miß Hamilton für ihn durchgesetzt. Seit er das Bärtchen trug, wurde ihre Schwärmerei immer hingebender, und ihre Häkeljumper wurden immer abenteuerlicher. „…wirklich interessant, wenn’s wahr ist. Ich werde nachher gleich mal über Ihren Gartenzaun steigen und mir die Maschine bißchen näher ansehn.“ „Da ist nichts mehr!“ Miß Bothwell wandte sich geschirrbeladen noch einmal zurück und winkte ab.
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„Sowie alles ruhig war, bin ich ‘runter vom Pflaumenbaum und mit Hilfe der Leiter über meinen Zaun ins Gehölz ‘rein. Niedergetrampeltes Gebüsch war alles, was ich noch sah. Ich denke, daß sie ‘n paar lose Bretter beiseite geschoben und das Dings mit zu sich reingeholt hat. Wenn Sie heute nacht zu ihr rüberkriechen wollen, finden Sie’s bestimmt.“ Macpherson schüttelte den Kopf. Er glaubte ihr auch so. Wozu brauchte Mrs. Killigrew ein Motorrad? Falls es ein Geschenk für Maureen sein sollte, hätte sie wohl eher einen italienischen Roller gewählt. Und woher nahm sie das Geld? Hatten ihr die paar Kissen und Gobelins soviel eingebracht? Sein alter Verdacht, der fast erloschen schien, begann sich erneut zu regen. Doch wie beinahe alle seine täglichen Gedankengänge endete auch diese Überlegung zwangsläufig bei Maureen, und Macpherson entrang sich ein tiefer, seliger Seufzer: Ach, Maureen, Maureen… Die Killigrews empfingen keine Briefe, aber immerhin zwei Tageszeitungen und etliche Modeblätter und Illustrierten, die wohl auf Maureens Wunsch gehalten wurden. Natürlich besaßen sie einen Briefkasten am Gartentor, wie es allgemein üblich war, aber das junge Mädchen wußte es immer so einzurichten, daß sie zu der Zeit, in der Macpherson zu kommen pflegte, sich im Garten aufhielt. An heißen Tagen kam sie ungeniert in einem grünkarierten Bikini zum Tor gelaufen, und die aprikosengoldnen Haare wehten hinter ihr her, als stünde sie in Flammen. Oft auch trug sie weiße Jeans und um die Stirn einen schmalen Seidenschal wie eine
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Indianerin. Immer aber erschreckten und entzückten Macpherson ihre durchsichtigen grünen Augen, deren Farbe Miß Glennys damals mit Pistazien verglichen hatte. Ihr Ausdruck wechselte vom frechen Spott zum offenen Hohn, um unvermittelt in kindliche Verwirrung und wehmütige Zärtlichkeit überzugehen. Manchmal brachte sie eine Blume mit zum Zaun, kokettierte damit, riß die Blütenblätter mit den Zähnen aus, um das Überbleibsel dann dem verlegen grinsenden Macpherson ins Knopfloch zu stecken. Ähnlich verfuhr sie mit kleineren Früchten, einer Erdbeere oder Stachelbeere, die sie anbiß, um den Rest dem verliebten Briefträger zwischen die töricht geöffneten Lippen zu stopfen. Aber es gab auch Tage, an denen sie am Tor vorüberging, ohne auch nur seinen Gruß zu erwidern. Und aus ihren grünen Blicken traf ihn jenes kalte Funkeln, mit dem Katzen ihre Mäuse anstarren, bevor sie zuschlagen, gepaart mit einer derart höhnischen Verachtung, daß es den armen Macpherson eisig überlief. Diese Launen, anders wollte er es nicht nennen, verstörten ihn mehr, als er sagen konnte. Als er sie einmal scherzhaft zur Rede stellte, war sie daraufhin nicht ansprechbar. Sein treues Unterbewußtsein riet ihm unermüdlich, die Finger von diesem seltsamen Mädchen zu lassen. Aber er brauchte sie nur hochbeinig und haarumflossen auf der Straße heranschlendern zu sehen, um errötend ihren Sp uren zu„Der folgen. kleine Postillon sieht heute aber aus! Wie Götterspeise von der Himbeersorte“, konnte dann Maureen mit ihrer brüchigen tiefen Stimme beiläufig bemerken, „man müßte ihn ganz langsam mit einem silbernen Puppenlöffel verspeisen.“
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Offenbar sollte das einer ihrer absurden Scherze sein, von denen er schon manches gehört hatte. Aber Macpherson konnte bei solchen Äußerungen nie auch nur die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht entdecken. Mit ihrer Zurückgezogenheit schien Maureens Mutter, Mrs. Killigrew, auch ihre Antipathie ihm gegenüber aufgegeben zu haben. Er hatte im Gegenteil die Empfindung, als ob sie den Flirt begünstige, da sie jedesmal diskret im Haus verschwand, wenn er sie zusammen mit Maureen im Garten antraf. Macpherson war Maureen rettungslos verfallen, und sein Unterbewußtsein stieß ihn nur noch selten wie ein schwacher Schluckauf. Seine Wirtin erging sich bei den gemeinsamen Mahlzeiten in hemmungslosen und nicht immer salonfähigen Anspielungen. Diese erreichten ihren Höhepunkt damit, daß Miß Bothwell ihm auf ihrer Gabel ein angebissenes Radieschen bot. Wenn sie dann merkte, daß sie zu weit gegangen war, beschwor sie ihn mit ernstem Krächzen, sich Maureen aus dem Kopf zu schlagen. „Das ist kein Bissen für Sie, Mr. Macpherson, nehmen Sie doch Vernunft an! Noch nie ist von dieser Familie je was Gutes gekommen. Ich kenne die Killigrew schon seit achtzehn Jahren, glauben Sie einer welterfahrenen Frau – diese Art Mutter würde eher mit unanständigen Fotos hausieren gehn als ihre Tochter einen Briefträger heiraten lassen. Und ausgerechnet Sie, der Sie doch ihr ganz besonderer Spezi sind! Und wenn’s zehnmal so aussieht, als hätte sie im Moment nichts dagegen…“ Miß Bothwell schüttelte den Kopf mit einer Miene, als spüre sie die ersten Anzeichen einer Pilzver-
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giftung an sich. „Der alte Drachen führt was im Schilde, das riech’ ich wie ‘ne tote Maus unterm Vertiko. Aber wenn Sie je dahinterkommen sollten, wird’s schon zu spät sein. Soll ich Ihnen mal die Karten legen, Mr. Macpherson?“ Doch der wehrte überlegen lächelnd ab, wobei sein neues Schnurrbärtchen schon recht üppig die Flügel spreizte. An einem Vormittag im Oktober stieg Macpherson vom Rad und bemerkte im Killigrewschen Garten ein loderndes Laubfeuerchen. Das war um diese Jahreszeit in Ballamaddy durchaus nichts Ungewöhnliches – der würzige Geruch hing über dem ganzen Ort, wohin er auch fuhr. Überall verfeuerte man abgelebte Tomatenpflanzen und dürre Bohnenranken, die ihre Pflicht getan hatten, und brannte tote Blätter zu Asche. Aber Maureen hockte so selbstvergessen und benommen vor ihrem Feuerchen, als sei es ein Scheiterhaufen, der die Überreste ihres ärgsten Feindes verzehre. Schon wollte Macpherson die Zeitschrift in den Kasten stecken, um sie nicht in ihrer Andacht zu stören, als sie ihn bemerkte und wie aus einer Betäubung erwachte. Sie kam augenblicklich zum Tor gelaufen, um ihn zurückzuhalten. Aus ihren Augen wehte es Macpherson wild und grausam an; er fühlte sich wie ein Haselhuhn, das von einem Steppenbrand überrascht wird. „Kommen Sie ‘rein“, sagte sie rauh, „die dummen Leute können doch mal eine Stunde auf ihre Ergüsse warten. Na los doch, ehe ich es mir wieder anders überlege. Oder haben Sie vielleicht Angst vor mir?“
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Maureen hielt das Tor halb geöffnet und lächelte rätselhaft und lockend. Sie trug eine kurze Jacke aus Wildleder, aber im Halsausschnitt konnte Macpherson weder einen Pullover noch eine Bluse entdecken, obschon es ein recht frischer Vormittag war. Sollte sie etwa gar nichts…? Zuzutrauen wäre es ihr. Das Haar war über den Ohren zu zwei langen Fuchsschwänzen gebüschelt. In Macpherson kämpften der Mann und der Briefträger. Schon in der dritten Sekunde ging der Briefträger zu Boden, und der Mann halfterte die Posttasche vom Gepäckständer, um sie gewissenhaft gegen den Killigrewschen Gartenzaun zu lehnen. Von innen. Maureen zog ihn zu ihrem Feuerchen und ließ die Hand durch die züngelnden Flammen gleiten, als streichle sie einen Geliebten. „Feuer ist für mich wie für andre Sekt… Es macht mich betrunken. Manchmal hab’ ich das Gefühl, ich müßte den ganzen Ort anstecken…“ Sie sprach wie in Trance und klammerte sich mit der anderen Hand an Macphersons Dienstrockärmel. „Können Sie sich das vorstellen: Flammen, nichts als Flammen, wo man hinsieht Feuer, Feuer, Feuer… ah! Es würde sich rächen an all den Nichtswürdigen, die es mit dem Fuß austreten und in ihre läppischen Küchenherde stopfen… Aber mir könnte es nichts anhaben, nicht mir!“ „Denken Sie denn gar nicht an all die Leute, die durch einen solchen Großbrand obdachlos würden?“ Macpherson fühlte sich äußerst ungemütlich. Er hatte sich von der Einladung etwas anderes versprochen als eine Feueranbetung mit sadistischen Wunschträumen.
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„Ach ja, die Leute. Die fallen Ihnen natürlich zuerst ein. Noch nie was von Ästhetik gehört?“ Maureen ließ jäh seinen Arm los, entfernte sich ein paar Schritte und blickte spöttisch über die Schulter zurück. Macpherson unterließ es, darauf zu antworten, und setzte sich zu ihr auf die niedrige Steinbalustrade der Eingangstreppe. Vielleicht ergab sich auf diese Weise eine Gelegenheit, ihr übers Haar zu fahren oder gar den Arm um ihre Hüfte zu legen. „Wie finden Sie sich eigentlich damit ab, jeden Tag den Klatsch der Dorfbewohner breitzutragen?“ begann Maureen zu frozzeln. Wenn sie ihm ihr Gesicht zuwandte, konnte er ihren Atem spüren. „Ich hab’ gehört, Sie waren vorher Reporter und wollten unbedingt beweisen, daß Ma uns alle umgebracht hätte: Papa, Eileen und mich, stimmt’s?“ Ihr kehliges Lachen klang lustig und unbeschwert. Macpherson konnte dagegen nicht behaupten, daß er von dieser Wendung des Gesprächs begeistert gewesen wäre. „Wer hat Ihnen diesen Unsinn erzählt?“ „Natürlich Ma, wer sonst? Über die Sache mit dem Sofakissen und der Vogelperspektive hab’ ich mich halbtot gelacht.“ „Ich habe Ihre Frau Mutter nie merken lassen, daß ich sie eine Zeitlang tatsächlich im Verdacht hatte“, entfuhr es Macpherson wider Willen. Maureen lächelte ihn voll ironischen Mitleids an. „Nein, absichtlich nicht, Sie miserabler Sherlock Holmes!“ Sie legte die schlanken Finger zu einem kleinen, spitzen Dach zusammen und setzte das Gebilde behutsam auf seinen Kopf. „Das ist der Boden“, sagte sie und kicherte, „das war doch Ihre fixe Idee, nicht?“
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„Ich wundere mich nur über das Vertrauen, daß Ihre Frau Mutter Ihnen schenkt!“ Macpherson überkam unter Maureens zarten Händen ein Gefühl, wie es ein Kürbis haben muß, dem man eine Papiermütze aufstülpt. „Zwischen Ma und mir gibt es keine Geheimnisse“, entgegnete Maureen ernst und starrte dabei so abwesend auf die Mülltonne, als habe sie eine Marienerscheinung. „Es würde mich interessieren, ich meine, wie kam Ihre Frau Mutter darauf, daß ich…“ Maureen kicherte abermals. „Oh, es war nicht viel Mühe nötig, das herauszufinden. Ihr Interesse an dem Sofakissen und die albernen Fragen, die Sie Ma deshalb stellten, ließen unschwer erkennen, daß Ihnen unser Boden nicht geheuer vorkam. Dann gingen Sie in den Kunstgewerbeladen am Viadukt und erstanden ein Duplikat der Stickerei – die kleine Verkäuferin hat Sie sehr treffend beschrieben. Macpherson errötete. … und als Ma verreiste, um mich zu holen, besaßen Sie sogar die Frechheit, in unser Haus einz udringen, um unseren Boden zu durchschnüffeln. Leider vergaßen Sie dabei, die Hintertür wieder abzuschließen – das war sehr nachlässig von Ihnen. Sherlock Holmes wäre das nie passiert! Ganz zu schweigen von dem Durcheinander auf dem Boden: die Liegestühle umgeworfen und die Kommode durchwühlt. Aber was in aller Welt haben Sie bloß in der Speisekammer gesucht?“ Sie lauerte mit ihren durchsichtigen grünen Augen von der Seite wie ein sprungbereiter Panther.
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„Wieso Speisekammer… Was wollen Sie damit sagen?“ Macpherson begann blöde zu stottern und spürte ein ungutes Gefühl in der Gegend über dem Magen. „Wieso… dort war doch alles in Ordnung?“ „Natürlich war dort alles in Ordnung, warum so unruhig?“ Maureen pustete ihm eine rotschimmernde Haarsträhne ins Gesicht. „Ich hab’ nur mal auf den Busch geklopft, ob jemand rauskäme, und er kam. Ach, Sie sind schon einer – wer’s nicht kann, soll’s lassen!“ „Ich hab’s ja auch gelassen“, entgegnete Macpherson bockig und rückte ein Stück ab, um aus dem Bereich der kitzelnden roten Locke zu kommen. Wenn sie wirklich bloß auf den Busch geklopft hat, dachte er, weiß sie nichts von dem zweiten Besuch mit Ginnie. Das ist gut, denn Ginnie muß hier rausbleiben. „Ihr Glück! Der Gipfel allerdings war die Fahrt nach Edinburgh, wo Sie das arme Tantchen Maureen aushorchen wollten und sofort mit der Tür, das heißt mit dem Mordverdacht, ins Haus fielen. Aber Tantchen Maureen ist was gewöhnt. Sie war früher Schauspielerin, müssen Sie wissen, bis sie den Fehler beging, sich mit einem steinreichen Engländer zu verheiraten. Danach konnte man ihr am Theater natürlich keine Hauptrollen mehr anvertrauen. Sie kann auch heute das Spielen nicht ganz lassen, daher sind ihr die ungewöhnlichsten Ereignisse gerade gut genug, sich wi eder mal in Szene zu setzen. Als was trat sie denn auf?“ „Land des Lächelns, glaube ich!“ Dankbar gedachte Macpherson der zahl- und endlosen Abonnement sabende, zu denen seine Mama, Mrs. Myrtle Macpher-
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son, ihn mitgeschleift hatte und die ihm heute diese weltmännisch-sichere Antwort erlaubten. „Sieh mal an, ihre Glanzrolle. Hat sie Ihnen keine Fotos gezeigt? Nein? Dann müssen Sie ihr sehr unsympathisch gewesen sein.“ Urplötzlich machte sich Maureen ganz klein, lümmelte die die Arme auf Macphersons Knie und sah von unten zu ihm auf. Ihre Augen waren blank und grün wie unreife Pflaumen, und der Ausschnitt ihrer Lederjacke verriet ihm jetzt ganz sicher, daß sie nicht einmal einen Büstenhalter trug. „So sagen Sie doch schon, was Sie auf dem Boden gesucht haben! Das mit dem Ki ssen war doch nur Bluff, denn was ist schon Verwerfliches dran, wenn sich jemand das umfassendere Panorama aus einem Bodenfenster zunutze macht?“ „Sie haben vollkommen recht, Miß Killigrew“, Macpherson bemühte sich, seine Blicke von Maureens Busenansatz loszueisen, „an sich ist daran nichts Verwerfliches. Um so mehr irritierte mich die ablehnende Haltung Ihrer Frau Mutter, als ich im Gespräch diesen Punkt berührte. Im übrigen können Sie beruhigt sein – die Brauerei auf dem Kissen ist nicht aus einem Ihrer Bodenfenster entworfen worden. Auf jeden Fall“, setzte er einer spontanen Eingebung folgend hinzu, „aus keinem der sichtbaren Bodenfenster.“ Sekundenlang starrte ihn Maureen entgeistert an, fing sich aber sogleich wieder und spielte weiter das amüsierte, angenehm gegruselte Kind, als sei ihr diese Rolle aufgetragen worden. „Aus keinem der sichtbaren?“ wiederholte sie. „Was meinen Sie damit, mein kleiner Postillon? Ein unsichtbares Bodenfenster – das klingt ja fast wie ein Mär-
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chen! Los, gehen wir ‘rauf! Ich will das unsichtbare Bodenfenster sehn!“ Sie schnellte hoch und tänzelte ungeduldig vor dem sitzengebliebenen Macpherson auf und ab wie eine große, schlanke Hornisse vor einer behäbigen Hummel. „Aber Ihre Frau Mutter wird nicht einverstanden sein“, zierte sich Macpherson, „außerdem bin ich im Dienst. Es war überhaupt unverantwortlich von mir, daß ich hier so einfach…“ Und obwohl er sich geschworen hatte, an den Fall Killigrew nicht einmal mehr zu denken, leckte er sich im Geist bereits sämtliche Finger danach, endlich das Geheimnis des toten Raumes zu erkunden. Selbst, wenn es eine Enttäuschung werden sollte, hatte er dann weni gstens Gewißheit. „Keine Sorge, Ma ist nach Edwardswhinnie gefahren“, beruhigte ihn Maureen, „Blumen auf Eileens Grab legen.“ Und erbebend spürte er den Druck ihrer Hand in der seinen, während sie ihn ins Haus zog. Im zweiten Stock ließ ihn Maureen auf dem Korridor stehn, um hinter der Wohnzimmertür zu verschwinden. Mit dem ominösen Sofakissen unterm Arm tauchte sie wieder auf und warf das Pfühl, das mindestens seine vier Pfund Federn barg, Macpherson an den Kopf. Zum drittenmal betrat er den weitläufigen Killigrewschen Bodenraum, der ihm bei jedem Besuch weniger zusagte. Grabeskälte wehte sie an – schließlich war es inzwischen Oktober geworden –, und es zog so entsetzlich wie im Kaminzimmer eines englischen Landsitzes. Als sie an der Kommode vorüberkamen, drohte Maureen mit dem Finger: „Nicht mehr so liederlich sein, sonst gibt’s was!“
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„…von der besten Messerwerferin der Welt!“ fügte Macpherson galant hinzu und freute sich seiner geistreichen Anspielung. Maureen dagegen schien den kleinen Witz ernst zu nehmen, denn sie musterte ihn daraufhin sachlich und interessiert von den Landbriefträgerstiefeln bis zu dem leicht überhängenden Käppi (sein Vorgänger hatte Kopfweite 75 gehabt). „Ich hätte ni cht übel Lust, zu probieren, ob ich’s noch kann“, und ihrer Stimme war anzumerken, daß die Idee sie fesselte, „aber ich bin ein wenig aus der Übung… Sie müßten damit rechnen, ein Ohr oder ein Auge auf der Strecke zu lassen…“ „Hier ist das hinterste Fenster, Miß Killigrew. Wenn Sie bitte einen Blick hindurchwerfen wollen? Ich werde inzwischen das Kissen bereithalten, des Vergleichs wegen.“ Macphersons Munterkeit war von der Art, daß selbst ein von Geburt Tauber die Nachtigall hätte trapsen hören. Aber Maureen kehrte folgsam von ihrer kleinen Abschweifung zurück und begann sogleich pflichteifrig zu staunen. „Ja, tatsächlich, es stimmt! Auf dem Kissen hier ist die Brauerei noch mehr links gesehn. Aber da ist ja kein Fenster mehr, oder doch?“ Macpherson erlaubte sich, Wange an Wange, neben Maureen einen Blick auf die schwarzen, neugotischen Türme zu werfen. Dabei entging ihm (wegen Herzklopfens über die süße Berührung) die große Bereitwilligkeit, mit der sie sich wunderte. „Und wo meinen Sie, Mr. Macpherson, könnte das unsichtbare Fenster sein?“ „Es kann sich nur hinter dieser Holzwand hier befinden, es muß einfach dort sein“, flüsterte Macpherson
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beschwörend, während seine Hände, wie damals in der Nacht mit Ginnie, suchend über die dicken Bohlen glitten. „Es muß eine Tür geben, denn was nützt ein toter Raum ohne Zugang!“ „Sehr richtig“, wisperte Maureen, um laut und entzückt fortzufahren: „Wie schade, daß wir das nicht schon als Kinder gewußt haben! Wie herrlich hätten wir uns hier verstecken können! Das werde ich Ma nie verzeihen, daß sie mir davon nichts mitgeteilt hat!“ Sie half Macpherson mit der Gründlichkeit und dem Eifer eines Kindes beim Abtasten und Abklopfen der Balkenwand. Ihre aprikosenfarbenen Haare verhingen rechts und links das suchend geneigte Gesicht. Ab und zu berührten sich ihre Hände. Plötzlich stieß sie einen spitzen Schrei aus. Ihr Fingernagel war in der tiefen Rinne zwischen zwei Bohlen auf ein winziges Loch gestoßen, das sich in der Höhe ihrer Stirn befand. Kein Wunder, dachte Macpherson, daß wir das nicht entdeckt haben. Wer sucht schon ein Schlüsselloch eine Handbreit unter der Decke? Seine Finger befanden sich schon in der Brusttasche, um die bewährte Haarnadel herauszufischen. Nach einigen Fehlbohrungen setzte er sie erfolgreich an. Ohne das geringste Quietschen oder Knarren lösten sich sieben zusammenhängende Bohlen von den anderen und bildeten eine Tür, die sich nach dem Bodenraum zu auftat. Sie gab Maureen und Macpherson den Blick auf eine zweieinhalb Meter tiefe Kammer frei, die aber so breit war wie das ganze Haus und deren Wände mit einer Rankendes-Geißblatt-Tapete beklebt waren. Sie erhielt ihr Licht von oben durch eine ziemlich große quadratische Dachluke. Aber weder rechts noch
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links ein Bodenfenster, das gesagt hätte: You are right, Macpherson… Blinde Raserei überfiel ihn wie einen Truthahn, dem sein roter Schlenkerzipfel andauernd die Sicht nimmt. Natürlich war es nicht in Ordnung, daß er seine Enttäuschung an der hübschen Geißblatt-Tapete ausließ, noch dazu mit der geballten Rechten. So konnte es geschehen, daß sich zwei offenbar lockere Ziegelsteine mitsamt der aufgeklebten Tapete aus der Wand lösten und fallendem Herbstlaub gleich, nur nicht so lautlos, hinab in den Garten segelten. Ein Klirren und Splittern sowie der Augenschein überzeugten Macpherson, daß er das Frühbeet getroffen hatte. Der zweite Blick bestätigte ihm, daß er hier die Brauerei aus der Perspektive vor sich sah, wie sie das Sofakissen wiedergab. „Sehen Sie doch, Miß Maureen…“ Keine Antwort. Er wandte sich rasch in den Raum zurück, einen Moment befürchtend, daß er allein und die Bodentür wieder verschlossen sei. Doch seine Furcht erwies sich als unbegründet. Maureen war noch da, wenn auch taub und blind für die Begeisterung des kühnen Mauerbrechers. Sie hockte vor einer Kommode neben der Tür und grub sich durch drei Schubladen voll alter Hausschuhe, Pappostereier, Wollplaids und Stickrahmen, daß die Naphthalinwolken nur so stiebten. Also ließ er seine Augen beruhigt durch die Geißblattlaube spazieren: ein weißer, runder Tisch mit zwei weißen Korbsesselchen, auf dem Querbrett zwischen den Tischbeinen ein Korb, aus dem Seidengarne und Knäule quollen wie erstarrtes Mus. Auf einem gußeisernen Blumengestell befanden sich noch Töpfe mit vertrocknetem Hibiskus und Fuchsien. Die rechte
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Schmalwand füllte eine Bettstelle aus, in der sich kornblumenblaues Inlett zu schwellenden Hügeln türmte. An der Bettwand blühten angezweckte Bi lder: ein altes Programm von „Gone with the Wind“, drei Dakkeljunge im Körbchen und noch mehr in dieser Richtung. Auf der Kommode ein Stapel Bücher, vorwiegend Edgar Wallace sowie „Das Kloster“ und „Anne of Geierstein“ vom Nationalheiligen Sir Walter. Während Macpherson noch damit liebäugelte, den „Hexer“ aus rein privaten Gründen in der Brusttasche verschwinden zu lassen, stieß er mit dem Ellenbogen an einen Lichtschalter. Worauf am Kopfende des Betts ein schwaches Lämpchen, mit grünem Velourpapier abgedunkelt, aufflammte. Geistesgegenwärtig ließ Macpherson es wieder erlöschen, bevor Maureen aufmerksam werden konnte. Elektrisches Licht in einer Bodenkammer? Dieser sagenhafte Luxus ließ ihn stutzig werden. Aber alles in allem hatte ihn das „Geheimkabinett“ rechtschaffen enttäuscht. Seine Erwartungen waren mehr auf einen schaurigen Verschlag, auf eine Hexenküche voll kompromittierender Requisiten gestimmt gewesen. Das hier war so nichtssagend wie ein Wart ezimmer. Was war schon dabei, wenn Mrs. Killigrew gelegentlich hier oben saß und ihre Gobelins stickte bzw. gestickt hatte? Obzwar immerhin einz uräumen war, daß sie das im Wohnzimmer viel bequemer hätte haben können. Macphersons vielzitiertes Unterbewußtsein schlug aus wie ein Geigerzähler; aber um das zu klären, brauchte er Ruhe. Vielleicht nachher, wenn er sich wieder auf Tour befand…
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„Soll ich mit suchen helfen?“ Macpherson neigte sich, einem kleinen Gekabbel nicht abgeneigt, zu der immer noch wühlenden Maureen hinab. Sie war jetzt bei der untersten Schublade angelangt, und ihr apfelsinenes Haar schleifte im Staub des Fußbodens. „Nur alter Mist“, informiert e ihn seine schöne Begleiterin freundlich und knallte die Lade mit der Fußspitze zu, als habe sie einen Elfmeter vor sich. „Aber sonst ist es süß hier, nicht wahr? Wissen Sie überhaupt, daß wir ganz allein hier oben sind?“ Maureen ließ ihre Hand auf Macphersons Schulter ruhen, und schon stießen ihrer beider Knie an den Bettrand. Maßlos verwirrt fühlte Macpherson weiter, wie Maureens Finger von der Schulter weg über seinen Kragenspiegel glitten und von da hinauf in sein Haar. Das darf doch nicht wahr sein, dachte er noch, während sie wie selbstverständlich in die nackten blauen Kissen sanken… Aber während er verstohlen die Brille abtat, die beim Küssen nur hinderlich gewesen wäre, bemerkte er mit dem letzten Rest seines Wahrnehmungsvermögens, wie Maureen ihre bis dahin geschlossene rechte Hand öffnete und einen kleinen Gegenstand heimlich unter das Kopfpolster schob. Dann küßten sie sich; aber scheinbar fand Maureen, daß er noch nicht genug bei der Sache sei, denn sie begann an ihrer Lederjacke zu nesteln. „Was soll denn das?“ tuschelte Macpherson beunruhigt. Außerdem glaubte er unten im Haus Geräusche gehört zu haben. Aber Maureen lächelte nur. Ihre Augen waren wie zwei Moorseen – oben klares Wasser, unten Morast. Vorsichtig unterwanderte Macphersons Arm das Kopfkissen. Gerade schloß er seine Finger um
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den in Papier gewickelten Gegenstand, als er draußen auf dem großen Bodenraum Schritte vernahm. Diesmal war eine Sinnestäuschung ausgeschlossen. Maureen konnte das unmöglich überhört haben, dennoch fuhr sie mit ihrer aufreizenden Beschäftigung fort. Es fehlten nur noch zwei Knöpfe. Macpherson überlief es siedendheiß, aber nicht so sehr der offenen Lederjacke wegen. Er tat, als ob er die Knie anzöge, um sich eine bequemere Stellung zu verschaffen, und ließ dabei das eingewickelte Etwas (es war sehr klein und leicht) in die ausgebeulte Tasche seiner Diensthose gleiten. Damit hatte er die letzte Gelegenheit dazu glücklich wahrgenommen, denn im nächsten Augenblick stand Mrs. Killigrew, schwarz und scheeläugig gleich einem beutelustigen Truthahngeier, im Türrahmen. Macpherson flog auf und bemühte sich vergeblich, eine seinem Postrock entsprechende stramme Figur zu machen. Er ließ die Schultern hängen, und seine Augen rollten wie Billardkugeln von Mrs. Killigrew auf der Schwelle zu dem verglasten Oberlicht und wieder zurück. An Retirieren war diesmal nicht zu denken. Seine Posttasche fiel ihm ein, wie sie jetzt einsam und verlassen da unten am Gitter lehnen mußte. Ihn packte heftige Reue, gepaart mit Rührung, und er wünschte sich, bei ihr zu sein. „Ich denke, du bist nach Edwardswhinnie auf den Friedhof gefahren, Ma?“ Maureens brüchige Stimme klang harmlos, ja fast gelangweilt, wenngleich sie gewaltig auf Schrecken machte und mehr zusammenhielt, als sie aufgeknöpft hatte.
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„Oh, ich hatte den Bus verpaßt und deshalb nur ein paar kleine Einkäufe erledigt“, erklärte Mrs. Killigrew, worauf ihre Lippen wieder zuklappten wie die Eisen einer Wolfsfalle. Ihr stechender Blick strich blitzschnell prüfend durch die Kammer, um sich wieder an dem armen Macpherson festzukrallen. „Das wird ein Nachspiel haben, junger Freund. Gefällt Ihnen übrigens mein kleiner Schmollwinkel?“ Macpherson glaubte seiner Brille nicht zu trauen: Mrs. Killigrew zog den Mund breit und ließ ein paar goldgeränderte Zähne sehen. Kein Zweifel – das sollte ein Lächeln sein! Der Wirkung ihres Grinsens gewiß, entfernte sich Mrs. Killigrew mit Hilfe ihrer mächtigen Trotteurschuhe. Macpherson schloß zweimal kurz die Augen, um den Anblick des Haifischlächelns loszuwerden. Maureen war seelenruhig auf dem Inlett sitzengeblieben. Wollte sie das mißglückte Schäferstündchen etwa jetzt noch fortsetzen? Das Päckchen fiel ihm ein; sie durfte keine Zeit haben, danach zu suchen. Rasch entschlossen hob er das Mädchen auf und trug es über die Schwelle, wobei er mit dem Absatz geschickt die Bohlentür ins Schloß schmetterte. So, das war geschafft! Aber Maureen hielt ihn zurück. „Meine Mokassins…“, wandte sie ein. Unter dem dünnen Strumpf bewegten sich ihre silbern lackierten Zehennägel wie winzige Muscheln. „Die können Sie später holen“, wehrte er ab, rauher, als in seiner Absicht lag. „Das Fenster haben Sie sich ja auch noch nicht angesehn!“ Maureen blinzelte verständnislos mit ihren schönen Augendeckeln.
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„Was für ein Fenster, kleiner Postillon?“ „Na, das ‚unsichtbare’ Bodenfenster, das sie unbedingt sehen wollten und das überhaupt die Ursache gewesen ist, daß wir die Kammer aufspürten!“ erklärte Macpherson zu Recht beleidigt. „Der Blick auf die Brauerei, die Ansicht auf dem Kissen – wissen Sie nicht mehr?“ „Ach ja – das Fenster!“ Maureen begann schallend zu lachen. Und Macpherson wurde – wie bei Tantchen Tipplewater – den Eindruck nicht los, daß dies Gelächter auf seine Kosten gehe. So ließ er den Gedanken an einen galanten Handkuß zum Abschied fallen und begnügte sich mit einem frostigen „Also, dann auf ein andermal… Ich müßte schon längst unterwegs sein…“ Niemand hinderte ihn am Gehen. Erst auf dem einsamen Weg zum Loch Connery, etwa 200 Meter vor den letzten Häusern, fand Macpherson Zeit, sein Dienstrad an eine Gute Luise zu lehnen. Die Umhüllung entpuppte sich als dunkelrotes Seidenpapier. Bei dem Gegenstand, den sie barg, handelte es sich dagegen um ein aus blaßblonden Haaren kunstvoll geflochtenes Stirnband. Macpherson hielt es ratlos unter die Nase (es roch entfernt nach Karbolineum, von der Kommode her), bereute seinen Diebstahl und war drauf und dran, das Gebinde in den Straßengraben zu werfen, als ihm ein daran befestigtes daumennagelgroßes Kärtchen auffiel: „Für Maureen zum 18. Geburtstag von Eileen“ und darunter in den gleichen gestochen winzigen Buchstaben „6. Juni 19…“, kurz gesagt, die gegenwärtige Jahreszahl.
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Während er mühselig die Steigung zur Villa des Brauereidirektors hinauftrampelte, quälte sich sein Denkapparat nicht minder mit dem blonden Fund ab. Um ein weniges, und Miß Bothwell die Ältere wäre zu einer billigen Hühnersuppe gekommen. Zum Datum des Geburtstages – dem 6. Juni – hatte Eileen noch gelebt. Das war durch viele Zeugen erwiesen. Der Mord war erst in den späten Abendstunden des 15. Juni ausgeführt worden. Warum aber hob sie das Geschenk in der geheimen Bodenkammer auf, statt es Maureen ins Sanatorium zu schicken? Von deren baldiger Rückkehr konnte sie ja unmöglich gewußt haben, denn dieser plötzliche Entschluß war ja erst infolge überwältigender Einsamkeit in Mrs. Killigrew erwacht. Und warum wollte Maureen das harmlose Kränzchen vor ihm verbergen, als sie beim Stöbern daraufgestoßen war? Hätte sie nicht vielmehr gerührt und traurig der toten Eileen gedenken sollen, deren Hände es für sie – Maureen – verfertigt hatten? Dazu kam noch: Wessen Schritte hatte Ginnie an jenem Abend vor zwei Jahren vernommen, als Eileen unten bei ihr weilte, Mrs. Killigrew nachweislich vor dem Fernseher saß und seine schöne Maureen meilenweit entfernt in einer Heilstätte der Gesundung ihres zarten Körpers entgegensah? Wer hatte in dem Geheimkabinett gewohnt? Unter Macphersons Dienstmütze schwärmten die Gedanken wie ein Bienenschwarm, der wegen Platzmangel gezwungen ist, sich ein neues Domizil zu suchen. So konnte es denn geschehen, daß er das diskret gehaltene Kuvert mit Zuschriften auf eine Heiratsannonce (Kennwort: Schätzchen, wo bist du?)
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in der Villa des Brauereidirektors Crawton ablieferte und das noch diskreter verpackte Nudistenjournal in die Hände von Miß Betty Macniff, einer bereits in Edelfäule übergetretenen Jungfrau und Tochter des Brauereipförtners gelangte. Der arme Macpherson kam mit seinen Mutmaßungen und Verdachtsmomenten nicht mehr zu Rande und fühlte das heftige Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen. Und zwar mußte es jemand sein, der mit nüchternem, klarem Kopf über Geheimkabinetten und Stirnbändern aus Naturhaar stand, um die richtigen Gedanken von den falschen unterscheiden zu können. Ginnie schied aus. Sie war zu sehr gegen die Killigrewtöchter, speziell gegen Maureen, eingenommen, um unparteiisch zu urteilen. Miß Bothwell die Ältere? Dann könnte er auch gleich ein Einwohnerforum einberufen. Hume hatte oft genug bewiesen, daß ihm nichts an Vermutungen lag. Blieb nur noch einer. Daß er nicht sofort an den gedacht hatte! Genaugenommen war das überhaupt der einzige, der für diesen Fall kompetent war. Macphersons Entschluß war gefaßt. Er kürzte die Nachmittagsrunde eigenmächtig ab, indem er einen Teil der Post für den morgigen Tag zurücklegte. Natürlich hätte er auch übermorgen oder in zwei Wochen nach Edwardswhinnie fahren können, um allda bei der bewußten kompetenten Person seine Bedenken anzumelden. Aber alsbald erschien vor seinem geistigen Auge das goldgezahnte Grinsen Mrs. Killigrews und formte sich mit teuflischem Vergnügen zu dem Satz „Das wird ein Nachspiel haben“… Merkwürdig, daß er dabei nicht an
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Fußball dachte, was doch am naheliegendsten sein mochte, sondern immer nur an den nächtlichen Dunkelmann mit dem Nylonstrumpf. Viertel vor fünf Uhr stürzte er umgekleidet aus dem Haus, unter der Achsel eine Mappe mit Kissenplatte und Haarkränzchen. „Hallo, Mr. Macpherson! Wollen Sie denn noch mal weg? Jetzt, zur Teezeit?“ Miß Bothwell die Ältere driftete inmitten eines Geschwaders nasser, knatternder Bettücher wie die Mutter der Winde und schien selbst unter vollen Segeln zu stehen. „Ich muß dringend nach Edwardswhinnie!“ brüllte er vom Tor her. „Aber ich komme mit dem letzten Bus zurück.“ „Dann werde ich Ihnen das Abendbrot in die Kochkiste stellen! Ich bin nämlich auch nicht da – Mrs. Mo rton hat mich zum Geburtstag eingeladen!“ (Mrs. Morton, zur näheren Erklärung, war Mrs. Bothwells Freundin und Rivalin zugleich, da sie sich seit Jahren die besten Aufwartestellen gegenseitig abspenstig machten.) Macpherson wünschte viel Spaß, aber da war er schon zwei Häuser weiter, und nur Mrs. Killigrew hätte ihn noch hören können, wenn sie sich zufällig im Garten aufhielt. „Tut mir leid, junger Mann, aber Inspektor Waverley hat Grippe!“ Aus der kleinen Pförtnerloge des Polizeigebäudes von Edwardswhinnie zogen wabernde Hitzewellen an Macphersons Gesicht vorbei, vermischt mit einem Bazillensortiment herbstlicher Erkältungskrankheiten und dem unverfälschten Geruch gegessener Zwiebeln, welche na ch altem Hausbrauch den obigen
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wehren sollten. Der Wachhabende schloß die Tür des Kanonenöfchens so umständlich ab wie eine Gefängniszelle und sah Macpherson mit tränenerfüllten Schnupfenaugen an. „Worum handelt sich’s denn? Eine Mordanzeige? Nein? Na, dann können Sie sich doch ebensogut an Herrn Kriminalassistent Knox wenden. Wenn Sie Glück haben, ist er noch oben. Er arbeitet nämlich Inspektor Waverleys Akten auf“, fügte er mit unpassender Vertraulichkeit hinzu. Macpherson hatte Glück. Nicht nur damit, daß sich Knox noch im Haus befand, sondern hauptsächlich damit, daß Inspektor Waverley vor vier Tagen vergessen hatte, sich morgens einen Schal umzubinden. Banquo Knox, höchstens drei oder vier Jahre älter als Macpherson selbst, war diesem noch von der Gendarmeriestation Ballamaddy her in freundlicher Erinnerung. Denn er hatte Macpherson seinerzeit eins seiner zahlreichen kleinen Werke überlassen, die er während des sechs Stunden währenden Verhörs oder was Inspektor Waverley für ein solches hielt, angefertigt hatte. Macpherson besaß es heute noch. Es stellte ein sehr treffendes Porträt der trauernden Mrs. Killigrew dar (hier nicht als Rabe getarnt). Am besten daran aber hatte Macpherson gefallen, daß das Taschenfläschchen mit dem teuren Rum so groß wie die ganze Dame Killigrew gezeichnet war. Knox eignete ohne Zweifel die Gabe, sofort das Wesentliche einer Sache zu erfassen. Ja, das war sein Mann! „Hallo“, sagte Knox müde, „hätte Sie beinah nicht wiedererkannt mit dem Soßentitscher. Ist ja jetzt große Mode. Steht Ihnen von nahem übrigens besser als
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von weitem. Aber um mir das zu zeigen, sind Sie wohl nicht hergekommen, denke ich?“ Um Knox stritten sich seit Jahren die von seinen schottischen Altvorderen erworbene zähe Tüchtigkeit und Intelligenz mit der von ihm selbst noch nicht allzulange erworbenen Erkenntnis der Sinnlosigkeit jegl icher Form von Arbeit, bürgerlicher Konventionen und der Existenz des Friseurhandwerks. Das Zugeständnis, das der geschilderte seelische Zwiespalt bisher gezeitigt hatte, erschöpfte sich jedoch lediglich im Tragen schäbiger, farbenfreudiger Kleidung und jener in der Kopfmitte schon recht ausgekämmten Lockenpracht, der schon früher Erwähnung getan worden war. Über dem hohen Kragen seines mit roten und lila Glyzinien bedruckten Flanellhe mdes thronte ein stark backenknochiges Antlitz mit tiefliegenden Augen, denen der erwünschte Ausdruck seligen Träumens von Nichtstun, Liebe und Gänseblümchen meist zum blödsinnigen Starren abrutschte. Letzteres hatte Inspektor Waverley dazu verleitet, sich Knox als Assistenten zu wählen, da er von ihm sicher zu wissen glaubte, daß die Geisteskräfte seines Untergebenen die eigenen niemals unliebsam und blamabel ausbooten würden. Knox bemühte sich redlich, seinen Chef nicht allzu sichtbar zu enttäuschen. Im Moment bereitete er mit Hilfe eines Tauchsieders und einer kleinen Flasche Rum zwei in der Dienstzeit nicht gern gesehene Grogs. „Ich glaube, ich bin hier einer tollen Sache auf der Spur“, holte Macpherson aus und raschelte als Ouvertüre mit dem roten Seidenpapier.
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„Erinnern Sie sich noch an den Mordfall Eileen Killigrew? Im Juni dieses Jahres? Sie waren doch damals mit draußen in Ballamaddy. Die Vernehmung führte Inspektor Waverley. Auch ein Opfer des mysteriösen ‚Truthahngeiers’, ich meine natürlich das Mädchen…“ Knox sah ihn neugierig, aber bei weitem nicht so überrascht an, wie Macpherson erwartet hatte. „Ich höre.“ Seufzend begann Macpherson mit der Kuchenschlemmerei bei Miß Glennys am Tag des Verhörs, und so haspelte er die Spule der Erzählung ab, wobei er den Faden mehrmals wieder neu knüpfen mußte. Die Konditorin Miß Glennys habe ihm den Floh beziehungsweise den Verdacht ins Ohr gesetzt, eine gewisse Ginevra Bothwell habe ihn genährt mit der Wiedergabe ihres merkwürdigen Hör-Erlebnisses: die rätselhaften Schritte auf dem Killigrewschen Boden zur Nachtzeit kurz nach dem Unfall des nie geborgenen Mannes und dem Verschwinden der Stieftochter. Dann folgte Macphersons persönlicher Besuch bei Mrs. Killigrew und seine begnadete Intuition, die Brauerei auf dem Kissen betreffend, die ihm den Gedanken an ein Geheimkabinett erstmalig eingeflößt habe. (Zu seiner Gerechtigkeit muß gesagt werden, daß er Ginnies fruchtbare Beteiligung nicht unerwähnt ließ.) Vor vier Monaten nun sei die angeblich verschwundene Stieftochter wieder aufgetaucht – hier begann Macphersons Rede blumig und stockend zu werden –, und er habe leise we inend seinen Verdacht, der ihm schon so ans Herz gewachsen war, begraben und gleichzeitig seine Stelle beim „Scotch Evening Mercury“. Es gelang Macpherson nicht, seine Gefühle für die
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schöne Maureen vor Knox geheimzuhalten, der in den Zuckersatz seines Grogglases hineingriente. Aber andererseits war Macpherson objektiv genug, um mit dem unerklärbaren Gruseln, das ihm Maureens Exaltiertheit einflößte, nicht hinterm Berg zu halten. Abschließend gab er einen detaillierten Bericht, wie es zur endgültigen Entdeckung und Einweihung des Geheimkabinetts gekommen war, und legte zum Zeichen seiner geistigen Kapitulation das blonde Stirnband auf Inspektor Waverleys bemooste Akten. Dann dachten sie beide längere Zeit angestrengt nach, wobei die nach Rum duftende Stille nur von Knoxens Raucherhusten unterbrochen wurde. Er war auch der erste, der den Kopf wieder hob. „Fangen wir mal in der Mitte an: Ihr dreistes Interesse für den Boden, das in illegalen Besuchen gipfelte, erregte die Besorgnis von Mama Killigrew. Das raffinierte kleine Biest von Tochter teilte Ihnen das ja selbst mit, als ob sie sich darüber lustig machte. Allerdings wußte Mrs. Killigrew nicht genau, was Sie alles herausbekommen hatten. Das war ihr wohl auf die Dauer etwas ungemütlich. Ob sie nun unter dem Druck des ‚Truthahngeiers’ handelte oder ob sie mit ihm identisch ist, was ich persönlich anzweifeln möchte, sei dahingestellt. Das einfachste Mittel, Sie zu entwaffnen, Macpherson, war, Sie von der Harmlosigkeit der mysteriösen Bodenkammer zu überzeugen. Die Tochter erhielt also den Auftrag, Sie zu umgarnen, was ihr über Erwarten schnell gelang…“ Macpherson lief rot an, teils vom Grog, teils von der Erinnerung, und ließ das Stirnband um seinen Zeige-
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finger wirbeln wie einen Reifen zum Bauchmuskeltraining. „… und Sie unter irgendeinem Vorwand auf den Boden zu lotsen. Sie brachte das Liebesgeflüster geschickt auf Ihren Verdacht, worauf Sie ihr selbst das Stichwort ‚Sofakissenperspektive’ lieferten. Fehlendes Bodenfenster, Geheimkabinett – das kleine Aas, Pardon, ich meine Miß Killigrew, machte aus allen Knopflöchern auf erregte Neugier. Motto: Nichts wie auf den Boden! Nach einigen ‚Anstandsminuten’ entdeckte sie dann das Schlüsselloch, das Sie allein niemals gefunden hätten, dessen bin ich sicher wie meiner Pensionierung. Nun beging die Kleine aber den Fehler, daß sie sich gar nicht um das Bodenfenster scherte, um dessentwillen ja der ganze Zi rkus angeblich inszeniert worden war. Sie, Macpherson, sollten sich ruhig umschauen in der verlassenen romantischen Jungmädchenbude, in der Filmbilder, Blumentopf und Stickgarn noch in unveränderter Pietät von ihrer leider so früh dahingegangenen Bewohnerin oder besser Benutzerin sprachen. Und ein Gedanke sollte voll verständnisvoller Rührung in Ihrem Kopf, Macpherson, aufblitzen – nämlich, daß nur die allzufrische Wunde eines blutenden Mutterherzens dieses kleine Geheimnis damals nicht preisgeben wollte. ‚Eileens Spielkämmerchen’ sollten Sie denken und dabei zufrieden durch Ihre spezielle Mauerluke blicken. (W ären Sie nicht so schnell daraufgekommen, hätte das Mädchen bestimmt nachgeholfen.) Dadurch hat die Killigrew aber zugegeben, daß sie keins der Kissen selbst gearbeitet hat. Da wette ich eine halbe Büchse Bier mit Ihnen, Macpherson! Denn diese be-
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schauliche Pfriemelei hier“, Knox begann mit einem gespaltenen Fingernagel Fäden aus dem Abendrot über der Brauerei zu zupfen, „das paßt überhaupt nicht zu ihrem sonstigen Stil: Rum, schwere Maschine und so. Weshalb würde sie sonst diese nette Einnahmequelle aufgeben, wenn nicht aus dem einfachen Grund, weil ihre Lieferantin den Löffel hingelegt hat! Sie sollten aber auch nicht zuviel sehen. Deshalb bemühte sich die süße Seximaus, Sie ein wenig abzulenken, bis wie verabredet die Mama auftauchte, um Sie als Verführer von Minderjährigen für alle Fälle in der Hand zu haben. Selbstverständlich nur, wenn Sie weiterhin Schwierigkeiten machen sollten. Ihr Glück, Macpherson, daß Sie die Entdeckung des Lichtschalters so diskret abtaten. Sonst wären Sie wohl nicht ungeschoren wieder aus der Kammer gelangt. Denn sagen Sie selbst…“ Aber Macpherson sagte nichts. Seine braunen Augen hingen traurig herab wie verwelkte Stiefmütterchen. Nicht einmal im Traum hätte er dem Gedanken Platz eingeräumt, daß nicht beiderseitige tiefe Zuneigung sie auf dem blauen Inlett zueinanderfallen ließ, sondern einzig und allein Maureens grünlächelnde Verführungskunst unter der Regie von Mrs. Killigrew. Um ihn später eventuell damit erpressen zu können! Er überhörte Knoxens Frage, da er damit beschäftigt war, sich den Moment zurückzuholen, als er in Maureens Haar zu schwimmen meinte – Haar wie Sonnenuntergang, wie Aprikosenbutter, wie Ahornblätter im Herbst… „… sagen Sie selbst“, wiederholte Knox vom Aktenschrank her, wo er sich der Herstellung einer zweiten Runde Grog widmete, „ob es nicht völlig absurd ist, in
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eine gewöhnliche Bodenkammer elektrisches Licht zu legen? Wer, bei allen Feuerlilien Europas, würde sich so eine sinnlose Ausgabe machen, wo das Tageslicht doch umsonst geliefert wird? Höchstens ein Verrückter, will sagen ein Engländer, oder jemand, der ständig dort wohnt. Und hier liegt der Truthahn in der Tunke! Naaa, Macpherson, naa kommt’s oder kommt’s nicht?“ Macpherson nahm die Brille ab, um sie mit dem Taschentuch zu massieren. Knoxens Büro sah mit einemmal so trübe aus, wenn er durch seine Gläser blickte. „Ich bin gleich Ihnen ein Beamter und somit satisfaktionsfähig“, piepste er beleidigt. „Für wie dumm halten Sie mich denn? Da diese Eileen unten bei Miß Bothwell war, als sich oben die mysteriösen Schritte hören ließen, handelt es sich nicht um ihr Zimmer. Nur Maureen kann in dem Bodenraum gewohnt haben, während sie doch offiziell in einer Heilstätte weilte… Aber hören Sie, Maureen machte im Sommer, als ich sie zum erstenmal sah, durchaus nicht den Eindruck eines Menschen, der zwei Jahre lang nicht an die Luft gekommen ist! Und warum sollte auch Mrs. Killigrew ihre Stieftochter so hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen haben und jetzt nicht mehr?“ „Wer hat denn gesagt, daß Ihr kleines Luder“ (Knox konnte es nicht lassen, das bittre Salz seiner Ironie in Macphersons Herzwunde zu bröseln) „zwei Jahre nicht an der Luft war? Sie ist aber auch nicht in einem Sanatorium gewesen. Ja, ich gehe so weit, zu behaupten, daß sie gar nicht Maureen ist. Maureen wurde nach meiner Theorie im Juni dieses Jahres in einer Regennacht bei der Brauerei von den verlängerten Flügelspitzen des ‚Truthahngeiers’ ermordet, nachdem sie
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zwei Jahre in dem geheimen Verschlag auf dem Killigrewschen Boden versteckt gehalten wurde.“ „Und ihr Haar, das herrliche rote Haar – “ Macpherson würgte krampfhaft an Zuckerkrümeln, die ihm in die Luftröhre geraten waren. „Jamiesons Färbekamm ‚Everg reen’“, trompetete Knox ungerührt. Aber so leicht gab Macpherson seine Liebe nicht her. „Woher soll der ‚Truthahngeier’ denn gewußt haben, daß das Mädchen gerade an diesem Abend nach so langer Zeit das Haus verlassen würde? Und wenn die Tote wirklich Maureen war, warum hat sie ihr Haar vorher blondiert, ehe sie ins Brauereiwäldchen ging?“ In Knoxens tiefliegenden Augen glomm ein triumphierendes Funkeln wie auf Fotos von Schielenden, wenn sie vom Blitzlicht überrascht werden. „Sie hat sich nicht selbst blondiert, sie wurde! Nehmen wir mal an, daß beim Verschwinden ihres Papas vor zweieinhalb Jahren nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Nehmen wir weiter an, seine Tochter Maureen fand das heraus. Das konnte für den Täter – oder die Täterin – gefährlich werden. Vierzehn Tage nach dem Unfall verschwand also auch Maureen plötzlich. Ihre Angehörigen behaupteten, sie sei krank und befinde sich in einem Sanatorium. In Wirklichkeit wurde sie auf dem Boden eingesperrt. Vielleicht hoffte Mrs. Killigrew, sie werde wieder zur Vernunft kommen. Aber in diesem Juni muß sich etwas ereignet haben, das ihr endgültiges ‚Verschwinden’ erforderlich werden ließ. Da Maureen offiziell seit Jahren nicht in Ballamaddy ansässig war, wäre das Auffinden ihrer Leiche höchst befremdlich für Mrs. Killigrews Ruf gewesen.
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Aber zum Glück sahen sich die Schwestern ziemlich ähnlich, so daß ein bißchen Wasserstoffsuperoxid und Eileens Regencape genügten, um sie in Eileen zu verwandeln. Die andere Tochter lieferte das Alibi, indem sie nach Edwardswhinnie fuhr, um Rechnungen einzukassieren. Die Handtasche mit der Quittung legten sie dann neben die Leiche. Zum besseren allgemeinen Verständnis lockten sie auch Miß Glennys zur Nachtzeit an den Tatort. (Bliebe noch zu klären, woher sie Mrs. Crawtons Schrift kannten.) Die Dame Killigrew meldete am folgenden Tag das Verschwinden ihrer Tochter, während die wahre Eileen sich irgendwo im Haus aufhielt und sich auf Maureen umfärbte. Plötzlich war sie wieder da – die Genesene aus dem fernen Sanatorium. Hübsch ausgedacht? Ich meine von mir. Nur eine Kleinigkeit stört mich bei der ganzen Sache – der Brief des ‚Truthahngeiers’. Das bedeutet nämlich, daß Mrs. Killigrew den Mord doch nicht selbst begangen hat, es sei denn, sie wäre selbst der ‚Truthahngeier’. Denn unsere alte Leichenhenne hat sich in all den Jahren noch nie mit fremden Federn geschmückt, das muß man ihr lassen. Zu schade, ich hatte alles so hübsch zusammengetragen…“ Fourthjuly Macpherson, der seinem Unterkiefer etwas Spielraum gegönnt hatte, um Knoxens Mutmaßungen besser lauschen zu können, zog denselben wieder an sich. „Ginnie!“ brüllte er und glich für Sekunden einem Warenhaus zur Weihnachtszeit. „Ich meine Miß Bothwell! Nämlich, als ich ihr damals von Maureens unvermuteter Rückkehr erzählte, fragte sie
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mich sofort, ob ich auch wirklich sicher sei, daß es sich um Maureen handle!“ Auf Knoxens Parsivalantlitz malte sich selbstlose Anerkennung. „Tüchtig, tüchtig, die junge Dame. Hatte sie Ihnen nicht überhaupt erst den Tip mit der Geheimkammer vermittelt? Ihr allein gebührt die Gladiole, wenn wir Schwein haben. Sie soll gleich mal herkommen, solange ich noch meine Augen offenhalten kann, und Zigaretten mitbringen. ,Rob Roy’, die grüne Packung mit der starken Sorte, nicht die gelbe! Rufen Sie sie lieber selbst an, Macpherson, damit sie keinen Schreck bekommt, wenn sie erfährt, wohin sie kommen soll!“ Knox wieherte. „Auch das erstemal, daß ich dem guten Papa Airedale von der Sitte seine Kunden wegschnappe!“ Macpherson hüstelte beleidigt, während er im Telephonbuch nach der Nummer von „Lord Darnleys End“ suchte. Er fand es ausgesprochen taktlos von Knox, Ginnies Beruf dieser Art Erwähnung zu tun. Nicht zuletzt rührte jener dadurch empfindlich an seine, Macphersons, Ehre, da er sich immerhin zu Ginnies Bekanntenkreis zählen durfte. Doch Knox schien das nicht nachfühlen zu können. Er brachte ein Gähnen zum Orgasmus, kratzte sich unter seinem Glyzinienhemd und stierte mit dem bewußten überirdischen Blödgrinsen auf den Kohleneimer. „Ich hab’ ‘nen tollen Schnüffel-Job für Sie, Macpherson, nach dem Sie sich alle Finger lecken we rden…“ Macpherson, der gerade Ginnies heftige Abwehr, in die „Bullenburg“ zu kommen, durch zärtlichen Zuspruch besiegt hatte, zeigte nun seinerseits Mißtrauen.
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Aber von Knox war kein zärtlicher Zuspruch zu erwarten. „Sie werden sich weiter um die kleine Feuernelke bemühen, Macpherson, und zwar so lästig wie eine Käsefliege, daß man nicht umhin kann, Sie als Hausfreund oder Bräutigam auszugeben. Spielen Sie doof, seien Sie dußlig verknallt, alles wie gehabt – aber halten Sie die Augen offen! Besonders, wenn Sie mit der Kleinen mal ‘ne illegale Übernachtung vereinbart haben. Machen Sie sie fertig, ich rette Sie vor jedem Notzuchtparagraphen, wenn die Alte Ihnen dumm kommt, aber dabei immer schön provozieren und ausbaldowern, Macpherson. Sie verstehen mich? Das Gör muß sich verplappern, damit wir den Beweis haben, daß sie während der letzten zwei Jahre zu Hause in Ballamaddy war. Und ob die alte Killigrew mit dem ‚Truthahngeier’ in Verbindung steht. Ach, da kommen ja meine Zigarettchen! Innigen Dank, mein Kind, der Rest ist fürs Holen!“ Aber Ginnie konnte Polizeibeamte nicht riechen, selbst wenn sie aussahen wie Banquo Knox. Sie warf das Sixpencestück mit anmutiger Gebärde auf den Schreibtisch zurück, als schleudre sie einen Hirschfänger. „Von Bullen nehm’ ich kein Trinkgeld“, erklärte sie, bemüht, höflich zu sein, ohne feindselig zu wirken. Auch konnten weder Knoxens medizinisch-neutrale Aufforderung „Wollen Sie sich nicht frei machen?“ noch Macphersons stilles „Soll ich?“ sie dazu bewegen, ihr heftig auf Ozelot gefärbtes Wildkaninchen abzulegen. Dagegen wedelte sie bei Knoxens informierendem Vortrag mit den roten Stoffhandschuhen wie eine Plötze
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im Aquarium, um so auf feine Art ihrem Ekel vor dem greifbaren Rauminhalt des Zimmers Ausdruck zu ve rleihen. „Würden Sie sich zutrauen, die überlebende Miß Ki lligrew zu identifizieren, Miß Bothwell? Wären Sie bereit, uns zu helfen?“ Knox schaute so eindringlich aus seinen Locken hervor wie eine Ziege aus den Schnabelbohnen. Den guten Inspektor Waverley pflegte di eser Blick immer recht aufgeräumt werden zu lassen. Ginnie aber wedelte weiter. „Da brauchen Sie sich doch bloß den Bauch zeigen zu lassen!“ Knox und Macpherson tauschten irritierte Blicke, bis Ginnie sich zu einer Erklärung herabließ: „Maureen hatte nämlich eine Blinddarmnarbe.“ „Narben kann man künstlich machen lassen!“ Knox schien wenig begeistert von der vorgeschlagenen Nabelbesichtigung. „Aber Sie können ja mal der Sache nachgehn, Macpherson. Lassen Sie eben ein bißchen das Licht brennen. Und Sie selbst, Miß Bothwell, könnten absolut nicht unterscheiden – ob Eileen, ob Maureen?“ Ginnie bewegte ihre schwärzlichen Dauerwellen in unmißverständlicher Ablehnung. Knoxens Methode erfreute sich nicht ihrer Billigung. „Tut mir leid, Sir, aber das ist nicht drin. Wenn Sie Marlon Brando da hinstellen, den könnt’ ich vielleicht sicher erkennen, den hab’ ich Sonntag früh erst in ‘nem alten Film gesehn. Aber ich war über zwei Jahre nicht mehr in Ballamaddy, und die Killigrew-Schwestern sahen sich ziemlich ähnlich.“ Knox erledigte seine Kippe auf dem Aktendeckel „Lennox contra Lennox“.
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„Schade, verdammt schade. Hatte Sie nach Macphersons Beschreibung für so ‘ne Art weiblichen Salomo gehalten. Noch eine letzte Frage: Was halten Sie hiervon?“ Und er legte das blonde Stirnband in Ginnies Hand. Macphersons Bärtchen begann mit den Flügeln zu zucken, denn er fühlte sich Ginnie gegenüber zu einer Erklärung verpflichtet, wie er zu der Fundsache gekommen war. Allerdings sparte er bei seinem Report sowohl Bettgestell als auch blaues Inlett aus, um es züchtigerweise durch eine stehende Umarmung zu ersetzen. Ginnies Kommentar zu Macphersons Beichte bestand lediglich in der knappen Feststellung, daß sie dies dem falschen rothaarigen Hurenaas noch heimzahlen werde. Worauf sie sich erhob und zum Ausguß schritt. Vor dem dort befindlichen Spiegel von der Größe eines Schaumlöffels knüpfte sie sich den Schmuck über die eigene Frisur und verfolgte die Wirkung nicht ohne Wohlwollen. „Warum soll’s nicht Eileens Haar sein?“ folgerte sie nach gewissenhafter Prüfung, wie das Ding am nettesten zu tragen sei. „Sieht genauso aus und steht ja auch dran – für Maureen zum achtzehnten Geburtstag von Eileen. So’n Omaschmuck ist der letzte Schrei, ‘ne unheimliche Popelei, all die Zöpfchen und das Geknüpfe, aber Eileen hatte schon immer viel Geduld zu so was.“ „Das ist es ja, was mich stört“, haute Knox in die Kerbe. „Die Handarbeit da würde viel besser zum Image unserer gefangenen Kissenstickerin Maureen
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passen als zu dem wilden, exaltierten Mädchen, das uns Freund Macpherson beschrieben hat.“ Ginnie ließ in verstecktem Triumph das seltene Blau ihres Auges schillern: „Maureen konnte überhaupt nicht mit der Nadel umgehn. So pingeliges Gefädel war ihre Sache nicht. Messer gingen ihr leichter von der Hand, das kann ich beeiden, Sir. Wenn sie mich fragen, Sir, und das haben Sie ja, soweit ich mich erinnern kann…“, hier knallte Ginnie in ihrer blumenhaften Art mit den Fingern, um die Spannung zu erhöhen, „also, wie ich denke, hätte nur Maureen die Nerven zu so ‘ner Doppelrolle. Ich will damit sagen, daß sie wahrscheinlich Eileen zwei Jahre in der Kammer eingebuchtet hielten, während Maureen in Blond solange draußen rumgeturnt ist. Und die Leiche bei der Brauerei ist meiner bescheidenen Meinung nach wirklich Eileen gewesen. Maureen brauchte sich bloß das Blond runterzuwaschen, und wuppdich war sie wieder da! Darf ich mich jetzt zurückziehen, Sir? Schließlich bin ich ja in meiner Dienstzeit hier und möchte nicht allzuviel Arbeitsausfall haben!“ „Sie schmeißen mir meine ganze schöne Theorie über den Haufen“, Knox lächelte sauer und Macphe rson stolz. „Was Sie da entwickeln, Miß Bothwell, hat einiges für sich. Außerdem würde es vieles vereinfachen… aber was sollte Mrs. Killigrew veranlaßt haben, ausgerechnet ihre eigene Tochter gefangen zuhalten?“ „Das müssen Sie schon den ‚Truthahngeier’ fragen“, kam es undeutlich unter Ginnies gefleckter Kaninchenkapuze hervor, die die Schalldichte eines Schneebunkers aufwies. „Oder mal was ganz anderes: Finden Sie’s selber ‘raus! Ciao, Sie sind ‘n schicker Bulle!“ Und
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traulich zu Macpherson gewandt, schon halb wieder im Dienst: „Gehst du noch ein Stückchen mit?“ Macpherson ging mit, in Gedanken schon voll und ganz seiner neuen Mission gewidmet. „Morgen mittag komm’ ich mal kurz ‘raus…“ Verheißungsvolle Hauchwölkchen aus Ginnies alpenveilchenrosa Lippen zerflossen in der kalten Luft, um neuen Platz zu machen: „Wenn ich nachmittags um fünf wieder zurückfahre, verlier’ ich den Abend nicht. Die Neugier läßt mir keine Ruhe, ich muß sie sehen. Was ich vorhin dem Bullen gesagt hab’, war Bluff. Natürlich kenne ich Maureen unter Tausenden heraus. Man muß sie beobachten, wenn sie sich sicher fühlt, wie sie mit ihrer Mutter redet, ihre Art zu gehen und all so was. Wenn sie nicht in den Garten kommt, geh’ ich eben ‘rüber und klingle. Mehr als mich rausschmeißen kann sie nicht. Aber wie sie mich rausschmeißt – darauf kommt’s an. Laß die kleine Ginnie nur machen, Fourthy-Schätzchen!“ Angeregt und koselustig fuhr Ginnie mit dem noch nach Wild riechenden Kaninchenärmel über Macphersons Gesicht, als wolle sie dort Radiergummi entfernen. Aber durch die Sinne ihres Begleiters geisterte wieder verdächtig ein blaues Inlett, das ihn gegen jede andere Farbe, selbst gegen gefärbtes Kaninchen, immunisierte. „Also, nur damit du’s weißt, Baby – die letzte Stunde werde ich in deinem Zimmer warten. Vielleicht kannst du ‘n bißchen eher Schluß machen, ja?“ Macpherson fühlte sich jäh aus seinen blauen Federträumen gerissen und erwachte mit klammen Zehen in der feuchten Kälte des Finneys Gate.
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„Versuchen werde ich es auf jeden Fall, aber ich hab’ noch allerhand von heute liegen, und dann kommen morgen die ganzen Lesemappen…“ „Schon gut, Kleiner!“ Ginnie betrachtete bekümmert eine abgewetzte Stelle auf ihrem Unterärmel. „Bis morgen nachmittag, und grüß die liebe alte Ma. Sag ihr, daß ich mit dem Mittagsbus ankomme, natürlich von hinten durch die Wiesen. Sie soll schon immer einen Reisekorb mit Apfelgelee zurechtstellen!“ Gemessen an ihrem letzten Beisammensein im Juni fiel der Abschiedskuß reichlich brüderlich aus. An Ginnie lag es bestimmt nicht, die gab ihr Bestes, das sonst nicht einmal für Geld zu haben war… Der abrupte Wechsel zwischen dem traulichen Nachtmief des Busses, in dem sich dampfende Überschuhe und Fischbratküche vereinigten, und der weniger angenehmen Grabesluft von Ballamaddy im Spätherbst, gegen die man den Aufenthalt in der Krypta eines 900jährigen Münsters getrost als Höhensonne bezeichnen konnte, erfüllte Macpherson mit Bibbern und seinen Trenchcoat mit Schwere. Aber obwohl ein der Miete angemessen überschlagenes Zimmerchen seiner harrte, strich er schleppenden Fußes durch das Laub der Bürgersteige. Selbst die Kürbissuppe in der Kochkiste hatte ihren Charme eingebüßt, den sie vorhin im Bus noch ausgestrahlt hatte. Sein allzeit waches Unterbewußtsein ließ ihm wie unaufhörliches Alarmklingeln die vage Warnung zugehen, daß he ute nacht der Aufenthalt im Freien seiner Gesundheit unter Umständen zuträglicher sein könne als Ginnies ehemalige Jungmädchenkammer. Mitten im flotten Frieren fiel
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ihm ein Gedicht ein, das er seinerzeit in der Dorfschule von Gussieness mehrmals hatte repetieren müssen: Der Jänner kost’ uns Holz und Kohlen, im Feber muß man auch noch holen. Im März vergiß nicht Hut und Schal, April führt Primeln ohne Zahl. Den Mai man „Wonnemonat“ heißt, im Juni schon die Mücke beißt. Im Juli drohen Ungewitter, August hat Beeren – süß wie bitter. September wächst der Pilz im Wald, Oktober wird es langs am kalt, November fällt das Laub vom Baum, Dezember kommt, du glaubst es kaum… Aus der Einfalt der Verse wehte ihn ein Grauen an, das er als Kind nie dabei verspürt hatte. Hinter diesem zynischen Lakonismus verbarg sich ohne Zweifel ein grausam-höhnisches Allwissen. Besonders die Zeile „Oktober wird es langsam kalt…“ erschien ihm in ihrer Gegenwartsbezogenheit so perfide und spannungsgeladen, daß er es nicht mehr zu ertragen vermochte und mit Todesverachtung Miß Bothwells Gartentor aufstieß. In der Diele fehlten noch immer Gummischuhe und Mantel seiner Wirtin sowie ihr auberginenfarbenes
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Landsknechtbarett. Der Geburtstag von Mrs. Morton schien also noch nicht zu Ende zu sein. Macpherson entledigte sich seines vollgesogenen Mantels und der Schuhe, ständig bemüht, während des Vorgangs mit dem Rücken zur Wand und in Reichweite des Lichtschalters zu bleiben. Neben der Küchentür machte er sich ganz flach, um sie unvermittelt und doch geschützt aufreißen zu können, bis ihm noch rechtzeitig einfiel, daß es auch hier draußen in der Diele einen Schalter für die Küche gab. Am Holzkorb lehnten seine treuen Hausschuhe, die ihm sogleich das tröstliche Gefühl von Wärme und Geborgenheit vermittelten, als er sie betrat. Solchermaßen ermutigt, schloß Macpherson die Küchentür von innen ab und machte sich über die heiße Kürbissuppe her, wobei seine zitternden Finger einen beträchtlichen Teil der Holzwolle in der Küche verstreuten. Als er satt war, zeigte die Küchenuhr auf halb elf Uhr nachts. Niemand hatte ihn bisher belästigt. Außerdem mußte Miß Bothwell die Ältere jeden Augenblick eintreffen. Er lachte innerlich über seine Vorsicht und ging so weit, das unheimliche Kindergedicht für simpel, wenn nicht sogar für minderbemittelt zu erklären. Pfeifend schlürfte er über die Stiegen nach oben, seine wiederkehrende Bangigkeit mit der markigen Weise „Das ist der Rhein bei Aßmannshausen“ und dem gedämpften Licht einer kleinen Glühbirne zu beruhigen. Als er die Tür seines Zimmerchens mit leichter Hand aufstieß, spürte er am Gegenzug, daß jemand das Fenster geöffnet haben mußte. Mit Bedauern konstatierte er, daß die Raumtemperatur nun wohl kaum noch als überschlagen zu bezeichnen sei. Es war im
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Gegenteil hundekalt im Zimmer. Ebenso kalt war die Hand, die Macphersons Finger umkrallte, als er nach dem Lichtschalter tastete. Der Unbekannte mußte schon ziemlich lange gewartet haben. Verständlicherweise war ihm dabei die Geduld ausgegangen, so daß er den armen Macpherson wenig gentlemanlike in das dunkle Schlafzimmer zerrte und Würgegriffe mit Faustschlägen abwechselte. Aus dem Schnaufen und Keuchen seines ansonsten keine Müdigkeitserscheinungen aufweisenden Gegners glaubte Macpherson schließen zu dürfen, daß der bewußte Nylonstrumpf wieder dessen Atemtätigkeit behindere. So tobte der Kampf eine Weile dahin. Es war Macpherson nicht gegeben, mehr als eine Defensivhaltung einz unehmen, wobei ihm seine genaue Kenntnis des dunklen Zimmers (der Nylonstrumpf hatte die Tür zum Treppenhaus wieder zugezogen) einigermaßen zustatten kam. Plötzlich vernahmen seine zerschlagenen Ohren unten von der Diele her ein unbeschwertes Volkslied. Wenn er auch dem Text nicht folgen konnte, so erkannte er doch zweifelsfrei in der knarzenden Singstimme das Organ von Miß Bothwell der Älteren. Es klang dem verzweifelt seinen Gegner kitzelnden Macpherson wie die Stimme des Predigers in der Wüste. Es gelang ihm, in der Finsternis sein Waschgestell mit der rechten Ferse umzustoßen und „Miß Bothwell! Miß Bothwell! Mörder im Haus!“ zu rufen. Die wackere Dame hörte den Hilferuf ihres jungen Mieters und erklomm augenblicklich die Treppe, ohne Straßenkleidung und Gesang abzulegen. „Mein Herz ist im Hochland, wo immer ich geh’!“ verkündete sie melodisch und abschließend oben auf
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dem Gang, ehe sie Macphersons Kammertür eintrat und den ersten, der ihr vor die Finger kam, durch Handauflegen, Ruckerchen und angewinkeltes Knie zu Fall brachte. Dieser erste war Macpherson… Am Toddygeruch merkte er, daß er nicht mehr den Nylonstrumpf, sondern Miß Bothwell vor sich hatte. Also stieß er mit den Beinen wie ein Käfer. „So machen Sie doch Licht, Miß Bothwell, der Mörder türmt sonst! Ich bin es doch, Fourthjuly Macpherson! Licht!“ Als seiner berechtigten Forderung endlich Genüge getan war, kamen beide noch zurecht, um außen an der Hauswand, direkt unterhalb des Fensters, das Vorhandensein einer Leiter festzustellen. Auf den untersten Sprossen schien sich noch jemand zu bewegen, aber als Miß Bothwell ihre Taschenlampe zutage gefördert hatte, bewegte sich nichts mehr. „Das ist doch der Gipfel! Meine eigene beste Obstleiter hat der Kerl benutzt!“ krächzte sie und scharrte mit dem Überschuh sorglich die Splitter der Waschschüssel zusammen. „Hätte doch auch seine eigene Leiter mitbringen können – aber nein, die ist ihm zu schade dafür!“ Und das fesche lila Barett aus Filz und gebauschter Spiegelseide rutschte ihr fassungslos über das linke Auge, nur noch von einer Hutnadel gehalten. „Was wollte denn das Individuum überhaupt von Ihnen, Mr. Macpherson?“ „Ich weiß zuviel“, erwiderte Macpherson mit gepreßter Stimme und zog seinen Pyjama unter dem Kopfkissen hervor. „Das ist bereits das zweite Attentat.“
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„Ginnie, mein kleines Mädchen“, juchzte Miß Bothwell und schleuderte den Klammerbeutel um ihre Taille herum nach hinten. „Wie aufmerksam von dir, so oft hast du mich früher nie besucht! Da kannst du gleich nachher mit mir die großen Stücke legen. Und Apfelgelee hab’ ich auch schon eingekocht!“ „Hat mein Freund Fourthy mich denn gar nicht angekündigt?“ Ginnie umarmte ihre alte Ma im Zigeunerkopftuch und schnüffelte dabei in Richtung des Killigrewschen Gartens. Dem Knattern der Flammen nach mußte dort ein Scheiterhaufen für Massenverbrennungen in die Luft gehen, und die Rauchentwicklung entsprach der eines mittleren Fernheizwerks. „Ach, der arme Junge sollte doch gestern abend ermordet werden, da hat er es bestimmt drüber vergessen“, entschuldigte Miß Bothwell die Ältere ihren Mieter. „Aber zum Glück kam ich noch rechtzeitig nach Hause.“ „Wieder der Nylonstrumpf?“ Miß Bothwell sah ihrer Tochter voller Befremden in die blauen blauummalten Augen. „Woher soll ich das wissen, ob er Wollsocken oder Nylonstrümpfe angehabt hat? Als ich das Licht anknipste, war er schon durchs Fenster. Und stell dir das vor – auf unserer Leiter, unserer einzigen guten Obstleiter! Aber komm erst mal ‘rein Mittag essen, Ginnie, ich hab’ heute Nudeln mit Zucker und gestoßenen Nüssen!“ Ginnie hockte in der dünnsten Stelle der Eisbeerenhecke und betrachtete das Killigrewsche Holzfeuer so-
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wie die vom Rauch umwehte schmale Gestalt, die es nährte, ohne ausgesprochene Sympathie. „Der Pflaumenbaum reicht für heute, hörst du, Maureen?“ brüllte es ungehalten aus dem Küchenfenster. Dem Geräusch nach, mit dem Porzellan, Alpaka und emailliertes Gußeisen aneinanderschlugen, beschäftigte sich Mrs. Killigrew mit Abwaschen. „Die anderen Bäume bleiben stehn, unwiderruflich!“ Worauf sich das Fenster der abnormen Rauchentwicklung wegen wieder schloß. Ginnie kroch vollends aus der Hecke, klopfte sich ein Vogelnest vom Saum und schlenderte auf das Feuer zu. „Hallo, Maureen! Wieder zurück?“ Maureen sah nur kurz auf und schien nicht im geringsten überrascht. „Hallo, Ginnie! Lange nicht gesehn! Gib doch bitte den Ast, der hinter die liegt. Mist, der Baum ist gleich alle… Habt ihr nicht bei euch paar Bäume, die weg müssen? Dann bring sie her, sonst geht mein schönes Feuer aus!“ „Bei dir piept’s wohl“, sagte Ginnie nachsichtig und unterzog rote Cordschuhe, Jeans und Lederjacke, aus der heute ein grüner Rollkragen wuchs, einer unbarmherzigen, rivalisierenden Musterung. Macht auf TarzanMadonna, das raffinierte Aas, war ihr geheimes Urteil. Und die am Hinterkopf zu einem Schneckenhaus aufgesteckten roten Haare verglich Ginnie bei sich mit verlängerter Tomatensuppe. „Ma würde mir schön den Marsch blasen, wenn ich an ihre Obstbäume ginge. Du hast’s wohl jetzt nicht mehr mit den Messern, sondern mit’m Feuerchen, was? Wo hast du denn all die Zeit lang gesteckt? Ich
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hält’ dir sonst gern mal ‘ne Karte aus Edwardswhinnie geschrieben.“ Maureen lächelte sphinxhaft und grün: „Es singt der Stieglitz hier und da, in Schottland und in Afrika…“ „Du willst mir doch nicht weismachen, daß du im Ausland warst?“ Ginnie bewegte ihre kalten Füße ein wenig, wobei sie mit dem Absatz das alte Frühbeet hinter sich zertrat. „Hier liegt doch noch ‘ne Menge Bretter“, sagte sie gefällig und reichte sie Stück für Stück Maureen hin, die ihr Feuer fütterte, wie man einen Leoparden nach Zuckerstückchen springen läßt. „Ich arbeite als Kellnerin in einer Kneipe in Edwardswhinnie, weißt du? Sie heißt ‚Lord Darnleys End’ – ein blöder Name, aber im Grunde auch nicht blöder als ‚The Last Lover of Queen Bess’. Überhaupt, die Vierhundert -Jahr-Feier damals, weißt du noch“, Ginnie geriet langsam in Fahrt, „das war picobello! Einwandfrei! Ich als Weiße Frau von Waynors Castle mit oben ohne oder jedenfalls fast ohne und du in dem Grünen aus Edinburgh… Lady Arbella Stuart… das Fernsehen hat dich ganz groß gebracht! Ich stand zwar daneben, aber mich zeigten sie nur verschwommen, wahrscheinlich wegen der Zensur. Hier ist noch ein bi ßchen Holz!“ „Der Kameramann war ein Esel“, bemerkte Maureen beiläufig und schlenkerte die Hand durch die Flammen. „Er hat von der Straße aus gedreht, und wir standen oben auf einem der Wagen. Dadurch bekamen wir Röcke wie die Rhododendronsträucher und Köpfe wie Stecknadeln. Er hätte auf die Limousine des Bürgermeisters klettern sollen, der fuhr ja den ganzen Festzug ab…“
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„… bis sich seine Alte übergeben mußte!“ Ginnie brüllte bei der Erinnerung vor Entzücken. „Sie ging als Königin Bess in Rot und Gold, Dekollete bis an den Strumpfhalter, und war doch die Hauptperson. Und bekotzte sich mörderisch, das arme Herzchen…“ Minutenlang lachten die beiden Mädchen zusammen, bis Maureen den letzten Span verfüttert ha tte. „Aber das wurde nachher im Fernsehen geschnitten, zu schade“, fügte sie mit spitzen, weißen Zähnchen hinzu. Auf Ginnies kühnen Zügen gefror das Lachen wie Milch’ im Tiefkühlfach. Was Maureen hier als gemeinsames Erlebnis bestätigt und ergänzt hatte, konnte, nein, durfte sie ja gar nicht wissen! Zu der Zeit weilte sie doch seit fast zwei Monaten in einem fernen Sanatorium! Und das Grüne hatte sie nie getragen, denn die Arbella Stuart damals neben ihr war blond gewesen! Blond wie Eileen. Maureen hatte sich verraten! Sie war es gewesen, die zwei Jahre lang Eileens Rolle gespielt hatte, während diese aus der Bodenluke die schöne schottische Landschaft abstickte und Walter Scott las. Und die Schritte über der Speisekammer an jenem Abend waren Eileens Schritte gewesen! Hatte sie es nicht schon gestern abend prophezeit? Das Grausen rutschte ihr wie Eiswürfel in den Rückenausschnitt… „Bleibst du länger?“ wollte Maureen wissen, während sie mißmutig der Agonie ihres Scheiterhaufens zusah. „Kann ja nicht“, plapperte Ginnie schnell, „Ma hat doch mein Zimmer vermietet. Was ist das eigentlich für einer? Kennst du ihn?“
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„Er ist mein Falke“, Maureen faßte mit verzerrtem Gesicht nach ihrem Hinterkopf und riß die Haarnadeln heraus, als probiere sie eine Selbstskalpi erung, „wenn er auch eigentlich mehr einem überfütterten Rotkehlchen gleicht. Ab und zu laß ich ihn ein bißchen frei; aber ich brauche nur zu pfeifen, gleich kommt er angeschwirrt und leckt mir die Schuhe. Dann stülpe ich ihm schön seine Kappe wieder über, und er vergißt alles, was er weiß, sieht nichts mehr, hört nichts mehr, bloß noch Maureen, Maureen, Maureen!“ Sie schwenkte ihre aufgelösten Haare wie ein Signalgast seine Fähnchen. Ginnie trampelte, um sich zu erwärmen, auf Lauch und Petersilie des ehemaligen Frühbeetes herum und schwieg. Nichts hat er vergessen, du wirst dich wundern, du Dreckstück, dachte sie, und die Augen über dich werde ich ihm persönlich öffnen! Maureen aber plauderte zwanglos weiter: „Heute tanzt er schon wieder an, nachher um vier. Dabei hab’ ich ihm heute morgen bloß gesagt, daß ich mir die Kniesehnen durchschneide, wenn er nicht schnell kommt und mich liebt, so sehr er kann. Brrr! Ein wirklicher Gentleman hätte abgelehnt, wo er doch erst gestern… Dieser Trottel aber gluckst vor Freude und hängt seine Augen heraus, daß sie auf mich zukriechen wie zwei Schnecken… iiih!“ „Warum lädst du ihn denn ein, wenn du ihn nicht ausstehen magst?“ Ginnie hielt krampfhaft ihre Hände zurück, die der weißhäutigen Maureen gar zu gern zu frischdurchbluteten Wangen verhelfen hätten. Maureen spreizte ein Bein ab und vollführte auf der roten Cordschuhspitze des anderen eine Pirouette. Mit geschlos-
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senen Augen blieb sie stehen, das zierliche Wolfsgebiß durch ein Lächeln entblößt. „Damit ich ihn besser fressen kann!“ Seit über einer Stunde lagerte Ginnie auf der Schlafcouch ihres alten Zimmerchens und widmete sich in bunter Abwechslung dem Verfassen eines Briefes an Macpherson sowie dem Verzehr eines Fünfpfundglases mit Apfelgelee, welch letzterem sie durch zwischengeschobene Zwiebäcke Konsistenz zu geben suchte. In dem Brief teilte sie Macpherson ihre unumstößliche Gewißheit mit, daß es sich um die echte Maureen handle, sowie ihre Befürchtungen, daß man es im Nachbarhaus, was die Liebe betreffe, mit ihm nicht ehrlich meine, sondern sie, Ginnie, eher den Eindruck gewonnen habe, man wolle ihn unter Kontrolle bringen und ausschalten. Sie enthielt sich zwar des Bildes vom überfütterten Rotkehlchen mit der Falkenmütze, da sie annahm, der Empfänger könnte dies schwerlich als schmeichelhaft empfinden. Anderseits jedoch geizte sie nicht mit Wachtelhündchen, Baby-Darlings und phantasievollen Vergleichen, die sämtlich Maureens Haarfarbe und Figur betrafen. Anschließend schob sie den Brief in sinniger Absicht zwischen Macphersons Pyjamaärmel. Abschiednehmend trat sie noch einmal ans Fenster und ließ die blauummalten Blicke mit entschlossener Antipathie über die Killigrewsche Backsteinburg gleiten. Als sie am hochgeschobenen Badezimmerfenster vorbei wollten, trafen sie auf ein anderes Augenpaar. Vom kalten Grausen des Erkennens festgebannt, stand Ginnie auf dem aus alten Strümpfen geflochtenen Bettvorleger, während aus
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dem Killigrewschen Fensterrahmen Wut und Verzweiflung herüberzischten wie Laserstrahlen. Dann war alles vorbei. Drüben knallte das Milchglas herunter, und Ginnie stürzte aus dem Haus, ohne sich von ihrer alten Ma zu verabschieden, die in der Küche bis zum Ellenbogen in ihrem verstopften Ausguß steckte, um die Teeblätter zu entfernen, die sich so aller vier Wochen dort ansammelten. Leider unterließ es Ginnie auch, den Brief an Macpherson durch ein kleines Postskriptum mit ihrer letzten Entdeckung zu verlängern. Sie galoppierte durch die Gemeindewiesen wie in jenem Alptraum, als sie ihren Schein verloren hatte und die Sitte eine Großrazzia machte. Der sicherste Platz auf der ganzen Welt und in Edwardswhinnie schien ihr auf einmal „Lord Darnleys End“ zu sein, wo niemand sie suchen würde und starke Männer wie Goldfingerchen aus und ein gingen. Der Fünfuhrbus nach Edwardswhinnie mußte gerade die Haltestelle an der Brauerei passiert haben, als in „Glennys’ Konditorei“ die Ladenglocke einen neuen Käufer bewimmerte. „Meine liebe, liebe Mrs. Killigrew!“ Miß Glennys kam mit halberhobenen Willkommensarmen aus ihrem Wohnzimmer gestürzt und machte vergebliche Versuche, sich vom Fußboden abzustoßen, um streckenweise schneller zu flattern. „Wie ich mich freue, daß Sie nach so langer, langer Zeit wieder mal Appetit auf meine lieben, kleinen Törtchen haben! Ja, die Zeit heilt alle Wunden, besonders
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wenn man ein süßes Pflästerchen mit Butterkrem oder kandiertem Ingwer drauflegt, chichichi, Sie verstehen mich schon!“ Dabei umrandeten ihre sonst so schmachtenden Äuglein, die stets ein wenig konträr blickten, mit schlecht verhehltem Ärger die Stellen auf ihrem melissenfarbenen Linoleum, wo die Knöpfstiefel von Mrs. Killigrew beachtliche Proben schottischer Erde hinterlassen hatten. Mrs. Killigrew schlug ihren Schleier zurück, als enthülle sie ein Kriegerdenkmal, und musterte das Backwerk wie einen Haufen schief angetretener Freiwilliger. Die leichten Verdickungen unter ihren Augen, die übelwollende Mitbürger weniger ihrem Schmerz um die lieben Dahingegangenen als einer überbeanspruchten Niere zuschrieben, zuckten vor Widerwillen. „Geben Sie mir ein Stück von jedem, das heißt, nicht mehr als vier Stück im ganzen, und lassen Sie mir den Karton nachher zuschicken!“ „Aber gern, meine Liebe. Immer noch denselben exquisiten Geschmack wie vor zweieinhalb Jahren! Ein kleines Familienfest?“ Miß Glennys wogte vor Neugier unter ihrem Seidenjersey wie Pudding bei offenem Fenster. „Meine Tochter wird sich heute abend verloben“, gab Mrs. Killigrew Auskunft und ließ das Nickelschloß ihrer Marktfrauenbörse zuschnappen, als sei es ihr Mund. „Also nachher, nicht vergessen! Guten Tag!“ Auf der anderen Straßenseite, an der Bushaltestelle, entfiel ihr die Handtasche, die man leicht mit einem kleinen Seesack verwechseln konnte, und der Handtasche all die unnützen, kleinen Dinge, wie sie Frauen so
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mit sich rumschleppen: Taschenlampe, Motorradbrille, Schlüsselbund, Winterfahrplan der Scotch Railway Association, Ohrenschützer und dergleichen mehr. Das Auflesen schien Mrs. Killigrew einige Mühe zu bereiten, besonders behinderte sie ein altes Abflußrohr, das dicht über dem Fußweg endete. Miß Glennys lehnte hinter der Gardine und sah ihr mitleidig zu. „Wenn man so daran denkt“, bemerkte sie zu Miß Abraham, die seit zwei Stunden bei einer Tasse Schokolade mit Selter dem Studium des Traktats „Be a Prerafaelist today“ oblag, „wenn man so daran denkt, daß man auch einmal alt werden könnte und seine Jugendfrische und Gewandtheit verlieren, dann wird mir ganz anders im Herzen…“ Hier legte Miß Glennys fünf ihrer Marzipanwürstchen auf die Stelle ihres bunten Kleides, wo sie nach ärztlichem Gutachten besagtes Organ vermutete. Obwohl der Nachmittag schon bis 21 Uhr vorgerückt war, befand sich Macpherson noch immer innerhalb der Killigrewschen Bannmeile. Vor einer halben Stunde war das üppige Abendbrot, das Mrs. Killigrew als „Souper“ bezeichnet hatte, mit einem Kasten köstlichen Backwerks und einer kleinen Hausmusik gekrönt worden, worauf die Dame des Hauses sich unruhig unter ihren roten Greta-Garbo-Löckchen kratzte und damit ihren Abgang einleitete. Macpherson und Maureen begaben sich gleichfalls in den ersten Stock in Maureens Gemach, um die elektrische Krone im Herrenzimmer nicht über Gebühr zu strapazieren. „Nun sind wir verlobt“, bemerkte Macpherson in permanenter Wiederholung, hielt das für das Letzte auf
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dem Gebiet des Liebesgeflüsters und überlegte, ob er nicht schnell hinüber zu Miß Bothwell der Älteren gehen solle, sein Abendbrot verzehren und dann wiederkommen. Als er Andeutungen in dieser Richtung fallen ließ, entzündete Maureen eine zweite Kerze, knipste ihr Kofferradio an und öffnete, vor ihm stehend, die ersten Zentimeter ihres Reißverschlusses, denen mehrere folgen sollten… So bekam Macpherson in dieser Oktobernacht zwar Maureens Blindarmnarbe, aber noch nicht Ginnies Brief in die Hände. In „Lord Darnleys End“ angekommen, verschrieb sich Ginnie fürs erste sofort mehrere starke innerliche Bäder, die weniger mit Fichtennadel als mit Wacholder zu tun hatten. Die erwartete Wirkung trat auch ein und verbannte das Grausige, Unfaßbare in Dimensionen, die weit genug entfernt schienen, um sie bis morgen früh nichts anzugehen. Sie plazierte sich aufatmend mit zwei Astern hinterm Ohr und ihrem Strickzeug auf der „Frei-Bank“, wie das Plüschsofa scherzhaft genannt wurde. Goldfingerchen ließ sich zwar nicht blicken denn der Staat hatte ihm für die nächsten achtzehn Jahre die Sorge ums tägliche Brot abgenommen, aber jener unbekannte Schrumpf-Faruk mit der fliederfarbenen Brille schien auch nicht bloß mit Maggisuppen großgezogen. Er interessierte sich schon seit einer Viertelstunde ziemlich unzweideutig für Ginnie, bevor er sich entschloß, den Dunstkreis der Königsveilchen zu durchbrechen, und Ginnie ersuchte, doch in seiner Nische weiterzustricken und das Ganze etwas anzufeuchten.
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Das letztere war nach Ginnies Sinn. Das lindgrüne rechte Vorderteil einer zukünftigen Strickweste jedoch wurde jäh zwischen dem dritten und vierten Knopfloch abgebrochen und in die Handtasche gestopft. „Wo denkst du hin, Kleiner, bei mir wird Arbeit und Freizeit streng auseinandergehalten, das kann ich meiner Strickjacke nich antun. Aber ‘nen Whisky nehm’ ich mit Kußhand. Ich hab’ da nämlich so ‘nen alten Knochen in der Kehle, von heut nachmittag noch, und das Ding kommt mir immer wieder hoch.“ „Ja, mit Gefliegel man muß teiflisch achtgeben“, pflichtete der Gentleman bei, dem der liebe Gott bei 1,60 Meter bremsend die Hand auf den Scheitel geha lten hatte, so daß alles übrige notgedrungen dem Breitenwachstum zugute gekommen war, „bei uns zu Haus in Ed-Dar-El-Beiida ist Onkel von mir an eine Knochensplitter erstickt. Ist zwar gewesen Hammelknochen und sagt Familia in Ed-Dar-El-Beiida, ist Knochen nicht auf normale Weg gegangen in Kehle von Onkel Rachmann, sondern mit meine Hand. Aber in Prinzip gesähen bleibt Gefahr dieselbe, nicht wahr? Bleibt Knochen Knochen, sag’ ich immer. Ach, ich haben noch nicht vorgestellt: Alfehdin, Mahmud Alfehdin, Haus - und Notschlachtungen…“ „Gleichfalls, Ginevra Bothwell“, erwiderte Ginnie verwirrt und geschmeichelt. Die gepflegte Art ihres neuen Kunden, sich auszudrücken, seine dezent gestreifte Krawatte, die an einen Leuchtturm erinnerte, sowie die unzerstörbar schimmernde Haarwellenpracht imponierten ihr ungemein. Das war mal was anderes als das knutschlustige Goldfingerchen mit seiner flachen Sportmütze. Der hier behandelte sie wie eine
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Dame! Was machte es schon, wenn der Herr ein bißchen zusammengestaucht war, wo er doch ein echt goldenes Uhrenarmband umhatte. Und Ginnie bemühte sich, etwas Originelles und Nettes über Ausländer zu äußern. „Hab’ ich mir doch gleich gedacht, daß Sie nicht aus Schottland sind! Denn so ‘nen aparten Teint, wie Si e da haben, finden Sie hier höchstens auf der Seuchenstation, ich meine, in der Gelbsuchtbaracke. Ich würde sagen, in der Farbe fast wie Pferdemist, nicht wahr?“ Der breitgeklopfte Orientale gruppierte aus seinem Kavaliersnastuch ein dreizipfliges Golgatha und lächelte verständnislos zu allem, was Ginnie zur Unterhaltung vorbrachte. Diese Worte waren in seinem „Schottisch für alle Lebenslagen“ nicht enthalten gewesen. „Eigentlich meinte ich ja vorhin gar keinen richtigen Knochen, das war mehr so bildlich gesprochen, verstehen Sie?“ fuhr Ginnie fort und ließ sich eine „HighlandMilk“ mixen, die sich aus 40% Whisky, 10% Soda und 50% Whisky zusammensetzte und mit zwei Wachholderbeeren garniert wurde. „Ich meinte mehr so einen dicken Hund. Seit he ute nachmittag weiß ich nämlich, wer der ‚Truthahngeier’ ist. Ich hab’ ihn mit meinen eigenen Augen gesehn. Jetzt sind Sie gebügelt, was? Ich war’s auch, ich hab’ nich mal meiner guten, alten Ma Lebewohl gesagt…“ Der querformatige Ehrenmann rückte interessiert an seiner Brille. „Meine Sie diese schottische Massenmörder ohne Motiv, den Polizei sucht seit acht Jahre?“ Ginnie spuckte eine Wachholderbeere an dem marokkanischen Nasenloch vorbei: „Genau den meine ich!“
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„Warum melden Sie Entdeckung nicht an Polizei?“ Vorsorglich löschte Ginnie die rosa Lämpchen über dem Tisch, bevor sie flüsterte: „Ich bin doch nicht behämmert! Wenn er es wirklich sein sollte, ist er doch längst verduftet! Oder er schnüffelt hier in Edwardswhinnie ‘rum und wartet bloß drauf, bis ich singen will, und dann – krrr! Nee, ich rühr’ mich so vierzehn Tage nich aus dem alten ‚Lord Darnley’ ‘raus. Hier sucht mich keiner. Und wenn der Hase wieder mit den Ohren wackelt, will sagen, wenn der ‚Truthahngeier’ dann immer noch nicht ausgeflogen ist, geh’ ich hin und singe, so laut ich kann. Aber mit Begleitung „Wenn Sie und sagen Pedale!“ Begleitung“, Mr. Mahmud Alfehdin versuchte seinen gewaltigen Arm in dunkelblauer bester Wolle um Ginnies Nacken zu legen, hielt dann aber doch ihre Hüften für naheliegender, „wir wollen bald kleine Spaziergang unternehmen, wie? Sie habe doch nicht weit?“ Ginnie schnipste ihren gebildeten Kunden schelmisch unter das Kinn, das fest und männlich war wie der Gipsabguß eines Skistiefels. „Bloß über den Hof, mein kleiner Ölscheich, ich hab’ sogar drei Briketts angelegt, muß ‘ne Bullenhitze drin sein!“ Galant waren sie da unten, das mußte man ihnen lassen, fand Ginnie, denn der Schrumpf-Faruk trug außer seinem eigenen Hut und Mantel sogar noch ihre Handtasche mit dem Strickzeug. Auf dem Hof standen vier Mülltonnen und mehrere häßliche Pfützen, da viele Gäste, besonders uneingeweihte, auch nach langjähriger Kundschaft noch nicht herausgefunden hatten, wo sich die Toilette des Hauses befand. Der Wirt von „Lord
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Darnleys End“ hielt es für ausgesprochen schamlos und überflüssig, diese Örtlichkeit noch herausfordernd zu beleuchten, wo doch der Sprengwagen der Städtischen Straßenreinigung der Sackgasse wegen sowieso in seinem Hof wenden mußte. Mr. Alfehdin umging die Pfützen elegant, schlenkerte mit Ginnies Handtasche und holte schließlich das lindgrüne rechte Vorderteil heraus. „Hibsch, muß ich sagen, schon sähr hibsch“, bemerkte er bewundernd und zwirbelte die Rundstricknadel probeweise zu einem Kreis. „Als nächstes will ich mir ein paar Bettschuhchen stricken“, verriet Ginnie zutraulich, und ihre Hände umschrieben die Form der obengenannten Behälter derart, daß sie mehr für Bettpfannen gepaßt hätten. Unvermutet legte sich die Rundstricknadel von hinten um ihren Hals, und der Durchmesser derselben verengte sich befremdlich schnell… Zu ihrem Glück war die arme Ginnie nun für immer außerstande, sich über die Beschaffenheit der Pfützen zu ärgern, in die sie gefallen war; und Mr. Alfehdin, der dies vorausgesehen hatte, war rechtzeitig beiseite gesprungen, um seine blauwollenen Beinkleider nicht zu verunreinigen. Ohne Zeit zu verlieren, zog er ein Kärtchen aus der Brusttasche, rollte es über seinem dicken Zeigefinger, um es nach reiflichen Überlegungen in das dritte Knopfloch des lindgrünen Vorderteils zu schieben, das die arme Ginnie immer noch umhängen hatte, wie ein Lätzchen. Am nächsten Morgen hielt sich Macpherson, der auf dem Bauch durch die Killigrew-Bothwellsche Eisbee-
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renhecke gekrochen war, nur so kurze Zeit daheim auf, wie er benötigte, um sein Kinn zu schaben und vier Tassen heißen Tee zu trinken. Dann eilte er mit ungewechselten Socken und dem festen Vorsatz zum Postamt, heute alle diejenigen Briefe und Zeitungen auszutragen, die er in den letzten beiden Tagen Maureens wegen „geschoben“ hatte. Die gute Clelia Hamilton würde schon alles vorsortiert haben, wie er sie kannte. Und siehe da – ihr Lächeln blühte ihm entgegen wie ein Alpenveilchen im Doppelfenster. „Sie können gleich noch einmal nach Hause, mein Lieber! Ist das nicht eine reizende Überraschung? Leider, fürchte ich, ist sie es nicht gleichermaßen für die arme Miß Bothwell!“ Macpherson ließ sein flottes Bärtchen hängen wie die Zeiger einer ausgeleierten Kinderuhr. „Ist was mit Ginnie, ich meine mit Miß Bothwells Tochter? Sie hat gestern nachmittag hier zu Haus auf mich gewartet, aber ich war bei Killigrews eingeladen und konnte nicht gut weg, nein, das war wirklich schlecht möglich…“ Um Miß Hamiltons engelreinen Phantasieflügen, in denen sie ihn immer „bekam“, nicht jede Substanz zu nehmen, verschwieg Macpherson taktvoll seine frischgebackene Verlobung. „Das arme Kind ist erwürgt worden“, sagte Miß Hamilton, und ihr dürrer Fräuleinsarm, nackt bis zum spitzen Ellenbogen, ließ den Stempel „Ballamaddy 15. Oktober“ auf einen blassen Brief niedersausen. Miß Bothwell die Ältere saß in ihrem eichhörnchenbraunen Bademantel in der Wohnküche, heulte langgezogen wie ein einsamer Wolf und war schon beim zwe i-
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ten Liter Tee angelangt. Macpherson, mit Dienstmütze und Posttasche, stand trauernd neben ihr am Küchentisch. Und da er in seinem Sprachschatz nichts Passendes fand, was Miß Bothwell hätte zum Trost gereichen können, begnügte er sich damit, das Teewasser am Kochen zu halten und den Einsatz der Kanne von Zeit zu Zeit mit frischen Blättern zu füllen. „Meine arme, kleine Ginnie erdrosselt“, fing Miß Bothwell wieder an zu klagen, „noch dazu mit ihrem eigenen Strickzeug!“ Macpherson, dem an dieser Stelle prompt die Bothwellsche Obstleiter einfiel, murmelte zähneknirschend: „Sein eigenes war ihm wohl zu schade, dem Lumpenhund!“ Zu spät haute er sich die Schneidezähne auf die Zungenspitze, gesagt blieb gesagt. Aber seine Wirtin hatte glücklicherweise ihre Ohren auf Durchgang gestellt und mit ihrem rotgelben Turban zugebunden, dessen Zipfel, statt wie sonst propellergleich auf das Startzeichen zu warten, heute herabnickten wie die Ohren eines zerknirschten Dackels. Vorsorglich füllte Macpherson den vierten Liter in die irdene Teekanne, die die arme Ginnie einst im POPLaden gekauft und ihrer Ma zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Auf der Seite rechts vom Henkel sah man ein nacktes rotes Mädchen, das voller Vorfreude in ein Aquarium kletterte, in dem sich ein blaugrüner Mann unter Wasser befand. Interessanterweise quollen beiden Wolken aus den Mündern, in denen zu lesen war: „Ich liebe dich, Barbarella!“ und „Ich komme gleich, meine schöne Amphibie!“ Auf der Seite links vom Henkel versuchte ein gelber Fledermausmann die blaue Amphibie aus dem Aquarium zu zerren, womit
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diese sichtlich nicht einverstanden schien, denn in ihrer Wolke stand diesmal „Blubb!“, während der Fledermausmann „Kreesh!“ antwortete. „Meine Ginnie war immer so fürs Moderne“, seufzte Miß Bothwell und streichelte den Amphibienkampf. „Das hat sie von mir geerbt. Ich war auch schon immer gegen das Heiraten. Aber ich hab’ wenigstens für Nachwuchs gesorgt. Doch die arme Ginnie war ja erst neunzehn, da hat sie noch nicht an so was gedacht, mein kleines Mädchen. Von Ihnen wäre es mir am liebsten gewesen, Mr. Macpherson… Sie sind nicht versoffen, und Ginnie mochte Sie gut leiden… Aber wer konnte so ein Ende voraussehen!“ Macpherson schlich sich auf Zehenspitzen davon, um endlich seine drei Tage alten Briefe in die Kästen zu werfen. Als er im Takt des Chopi nschen Trauermarschs an der Post vorbeiradelte, hing Miß Hamilton bis zum Hüftknochen aus dem Fenster und schwenkte in Ermanglung eines größeren Taschentuchs die schottische Nationalflagge. „Liebster Mr. Macpherson, kommen Sie schnell – Edwardswhinnie ist seit zwanzig Minuten am Apparat! Die Mordkommission will Sie sprechen, ein gewisser Knox! Oh, liebster, bester Mr. Macpherson, Sie haben doch niemanden umgebracht? Es täte mir schrecklich leid, wenn ich wieder ohne Sie auskommen müßte!“ „Endlich, Sie gottverdammte alte Briefschnecke“, quäkte Knoxens nölige Stimme aus dem Hörer, „ich will Ihnen bloß mal was vorlesen: ‚Die Lockente aus dem alten Geflügelhof des Lords muß notgeschlachtet werden. Anschließend raten wir dem Flamingo, die
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Heilerde abzuwaschen und mit dem Porreestengel zu balancieren. Was meinen Sie dazu?“ „Die Sprache des ‚Truthahngeiers’“, flüsterte Macpherson erschüttert, „wollen Sie damit andeuten, Knox, daß der ‚Truthahngeier’ auch Ginnie auf dem Gewissen hat?“ „Sieht fast so aus, was? Hat das Mädchen gestern nachmittag noch mit Ihnen gesprochen? Hat sie was zu ihrer Mutter gesagt? So reden Sie doch schon, Mann, Ihnen muß man aber auch alles aus der Nase ziehen wie die Fäden bei ‘ner Käsefondue!“ „Ich habe mich gestern, wie befohlen, mit Miß Maureen Killigrew beschäftigt!“ versetzte Macpherson steif. „Ja, ich bin sogar so weit gegangen, mich mit ihr verloben zu lassen. Der Wunsch ging von Mrs. Killigrew aus, und es wäre für meinen Auftrag unklug gewesen, ihm nicht nachzugeben. Außerdem kann ich Ihnen zuverlässig mitteilen, daß Miß Killigrew eine Narbe am Unterleib hat, die der anatomischen Lage des Blinddarms entspricht. Das bestätigt die Theorie von Miß Bothwell – nämlich, daß es sich tatsächlich um Maureen handelt. Außerdem möchte ich Ihnen noch sagen, Sir“, hier begann Macpherson wieder lockerer zu werden, „daß ich Jovialität sehr schätze; aber in der Form, wie Sie von Ihnen gebraucht wird, wirkt sie entschieden lähmend auf die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bevölkerung. Das wollte ich Ihnen nur andeuten, Sir!“ Knox am anderen Ende der Leitung schlug ein wi eherndes Gelächter an, das sich in Ballamaddy anhörte wie der Kampf zwischen einem Marder und 25 Hühnern. „Dann mal schnell weiter, Macpherson, ehe bei
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Ihnen die Lähmung eintritt: Sie haben also nicht mit ihr gesprochen, mit Ginevra Bothwell meine ich. Über die kleine Killigrew reden wir noch. Was hat sie dann die Zeit über gemacht, während sie auf Sie wartete?“ „Wie mir die Mutter berichtete, hat Ginnie zuerst zwei Teller Zimtnudeln gegessen, dann ist sie ‘rüber in den Killigrewschen Garten, wo Maureen ein Feuer unterhielt, und beide haben längere Zeit miteinander gesprochen und auch gelacht, aber worüber, hat Miß Bothwell leider nicht hören können, denn der Wind stand ungünstig für sie. Dann hat sich Ginnie bis zur Abfahrt des Fünf-Uhr-Busses oben in meinem Zimmer aufgehalten und dabei eine Gallone Apfelgelee aufgegessen. Ich fand heute morgen noch den Rest. Er lag zertrümmert auf dem Fußboden.“ „Im Schreck heruntergestoßen!“ brüllte Knox vom Edwardswhinnie her. „…worauf sie ohne Abschied von ihrer Mutter, an der sie doch sehr hing, zum Fünf-Uhr-Bus eilte“, schloß Macpherson seinen Bericht und versuchte mit Spucke die Sondermarke zu glätten, die die Tante des Brauereidirektors immer für diesen aufklebte. Der unselige Macpherson hatte sie während seiner Rede vom Brief gekratzt wie ein altes Heftpflaster. In Edwardswhinnie blieb es mäuschenstill, so daß Macpherson durch den Äther hören konnte, wie die dortige behördliche Raumpflegerin mit ihren Produktionsmitteln umging. „Hören Sie noch, Macpherson? Sagen Sie mal, wi eviel Fenster hat Ihr Zimmer? Eins? Was kann man von da aus alles sehen? Ein Stück Killigrewschen Garten und die Schmalseite des Hauses… hm. Was für Fenster
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betrifft das? Speisekammerfenster… darunter das Badezimmer… ganz unten Diele oder Bügelzimmer, wie Sie sagen… tja. Das gute Mädchen muß etwas beobachtet haben, was ihr einen Mordsschrecken in die Glieder gejagt hat. Eine ihrer Kolleginnen sagte vorhin aus, sie habe gestern so gegen einundzwanzig Uhr in der Nische neben Miß Bothwell gesessen und deutlich gehört, wie diese ihrem mutmaßlichen Mörder einblies, sie hätte am Nachmittag den ‚Truthahngeier’ mit eigenen Augen gesehen. Paar Minuten später war sie tot. Leider deckt sich die Beschreibung des Kerls in nichts mit dem, was unsere Dame Killigrew diesbezüglich auf zuweisen hat.“ „Vor Mrs. Killigrew wäre Ginnie nie erschrocken, die kannte sie ja noch von früher her“, verteidigte Macpherson seine zukünftige Schwiegermama, „und wenn die wirklich der ‚Truthahngeier’ sein sollte, hat sie ja bestimmt ihre Leute für die grobe Arbeit, nicht? Außerdem stand sie um diese Zeit noch unter meiner Beobachtung. Wir waren um einundzwanzig Uhr gerade mit Essen und Verloben fertig, und bevor wir uns dann zerstreuten, mußten Maureen und ich noch mit ins Herrenzimmer hinübergehen. Dort nahm Mrs. Killigrew einen Dudelsack von der Wand und spielte mit vier Fingern eine ‚Petronella’. Sie schien mir sehr aufgeräumt. Selbst mit ihrem Motorrad hätte sie danach nicht vor Viertel elf Uhr abends in ‚Lord Darnleys End’ sein können.“ „Ist schon gut, Macpherson, Sie haben ja recht!“ Knoxens Stimme wurde plötzlich schläfrig und gleichsam angewidert. Er zerdrückte eine Zigarettenpakkung, daß es bis nach Ballamaddy raschelte. „Machen
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Sie’s gut, schön weiter spannen und weiter verloben, soviel Sie können. Wenn Sie wieder was rauskriegen, lassen Sie’s mich wissen. Sie kommen wohl zum Begräbnis her, denke ich?“ Maureen legte die perlhuhnfarbenen Chrysanthemen auf Ginnies Grabhügel nieder und brachte dann mit dem schwarzen dünnen Handschuhfinger Macphersons Bärtchen in Unordnung. „Also los, mein kleiner Postillon, du weißt, wir wollen ins ‚Roxi’! Der Film fängt in einer Viertelstunde an, und wir haben noch keine Karten!“ „Willst du wirklich, Maureen? Wäre das nicht pietätlos deiner armen Freundin gegenüber?“ Macpherson prangte in Apotheker Hamiltons schwarzem Überzieher. Die dazugehörige Melone in der gleichen Farbe hatte er mit einer Zeitung auslegen müssen und aus altem Groll gegen seinen ehemaligen Chef Hume dafür die „Daily Post“ gewählt. „Sagtest du nicht, Liebes, du hättest den Film schon mehrmals gesehen? Und außerdem war ich noch nie in diesem teuren Kino; ich wüßte gar nicht, wie wir gehen sollten.“ „Nicht gehen, du Sparsamkeitsapostel, fahren!“ Maureens Augen hüpften wie grüne Irrlichter unter der weichfallenden Hutkrempe. „Komm nur, ich führe dich, ich war schon oft da. Wir nehmen den Stadtbus vom Friedhof, dann sind wir in zehn Minuten dort. Wenn du aber Ma ein Sterbenswort erzählst, wo wir waren, hol’ ich meine Messer vom Boden. Sie wollte nie, daß ich ins ‚Roxi’ gehe, und sie wird schon ihre Gründe dafür haben. Aber ‚Wehe den Glocken von Aberdeen’ muß man sich einfach immer wieder ansehn. Ach, Mac, dar-
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in gibt es einen herrlichen Scheiterhaufen in Cinemascope, der geht über die ganze Leinwand und verbrennt achtzehn Hexen bei lebendigem Leibe! Übrigens möchte ich dich bitten, nicht so große Schritte zu machen, sonst sieht man, daß du deinen Trenchcoat unter der Begräbnistunika trägst!“ Das „Roxi“ hatte bis zum ersten Weltkrieg eine Spielhölle beherbergt, die leider nach kurzer Dauer wegen mangelnder Höhe der Einsätze gezwungen war, die Räumlichkeiten einem Milchhof zur Verfügung zu stellen. Zur Zeit war es zwar das erste Kino am Platz mit Wandelgang und Air condition, die wenig volkstümlichen Billett-Tarife jedoch bewogen den Aufsichtsratsvorsitzenden der Milchhof-AG zu der vorschnellen Äußerung, man werde das „Roxi“ bald zum halben Preis wieder zurückkaufen können. Maureen stürmte voran in das lila-weiße Rautenmuster des Foyers, Macpherson ihr nach wie ein Waschbär einer Libelle. „Haben Sie noch Karten für ganz vorn?“ wisperte er in die rotbeleuchtete Kassenmuschel und fingerte zuerst hoffnungsvoll, aber vergeblich im Begräbnisüberzieher des Apothekers, ehe er zu seinem eigenen Mantel vordrang. „Soviel Sie wollen, Sir“, gab die Kassiererin mit tränenerstickter Stimme Auskunft. Nach ihrer bizarren Zahngestaltung zu schließen, mußten ihre Vorfahren früher ein mehr als freundschaftliches Verhältnis zu Pferden gehabt haben. „Heute ist doch die letzte Vorstellung. Ab morgen gehört alles wieder dem Milchhof. Ich darf gar nicht zum Erfrischungsbüfett rüberschauen, denn wenn ich das Eis und die Nußmilch sehe, muß
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ich gleich weinen. Dabei haben wir erst vor zwei Jahren eröffnet…“ „Können Sie mir ganz genau sagen, wann dieses Kino aufgemacht wurde?“ In seiner Aufregung spürte Macpherson nicht, daß ihm die Melone mittlerweile auf der Nase und die „Daily Post“ im Nacken saßen. „Ich sage es doch schon die ganze Zeit, Sir, erst vor zwei Jahren im September! Damals hatte auch ‚Wehe den Glocken von Aberdeen’ Premiere. Wir spielen es heute noch einmal, in memento mori sozusagen. Wünschen Sie vielleicht ein Programm, Sir?“ Macpherson winkte erschrocken ab. Schon von der zweiten Reihe aus gesehen verschlangen die „Glocken von Aberdeen“ fast zwei Tage Briefeaustragen. Er beschloß, für alle Fälle die Billetts aufzuheben. Vielleicht ließ Knox mit sich reden… „Halb fünf Uhr nachmittags“, bemerkte Mrs. Killigrew voll säuerlichen Grimms und ließ die versilberte Taschenuhr unmutig im Gürtel verschwinden, so daß die betreffende Stelle den Anschein erweckte, mit Mrs. Killigrews Leber sei etwas Befremdliches vorgegangen. „Ich kann mich an kein Begräbnis erinnern, das derartig viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Das von Eileen dauerte kaum eine Dreiviertelstunde. Meiner Berechnung nach wäre es euch ohne Hetzerei möglich gewesen, den Zwölfuhrbus noch zu erreichen. Der Tee steht im Eßzimmer!“ „Ich sehe nicht ein, warum du deine Stacheln aufstellst, Ma!“ Maureen, die schon unten in der Diele angefangen hatte, sich die schwarzen Kleidungsstücke vom Leibe zu reißen, hielt bei der Strumpfhose inne,
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um Macpherson mit einem Tritt gegen die Achillessehne zu warnen. „Wir haben einen Kollegen von Mac getroffen, einen Kerl vom ‚Scotch Evening Mercury’, na ja, und…“ „Du willst mir doch nicht etwa weismachen, er hätte euch zum Lunch eingeladen? Liebes Kind, selbst die schönsten Märchen haben irgendwo eine Grenze!“ Mrs. Killigrews schürzte ungläubig ihre Tränensäcke. „Hat er doch, Ma, allerdings bloß in ein Pub, zu Bratkartoffeln und Sodawasser. Ach, halt doch mal einen Augenblick, Mac, das brauch’ ich nachher wieder!“ Wie die Göttin der Gerechtigkeit stand Macpherson vor der Badezimmertür – in der einen bebenden Hand einen schwarzen Büstenhalter mit Halbschale, in der anderen seinen Stockschirm und eine leere schwarze Strumpfhose. Nur daß niemand daran dachte, ihm die Augen zu verbinden. „Wo, zum Henker, ist denn schon wieder mein Hausanzug?“ Suchend fegte Maureen, nur mit einem winzigen Trauerhöschen und gehenden Haaren bekleidet, durch die beiden Etagen. „Meine liebe Maureen, ich finde, daß dein Aufzug, selbst wenn man deinen Brautstand in Betracht zieht, entschieden ein wenig leger gewählt ist“, bemerkte Mrs. Killigrew tadelnd, bevor sie sich ins Herrenzimmer zurückzog, um sich weiter an der Fernsehübertragung des Fußballspiels „Musselburgh United“ gegen „Inter Ipswich“ zu erfreuen. „Du siehst aus wie ein Hausierer für Unterwäsche, Mac! Häng doch das Zeug meinetwegen an die Garderobe oder an die Türklinke und komm endlich Tee trinken!“ scholl es mit vollem Mund gesprochen aus dem
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Eßzimmer. Ohne daß Macpherson unter seiner schalldämpfenden Melone ihre Schritte gehört hätte, war seine schöne Verlobte bereits zurückgekehrt. Von Skrupeln und Magengeräuschen gleichermaßen heimgesucht, beschloß er schließlich, lieber erst den Tee zu nehmen und dann anschließend Mutter und Tochter der Polizei zu übergeben. Umgekehrt wäre wohl aus dem Tee schwerlich etwas geworden. Während Maureen ihre Toastschnitten bald mit Ölsardinen, bald mit Himbeerjam dekorierte, lauschte Macpherson mit halbem Ohr auf den Fortgang des Kampfes im Nebenzimmer, den Mrs. Killigrew mit naiven, weiblich-unbeherrschten Kommentaren versah: „Daß dich, du Hornvieh! – Jaaa… und jetzt ‘rein in die Pfanne, gut gemacht, Fe rgusson!“ oder „Schottland vor, noch ein Tor! Nehmt doch endlich den Dusseln das Leder weg, oder geht schon eure Gräber schaufeln!“ Erst in der Halbzeit vermochte Macpherson seine Gedanken so weit auf das bevorstehende folgenschwere Gespräch zu sammeln, daß er sich dazu ermannte, Maureens Hand mit dem Brötchen auf halbem Weg zwischen Mund und Teller zu ergreifen. „Schade, daß der Fünf-Uhr-Bus nach Edwardswhinnie schon fort ist“, bemerkte er vieldeutig und beglückwünschte sich im stillen zu dieser smarten Einleitung. Auf Maureens kauenden Zügen malte sich freudige Überraschung. „Wieso? Willst du vielleicht noch mal weg?“ „Gewiß“, versetzte Macpherson innig-traurig, „aber nicht allein, sondern ich muß dich und Mrs. Killigrew bitten, mit mir zu fahren. Wir werden also auf der Post ein Gespräch nach Edwardswhinnie anmelden und die
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Mordkommission bitten müssen, uns einen Wagen zu schicken. Ach, Maureen, mein Eichkätzchen – ich fürchte, ich werde gezwungen sein, unsere Verlobung zu lösen. Wärst du doch nie mit mir in ‚Wehe den Glocken von Aberdeen’ gegangen!“ „Hat dich der Film so mitgenommen oder das Schicksal des ‚Roxi’? Man könnte dich direkt für sent imental halten! Oder drückt unseren Ex-Starreporter bloß wieder eine seiner Theorien auf den Dickdarm?“ „Du hast es nicht anders gewollt!“ Macpherson schob mit Effet seinen Stuhl zurück, daß der Luftzug den Rechaud zum Erlöschen brachte. Seine Sternstunde durfte man nicht mit gekrümmten Beinen erleben. Schnell rekapitulierte er noch im Geist, an welcher Stelle der Garderobe er seine Überkleider deponiert hatte, dann holte er zum Schlag aus. „Du wirst dich noch erinnern, daß du dich heute mittag gebrüstet hast, schon öfters Vorstellungen im ‚Roxi’ besucht zu haben, einem, nebenbei gesagt, unverschämt teuren Filmtheater, das zu Recht seine Pforten schließen muß. Erstens. Ferner hast du zugegeben, daß du ‚Wehe den Glocken von Aberdeen’ schon vordem mehrmals gesehen hast. Zweitens. Ich habe mich aber erkundigt: Das ‚Roxi’ wurde erst vor zwei Jahren im September eröffnet, und zwar mit dieser komischen Hexenverbrennung als Erstaufführung. Zu einer Zeit also, meine liebe Maureen, in der du eigentlich gar nicht hier gewesen sein konntest, da du bereits seit Mitte Mai oder um die Drehe herum angeblich in einem Sanatorium weiltest! Drittens besitze ich einen Brief, den mir deine Jugendfreundin Ginevra Bothwell kurz vor ihrer Ermordung hinterließ. Darin berichtet sie von
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einem Gespräch mit dir über die Vierhundert-JahrFeier des ‚Last Lover of Queen Bess’, von der du Einzelheiten wußtest, die dir überhaupt nicht bekannt gewesen sein durften, weil du nicht dabei warst. Aber“, hier erhob Macpherson emphatisch, von seiner eigenen Rede mitgerissen, die Stimme wie ein Schmierenkomödiant als Heldenvater, „aber du warst doch da! Du warst die ganze Zeit über in Ballamaddy unter dem Namen deiner armen Schwester Eileen! Und zwar blondiert! Eileen selbst wurde gefangengehalten, weil sie von den mörderischen Machenschaften eurer Mutter erfahren hatte. Wie Dornröschen saß sie jahrelang in der geheimen Bodenkammer. Aber eure Eileen durfte nicht schlafen. Sie mußte Kissen sticken, für die ihr dann Preise mit dementsprechendem Höhenz uschlag verlangt habt. Eins davon hab’ ich sogar selbst gekauft, aber das wißt ihr ja schon. Während du als Eileen Killigrew sowohl die Handelsschule als auch Kinos besuchtest, von denen dir das erstere nichts genützt und das zweite nur geschadet hat! Durch eben jenes Kissen kam ich euch und eurem Privatgefängnis auf die Spur, dessen Bewohnerin denselben Weg gegangen war wie Mr. Killigrew und vor ein paar Tagen die arme Ginnie – sie wurden ermordet! Und zwar von den Angehörigen eines berüchtigten Mördersyndikats, dessen Oberhaupt deine Mutter ist! Deine Mutter! Auch auf meine Person wurden zwei Mordanschläge verübt, die allein durch meine Geistesgegenwart vereitelt wurden…“ Ein diskretes Räuspern hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren, um einen eventuellen dritten Versuch im Keim zu ersticken. Zwischen der zweiten Halbzeit und
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dem Eßzimmer ragten die walkürenhaften Kont uren von Mrs. Killigrew wie ein verkohlter Wandschirm auf. In der erhobenen Rechten hielt sie eine volle Flasche Martell, während aus ihrem goldgefüllten Mund ein gewinnendes Lächeln brach wie ein Scheinwerfer. Das hielten Macphersons Nerven nicht durch. „So schlagen Sie doch endlich zu!“ schrillte er in wahnwitzigem Falsett. „Aber ich warne Sie; die Mordkommission von Edwardswhinnie ist davon unterrichtet, daß ich mich in ihrem Haus aufhalte und auch warum! Ich habe Sie längst erkannt! Sie sind der ‚Truthahngeier’, Mrs. Killigrew! Sie und niemand anders!“ Mrs. Killigrew lachte ein wenig, so wie es der gute Ton den Damen erlaubte, daß von ihren gepuderten Kinnbacken kleine rosa Wolken aufstiegen. Dann machte sie eine Bewegung mit der Flasche, aber das Resultat erschöpfte sich in einem dünnen Strahl Martell, der in das Glas floß, das Mrs. Killigrew schon in der Linken bereitgehalten hatte. „Nehmen Sie erst mal einen Kognak zur Brust, junger Mann, Sie sehen ja aus wie faules Weißkraut. Es tut mir zwar leid, aber ich muß Sie wieder mal enttäuschen: Ich bin mitnichten der ‚Truthahngeier’! Auch die drei Morde, sosehr ich damit in Ihren Augen an Prestige verliere, sind weder von mir inszeniert noch ausgeführt. Das einzige, was ich zugebe, ist, daß ich Sie zweimal ein bißchen erschreckt habe und daß wir meiner Tochter Eileen aus rein privaten Gründen den näheren Kontakt mit der Außenwelt versagen mußten. Dagegen stehen auf Ihrem Konto immerhin Hausfriedensbruch und Rufmord!“
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Macpherson hatte den Martell auf Gedeih und Verderb hinuntergekippt, wonach er Mrs. Killigrew plötzlich ungemein sympathisch fand. Der ‚Truthahngeier’ verklärte sich in seiner Erinnerung zu einer Märchenfigur wie König Artus. Und die kahlen Wände des Eßzimmers dehnten sich abwechselnd zum Ausmaß eines Truppenübungsplatzes, um gleich darauf wieder heranzuschwimmen, als wollten sie ihn nicht allzulange allein lassen. Inzwischen hatte Mrs. Killigrew unter Umgehung eines Glases gleichfalls dem Martell zugesprochen. Leider übte das wohlschmeckende Getränk auf sie nicht die gleiche versöhnliche Stimmung aus wie auf Macpherson, der selig auf dem Fußboden lag und mit seiner Brille spielte. Ihre Haltung war im Gegenteil steiler als je. „Hatte ich dich nicht gewarnt, während deiner Vertretungszeit neueröffnete Kinos und Gaststätten zu besuchen?“ zischte Mrs. Killigrew, während ihr Kinn mit einem unsichtbaren Fußball zu dribbeln schien. „Wenn du wenigstens nicht gequatscht hättest! Ich bin überzeugt, dieser miese Zeitungsschmierer da unten steckt tatsächlich mit der Polente unter einem Hut. Er ist mir etwas zu oft in die Stadt gefahren… Was es bedeutet, wenn unsere Namen fettgedruckt in jedem öffentlichen Klosett ausliegen, weißt du so gut wie ich. Rasiermesser oder Rundstricknadel gefällig? Aber was sollen jetzt noch Vorwürfe, wir müssen auf der Stelle weg. Ich werde nur noch schnell Tante Maureen benachrichtigen, daß wir heute nacht vorbeikommen und eine Weile bei ihr untertauchen müssen. Dort sind wir sicher, wenn wir das überhaupt noch irgendwo sein können.
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Ihr wird schon was Passendes einfallen, wie es weitergehn soll. – Jetzt hör dir das an: Drei zu null für Inter Ipswich! Diese Schande! Daran sieht man, daß der ‚Truthahngeier’ leider nichts für Fußball übrig hat!“ Maureen, im dottergelben Hausanzug, leckte Hagebuttenmarmelade vom kleinen Finger und begegnete der immerhin berechtigten Empörung von Mrs. Killigrew mit ihrer kühl-geheimnisvollen Anmut. „Und der da?“ Sie ließ eine ihrer bloßen Zehen auf Macphersons Schulter ruhen. „Wozu Tante Maureen belästigen? Ein Briefchen zur Brauerei, und die himmlischen Heerscharen verfügen morgen über einen frischen Briefträger!“ „Wir haben unser diesbezügliches Konto schon überzogen.“ Mrs. Killigrew, spätherbstlich in grünen Loden und Jägerhut gekleidet, stand neben der Flurtür und ließ ihr Koppelschloß einrasten wie eine Rattenfalle. „Ich habe ihm vorerst eine kleine Prise in den Kognak getan, für zwei Stunden ist er total high. Außerdem wird er nachher winterfest eingebunkert. Leg uns inzwischen die Pelze zurecht, ich bin gleich wieder da!“ Macpherson unterm Teewagen sah und hörte alles wie ein Säugling, der einer Vorlesung über die Symbolik der altpersischen Liebesdichtung beiwohnt. Er schaute besinnlich zu, wie Maureens nackte Füße in die Stiefelchen glitten, und spendete Beifall in Form von Luftblasen, die sich statt nichtssagender Komplimente zwischen seinen Li ppen bildeten. „… aber wenn ich es dir doch sage, liebste Clelia – Mrs. Killigrew sprach nicht nur von Verlobung, sie hat auch vier Törtchen bestellt! Und ich halte sie nicht für
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fähig, sich solchen Ausgaben ohne triftigen Grund zu unterziehen. Zudem weiß ich von seiner Wirtin, Miß Bothwell, daß er an dem betreffenden Abend überhaupt nicht nach Hause gekommen ist! Was glaubst du, wo dein junger Mann die Nacht verbracht hat? Ach, arme Clelia!“ Miß Glennys lächelte hämisch-heiteren Mundes. Aber selbst der Triumph, ihrer besten Freundin eine betrübliche Nachricht zu bringen, konnte ihre arglosen Äuglein von der Farbe gequollener Sultaninen nicht in eine Richtung zwingen. „Erst früh halb sieben hat er seinem Heim einen kurzen Besuch abgestattet, um sich zu rasieren und eine Tasse Tee zu trinken. Apropos, wenn du nichts dagegen hast, Clelia, gieße ich mir noch einmal nach?“ Miß Hamilton, in deren Oberstübchen diese behagl iche Teestunde um einen Berberitzenstrauß herum stattfand, legte we hmütig den Kopf auf die Seite wie eine erkältete Nachtigall. Aber auch durch diese Mitteilung hatte ihre Zuneigung zu Briefträger Macpherson keine Minderung erfahren. „Wenn ihm das geringste an dieser Verlobung läge, zu der man ihn ohne Zweifel gezwungen hat, hätte Mr. Macpherson mir davon erzählt. Oder wenigstens eine schriftliche Anzeige geschickt. Da er nichts dergleichen für nötig hielt, werde ich diese ‚Verlobung’ ebensowenig ernst nehmen wie Mr. Macpherson selbst. Für mich ist er immer noch der gleiche!“ Voll zarter Inbrunst, als berge er das Herz des Vorerwähnten, legte Miß Hamilton ihre Hände um den bronzenen Teelichtbehälter. Der stammte von einer italienischen Studienreise Apotheker Hamiltons und
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war dem Grabmal Theoderichs des Großen zu Ravenna täuschend nachgebildet. „Wenn du wüßtest, wie er zu mir ist… Lache bitte nicht so schrill, Glennys, ich finde das ausgesprochen taktlos!“ „Das war nicht ich, liebste Clelia“, mummelte Miß Glennys undeutlich, indem sie die abgebissene Spitze ihrer schwarzen „Charles I.“ durch ein Fenster des Grabmals spuckte, „sondern es hat geläutet!“ Gleich darauf wurde noch einmal an der Nachtglocke gerissen. Apotheker Hamilton hatte sie seinerzeit in seine Wohnung hinauflegen lassen; jetzt diente sie postalischen Dringlichkeitsfällen. „Gleich sechs – wer kann das jetzt noch sein?“ mutmaßte Miß Hamilton, und da sie sofort an Macpherson dachte (sie dachte immer an Macpherson), flog sie an allen Gliedern und hüllte sich statt in ihren Häkelschal in das Schlafwohl-Tuch ihres Wellensittichs Pinkie. Als sie nach einer Viertelstunde zurückkehrte, hatte sich zu dem Arnikaduft ihrer gewöhnlichen Ausstrahlung noch entschiedene Mißbilligung gesellt. „Nein und nein, ich habe es nie gutgeheißen, wenn die Leute so mir nichts dir nichts von lieben, alten Gewohnheiten abgehn. Das heißt ja förmlich das Schicksal herausfordern! Das heißt auch, daß du dein Jäckchen besser wieder anziehst, meine gute Glennys, sonst holst du dir eine Erkältung!“ Miß Glennys, in der ärmellosen Hälfte ihres Jackenkleides, mit Bijouterien besteckt, schlug gleichmütig ihre Aschensäule ab, welche Bewegung noch im Beben ihrer mortadellafarbenen Oberarme sichtbar wurde. Ihr
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brauner Blick umfaßte Miß Hamilton erwartungsvoll, ohne sie allzu direkt anzustarren. „Na?“ „Erinnerst du dich noch an den Frühling vor zweieinhalb Jahren, meine Liebe? Damals traten die Killigrews ihre alljährliche Sommerreise nach Edinburgh schon im April an. Diese unsinnige Überstürzung rächte sich, denn wie du weißt, kam Mrs. Killigrew von dieser Reise als Witwe zurück. Diesmal hat sie sich den Oktober ausgesucht, eine höchst unpassende Zeit für Somme rreisen. Eben hat sie ein Telegramm an die Großkusine der ersten Frau ihres verstorbenen Gatten aufgegeben, in dem sie ihre und der Tochter Ankunft noch für diese Nacht anmeldet. Als ich sie darauf aufmerksam machte, daß der nächste Bus nach Edwardswhinnie doch erst morgen früh um sechs Uhr hier abgeht und die Kleinbahnstrecke Edwardswhinnie – Ballamaddy laut Regierungsbeschluß erst in siebenundzwanzig Jahren vorgesehen ist, gebrauchte Mrs. Killigrew recht merkwürdige Worte, die ich hier vor dir nicht wiederholen will. Wie schon gesagt, mißbillige ich derartig exzentrische Entschlüsse aus tiefster Seele und würde mich nicht im geringsten wundern, wenn von dieser Reise weder Mrs. Killigrew noch ihre Tochter zurückkehren. – Warum willst du denn schon gehn, liebe Glennys? Du hast doch erst fünf Tassen getrunken?“ Aber Miß Glennys hatte bereits durch Überstreifen eines rosa Fischgrät-Jäckchens den Fleischpartien zwischen Schulter und Ellenbogen ihre Fürchterlichkeit genommen und die „Charles I.“ in die Zigarrentasche zurückgesteckt. Ihr Abschied war nicht mehr aufzuha lten.
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Inzwischen sah Macpherson wieder klarer, wenn er auch noch außerstande war, irgendwelche Proteste anzumelden oder sich vom Tischbein zu lösen. Leider dauerte die klare Sicht nicht lange an, denn plötzlich erloschen die Stehlampe und die Wandleuchten über dem Eßplatz aus Neu-Chippendale. Mrs. Killigrew betrat mit einem Armleuchter das Zimmer und musterte befriedigt den Haufen Rauchwaren auf der Couch. Sodann entledigte sie sich ihres Jägerhütchens und des Lodenmantels, was Macpherson, an der Zimmertemperatur gemessen, ganz in der Ordnung fand. Um so mehr befremdete es ihn, daß die Dame di esen Kleidungsstücken auch ihre Brosche, die Hemdbluse und den Rock folgen ließ. Angesichts des darunter befindlichen busenlosen Jägerhemdes und der typischen Vorderverarbeitung der knielangen Unterhose dämmerte bei Macpherson die nebelhafte Erkenntnis, daß Mrs. Killigrew ihre Umwelt bisher mit Erfolg über ihr wahres Geschlecht getäuscht hatte. Aufatmend zerrte sich das Individuum anschließend die rote Garbofrisur vom Kopf, unter der ein spärlich behaarter Männerschädel zum Vorschein kam, und stieg unter rauhem, männlichem Gelächter in ein paar amerikanische Farmerhosen und gewaltige Schaftstiefel. Einem Norwegerpullover, um dessen Brustumfang sich eine Girlande galoppierender Hirsche wand, folgte ein schwarzer Schafspelz mit dem Fell nach innen, vermutlich aus dritter Hand von einem Bahnwärter gekauft. „Bist du fertig, Maureen?“ wollte der nunmehrige Mr. Killigrew wissen und legte letzte Hand an den Kinnriemen der Motoradkappe.
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„Aber ja, Daddy, oder soll ich immer noch Ma sagen?“ Für Maureens Maxipelz hatte ein ganzes Rudel Polarfüchse herhalten müssen. Sie hüpfte herum und stopfte sich alle Taschen voll Streichholzschachteln. „Red jetzt kein Blech, Kind“, kam es nervös von Mr. Killigrews immer noch bemalten Lippen, „faß lieber mit an. Nimm du die Füße, den Rest lade ich mir auf den Rücken. Hast du den Schlüssel zur Bodenkammer?“ Schon fühlte Macpherson Schwerelosigkeit in allen Gliedern; ihm schien, als schwebe er aus dem Eßzimmer hinaus, den Korridor entlang, an seinem Trenchcoat vorbei, dann durch die Bodentür die steile Stiege hinauf und beim Schein einer ausgezeichneten Taschenlampe, der er zu Anfang des Romans schon einmal begegnet sein mußte, durch eine eiskalte, muffig riechende Unendlichkeit. Unsanft abgesetzt, vernahm er zu seinen Häupten das Umdrehen eines Schlüssels, worauf er erneut aufgehoben wurde, aber diesmal mit nachschleifenden Füßen. Das klamme blaue Inlett, in dem er anschließend versank, brachte ihm eine im Moment nicht fixierbare, aber süße Erinnerung zurück. Langsam streifte sein aufklarender Blick über die Geißblatt-Tapete – Eileens Einzelzimmer! Der Raum ohne Klinke! Unvermutet fing Maureen an zu lachen, es warf sie förmlich, sie konnte gar nicht wieder aufhören. Auch die scharfen Züge Mr. Killigrews konnten sich eines Grinsens nicht erwehren. „So, nun laß uns gehn, mein Liebling“, ließ er sich abschließend vernehmen, „ich glaube, unser junger Freund wird hier ebenso unbeschwerte Tage verleben wie die arme Eileen. Nur die Sicherungen mußte ich
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leider herausdrehen, damit während unserer Abwesenheit die Stromrechnung nicht ins unermeßliche steigt. Aber dafür wird er wohl Verständnis aufbringen, denke ich.“ Dazu glitzerten die hochgeschobenen Gläser der Motorradbrille im Schein der Taschenlampe wie die Augen eines boshaften Froschs. Dann fiel die Bohlentür hinter ihnen ins Schloß, ohne daß Macpherson die Energie aufgebracht hätte, seiner verführerischen Verlobten ein kleines Abschiedswort zuzuwerfen. Die Schritte verhallten, und das koboldhafte Gelächter Maureens erstarb. Nach wenigen Minuten heulte vorm Haus das Motorrad auf, das Mr. Killigrew in weiser Voraussicht im Sommer erstanden hatte, dann war es grabesstill um Macpherson. Still und dunkel wie im Kielraum eines alten Wracks, das die letzten Ratten soeben verlassen haben. Da er im Moment sowieso nichts anderes tun konnte, als die Wirkung der Droge auszuschlafen, tat er so. Beim Erwachen nach einem durch fremde Gewalt herbeigeführten Schlaf weiß man gewöhnlich nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hat – zwanzig Minuten oder zehn Stunden. Ebenso erging es Macpherson, als er sich noch etwas benommen vom Inlett abstieß. Seinem gut ausgebildeten Ortssinn zufolge wußte er jedoch sofort, wo er sich befand, und tastete nach dem Lichtschalter. Er wollte seiner Armbanduhr einen Blick abstatten. Leider brachte Macpherson der nun zutage tretenden Sparsamkeit Mr. Killigrews so wenig Verständnis entgegen, daß er den Abwesenden sowie dessen selige Mutter mit den schlimmsten Verdachtsmo-
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menten belastete, was die Geburtsumstände Mr. Killigrews betraf. Zum Glück war da noch die bauliche Veränderung von der Größe zweier Ziegelsteine, deren Urheber Macpherson vor einigen Tagen selbst gewesen war. Das kam ihm jetzt zustatten, denn draußen schien starker Mondschein zu walten. Macpherson hielt seine Augen dicht an die Lücke, stellte fest, daß es zehn vor zehn Uhr abends sei und daß die Obstbäume, soweit er sie sehen konnte, von unten her förmlich im Licht wateten. Auch ihm selbst wurde ein schwacher Abglanz davon zuteil, jedenfalls rein geistig gesehen. Der Garten, dachte er, natürlich der Garten! Warum hab’ ich Miß Bothwell damals nicht besser zugehört, als sie mich vor diesem Haus warnte! Läßt eine Hausfrau, deren ganzes Herz an Sellerie, Dahliensorten und Winterzwiebeln hängt, ihren geliebten Garten von heute auf morgen verkommen, brachliegen wie ein Witwenbett, nur weil sie selbst zufällig Witwe geworden ist? Im Gegenteil – draufgestürzt hätte sie sich, Trost gesucht bei all den dankbaren Wurzeln und Knollen… Das hätte mir gleich zu denken geben sollen. Das bringt nur ein Mann fertig. Jetzt ist es zu spät… Bei einer weiteren Musterung des Panoramas begann ihn der Lichtschein, der den Garten ausleuchtete wie Tiefstrahler einen Fußballplatz, ernstlich zu befremden. Selbst mit der Interpol auf den Fersen hätte Mr. Killigrew sich nie so weit vergessen, in allen unt eren Etagen das Licht brennen zu lassen. Der beste Beweis dafür war ja das Versagen seines Nachtlichtes in der Bodenkammer. Aber irgend etwas mußte da brennen… Macpherson sog prüfend die Luft ein, indem er
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seinen Schnurrbart mit zwei Fingern niederdrückte, damit er ihm nicht als irreführender Filter dazwischenkäme. Tatsächlich, das Ergebnis erbrachte einwandfrei eine starke Beimischung versengt und angekohlt riechender Luftanteile. Jetzt gab es für Macpherson keine Frage mehr – das Haus brannte lichterloh, auf jeden Fall der erste Stock und die Diele. Schade, daß Maureen ihr Werk nicht mehr sehen konnte. Wie hätte ihr phosphoreszierender Blick sich daran satt getrunken! Jemand hatte doch einmal an Maureens Augen den Farbton der Pistazien gerühmt… ach ja, Miß Glennys. Ein Vergleich, so schwunglos und prosaisch wie diese fette Buttercreme-Unke selbst. Strenggenommen war nur sie daran schuld, daß man morgen früh außer zwei silberlegierten Blechmanschettenknöpfen nichts mehr an Fourthjuly Macpherson, Briefträger zu Ballamaddy, gewesener Reporter des „Scotch Evening Mercury“ zu Edwardswhinnie (Provinzseite), erinnern würde. Er starb im Alter von 21 Jahren… Nein, das war zu jung! Man spart am Strom, am Fahrgeld, meinetwegen auch an Spesen für die Angestellten, aber nicht am Lebensalter. Das ging entschieden zu weit! Selbst für jemanden, der in Gussieness das Licht der Welt erblickt hatte, wo, wie bekannt war, zwei alte Damen lebten, die noch immer nicht wußten, daß die Königin Viktoria inzwischen gestorben war, da sie kein Radio besaßen, noch eine Zeitung oder Aufwartefrau hielten. Und so öffnete Macpherson entschlossen seinen Mund und röhrte beweglich in die brenzlige Oktober-
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nacht hinaus: „Miß Bothwell! Es brennt! Aufwachen! Miß Bothwell!“ Die Bothwellsche Villa illuminierte das linke obere Auge. Als Pupille zeichnete sich darin der tuchumwundene Kopf von Miß Bothwell ab. Im Gegensatz zu den Mohammedanern schien sie auch mit ihrem Turban zu schlafen. „Ja, hier Bothwell! Haben Sie mich gerufen, Mr. Macpherson? Was riecht denn hier so sengerig, haben Sie heimlich gebügelt? Das hätte ich doch für Sie erledigt… Überhaupt, wann sind Sie denn nach Hause gekommen? Ich habe Sie gar nicht gehört!“ „Ich habe nicht heimlich gebügelt“, scholl es verzweifelt durch das Prasseln der Balken und den Funkenregen herüber, „ich bin auch nicht nach Hause gekommen, sondern Mr. Killigrews Haus brennt, falls Ihnen das bis jetzt entgangen sein sollte!“ „Tatsächlich, jetzt sehe ich es auch!“ Miß Bothwell starrte begeistert in die Flammen, die den ersten Stock fast verzehrt hatten. In ihrem Krächzen schwang unverhohlener Jubel mit, da sie nach wie vor der Ansicht huldigte, daß nur Mrs. Killigrew, oder wen sie dafür hielt, das plötzliche Abl eben Ginnies veranlaßt habe. „Müssen die aber einen festen Schlaf haben! Sollte man nicht vielleicht doch daran denken, sie zu wekken? Immerhin sind wir seit bald zwanzig Jahren Nachbarn…“ „Da gibt es nichts mehr zu wecken! Die sind längst über alle Berge!“ „Ja, aber dann lassen Sie das alte Wespennest doch ruhig runterbrennen, Mr. Macpherson. Warum wollen
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Sie löschen, wo es Mrs. Killigrew selbst nicht für nötig hält?“ „Ich lösche doch gar nicht“, gestand Macpherson unwillig und schon recht heiser. „Ich sitze in der Bodenkammer und kann nicht ‘raus! Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen, Miß Bothwell, dann schlagen Sie die vier Feuermelder vorm Postamt ein: den von Kildary, den von Kilnomore, den von Jacobswhinnie und den hi esigen. Fragen Sie, wer im Moment im Besitz der gemeinsamen Spritze ist, und alarmieren Sie die betreffende Feuerwehr, bitte, Miß Bothwell! Denken Sie an die Miete vom November, die Ihnen sonst verlorengeht!“ Nach wenigen Sekunden schon hatte seine besorgte Wirtin den Wintermantel über das eichhörnchenbraune Negligé geworfen und den Turban mit der Landsknechtkappe vertauscht. Sie nahm eben Anlauf, um mit ihrem alten Damenrad selbstlos die eigene Gartentür zu überreiten, als ein Ruf aus der benachbarten Bodenluke sie noch einmal innehalten ließ: „Noch was, Miß Bothwell! Wenn Sie bitte anschließend zur Telefonzelle gehen und die Mordkommission in Edwardswhinnie verständigen würden, ja? Und zwar Kriminalassistent Knox! Es ist sehr wichtig! Er soll sofort hierherkommen und einen Wagen mitbringen! Und einen Haftbefehl! Wir müssen dem ‚Truthahngeier’ nachfahren!“ Während Miß Bothwell guten Willens davonradelte, mit ihren offenen Überschuhen kämpfte und sich schwor, den Kauf der Rennradbindung für die Pedale auf keinen Fall mehr länger hinauszuzögern, überlegte
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Macpherson, ob er noch bis zu Knoxens Ankunft durchhalten werde. Die Flammen hatten die letzte Steppdecke aufgefressen, das Arzneischränkchen verdaut und die Badewanne verbogen. Hungrig waren sie die Treppe zum zweiten Stock heraufgezüngelt, taten sich am NeuChippendale gütlich und brachten die Bildröhre des Fernsehers zum Platzen. Einige begannen schon an der Bodentür zu lecken. Der Qualm, der durch sein selbstgeschaffenes Luftloch drang, war zum Einatmen wenig geeignet, so daß Macpherson zu Eileens Bibliothek griff und in der Lücke eine kleine Barrikade aus Walter Scott und Edgar Wallace errichtete. Aber lange würde auch die Literatur nicht dicht halten können. So barg er denn sein verzerrtes Antlitz im blauen Inlett und lauerte auf die Feuerwehr wie Elsa von Brabant auf die Fanfare des Gralsritters. Immer noch nichts – vermutlich war die Spritze di esen Monat in Kildary stationiert . Das bedeutet eine Entfernung von 41 Kilometern… Da drang ein Geräusch an sein verkrampftes Ohr: wie von einem schweren, großen Auto, das mit etwas Rasselndem, Scheppernden beladen ist und ein eisernes Gartengitter niederfährt. Die Feuerwehr! Für Ballamaddy kam sie zu spät, für die anderen Orte zu früh. Nur für den Loch Connery wäre die Zeit einigermaßen zutreffend gewesen, aber was hätte sie dort zu suchen gehabt? Und so ganz ohne Sirene… Schon vernahm er zögernde Schritte über sich. Sie hatten wohl die Leiter bis an den Rand des flachen Daches gefahren, und sein Retter marschierte um den
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östlichen Schornstein und suchte einen Einstieg zum Boden. „Hierher!“ hustete Macpherson. Der Rauch drang ständig in feinen Fäden durch die Bohlentür und umschmeichelte seine Lunge wie der Schatten eines Gorillas die Seele einer jungen Bergziege. „Hierher Leute!“ Oben stolperte jemand, ließ einen unbeschwerten Fluch folgen, in dem ein Ziegelstein und Dachpappe eine Rolle spielten, um sodann stehenden Fußes mit unvermindert er Geschwindigkeit durch das verdeckte Oberlicht zu brechen. Es regnete Milchglas, die Kammer wurde etwas heller, und vor dem beglückten Macpherson stand ein junges Kerlchen, kaum so alt wie er selbst, mit Asbestschürze und funkelndem Helm. „Nett, daß Sie mich so schnell gefunden haben! Seid ihr aus Jacobswhinnie?“ „Quatsch, wir sind hier aus Ballamaddy! Aber der Metzger hat zuerst versucht, das Spritzenhaus mit seinem Briefkastenschlüssel zu öffnen, bis er den Irrtum dann mitbekam. Los, so helfen Sie mir schon, den Tisch unter die Öffnung zu schieben. Die Bude kann jeden Augenblick grätsch machen! So, jetzt klettern Sie aufs Dach ‘raus, ach du liebes Ungeheuer vom Loch Ness, doch nicht so! Wissen Sie nicht, was ein Klimmzug ist?“ „Warum habt ihr denn so leise gemacht?“ versuchte Macpherson keuchend abzulenken und schlingerte durch das Oberlicht. „Sollen wir wegen hundert Metern unsere Sirene abnutzen?“ gab der helmbewehrte Jüngling unwillig zurück und wuchtete Macpherson über den Lukenrand.
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„Gleich rechts ist die Leiter. Sie können auch das Sprungtuch verlangen…“ Macpherson sprang. In der Erwartung Knoxens und des Wagens, der ihn bringen würde, hatte Macpherson sein Hauptquartier in die Diensträume der Post verlegt, wo ihm Miß Hamiltons eifrige Hände eine Schreibtischlampe entzündet und ein Kännchen aufgewärmten Tee zurechtgestellt hatten. Er widmete seinem Trenchcoat und Apotheker Hamiltons Bratenrock einen längeren Nekrolog, in dem er wiederholt betonte, daß er an deren Schicksal unschuldig sei. Die gute Miß Hamilton verzieh ihm den Verlust ohne große Worte, indem sie so blauäugig und kindlich lächelte wie ein Vergißmeinnicht. Und als sie gar erfuhr, daß der Trenchcoat sein einziges Kleidungsstück dieser Art gewesen sei, wenn man von einem Regenmantel und einer Strickjacke absah, sprang sie hinauf in die Kammer ihrer Eltern und brachte ihm unter allerlei zärtlichen Gebärden den Havelock ihres seligen Vaters. Er war aus wunderbarem Tuch, und Macpherson nahm ihn an, nachdem ihn Clelia Hamilton seines Sprunges vom Dach wegen mehrmals einen Helden genannt hatte. Sonst hätte sie nicht damit aufgehört. Als er gar einige Andeutungen fallenließ, daß er, Macpherson, gewesener Reporter und jetziger Briefträger, den großen „Truthahngeier“ entlarvt habe, was der vereinigten Polizei von Schottland in acht Jahren noch nicht gelungen sei, war sie nahe daran, vor seinem Drehstühlchen in die Knie zu sinken. Nur der Eintritt von Knox, geräuschvoll und buntgewandet wie ein
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Märchenkönig, der sich in gewissen Nächten unters Volk mischt, ließ sie davon Abstand nehmen. „Hallo, Macpherson, alte Postschnecke, guten Abend, Madam“, kam es zwanglos von Knoxens Lippen, während seinen Kleidern – einem silbernen Pullover, kirschroten Strickhosen und einer Weste aus Wolfspelz, die nach außen hin mit Zitronenscheiben, Hagebutten und phallischen Symbolen bestickt war – ein Hautgout nach vielen Zigaretten in kleinen Zi mmern entströmte. „Muß ja was Tolles losgewesen sein, wenn der schöne Banquoboy deinetwegen extra ‘ne Party quittieren muß. Habe heute zufällig mal dienstfrei. Zu deinem Glück wußte Fergusson ungefähr, wo er mich suchen mußte. Bei der siebten Bar schon hatte er mich.“ Bewundernd richtete Knox seine tiefliegenden Augen auf Macpherson und pfiff neidvoll durch zwei seiner Zähne. „Fabelhaft, woher ihr hier auf dem Land immer von den letzten modischen Gags erfahrt! Ist doch erst seit drei Wochen up to date, Havelock zu tragen… Gleichviel, worum handelt sich’s denn überhaupt? Was Neues von Mama Killigrew?“ „Hat sich was mit – hick – mit Mama!“ Macpherson, den vor Aufregung der Bock stieß, umklammerte Knoxens Ärmel, „haben Sie den – hick – den Haftbefehl?“ Banquo Knox nickte gefällig und schlug mit der bi llig, aber geschmackvoll beringten Hand auf die linke Seite seiner Wolfsweste. „Und einen W… – hick – einen Wagen?“ Knox schüttelte verneinend.
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Der arme Macpherson drehte sich so hastig um die eigene Achse, daß der Havelock ihn umstand wie ein schwarzwollener Tutu. „Keinen Wagen? Ja, wie – hick- wie sollen wir denn dann nach – hick – nach Edinburgh kommen? Wir müssen heute nacht noch nach – hick – Edinburgh, dort verbirgt sich der ‚Truthahngeier’! Ich serviere ihn Ihnen auf einem – hick – silbernen Tablett! Was machen wir aber jetzt?“ Knox knickte die silbernen Arme in Seithalte und flatterte mit den Händen wie ein ausgedienter Kampfhahn. „Wir fliegen! Ich hab’ mir in der Bar einen Helikopter geliehen, kostenlos, selbstverständlich! Dieser deutsche Playboy hat ihn mir förmlich aufgedrängt unter der Bedingung, daß er überall dabeisein darf. Aber das werden wir elegant umgehen. Unseren ‚Truthahngeier’ fangen wir allein, der gehört Schottland! Erzählen Sie mir alles unterwegs, alter Junge, auf nach Edinburgh! Nein, zuerst mal nach den Gemeindewiesen, dort ist unser Helikopter niedergegangen.“ Mit Havelock und windgesträubtem Schnurrbart anzusehen wie ein viktorianischer Landarzt, trat Macpherson mit Volldampf in sein Postrad. Die Sternstunde nahte und mit ihr der Augenblick, da sich Hume demütig lächelnd wie ein Engerling unter seinem Absatz winden würde. Hinten auf dem Taschenständer hockte Knox im bestickten Wolfsfell, eine ausgegangene „Rob Roy“ zwischen den Fingern, und sang aus Leibeskräften: „Now they drum for last tattoo, Farewell-Time for me and you…“ 217
Zwei Stunden später landeten sie in Edi nburgh auf dem Rugbyplatz eines Priesterseminars. Die King-Charles-Corner schwamm in Leuchtstoff, Mondschein und stillem Frieden. Dem „Bloody Dog“ hatten böswillige Behörden seit vier Monaten die Augen zugedrückt, aber vor der Nummer 663 b parkten zwei Fahrzeuge: eine blaue Honda und ein cremefarbener Kabinenroller. An beiden Nummernschildern erkannten alle unschwer die Zugehörigkeit zu Ballamaddy. Über das Motorrad konnte Macpherson Auskunft geben. Aber wem gehörte der Kabinenroller? Der flaschenköpfige Fergusson, den Knox seines Gardemaßes wegen für die Dekoration der Wohnungstür mitgenommen hatte, ließ einen kurzen Lichtstrahl und einen noch kürzeren Blick von oben durch das Glasdach fallen. „Weiber“, erklärte er dann sachlich, „rosa Schaumledersitz, eingedrückter Sitzdurchmesser ca. 75 cm und Hirschfänger mit Lippenstiftflecken.“ Hier postierten sie den Playboy, da Knox beteuerte, er könne für dessen Leben nicht mehr geradestehen, wenn sie jetzt in näheren Kontakt mit dem heimtückischen und gewiß schwerbewaffneten Mördersyndikat „Truthahngeier“ träten. Dann standen sie vor dem ovalen Porzellanschild. Knox betastete noch einmal schweratmend seine linke Achselhöhle sowie die rechte Hosentasche seiner roten Strickhose und bedeutete Fergusson, bei sich ein Gleiches zu tun. Auch Macpherson putzte seine Brille. Bedeutsam rührte Knox an dem vergilbten Klingelknopf…
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Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und eins von Mrs. Tipplewaters listigen Mausäuglein glitt prüfend an Knoxens Erscheinung auf und ab, der als einziger im Lichtkreis stand. „Der Haschischkeller ist 663 a, junger Mann, aber soweit ich unterrichtet bin, wurde er vor vier Monaten zugemacht!“ „Wer hier hascht, ist noch die Frage!“ Härter als beabsichtigt trat Knoxens modisch beschuhter Fuß zwischen Tür und Schwelle. Mit Würde bog er seinen silbernen Rollkragen um, wo er vorhin in der Eile die Marke befestigt hatte. „Sofort aufmachen, Polizei! Kriminalassistent Knox von der Mordkommission Edwardswhinnie mit zwei Mann Begleitung, ein Mann vorm Haus. Wissen Sie, daß ich das als Beamtenbeleidigung auffassen könnte, alte Dame?“ Mrs. Tipplewater haspelte an der Türkette und lä chelte gütig. „Wenn Sie Ihr Kostüm berücksichtigen, Herr Kriminalassistent, werden Sie mir verzeihen, daß ich mich irreführen ließ. Sie sehen aus wie Prinz Kalaf aus ‚Turandot’!“ Endlich war sie mit der Tür ins reine gekommen und trat zurück, um Knox mit seiner Suite einzulassen. Diesmal trug sie keinen Kimono, wie Macpherson mit einem neugierigen Seitenblick feststellte, sondern einen Reifrock aus schwarzem Brokat. Die weiße Mühlsteinkrause präsentierte ihr Gesichtchen mit der maulbeerfarbenen Perücke wie ein barocker Tafelaufsatz eine Backpflaume. Eine schwarze Augenklappe rechts gab ihrem Profil etwas Verschlagenes, Anonymes oder
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Erhabenes, je nachdem, von welcher Seite man Mrs. Tipplewater betrachtete. Über dem Ganzen waren ein schwarzes spanisches Hütchen und ein weißlila Federstutz befestigt. „Sieh an, junger Freund“, zwitschernd versuchte sie, Macpherson die Hand auf die Schulter zu legen, wovon sie aber ihres Mühlsteinkragens wegen Abstand nehmen mußte, „haben Sie nicht schon einmal meine Gastfreundschaft in Anspruch genommen?“ Macpherson gab dies, wenn auch ungern, zu. Sein Unterbewußtsein registrierte einen Fahrerpelz und einen Polarfuchsmantel, die einträchtig und keiner bösen Überraschung gewärtig nebeneinander an der Garderobe hingen. „Schau, schau, man hat sich ein Schnurrbärtchen zugelegt… Ich darf doch wohl bei Ihnen annehmen, daß es echt ist? Was ich von meinen Haaren nicht jeden Tag behaupten kann!“ Hier überfiel Mrs. Tipplewater wieder einer ihrer jugendlichen Kicheranfälle, so daß Macpherson beunruhigt in Richtung Wohnzimmer blinzelte, wohin Knox bereits verschwunden war. Aber an der Eingangstür lehnte der vertrauenswürdige Fergusson wie eine Pappel. So erlaubte er sich im Weiterschreiten die mitfühlende Frage, ob Mrs. Tipplewater vielleicht unter einem Hagelkorn leide? „Die Prinzessin Eboli“, gab Mrs. Tipplewater mit träumerisch-singender Stimme Auskunft, „war einäugig, wie zahlreiche Porträts beweisen. Darf ich erfahren, ob Sie jemanden Bestimmtes suchen? Es ist immerhin nach Mitternacht!“ Die letzte Beschwerde samt Frage betraf Knox, der den japanischen Teesalon soeben unz ufrieden wieder verlassen hatte.
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„Wir suchen Mr. Lionel Killigrew und seine Tochter Maureen Killigrew, die Ihnen vergangenen Abend ihre unerwartete Ankunft telegrafisch meldeten.“ „Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt, Herr Kriminalassistent“, lachte die Prinzessin Eboli. Sie schien erleichtert. „Darf ich Sie ins Schlafzimmer bitten? Dort finden Sie alles, was Sie suchen.“ Beim traulichen Schein einer Gallé-Lampe (eine sich öffnende Victoria regia darstellend) saßen hier Mr. Killigrew, der ruhig und gefaßt schien, und seine Tochter Maureen, von der man Gleiches nicht behaupten konnte, Rücken an Rücken auf zwei reizenden Biedermeierstühlchen festgebunden. Seine Rechte und ihre Linke begegneten sich innerhalb einer altmodischen Handschelle. „Donnerwetter!“ entfuhr es Knox. „Ich wollte Ihnen die Arbeit erleichtern“, erklärte Mrs. Tipplewater schlicht, „es war mir klar, daß früher oder später ein Vertreter Ihrer Zunft mich heimsuchen würde, da zuviel Personen Kenntnis von dem Telegramm besaßen. Bisher habe ich immer große Stücke auf Lionel gehalten – seine erste Frau, die arme Eleanor, war immerhin meine Großkusine –, aber als er mir vorhin gestand, daß Maureen sich verplappert hat und er noch dazu die himmelschreiende Dummheit beging, unseren gemeinsamen Freund hier in sein Privatgefängnis einzusperren, wußte ich, daß das Maß voll war. Das ist kein anämischer, verschüchterter Teenager, habe ich ihm gesagt, der kommt ‘raus! Und wie du siehst, Li onel, habe ich recht behalten…“ Mit feinem Lächeln zog Mrs. Tipplewater einen bleistiftdünnen Zi-
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garillo aus den Falten ihres Gewandes und bat Knox um Feuer. „Wie Sie soeben treffend bemerkten“, knüpfte der geschickt an seine Vorrednerin an, „ist unser Freund Macpherson nicht ausgesprochen verschüchtert, noch weniger anämisch und erst recht nicht als Teenager zu bezeichnen!“ Bei diesen Worten richteten sich alle Blikke auf Macpherson, der vergeblich seine glühenden Wangen zu verbergen trachtete. „Da aber“, fuhr Knox mit erhobener Stimme fort, „dieser Vergleich nicht von ungefähr gewählt wurde, haben Sie damit unseren Verdacht bestätigt, daß Mr. Killigrew seine jüngere Tochter Eileen zwei Jahre lang auf dem Boden gefangenhielt. Mr. Lionel Killigrew, ich verhafte Sie wegen unerlaubten Tragens von Frauenkleidern; weiterhin stehen Sie unter Anklage, Ihre zweite Frau, Vanessa Killigrew, und Ihre Tochter Eileen ermordet zu haben. Geben sie drittens zu, daß Sie der ‚Truthahngeier’ sind, wir haben genügend Beweise gegen Sie!“ Knox und mit ihm Macpherson nebst dem treuen Fergusson warteten mit Spannung auf das Zusammenbrechen des abgefeimten Verbrechers, dessen Brustkasten unter der ihn umspannenden Wäscheleine jedoch genauso gemächlich weiteratmete wie zuvor. Nur in Mr. Killigrews Antlitz, von der Motorradfahrt beschmutzt, zog sich bei dem Wort „Beweise“ ein Grinsen zusammen, dem selbst die weißgebliebenen Felder rings um die Augen nichts von seiner Schadenfreude nehmen konnten. Knox entrollte den Haftbefehl, las ihn und tat ihn wieder zusammen. Ganz nebenbei wollte er wissen, ob Mr. Killigrew eigentlich feuerversichert sei.
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„Kurz nach Ihrer Abreise brannte Ihre Villa nieder. Das Feuer entstand in den unteren Räumlichkeiten, und Mr. Macpherson, der sich ja auf dem Boden befand, entdeckte das Unglück zu spät, so daß nichts gerettet werden konnte. Außer ihm natürlich. Wußten Sie davon?“ Das Gesicht Mr. Killigrews büßte auffallend rasch sein Grinsen ein, um dem Ausdruck blinder Wut Platz zu machen. Nachdem sein Teint für vier Sekunden die Farbe von roher Schweineleber angenommen hatte, war sein linker Arm in Freiheit. Er mißbrauchte denselben, indem er ausholte und die Hand über seine rechte Schulter hinweg auf Maureens Wange fallen ließ. Anschließend hatten die drei Männer Mühe, das zwölfbeinige Gebilde wieder aufzustellen, ohne einen der beiden Gefangenen losbinden und zur Mithilfe auffordern zu müssen. Aus Maureens stechpalmengrünen Augen sprang Träne auf Träne, obwohl kein Ton des Vorwurfs über die Züchtigung von ihren zerbissenen Lippen kam. Es ging über Macphersons moralisches Stehvermögen, den immer noch geliebten zarten Busen von rohen W äscheleinen gefesselt und im Rhythmus des stummen Schluchzens hüpfen zu sehn. Er murmelte etwas von „lange keine Gelegenheit gehabt“ und „gleich zurück sein“ und verließ das Schlafzimmer, um es mit jenem Gemach zu vertauschen, wo kein Mensch gezwungen ist, seine innersten Gefühle grausam zu vergewaltigen. Im Abgehen hörte er noch, wie Banquo Knox, weniger von Feingefühl geplagt, herunterleierte: „Maureen Killigrew, ich verhafte Sie wegen Mitwisser- und möglicher Mittäterschaft des Mordes an…“
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„Lassen Si e das“, schnitt ihm Mr. Killigrew grob die Rede ab. „Wenn ich Maureen eins versetze, so ist das einzig und allein meine Sache, sie ist schließlich mein Kind. Aber verhaften können Sie Maureen nicht. Sie steht von Kindesbeinen an unter dem Schutz des Paragraphen siebentausendsiebenhunderteinundsiebzig Strich neun a des schottischen Strafgesetzbuchs!“ „Also hier meinen Sie?“ Knox tippte sich an seine Schläfe wie ein Specht an eine Korkeiche. „Genau dort, meine ich“, bestätigte Mr. Killigrew gelassen, „Dementia praecox. Und unserem adleräugigen Mr. Macpherson muß diese Vermutung schon einige Male aufgetaucht sein, wie ich seinem jeweiligen Gesichtsausdruck entnehmen konnte.“ „Wenn du mich halb so aufmerksam beobachtet hättest, lieber Lionel“, tadelte die Prinzessin Eboli und wackelte nach Altfrauenart zürnend mit dem spanischen Hütchen, „dann hättest du meinem Gesichtsausdruck entnehmen können, daß ich entschi eden etwas dagegen habe, wenn man die Politur meines süddeutschen Biedermeiers mit dem Stiefelabsatz bearbeitet! Ich finde überhaupt, du solltest die Karten offen auf den Tisch legen. Sonst halten die Herren dich am Ende doch noch für diesen ‚Truthahn’.“ „Vielleicht hast du recht, Tante Maureen“, gab Mr. Killigrew seufzend zu, „niemand wird mir glauben, daß ich in Wirklichkeit vor diesem ‚Truthahngeier’ hierher geflohen bin! Hören Sie mir zu, Herr Inspektor…“ „Kriminalassistent“, berichtigte Knox von einer blaugeblümten Bergere her, wo er sich von Mrs. Tipplewaters sitzendem Reifrock in die äußerste Ecke quetschen ließ, „Kriminalassistent Knox aus Edwardswhinnie!“
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„Also hören Sie zu… Ich habe weder meine zweite Frau noch meine Tochter Eileen ermordet. Mein Verbrechen besteht lediglich darin, daß ich die Lösung all meiner Schwierigkeiten bedenkenlos dem ‚Truthahngeier’ überließ. Es mag etwa fünf Jahre her sein, da wurde ich durch ein anonymes Briefchen gefragt, ob ich Lust hätte, der Geheimorganisation ‚Truthahngeier’ beizutreten. Aller Vierteljahre würde eine Provision ausgezahlt, je nach Höhe der ausgeführten Dienstleistungen. Die Aufträge würden in neutralen Umschlägen und auf nichtpostalischem Wege zugestellt werden. Im positiven Fall sollte ich meiner Bereitschaftserklärung noch hinzufügen, auf we lchem Gebiet meine Stärke läge, da sich danach die Aufträge richten würden. Selbst die kleinste Provision überstieg bei weitem mein wechselndes Einkommen als Spirituosenvertreter, und so trat ich in die Reihen des ‚Truthahngeiers’. Als Stärke nannte ich mein absolut unverfängliches, weil durch Beruf sanktioniertes Weilen an den verschiedensten Orten.“ „Moment bitte“, warf Knox ein und brannte mit der aufgeregten „Rob Roy“ ein Loch in den schwarzen Brokat seiner Nachbarin. „Wohin haben Sie Ihre Bereitschaftserklärung gebracht, wenn dies nicht auf postalischem Wege geschehen durfte?“ „Ich habe sie in einem der toten Briefkästen von Ballamaddy abgelegt, die unter der täglichen Kontrolle meines Verbindungsmannes standen.“ „Und wo war das genau?“ „Ballamaddy als kleiner Ort besaß nur zwei von der Sorte. Einer der beiden toten Briefkästen befand sich in einer neugotischen Schießscharte der Brauerei von
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Ballamaddy und war ziemlich umständlich und nur nachts zu erreichen. Den anderen bildete ein Abflußrohr an der Bushaltestelle, das dicht über dem Boden endete.“ „Meinen Sie die Bushaltestelle bei der Brauerei?“ „Wo sollte dort ein Abflußrohr herkommen? Außerdem wären die Briefkästen dann viel zu nahe beieinander gewesen. Nein, ich meine die Haltestelle gegenüber der Konditorei!“ „Das wollte ich nur wissen!“ Knox scharrte befriedigt zwischen seinen Haarwurzeln. „Irgend jemandem muß dieser eingegangene Flugzeugträger unten vorm Haus ja gehören. Aber erzählen Sie weiter, Mr. Killigrew. Welcherart waren Ihre Aufgaben?“ Mr. Killigrew versuchte, einen frommen Blick auf den Plafond zu richten, traf aber nur drei Winterfliegen, die zu Tode verstört in die Falbeln des Betthimmels entwichen. „Oh, nichts Besonderes, ich habe weder gemordet noch gestohlen. Meine Aufgabe bestand darin, daß ich verschlüsselte Botschaften, die ich unter meiner Post fand – wohlgemerkt ohne Marke und Stempel – an die toten Briefkästen meines ganzen Landkreises weiterzuleiten hatte, was mir aus obengenannten Gründen weiter keine Schwierigkeiten bereitete. Das war schon alles.“ „Waren Sie über den Inhalt der jeweiligen Botschaften informiert, Mr. Killigrew?“ „Nun ja“, gestand dieser mit verlegenem Auflachen, „ich las hin und wieder eine davon, denn die Kuverts waren nicht verklebt. Aber das war wohl ohne Bedeu-
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tung, denn ich konnte sie ja ohnehin nicht entschlüsseln.“ „Wären Sie in der Lage, mir ein paar Beispiele zu nennen?“ Knox beugte sich vor wie ein Pfadfinder, der auf den Startschuß zum Sackhüpfen wartet. „Wir haben zwar dafür unsere Code-Abteilung, aber so einiges würde ich auch… mit ein bißchen Selbstvertrauen…“ „Damit kann ich dienen“, Mr. Killigrew gähnte, so daß seine Goldplomben blitzten wie verstohlene Li ebesblicke. Rings um diese Schatzhöhle begannen allmählich sprießende Bartstoppeln das Morgengrauen zu melden. Dann legte er los: „Des Uhus Nest im Heidekraut muß renoviert werden. Er soll sofort Posten auf der Gardinenstange beziehen und nur noch mit Portwein gurgeln. Oder etwa so: Dem Fasan sind die Rühreier nicht bekommen, der Lämmergeier soll ihn auf dem Bankett vertreten. Das Kropfband der Taube ist mit einem falschen Preis versehen.“ Mit einer unehrerbietigen Bemerkung, den Intelligenzquotienten des „Truthahngeiers“ betreffend, vertuschte Knox die Tatsache, daß seit acht Jahren die versiertesten Code-Spezialisten Schottlands sich an ähnlich abgefaßten Botschaften die Fingernägel abbrachen, an Botschaften, die samt und sonders bei Leichen gefunden worden waren. „Sie sprachen vorhin von einem Verbindungsmann, der täglich die toten Briefkästen kontrolliere“, fuhr Knox unwirsch fort. „Wer war das? Und kannten Sie Ihren Chef selbst? Warum bekamen Sie vergangenen Abend auf einmal solchen Dampf vor ihm, daß Sie Ihre
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Frau Tante noch in derselben Stunde um Asyl angingen?“ Im Begriff, sich etwas gehenzulassen, rankte Mr. Killigrew gerade seine Schaftstiefel um die Biedermeierbeinchen, als ihn ein warnendes „Lionel!“ zusammenzucken ließ. „Beschissene Antiquitäten“, knurrte er; und an Knox gewandt: „Von meinem Verbindungsmann kannte ich nur den Vogel-Decknamen – ‚Neuntöter’. Daß er in Ballamaddy beheimatet sein muß, ist nur so eine Vermutung von mir, da die Antworten auf meine Fragen und rein persönlichen Botschaften immer umgehend eintrafen. Übrigens erhielt auch ich ein Pseudonym: ‚Kolkrabe’. Als Maureen bei der Erledigung meiner zweiten Schwierigkeit mit eingesetzt wurde, bedachte man auch sie im Tagesbefehl mit einem Vogelnamen – ‚Stieglitz’… Den ‚Neuntöter’ habe ich nie persönlich kennengelernt. Ich sollte mich ja auch nur an ihn wenden, wenn ich in Bedrängnis sei. Leider trat dieser Fall öfter ein, als mir lieb war, tjaa…“ „Wandten Sie sich auch gestern abend an das Vögelchen, als Macpherson Ihnen mitteilte, daß er Sie wegen zweifachen Mordes der Polizei übergeben würde? Vermutlich riet der ‚Neuntöter’ Ihnen, schnellstens zu verduften, stimmt’s?“ „Gar nichts stimmt“, Mr. Killigrew begann seine launige Heiterkeit einzubüßen, denn er war ein MorgenMuffel. „Ich teilte Ihnen doch bereits mit, daß ich mit den beiden Morden nicht allzuviel zu tun habe. Macphersons Eifer war mir zwar lästig, aber wirkliche Gefahr drohte uns nur vom ‚Truthahngeier’ und seiner verlängerten Hand, dem ‚Neuntöter’, da Maureen das
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oberste Gebot der Organisation – absolute Anonymität – gestern nachmittag verletzt hatte. Sie müssen nämlich wissen, daß Mitglieder, die mit der Polizei in Konflikt geraten oder sonstwie im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, erbarmungslos liquidiert werden. So sehen es die Satzungen nun mal vor. Ich habe deshalb von Anfang an mein möglichstes getan, Macpherson unter Kontrolle zu halten und seinen Verdacht zu entkräften.“ „Zum letzteren zählen Sie wohl auch die beiden heimtückischen Anschläge auf sein Leben, Sie Nylonstrumpf-Fetischist?“ Mr. Killigrew erwärmte sich in Gedanken noch einmal an Miß Bothwells Entrüstung über die unbefugte Benutzung ihrer Obstleiter. „Ich kann nicht leugnen, daß ich es war, aber umbringen wollte ich ihn nicht direkt. Doch zurück zu gestern abend: Als Maureen sich wegen dieses läppischen Films verplappert hatte und Macpherson durchblicken ließ, daß er und die Polizei bereits auf unserer Spur liefen, sah ich keinen anderen Ausweg, als mich vor dem ‚Truthahngeier’ zu verbergen. Und bei wem sollte ich Zuflucht suchen, wenn nicht bei meiner einzigen Verwandten, Mrs. Tipplewater? Sie ist verschwiegen und erfinderisch, das wußte ich seit meiner ersten Schwierigkeit. Die Umstände zwangen mich damals, sie in alles einzuweihen, und ich war sicher, ihr würde auch diesmal etwas einfallen.“ „Ihren Familiensinn in allen Ehren, Mr. Killigrew, aber ich glaube fast, Mrs. Tipplewater hat es sichtlich über, sich mit Ihren diversen ‚Schwierigkeiten’ herumzuschlagen!“
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Knox wanderte um die beiden Gefesselten herum und prüfte sachverständig die technischen Hilfsmittel. „Wie ich mit Vergnügen und kollegialer Hochachtung feststellen muß, hat uns Ihre Frau Tante die Arbeit erleichtert, indem sie Sie und Ihr Fräulein Tochter auf recht solide Art gezwungen hat, auf den Stühlen zu verharren. Ich nehme kaum an, daß dies nur zu dem Zweck geschah, um Ihnen beiden ein festeres Sitzgefühl zu geben?“ Doch Mr. Killigrews Vertrauen in seine angeheiratete Verwandtschaft war unzerstörbar. „Gut, sie hat uns angebunden; dennoch möchte ich betonen, daß von Polizei nie die Rede war. Wir saßen schon, bevor Sie kamen, einige Zeit so, ohne daß Tante Maureen auch nur daran dachte, ans Telefon zu gehen. Sie sagte lediglich, daß Dummheit bestraft werden müsse. Zwar fand ich diese Art Scherz etwas unter ihrem Niveau, außerdem waren wir erschöpft von der langen, rasenden Fahrt auf dem Motorrad, aber“, schloß er boshaft, „wir sind von Tante Maureen allerhand gewöhnt. Sie war nicht umsonst Schauspielerin, bis sie Mr. Tippl ewater heiratete, einen Engländer aus Leeds, und darauf hin alle Hauptrollen verlor!“ Knox dachte loyaler. Er fühlte Mitleid mit der alten Dame und ihrer liebenswerten Marotte, hin und wieder im stillen Kämmerlein die Kostüme ihrer Glanzzeit abzutragen. „Woher hatten Sie denn die Handschellen, meine Liebe, und wie wurden Sie Fliegengewicht mit Mr. Killigrew und seiner Tochter fertig?“ „Oh, die Handschellen hatte ich mir als Erinnerung an ‚Blutspur in den Kasematten’ mitgenommen; ich
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spielte darin die Leila. Ich habe die zwei einfach mit meinem kleinen Feuerzeug-Revolver in Schach gehalten und mit der anderen Hand gearbeitet. Da habe ich auf der Bühne ganz andre Sachen machen müssen. Wenn ich an ‚Jenny, der Schrecken der Provinz’ denke… Es wurde allerdings wegen übertriebener Grausamkeit bald abgesetzt. Sie werden es nicht mehr kennen, dafür sind Sie zu jung.“ Knox mußte seine Unkenntnis auf dem Gebiet des Kriminaldramas zugeben, da er, abgesehen von einer Wahlveranstaltung mit kultureller Umrahmung, noch nie ein Theater von innen gesehen ha tte. „Aber nun zur Sache, Mr. Killigrew: Sie wollten uns von der ersten Schwierigkeit erzählen, bei der Sie gezwungen waren, Mrs. Tipplewater einzuweihen.“ „Vor zwei Jahren im April“, hub Mr. Killigrew an, „hatte Vanessa beim Frühjahrsputz in meinem Schreibtisch gestöbert und den anonymen Brief der Geheimorganisation ‚Truthahngeier’ sowie den Durchschlag meiner Zusage entdeckt. Sie wollte sofort zur Polizei laufen und zog einen Heidenspekt akel ab, so daß die Mädchen alles mithörten. An diesem Tag ging ich nicht auf Tour, denn ich mußte Vanessa beobachten. Da sie von unserer Gendarmeriestation mit Recht nicht allzuviel hielt, schrieb sie einen Brief an das Polizeikommissariat in Edwardswhinnie und warf ihn eigenhändig in den Kasten. Nachdem ich sicher war, daß sie an dem Tag nichts weiter unternehmen würde, begab ich mich zum Abflußrohr an der Bushaltestelle. Die Schießscharte der Brauerei konnte ich bei Tag nicht gut erklimmen. Am späten Nachmittag sah ich nach, und schon
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hatte der ‚Neuntöter’ Antwort hinterlegt. Der ‚Truthahngeier’ ließ mir sagen: Dieses Jahr fliegt der Kolkrabe mit seiner Gefährtin schon vor Ostern ins Palais des Präsidenten. Er soll sich beeilen, denn die Suppe ist bereits serviert. So lautete die Botschaft, wenn ich mich recht entsinnen kann. Da wir bereits Karfreitag schrieben, mußten wir also am nächsten Tag schon verreisen. Den letzten Satz deutete ich dahingehend, daß der ‚Truthahngeier’ alles geregelt habe, um mich vor Vanessas weiteren Denunziationen zu schützen. Beruhigt gab ich daraufhin ein Telegramm an Tante Maureen auf, daß wir Ostersonnabend bei ihr eintreffen würden. Vanessa erklärte sich bereit mitzufahren, nachdem ich sie gebeten hatte, dem Familienrat in Edinburgh beizuwohnen. Sie wußte ja nicht, daß ich mir ihren Brief auf der Post hatte zurückgeben lassen. Beim Mittagessen am Ostersonntag – wir waren schon beim Dessert – ging Vane ssa auf die Toilette und kam nicht zurück…“ „Nach einer Viertelstunde rief ich nach ihr“, ergriff Mrs. Tipplewater das Wort, „weil ich mich ärgerte, daß sie mir nicht beim Abwaschen half. Als ich keine Antwort erhielt, begab ich mich in die kleine Besenkammer neben der Toilette, stieg auf die Treppenleiter und blickte durch die Lüftungsluke oben in der Wand. Vanessa saß ordnungsgemäß da, wo sie sitzen mußte, aber sie schien mir so merkwürdig in sich zusammengesunken. Lionel brach dann die Tür auf. Aber Vanessa war schon tot.“
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Das Stichwort „Toilette“ brachte Knox seinen Gehi lfen ins Gedächtnis zurück: „Was zum Kuckuck macht Macpherson so lange? Ist ihm schlecht geworden? Wenn er in zehn Minuten nicht da ist, sehen Sie mal nach, Fergusson!“ Die Prinzessin Eboli ließ ihr sichtbares Auge voll schelmischer Wichtigkeit funkeln: „Jaja, mein Örtchen hat es in sich!“ Nur nicht die Dienstmoral zersetzen lassen, dachte Knox und bedeutete Mr. Killigrew, die Schilderung seiner ersten „Schwierigkeit“ fortzusetzen. „Nach dem, was wir sahen, zu urteilen, hatte Vanessa einen Erstickungsanfall mit anschließender Herzschwäche erlitten. Sie war so blau wie eine Aubergine. Der ‚Truthahngeier’ hatte Wort gehalten und unheimlich rasch zugeschlagen. Tante Maureen war völlig außer sich – eine Leiche in ihrer Eigentumswohnung! Sie wollte sofort einen Arzt anrufen oder ein Bestattungsinstitut, aber ich war dagegen. Wenn Vanessa vergiftet worden war, was ja ein Blinder fühlen konnte, würde der Verdacht unweigerlich auf mich fallen. Denn uns ere Ehe war nicht gerade das, was man harmonisch nennt. Und was die unerwünschte Kollision mit der Polizei und der Presse betraf, wäre ich dann vom Regen in die Taufe gekommen. Ich hoffte auf ein weiteres Zeichen des ‚Truthahngeiers’. Tante Maureen aber bestand auf einer großen Szene mit vier Personen und begann sofort die Rolle der tragischen Alten zu spielen. Ich konnte also nicht umhin, sie über die Ursachen aufzuklären, die Vanessas Hinscheiden als unumgänglich notwendig nach sich gezogen hatten, und ihr klarzumachen, daß ein Arzt hier nicht am Platze sei. Ich
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brauchte nicht lange zu warten. Schon am Nachmittag lag ein Brief für mich im Kasten – natürlich wie immer ohne Marke und Stempel – des Inhalts: Die Gefährtin des Kolkraben soll des Nachts im Satansnabel baden. Er selbst wird ihre Gestalt annehmen und zu Fuß zurückkehren, da seine Flügel zwischen Kenilmoore und Warwick in den Fjord sanken. Von nun an wird er den Turm nicht mehr verlassen, bis der Löwenzahn ausgeblüht hat. Zu Ihrer Orientierung, Herr Kriminalassistent: ‚Satansnabel’ ist die volkstümliche Bezeichnung für die Mergelgrube von Bradmarnock. Um meine Flügel, ich meine um meinen Wagen, tat es mir ein bißchen leid, aber ich handle nicht, wenn es um große Dinge geht. Den allerletzten Satz übersetzte ich mit Tante Maureens Hilfe dahingehend, daß ich Eileen (Löwenzahn ist hier gleichbedeutend mit blondem Haar, Sie verstehen?) bewachen und am Sprechen hindern solle. Sie hatte die Beschuldigungen ihrer Mutter gegen mich mitangehört und würde diesen plötzlichen Unfall am Fjord höchst verdächtig finden, wenn nicht sogar vollenden, was Vanessa gewollt hatte – mich anzeigen. Denn schließlich konnte ich selbst bei bester Maskierung nicht von ihr verlangen, daß sie mich für ihre Mutter hielt. Maureens war ich sicher, denn sie hat die Stiefmutter immer gehaßt. Es würde allerdings nicht nötig sein, Eileen zu töten; sie besaß weder die Energie noch die außergewöhnlichen Körperkräfte von Vanessa. Ein Gewahrsam würde sie kirre machen. Tante Maureen erinnerte mich an die Bodenkammer, die wir
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vor etwa zwanzig Jahren hatten anbauen lassen. Schön und gut – aber wie lange sollte das alles gehen? Ich konnte die beiden Mädchen unmöglich allein zusammen im Haus lassen und war somit nur noch auf meine Gratifikation der Organisation ‚Truthahngeier’ angewiesen. Aber da ich meinem Beruf nicht mehr nachgehen durfte, konnte ich auch keine Botschaften mehr breittragen. Doch ich hatte keine andere Wahl, es sei denn einen überraschenden Tod. Tante Maureen übte zwei Tage mit mir Büstenhalterschließen, Perücke frisieren und das Schild ‚Men’ zugunsten von ‚Women’ zu ignorieren. Dann erst meldeten wir mein Verschwinden. Das Weitere wissen Sie wohl aus den Akten von damals.“ „Wie ich annehme, stammt die Idee, Maureen in eine ‚Heilstätte’ zu schicken und ihr Eileens Rolle zu übertragen auch von der listenreichen Mrs. Tipplewater? Ihre dramaturgische Erfahrung rechnete damit, daß früher oder später auch der Tag des ‚Löwenzahns’ gekommen sein würde. Und einen Raubmord vorzutäuschen wäre leichter, als einen Totenschein aus einem imaginären Sanatorium zu beschaffen. Wie beruhigend dagegen für alle mißtrauischen Gemüter, wenn die verschwundene Stieftochter eines Tages quick und lebendig aus besagter Versenkung auftaucht! Habe ich alles richtig entwickelt?“ Mrs. Tipplewater lächelt verschämt und kokett zugleich über ihre Mühlsteinkrause hin: „Ich habe oft genug in Kriminalstücken mitgespielt, um dem armen Lionel ein kleines Potpourri zurechtzumixen. Der Ärmste war ja wie vor den Kopf geschlagen! Ich aber war in meinem Element. Ich liebe außergewöhnliche und
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verrückte Situationen und verstehe sie auch zu meistern. Maureen ist mir nachgeschlagen – ihr schauspi elerisches Talent ist beachtlich. Leider hat sie auf Grund ihrer Krankheit nicht ganz durchgehalten. Hier kam das Erbteil ihrer Mutter durch. Die arme Eleanor war schwatzhaft und rechthaberisch. Dabei hatte Maureen durch ihre undinenhafte Erscheinung diesen kleinen Briefträger schon so in Liebeslust eingewickelt wie eine Seidenraupe… Er krähte nach nichts mehr als nur nach ihr… ja, und da mußte ihr dieser Patzer passieren. Zu Shakespeares Zeiten nannte man das in der Bühnensprache ‚eine Sau machen’!“ „Verdammt!“ Knox sprang von der Bergere, als habe er soeben entdeckt, daß er die ganze Zeit auf einer Anaconda geruht habe. „Fergusson! Suchen Sie sofort nach Macpherson, er ist schon über eine halbe Stunde weg! Der Abort hier scheint präpariert zu sein!“ „Was wollen Sie mit dem Ausdruck ‚Abort’ sagen, Herr? Sie befinden sich in einer Eigentumswohnung mit Kanalisation!“ verwahrte sich die spanische Prinzessin giftig. „Hier ist nicht Ihr Bratkartoffel-Pub!“ Auch Mr. Killigrew zeigte heftigere Gemütsregungen, die aber weniger das Tipplewatersche Klosett als vielmehr Fergusson betrafen. „Einen Moment, bitte! Sind Sie etwa mit dem Halblinken von ‚Musselburgh United’ verwandt, der gestern abend das einzige schottische Tor schoß?“ Fergusson nickte mit dem Stolz des Besitzers. „Ja, er ist ein unehelicher Sohn meines Großonkels und wurde voriges Jahr nach dem großen Sieg von der Familie adoptiert!“
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Als er anschließend die Tür zum Flur aufstieß, vernahmen die im Schlafzimmer Versammelten die untrüglichen Geräusche eines Ringkampfes. „Das muß aus der Besenkammer kommen“, mutmaßte Mrs. Tipplewater nach kurzer Gehörprobe, „auf der Toilette ist dazu kein Platz!“ Bald kehrte der treue Fergusson wieder. Mit der einen Hand, deren Quadratzahl sich ein Teebrett nicht hätte zu schämen brauchen, hielt er Macpherson aufrecht, dessen Antlitz blutige Tätowierungen und dessen Kleider Spuren unsanfter Behandlung aufwiesen. Die Finger der anderen Hand waren in pumafarbenen, dünnen Haarsträhnen verkrallt wie in einem wertvollen Skalp, da Miß Glennys’ Nacken sich selbst für Fergussons Spannweite als nicht greifbar erwiesen hatte. An ihrem Waschbärmantel fehlten ledi glich die Knöpfe; mehr hatte Macpherson ihr nicht anhaben können. „Ich saß ganz ruhig und dachte an nichts Böses“, sprudelte Macpherson erregt, während Mrs. Tipplewater ihn fürsorglich zu einem Sessel geleitete, „wie ich fertig bin und noch so ‘ne Weile nachsinne, hör’ ich auf einmal was rascheln und schnaufen. Ich war’s nicht, also seh’ ich mich ein bißchen um und entdecke oben in der Wand ein Fensterchen ohne Glas. Ich Deckel zu und ‘rauf! Und wen erblicke ich da? Miß Glennys auf einem Korb mit Schmutzwäsche! Ich gehe ganz freundlich zu ihr ‘rüber und sage: ‚Guten Abend, was machen Sie denn hier?’, aber sie boxte mir gleich aufs Auge. Verstehen Sie das, Knox?“ Der nickte gutgelaunt wie ein Sultan, dem man eben eine neue, vielversprechende Haremsdame serviert hat.
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„Darf ich allerdings bekannt machen – das ist unser ‚Neuntöter’!“ Und an Miß Glennys selbst gewandt: „Wenn ich im Irrtum bin, bitte mich zu berichtigen!“ Miß Glennys hielt wohlweislich den Mund. Mr. Killigrew aber fuchtelte mit seinem freien linken Arm und nannte sie ein mörderisches Rabenaas. „Einen Tag früher hätte ich das wissen sollen, nur ein paar lumpige Stunden früher, und die Regierung hätte dir nicht mal mehr Invalidenrente zu zahlen brauchen, du Pfannkuchengeier!“ „Keine Injurien, bitte!“ unterbrach Knox diese für die Allgemeinheit uninteressante Ansprache. „Fergusson, Sie behalten die Dame im Auge oder besser in der Hand. Miß Glennys wird ihre Anwesenheit erklären müssen, wenn Sie, Mr. Killigrew, mit der zweiten und dritten Schwierigkeit fertig sind. Na, weiter im Text, Mann!“ Der also Gebetene fuhr fort: „Mit der Zeit war meine kleine Maureen der seelischen Belastung nicht mehr gewachsen. Ihre Anfälle traten häufiger und heftiger auf als früher. Ich mußte die Streichhölzer verstecken und einen Gasanzünder anschaffen. Auch ertappte ich sie mehrmals dabei, wie sie mit ihren Messern vor der Bodentür stand, um Eileen die Kehle durchzuschneiden, da es ihr zuwider geworden war, noch weiter deren Rolle zu spielen. Sie müssen wissen, Eileen konnte zwar sehr hübsche Handarbeiten anfert igen, aber im allgemeinen war sie still und ein bißchen dumm. Das durchzuhalten war auf die Dauer für meine temperamentvolle Maureen ziemlich anstrengend. Auch hatte sie es satt, immer nur in Ballamaddy herumzusitzen. Aber ich konnte sie unmöglich allein irgendwohin rei-
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sen lassen, sie hätte womöglich brennende Pechkränze aus dem Zug geworfen. Und begleiten durfte ich sie Eileens wegen nicht. Eines Tages kam es so weit, daß Maureen die Bodenkammer aufschloß und ihre Schwester aufforderte, herunterzukommen und zu gehen, wohin es ihr beliebe. Ich konnte gerade noch das Schlimmste verhüten und Eileen wieder nach oben transportieren, bevor sie den Garten erreichte, wo unsere neugierige Nachbarin sie unweigerlich erblickt hätte. Ich weiß das noch wie heute, weil ich dadurch die zweite Halbzeit eines Länderspiels versäumte. Kurz und gut – ich nahm meine Zuflucht wieder zum toten Briefkasten. Diesmal wählte ich die Nacht und die Schießscharten, nachdem ich Maureen ein Beruhigungsmittel eingeflößt hatte. In der nächsten Nacht holte ich mir die Antwort des ‚Neuntöters’…“ Schlagartig fielen aller Augen auf Miß Glennys, die in ihrem Waschbärpelz einer überdimensionalen Schwärmerraupe in Abwehrstellung glich. Niemand hatte sie zum Sitzen aufgefordert. Ihre Kandiszuckeräuglein starrten tückisch zugleich auf die Gruppe gefesselter Killigrews und einen reizenden antiken Nachtstuhl aus der Queen-Anne-Zeit. Und in sechs verschiedenen Köpfen entstanden sechs verschiedene Versionen eines Bildes, das Miß Glennys beim nächtlichen Erklettern der zwölf Meter hoch gelegenen Schießscharten der Brauerei von Ballamaddy wiedergab. „Auf dem Zettel stand nur eine Telefonnummer“, setzte Mr. Killigrew seinen Bericht fort, „und dahinter in Klammern ‚Truthahngeier-Edinburgh, sofort verbrennen’. Ich rief von der Zelle aus an. Die Post war mir zu öffentlich. Die Stimme kam von weit her oder
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verstellte sich. Ich trug dem Chef meine schwierige Lage vor, und er versprach mir Hilfe in den Morgenstunden. Tatsächlich erhielt ich zur angegebenen Zeit das Kuvert, das dieser verfettete Tortenboden dort mir in den Briefkasten geschmuggelt hat. Und ich will nicht mehr Killigrew heißen, wenn sie es nicht auch selbst verfaßt hat. Nach und nach komme ich nämlich zu der Überzeugung, daß ‚Neuntöter’ tatsächlich ein Deckname ist, und zwar für ‚Truthahngeier’! Wer will bei Selbstwählverkehr wissen, ob es tatsächlich eine Edinburgher Nummer war und nicht eine Geheimnummer aus Ballamaddy?“ „Nicht der Justiz vorgreifen“, mahnte Knox väterlich, „wir werden ja schließlich dafür bezahlt!“ Aber immerhin bewirkte Mr. Killigrews von Haß diktierte Verdächtigung, daß in Knoxens und Macphersons Herzen die ewigen Lämpchen der Hoffnung plötzlich wie Pechfakkeln aufloderten, Fackeln der Hoffnung auf Gehaltserhöhung, Wiedereinsetzung, internationalen Ruhm und Spesenerstattung… „… und wie lautete der Rat des ‚Truthahngeiers’?“ „Der Stieglitz soll am nächsten Regentag das restliche Futter in der Stadt aufpicken und das hintere Nummernschild des Mittagsbusses mit einer kleinen Feder schmücken. Er bleibt dort, bis er mit neuem Gefieder zurückgeholt wird. Der Kolkrabe aber soll am Abend des Regentags den welken Löwenzahn hinter der Gotenburg ablegen und erst am folgenden Tag sein Verschwinden melden“,
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rezitierte Mr. Killigrew mit der Betonung eines polypenleidenden Bänkelsängers, „und so machten wir’s dann auch. Ich schickte Maureen nach Edwardswhinnie, die Kissenabrechnung kassieren. Die Quittung holte sich der ‚Neuntöter’ unauffällig vom Bus ab, sie wohnt ja gegenüber, da ist das wirklich keine Kunst. Maureen nahm ich einen heiligen Eid ab, daß sie sich in einer soliden Pension, die wir kannten, einlogieren und keinen Unfug anstellen würde. Abends, es goß wie mit Kübeln, verabreichte ich Eileen ein starkes Schlafmittel und legte sie bei der Brauerei ab. Immerhin gab ich ihr Regencape und Südwester mit. Das Weitere wissen Sie aus den Vernehmungsprotokollen. Ich holte etwas später Maureen zurück; sie konnte wieder sie selbst sein, wir atmeten auf und fühlten uns frei, wenn auch durch meinen Persönlichkeitswechsel an eine Wiederaufnahme meines alten Berufs vorläufig nicht gedacht werden konnte. Für alle Fälle erstand ich ein Motorrad, weil ich schon so was ahnte, daß noch weitere Schwierigkeiten folgen würden. Ohne Ihrer Intelligenz zu nahe treten zu wollen, Mr. Macpherson, aber von allein wären Sie nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet mich als Mutter zu verdächtigen. Irgend jemand, der mehr wußte als die Polizei, muß Ihnen das eingeblasen haben!“ Macphersons unversehrtes Auge richtete sich anklagend auf Miß Glennys. Das andere, dessen Brillenglas ein roher Hieb zertrümmert hatte, wurde durch eine veilchenfarbene Schwellung daran gehindert, ein Gleiches zu tun.
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„Pfui Teufel, Verrat aus den eigenen Reihen!“ Mr. Killigrew spie eine geballte Ladung auf eine der handgewebten Rosenknospen zu seinen Füßen. „Dasselbe möchte ich dir zurufen, Lionel!“ geilte Mrs. Tipplewater. Ihr keckes spanisches Hütchen schmiß es vor Wut wie eine Distel bei Gewitter. „Ich führe einen gepflegten Haushalt und dulde keinerlei Besudelung meiner Einrichtung, auch nicht von angeheirateten Verwandten! Herr Kriminalassistent, ich muß Sie dringend um Beistand ersuchen!“ Knox erteilte seinem Häftling eine oberflächliche Verwarnung. Sein Interesse jedoch galt der dritten „Schwierigkeit“. Mr. Killigrew murmelte einiges in dem Sinne, daß sein Speichel ihm viel zu kostbar sei für gewisser Leute altmodischen Krempel, bevor er sich anschickte, fortzufahren: „Vor kurzem rasierte ich mich unvorsichtigerweise am offenen Badezimmerfenster. Meine Nachbarin, Miß Bothwell, befand sich in der Küche, deren Fenster nach der Straße schauen, und Mr. Macpherson ging seinem Broterwerb nach – dessen hatte ich mich vergewissert. Unglücklicherweise war Miß Bothwells Tochter zu Besuch da, wovon ich keine Ahnung hatte. Sie sah mich, und ich sah sie. Mein Inkognito war bedroht. Sofort meldete ich diese neue Kalamität dem ‚Neuntöter’ durch das Abflußrohr. Der ‚Truthahngeier’ schlug auch hier prompt zu – am nächsten Tag ging Miß Bothwell schwarz.“ Angekratzt, jedoch mit edler Entrüstung, sprang Macpherson aus seinem Fauteuil. „Sie minderwertige, feile Kreatur, was hatte Ihnen das arme Mädchen getan? Nichts weiter, als daß sie
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Ihnen durch Zufall beim Bartschaben zusah! Das genügte Ihnen, um den Daumen nach unten zu halten. Ginnie war ein wunderbarer Mensch; ohne ihre Hilfe wäre ich nie hinter Ihre geheime Bodenkammer gekommen! Widerling, Abschaum, Massenmörder, der, um seine eigene dreckige Haut zu retten, kaltblütig Frau, Tochter und Nachbarn opfert! Wenn ich nicht hätte durchfließen lassen, daß ich mit der Polizei zusammenarbeite, hätten Sie ohne Zweifel auch meinetwegen den ‚Truthahngeier’ bemüht, oder?“ „Hier sind Sie in einem verzeihlichen Irrtum befangen, Schwiegersohn“, entgegnete Mr. Killigrew und blähte sich vor Zynismus. „Sie hatten mir durch Ihre nicht unbegabte Schnüffelei schon soviel Ungelegenheiten bereitet, daß Sie mir im Lauf der Zeit ans Herz gewachsen waren. Ich konnte Ihnen einfach kein Härchen krümmen, sooft ich es auch versuchte. Aus Ihrer letzten so zartfühlend angebrachten Bemerkung in meinem Eßzimmer erfuhr ich, daß meine Anonymität nun endgültig im Eimer war. Für uns blieb nur noch Flucht, wenn wir nicht auch durch Gift, Rasiermesser oder Rundstricknadel enden wollten. Ich ahnte allerdings nicht, daß mir der ‚Neuntöter’ oder gar der ‚Truthahngeier’ selbst schon auf den Fersen saß.“ „Womit wir bei Ihnen wären, Miß Glennys alias ‚Neuntöter’, Spezialistin für nächtliche Alpinistik an Brauereien und für raschen Tod durch Rasiermesser“, ergriff Knox wieder die Zügel der Konversation. „Hat vielleicht jemand was zu rauchen bei sich? Na, dann muß es eben ohne weitergehen. Woher wußten Sie von Mr. Killigrews Depesche, in der er seinen Zufluchtort
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bekanntgab? Die Post war doch um diese Zeit schon geschlossen!“ Aber Miß Glennys hüllte sich hartnäckig in phlegmatisches Schweigen. „Jeden zweiten Tag nimmt sie den Tee bei meiner Chefin, der Postvorsteherin“, Macpherson versuchte das Loch in der Beweisführung eigenmächtig zu überbrücken, „wahrscheinlich hat sie sich auch gestern abend dort breitgemacht!“ „Das muß nicht unbedingt falsch sein“, Knox nickte anerkennend, „worauf sie dann schnellste telefonische Zwiesprache mit dem ‚Truthahngeier’ hielt oder, falls sie mit ihm identisch ist, sich ihre eigenen Gedanken machte. Dann kam der Befehl, den Satzungsverletzer nebst Tochter zu liquidieren, also Kabinenroller flott und auf nach der King-Charles-Corner 663 b! Wer war denn eher da, Mrs. Tipplewater? Die Killigrews oder Miß Glennys?“ Die Prinzessin Eboli, die sich ein Schälchen Quittenkompott aus der Küche geholt hatte, zeigte mit dem Löffelchen auf das Waschbärenfell. „Es läutete“, plapperte sie zwischen zwei Bissen, „ich eile zur Tür, und wie ich noch auf der Zunge habe ‚Na, mein lieber Lionel, wieder Schwierigkeiten mit dem König der Vögel?’, sehe ich, daß es gar nicht Lionel war, sondern jene mir unbekannte Dame dort. Sie erklärte mir, daß sie Lionel in der Höhe von der Raststätte ‚The Brassy Englishman’ überholt habe…“ „Radwechsel“, gestand Mr. Killigrew mürrisch. „Hätte ich mit sechs Nägeln im Reifen weiterfahren sollen?“ „Ich hoffe, du hast die Nägel aufgehoben, Lionel?“ fragte Mrs. Tipplewater versöhnlich. Sie schien ihm
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seine Spuckerei verziehen zu haben. „Also, die korpulente Dame überzeugte mich davon, daß ihr Name nebensächlich sei. Wichtig allein sei ihr Aufenthalt in meiner Wohnung, allerdings dürfe Mr. Killigrew nichts davon erfahren, betonte sie. Nur so wäre es ihr möglich, eine Situation zu arrangieren, die Lionel und Maureen mit einem Schlag von allen Ängsten befreien würde. Nun bin ich ja in allen Listen wohlbewandert“, Mrs. Tipplewater kicherte fein, „außer Lionel, Maureen und mir wußte nur der ‚Truthahngeier’ selbst von Li onels Inkognito. Für alle anderen war er ja seit Jahren Mrs. Killigrew, seine verblichene Frau. Somit gab es für mich keinen Zweifel, daß die dicke Dame ein Bote des ‚Truthahngeiers’ war, wenn nicht sogar er persönlich. Ein wenig leid tat es mir ja um Lionel und meine kleine Maureen, daß ihre Flucht so schnell ins Wasser gefallen war, aber ich verbannte alle sentimentalen Regungen und wies der Dame die Besenkammer an. Dann läutete es wiederum, und diesmal ließ ich die Richtigen ein – Lionel und unsern Maureen-Liebling. Ach, die Ärmsten waren ja so erschöpft und durchfroren; ich brauchte kaum fünf meiner alten Bühnentricks anz uwenden, bis sie endlich saßen.“ Knox hatte bei den letzten Sätzen Mrs. Tipplewaters schon nicht mehr richtig hingehört, sondern die Theaterzeitung „The Turned Glove“ vom Nachttisch genommen und ein Stück Rand abgetrennt. Seine ganze Aufmerksamkeit war Miß Glennys gewidmet, die in ihrem Phlegma zu ruhen schien wie eine Gänsebrust in Aspik oder als halte sie bereits Winterschlaf. Gereizt packte er sie bei den durchtrainierten Schultern, mit
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denen jeder Orang-Utan Ehre eingelegt hätte, und schüttelte sie, so gut er es vermochte. „Sehen Sie mich gefälligst an!“ Miß Glennys richtete eines ihrer braunschwimmenden Äuglein folgsam auf Knox, während der Blick des anderen an ihm vorbeizog wie eine Hummel. „Schweigen Sie sich ruhig aus! Sie brauchen auch gar nichts mehr zu sagen. ‚Eine Situation, die ihn mit einem Schlag von allen Ängsten befreit’ – das spricht Bände! Den ‚Schlag’ kennen wir!“ Stinkwütend und bar aller Zigaretten, übertrat Knox die Grenze der bürgerlichen Zimmerlautstärke. „Mr. Killigrew, wenn Sie die bewußte Telefonnummer noch im Kopf haben, schreiben Sie sie auf den Zettel hier! Wir wollen jetzt ein bißchen ‚anrufen’ spielen. Na, Miß Glennys, wie sag’ ich’s meinem Kinde: ‚Neuntöter’ unerwartet in Mauser gefallen, Kuraufenthalt im dicken Käfig erforderlich – klingt schon ganz gut für Anfänger! Nehmen Sie den Wisch an sich, Macpherson, draußen im Flur ist das Telefon…“ Mitten in Knoxens Ansprache vollführte Miß Glennys eine angewiderte Bewegung mit der Schulter, die Knox nicht allein zum Loslassen derselben zwang, sondern ihn quer durch Mrs. Tipplewaters stilvolles Schlafzimmer taumeln ließ. Dann langte sie seelenruhig in ihr Täschchen, um sich mit einer Handvoll Pralinen zu stärken. Angesichts der sich ballenden Ereignisse konnte Macpherson nicht anders, als unablässig, wenn auch stumm, zu frohlocken. Das gab ein Artikelchen, ach was, das gab ein ganzes Extrablatt! Er bettete das kostbare, von Mr. Killigrew handsignierte Blättchen
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zwischen die Seiten seines Notizbuchs, als sei es die Gründungsurkunde eines Klosters aus der Zeit Wilhelms des Eroberers. „Jetzt geht Buddha auf die Barrikaden!“ Knox schäumte. „Hand an einen Polizeibeamten legen und dann mit einer Arschruhe Konfekt fressen! Was macht das Weib nun schon wieder?“ Miß Glennys war bläulich angelaufen, warf, nach Luft ringend, die pelzbesetzten Arme in die Höhe, um nach einem letzten triumphierenden Rundblick zusammenzusacken wie ein Grislybär nach einem Schuß durchs Auge. „Von der erfahren wir nichts mehr“, diese denkwürdigen Worte kamen von Fergusson, der zum drittenmal in dieser Nacht den Mund aufmachte. Und von der bekommen wir auch nichts mehr, dachte Macpherson betrübt, dem zu spät die Prämie einfiel, die ihm Miß Glennys einst für den Schuldbeweis an den Killigrews zugesichert hatte. „Wenn Sie mal was sagen, Fergusson, dann hat das immer Hand und Fuß, das muß man Ihnen lassen!“ Banquo Knox schien durch die Tatsache, daß Miß Glennys Freitod begangen hatte, ohne vorher ein Geständnis abzulegen, ein erhebliches Quantum seines Humors eingebüßt zu haben. Zürnend wie ein Erzengel, hatte er die Daumen in die Armlöcher seiner Wolfsweste gehakt und überschüttete Mrs. Tipplewater mit elektrisierenden Blicken: „Liebe alte Dame, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht! Mich derart hinters Licht zu führen, wo Sie doch sonst schon so nett vorgearbeitet hatten. Ich war der festen Meinung, die Tote da sei mit einem Diebshaken bei Ihnen eingedrungen, während
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wir uns mit Mr. Killigrew unterhielten. Auf den Playboy ist ja schließlich kein Verlaß. Warum hatten Sie mir die Anwesenheit der Glennys so lange verschwiegen?“ Mrs. Tipplewater barg ihr geschämiges Lächeln hinter einem schwarzen Straußenfächer, der die Flügelspanne eines normalen Ehebettes aufwies. „Sehen Sie, junger Mann, ich meine, Herr Kriminalassistent, Sie müssen einer alten Frau ihre kleinen Eigenheiten nicht übelnehmen. Ich schwärme nun mal für aufregende Situationen und Verwicklungen, die sich erst im letzten Akt auf überraschende Weise lösen. Ich wollte einfach abwarten, was die Dame tun würde, um Lionel und Maureen angesichts der Polizei mit einem Schlag, wie sie sagte, von allen Ängsten zu befreien. Hatte sich dieser mysteriöse Vogel nicht schon einmal zur Klärung prekärer Affären meiner kleinen Eigentumswohnung bedient? Ich hoffte inbrünstig, das Eingreifen des ‚Truthahngeiers’ mal mit eigenen Augen zu erleben. Aber er oder seine Botin, wer es auch war, hat mich schwer enttäuscht!“ Knox versetzte der weißen Mühlsteinkrause einen zärtlichen Schubs. Dankbar nahm er einen der dargebotenen bleistiftdünnen Zigarillos, um zusammen mit dem würzigen, teuren Rauch das erhebende Gefühl zu inhalieren, allen seinen Kollegen um acht Jahre voraus zu sein. Dann wies er Fergusson an, mit Macphersons Hilfe die Leiche des mutmaßlichen „Truthahngeiers“ immer schon nach unten zu transportieren. „Damit der Playboy für sein Geld auch was zu sehen kriegt! Ach, und Macpherson, rufen Sie doch bitte anschließend gleich die Grüne Minna her, aber einen Wagen für sechs Personen!“ Und wieder vertraulich scher-
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zend zu Mrs. Tipplewater: „Wissen Sie, alte Dame, ich glaube fast, dem ‚Truthahngeier’ war Ihre Sensationslust bekannt, und er hatte seinen teuflischen Spaß dran, Ihnen hin und wieder mal so einen kleinen Nervenkitzel zu verschaffen, was? Heute zum Beispiel wäre Ihnen ohne unser Dazwischentreten ein vollendeter Doppelmord geboten worden!“ „Spaß ist Spaß, und Mord ist Mord! Und bei Mord hört für mich der Spaß auf!“ Mit ehrbarer Entrüstung blickte Mrs. Tipplewaters freies Auge auf den frivolen Knox, während das bedeckte unter seiner schwarzen Klappe ähnliche Empfindungen ausströmte. „Die tote Vanessa auf meinem Klosett hat mir ein für allemal gereicht. Und wenn diese Dame wirklich so geschmacklos gewesen wäre, Lionel und Maureen in meiner eigenen Wohnung hinzurichten, hätte der ‚Truthahngeier’ keinesfalls mehr mit meiner Diskretion rechnen können! Nein, dann nicht mehr! Darf ich Sie bis zum Eintreffen des Wagens in meinen Salon bitten, meine Herren? Ich werde Ihnen einen echt japanischen Tee kredenzen!“ Macpherson, den bei seinem Eintritt die Einladung Mrs. Tipplewaters gerade noch erreicht hatte, retirierte unbemerkt wieder auf den Korridor. Dieser „echt japanische“ Tee war ihm von seinem letzten Besuch her noch in ausgesprochen dünner Erinnerung. Während Knox sich die Bewirtung gefallen ließ, näherte sich Macpherson in bestimmter Absicht dem Fernsprechapparat… Er war ziemlich weit oben an der Wand befestigt und erweckte den Eindruck, daß ihn David Edward Hughes noch selbst mit seinem Namenszug versehen habe. Aber die Verbindung funktionierte noch ausgezeichnet,
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wie er vor wenigen Minuten hatte feststellen können. Den altmodischen Hörer dicht ans Ohr gepreßt, wählte Macpherson voll atemloser Spannung die Nummer des „Truthahngeiers“. Sie war besetzt. Immer und immer wieder. Macpherson fühlte sich betrogen. Er wählte zur Probe die Polizei, entschuldigte sich, wählte erneut „Truthahngeier“, nur um jedesmal dem Tuten des Besetztzeichens zu lauschen. Nach dem siebzehnten Tuten vergaß er die gute Erziehung Myrtle Macphersons und ging dem Ding an der Wand mit der bloßen Faust zu Leibe. Demütig löste sich der alte Fernsprechapparat von den Haken, die ihn nun nicht mehr zu halten vermochten, und Macpherson brüllte auf vor Schmerz. Er hatte das Gefühl von glühendem Blei, das ihm den Rücken hinunter gegossen werde, aber als er sich stöhnend umdrehte, stand da nur Mrs. Tipplewater, die einen Wasserkessel trug. „Oh“, bemerkte diese betrübt, „jetzt muß ich gleich neues Teewasser aufsetzen. Warum mußten Sie mich auch anstoßen? Also kommen Sie schon mit in die Küche; ich werde mir Ihre Verbrennungen ansehn und Ihnen einen Morgenmantel leihen!“ Dankbar nahm Macpherson ihren Arm, der ihn sicher von der Stätte seines rohen Waltens geleitete. So entging Macpherson leider der Anblick der bestaubten Rückseite des old-fashionablen Telefons sowie der Anblick eines bunten Abziehbildchens, das die rechte untere Ecke eben jener Rückseite schmückte. Es stellte einen niedlichen Truthahngeier dar, nicht größer als eine Olive: Der kurze rötliche Hals verschwand in dem schwarzschillernden Gefieder wie in
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einer verwaschen Robe; die schmutzigrosa dürren Füße mit den krummen Zehenkrallen, die so überraschend aus dem gedrungenen, schwarzen Federkörper ragten, wirkten geradezu peinlich – wie die bloßen Füße einer alten Frau im Schleppkleid. Ganz besonders deutlich aber war das nackte rote Gesicht mit der fliehenden Stirn und dem breiten, horngelben Schnabel, um den sich ein fast menschlicher Zug von Gerissenheit zugleich mit einer gewissen Bonhomie abzuzeichnen schien.
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