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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Arkadi Adamow Kreise auf dem Wasser
Kriminalroman
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Arkadi Adamow Kreise auf dem Wasser
Kriminalroman
Shenja Lutschinin, Direktor des Okladinsker Elektrodenwerkes, ist tot. Selbstmord – so konstatiert die örtliche Miliz und legt den Fall ad acta. Doch da tauchen plötzlich Zweifel an diesem Selbstmord auf, Briefe gehen bei der Miliz ein. Ehemalige Klassenkameraden Lutschinins wenden sich sogar an das Ministerium in Moskau, den Fall erneut untersuchen zu lassen. Dieser Eingabe wird stattgegeben. Vitali Lossew – übrigens ein Schulfreund Lutschinins, der schon gar nicht an Selbstmord glauben kann – sowie Igor Otkalenko von der Moskauer Kriminalmiliz fahren nach Okladinsk, um sich an Ort und Stelle ein Urteil zu bilden Der Empfang durch den Untersuchungsführer fällt jedoch kühl und reserviert aus.
Arkadi Adamow
Kreise auf dem Wasser
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Круги по воде © Молодая гвардия, Moskau 1970 Aus dem Russischen von Helga Gutsche
1. KAPITEL
Ein alter Freund ruft an „Genossen Lossew, bitte.“ „Am Apparat. Ich höre.“ „Vitali?“ „Ja.“ „Na, endlich! Das ist die dritte Nummer, die ich wähle. Hier ist Stepan – Krakowitsch. Grüß dich!“ „Stepan! Na, so eine Überraschung! Was treibst du denn so? Warum warst du im Februar nicht in der Schule?“ „Damals war ich unterwegs. Aber ich rufe nicht an, um mich zu rechtfertigen. Ich muß dir was erzählen. Damit kann ich nicht mal bis zum Abend warten.“ „Ich weiß. Du bist eine dynamische Natur.“ „Spar dir deine Witze. Hör erst mal zu. Erinnerst du dich an Shenja Lutschinin?“ „Natürlich! Allerdings hat er lange nicht mehr geschrieben. Er ist jetzt in Okladinsk. Als Werkdirektor.“ „Also … Shenja lebt nicht mehr.“ „Was sagst du da?“ „Ja, er hat sich das Leben genommen.“ „Waaas? Das kann doch nicht sein!“ „Ich glaube es auch nicht.“ „Das ist auch völlig unglaublich. Daß Shenja …“ „Na eben. Hör zu, Vitali. Ich habe schon mit den anderen gesprochen. Selbstmord ist völlig ausgeschlossen! Was aber dann? Bleibt nur noch Mord. Oder? Die dafür Zuständigen aber … Mit einem Wort, sie haben den Fall einfach zu den Akten gelegt.“ 6
„Ist dir klar, was du da sagst?“ „Na, gut. Dann sind sie der Sache eben nicht gründlich genug nachgegangen. Shenja kann sich nicht umgebracht haben. Das gibt es nicht!“ „Hm, ist natürlich auch wahr.“ „Also, hör zu. Die Jungs bauen auf dich. Verstehst du?“ „Was kann ich dabei tun? Ich sitze hier in Moskau. Man müßte …“ „Spielt keine Rolle! Du hast Shenja gekannt! Mit einem Wort, bleib heute abend zu Hause. Ich komme bei dir vorbei.“ Vitali legte auf und blickte sich, ohne die Hand vom Hörer zu lösen, geistesabwesend in dem bis in alle Einzelheiten bekannten Zimmer um. Alles befand sich an seinem gewohnten Platz – Igors leerer Schreibtisch ihm gegenüber, der Panzerschrank in der Ecke, die Stühle und die alte Couch –, alles war wie immer, nichts hatte sich verändert. Shenja Lutschinin aber lebte nicht mehr … Wann hatten sie einander zum letzten Mal gesehen? Vor mehr als einem Jahr. Damals war Shenja auf der Durchreise in Moskau. Er fuhr aus Leningrad in jenes Okladinsk. Überhaupt hatten sie sich nach Abschluß der Schule selten getroffen. Nur Briefe waren hin- und hergegangen. Aber was für Briefe! Aus ihnen sprach Shenjas ganzes, unbezähmbares Wesen. Ihre alte Freundschaft rostete nicht. Und doch lebte Shenja, so seltsam es auch sein mochte, in Vitalis Erinnerung nur so, wie er ihn damals, zur Schulzeit, gekannt hatte. Als rotwangiges, kräftiges Kerlchen in einer abgewetzten dunkelblauen Jacke mit dem Komsomolabzeichen daran, als draufgängerischen, streitsüchtigen Burschen mit tintenbeklecksten Fingern – der ganzen Klasse, besonders den Mädchen, reparierte Shenja während der Pausen und sogar im Unterricht die Füllfederhalter. Shenja meldete sich als erster im Motorklub an, was ihm fast die ganze 7
Klasse nachmachte. Er verfaßte jenes berühmte Feuilleton für die Wandzeitung, dessentwegen sie alle zum Direktor bestellt wurden. Und wäre nicht Vera Afanassjewna gewesen … Er, Shenja, pflanzte den ersten Baum im Schulgarten, und seinem Beispiel folgte die gesamte Klasse. Wie waren sie damals nach diesen Setzlingen herumgelaufen, wieviel Aufregung hatte es um sie gegeben! Dafür existierte in ihrem Schulgarten jetzt jene berühmte „Allee der 9b“, und jede neue 9b fühlte sich für diese Allee verantwortlich, während sie, die „Alten“, die sie einst angelegt hatten, jedes Jahr im Februar bei ihrem traditionellen Klassentreffen gemeinsam mit den Schülern der jeweiligen neuen 9b gemächlich, jeden Baum kritisch begutachtend, diese Allee abschritten. Nach Abschluß der Schule war jeder seine eigenen Wege gegangen. Vitali ließ sich an der Juristischen Fakultät immatrikulieren, Shenja an einer Technischen Hochschule. Und das nicht einmal in Moskau. Da sein Vater nach Leningrad versetzt wurde, ging auch er dorthin. Vitali löste mit einem Ruck die Hand vom Hörer. Was, zum Teufel, ist mit Shenja Lutschinin passiert? Wie konnte er so etwas tun? Die Genossen in Okladinsk müssen sich geirrt haben. Obwohl andererseits … Aber Stepan kennt wahrscheinlich die näheren Einzelheiten. Am Abend wird er ihm alles erzählen. Ach Gott! Abends wollte er mit Sweta … Wie wäre es, wenn … Sie ist zwar schrecklich schüchtern, aber in so einem Fall … Vitali griff noch einmal zum Telefonhörer und wählte. „Ist Swetlana Borissowna … Sweta? – Ja, ich bin’s. Weißt du, was … Nein, nein, das nicht! Kommst du heute abend mit zu mir? Ich hole dich ab … Wieso überraschend? Das hatten wir schließlich schon lange mal vor. Außerdem gibt es heute einen besonderen Grund. Einer unserer Jungs, ein Schulfreund … Mit einem Wort, es ist ein Unglück passiert … Nein, nein! Du bist nicht überflüssig! Wie könntest du überflüssig sein?“ 8
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Igor Otkalenko kam herein. Er sah besorgt aus. Igor schielte zu dem Freund hinüber und grinste. Als Vitali sein Gespräch beendet hatte, fragte Igor: „Hast du den Bericht geschrieben?“ „Ich mache ihn gleich fertig.“ Vitali winkte ärgerlich ab. „Weißt du, was passiert ist … Einer unserer Schulkameraden … Verstehst du, er war ein so …“ „Hm“, meinte Igor skeptisch, nachdem er seinen Freund zu Ende angehört hatte. „Möglich ist alles. Im Grunde genommen hast du ihn doch zehn Jahre lang nicht mehr gesehen.“ „Aber davor habe ich ihn zehn Jahre lang jeden Tag gesehen!“ entgegnete Vitali aufbrausend. „Zeit genug, jemanden kennenzulernen.“ „Das ist doch kindisch. Die Menschen ändern sich.“ „Aber nicht so! Keiner entwickelt sich zu seinem direkten Gegenteil. Wenn nicht gerade etwas ganz Außergewöhnliches passiert. Shenja aber hat die Hochschule absolviert und ist Ingenieur geworden. Mit achtundzwanzig Werkdirektor!“ „Na, gleich Direktor …“ Igor schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann mir vorstellen, was für ein Werk das ist.“ „Ist doch unwichtig! Ich rede von was ganz anderem!“ „Ist mir ja völlig klar. Aber man muß die Sache nüchtern betrachten und sich die Fakten vor Augen halten!“ Diesen „erzieherischen“ Ton konnte Vitali an Igor nicht ausstehen. „Das, was du erzählt hast, ist nur die äußere Seite. Was aber hat der Mensch in all diesen Jahren erlebt? Vielleicht ist er zu einem Karrieristen geworden? Oder zu einem Neurastheniker?“ „Bei dir kann man auch zum Neurastheniker werden“, bemerkte Vitali bissig. „Vielleicht ist er an einen noch schlimmeren Chef geraten.“ 9
Darauf sagte Vitali äußerlich völlig ruhig und mit ungewöhnlicher Bestimmtheit: „Na, gut. Heute abend bei mir. Abgemacht?“ Die beiden waren wirklich grundverschieden. Das fing schon mit dem Äußeren an. Vitali Lossew war eine große, elegante Erscheinung, er trug stets und ständig ein weißes Hemd mit einer gerade aktuellen Krawatte, helle, enganliegende Hosen und modische, blitzblank geputzte Schuhe. Sein blondes Haar war sorgfältig zurückgekämmt, und die grauen Augen schauten unbekümmertheiter und verwegen aus dem schmalen Gesicht. Ein flotter Bursche. Sportlich. Und absolut modern. Das war unbestreitbar. Igor Otkalenko dagegen war mittelgroß und breitschultrig, trug das dunkle, bis obenhin zugeknöpfte Hemd ohne Krawatte, einen dunkelblauen Anzug von der Stange und hatte ein breites, unbewegliches Gesicht mit dem schweren Kinn eines Boxers und einer leicht plattgedrückten Nase. Sein schwarzes Haar war kurzgeschoren, und die Augen hatten einen aufmerksamen, klugen und besorgten Ausdruck. Auch in ihrem Wesen glichen sich die beiden nicht – hier trat der Unterschied sogar noch krasser zutage. Einmal debattierten die beiden Freunde darüber, welchen Charakter ein Kriminalist haben sollte. Vitali, dessen Universitätswissen um volle fünf Jahre „frischer“ war, berief sich auf anerkannte Autoritäten und zitierte lang und breit einen ausländischen Autor. Dessen Gedanken liefen darauf hinaus, daß bei einer so komplizierten und gefährlichen Lebensweise cholerische und melancholische Temperamente absolut fehl am Platze seien. Dabei ließ Vitali durchblicken, daß sein Opponent eben unter diese Kategorie falle. Wenn er schon kein Choleriker sei, so doch ganz bestimmt ein Melancholiker. 10
Ungerührt wie immer, ließ Igor fallen, daß er dazu neige, sich zu den Cholerikern zu zählen, denn Sherlock Holmes liege ihm mehr als etwa der Melancholiker Dupin. Und diesen eigentümlichen literarisch-psychologischen Exkurs fortsetzend, fügte er hinzu, daß der Sanguiniker Hercule Poirot, dem sich offensichtlich Vitali verbunden fühle, in ihm, Igor, fast so etwas wie Widerwillen hervorrufe. Dann möge Vitali schon lieber zu einem Phlegmatiker werden wie Pater Brown. Kurz gesagt, die beiden Freunde waren sich über die Unterschiedlichkeit ihres Naturells im klaren, und so seltsam dies auch klingen mag, sie hatten daran nichts auszusetzen. Mehr noch – sie betrachteten das für ihre Arbeit als sehr nützlich. Dieser Umstand erklärte sich wahrscheinlich in nicht geringem Maße auch dadurch, daß Fjodor Kusmitsch Zwetkow, ihr direkter Vorgesetzter, derselben Ansicht war. Kam es beispielsweise darauf an, einen Tatort aufzusuchen oder eine besonders komplizierte Durchsuchung vorzunehmen, bei der es galt, geschickt angelegte Verstecke oder unauffällige, für die Aufklärung des Falles aber wichtige Indizien zu entdecken, so nahm Fjodor Kusmitsch unbedingt Igor Otkalenko und natürlich auch Vitali mit, allerdings; wie es diesem vorkam, mehr aus pädagogischen Erwägungen, denn Igors scharfer, durchdringender Blick nahm vieles wahr, was Vitali in seinem Ungestüm unweigerlich übersah. Und jedesmal „schmierte“ Fjodor Kusmitsch, wie Vitali sich ausdrückte, ihm dies „aufs Butterbrot“. Stand jedoch ein schwieriges Verhör, besonders das eines jungen Mannes oder eines jungen Mädchens, bevor, so war Fjodor Kusmitsch stets bemüht, Vitali Lossew damit zu beauftragen. Denn sobald es darum ging, den so schwer greifbaren inneren Kontakt zu einem anderen Menschen herzustellen oder den „Schlüssel“ zu einer scheuen, mißtrauischen oder verschreckten frem11
den Seele zu finden, so wählte Vitali, unabhängig davon, ob es sich um einen Verdächtigen oder einfach um einen Zeugen handelte, gewöhnlich den einzig richtigen, direkten Weg. Mit einem Wort, die Freunde waren grundverschieden, und nicht nur sie allein hatten das bemerkt. Der Arbeitstag nahm seinen gewohnten Verlauf. Obwohl Vitali das morgendliche Gespräch mit Stepan Krakowitsch nicht aus dem Kopf ging, schrieb er den Bericht über den endlich aufgeklärten Apothekendiebstahl zu Ende, und Zwetkow unterschrieb ihn, ohne sonderlich daran herumzukritteln. Anschließend hatte Vitali ein paar wichtige Begegnungen, bei denen er interessante Informationen über Lenka, den „Stier“, erhielt, der sie schon länger beschäftigte und der in letzter Zeit mit seinen Kumpanen üppige Saufgelage abhielt, ohne daß man wußte, woher das Geld dafür stammte. Fjodor Kusmitsch hörte seinen Bericht aufmerksam an. Und obwohl Vitali wie immer lebhaft und mit Feuer redete und hin und wieder sogar mit seinem Chef polemisierte und ihm widersprach, warf Zwetkow ihm plötzlich einen scharfen Blick zu und fragte wie nebenbei: „Ist was – du bist so aufgeregt?“ „Nein, nein, das kommt Ihnen nur so vor“, entgegnete Vitali hastig. „Na, dann rück mal deinen Schlips gerade“, meinte Zwetkow schmunzelnd. Sichtlich verlegen und ärgerlich griff Vitali zerstreut nach seinem Schlips. Gleich darauf prüfte er noch einmal, schon unbewußt, dessen Sitz. Das fehlte ihm gerade noch! Gewöhnlich machte sich nur Igor auf diese Weise über ihn lustig. Jetzt aber fing auch noch Fjodor Kusmitsch damit an. Am späten Nachmittag wurde ihm die Laune endgültig verdorben. Erstens teilte Sweta ihm mit, daß liebe 12
Verwandte aus Woronesh eingetroffen seien und sie nicht kommen könne. Zweitens verschwand Igor. Fjodor Kusmitsch schickte ihn kurzfristig irgendwohin. Igor konnte Vitali gerade noch ein Rezept zustecken und ihn bitten, die verordneten Medikamente abzuholen. Für Dimka natürlich. Das war doch kein normaler Vater mehr! Alla hatte ihn schon richtig angesteckt. Der Junge brauchte nur einmal zu niesen, und schon verloren die beiden den Kopf. Sweta mit ihren Verwandten, das Verschwinden Igors, dieses Rezept und Fjodor Kusmitschs spöttischer Ton – all das überlagerte jetzt jene Hauptsache, Krakowitschs Mitteilung, jenes Unbegreifliche und Schreckliche, das in dem fernen, unbekannten Okladinsk mit Shenja Lutschinin passiert war. … Als Vitali endlich nach Hause kam, war es schon fast neun Uhr abends. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. An der Garderobe entdeckte Vitali sofort Stepans dunkelblauen Aeroflotmantel. Der Mantel des Vaters fehlte. Wieder mal eine Konferenz. Wie viele Abende hatten sie einander schon nicht mehr gesehen! Obwohl Vitali abends gewöhnlich selbst unterwegs war! Aber nicht mit irgendwem, sondern mit Sweta. Oder natürlich dienstlich. Er hängte seinen Mantel auf, rückte vor dem Spiegel mechanisch seinen Schlips zurecht, glättete sein Haar und betrat das Wohnzimmer. Der dicke, glattrasierte Stepan, dessen Wangen bläulich schimmerten, erhob sich bei Vitalis Anblick schwerfällig und breitete lächelnd die kurzen Arme aus. „Komm her, altes Haus, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Wie lange …!“ Gerührt sah die Mutter zu, wie die beiden einander umarmten. Dann sagte sie: „Geh dir die Hände waschen und setz dich zu Tisch. Bist doch bestimmt hungrig?“ Und an Stepan gewandt, fügte sie hinzu: „Jetzt wird er 13
sich vor dem Zubettgehen noch den Magen überladen. Wenn Sie wüßten, wie schädlich das ist. Daß der Mensch sich selbst die Gesundheit so ruinieren muß. Es ist zum Verzweifeln!“ „Da haben Sie nur zu recht, Jelena Georgiewna“, stimmte Stepan mit schallender Stimme zu. „Aber die Gesundheit dieses jungen Mannes reicht für zwei.“ „Ja, ja, das sagen wir immer, bis es eines Tages zu spät ist. Ach ja!“ Jelena Georgiewna fiel plötzlich etwas ein. „Weißt du, wer angerufen hat?“ Sie machte eine geheimnisvolle Pause. „Vera Afanassjewna! Es war mir schrecklich unangenehm, aber ich habe sie nicht gleich wiedererkannt.“ Sie schlug bekümmert die Hände zusammen. „Auch sie rief wegen dieser schrecklichen Geschichte mit Shenja Lutschinin an. Stepan hat mir schon alles erzählt.“ „Ja, alter Junge, eine schreckliche Geschichte“, wiederholte Stepan finster und mit Nachdruck, während er sich wieder an den Tisch setzte. „Ich werde dir gleich alles erzählen, was wir in Erfahrung bringen konnten. Man kann die Sache nicht einfach so hinnehmen, zum Teufel.“ Stepan erzählte. Als erste hatte Walja Korsakowa von alldem erfahren: Wie sich herausstellte, besaß sie eine Tante in Okladinsk. Lutschinin war erst vor einem Jahr mit seiner Frau aus Leningrad dorthin übergesiedelt. Man hatte ihm die Leitung des Werkes angeboten. Eigentlich trog hier die Bezeichnung „Werk“. Es handelte sich einfach um größere Werkstätten mit vorsintflutlichen Ausrüstungen. Dort arbeitete ein Nachbar dieser Tante. Von ihm hatte sie alles erfahren. Shenja sollte etwas veruntreut oder irgendwelchen Mißbrauch getrieben, wenn nicht gar gestohlen haben. Niemand wußte Genaueres, es wurde nur alles mögliche gemunkelt. Lutschinin drohte ein Gerichtsverfahren. Deshalb nahm er sich das Leben. Die Miliz konstatierte Selbstmord. 14
Stepan sprach abgehackt und dumpf, seiner Erregung nur mühsam Herr werdend. Ständig unterbrach er sich und wandte sich mit der zornigen Frage an Vitali: „Kannst du dir das vorstellen? Will dir so was in den Kopf? Ist doch kompletter Unsinn, stimmt’s?“ Vitali schwieg wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte sich das alles tatsächlich nicht vorstellen. Shenja Lutschinin sollte gestohlen haben? Er sollte vor Gericht gestellt werden? Und schließlich Selbstmord begangen haben? Nein, das war wirklich Unsinn! Und laut sagte er: „Das kann nicht sein!“ „Aber … Was dann?“ fragte Stepan aufhorchend. „Er ist nicht mehr am Leben. Das ist eine Tatsache.“ „Wir müssen herauskriegen, wie das alles passiert ist. Über unsere Kanäle.“ „Aber eben ‚eure Kanäle‘ behaupten, daß es Selbstmord war.“ Stepan sprach mit unverhohlenem Spott. „Wir werden sie bitten, die Sache noch einmal zu untersuchen. Gründlicher.“ „Hör zu!“ meinte Stepan aufbrausend. „Tu bloß nicht so naiv! Glaubst du, die werden sich ins eigene Fleisch schneiden?“ „Ich tue nicht naiv. Naive gibt’s bei uns nicht. Es wird sowieso jemand aus dem Ministerium hinfahren.“ „Du mußt selbst fahren! Du hast Shenja gekannt! Das ist deine gottverdammte Pflicht! Als Freund, als Mensch, als Staatsbürger, wenn du willst!“ Jelena Georgiewna strickte nervös und blickte ihren Sohn von Zeit zu Zeit unruhig an. Plötzlich legte sie ihr Strickzeug beiseite, ordnete mit beiden Händen ihr üppiges, nur leicht ergrautes blondes Haar und sagte so streng, wie sie gewöhnlich mit ihren Patienten sprechen mochte: „Stepan hat recht, Vitali. Das wird auch Papa dir sagen.“ „Mich wird man nicht dorthin schicken“, brummte Vitali. 15
„Doch, das wird man!“ widersprach Stepan heftig. „Wir haben deinem Minister einen Brief geschrieben, wenn du’s wissen willst! Unsere ganze ehemalige Klasse! Und nicht nur wir allein! Aus Okladinsk hat man, wie’s heißt, ebenfalls geschrieben. Und noch von woandersher. Die Leute glauben es nicht! Viele glauben es nicht!“ „Man wird Erfahrenere finden, die man hinschicken kann.“ „Aber wir wollen, daß du fährst.“ Stepan sprang von seinem Stuhl auf, ging schnaufend im Zimmer auf und ab und blieb dann vor Vitali stehen. „Sie können ja noch jemand anders mitschicken. Aber du mußt auch dabeisein. Unbedingt! Eben du!“ Im anderen Zimmer läutete das Telefon. Jelena Georgiewna erhob sich hastig von ihrem Platz. „Vera Afanassjewna“, erriet Stepan als erster. „Geh schon, geh.“ Mit einem Seufzer begab sich Vitali zur Tür. Die Mutter reichte ihm den Hörer. „Ich höre, Vera Afanassjewna“, sagte Vitali, aus alter. Gewohnheit leicht verlegen werdend. „Zuerst einmal guten Tag, Vitali.“ „Guten Tag …“ „Zweitens …“ Vera Afanassjewnas Stimme war noch ebenso klangvoll und streng wie früher, als wären seit damals nicht über zehn Jahre ins Land gegangen. „Zweitens hoffe ich, daß Krakowitsch dir schon alles erzählt hat.“ „Ja, ja …“ „Folgendes. Ich habe Briefe von Lutschinin. Den letzten – aus Okladinsk – habe ich vor einem halben Jahr bekommen. Ich werde ihn dir geben, obwohl ich nicht weiß, ob du etwas damit anfangen kannst. Das mußt du selbst sehen. Aber zieh bitte keine voreiligen Schlüsse. Dazu neigtest du früher nämlich.“ „Das stimmt, Vera Afanassjewna.“ Vitali mußte lächeln. „Was Recht ist, muß Recht bleiben.“ 16
„Ich hoffe, daß du diesen Fehler überwunden hast. Komm morgen in die Schule und hol dir den Brief ab. Du wirst doch fahren?“ „Wenn ich meine Vorgesetzten überzeugen kann …“ „Schiebe es bitte nicht auf die lange Bank.“ „Natürlich nicht, Vera Afanassjewna!“ Vitali hätte selbst nicht zu sagen vermocht, wann dieser Entschluß in ihm gereift war. Ihm kam es so vor, als hätte er von Anfang an gewußt, daß er nach Okladinsk fahren würde, und als hätten seine Zweifel und sein Streit mit Stepan absolut nichts damit zu tun – sie schienen nur der Ausdruck eines früheren Zustands, früherer Sorgen und Probleme zu sein. Schließlich mußte er einfach fahren, da so viele Menschen es von ihm verlangten! Im stillen fühlte Vitali sich durch dieses Vertrauen und die Überzeugung, daß nur er die Sache aufklären könne, sogar ein wenig geschmeichelt. „Erinnerst du dich gut an Lutschinin?“ fragte Vera Afanassjewna plötzlich. „Ja, natürlich!“ „Denk trotzdem noch einmal gründlich über ihn nach. Ganz objektiv. Na, wir sprechen uns ja morgen noch.“ Nachdenklich kehrte Vitali ins Wohnzimmer zurück. Er bemerkte weder den forschenden Blick, den Stepan ihm zuwarf, noch die Unruhe in den Augen der Mutter. Sie hatten seine Worte gehört und das Wichtigste begriffen: Vitali war entschlossen zu fahren. „Ich habe Jelena Georgiewna von unserer ‚Allee der 9b‘ erzählt“, verkündete Stepan laut und aufgeräumt, vielleicht sogar eine Spur zu aufgeräumt. „Ja, ich kann mich an diese Allee erinnern.“ Jelena Georgiewna lächelte zerstreut. „Das war Shenjas Idee. Wir fuhren zusammen zur Baumschule, um die Setzlinge zu besorgen. Da hat er vielleicht Krach geschlagen“, fuhr Stepan fort. „Anfangs wollten sie uns nämlich nichts geben.“ 17
„Stepan, erinnerst du dich gut an Shenja?“ fragte Vitali plötzlich, während er sich an den Tisch setzte. „Aber natürlich!“ „Ganz objektiv?“ „Dumme Frage. Er war doch kein Heiliger.“ „Dann erinnerst du dich also auch an seine Fehler?“ Stepan blickte den Freund aufmerksam an. „Hat Vera Afanassjewna dich auf diese Idee gebracht?“ „Nein, aber Shenja war leicht auf die Palme zu bringen.“ „Na und?“ „Unbeherrscht war er. Und sensibel. Und es war nicht immer gut Kirschen mit ihm essen.“ Sie schwiegen. „Du fährst also?“ fragte Stepan vorsichtig. Vitali nickte. „Wird man dich denn lassen?“ „Ich werde es durchsetzen.“ Sie schienen die Rollen vertauscht zu haben. „Na, sieh zu, Vitali“, sagte Stepan bereits in der Diele, als er sich verabschiedete. „Du wirst Rede und Antwort stehen müssen. Vor der ganzen Truppe. Also mach deine Sache gut. Und laß dich dort nicht um den Finger wickeln.“ „Ach, scher dich zum Teufel“, erwiderte Vitali finster. „Soll ich dich hinfliegen?“ schlug Stepan vor. „In zwei Stunden bist du an Ort und Stelle. Sogar noch früher. Na, wie ist’s?“ „Ich reise lieber auf althergebrachte Art“, entgegnete Vitali grinsend. „Da kann man sich in Ruhe ausstrecken und nachdenken.“ Als Stepan gegangen war, sagte Jelena Georgiewna, während sie den Tisch abräumte: „Ich mache mir Sorgen um dich, Vitali.“ „Ach, diesmal wird’s ein Kinderspiel.“ „Wann fährst du denn?“ „Wenn schon, dann so bald wie möglich.“ 18
Jelena Georgiewna seufzte. Vitali aber dachte plötzlich: Und was wird mit Sweta? Stirnrunzelnd trat er ans Fenster. Es regnete. Wassertropfen rannen in Zickzacklinien über die Scheibe. Unter den spärlichen Laternen in der verträumten Gasse glänzte der nasse Asphalt. Heftige Windstöße fuhren mit übermütigem Pfeifen um die Ecken, und das schlecht verkittete Fenster antwortete mit einem dünnen Klagelaut. Hol’s der Teufel! Wenn man sich die Sache richtig überlegte, dürfte natürlich nicht er, Vitali, fahren. Hier wurde ein erfahrener Mann gebraucht. Und Fjodor Kusmitsch täte recht daran, einen anderen zu schicken. Diese Gedanken aber ließen seine Laune nicht gerade besser werden. Wer weiß, was Sweta in diesem Moment machte. Vielleicht küßte sie sich gerade mit ihren „lieben Verwandten“ … „Bist du sicher, daß es ein Irrtum ist?“ „Ja! – Ich bin so gut wie sicher.“ „Hm … Welche Fakten sprechen dafür?“ „Erstens sein Charakter. Er war nicht der Mensch, der Selbstmord begehen würde. Zweitens hatte er Feinde.“ „Woher weißt du das alles?“ „Na, aus seinem eigenen Brief! Dem letzten!“ „Tja … Du bestehst also auf dieser Reise?“ „Ja, Fjodor Kusmitsch, ja!“ „Du bist mir bloß ein wenig zu voreingenommen.“ „Das muß man dabei auch sein.“ „Sieh mal an! Otkalenko meint gerade, daß man das nicht müsse.“ „Otkalenko ist ein Skeptiker. Das ist nichts Neues.“ „Denk mal an! Und was bist du in diesem Fall?“ „Das dürften Sie besser wissen.“ „Lossew ist ein jugendlicher, selbstsicherer Optimist. Das ist auch nichts Neues.“ „Na, na. Seit wann zählst du dich zu den Alten? Steh 19
mal lieber auf und zieh die Vorhänge zu. Die Sonne blendet einen ja … So ist’s gut. Reicht. Und jetzt könnt ihr beide gehen.“ „Aber, Fjodor Kusmitsch …“ „Geh nur, geh. Wenn nötig, kommst du immer noch zum Nachtzug zurecht. Wirst es auch noch schaffen, deine Sachen zu packen und … dich zu verabschieden. Falls wir es beschließen sollten. Bis dahin aber laß dir noch mal die Sache mit der Apotheke durch den Kopf gehen. Verlangen kann ich da nichts mehr von dir: Der Diebstahl ist aufgeklärt. Und der Bericht für oben ist in Ordnung. Für uns aber sind da noch ein paar Fragen offen. Du kannst sagen, was du willst, aber die Apotheke liegt nur drei Wohnblöcke von dem bewußten Kraftverkehrsbetrieb entfernt. Und die ‚Hexe‘ treibt sich nicht allein mit Senka herum. Du weißt, was ich meine?“ „Ja.“ „Na, dann geh. Und du, Otkalenko, warst du in der ‚Fräse‘?“ „Ich komme gerade von da.“ „Und, ist für uns da nichts zu holen?“ „Doch, es ist genau, wie wir vermutet haben, Fjodor Kusmitsch.“ „Mach Maslow mit diesem Fall vertraut. Also, zieht ab, meine Lieben.“ Vitali und Igor kehrten schweigend durch den langen Korridor in ihr Zimmer zurück, und erst als sich jeder an seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, sagte Igor: „Der Alte brütet was aus, denk an meine Worte.“ In dem sonnendurchfluteten Raum war es stickig, und an der Fensterscheibe stießen sich summend die Fliegen. Vitali lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und gegen die Sonne blinzelnd, fragte er grimmig: „Was meinst du, wird’s klappen?“ Igor, der in einer dicken Mappe mit Papieren kramte, erwiderte spöttisch: „Kannst Sweta anrufen und dich für 20
heute abend mit ihr verabreden. Der Alte hat dir doch freigegeben.“ „Sieht ganz so aus“, meinte Vitali seufzend. Da aber blickte Igor von seinen Papieren auf und fragte interessiert: „Du hast von einem Brief gesprochen. Ist das der von der Lehrerin?“ „Ja.“ „Zeig mal her.“ Vitali zog einen zerrissenen Briefumschlag aus der Innentasche seines Sakkos und warf ihn Igor zu. Der Umschlag segelte direkt in dessen Hände. „Könntest glatt im Zirkus auftreten“, meinte Igor grinsend. „Die bemühen sich schon lange um mich …“ Igor entnahm dem Umschlag einen zusammengefalteten Brief und vertiefte sich in die Lektüre. Verstohlen beobachtete Vitali seinen Freund. Beim Lesen verfinsterte sich Igors Gesicht zusehends, und sein schweres Kinn schob sich vor. Der Brief schien in Hast und Eile abgefaßt worden zu sein, die Zeilen standen krumm und schief da, die Abstände zwischen ihnen verkleinerten sich zum Ende hin immer mehr, und hin und wieder brachen die Zeilen sogar vorzeitig ab. Lutschinin schrieb: „Liebe Vera Afanassjewna! Bekenne meine Sünden. Hätte Ihnen längst schreiben müssen. Entschuldigen können mich da nur außergewöhnliche Ereignisse. Und die sind eingetreten. Ich bin nicht mehr in Leningrad. An diese Stadt denke ich heute nur noch des Nachts wie an einen liebgewordenen Menschen zurück … Jetzt aber wohne ich in dem kleinen, vom Schnee verwehten und von allen Winden durchbrausten Okladinsk. Schon mal davon gehört? Bin hierher gekommen, um mich als Direktor zu ver21
suchen. Man hat mir ein kleines Werk anvertraut. Eine schrecklich interessante Sache! Das Werk produziert übrigens ziemlich wichtige Dinge: Elektroden für die Industrie. Bloß mit der Technologie war’s nicht weit her. Wir haben ein halbes Jahr lang herumgetüftelt und, wie ich glaube, auch etwas Anständiges zuwege gebracht. Die Elektroden werden jetzt nicht schlechter als in Amerika oder Schweden produziert. Natürlich ist uns nichts in den Schoß gefallen. Ich habe weder meine eigenen Nerven noch die meiner Mitarbeiter geschont. Besonders meine nicht. Manchmal ging’s hoch her. Auch Streit gab’s zur Genüge. Wie Sie wissen, ist mit mir nicht so leicht auszukommen. Manchen Leuten paßt das nicht. Und immer wieder gibt’s Schwierigkeiten – bald fehlt’s an diesem, bald an jenem. Mit der Zeit habe ich mich zu einem ‚Beschaffungsgenie‘ entwickelt. Aber natürlich finden sich immer Leute, die versuchen, einem Beine zu stellen. Mitunter ist das recht bitter. Meine Seele ist oft unruhig. Der Teufel weiß, was ihr fehlt. Olga und ich leben einigermaßen friedlich miteinander. Sie arbeitet als Lehrerin. Aber mit Ihnen kein Vergleich! Ja, die Seele ist ein kompliziertes Ding. Wie soll man sich als Atheist dazu verhalten? Aber lassen wir das. Es steht mir nicht an, Ihnen Klagelieder zu singen. Sonst verpassen Sie mir noch eine Drei in Betragen. Ich bin nämlich auch so schon … Wie geht es Ihnen, Vera Afanassjewna, wie steht’s um die Gesundheit? Ich würde schrecklich gern die ehemaligen Klassenkameraden wiedersehen! Grüßen Sie bitte alle von mir, die Sie treffen. In tiefer Verehrung Ihr (und auch aller anderen) ‚schwieriger‘ J. Lutschinin“ Vitali bemerkte, daß Igor die Lektüre bereits beendet hatte und ohne aufzublicken nachdachte. Nach wie vor 22
auf seinen Stuhl gelümmelt und die langen Beine ausgestreckt, beobachtete er Igor eine Weile, hielt es aber schließlich nicht länger aus und fragte: „Na, was sagst du dazu?“ Igor warf ihm einen finsteren Blick zu und brummte: „Du mußt hinfahren.“ „Der Alte hält’s für überflüssig.“ „Hat er den Brief gelesen?“ „Stell dir vor, er hat.“ „Dann gehe ich noch mal zu ihm.“ Igor stand entschlossen auf und legte die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papiere in eine Mappe. „Übrigens, ein interessantes Detail“, meinte Vitali, sich ebenfalls erhebend. „Warum will der Alte, daß du Maslow das Material über die ‚Fräse‘ übergibst?“ Igor hob den Kopf. „Was meinst du?“ „Nichts … Habe nur laut gedacht.“ Das Telefon läutete. Vitali nahm mit einem Ruck den Hörer ab. „Lossew am Apparat.“ „Guten Tag, Genosse Lossew. Hier spricht Korschunow. Aus dem Ministerium. Können Sie jetzt gleich zu mir kommen?“ „Jawohl, Sergej Pawlowitsch. Das kann ich.“ „Und wo ist Otkalenko?“ „Auch hier, Sergej Pawlowitsch. Er steht mir gegenüber.“ Vitali zwinkerte dem Freund vielsagend zu. „Ich erwarte Sie beide. So schnell wie möglich.“ „Aber unser Chef, Sergej Pawlowitsch …“ „Der Chef ist im Bilde.“ Als sie auf die Straße kamen, erblickten sie an der Bordsteinkante den blauen Wolga der benachbarten Stadtbezirksabteilung. Der Fahrer warf gerade den Motor an. Vitali stürzte als erster zu ihm, bückte sich und redete hastig auf ihn ein: „Hör zu, mein Freund, setz uns doch rasch mal am Ministerium ab. Wir müssen ganz dringend dorthin.“ 23
„Na los, steigt ein.“ Den Weg über schwiegen sie. Vitali blickte durchs Fenster auf die vor Hitze schmelzende Straße, auf der goldene Sonnenflecke tanzten. Ein heißer Windhauch blies ihm das helle Haar in die Stirn. Igor dagegen lehnte sich auf seinem Sitz zurück und schaute gerade vor sich hin. Seinem gebräunten Gesicht mit dem schweren, vorgeschobenen Kinn konnte man nichts ablesen. Erst in dem kühlen, hohen Vestibül des Ministeriums sagte Vitali, nachdem sie sich dem Posten gegenüber ausgewiesen hatten und auf den Fahrstuhl warteten: „Ahnst du was?“ „Ja.“ Igor nickte kurz. „Aber was soll ich dabei?“ „Hast du das mit Maslow vergessen?“ Igor hob eine Braue. „Du meinst …?“ Aber schon betraten sie zusammen mit anderen den Fahrstuhl. Korschunows Zimmer war abgeschlossen. Die beiden Freunde schlenderten über den breiten Korridor. Igor traf auf Schritt und Tritt Bekannte. Vitali dagegen waren die Leute fast alle unbekannt. Im Vorzimmer des Chefs sagte der Diensthabende: „Er ist hier. Warten Sie, er kommt gleich ’raus. Ihre Dienstreiseaufträge sind schon fertig.“ Die Freunde wechselten einen Blick. Kurz darauf tauchte Korschunow in einem hellen, gutsitzenden Anzug in der Tür auf. Seinen gebräunten, kräftigen Hals umschloß ein enganliegender, blütenweißer Kragen. Beim Anblick der Freunde, die sich bei seinem Erscheinen erhoben, lächelte er breit und musterte sie mit einem raschen, eindringlichen Blick, als überlege er ein letztes Mal, ob sie das bevorstehende Gespräch wert seien oder nicht. „Kommt mit, Jungs“, erklärte er energisch. Wie jung er noch aussieht, dachte Vitali, während er 24
Korschunow, der das Vorzimmer verließ, eilig folgte. Dabei ist er bestimmt schon seine fünfzehn Jahre im Dienst. Wie viele Fälle er aufgeklärt hat! Eine geradezu legendäre Persönlichkeit. Diesmal gingen sie zielstrebig über den Korridor, so daß Igor keinen Bekannten mehr traf. Nur Korschunow dankte ein paarmal für einen Gruß. Der eine oder andere versuchte ihn sogar anzusprechen. „Später, später. Hab’ jetzt keine Zeit“, entgegnete Korschunow streng. „Und überhaupt entscheide ich solche Dinge nicht auf dem Flur.“ Als sie in Korschunows Arbeitszimmer kamen, sagte er: „Also, Jungs. Ihr fahrt nach Okladinsk. Klar? Wir haben alle möglichen Briefe und Anrufe bekommen und beschlossen, der Sache nachzugehen. Mit euch fährt Swetlow aus meiner Abteilung. Im Augenblick ist er unterwegs. Mit den Okladinsker Genossen habe ich schon gesprochen. Der Fall ist nicht einfach. Vor allem aber geht’s dabei ums Prinzip. Klar? Unter allen Umständen. Außerdem ist es“ – er lächelte – „ein interessanter Fall. Das könnt ihr mir glauben. Langweilen werdet ihr euch nicht. Also haltet die Augen offen. Vielleicht besuche ich euch mal. Der Fall wurde meiner Abteilung übertragen.“ Die Freunde ließen kein Auge von Korschunow. Vitali schaute besorgt und ungeduldig drein, Igor konzentriert und mißtrauisch, als überlege er noch, ob er fahren oder bleiben solle. „Jetzt müssen wir noch ein paar Dinge besprechen“, schloß Korschunow und fragte, an Vitali gewandt, sachlich: „Haben Sie den Brief bei sich, von dem Zwetkow gesprochen hat?“ „Jawohl. Ich habe ihn hier“, erwiderte Vitali hastig. Korschunow las den Brief aufmerksam durch, faltete ihn dann wieder akkurat zusammen und steckte ihn in den Umschlag. Sein Gesicht hatte einen konzentrierten Ausdruck angenommen. 25
„Tjaaa …“, meinte er seufzend und wiederholte: „Wir wollen noch ein paar Dinge besprechen. Eure ersten Maßnahmen sozusagen. Daß Lossew Lutschinin gekannt hat und mit ihm befreundet war, halte ich sogar für nützlich. Und daß ihr unterschiedliche Meinungen zu diesem Fall habt, ebenfalls.“ Korschunow schmunzelte. „Das ist sozusagen ein psychologisches Moment.“ Die bis zur Abfahrt verbleibenden Stunden waren mit hastigen Vorbereitungen ausgefüllt. Zum Bahnhof wegen der Fahrkarten. Nach Hause, die Sachen packen. Zur Arbeit – hier wußten sie nicht, was sie zuerst erledigen sollten. Die zurückbleibenden Kollegen konnten sich kaum merken, was noch zu tun war. Kurz vor der Abfahrt rief Igor noch einmal zu Hause an und sagte streng in den Hörer: „Pack ihn bloß nicht zu warm ein. Sonst schwitzt er und erkältet sich wieder. So was will nun Medizinerin sein! Jetzt hast du keinen mehr, den du in die Apotheke schicken kannst … Brauchst nicht zum Bahnhof zu kommen. Hast auch so schon genug Laufereien …“ Am anderen Apparat schrie Vitali aufgeregt: „Wagen Nummer drei! Hörst du? Aber komm nicht zu spät! Es geht gleich los! Heiße Grüße an die Verwandten! Die haben ein Glück! Wenn ich nicht weg müßte, bekämen sie von dir nichts mehr zu sehen!“ Auf dem Bahnhof, im Durcheinander vor der Abfahrt des Zuges, schaute sich Vitali in Erwartung Swetas ungeduldig in der Menge um. Ab und zu nahm er mit einem Seitenblick die dunkle Gestalt Igors wahr, der sich ungerührt mit seiner Frau unterhielt. Als die beiden später zu ihm traten, erklärte Alla ihm, daß in der Metro zu dieser Zeit ein schreckliches Gedränge herrsche, daß es unmöglich sei, ein Taxi zu bekommen, und daß es für sie überhaupt an der Zeit wäre, einzusteigen. Vitali hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. 26
Igor äußerte sein Erstaunen darüber, daß Swetlow sich verspätete. Auch Vitali beunruhigte das. In diesem Augenblick aber trat ein Unbekannter auf sie zu, wies sich aus und teilte ihnen mit, daß Swetlow aufgehalten worden sei, daß sich in dem Fall plötzlich Komplikationen ergeben hätten und daß Oberstleutnant Korschunow ihnen auftrage, vorerst allein zu fahren. Swetlow und vielleicht auch Korschunow selbst würden später nachkommen. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Da lehnte sich Vitali plötzlich so weit vor, daß er fast aus dem Zug hing. Er sah nämlich in diesem Moment neben Alla eine schlanke, blonde Gestalt in einem dunkelblauen Kleid und mit einer weißen Handtasche auftauchen. Sweta …! „Vorsicht, junger Mann“, sagte die Schaffnerin und fügte brummig hinzu: „Na, da ist Ihr Mädchen ja doch noch gekommen. Früher ging’s wohl nicht.“ Dann traten sie in ihr Abteil und verstauten ihre Koffer und Mäntel. Das alte Netz, das seine Frau ihm auf dem Bahnsteig in die Hand gedrückt hatte, schob Igor verstohlen in eine Ecke. „Sie hat extra noch Pasteten gebacken“, brummte er unwillig. „Als ob ich ohne sie verhungern würde.“ Sie mußten ihr Abteil mit einer älteren, traurig aussehenden Frau im dunklen Kostüm und einem jungen, spitznasigen Mädchen teilen, das muntere schwarze Kulleraugen und einen eigensinnigen Mund hatte, der noch mit keinem Lippenstift in Berührung gekommen war. Erst spät am Abend, als die beiden Frauen schliefen, gingen Vitali und Igor in den leeren Gang hinaus, um sich leise über den Zweck ihrer Reise zu unterhalten, über den im Verlauf des ganzen Abends noch kein Wort gefallen war. „… Da müssen besondere Gründe vorgelegen haben“, flüsterte Vitali eindringlich. „Hier handelt sich’s weder 27
um eine Prügelei zwischen Betrunkenen noch um einen Raubüberfall.“ „Du klammerst dich nur an die eine Version. So geht das nicht. Es kann auch Selbstmord gewesen sein.“ „Er war nie ein Neurastheniker. Und auch kein Panikmacher. Oder gar ein Feigling. Du hast seinen Brief doch gelesen.“ „Dazu muß man nicht unbedingt ein Neurastheniker sein. Und auch kein Panikmacher. Angst aber … Angst haben nicht nur Feiglinge. Vielleicht hat er gegen die Gesetze verstoßen, oder er ist jemandem auf den Leim gegangen. Schließlich kann er auch selbst in etwas hineingeraten sein. Er war stolz und ehrgeizig. Für so einen Menschen kann eine öffentliche Bloßstellung schlimmer sein als der Tod. Die Dinge liegen eben komplizierter, als wir glauben.“ Das Licht im Wagen war längst erloschen, nur das blaue Nachtlämpchen an der Decke blinkte schwach. Zu guter Letzt sagte Igor müde: „Na schön. Gehen wir schlafen.“ Sie kehrten ins Abteil zurück und nahmen ihre Schlafplätze ein. Vitali überkam eine plötzliche Traurigkeit. Shenja lebte nicht mehr. Wie kurz sein Leben gewesen war! Zu Hause gab’s Ärger mit seiner Frau. Und auf der Arbeit mit den Kollegen. Unmerklich schlief Vitali ein. Seinen letzten Gedanken überlagerte unbegreifliche Unruhe. Diese Unruhe galt der Zukunft, die ihn erwartete, jenem ihm unbekannten Okladinsk, in dem etwas Nichtwiedergutzumachendes geschehen war.
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2. KAPITEL
Niemand hegt Zweifel Im Abteil schliefen noch alle. Durch die geschlossenen Fenstervorhänge fiel grünliches Licht, in dem man sich wie in einem Aquarium fühlte, und nur ein schmaler Spalt zwischen den Vorhängen ließ einen verwegenen goldenen Sonnenstrahl eindringen, in dem unzählige Staubkörnchen tanzten. Als Vitali an jenem frühen Morgen erwachte, erinnerte er sich jenes verworrenen, ungewöhnlichen Falls, den er aufklären sollte. Was hat sich in diesem unbekannten Okladinsk zugetragen? Was ist dort geschehen? Er, Vitali, hat Shenja Lutschinin, jenen schwarzäugigen Burschen mit der runden Stirn, jenen Anführer und Anstifter aller Unternehmungen, gekannt, der die ganze Klasse mitriß. Er erinnert sich seiner übermütigen Streiche, seines Lachens, seiner leidenschaftlichen Dispute, seiner starrköpfigen, schroffen Geradlinigkeit. Er erinnert sich daran, wie Shenja es ablehnte, sich vorsagen zu lassen, indem er so tat, als höre er nichts – selbst wenn er vor den Augen der Klasse an der Tafel durchhing. Nein, ein Mensch wie Shenja kann sich nicht das Leben genommen haben, das ist ausgeschlossen! Was immer Igor auch vom Leben sagen mag, das die Menschen verändert. In einem Punkt aber hat Igor recht: Er darf sich jetzt nicht durch Erinnerungen den Blick auf die neuen Fakten verstellen. Also wird er von nun an nicht mehr in diesen Erinnerungen wühlen, um sich durch sie 29
nicht das Herz schwer zu machen. All das muß er jetzt vergessen. Da hat Igor völlig recht. Als Vitali einen vorsichtigen Blick zu Igor hinüberwarf, merkte er plötzlich, daß dieser nicht schlief und ihn, die Hände hinterm Kopf verschränkt, ebenfalls ansah. „Warum meldest du dich nicht?“ fragte Vitali. „Bist wach und sagst keinen Ton.“ „Ich denke nach …“ Vitali beugte sich hinunter. Mutter und Tochter schliefen ebenfalls nicht mehr und unterhielten sich mit leisen Stimmen. Nachdem sie gefrühstückt hatten, gingen die Freunde wieder auf den Gang. Vitali warf einen Blick auf die Uhr. „Wir sind bald in Okladinsk. In drei Stunden und sechzehn Minuten.“ „Ja. Anscheinend hat der Zug keine Verspätung.“ „Dort erwartet man uns schon. Wahrscheinlich nicht gerade begeistert.“ Ratternd überquerte der Zug einen kleinen Fluß, der sich gleich einer blauen Serpentine zwischen den von hohem Gras überwucherten Ufern dahinschlängelte. „Ach, hier müßte man mit einer Angel sitzen …“, meinte Vitali seufzend. „Gibt’s in Okladinsk nicht auch einen Fluß? Ach ja!“ Die Mienen der beiden Freunde verdüsterten sich. Schließlich hatte man Lutschinins Leiche aus dem Fluß gefischt. Sie kehrten ins Abteil zurück. An der Tür erschien die dicke Schaffnerin. „Wir sind gleich in Okladinsk. Sie müssen noch Ihren Tee bezahlen.“ Der Zug fuhr bereits merklich langsamer. Am Fenster huschten Holzhäuser mit hohen Fernsehantennen auf den Dächern vorbei. Okladinsk … Allmählich tauchten mit Kopfsteinen gepflasterte Straßen auf, die von asphaltierten Fahrbahnen mit ak30
kuraten Bürgersteigen abgelöst wurden, auf denen kümmerliche Bäume wuchsen. Zwei- oder dreistöckige Häuser und ein Wald von Fernsehantennen wurden sichtbar, Schilder huschten vorüber. Über die Straße rollte ein erbarmungslos qualmender gelbroter Bus, dem bald darauf ein zweiter folgte. Eine Lastwagenkolonne brauste dröhnend vorbei, und ein brauner Pobeda raste vorüber … Allmählich trat die Stadt zurück, um bald völlig hinter einem hohen, verrußten Zaun zu verschwinden. Die Gleise teilten und vervielfachten sich … Schließlich erreichte der Zug einen langgestreckten grauen Bahnsteig und hielt so sacht vor einem kleinen Bahnhofsgebäude, daß man es kaum merkte. Über dessen breiten, in der Sonne unerträglich glitzernden Fenstern hing ein weißes, mit korrekten, strengen Buchstaben beschriebenes Schild: „Okladinsk“. Vitali und Igor sprangen auf den heißen Asphalt. Nur wenige Passagiere verließen die anderen Wagen. Mit Koffern, Bündeln und Körben beladen, bewegten sie sich auf die weitgeöffneten Türen des Bahnhofsgebäudes zu. Einige der Leute führten Kinder an der Hand. „Ich vermisse das Orchester“, sagte Vitali. „Das Orchester sind wir“, erwiderte plötzlich eine ruhige Stimme in ihrem Rücken. Wie auf Kommando drehten die beiden Freunde sich um. Mit einem Lächeln in den Mundwinkeln stand vor ihnen ein hochgewachsener Mann mit leicht gekrümmtem Rücken, einem langen, abgespannten Gesicht und müden Augen. Er trug einen etwas zerdrückten dunkelblauen Anzug. Neben ihm wartete ein zweiter Mann. „Tomilin!“ rief Igor aus. „Nikolai!“ „In eigener Person.“ „Hier trifft man sich wieder! Darf ich vorstellen? Oberleutnant Lossew.“ „Ich weiß.“ Tomilin reichte Vitali seine breite, kräftige 31
Hand. „Herzlich willkommen. Hier, machen Sie sich bekannt.“ Er wies auf seinen Begleiter. „Hauptmann Wolow. Aus der Gebietsverwaltung.“ „Hör mal. Du hast doch in Swerdlowsk gedient“, sagte Igor. „Wie kommst du jetzt hierher?“ „Aus familiären Gründen“, erwiderte Tomilin unbestimmt und fügte hinzu: „Bitte, folgen Sie mir.“ Sie gingen zum Bahnhofsgebäude hinüber. „Wohin fahren wir jetzt?“ fragte Otkalenko. „Ins Hotel. Ihr stellt eure Sachen ab, und dann geht’s zur Stadtabteilung. Der Genosse Oberstleutnant erwartet euch.“ „Ist das dein Chef?“ „Der Leiter der Stadtabteilung, Oberstleutnant Raskatow, Wikenti Petrowitsch.“ Sie durchquerten den halbdunklen, leeren Wartesaal mit den langen, abgenutzten Bänken und dem typischen abgestandenen Bahnhofsgeruch und kamen auf einen kleinen Platz, in dessen Mitte eine staubige Grünanlage in der Hitze vor sich hin welkte. Ganz in der Nähe standen auf einem asphaltierten Parkplatz ein schmutzbespritzter Lastwagen, zwei mit Heu ausgelegte Fuhrwerke und ein Pobeda. Auf diesen ging Tomilin zu. „Bitte“, sagte er kurz angebunden, während er die hintere Wagentür öffnete. Sie fuhren nicht lange. Am Fenster huschten die Auslagen kleiner Geschäfte vorbei. Der Wagen hielt vor einem säuberlich verputzten zweistöckigen Haus. Über der schmalen Eingangstür hing ein Schild, auf dem in verschnörkelter Schrift rot auf blau zu lesen stand: „Hotel Morgenröte“. Hinter der Türscheibe blinkte ein weißes Täfelchen: „Im Moment keine Zimmer frei.“ Trotzdem empfing in dem kühlen, kleinen Vestibül ein über der Treppe angebrachtes handgeschriebenes Plakat die Gäste mit einem „Herzlich Willkommen!“ 32
In Begleitung der diensthabenden Empfangschefin stiegen sie in den zweiten Stock hinauf. Sie schloß eine Tür mit der Aufschrift „1. Kategorie“ auf. Hinter der Tür kam ein kleines weißgetünchtes Zimmer mit einer unter einem Schutzüberzug verborgenen Couch und einem quadratischen Tisch in der Mitte zum Vorschein. Durch die zu einem Nebenraum führende Türöffnung erblickte man zwei breite Betten mit dicken Federbetten unter einer grünen Tagesdecke und einen alten Spiegelschrank. „Machen Sie es sich bequem“, sagte die Empfangschefin sachlich. „Ihre Sachen können Sie im Schrank verstauen. Gleich daneben ist ein Waschbecken. Im Moment gibt’s gerade Wasser. Spritzen Sie aber nicht herum. Heißes Wasser bekommen Sie am Ende des Ganges. Das Radio schließe ich Ihnen gleich an.“ „Großartig“, stieß Vitali munter hervor. „Das Radio mag sich vorläufig noch ausruhen. Der Heißwasserspeicher auch. Und spritzen werden wir auch nicht. Aber wo ist hier …“ „Auf der Etage sind zwei Toiletten“, fügte die Empfangschefin hastig hinzu. „Ja, ja. Das mit den zwei Toiletten ist eine großartige Idee.“ Vitali grinste leicht verlegen. „Aber ich wollte nach dem Telefon fragen.“ „Ach, das Telefon? Unten, bei mir. Wenn was ist, lassen wir Sie rufen.“ Zur Stadtabteilung fuhren sie mit demselben Pobeda. Die Sonne brannte unbarmherzig und in dem glühendheißen Wagen konnte man kaum atmen. Zum Glück brauchten sie nicht lange zu fahren. Raskatow, ein älterer, untersetzter Oberstleutnant mit rotem Gesicht und grauem Igelhaar, sprach, in seinem kleinen Arbeitszimmer auf und ab stampfend, mit Nachdruck und Überzeugung: „Die Sache ist bereits in der ganzen Stadt herum. Das ist auch kein Wunder. Ein 33
bekannter, angesehener Mann ist umgekommen. Ein Direktor und Erfinder … Aber der Direktor hat sich als ein Bluffer erwiesen. Und der Erfinder auch. So liegen die Dinge. Er hat’s jedoch gut verstanden, allen Märchen aufzutischen. Erst als man die Sache näher untersuchte, stellte sich heraus, daß alles bloß Theater war. Und sogar Schlimmeres.“ „Wer hat die Sache untersucht?“ fragte Vitali. „Na, wer schon? Spezialisten. Aus Moskau. Sie haben ein Protokoll angefertigt. Und das sah so aus, daß unsere Staatsanwaltschaft mit beiden Händen zugriff. So liegen die Dinge.“ „Interessant …“ „Es kommt noch interessanter. Welche Fakten liegen uns vor?“ Raskatow trat an den Tisch, setzte die Brille auf, ergriff eine dicke Akte und blätterte darin. „Die Leiche wurde aus dem Fluß gefischt. Hier sind die Aussagen der Angler. Ja? Hier das medizinische Gutachten. Die Lungen waren mit Wasser und sogar mit Schlamm gefüllt. Das war die Todesursache. Außerdem wies die Leiche jede Menge Hautabschürfungen im Gesicht, am Körper und natürlich auch am Schädel auf, die daher rühren, daß sie gegen Steine geschleudert wurde. Ja? Wahrscheinlich hat er sich von der Brücke gestürzt, herausgefischt aber wurde er ein Stück weiter stromabwärts.“ Raskatow blätterte gemächlich ein paar mit Tinte beschriebene Seiten, mit den Augen überfliegend, um. „Das sind alles Zeugenaussagen. Lutschinin war in letzter Zeit außerordentlich bedrückt. Außerordentlich.“ Raskatow hob seinen dicken Zeigefinger und schaute Vitali an. „Und das wundert niemanden. Das Protokoll wurde der Staatsanwaltschaft übergeben. So liegen die Dinge. Weiter … Hier, bitte. Die Zeugenaussagen, die jenen Tag betreffen. Er wurde an der Brücke gesehen. Ist dort auf und ab spaziert. Hat sozusagen mit dem Entschluß gerungen.“ 34
„Hat man ihn allein gesehen?“ fragte Otkalenko ruhig. „Das werden wir gleich haben. Tjaaa …“ Raskatow fuhr mit dem Finger über das beschriebene Blatt. „Hier. Ja, er war allein. Wen hätte er zu einer solchen Sache auch mitnehmen sollen?“ Nachdenklich entgegnete Vitali: „Kommt darauf an, zu welch einer Sache.“ „Das können Sie übrigens alles selbst nachlesen.“ Raskatow klappte die Akte zu. „Wenn wir was übersehen haben, teilen Sie’s uns mit. Damit wir, wie man so sagt, ruhig schlafen können.“ „Wer hat bei Ihnen den Fall bearbeitet?“ fragte Otkalenko. „Er hier.“ Raskatow wies durch ein Kopfnicken auf den etwas abseits sitzenden Tomilin. „Gemeinsam mit dem Untersuchungsführer natürlich. Na, und alle haben mitgeholfen. Schließlich waren das keine kleinen Fische. Jetzt zu den Leuten, mit denen Sie sich in erster Linie unterhalten sollten“, fuhr Raskatow indessen, die Brille absetzend und seinen Marsch durchs Zimmer wieder aufnehmend, fort. „Da ist vor allem Wladimir Jakowlewitsch Rewenko, der Chefingenieur des Werkes. Ein kluger, solider Mann. Dann der Untersuchungsführer Pawel Iossifowitsch Rogowizyn. Ein älterer Mitarbeiter, der auf solche Fälle geeicht ist. Bei ihm befindet sich auch das gesamte Material über Lutschinin. Die Beschwerden und Signale aus der Bevölkerung und das Revisionsprotokoll. Na, das Verfahren wurde jetzt natürlich eingestellt. So liegen die Dinge. Wladimir Jakowlewitsch könnte ich gleich anrufen und herbestellen. Was meinen Sie?“ „Wir sollten lieber zu ihm fahren“, erwiderte Vitali. „In ein oder zwei Stunden“, ergänzte Igor. „Zuerst müssen wir uns einen Überblick verschaffen.“ „Bitte“, stimmte Raskatow im Ton eines gastfreundli35
chen Hausherrn zu. „Wie Sie wünschen. Und jetzt suchen wir ihnen einen geeigneten Raum aus.“ Nach wenigen Minuten befanden sich Vitali und Igor in einem kleinen, stickigen Arbeitszimmer, in dem außer einem alten Safe, einem mit zwei grünen Papierbogen bedeckten Schreibtisch und einigen durchgesessenen Stühlen keine Möbelstücke vorhanden waren. Als erstes öffneten sie das Fenster und blieben für einen Augenblick davor stehen. Aus der Höhe des zweiten Stockwerks konnte man die ganze Stadt überblicken: Die zahllosen bunten Dächer im blaßgrünen Flimmern des Laubwerks erinnerten an eine alte Flickendecke, die hier und da zu staubigen Straßen und Kreuzungslöchern aufriß. An einigen Stellen ragten moderne vier- und fünfstöckige Gebäude auf. Über der Stadt lagerte Hitze. Hinter den letzten Häusern sah man wie eine Fata Morgana einen breiten Fluß schimmern. Am gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich auf einer grünen Wiese, einem weißlichen Ausschlag gleich, ein Zeltstädtchen, in dessen Mittelpunkt an einem hohen Mast eine rote Flagge wehte. Dahinter begannen die Wälder. Aha, dorthin hat man die Kinder gebracht, dachte Vitali. Darum sind auf den Straßen keine zu sehen. Die Freunde ließen sich am Tisch nieder und machten sich an die Lektüre des Aktenmaterials. Sie lasen langsam, mühsam die unbekannten Handschriften entziffernd, in denen die Vernehmungsprotokolle abgefaßt waren. Nicht alle stammten von Tomilin. Aber seine Vernehmungen zeichneten sich durch Vollständigkeit und eine hartnäckige Verfolgung ihres Ziels aus. Je mehr sie sich in die Unterlagen vertieften, um so erregter wurde Vitali. Vor ihm tauchte der lebendige Lutschinin auf, so wie er ihn in Erinnerung behalten hatte, und immer unwahrscheinlicher erschien ihm die vorgefallene Tragödie, obwohl all diese Dokumente dar36
auf abzielten, sie in dem Gedanken zu bestärken, daß alles eben so geschehen sei. Ich bin zu voreingenommen, sagte sich Vitali. So geht das nicht. Schließlich sind zehn Jahre vergangen. Und Shenja kann sich in mancher Hinsicht tatsächlich geändert haben. Das sind doch alles Aussagen von Menschen, die ihn nicht vor zehn Jahren, sondern jetzt gekannt haben, Menschen, unter denen er bis zuletzt gelebt hat … Vor seinen Augen aber stand nach wie vor jener andere, frühere Shenja in der abgewetzten Jacke mit dem Komsomolabzeichen, temperamentvoll, offenherzig, mit leuchtenden schwarzen Augen und tintenbeklecksten Fingern. Und wieder wurde Vitali von Zweifeln und Besorgnis übermannt. Die Zeugen behaupteten übereinstimmend, daß Lutschinin in den letzten Tagen sehr bedrückt gewesen sei, sie sprachen von Unannehmlichkeiten, die er gehabt hätte, von ungesetzlichen Handlungen. Was man Lutschinin eigentlich vorwarf, war jedoch schwer zu erkennen. Ein oder zwei Zeugen spielten auf häuslichen Ärger an, aber dies bereits völlig verschwommen. Die die Vernehmung führenden Mitarbeiter der Miliz aber hatten sich, da sie offenbar annahmen, daß das nun bedeutungslos geworden sei, nicht in diese Fragen vertieft. Mehrere Personen hatten Lutschinin in den letzten Stunden am Fluß gesehen. Es ging bereits auf den Abend zu. Einer der Zeugen behauptete anfangs, Lutschinin sei nicht allein zum Fluß gegangen, sondern zusammen mit einem anderen Mann. Später aber äußerte er selbst Zweifel an seinen Angaben. Ein anderer teilte mit, um diese Zeit zwei Personen am Flußufer gesehen zu haben, einen Mann und eine Frau, der Mann sei jedoch, wie ihm scheine, nicht Lutschinin gewesen. Während der Lektüre der Vernehmungsprotokolle machten die Freunde sich Notizen. Bald handelte es sich hierbei um Fragen: An welcher Stelle sah Anna Buraschnikowa, daß Lutschinin nicht allein war? Wo be37
fand sie sich selbst? Bald um ein auffälliges Detail: Alle Zeugen sind Angehörige des Werkes. Warum? Dann rief Raskatow an. „Ich habe ein Gespräch mit Rewenko vereinbart“, teilte er ihnen mit. „Er erwartet Sie.“ Sie mußten also die Lektüre unterbrechen. Vitali stand auf, streckte sich und betrachtete bedauernd seine zerdrückten Hosen und die eingestaubten Schuhe. Igor grinste. „Der hochverehrte Genosse Rewenko wird dich auch in diesem Aufzug mit Vergnügen empfangen.“ „Der Genosse Rewenko ist mir völlig schnuppe. Mir selbst ist es einfach unangenehm. Aber so was verstehst du ja nicht“, erwiderte Vitali von oben herab. Sie stiegen bereits in den Wagen, als Igor sagte: „Trotzdem war die Mühe nicht umsonst.“ „Ja. In groben Zügen kann man sich jetzt ein Bild machen. Aber wirklich nur in sehr groben Zügen.“ Der Wagen bremste vor einem großen, weitgeöffneten Tor, aus dem in diesem Augenblick gerade langsam und mit schwerem Dröhnen ein langer Lastwagen mit einem Anhänger herausfuhr. Auf dem Trittbrett stand ein spilleriges junges Mädchen in einem bunten Sarafan und einem roten Kopftuch. Gebückt schrie sie dem Fahrer etwas durch das offene Fenster zu. Der Wind trug nur Wortfetzen herüber: „… Ich lasse dich nicht weg! Zeig mir erst, was du geladen hast …“ Mitten im Tor blieb der Wagen fauchend stehen. Auf der anderen Seite des Fahrerhauses tauchte die Gestalt des Kraftfahrers, eines struppigen, sonnenverbrannten Burschen in einem beschmierten Hemd mit offenem Kragen auf. Wütend gestikulierend, brüllte er: „Dir werde ich’s zeigen, mich nicht wegzulassen! … Soll ich dir alles einzeln vorführen? Vielleicht willst du mir auch 38
noch in die Tasche oder sonstwohin greifen? Gib den Weg frei, sage ich dir!“ „Spiel dich bloß nicht so auf! Sonst rufe ich die Jungs her!“ rief das Mädchen, vom Trittbrett springend. „Klapp die Bordwände ’runter! Langsam wird’s mir mit euch zu bunt!“ Vitali und Igor blickten sich lächelnd an und stiegen aus. „Wohin wollen Sie, Bürger?“ rief das Mädchen sie an. „Zum Genossen Rewenko. Natürlich nur, wenn Sie uns durchlassen“, rief Vitali zurück. „Wir sind nicht allzu viele.“ Das Mädchen aber war nicht zu Scherzen aufgelegt und fragte streng, während sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihres Sarafans zog: „Wie heißen Sie?“ Vitali nannte ihre Namen. „Sie können gehen.“ Vitali und nach ihm auch Igor zwängten sich vorsichtig an dem im Tor stehenden Lastwagen vorbei und kamen auf einen großen, hier und da mit welkem Gras bewachsenen Hof. Direkt vor ihnen ragten zwei flache, langgestreckte, gleichsam in den Erdboden eingesunkene und bis ans Dach verrußte Gebäude mit zerbrochenen und nur notdürftig ausgebesserten Fensterscheiben auf, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen. Dahinter erstreckte sich ein drittes Gebäude derselben Art, das noch stärker mit dem Erdboden verwachsen schien und bis zu völliger Schwärze verrußt war. Linker Hand, in der Tiefe des Hofes, standen ein zweistöckiges Gebäude von undefinierbarer bräunlicher Farbe, in dem sich die Werkleitung befand, und daneben, unter einem Schutzdach, drei oder vier Lastwagen und ein Gasik. Rechts vom Tor erstreckte sich, mit seinen frischen, rosigen Ziegeln glänzend, das große, noch nicht ganz fertige Gebäude der neuen Werkhalle. 39
Die Freunde begaben sich zur Werkleitung. Vitali blickte sich neugierig nach allen Seiten um. Hier hat Shenja Lutschinin gearbeitet! Hier ist er vor kurzem noch umhergelaufen, hat mit den Leuten geredet, sich aufgeregt, gestritten, Anweisungen erteilt, sich etwas ausgedacht und gegrübelt. Unglaublich! Aber alle Materialien der Untersuchung sprechen von Selbstmord! Alle! Obwohl noch einige Unstimmigkeiten und Unklarheiten vorhanden sind. Na, wir werden das Ganze schon stimmig machen und die Dinge klären. Dann werden wir weitersehen. Wir werden schon sehen, wiederholte Vitali im stillen. In diesem Moment kam aus dem Gebäude der Werkleitung ein Mann mit aufgeknöpftem, dunklem Sakko und einem weißen Hemd mit Schlips. An der Tür verhielt er für einen Augenblick, musterte die über den Hof Kommenden und ging ihnen entgegen. Er war ein mittelgroßer, bereits zur Fülle neigender Mann um die Dreißig mit einem blonden, jetzt vom Wind zerzausten Lockenschopf. Sein offenes, sympathisch wirkendes, von der Sonne rosig angehauchtes Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck. Als er die Freunde erreichte, streckte er ihnen die Hand entgegen und sagte rasch: „Rewenko. Ich habe Sie durchs Fenster gesehen und sofort erkannt. Das heißt, ich hab’s erraten.“ Er seufzte und fügte hinzu: „Eine schlimme Sache. Und ein schwerer Verlust.“ Eine knarrende, ausgetretene Treppe führte sie in den zweiten Stock, und nachdem sie das Vorzimmer durchschritten hatten, in dem eine griesgrämig dreinschauende junge Sekretärin saß, betraten sie das Kabinett, an dessen Tür ein kleines Schild mit der Aufschrift „Chefingenieur“ hing. An der Tür gegenüber las Vitali „Direktor“. Gleichzeitig registrierte er die aufmerksamen, mißtrauischen Blicke, mit denen die Sekretärin und die drei anderen im Vorzimmer anwesenden Mitarbeiter sie musterten. Auch 40
die drei Mitarbeiter sah sich Vitali genau an. Es waren eine hochgewachsene, dunkelhaarige junge Frau mit großen, ausdrucksvollen Augen und einem gebräunten Gesicht, die ein graues Kostüm mit einem roten Streifen auf dem Umlegekragen trug, ein hagerer, glatzköpfiger Mann um die Fünfzig mit einem kleinen, dunklen Bärtchen, mit Brille und Schlips, dessen Hände nervös eine lederne Kollegmappe kneteten, und ein breitstirniger, mürrisch dreinschauender Bursche in einem roten Trikothemd und ungebügelten Hosen. Sie betraten das Kabinett. Rewenko schloß die Tür hinter sich und wies mit einladender Geste auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich, Genossen. Und entschuldigen Sie, wenn ich Sie um Ihre Ausweise bitte. Nur der Ordnung halber.“ „Ist ja richtig“, billigte Igor kurz angebunden. Rewenko sah sich ihre Ausweise aufmerksam an, ging dann hinter den Schreibtisch, setzte sich in seinen Sessel und sagte, leise die Hände zusammenschlagend: „Also, ich stehe zu Ihrer Verfügung.“ Die Freunde wechselten einen Blick, und Vitali bat mit schweigender Zustimmung Igors: „Erzählen Sie uns, wie das alles passiert ist. Womit hat es begonnen? Mit der Revision?“ Rewenko seufzte und breitete, ohne die Ellbogen vom Tisch zu heben, die Arme aus, um sich gleich darauf nervös die Hände zu reiben. „Ich sage, wie es ist: Die Revision war unangenehm. Und ihre Schlußfolgerungen, gelinde gesagt, ebenfalls.“ „Wer war der Vorsitzende der Kommission?“ fragte Vitali. „Erinnern Sie mich lieber nicht an den!“ Rewenko winkte ab. „Ein Drachen! Referent des Stellvertretenden Ministers, ein gewisser Nikolai Gawrilowitsch Kobez.“ „Aha. Na, und was stand in dem Protokoll?“ 41
„In dem Protokoll stand folgendes. Aber ich mache Sie gleich darauf aufmerksam, daß ich mit einigen der Schlußfolgerungen nicht einverstanden bin. Für manche Dinge hätte man mir als dem Chefingenieur die Schuld geben müssen und nicht Jewgeni Petrowitsch. Ich habe meine Meinung dazu sogar schriftlich niedergelegt.“ Rewenko entnahm dem Schubfach seines Schreibtisches zwei Bogen und reichte sie Vitali. Der faltete sie mechanisch zusammen und steckte sie ein. „Aber für alles zog man ihn allein zur Verantwortung“, fuhr Rewenko fort. Sein volles Gesicht wurde hart, und die Augen verengten sich ärgerlich. „Also, ich werde der Reihe nach erzählen“, sagte Rewenko und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Der erste Anklagepunkt waren alle möglichen Wirtschaftsvergehen und angeblich ungesetzliche Geschäfte. Aber solche Geschäfte hat es nicht gegeben. Ein Geschäft setzt, wie ich das verstehe, Eigennutz voraus. Zu den anderen Vergehen aber ist es tatsächlich gekommen. Erzwungenermaßen. Na, zum Beispiel: Wir brauchten dringend ein Sägegatter, eine Pendelsäge, eine Abricht- und eine Hobelmaschine. Ohne sie konnte das Werk nicht arbeiten! Überall verweigerte man sie uns – in der Vereinigung und auch in der Hauptverwaltung. Da schloß Jewgeni Petrowitsch persönlich ein Abkommen mit dem Nachbarwerk und mit den Eisenbahnwerkstätten. Diese überließen uns die Maschinen zur zeitweiligen Nutzung. Zudem ohne jede Bezahlung. Dafür fertigten wir ihnen aus ihrem Material eine Partie hochwertiger Elektroden, die sie über die Bank bezahlten. Ist das ein Vergehen? Nach den geltenden Bestimmungen, ja. Liegt hier Eigennutz vor – von meiner oder von Jewgeni Petrowitschs Seite? Nein, nein und abermals nein! Aber das war leider nicht der Hauptanklagepunkt!“ 42
„Was ist denn der Hauptanklagepunkt?“ fragte Vitali ungeduldig. „Das ist Jewgeni Petrowitschs Erfindung und die Art, wie er sie genutzt hat. Hier mag vielleicht Eigennutz im Spiel gewesen sein. Aber auch dafür würde ich mich nicht verbürgen. Das Ganze ist, ehrlich gesagt, eine dunkle Angelegenheit. Man kann sie vielleicht sogar als kriminell bezeichnen.“ Rewenko legte eine Pause ein. Die Freunde warteten schweigend. Endlich setzte Rewenko das Erzählen fort. „Die Erfindung bestand in einem neuen Fertigungsverfahren für die Elektrodenkerne. Durch dieses Verfahren konnten sie in guter Qualität erzeugt werden. Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen. Jedenfalls wurden die gesamte Technologie, alle Verfahren und ein Teil der Ausrüstungen verändert. Es gab zwar Leute, die behaupteten, daß dieses Verfahren nicht neu und bereits irgendwo beschrieben worden sei. Aber das weiß ich nicht, hab’s nicht nachgeprüft. Ist auch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, daß wir unter Jewgeni Petrowitschs Leitung die Produktion umstellten und ausgezeichnete Elektroden produzierten. Das ist eine Tatsache. Dabei hatten wir damals noch nicht einmal eine technische Abteilung. Überhaupt besaßen wir damals rein gar nichts. Unser Betrieb nannte sich zwar Werk, war aber in Wirklichkeit nichts anderes als eine Werkstatt, noch dazu eine ziemlich primitive. Erst seit Jewgeni Petrowitsch besitzen wir überhaupt ein Lager, eine Verpackungs- und eine Dosierabteilung, eine Dampfheizung und alles übrige. Mit einem Wort, wir bauten ein richtiges Werk auf. Ja, so war das. Eine technische Abteilung gab es, wie gesagt, noch nicht, und alle die neue Fertigung betreffenden Zeichnungen lagen in Jewgeni Petrowitschs Schreibtisch. Das ist ein wichtiges Detail. Ist Ihnen bis jetzt alles klar?“ 43
„Ja, ja. Fahren Sie bitte fort.“ „Gut. Von unseren Neuerungen erfuhr man eines Tages im Baranowsker Kombinat, tausend Kilometer von Okladinsk entfernt. Chefingenieur ist dort übrigens der alte, erfahrene Spezialist Grigori Ossipowitsch Mazulewitsch. Dieses Kombinat schlug Jewgeni Petrowitsch vor, für sie das Projekt einer neuen Elektrodenhalle zu entwickeln, die nach seinem Verfahren arbeiten sollte. Jewgeni Petrowitsch stimmte zu, schloß als Urheber des Projekts einen Vertrag, gründete eine Brigade und erfüllte die Vertragsbedingungen. Dann half er noch beim Bau und bei der Einrichtung dieser Halle.“ „Demnach haben sie sich auf privater Ebene geeinigt?“ fragte Otkalenko ungläubig. „Aber nein! Das war ein offizieller Vertrag. Mit Genehmigung des Ministeriums, dem dieses Kombinat untersteht, und der Bank, über die die Abrechnung mit dem Urheber und seiner Brigade erfolgte.“ „Aha.“ Igor nickte. „Aber was ist daran kriminell?“ „Hören Sie nur weiter. Die Halle wurde dort also aufgebaut. Und man muß sagen, daß sie ausgezeichnet arbeitete. Man war allgemein zufrieden. Dann stellte sich plötzlich heraus – das hat bereits die Kommission ausgegraben –, daß im Kombinat lediglich Kopien der technischen Zeichnungen für die neue Halle vorhanden waren, die Originale aber …“ Rewenko hob vielsagend den Zeigefinger. „Die Originale befanden sich, mit den Stempeln unseres Werkes versehen, in Jewgeni Petrowitschs Schreibtisch. Das heißt also, daß er einfach von unseren Zeichnungen Kopien angefertigt und sie als selbständiges Projekt verkauft hat. Verstehen Sie? Hier trat der Eigennutz bereits deutlich zutage. Diese Sache war nun wirklich kriminell.“ „Was sagen denn die Mitglieder der Brigade?“ fragte Otkalenko. „Na, die sagen natürlich, nachdem sie nun mal das 44
Geld eingesteckt haben, sie hätten gearbeitet und sozusagen etwas Neues geschaffen. Was bleibt ihnen anderes übrig? Ich verstehe einfach nicht, wie Jewgeni Petrowitsch so etwas tun konnte. Mir will das einfach nicht in den Kopf.“ Rewenko breitete ratlos die Arme aus. „Tjaaa … Das sieht ihm wirklich nicht ähnlich.“ Vitali schüttelte den Kopf. „Haben Sie ihn denn gekannt?“ fragte Rewenko erstaunt. „Ja, früher. Noch von der Schule her.“ „Ach! In der Kindheit war alles anders, und auch wir waren nicht dieselben wie heute.“ Rewenko winkte betrübt ab. „Was warf man Lutschinin noch vor?“ fragte Igor. „Na, jetzt mußte er für alles als der Sündenbock herhalten“, erwiderte Rewenko gereizt. „Zum Beispiel warf man ihm ungesetzliche Dienstreisen vor. Und zwar schloß Jewgeni Petrowitsch mit dem Kombinat auch noch einen Vertrag im Namen des Werkes ab. Über gegenseitige technische Hilfe. Wir verpflichteten uns, dem Kombinat als Montageleiter für die neue Halle einen unserer Mechaniker und für die Inbetriebnahme der Halle einen Technologen zu schicken. Außerdem übernahmen wir die Ausbildung von vierzehn Arbeitern: Wir organisierten in unserem Werk eine Art Lehrgang für sie. Dafür wollte das Kombinat uns Ziegelsteine, zweihunderttausend Stück, und ebenso viele Verpackungsbrettchen liefern, die man in unserer Vereinigung nicht für Geld und gute Worte bekommt. Natürlich zu den gültigen Abgabepreisen. Mit diesen Ziegeln konnten wir endlich den Bau der neuen Werkhalle in Angriff nehmen. Ein Schmuckstück! Sie haben es wahrscheinlich gesehen.“ Rewenko wies mit der Hand zum Fenster. „Was ist daran ungesetzlich?“ fragte Otkalenko. 45
„Das Ministerium hatte diesen Vertrag noch nicht bestätigt, als wir bereits an seine Ausführung gingen. Das Kombinat drängte uns, und wir wollten auch so bald wie möglich mit dem Bau der neuen Halle beginnen, um bis zum Herbst damit fertig zu werden. Außerdem hatten wir Glück mit der Organisation, die den Auftrag ausführen sollte. Der Vertrag aber geht noch heute den Weg der Instanzen.“ „Wer von Ihren Kollegen war in dem Kombinat?“ fragte Vitali. „Zur Montage haben wir einen Mechaniker, den Ingenieur Tscherkassow, hingeschickt. Später die Technologin Filatowa.“ Vitali grinste. „Sind das nicht die beiden, die gerade in Ihrem Vorzimmer waren?“ „Vollkommen richtig.“ Rewenko blickte ihn erstaunt an. „Kennen Sie die auch?“ „Nein. Das habe ich mir nur gedacht“, meinte Vitali lächelnd. „Sie sehen einfach aus wie ein Mechaniker und eine Technologin.“ Ihm war jedoch durchaus nicht zum Lachen zumute. Bei all dem, was er hier zu hören bekam, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen. Zeichnungen des Werkes zu verkaufen! Andere Leute in die Sache hineinzuziehen! Und das alles des Geldes wegen. Hol’s der Teufel, das war wirklich ein Vergehen. Ein handfestes Vergehen! „Und das mit den Zeichnungen ist bewiesen?“ fragte er dumpf. „Leider ja.“ Rewenko winkte resigniert ab. „Lutschinin drohte ein Prozeß?“ „Genau.“ „Sie glauben, daß er deshalb aus dem Leben geschieden ist?“ „Was soll man sonst glauben?“ erwiderte Rewenko seufzend. „Allerdings scheint er auch zu Hause Ärger 46
gehabt zu haben. Da kam sozusagen wohl eins zum anderen.“ „Hatte er hier im Werk Feinde?“ fragte Vitali überraschend. „Feinde? Wie kommen Sie darauf? Was meinen Sie, wie beliebt Jewgeni Petrowitsch bei uns war! Wenn das nur bei jedem Direktor so wäre …“ Dann fügte er finster hinzu: „Aber Unzufriedene hat es natürlich gegeben. Die finden sich immer. Der eine hat keine Wohnung bekommen, den anderen wollte er entlassen, diesem oder jenem hat er mal seine Meinung gesagt … Um bei der Wahrheit zu bleiben, muß man sagen, daß Jewgeni Petrowitsch ein … leicht aufbrausender Mensch war. Wenn Sie wüßten, wie oft ich Konflikte glätten mußte!“ „Wen wollte er denn zum Beispiel entlassen?“ „Entlassen?“ fragte Rewenko zurück. „Na, da wäre schon mal Nossow. Der arbeitet bei uns.“ „Und warum?“ „Wegen Bummelei.“ „Und wer hat keine Wohnung bekommen?“ fragte Igor seinerseits. Rewenko wandte sich Igor zu. „Keine Wohnung? Im Augenblick kann ich mich nicht erinnern. Aber wenn Sie wollen, teile ich es Ihnen später mit.“ „Nein, nein, das ist nicht so wichtig.“ Ja, Lutschinin war hier wirklich der Leiter gewesen, das spürte man an allem, was Rewenko über ihn sagte, und vor allem daran, wie er es sagte. Rewenko schien Lutschinin gemocht zu haben. Und auch geachtet. Das alles aber paßte so gar nicht zu dem Verbrechen, das Lutschinin begangen hatte und das bereits bewiesen war. Es war bewiesen – das war das Schlimme! Zum ersten Mal schlichen sich Zweifel in Vitalis Herz. Ein Mensch wie Shenja konnte sich, wenn er keine dieser Anschuldigungen zu entkräften vermochte, 47
vielleicht auch zu einem so schrecklichen letzten Schritt entschließen. Schließlich war Shenja ein heftiger, unbeherrschter und stolzer Mensch. Dermaßen in Schande zu geraten … Trotzdem durften sie Rewenko nicht länger aufhalten. Das erkannten sie beide, und deshalb sagte Igor mit einem Blick auf Vitali: „Eine letzte Frage, Wladimir Jakowlewitsch …“ „Warum schon die letzte?“ widersprach Rewenko energisch, und auf seinem vollen Gesicht malte sich Ärger. „Ich stehe Ihnen schließlich zur Verfügung und nehme an, daß Ihnen noch längst nicht alles klar ist. Ihnen muß aber alles klar sein. Absolut alles! Was soll denn sonst bei der Sache herauskommen?“ „Na, wenn Sie wollen, sagen wir, die vorläufig letzte Frage“, meinte Igor lächelnd. „Warum wurde eigentlich eine so überraschende Revision angesetzt?“ Rewenko breitete ergrimmt die Arme aus. „Ich weiß nicht. Sie werden verstehen, daß es mir unangenehm war, Erklärungen zu verlangen.“ „Und Lutschinin, hat er sie verlangt?“ „Jewgeni Petrowitsch war zu dieser Zeit unglücklicherweise krank.“ „Ach so?“ fragte Vitali erstaunt und fügte sofort entschieden hinzu: „Schluß. Länger wagen wir Sie nicht aufzuhalten.“ Die Tür zu Rewenkos Kabinett ging auf, und an der Schwelle erschien ein hellhaariger Bursche in einer alten, verwaschenen Feldbluse, die akkurat unter das breite Armeekoppel geschoben war, auf dem ein großes kupfernes Schloß mit einem roten Stern prangte. Der Bursche blickte sich furchtlos und ein wenig spöttisch im Zimmer um und sagte zackig: „Gestatten Sie, Wladimir Jakowlewitsch, daß ich den Gästen eine Frage stelle.“ „Da bist du ja. Habe gerade an dich gedacht“, erwi48
derte Rewenko. „Frag nur, Sergej. Und dann fährst du die Genossen ins Hotel.“ „Zu Befehl.“ Der Bursche kokettierte sichtlich mit seiner militärischen Haltung. „Die Genossen kommen aus Moskau?“ „Jawohl“, bestätigte Vitali und musterte den Burschen interessiert. „Frage Nummer zwei“, fuhr dieser fort. „Die Genossen kommen aus dem Ministerium?“ „Jawohl. Allerdings nicht aus Ihrem.“ „Schluß. Hab’ mein Pulver verschossen“, sagte der Bursche und fügte genauso zackig, nur mit den Augen lächelnd, hinzu: „Der Fragesteller war Sergej Bulawkin.“ „Na, das wär’s dann“, meinte Rewenko lächelnd. „Gehen wir, Genossen.“ Sie traten ins Vorzimmer, wo Rewenko sofort umringt würde. „Wladimir Jakowlewitsch, fahren Sie weg?“ „Wladimir Jakowlewitsch, unterschreiben Sie …“ „Wladimir Jakowlewitsch, die Platten aus dem Tschechowsker Werk wurden noch immer nicht geliefert …“ Rewenko hob eine Hand, und sein volles, rosiges Gesicht wirkte sofort konzentriert und gebieterisch. „Einen Moment, Genossen, einen Moment“, sagte er streng. „So geht das nicht. Wir werden gleich alles klären. Entschuldigen Sie.“ Er wandte sich zu Vitali und Igor. „Wir warten auf Sie“, erwiderte Vitali. Sergej Bulawkin trat an sie heran. „Ich würde Ihnen gern einiges erzählen“, sagte er und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Etwas, was Ihnen kein anderer erzählen könnte. Verlassen Sie sich darauf.“ Vitali blickte den Burschen aufmerksam an. „Also haben Sie Ihr Pulver doch noch nicht ganz verschossen? Warum nicht? Kommen Sie zu uns ins Hotel. Dort können wir uns unterhalten.“ „Wann befehlen Sie?“ 49
„Heute“, sagte Igor mit Bestimmtheit. „Zu Befehl.“ Bulawkin schob den Ärmel hoch und warf einen Blick auf seine Uhr. „Um einundzwanzig Uhr nullnull, wenn Sie gestatten?“ „Wir erwarten Sie“, erwiderte Vitali und fragte seinerseits: „Wo finden wir hier den Genossen Nossow?“ „Da steht er doch.“ Bulawkin wies durch ein Kopfnicken auf einen kleinen, breitschultrigen Mann mit speckiger Schirmmütze und einer Arbeitsjacke, unter der sich ein blaues Turnhemd über der mächtigen behaarten Brust spannte. Da aber wandte Rewenko sich zu den Freunden um und sagte hastig: „Kommen Sie, Genossen. Sonst nimmt das hier kein Ende.“ Über die schon vertraute, knarrende Treppe stiegen sie in den Hof hinab, wo vor dem Haus ein verstaubter Gasik stand. Rewenko verabschiedete sich von Igor und Vitali so, als hätte das gemeinsame Unglück ihre Freundschaft besiegelt, und drückte ihnen kräftig die Hände. „Ich bin sehr froh darüber, daß Sie gekommen sind“, sagte er mit fester Stimme. „Sehr. Das muß alles noch einmal gründlich, bis ins letzte, überprüft werden. Und dabei werde ich Ihnen helfen.“ Er wandte sich zu Bulawkin: „Sergej, du fährst die Genossen zum Hotel.“ „Zu Befehl, Wladimir Jakowlewitsch“, erwiderte dieser bereitwillig. „Wird auf der Stelle erledigt.“ „Und sieh zu, daß du gleich zurückkommst“, meinte Rewenko feixend. „Daß es dich nicht zufällig wieder nach Peski verschlägt!“ Bulawkin senkte verlegen den Blick. „Aber nein, Wladimir Jakowlewitsch. Bestimmt nicht.“ Der Wagen fuhr an. Als sie aus dem Tor kamen, wendete Bulawkin forsch. „Immer langsam, Sergej“, sagte Vitali. „Jewgeni Petrowitsch hat’s nicht anders haben wollen“, widersprach Bulawkin spöttisch, und Vitali nahm 50
in seiner Stimme eine merkwürdige Feindseligkeit wahr, die entweder ihm oder dem verstorbenen Lutschinin galt. Die Sonne stand noch ziemlich hoch am wolkenlosen, dunstigen Himmel, aber die Hitze hatte nachgelassen. Auf den Straßen sah man jetzt schon mehr Passanten. An den Bushaltestellen bildeten sich Schlangen. Die Jugend versammelte sich an dem kleinen Kino. Als sie zum Hotel kamen, erinnerte Vitali beim Abschied noch einmal daran: „Also um einundzwanzig Uhr nullnull, Sergej?“ „Jawohl“, erwiderte Bulawkin unwirsch. „Wir erwarten Sie.“ Die Freunde betraten das kühle Vestibül und stiegen, nachdem sie sich den Schlüssel geholt hatten, in ihr Zimmer hinauf. „Pu-uh!“ stieß Vitali, schwer atmend, hervor und legte das Sakko ab. „Das war mal wieder ein Tag … Wir sollten uns waschen, natürlich ohne herumzuspritzen.“ Eine halbe Stunde später saßen die Freunde bereits an dem Tisch mit der roten Plüschdecke, über die sie an einem Ende eine Zeitung gebreitet hatten. In die Kanne mit dem kochenden Wasser aus dem Heißwasserspeicher hatten sie fast ein halbes Päckchen Tee geschüttet und aus dem Büfett Brot, Käse und Wurst geholt. „Wie gefällt dir dieser Rewenko?“ fragte Vitali und biß von einem riesigen Stück Brot mit Käse ab. „Ein wertvoller Mann“, erwiderte Igor. „Er versteht seine Sache.“ „Hast du die Filatowa gesehen? Eine sehr schöne Frau.“ „Na ja, ganz nett.“ Plötzlich klopfte es an der Tür. „Ja! Herein!“ rief Vitali. Die Tür öffnete sich, und der Kopf der Diensthabenden erschien. 51
„Sie werden am Telefon verlangt. Einer von Ihnen.“ Vitali stürzte zur Tür. Unten, im Zimmer der Diensthabenden, lag der Hörer auf dem Tisch. „Hallo?“ rief Vitali. „Sind Sie extra aus Moskau hergekommen?“ fragte eine unbekannte, leicht heiser klingende Stimme. „Ja. Wer ist denn da?“ „Unwichtig. Tschüs dann …“ Aus dem Hörer tönten kurze Rufzeichen. Vitali legte langsam auf. Seltsam … Wer mochte das gewesen sein? Die Stimme war offensichtlich verstellt. Also fürchtete der Mann, erkannt zu werden. Seltsam … Igor aber neigte anscheinend nicht dazu, der Sache sonderlich viel Bedeutung beizumessen. Als Vitali ihm von dem merkwürdigen Anruf erzählte, zuckte er bloß die Achseln. „Da erlaubt sich jemand einen Scherz mit uns. Hast du dir die Stimme gemerkt?“ „Worauf du dich verlassen kannst!“ Die Freunde verstummten. „Hör mal“, brach Igor schließlich das Schweigen. „Ich muß immerzu an das denken, was Rewenko uns erzählt hat.“ „Ist ja auch kein Wunder!“ rief Vitali aus. „Hol’s der Teufel, wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Rewenko da behauptet, nur die Hälfte, selbst dann …“ „Ich muß dir was sagen“, fügte er nach einer Weile hinzu. „Allmählich kommen mir Zweifel.“ „Sieh mal an. Bist kaum hier, und schon kommen dir Zweifel“, meinte Igor grinsend, schloß aber, wieder ernst werdend: „Vorläufig ist es noch zu früh, an irgend etwas zu glauben, und darum ist auch jeder Zweifel verfrüht.“ „Ich habe aber an etwas geglaubt“, widersprach Vitali. „Wir müssen Fakten zusammentragen“, sagte Igor entschieden. „Alles muß noch einmal überprüft werden. 52
Da hat Rewenko völlig recht. Und man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ Vitali lächelte spöttisch. Sie tranken ihren Tee aus und räumten die Brot- und Wurstreste ab. Dann blickte Igor auf die Uhr. „Hm. Schon nach neun. Wo bleibt denn unser Bulawkin?“ Es verging noch mindestens eine halbe Stunde, bis es wieder an der Tür klopfte. „Das wird er sein“, meinte Vitali. Es war jedoch noch einmal die Diensthabende. „Für Sie ist das abgegeben worden“, sagte sie, während sie ihnen ein zusammengefaltetes Blatt Papier reichte. „Von wem?“ „Ich weiß nicht. Er hat’s mir zugesteckt und ist wieder abgedampft. Anscheinend hatte er es eilig.“ „Wie sah er denn aus?“ forschte Vitali weiter. „Tja, wie soll ich’s sagen? Ganz gewöhnlich. Er hat mir nur den Zettel durchs Schalterfenster geschoben. Ich habe gerade telefoniert. Als ich hinausguckte, war er schon abgefahren.“ „Abgefahren?“ „Ja … Mit so einem … Na, einem Wagen mit ’ner Plane drüber.“ „Einem Gasik?“ „Ja, genau.“ „Saß er allein drin?“ „Soviel habe ich nicht sehen können. Beim besten Willen nicht.“ Die Frau war sichtlich durcheinander und wurde langsam ärgerlich. Als sie gegangen war, faltete Vitali den Zettel auseinander. Darauf standen nur zwei eilig mit einem Bleistift gekritzelte Zeilen: „Komme nicht. Mutter erkrankt. Sergej“. Vitali reichte Igor den Zettel. „Merkwürdig. Erst dieser Anruf. Jetzt der Zettel. Aber es war nicht Bulawkin, der angerufen hat. Seine Stimme hätte ich erkannt. Und 53
warum war er mit dem Wagen hier? Sehr merkwürdig das Ganze.“ „Tjaaa …“ „Und dieser Zettel will mir auch nicht recht gefallen“, fuhr Vitali, im Zimmer auf und ab schreitend, fort. Dann blieb er vor Igor stehen. „Ob wir die Sache mal nachprüfen?“ „Warum nicht?“ Igor stand entschlossen auf, und sie gingen zu zweit zum Telefon hinunter. Die Diensthabende empfing die Freunde mit einem mißtrauischen Blick. Igor rief den Diensthabenden in der Stadtabteilung an, ließ sich von ihm Tomilins Privatnummer geben und wählte noch einmal. Tomilin meldete sich selbst. Leise und mit ein paar knappen Worten erklärte Igor ihm, was geschehen war. „Verstehe“, erwiderte Tomilin. „Wartet auf mich. Entweder komme ich vorbei, oder ich rufe an.“ Nach einer Stunde war er da. Diesmal in einem dunklen Regenmantel und mit einer Schirmmütze. Sein vom raschen Gehen leichtgerötetes Gesicht war finster, sein Blick konzentriert und besorgt. „An der Sache ist was faul, meine Lieben“, brummte Tomilin. „Ich komme gerade von Bulawkins Mutter. Sie ist völlig gesund und sagt: Er ist ins Hotel zu irgendwelchen Leuten gegangen.“ „Also ist er losgegangen und … nicht angekommen“, meinte Vitali. Alle drei verstummten. Die Sache hatte eine seltsame Wendung genommen.
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3. KAPITEL
Verschwunden … Am nächsten Morgen brachten die Freunde rasch ihren Frühsport hinter sich, ließen ihre elektrischen Rasierapparate surren und stiegen, nachdem sie sich über dem kleinen Waschbecken gewaschen hatten – zum Glück „gab’s gerade wieder Wasser“ –, in die erste Etage zum Büfett hinab. Hinter der Theke mit dem riesigen, vernickelten Samowar und den hinter einer Glasscheibe aufgereihten Tellern mit Käse, Sprotten und Salat machte sich eine dicke Frau in weißem Kittel mit aufgekrempelten Ärmeln zu schaffen. Ihre fülligen braungebrannten Arme, die erstaunlich flink und geschickt hantierten, zogen unwillkürlich den Blick auf sich. „Probieren Sie mal unsere Milch“, forderte die Frau sie freundlich auf. „Alle sind sehr zufrieden damit. Und mit dem Quark auch. Bloß Würstchen haben wir nicht.“ Die Milch war wirklich hervorragend, ebenso wie die saure Sahne und der Quark mit den kleingeschnittenen Zwiebeln darin. Mehr brauchten sie gar nicht. „Ein Land, in dem Milch und Honig fließen“, sagte Vitali schnaufend. „Mit einer sympathischen Landesherrin“, fügte Igor hinzu. Sie saßen allein an einem kleinen Tisch, und Vitali fragte leise: „Was liegt heute an?“ „Als erstes gehen wir zur Stadtabteilung“, erwiderte 55
Igor zurückhaltend. „Dort sehen wir weiter. Hier aber wird gegessen und vom Wetter gesprochen.“ „Na, wenn’s so ist“, meinte Vitali schmunzelnd, „haben wir unser Programm schon erfüllt. Gehen wir?“ In der Stadtabteilung, bei Raskatow, fand die erste operative Beratung statt. An ihr beteiligten sich außer den beiden Dienstreisenden und Raskatow selbst auch Tomilin und Wolow. Beide hatten sich mit dem Fall Lutschinin befaßt und waren bestens mit der Situation, mit den Leuten und allen Einzelheiten der jüngsten Ereignisse vertraut. Beide hegten keinerlei Zweifel an der Richtigkeit der in diesem Fall gezogenen Schlußfolgerungen, das heißt, bis zum gestrigen Tag hatten sie keinerlei Zweifel gehegt … Das Verschwinden Bulawkins und vor allem die Umstände, unter denen es vonstatten gegangen war, ließen sie jedoch stutzig werden. Der schweigsame, finstere Tomilin stimmte dem Vorschlag, den Otkalenko schließlich unterbreitete, sofort zu. Wolow stand der Sache zurückhaltender gegenüber. Er war, wie es schien, ein ehrgeiziger und mißtrauischer Mensch. Zudem kannte er keinen der beiden Dienstreisenden persönlich. Raskatow aber sprach wie immer eindringlich und mit fester Stimme: „Ihnen steht alles zur Verfügung, Genossen. Unser ganzer Apparat. In dieser Angelegenheit muß unser Gewissen rein und unsere Seele ruhig sein. So liegen die Dinge.“ Es wurde beschlossen, daß Otkalenko, der Dienstälteste der Gruppe, zusammen mit Tomilin und Wolow die Suche nach Bulawkin aufnahm – ein wichtiges, ja vielleicht sogar das wichtigste Glied in der Kette der mit dem Fall Lutschinin zusammenhängenden Ereignisse. Denn es war offensichtlich, daß Bulawkin etwas wußte, daß er ihnen etwas erzählen wollte und nun plötzlich verschwunden war. Vitali sollte das bereits gesammelte Material zu diesem Fall noch einmal überprüfen. Das Verschwinden Bulaw56
kins verpflichtete sie, dieses Material mit peinlicher Genauigkeit zu sichten und alles erneut in Frage zu stellen. „Womit fängst du an?“ fragte Igor ihn. Vitali wies auf einen der in ihrem Plan festgelegten Punkte. „Damit. Vor allem möchte ich mit seiner Frau sprechen.“ „Und die Staatsanwaltschaft?“ „Morgen früh. Ich werde heute einen Termin vereinbaren.“ „Gut. Hast du Lutschinins Adresse?“ „Natürlich! Ich weiß nur nicht, wie ich mit ihr reden soll … Die Frau kenne ich doch überhaupt nicht.“ Igor wollte gerade etwas entgegnen, als Raskatow ihn ansprach: „Das Stadtkomitee der Partei hat gestern angerufen. Ich habe dort bekanntgegeben, daß Sie hier sind. Man hat mich gebeten, mit Ihnen zu einem Gespräch vorbeizukommen. Das als erstes. Danach bleibe ich gleich dort, im Büro.“ „Gehen wir“, meinte Igor und fügte, an Tomilin und Wolow gewandt, hinzu: „Also, vor allem Informationen über Bulawkin, alles, was Sie kriegen können.“ Zu dritt traten sie aus der Stadtabteilung in die staubige, stickige Atmosphäre der Straße hinaus. „So, ich muß in diese Richtung gehen“, erklärte Vitali mit weit ausholender Geste. Er knöpfte sein Sakko auf, und die Krawatte flatterte in dem leichten, heißen Wind. Während Vitali durch die unbekannten Straßen schritt und ab und zu Passanten nach dem Weg fragte, geriet er unversehens ins Grübeln. Anstatt jedoch an die bevorstehende Begegnung mit Olga Andrejewna Lutschinina zu denken, erinnerte Vitali sich mit erneuter Unruhe an das Verschwinden Sergej Bulawkins. Was mag mit ihm geschehen sein? Aber warum hat er zu seiner Mutter gesagt, daß er zu uns ins Hotel geht, wenn er gar nicht die Absicht hatte? Warum hat er den Zettel geschrieben? Damit wir nicht warten, 57
uns nicht wundern und … nicht nach ihm suchen? Wo aber steckt er? Und was wollte er uns mitteilen? Bulawkin ist verschwunden. Merkwürdig, sehr merkwürdig … Vitali fragte noch einmal nach dem Weg und stellte plötzlich fest, daß er beinahe am Ziel angelangt war: Die nächste Querstraße war die gesuchte. In dieser Gegend standen zum größten Teil kleine, hinter Zäunen und Vorgärten verborgene Holzhäuser. Ab und zu stieß man jedoch auch auf drei- oder vierstöckige Gebäude aus Stein mit grün, rot und blau gestrichenen Standardbalkons. Vitali machte das gesuchte Haus ausfindig und betrat den kühlen, halbdunklen Hausflur. Lutschinins Wohnung lag im zweiten Stock. Eine blasse Frau in einem strengen Kleid mit toupiertem, sehr hellem, fast weißem Haar öffnete ihm die Tür. Vitalis erster Gedanke war: eine Lehrerin. Erst dann wurde ihm klar, daß Lutschinins Frau vor ihm stand. „Olga Andrejewna?“ fragte er. „Ja“, erwiderte die Frau zurückhaltend und ohne jede Verwunderung. Vitali stellte sich vor. „Bitte. Treten Sie näher“, sagte Frau Lutschinina im selben Tonfall wie zuvor, während sie zur Seite trat und auf eine offene Zimmertür wies. Die Wohnung war nicht groß. Sie bestand aus zwei spärlich mit alten, anscheinend noch aus Leningrad stammenden Möbeln eingerichteten Zimmern. Nur das Allernotwendigste: ein Büfett, ein Eßtisch mit einer ziemlich alten Tischdecke, ein billiges Radio am Fenster, eine durchgesessene Couch, ein paar ebensolche Stühle und Fotos an der Wand – so sah das erste Zimmer aus. Im zweiten Raum erblickte man ein großes, bis an die Decke reichendes und mit Büchern überladenes Regal sowie ein Stück von einem breiten Bett mit gesprungener hölzerner Rückwand. 58
Frau Lutschinina bat Vitali mit einer Handbewegung an den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. „Ich höre.“ Ihre Stimme klang trocken und müde. Ein wenig verworren erklärte Vitali ihr den Grund seines Kommens. „… Shenja und ich haben zusammen die Schule besucht“, schloß er, als wollte er sich rechtfertigen. „Ja?“ Zum ersten Mal warf sie ihm einen interessierten Blick zu, senkte aber sofort wieder die Augen. „Ja. Ich habe ihn gut gekannt.“ „Na, dann …“, sagte sie kalt, „fällt es Ihnen natürlich schwer, zu glauben, daß er Selbstmord begangen hat.“ Vitali blickte sie aufhorchend an. „Wieso nehmen Sie an, daß es mir schwerfällt?“ „Schließlich war er ein energischer, selbstbewußter Mensch. Sie haben ihn doch sicherlich auch so in Erinnerung behalten.“ „Ja … Aber warum hat er sich dann umgebracht?“ entfuhr es Vitali unwillkürlich. „Warum?“ fragte Frau Lutschinina müde zurück. „Ich glaube, er hatte sich einfach in seinen zahllosen … Unternehmungen verstrickt.“ Das Wort „Unternehmungen“ hatte in ihrem Mund einen merkwürdigen Klang. Und Vitali kam es so vor, als lasse sie etwas unausgesprochen. „Hat er Ihnen davon erzählt?“ „Von einigen ja. Von anderen … habe ich selbst erfahren. Zufällig.“ Und wieder hatte ihre Stimme eine seltsame Intonation. Vitali wurde ganz eigenartig zumute. Ich bilde mir das alles nur ein, sagte er sich schließlich. Ich weiß einfach, daß sie sich nicht besonders gut verstanden haben. Und jetzt glaube ich alles mögliche herauszuhören. Über Lutschinins Unternehmungen aber mußte er 59
soviel wie möglich in Erfahrung bringen. Wie die Beziehungen zwischen ihm und seiner Frau auch gewesen sein mochten, so wußte sie doch offensichtlich eine Menge. Vitali mußte erreichen, daß sie sich ihm anvertraute, daß sie ihm, so schwer und unangenehm dies für sie auch war, alles erzählte, ohne etwas zu verschweigen. Sie machte allerdings einen sehr gefaßten Eindruck. Aber jeder Mensch trägt seinen Kummer auf seine Art. „In was für Unternehmungen kann er sich denn verstrickt haben, Olga Andrejewna?“ Sie zuckte die Achseln. „Oh, Unannehmlichkeiten hatte er zur Genüge. Er hat sie, wie mir scheint, geradezu gesucht.“ „Sie sagten, er habe Ihnen erzählt …“ „Seine Erzählungen endeten bei uns immer mit Streit. Er verstand es absolut nicht – und vor allem wollte er es auch gar nicht –, sich auf die Menschen einzustellen, auf die realen Bedingungen, unter denen er lebte, unter denen wir alle leben …“ In ihr erwachte plötzlich die frühere Gereiztheit. Sie konnte nicht länger an sich halten und setzte gleichsam den Streit mit ihrem Mann fort. Die hellhörige, ja geradezu gierige Aufmerksamkeit Vitalis schien sie dabei noch mehr anzustacheln. „… Ewig lag er mit jemandem im Streit, ewig entlarvte und bestrafte er jemanden oder forderte seine Bestrafung.“ „Ist er tatsächlich zu einem Intriganten geworden?“ „Aber nein! Warum verstehen Sie mich nur nicht? Er sprach zum Beispiel ständig von einer ‚Arbeit nach dem Idealkonzept‘. So eine Arbeit verlangte er von allen. Auch von sich selbst. Dabei ist das gar nicht zu realisieren! Aber er war erstaunlich starrköpfig. Und unbeherrscht. Und ehrgeizig.“ Plötzlich verstummte sie und schüttelte, müde und tief aufseufzend, den Kopf. 60
„Mit ihm hatte man es sehr schwer. Sehr.“ „Trotzdem hat er vieles erreicht“, warf Vitali vorsichtig ein. „Das Werk ist immerhin …“ „Sie sehen ja selbst, was er erreicht hat“, unterbrach Frau Lutschinina ihn voller Bitterkeit. „Sie sehen es doch. Und wie viele Menschen hat er gegen sich aufgebracht! Hier!“ Sie erhob sich mit einem Ruck. „Ich werde Ihnen etwas zeigen. In seinen Papieren habe ich einen Brief gefunden. Den hat er vor mir verheimlicht.“ Frau Lutschinina begab sich zielstrebig ins Nebenzimmer und kehrte sofort wieder mit einem zusammengefalteten Blatt Papier zurück. „Hier! Lesen Sie.“ Sie reichte Vitali den Brief, und dieser registrierte, bevor er ihn auseinanderfaltete, gewohnheitsgemäß: Aus einem Schulheft herausgerissen. Und zwar in ziemlicher Hast. „Haben Sie den Umschlag noch?“ „Ein Umschlag war nicht dabei.“ Vitali entfaltete den Brief. Bevor er zu lesen begann, zog plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Handschrift! Eine irgendwie bekannte Schrift. Aber dazu später. Vitali machte sich daran, die krummen, eilig hingekritzelten Zeilen zu entziffern. „Das vergesse ich dir bis ans Lebensende nicht“, las Vitali. „Und es ist noch nicht ’raus, wer von uns eher dran glauben muß. Du sollst mich noch kennenlernen. Ich lasse mich von dir nicht in den Dreck treten. Auch dich kriegen wir noch klein – so oder so. Also gib Ruhe, bevor es zu spät ist. Und komm uns nicht in die Quere, sonst legen wir dich um!“ Frau Lutschinina sah zu, wie seine Augen über die Briefzeilen glitten, und als sie den Eindruck hatte, daß er mit der Lektüre fertig war, fragte sie nervös: „Sehen Sie, wie weit es gekommen ist?“ „Darf ich den Brief mitnehmen?“ fragte Vitali betont ruhig. 61
Sie zuckte wieder die Achseln. „Bitte.“ „Sagen Sie, Olga Andrejewna …“ Vitali schob den Brief in die Innentasche seines Sakkos. „Sie haben keinen Verdacht, von wem der Brief stammen könnte?“ Er klopfte auf die Tasche, in der der Brief lag. Sie schüttelte den Kopf. „Nein …“ „Sergej Bulawkin, der Kraftfahrer des Werkes“, sagte Vitali nachdenklich, „wollte uns etwas erzählen, aber …“ „Ach, der …“ Frau Lutschininas Stimme wurde plötzlich trocken und feindselig. „Sie kennen ihn?“ „Natürlich. Er war einer von Shenjas Lieblingen. Dabei ist das ein … widerlicher, unaufrichtiger Mensch!“ Vitali gab sich alle Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. Frau Lutschinina kannte Bulawkin, und das offensichtlich nicht nur aus den Erzählungen anderer. In ihrem heftigen Ton schwang etwas Persönliches mit. Überhaupt machte Vitali im Verlauf des Gesprächs immer neue Entdeckungen. Shenja hatte, wie sich herausstellte, einen schwierigen Charakter gehabt, und nicht nur diese Frau, sondern auch andere schienen unter ihm gelitten zu haben. Davon hatte gestern übrigens auch Rewenko gesprochen. Dazu kam noch dieser anonyme Brief. Unverfroren und mit offenen Drohungen, wie das bei anonymen Briefen üblich ist. „Ich lasse mich von dir nicht in den Dreck treten.“ Nein, natürlich wollte Shenja niemanden in den Dreck treten. Eine „Arbeit nach dem Idealkonzept“. Das war es, was er forderte. Ein Idealist? Blind und verbohrt? So sah ihn seine Frau. Und jedes Gespräch darüber endete bei ihnen mit einem Streit. Nicht einmal heute konnte sie ruhig darüber reden. Und überhaupt … In ihrer Gereiztheit lag etwas Unausgesprochenes. Für sich selbst überraschend, fragte Vitali plötzlich: „Sie haben Shenja bestimmt sehr geliebt?“ „Komische Frage …“ 62
„Nein, das ist nicht komisch. Etwas peinlich ist es mir natürlich, Sie danach zu fragen. Aber ich möchte mir gern ein Bild machen … Ich hoffe, Sie verzeihen mir.“ Sie zuckte schwach mit den Schultern. „Verzeihen ist viel einfacher als antworten. Ob ich ihn sehr geliebt habe oder nicht so sehr … Auf alle Fälle habe ich Shenja viel mehr geliebt als er mich. Davon bin ich überzeugt. In der Liebe aber … Ein Schriftsteller hat das einmal sehr treffend ausgedrückt: In der Liebe ist immer der der Stärkere, der weniger liebt.“ „Was denn, hat er seine Stärke etwa mißbraucht?“ fragte Vitali, während er spürte, wie diese ungewöhnliche Wendung in ihrem Gespräch ihn in Erregung versetzte. Olga Andrejewna lächelte kaum merklich. „Gut. Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären …“ Mit beiden Händen mechanisch ihre Frisur ordnend, dachte sie einen Augenblick nach. Dann fuhr sie aufseufzend fort: „Ich habe vieles aufgegeben, als ich zustimmte, Leningrad zu verlassen. Dort befindet sich meine Schule, die ich absolviert habe. Fünf Jahre später kehrte ich als Lehrerin dorthin zurück. Die Schule war für mich ein zweites Zuhause mit geliebten und mit liebenden Menschen. Damit meine ich sowohl meine alten Lehrer als auch die Kinder. Shenja zuliebe aber gab ich das alles auf. Ihn zog es mit aller Macht hierher. Ich aber fühlte mich hier nicht wohl. Und doch ertrug ich es. Bis ich merkte, daß Shenja sich immer mehr von mir entfernte. Zeitweise war er mir völlig fremd. Wenn Sie verheiratet sind, werden Sie verstehen, was ich meine. Denn oberflächlich betrachtet, war alles in Ordnung, äußerlich schien sich nichts verändert zu haben. Aber ich spürte mit meinem ganzen Wesen, was vor sich ging. An einem flüchtigen Wort, einer Intonation, einer Geste, einer scheinbar unwichtigen Handlung und schließlich auch an den Augen merkt man doch, was sich in der Seele 63
eines nahestehenden Menschen abspielt. Shenja entglitt mir immer mehr. Da begann ich zu kämpfen. Auch ich besitze Charakter und Geduld. Schließlich bin ich Pädagoge. Aber die Kinder … Sie sind anders als die Erwachsenen. Mit ihnen kenne ich mich besser aus. Auch die Gefühle sind hier anders. Das ist wohl die Hauptsache. Manchmal bin ich aus der Haut gefahren. Wenn ich sah, wie machtlos ich war, packte mich das heulende Elend. Immer wieder gab es Streit. Oft waren das dumme, kleinliche Zänkereien, deren man sich hinterher schämt. Aber ich konnte nicht ruhig mit ansehen, wie grob und ungerecht er war, wie er alle gegen sich aufbrachte. Mir war klar, daß wir nach Leningrad zurückkehren mußten. Aber das erwies sich als undenkbar. Shenja wollte nichts davon wissen. Es gab nur noch mehr Ärger und Streit. Ich sagte Ihnen ja schon, daß auch ich Charakter besitze. Damals beschloß ich, allein wegzufahren, und schrieb an meine Eltern …“ Sie verstummte, den Blick in die Ferne gerichtet. Vitali fragte unsicher: „Hat die neue Arbeit ihn so gefesselt?“ „Er ließ sich von allem fesseln“, erwiderte sie mit unerwarteter Schärfe. „Dann wollte er von nichts anderem mehr wissen.“ „Aber war er imstande, ein werkeigenes Projekt und Zeichnungen zu stehlen und zu verkaufen?“ rief Vitali aus. Gleichsam erfreut über diesen Wechsel im Gesprächsthema, entgegnete sie rasch: „Nein, nein! Das ist Unsinn. Eine Lüge.“ „Aber wer konnte an einer solchen Lüge interessiert sein?“ Unmerklich entfernte Vitali sich immer weiter von jenem Komplizierten, Verworrenen und Unklaren, an das er gerade gerührt hatte. „Im Werk gibt’s alle möglichen Leute“, erwiderte Olga Andrejewna. „Ich kenne sie wenig.“ 64
„Ich werde es herausfinden!“ stieß Vitali heftig hervor. Vitali war noch jung und hatte jene Lebenserfahrung noch nicht sammeln können, die durch nichts zu ersetzen ist – weder durch Fingerspitzengefühl noch durch Fähigkeiten und nicht einmal durch Talent. Einige Seiten des menschlichen Lebens, besonders des ehelichen Zusammenlebens, kannte er nur vom Hörensagen und aus Büchern. Deshalb entgingen ihm wichtige Details und Nuancen dieser Beziehungen. Immerhin trugen seine geschärfte Aufmerksamkeit, die klar erkannte Notwendigkeit, immer und zuerst die Gefühle und Gedanken der Menschen zu ergründen und erst dann über ihre Handlungen zu urteilen, und schließlich sein angeborenes Feingefühl dazu bei, aus den Worten und dem Ton Frau Lutschininas jenes Unausgesprochene herauszuhören, das ihn aufhorchen ließ. Ja, selbst jetzt war sie nicht völlig aufrichtig, etwas stand zwischen ihr und ihrem Mann. Für jenen Streit, mit dem ihre Gespräche gewöhnlich endeten, gab es noch andere Gründe. Und noch eine Entdeckung machte Vitali: Frau Lutschinina hatte eindeutig etwas gegen Bulawkin. Aber was? „Einer von Shenjas Lieblingen.“ Dieses Wort sagte natürlich nichts über Bulawkin aus, und es war ihr auch nur gegen ihren Willen herausgerutscht, weil sie immer so von ihm gedacht hatte. Gleichzeitig aber bedeutete das, daß Shenja seinem Chauffeur besonders vertraute, vielleicht sogar mehr als ihr, seiner Frau. Oder er vertraute ihm grundlos, und sie hatte das durchschaut. So wird’s wohl gewesen sein. Hol’s der Teufel, was für eine verzwickte Angelegenheit! Nur eins war vorläufig klar: Shenja hat viele Menschen gegen sich aufgebracht. Das bewies auch dieser niederträchtige anonyme Brief … Da aber sagte Frau Lutschinina plötzlich, als spürte sie, daß die Gedanken ihres Gesprächspartners zu jenem 65
Brief zurückgekehrt waren: „Übrigens beschränkte sich die Sache nicht darauf.“ Sie wies auf die Tasche, in die Vitali den Brief gesteckt hatte. „Shenja sagte, daß sogar ein Zeitungsartikel gegen ihn vorbereitet wurde. Er ist allerdings nie erschienen.“ „Und warum ist der Artikel nicht erschienen?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht hat Shenja etwas dagegen unternommen.“ „Wann hat Shenja denn davon gesprochen? Ist das schon lange her?“ „So genau weiß ich das nicht mehr.“ Frau Lutschinina legte müde die Finger an die Schläfen. „Aber die Revision im Werk hatte damals, glaube ich, gerade begonnen.“ Auch Vitali hatte dieses intensive Gespräch ermüdet, genauer gesagt, weniger das Gespräch selbst als vielmehr die unerwarteten Gedanken, Annahmen und Vermutungen, die vielen Rätsel und Fragen, die es aufwarf. Er verabschiedete sich. Als er in die kleine Diele hinaustrat, die keineswegs so dunkel war, wie er anfangs geglaubt hatte, erblickte er in einem Winkel hinter dem Garderobenständer einen Haufen Angeln unterschiedlicher Größe – Angeln aus Bambus, ausziehbare und selbstgebastelte Angeln. Im Gewirr der Angelsehnen blitzten silberne Blinker, und rotweiße runde Schwimmer leuchteten wie gefangene kleine Krebse. Neben den Angeln standen wuchtige Sumpfstiefel, deren lange Gummischäfte umgeknickt waren und schwer herabbaumelten. Vitali wies durch ein Kopfnicken auf die Angeln. „Shenja hat geangelt?“ „Mit Leidenschaft. Er fuhr oft ’raus und kam erst am nächsten Tag zurück. Jeden Sonnabend machte er das. Er behauptete, das sei seine einzige Erholung. Was er da getrieben hat, weiß ich natürlich nicht.“ Vitali blickte sie erstaunt an. „Aber Fische hat er mitgebracht?“ 66
„Fische hat er mitgebracht“, erwiderte sie zurückhaltend. Sie verabschiedeten sich. Igor Otkalenko kehrte nach dem Gespräch im Stadtkomitee der Partei allein zur Stadtabteilung zurück. Die Sonne brannte unerträglich. Auf der staubigen, mit kümmerlichen jungen Bäumen bepflanzten Straße gab es keinerlei Schatten. Die Kioske mit Mineralwasser waren dicht umlagert. Igor zog zuerst das Jackett aus, warf es über die Schulter, nahm dann auch die Krawatte ab und knöpfte sein Hemd auf. Jedesmal empfand er für einen kurzen Augenblick Erleichterung. Unterwegs schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vitali klammert sich an eine einzige Version und ist davon überzeugt, daß Lutschinin keinen Selbstmord begangen hat. Dabei boten die skandalösen Revisionsergebnisse, die Übergabe des Falles an die Staatsanwaltschaft und der bevorstehende Prozeß einen ausreichenden Anlaß dafür. Lutschinin war wahrscheinlich nicht nur ein aktiver und energischer, sondern auch ein ehrgeiziger und leicht zu verletzender Mensch, den das alles besonders tief getroffen haben muß. Dazu kamen noch die Unstimmigkeiten mit seiner Frau. Was das bedeutete, konnte Igor sich nur zu gut vorstellen. Wenn Alla mal schlechte Laune hatte, sich in etwas hineinsteigerte und ihm unentwegt zusetzte, brachte auch er nichts Vernünftiges mehr zuwege. Und wenn es überhaupt Ärger gab? Nein, Vitali ist zu voreilig mit seinen Schlußfolgerungen. Gestern allerdings kamen ihm zum ersten Mal Zweifel. Die Ergebnisse der Revision haben selbst ihn beeindruckt. Aber das Verschwinden dieses Burschen, des Bulawkin, ist wirklich ein Rätsel. Hängt es mit dem Fall Lut67
schinin zusammen? Das wird noch allerhand Arbeit geben. Bulawkin muß gefunden werden, tot oder lebendig. Wieso eigentlich tot? In der Stadtabteilung teilte der Diensthabende ihm mit, daß Tomilin da sei, aber einen Besucher bei sich habe. „Ein gewichtiges Onkelchen“, meinte er schmunzelnd und breitete die Arme aus. „Von diesem Format!“ Igor stieg in den zweiten Stock hinauf, band sich unterwegs den Schlips um und zog den Knoten akkurat zu, das Jackett aber behielt er in der Hand. In Tomilins Arbeitszimmer erblickte er einen schwerfälligen älteren Mann. Er paßte kaum in den Sessel am Tisch hinein. Seine dichte, graue Mähne und das überraschend jugendliche, gebräunte, großflächige Gesicht mit den schwarzen, wie Zobelfell glänzenden Brauen und den ebenfalls schwarzen Augen ließen diesen Mann erstaunlich sympathisch wirken. Als Igor eintrat, sagte er gerade lebhaft zu Tomilin „… Also, mein Lieber, wie Sie sehen, ist im Leben alles längst nicht so einfach, wie man glaubt. Vom menschlichen Zusammenleben ganz zu schweigen. Hier, wissen Sie …“ Plötzlich bemerkte er Igor. „Aber Sie haben anscheinend Besuch.“ Tomilin hatte Otkalenko längst bemerkt, aber seinen Gesprächspartner offenbar nicht unterbrechen wollen. Jetzt stand er auf, begrüßte Igor und stellte ihn vor: „Das ist der Genosse, auf den wir warten, Grigori Ossipowitsch. Machen Sie sich bekannt.“ Der Besucher erhob sich schwerfällig, reichte Igor seine breite, behaarte Hand und drückte dessen Finger mit unerwarteter Kraft. „Mazulewitsch“, stellte er sich vor, während er Igor mit einem raschen und offensichtlich gewohnheitsgemäß eindringlichen Blick musterte, und fügte erklärend hinzu: „Chefingenieur des Baranowsker Kombinats.“ 68
„Habe schon von Ihnen gehört“, sagte Igor lächelnd. „Von wem denn, wenn’s kein Geheimnis ist?“ erkundigte sich Mazulewitsch, während er sich wieder im Sessel niederließ. „Von Rewenko. Den haben wir gestern kennengelernt.“ „Aha, ein tüchtiger Kerl.“ Mazulewitsch nickte zustimmend. „Aber Gott mit ihm. Ich bin wegen Lutschinin hier. Schließlich war er mal mein Schüler. Stellen Sie sich vor: mein bester Schüler. Und dann bin ich selbst bei ihm in die Lehre gegangen.“ Seine Zobelbrauen runzelnd, fuhr Mazulewitsch gewichtig fort: „Eine großartige Halle hat er uns nach seinem Projekt hingesetzt. Stellen Sie sich vor: Das hat uns Importe aus Schweden erspart. Und solche Leute übersehen wir mitunter. Genauer gesagt, wir gewöhnen uns zu schnell an sie. Halten sie für das Normale. Dabei sollte man den Hut vor ihnen ziehen.“ Mazulewitsch lehnte sich seufzend in seinen Sessel zurück. Da bemerkte Igor ernst: „Aber die Revision hat doch offensichtlich Mißbrauch von seiten Lutschinins aufgedeckt, Grigori Ossipowitsch. Schließlich hat er Ihnen, wie sich herausstellt, ein werkeigenes Projekt verkauft.“ „Unsinn!“ rief Mazulewitsch aus, und sein volles Gesicht lief rot an. „Wir haben ein Projekt bestellt, in dem die besonderen technischen Bedingungen unseres Kombinats berücksichtigt werden. Und das haben wir bekommen.“ „Eine ganze Kommission hat sich damit befaßt, Grigori Ossipowitsch“, widersprach Igor sanft. „Das Protokoll wurde der Staatsanwaltschaft übergeben. Und auch dort …“ „Aber ich sage Ihnen: Das ist Unsinn! Die Kommission hat die Sache nicht objektiv untersucht!“ Mazulewitsch strich nervös das ihm in die Stirn fallende graue Haar zurück. „Wie konnte er nur so Knall und Fall Hand 69
an sich legen! Hätte er mir bloß vorher geschrieben, was hier los ist. Ich wußte ja von nichts. Da komme ich extra hierher, um mit Lutschinin über unsere weitere Zusammenarbeit zu sprechen. Und was muß ich hier erfahren! Aber so unverrichteterdinge kehre ich nicht nach Hause zurück. Für diese Kommission wird sich eine andere finden. Wir werden die Wahrheit schon zutage fördern! Und ihm seinen ehrlichen Namen zurückgeben! Mehr können wir zu unserem großen Leidwesen bereits nicht mehr für ihn tun.“ „Tja, Grigori Ossipowitsch“, erwiderte Igor ernst. „Die Wahrheit zutage zu fördern ist eine heilige Sache. Vor uns steht diese Aufgabe ebenfalls. Aber auf andere Art.“ „Falls es kein Geheimnis ist, würde mich interessieren, auf welche Art.“ „Wir müssen herausfinden, wer schuld hat. In jedem Fall.“ Mazulewitsch blickte Igor forschend an. „Was bedeutet ‚in jedem Fall‘? Was für Varianten gibt es da, wenn die Frage gestattet ist?“ „Wir haben Briefe bekommen“, sagte Igor nach einem kurzer Zögern. „Einige Bürger glauben nicht, daß Lutschinin Selbstmord begangen hat.“ „Mein Gott, was für ein Unsinn!“ Mazulewitsch winkte ab. Igor schüttelte den Kopf. „Möglich ist alles, Grigori Ossipowitsch. Deshalb müssen wir alle Varianten untersuchen. Das ist unsere Pflicht.“ „Da wären wir uns ja einig“, konstatierte Mazulewitsch zufrieden. „Sind sozusagen auf einen Nenner gekommen.“ „Einig sind wir uns, aber nicht in allen Punkten“, widersprach Igor. „Wir sollten in Verbindung bleiben. Halten Sie uns über das, was Sie dort, in Moskau, herausfinden, auf dem laufenden. Und wir arbeiten inzwischen hier an der Sache weiter. Einverstanden?“ 70
„Warum nicht?“ Mazulewitsch nickte. „Ich würde sagen, das ist vernünftig.“ Er blickte Otkalenko abschätzend an. „Also wenn ich Sie richtig verstehe, informieren wir uns gegenseitig?“ „Natürlich. Wir werden Ihnen nichts verheimlichen. Und noch etwas. Wenn es sich als nötig erweisen sollte, nehmen Sie in Moskau Verbindung mit Oberstleutnant Korschunow auf. Er hat uns hierhergeschickt und ist über alles im Bilde. Hier, schreiben Sie sich seine Telefonnummer auf.“ „Das ist das erste Mal, daß ich mit der Miliz ein Abkommen schließe“, meinte Mazulewitsch lachend, während er sein Notizbuch zückte. „Wirklich interessant … Na gut, meine Lieben.“ Er erhob sich nicht ohne Mühe. „Ich gehe jetzt. Muß mir noch eine Flugkarte besorgen.“ „Dabei können wir Ihnen behilflich sein“, sagte Tomilin. „Um die Flugkarte kümmern wir uns. Und zum Flugplatz bringen wir Sie auch.“ „Das sind die ersten Früchte unseres Abkommens“, meinte Igor lächelnd. Sie trennten sich in aller Freundschaft. Als Mazulewitsch gegangen war, fragte Igor ungeduldig: „Na, Nikolai, gibt’s was Neues über Bulawkin?“ Tomilins auch so schon recht mißmutiges Gesicht wurde noch verdrossener. „Ja“, sagte er grimmig. „Rewenko hat angerufen. Gebrüllt hat er. Wie sich herausstellt, hat dieser Kerl auch noch den Gasik aus dem Werk mitgehen lassen. Wolow ist schon drüben.“ Igor stieß vor Verblüffung und Ärger einen Pfiff aus. „Tjaaa … Und niemand, keine Menschenseele, hat ihn gestern mit dem Wagen gesehen?“ „Das wird gerade geklärt“, meinte Tomilin seufzend. „Der Wagen ist dabei nebensächlich, denk an meine Worte. Der Bursche hat was angestellt.“ „Oder mit ihm ist was angestellt worden.“ 71
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und der hochrote, verschwitzte Vitali erschien mit seinem Sakko über der Schulter. „Na, gibt’s was Neues?“ fragte Igor trocken. „Eine ganze Wagenladung voll.“ Vitali goß sich lauwarmes Wasser aus der Karaffe ein und leerte das Glas in zwei Zügen, um gleich darauf noch einmal nachzuschenken. Wieder zu Atem gekommen, setzte Vitali zum Erzählen an. Igor und Tomilin hörten gespannt zu. „Wo ist der Brief?“ fragte Igor schließlich sachlich. „Habe ihn natürlich mitgebracht.“ Vitali entnahm der Sakkotasche das zusammengefaltete Blatt. Igor las es durch und reichte den Brief schweigend an Tomilin weiter, dann öffnete er die auf dem Tisch liegende Mappe. Er entnahm ihr einen kleinen Papierfetzen, betrachtete ihn aufmerksam und schob ihn wieder zurück. Inzwischen las Tomilin den Brief und fragte, während er ihn Vitali wiedergab: „Was hältst du davon?“ Der machte eine vielsagende Handbewegung. „Eine Morddrohung. Siehst du das nicht?“ Aus Vitalis Ton sprach eine leise Gereiztheit. Es hörte sich so an, als werde er seiner eigenen Entdeckung nicht froh. „Ich schlage vor“, sagte Vitali unzufrieden, „die offizielle Untersuchung in diesem Fall wiederaufzunehmen.“ „Glaubst du wieder an die Mordversion?“ Tomilin blickte ihn forschend an, und über sein langes, mürrisches Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln. „Kurz vor dir war Mazulewitsch hier. Hast du mal von ihm gehört?“ „Ja, na und?“ Vitali horchte auf. „Was sagt er denn?“ „Er sagt, daß er nicht an das Revisionsprotokoll glaubt. 72
Daß er nach Moskau fliegen will, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Und daß Lutschinin wegen dieser Sache durchaus Selbstmord begangen haben kann. Er hat ihn, wie sich zeigt, gut gekannt.“ „Aber er wußte nichts von dem Brief!“ rief Vitali ärgerlich aus. „Und wir auch nicht. Wurde die Obduktion übrigens von erfahrenen Medizinern vorgenommen?“ „Das Gutachten stammt von Experten.“ „Von den erfahrensten?“ „Na, der erfahrenste wäre Professor Iwan Fjodorowitsch Otschakow aus dem Medizinischen Institut. Aber der ist im Urlaub und erholt sich, glaube ich, im Baltikum am Meer.“ „Ihr hättet ihn zurückrufen müssen.“ „Was du nicht sagst“, meinte Tomilin grinsend. „Er ist dreiundsiebzig Jahre alt, mein Lieber. Wer wird ihn da zurückrufen?“ Der Vorschlag, die offizielle Untersuchung im Fall Lutschinin wiederaufzunehmen, war in Vitali gereift, während er zur Stadtabteilung zurückkehrte. Anfangs handelte es sich dabei nur um eine vage Idee der Art „Was wäre, wenn …?“ oder „Man müßte …“. Aber während der Auseinandersetzung mit Tomilin versteifte Vitali sich, wie das temperamentvollen, leicht zu begeisternden Menschen oft so geht, immer mehr auf diesen Gedanken, und mittlerweile war er bereits davon überzeugt, daß das die notwendigste und dringlichste Maßnahme sei. „Der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft wird sich nicht dazu bewegen lassen.“ Tomilin schüttelte den Kopf. „Dazu kenne ich ihn zu gut.“ „Na, das werden wir ja sehen.“ Vitali blieb hartnäckig. „Ihr betrachtet den Fall als abgeschlossen. Aber ist dir jetzt nicht klargeworden, daß man alles noch einmal überprüfen muß? Alles!“ 73
„Mir ist etwas ganz anderes unklar.“ „Hier ist dir also alles klar?“ „Hier ist alles klar“, erwiderte Tomilin mißmutig. „Na gut“, murmelte Vitali, „und was ist dir nicht klar?“ „Mir ist nicht klar, was mit Bulawkin geschehen ist. Warum hält er sich versteckt und hat auch noch den Wagen mitgehen lassen?“ „Den Wagen?“ fragte Vitali ungläubig zurück. „Übrigens hat Frau Lutschinina ihn so charakterisiert: ‚Ein widerlicher, unaufrichtiger Mensch‘.“ „Bulawkin?“ fragte Igor unerwartet, als fahre er aus tiefen Gedanken auf, und seine Stimme hatte einen seltsamen Klang, der Vitali aufhorchen ließ. „Ja, der Knoten zieht sich immer fester zusammen.“ „Und er hängt direkt mit dem Fall Lutschinin zusammen. Mit dem nicht aufgeklärten Fall!“ rief Vitali, von dem Streit noch immer nicht abgekühlt, aus. Igor lächelte rätselhaft. „Für’s erste schlage ich vor, ein Gutachten anfertigen zu lassen.“ „Was denn für ein Gutachten?“ fragte Vitali gereizt. „Das Gutachten eines Schriftsachverständigen.“ „Warum denn das?“ „Darum.“ Igor streckte die Hand aus. „Gib mir noch mal den Brief.“ Er nahm Vitali den Brief ab, holte dann den Papierfetzen aus der Mappe, den er gerade durchgelesen hatte, und legte ihn, an den Tisch tretend und sorgfältig seine Ecken glättend, neben den Brief. „Na, seht mal her, Genossen“, schlug er vor. „Hier ist meiner Meinung nach schon ohne Experten einiges klar.“ Als erster eilte Vitali an den Tisch, dann trat auch Tomilin näher. Eine Zeitlang vertieften sich beide schweigend und aufmerksam in die vor ihnen ausgebreiteten Papiere. Schließlich äußerte Vitali, sich auf die Lippen beißend, 74
verblüfft: „Tjaa … Das ist eine Entdeckung!“ Auf dem Tisch vor ihnen lagen der anonyme Brief und der Zettel, den sie am Abend zuvor von Bulawkin erhalten hatten. Es gab keinen Zweifel: Beide waren von ein und derselben Hand geschrieben worden.
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4. KAPITEL
Die trockene Mathematik des Lebens „Mich interessiert das in der Staatsanwaltschaft liegende Material“, sagte Vitali. „Insbesondere das Revisionsprotokoll. Ich würde gern wissen, was sie da zusammengeschrieben haben.“ „Das ist ein Protokoll, das sich gewaschen hat“, erwiderte Tomilin. „Rogowizyn wird’s dir morgen als erstes auf den Tisch packen.“ „Ich meine folgendes“, sagte Igor. „Die Selbstmordversion wird in jedem Fall aufrechterhalten, egal, ob das Revisionsprotokoll stimmt oder nicht, das heißt, ob Lutschinin tatsächlich ein Verbrechen begangen hat oder bloß verleumdet wurde. Einverstanden?“ Vitali stieß einen Seufzer aus. „Natürlich. Aber mit einer Berichtigung: Shenja kann kein Verbrechen begangen haben.“ „Das muß erst noch bewiesen werden“, meinte Igor kopfschüttelnd. „Wir müssen alles noch einmal objektiv überprüfen, alle Umstände und Dokumente.“ „Zweifelst du an meiner Objektivität?“ „Vor kurzem standest du noch im Bann einer anderen Version.“ „Ich stand doch nicht in ihrem Bann! Das war meine innerste Überzeugung. Aber jetzt glaube ich: Wenn man solcher Vergehen beschuldigt wird, zu Unrecht beschuldigt wird, kann man schon in Verzweiflung geraten.“ „Aber auch die Mordversion wird aufrechterhalten?“ 76
„Ja. Auch sie wird nicht verworfen.“ „Na gut. Dann bin ich beruhigt“, meinte Igor. „Aber was Lutschinins Selbstmord angeht, so gibt es hier, vergiß das nicht, harte, exakt ermittelte Fakten“, fuhr Igor wie immer ruhig und bedächtig fort. „Lutschinins bedrückten Zustand in den letzten Tagen, die unbestreitbar großen Unannehmlichkeiten und schließlich die Tatsache, daß man ihn an jenem Abend am Fluß, auf der Brücke, gesehen hat. Und natürlich auch die Schlußfolgerungen des medizinischen Gutachtens.“ „Wie es scheint, hat man ihn an jenem Abend zu zweit gesehen?“ fragte Vitali in unschuldigem Ton. „Das ist bereits ein Detail.“ „Ein nicht ganz unwesentliches …“ „Aber auch noch kein bestätigtes“, parierte Igor trocken. „Das wirst du selbst noch feststellen müssen.“ „Wie vieles andere auch.“ Vitali seufzte. „Du aber mach Bulawkin ausfindig. Der hat uns, glaube ich, eine Menge zu erzählen. Ach, man müßte seine Kräfte anspannen und ihn sehen können, wie die Parapsychologie es lehrt.“ Er zwinkerte Igor zu. „Wäre doch nicht schlecht, was?“ „Du hast Einfälle!“ Igor schaute ärgerlich zum Fenster. „Da scheint sich was zusammenzubrauen. Man müßte aber doch noch was tun und mit dem einen oder anderen schon heute sprechen.“ Schwere, schwarze Wolken ballten sich, krochen langsam von dem fernen Wald hinter dem Fluß herüber und bedeckten schon fast den ganzen Himmel. Durch das Fenster wehte ein kühles Lüftchen. „Der Regen wird jetzt dringend gebraucht“, bemerkte Tomilin. „Alles vertrocknet.“ „Wir auch“, ließ sich Vitali hören. „Wenn einer eine Abkühlung braucht, bist du es“, zog Igor ihn auf. In diesem Augenblick brach das Gewitter los. Die Er77
de schien zu beben und das Haus zu schwanken, während die Kronen der Bäume unruhig hin und her fuhren. „Die entfesselten Elemente!“ stieß Tomilin begeistert aus, und die tiefen Falten in seinem finsteren, besorgten Gesicht verzogen sich gleichsam unwillig zu einem Lächeln. „Da wir vom Schauplatz der Aktionen abgeschnitten sind“, erklärte Igor, „könnten wir inzwischen einige Dinge präzisieren.“ Er rückte näher an den Tisch heran. Der Regen prasselte mit solcher Wucht herab, daß sie das Fenster schließen mußten. „Welch eine Finsternis!“ sagte Vitali. Entschlossen durchquerte er das Zimmer und drückte auf den Schalter an der Tür. „Es werde Licht!“ Aber das Licht ging nicht an. „So“, konstatierte Vitali beinahe mit Genugtuung. „Das Nachtgestirn ist erloschen.“ Igor war jedoch bereits wieder in Arbeitsstimmung. „Mich interessiert der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft, der den Fall Lutschinin bearbeitet hat.“ Er wandte sich zu Tomilin um. „Was ist das für ein Mensch?“ „Ein ernst zu nehmender Mann“, erwiderte dieser. „ ‚Ernst zu nehmend‘ ist ein ziemlich verschwommener Begriff“, bemerkte Igor streng. „Drück dich mal ein bißchen konkreter aus. Er muß morgen“, Igor wies durch ein Kopfnicken auf Vitali, „mit ihm verhandeln.“ „Ja, wirklich, beschreib ihn mal ein bißchen“, bat auch Vitali. „Was willst du denn konkret wissen?“ fragte Tomilin. „Sein Name ist Rogowizyn, mit Vor- und Vatersnamen heißt er Pawel Iossifowitsch. Er kennt sein Metier. Nun, und ihn kennt man natürlich auch.“ Die letzten Worte klangen vieldeutig. „Und wie ist er so?“ fragte Vitali. Da läutete das neben ihm auf dem Tisch stehende Telefon. Vitali riß hastig den Hörer von der Gabel. 78
„Nikolai Ignatjewitsch?“ „Nein, hier ist Lossew.“ „Hier spricht der Diensthabende der Stadtabteilung. Bei mir ist die Bürgerin Bulawkina. Wegen ihres Sohnes.“ „Schicken Sie sie herauf!“ rief Igor lebhaft. „Tomilin ist auch hier.“ Er legte den Hörer auf und fügte, an Igor und Tomilin gewandt, hinzu: „Ihr Brüder habt ein Glück. Nun braucht ihr sie nicht mal mehr herzubestellen.“ Er warf unwillkürlich einen Blick zum Fenster. Das Gewitter hatte noch immer nicht nachgelassen. Eine Minute später ging knarrend die Tür auf, und im selben Augenblick leuchtete überraschend die Lampe an der Decke auf. An der Schwelle erschien eine kleine alte Frau im schwarzen, fast bis an den Fußboden reichenden, naß glänzenden Regenmantel mit einem offenen, nassen Schirm in der Hand, den sie wie ein Schild vor sich hielt. „Mein Gott, ich kriege das verdammte Ding nicht zu“, sagte sie zur allgemeinen Überraschung mit tiefer Baßstimme. „Das werden wir gleich haben, Mamachen.“ Vitali sprang auf. „Schließlich haben Sie uns im wahrsten Sinne des Wortes die Erleuchtung gebracht.“ Während Vitali sich mit dem Schirm abplagte, half Igor der Frau aus ihrem nassen Mantel, schüttelte ihn ab und hängte ihn an den kleinen, hölzernen Garderobenständer. „Warum gehen Sie bei so einem Wetter auf die Straße, Mamachen?“ fragte Vitali, als Frau Bulawkina endlich auf dem für sie zurechtgerückten Stuhl Platz nahm. „Wir wären auch zu Ihnen gekommen.“ Die alte Frau hatte es mit einer Antwort jedoch nicht eilig. Sie glättete sorgfältig den dunklen Rock über ihren Knien, holte dann eine Brille aus der Tasche ihrer alten 79
Strickjacke, setzte sie, die Bügel akkurat unter ihr graues Haar schiebend, auf, blickte alle drei der Reihe nach streng an und sagte vorwurfsvoll: „Man merkt, daß Sie keine Söhne haben. Jawohl. Ist unsere Miliz etwa imstande, jemanden zu finden? Strafen kassieren wegen der Hühner, das kann sie. Das Maul aufreißen, das kann sie auch.“ Ihre Stimme klang zornig. „Und möglichst vor allen ehrlichen Leuten. Da ist Barabanow ein Held, da zeigt er, was er für ein Kerl ist. Aber einem im Unglück zu helfen …“ Sie schluchzte plötzlich auf, zückte hastig ihr Taschentuch, betupfte sich die Augen unter der Brille und schneuzte sich trompetend. „Wer ist denn dieser Barabanow?“ fragte Vitali leise, an Tomilin gewandt. „Was ist das für ein Held?“ Der erwiderte, die Stirn runzelnd: „Ihr ABV. Wir finden keinen Ersatz für ihn.“ „Wir werden das klären“, versprach Igor unbestimmt. „Mein Sohn sagte, daß Leute aus Moskau gekommen seien“, meinte die alte Frau seufzend und steckte das Taschentuch weg. „Sie müssen meinen Jüngsten finden. Er ist der einzige, der mir noch geblieben ist.“ „Wir werden ihn finden, Anfissa Gordejewna“, erwiderte Tomilin griesgrämig. „Wir werden ihn bestimmt finden.“ „Ich habe da plötzlich Bedenken gekriegt.“ Die alte Frau blickte Igor durch ihre Brille streng an. „Mittags kam die Lara angelaufen und fragte, ob man Sergej schon gefunden habe. Natürlich hatte sie mal wieder schwarz bemalte Augen, eine Parfümwolke um sich und einen Rock an,“ – Frau Bulawkina spreizte die Finger –, „daß es nur so eine Schande ist. Der Herrgott mag mir verzeihen. Was mein Sergej nur an der findet?“ Vitali und Igor wechselten lächelnd einen Blick. „Und sie, die Lara, sagte auch, daß man Sergej an dem Abend gesehen habe, als er zu Ihnen kommen wollte“, fuhr die alte Frau fort. „Und zwar nicht allein.“ 80
„Wo hat man ihn denn gesehen?“ fragte Vitali rasch. „Na, in der Retschnajastraße, das ist es ja gerade.“ „Wo ist denn das?“ Vitali blickte Tomilin an. „Am anderen Ende der Stadt“, erwiderte der und schüttelte den Kopf. „Da war er also weder zum Hotel noch zum Werk unterwegs.“ Dann fragte er seinerseits: „Hat sie gesagt, mit wem er zusammen war?“ „Nein. Ich hab’ die Lara auch schon ausgefragt.“ „Was wollte er da nur?“ fragte Vitali nachdenklich. Die alte Frau schluchzte wieder auf, holte ihr Taschentuch heraus und wischte sich, mit der anderen Hand die Brille festhaltend, die Tränen ab. „Sie müssen ihn finden, Bürger Milizionäre. Sie müssen ihn unbedingt finden“, brummte sie bekümmert. „Ich spüre es, daß meinem Sergej etwas zugestoßen ist. Er ruft nach mir. Ich bitte Sie beim Allmächtigen, finden Sie ihn!“ … Spät in der Nacht kehrten Igor und Vitali ins Hotel zurück. Ohne die auf dem Tisch stehenden Milchflaschen und die mit einer Serviette bedeckten Brötchen anzurühren – all das hatten sie bereits morgens für ihr Abendbrot vorbereitet –, fielen die beiden in ihre Betten. Kurz vor dem Einschlafen, schon im Dunkeln, sagte Vitali überzeugt: „Eins ist bis jetzt klar: Das Verschwinden Bulawkins hängt mit der neuen Untersuchung im Fall Lutschinin zusammen. Daraus ergibt sich … Hörst du mir überhaupt zu?“ Igor hörte jedoch nichts mehr. Das Gesicht ins Kissen gedrückt und die Hände daruntergeschoben, schlief er bereits. Am nächsten Morgen begab sich Vitali zur Staatsanwaltschaft der Stadt. Dort erwartete ihn ein schwieriges und unangenehmes Gespräch. Am Abend zuvor hatte ihn Raskatow, der 81
Leiter der Stadtabteilung, gewarnt: „Wenn Pawel Iossifowitsch einmal zu einer Überzeugung gelangt ist, dann ist er nicht mehr davon abzubringen. Er steht dazu wie ein Felsen. So liegen die Dinge.“ Der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft aber war offensichtlich von dem Gedanken „überzeugt“, daß der Fall Lutschinin abgeschlossen sei. Und zwar war er zu dieser „Überzeugung“ nicht ohne die Mithilfe Raskatows gelangt. Jetzt sollte er versuchen, die beiden „davon abzubringen“. Vitali seufzte und verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. Es war noch früh am Morgen, aber die Sonne brannte bereits unerträglich. Nirgends war ein Schatten zu entdecken. An das gestrige Gewitter dachte Vitali bereits wie an ein unvorstellbares Glück zurück. An einer Straßenecke erblickte Vitali neben ein paar staubigen Sträuchern eine grüne Bretterbude, reihte sich geduldig in die Schlange ein, studierte die Scheitel der struppigen, mit riesigen Blechkannen vor ihm stehenden Burschen und trank schließlich ein Glas warmen, säuerlichen Kwaß. Dann schlenderte er, von der Hitze und von Zweifeln geplagt, weiter. Am Zeitungskiosk bot sich ihm von neuem eine Gelegenheit, Schlange zu stehen: Moskauer Zeitungen waren eingetroffen. Seine Beine trugen ihn schon wie von selbst dorthin, als Vitali plötzlich wütend wurde. Willst du dich drücken, du Schuft? sagte er im stillen erbittert zu sich selbst. Geh nur, geh, der Genosse Rogowizyn kann es gar nicht erwarten, dich zu empfangen. Der Untersuchungsführer aber konnte es offensichtlich doch erwarten, denn Vitali mußte ziemlich lange in dem kleinen Wartezimmer ausharren: Rogowizyn hatte sich vorübergehend im Kabinett des nach Moskau gereisten Staatsanwalts der Stadt niedergelassen. Besorgt dreinschauende Leute huschten geschäftig mit Aktendeckeln unter dem Arm an Vitali vorbei, und 82
die Tür zum Kabinett ließ ständig ein unangenehmes Quietschen hören. Vitali stand am Fenster und wartete. Den widerlichen grünen Balkon am Haus gegenüber hatte er ebenso wie die darauf trocknende Wäsche bereits in allen Einzelheiten studiert. Endlich wurde er aufgerufen: „Sie können hineingehen, Genosse.“ Zum vorherrschenden Gefühl war in Vitali mittlerweile ein Groll geworden, der längst alle Zweifel und Befürchtungen hinsichtlich der bevorstehenden Begegnung besiegt hatte. Entschlossen überschritt Vitali die Schwelle, schloß die Tür hinter sich und fand sich in einem geräumigen Kabinett wieder, das aufs Haar allen anderen derartigen Kabinetten glich, die Vitali bisher betreten hatte. Ein großer, mit Papieren überladener Schreibtisch, daneben ein kleines Besuchertischchen mit zwei Stühlen, ein Panzerschrank in der Ecke und zwischen den beiden Fenstern eine leicht durchgesessene Couch. Hinter dem Schreibtisch deutete ein kleiner, grauhaariger Mann mit Brille eine Verbeugung an. Sein grauer Anzug war zerdrückt, der graugestreifte Schlips zur Seite gerutscht. Das schmale, von dem schweren Kinn gleichsam in die Länge gezogene Gesicht mit den eingefallenen Wangen verbarg sich hinter blitzenden Brillengläsern und war in seinen einzelnen Zügen nicht zu unterscheiden. Der Mann wirkte irgendwie verstaubt und fade. Vitali stellte sich vor. „Bitte“, sagte Rogowizyn kurz angebunden, wies auf einen der Stühle vor dem Tisch und fügte trocken hinzu: „Entschuldigen Sie, ich bin gleich soweit.“ Den Federhalter hoch erhoben, als wollte er ihn fortschleudern, beugte er sich über ein Schriftstück. Ein Empfang wie für niedere Chargen, dachte Vitali spöttisch. Wenn er auch nur ein wenig Achtung vor mir hätte, wäre er zur Begrüßung aufgestanden, vielleicht auch hinter dem Schreibtisch hervorgekommen oder 83
mir sogar entgegengegangen. Von einem Empfang an der Tür wollen wir mal absehen – dazu muß man wohl Minister sein. Obwohl einer wie der einen Minister unten auf der Straße empfangen würde. Beide bereiteten sich auf ein schwieriges Gespräch vor. Schließlich setzte Rogowizyn eine schwungvolle Unterschrift auf das Papier, nahm die Brille ab und sagte zurückhaltend, während er sich im Sessel nach hinten lehnte: „Ich höre.“ Ohne Brille wirkte er noch älter und strenger. Tiefe Falten durchzogen das gelbliche Gesicht. Ohne jedes System breiteten sich Runzeln auf den eingefallenen Wangen, dem schweren Kinn, um die Augen und in der Nähe der Ohren aus. Dadurch machte das Gesicht gleichsam einen zerstückelten Eindruck, und es war völlig unmöglich, außer der unerbittlichen, ja geradezu eisernen Strenge irgendeinen anderen vorherrschenden Zug in ihm zu erkennen. Vitali bemühte sich, die Sache so kurz wie möglich darzulegen. Dabei sprach er betont trocken und leidenschaftslos, immer wieder verwies er auf den ihm erteilten Auftrag. Auch von den im Ministerium eingegangenen Briefen „aus der Bevölkerung“ erzählte er. Vitali schloß mit der Bitte, ihn mit den in der Staatsanwaltschaft vorhandenen Materialien bekannt zu machen und die offizielle Untersuchung im Fall Lutschinin wiederaufzunehmen. Schweigend, sein trockenes, faltiges Kinn reibend und den aufmerksamen, forschenden Blick nicht von Vitali wendend, als interessiere er sich mehr für dessen Person als für die von ihm dargelegten Fakten, hörte Rogowizyn zu. Als Vitali verstummte, fragte Rogowizyn nach einem kurzen Augenblick des Schweigens plötzlich: „Arbeiten Sie schon lange in den Organen der Miliz?“ „Etwa drei Jahre“, erwiderte Vitali zurückhaltend. 84
„Hm. Das dachte ich mir. Sie kommen direkt von der Universität, nicht wahr? Und haben noch nicht alles vergessen?“ „Ich gebe mir Mühe, nichts zu vergessen.“ „Nun, natürlich. Die Universität vermittelt eine gute theoretische Grundlage.“ Rogowizyn betonte leicht das Wort „theoretisch“. „Und nun lernen Sie das alles in der Praxis kennen. Sie überprüfen sozusagen die Harmonie durch die Mathematik.“ Seine dünnen Lippen kräuselte ein kaum merkliches Lächeln. „Salieris Methode ist hier wohl kaum anzuwenden. Puschkin hat etwas ganz anderes damit gemeint“, entgegnete Vitali trocken. „Möglich. Ich aber meine die wesentlichen Korrekturen, die die Praxis, das heißt das Leben, in unsere theoretischen Vorstellungen einbringt. Ist Ihnen das bereits aufgefallen?“ „Ja, stellen Sie sich vor, das ist mir aufgefallen.“ Vitali wurde allmählich wütend. „Das Leben ist eine komplizierte Angelegenheit“, meinte Rogowizyn seufzend. „Besonders der Bereich der menschlichen Beziehungen, in dem Sie und ich uns zurechtfinden müssen. Nehmen wir zum Beispiel Lutschinins Selbstmord“, fuhr er gemächlich, so als rede er mit sich selbst, fort, wobei er die Brille in seiner Hand kreisen ließ. „Ist so etwas unter unseren Bedingungen möglich? Dem Mann drohte weder der Ruin noch Arbeitslosigkeit oder Hunger, in Film und Fernsehen werden bei uns keine Selbstmorde propagiert. Das gibt es alles nur bei denen dort.“ Er machte eine weit ausholende Armbewegung. „Weiter. Bei uns bekommt jeder sein Recht. Besonders ein energischer, gebildeter und außerdem geschäftstüchtiger Mensch. Was gibt’s noch? Unglückliche Liebe? Na, die überlassen wir den Grünschnäbeln. Oder den Neurasthenikern. Lutschinin aber war weder das eine noch das andere.“ 85
„Sie schließen Selbstmord also aus?“ rief Vitali erstaunt. „Aber dann …“ „Warten Sie, junger Mann, warten Sie“, unterbrach Rogowizyn ihn streng. „Wir stellen hier Überlegungen an, überprüfen sozusagen die theoretische Harmonie durch die trockene Mathematik des Lebens. Die unglückliche Liebe können wir also streichen. Was gibt es sonst noch? Lutschinin war ein Erfinder. Genauer gesagt, er hielt sich dafür.“ „Was heißt: Er hielt sich dafür?“ Vitali fuhr auf. „Weil er überhaupt nichts erfunden hat. Sein Verfahren ist, wie sich herausstellt, bereits in dem Buch von … Professor Jelzow, glaube ich, beschrieben worden. Das Material dazu befindet sich in der Akte.“ Rogowizyn wies durch ein Kopfnicken auf einen hohen Aktenstapel, der sich an der Tischkante auftürmte. „Das muß erst noch überprüft werden!“ „Wie Sie sehen, hat Lutschinin nicht darauf bestanden.“ Wieder lächelte Rogowizyn kaum merklich. „Aber kehren wir zu unseren Überlegungen zurück. Lutschinin hat es also nicht genügt, ein guter Ingenieur zu sein. Er erklärte sich zum Erfinder. Und da taucht plötzlich das Buch Professor Jelzows auf … Lutschinin hat den Staat betrogen, und der Staat hat ihn entlarvt. Dabei hatte er schon ein ordentliches Sümmchen eingesteckt, und zwar aus dem Staatssäckel. Er begnügte sich nicht mit dem Ruhm. Deshalb leiteten wir ein Verfahren gegen ihn ein. Diese Angelegenheit ließ sich nicht mehr friedlich regeln. Hier führte der Weg direkt ins Gefängnis, und zwar für lange Jahre.“ „Aber auch das hätte erst noch bewiesen werden müssen!“ Wieder konnte Vitali nicht an sich halten. „Allein das Revisionsprotokoll reichte dazu nicht aus!“ „Natürlich nicht. Wir hätten es schon noch bewiesen. Das können Sie mir glauben. Unter diesen Umständen Selbstmord zu begehen ist für einen Menschen wie Lut86
schinin, wenn auch nicht natürlich, so doch verständlich. Das müssen Sie wohl zugeben. Unsere Untersuchung hat das bestätigt.“ Vitali schüttelte unwillig den Kopf. „Ich habe einen Auftrag auszuführen, Pawel Iossifowitsch. Ich muß diesen Fall untersuchen und überprüfen.“ „Ich will Sie nicht daran hindern.“ Rogowizyn zuckte die Achseln. „Überprüfen Sie nur. Aber was? Das Verfahren gegen Lutschinin haben wir begreiflicherweise eingestellt. Das Gutachten über die Todesursache? Das befindet sich bei Raskatow. Es ist in Ihren Händen.“ „Aber Sie müssen doch auch noch Unterlagen haben?“ „Sie meinen die erste Akte? Bitte. Obwohl es meiner Meinung nach sinnlos ist, sich damit zu befassen. Im Grunde genommen ist da gar nichts vorhanden. Es liegen nur einige primäre Fakten und Signale vor.“ „Das ist mir klar.“ „Na also. Großartig. Hier haben Sie die Unterlagen.“ Rogowizyn erhob sich und zog, mit einer Hand den hohen Aktenberg stützend, einen verblichenen grünen Aktendeckel aus seiner Mitte heraus. „Bitte.“ Er reichte ihn Vitali. „Jetzt suchen wir noch ein Plätzchen für Sie aus, an dem Sie nach Herzenslust arbeiten können.“ „Ja, aber die Frage der Wiederaufnahme des Verfahrens ist noch offen“, sagte Vitali. „Eine Wiederaufnahme betrachte ich vorläufig nicht als notwendig.“ Rogowizyn schüttelte den Kopf. „Verschonen Sie mich damit.“ „Dann gestatten Sie mir, Ihnen nachzuweisen, daß eine Wiederaufnahme doch notwendig ist.“ „Bitte, versuchen Sie es.“ Seufzend lehnte Rogowizyn sich wieder in seinem Sessel zurück. „Ich denke, das wird eine gute Praxis für Sie sein.“ Vitali tat so, als bemerke er die Ironie in Rogowizyns letzten Worten nicht, obwohl ihn das keine geringe Mü87
he kostete. Er war es nicht gewohnt, solche Seitenhiebe einfach einzustecken. Der Ton, in dem er seine Argumente darlegte, war trocken und streng und nur hin und wieder ein wenig herausfordernd: Das konnte Vitali sich nun doch nicht verkneifen. „… Sie werden also hoffentlich zugeben, daß wir Lutschinin gut gekannt haben. Und unsere Lehrer auch. Darum kommt es uns so unglaubhaft vor, daß er Selbstmord begangen haben soll. Aber das war nur unsere erste Überlegung. Der zweite Anstoß war der Drohbrief, den Lutschinin kurz vor seinem Tode erhielt. Merkwürdig, daß Sie ihn nicht entdeckt haben. Er selbst hat offensichtlich die über ihm schwebende Gefahr erkannt. Das deutet er in dem Brief an unsere Lehrerin in Moskau an. Hier, bitte, lesen Sie. Dann werde ich Ihnen unsere dritte Überlegung unterbreiten.“ Vitali reichte Rogowizyn die beiden Briefe über den Tisch und verstummte. Rogowizyn setzte langsam, gleichsam lustlos, seine Brille auf, las zuerst den einen und dann den anderen Brief und bemerkte, sich das Kinn reibend: „Tja. Das sind natürlich menschliche Dokumente. Wer mag wohl diesen anonymen Brief verzapft haben?“ „Das werden wir schon feststellen“, erwiderte Vitali mit leicht verhohlenem Triumph. „Sieh mal an. Na, und wer ist Ihrer Ansicht nach der Verfasser?“ „Das ist keine Ansichtssache, Pawel Iossifowitsch, so etwas läßt sich exakt ermitteln“, belehrte Vitali ihn mit übertriebener Höflichkeit. „Den Brief hat der Kraftfahrer des Werkes, Sergej Bulawkin, geschrieben, der jetzt übrigens verschwunden ist. Er wollte uns etwas erzählen und verschwand plötzlich. Es ist nicht ausgeschlossen …“ „Moment mal, Moment!“ Rogowizyn machte eine ungeduldige Handbewegung. „Was heißt das: Er ist verschwunden?“ 88
„Genau das, was ich sage. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man ihm Angst eingejagt oder daß er selbst vor etwas Angst bekommen hat. Sehen Sie: Zuerst hat er Lutschinin einen Drohbrief geschrieben, dann hat er wer weiß was angestellt, und schließlich wollte er zu uns kommen und uns etwas erzählen, was, wie er sich ausdrückte, kein anderer uns erzählen könnte, und plötzlich ist er spurlos verschwunden.“ „Fahndet die Miliz nach ihm?“ „Seit dem gestrigen Tage.“ „Und was hat man ermittelt?“ „Bisher gibt’s nur sehr vage Anhaltspunkte. Trotzdem ist dieses Verschwinden ein weiterer Grund, am Selbstmord Lutschinins zu zweifeln.“ „Sie sind mit Ihren Schlußfolgerungen sehr schnell bei der Hand, junger Mann.“ Rogowizyn schüttelte spöttisch den Kopf. „Sehr schnell. Alles, was mit diesem Bulawkin zusammenhängt, ist noch völlig dunkel und unklar. Das Verbrechen Lutschinins aber ist ein Fakt, den auch Ihre Kindheitserinnerungen nicht auslöschen können. Das Protokoll wurde von ernst zu nehmenden, qualifizierten Leuten angefertigt. Nun, und was diesen anonymen Brief angeht,“ – er tippte mit dem Finger gegen das auf dem Tisch liegende Schreiben –, „so haben auch wir Briefe über Lutschinin erhalten, einige davon ebenfalls anonym. Über seine Grobheit, seine Ungerechtigkeit und seine Machenschaften. Sie werden sie dort in der Akte finden. Aber darauf seine Schlußfolgerungen aufzubauen ist, wissen Sie, naiv, ich würde sogar sagen scholastisch. Das ist nicht unser Stil. Merken Sie sich das.“ Diesmal gelang es Vitali nicht, den Ton einzuhalten, in dem er das Gespräch begonnen hatte: Schließlich hatte Rogowizyn ihn mit unverhohlenem Spott wie einen dummen Jungen abgekanzelt. „Sie stellen die Dinge ja völlig auf den Kopf!“ rief er aufbrausend aus. „Hier handelt es sich nicht nur um 89
Kindheitserinnerungen! Lesen Sie seinen Brief noch einmal durch. Er ist derselbe geblieben, der er war! Und was das Protokoll angeht … Man sollte dem Papier nicht so blindlings vertrauen!“ „Ach, junger Mann, junger Mann“, meinte Rogowizyn kopfschüttelnd. „Ich soll dem Papier blindlings vertrauen? Dem habe ich schon aufgehört zu vertrauen, als Sie noch gar nicht auf der Welt waren. Sie vertrauen ihm. Dieser Brief …“ Jetzt berührte er mit seinen knochigen Fingern Lutschinins Brief. „Wissen Sie etwa nicht, daß die Menschen oft das eine sagen und schreiben, aber ganz anders denken und handeln? Von der Sorte habe ich in meinem Leben schon genug kennengelernt. Die stehen mir bis hier.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Kehle. „Sogar unter meinen Kollegen gibt’s welche. Ich bin nun fast seit dreißig Jahren Untersuchungsführer. Meine Studienkollegen aber sind schon längst da.“ Rogowizyn wies mit den Augen auf die Decke. „Meinen Sie, ich wäre dümmer als sie? Nein … Auch solche wie Ihren Lutschinin habe ich kennengelernt. Glauben Sie mir, er war eine aufgeblasene Null. Lassen Sie sich da nichts vormachen. Ich habe schon ganz andere als diesen Lutschinin hinter Gitter gebracht. Kamen wie die Pfauen in mein Kabinett stolziert. Na, die habe ich eingeseift! Ja, so was ist vorgekommen. Auch in Moskau habe ich gearbeitet und ebenfalls … alle möglichen Leute eingeseift. Das war ein Zirkus. Mein Gott, war das ein Zirkus!“ Rogowizyn brach plötzlich in ein schepperndes Gelächter aus. Sein kleiner, hagerer Körper bebte, die Falten in seinem Gesicht belebten und verschoben sich mit einem Mal wie in einem Kinderkaleidoskop, und Vitali erblickte ein völlig anderes, von Erinnerungen erhelltes und gleichsam verjüngtes Gesicht. Gleich darauf aber wischte Rogowizyn sich mit dem Daumen hastig die Tränen aus den Augenwinkeln und setzte die Brille auf. Und im Nu veränderte sich sein Gesicht. Die Falten 90
kehrten auf ihren früheren Platz zurück, die Augen hinter den Brillengläsern waren bereits wieder trocken und verkniffen, und Rogowizyn sagte abgehackt und entschieden: „Also, machen Sie sich erst einmal mit dem Fall vertraut. Wenn Sie im Besitz von Fakten sind, sehen wir weiter. Fakten, nicht Erinnerungen und Gefühle. Wenn ich mich von meinen Erinnerungen und Gefühlen leiten ließe, oh, oh, oh, was meinen Sie, wie viele ich dann schon hinter Gitter gebracht hätte. Aber zum Glück dieser Leute besaß ich nicht immer die nötigen Fakten. Und auch Sie besitzen keine. Und Sie werden sie nie besitzen. Umgebracht hat Ihr Lutschinin sich, ist in die Klemme geraten und hat Schluß gemacht. Und das ist auch kein Wunder. Sonst wäre er nämlich vor Gericht gestellt worden. Und die Schande hätte er nicht wieder abwaschen können. Er aber war ehrgeizig, oho, ehrgeizig war er. Diese Typen kennen wir!“ „Sie haben kein Recht, so etwas zu sagen!“ rief Vitali, sich aus seiner Erstarrung lösend, empört aus. „Sie haben kein Recht dazu! In diesem Fall haben Sie doch noch keinen Finger gekrümmt! Wie können Sie da solche Schlüsse ziehen?“ Über Rogowizyns Gesicht huschte ein kurzes Grinsen, und er rieb sich das Kinn. „Ich teile Ihnen nur meine Gedanken mit, Herr Kollege, und verfasse keine Anklageschrift. Nur meine Gedanken!“ „Diese Gedanken sind unzulässig!“ „Solcher Worte sollten Sie sich enthalten, junger Mann. Bleiben Sie in Kontakt mit der Staatsanwaltschaft. Sie sind hergekommen, um die Arbeit Ihrer Kollegen zu kontrollieren? Kontrollieren Sie nur. Wie Sie sehen, hindere ich Sie nicht daran.“ „Ist das vielleicht keine Behinderung? Ich bestehe darauf …“ „Dazu ist es noch zu früh“, unterbrach Rogowizyn ihn trocken und erhob sich. „Ich will Sie nicht länger aufhal91
ten. Habe selbst mehr als genug zu tun.“ Er wies auf den Aktenstapel auf seinem Tisch. „Sie wissen selbst, wie’s bei uns zugeht.“ Vitali erhob sich ebenfalls und erwies sich um fast einen Kopf größer als Rogowizyn. „Gut. Aber unser Streit ist damit noch nicht beendet.“ „Wie Sie wollen. Vorläufig weisen wir Ihnen erst einmal ein Arbeitszimmer zu. Bitte.“ Mit einer Handbewegung forderte er Vitali auf voranzugehen. Im Wartezimmer fragte Rogowizyn einen seiner Mitarbeiter: „Ist Wassin noch auf Dienstreise?“ „Ja.“ „Na, großartig. Kommen Sie“, sagte Rogowizyn, an Vitali gewandt. „Ihr Arbeitsplatz ist gesichert.“ Sie traten in den Korridor hinaus. Vitali trug einen dünnen, grünen Aktendeckel unter dem Arm. In dem kleinen Raum, den sie betraten, standen zwei Tische. An einem von ihnen, am Fenster, saß ein hagerer, blonder junger Mann in kariertem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und schrieb emsig. Ihm gegenüber saß eine füllige braungebrannte Frau in einem bunten Sarafan, die verhört werden sollte. Sie warf den Eintretenden einen raschen, unruhigen Blick zu. Der zweite Tisch war frei. Zu diesem führte Rogowizyn Vitali, während er zu dem jungen Mann im karierten Hemd sagte: „Juri Sergejewitsch, der Genosse wird hier ein wenig arbeiten.“ „Bitte“, brummte der junge Mann, ohne sich von seinem Protokoll zu lösen. Rogowizyn nickte Vitali zu und ging. In der Mappe befanden sich das Revisionsprotokoll – ein dicker, mit zwei Büroklammern zusammengehefteter Stapel eng und in einem Zug beschriebener Blätter –, einige Vernehmungsformulare und Briefe mit darangehefteten Umschlägen. 92
Als erstes sah Vitali die Briefe durch. Drei von ihnen waren ebenso wie die Adressen auf den Umschlägen mit der Maschine geschrieben. Nach der Schrift zu urteilen, handelte es sich um verschiedene Maschinen. Der Adressentext war ebenfalls unterschiedlich, aber Vitali fiel auf, daß im Wort „Staatsanwaltschaft“ überall ein und derselbe orthographische Fehler enthalten war: „Staatsanwaldtschaft“. Alle drei Briefe erwiesen sich als anonym. Dafür standen unter vier von den fünf handgeschriebenen Briefen die Schnörkel von Unterschriften und daneben, in Klammern, die Namen ihrer Verfasser. Dieselben Namen fanden sich auch auf den Vernehmungsformularen wieder. Alle vier Personen hatte Rogowizyn selbst befragt. Die Briefe waren zu verschiedenen Zeiten eingegangen, zwei davon vor fast einem halben Jahr. Hat er etwa ein Dossier angelegt? dachte Vitali feindselig. Er vertiefte sich in die Lektüre der Briefe. Alle enthielten Klagen über Lutschinin und Hinweise auf seine verschiedenen verwerflichen Taten. In den Briefen wurde behauptet, Lutschinin habe Erzeugnisse des Werkes an Privatpersonen verkauft, eine Erfindung aus dem Buch Professor Jelzows gestohlen, einigen Mitarbeitern Geld für nichtexistierende Aufträge ausgezahlt, dem Baranowsker Kombinat einwandfreie, aber als unbrauchbar deklarierte Ausrüstungen geliefert sowie eigenmächtig und ungesetzlich Wohnungen in einem neuen Haus vergeben. Weiterhin wurde behauptet, daß Lutschinin dafür Bestechungsgelder angenommen habe. Die Briefe enthielten Beschwerden über seine Grobheit, seine Entlassungsdrohungen und ungerechtfertigte Degradierungen. Klopfenden Herzens las Vitali Brief auf Brief. Vor Erregung bekam er sogar einen trockenen Mund. Bezog sich das alles wirklich auf Shenja? War tatsächlich irgend etwas daran wahr? 93
Er legte den letzten Brief beiseite und wandte sich den Vernehmungsprotokollen zu. Die Vernehmungen erwiesen sich als äußerst oberflächlich, so als hätte Rogowizyn es sich zum Ziel gesetzt, nicht ins Detail zu gehen und keinerlei Einzelheiten aufzudecken. Er hat eindeutig ein Dossier angelegt, entschied Vitali, um Shenja alles auf einmal unter die Nase reiben zu können. Vitali beschloß, sich noch einmal den Briefen zuzuwenden. Indessen ging das Verhör am Nebentisch zu Ende. Vorsichtig die Tür hinter sich schließend, verließ die Frau den Raum. Der hochgewachsene junge Mann im karierten Hemd reckte sich und fragte: „Sie kommen aus Moskau? Machen wir uns bekannt: Juri Saweljew.“ Dann fragte er zwinkernd: „Na, wie gefällt Ihnen unser Alter?“ „Wir hatten Meinungsverschiedenheiten“, erwiderte Vitali grinsend. „Das ist unvermeidlich.“ „Was kann man dagegen tun? Geben Sie mir einen Rat.“ „Kennen Sie Kutschanski?“ „Wer ist das?“ „Der Gehilfe des Staatsanwalts. Mit Vor- und Vatersnamen heißt er Andrej Michailowitsch. Das ist ein Kerl.“ Er hob den Daumen. „Solange Alexander Iwanowitsch nicht da ist, vertritt er ihn.“ Saweljew kam hinter seinem Tisch hervor, ließ schwungvoll seine langen Arme kreisen, machte dann ein paar Kniebeugen und erklärte schwer atmend: „Bei dieser Arbeit holt man sich noch Hämorrhoiden und eine Lähmung der rechten Hand. Man pinselt und pinselt …“ Er blickte auf die Uhr. „Oho! Ich muß mich sputen!“ Eilig verstaute Saweljew seine Papiere in einem alten Safe, griff nach dem über der Sessellehne hängenden 94
Jackett und verließ, Vitali zum Abschied noch einmal zuwinkend, den Raum. Kutschanski. Muß ich mir merken, sagte Vitali zu sich selbst. Wir sind noch lange nicht fertig miteinander, verehrter Pawel Iossifowitsch. Lassen Sie sich das gesagt sein. Vorläufig aber steht’s eins zu null für Sie. Wieder beugte Vitali sich über die vor ihm liegenden Briefe. Und allmählich gelangte er dabei zu einer äußerst interessanten Entdeckung. Als Igor Otkalenko morgens in die Stadtabteilung kam, bat er Tomilin, ihm den Stadtplan zu zeigen. „Sehen wir uns mal die einzelnen Strecken an“, schlug er vor, als Tomilin eine Papierrolle vor ihm ausbreitete, deren Ecken er mit Tintenfaß, Aschenbecher und Ellbogen beschwerte. „Zeig mir mal, wo sich unser Hotel und Lutschinins Werk befinden und wo Bulawkin wohnt.“ Beide beugten sich über den Plan, und Tomilin fuhr mit dem Finger darüber. „Tjaaa“, meinte Igor nachdenklich. „Wenn er zu uns gewollt hätte, wäre er durch die Krassnaja – hier entlang – gegangen. Und zum Werk durch die Leninstraße.“ „Genau“, bestätigte Tomilin. „In die Retschnaja konnte er dabei kaum geraten.“ „Und doch ist er dorthin geraten. Hat er da Freunde oder Bekannte?“ „Keinen einzigen. Das habe ich zusammen mit Wolow überprüft. Und niemand hat ihn an jenem Abend gesehen.“ „Irgendeiner wird ihn schon gesehen haben. Wo wohnt eigentlich diese Lara? Man müßte sie mal herbestellen.“ „Schon geschehen. Sie muß bald hier sein. Zu Hause ist sie hier draußen, in Peski.“ „Mit Ihnen, Nikolai, ist die Arbeit ein Vergnügen“, bemerkte Igor lächelnd. „Und wo ist die Retschnaja? 95
Aha! Schon gefunden. Möchte bloß mal wissen, was er da gesucht hat. Schließlich war er danach noch im Werk und hat sich den Wagen geholt. Wie ist er von der Retschnaja dahin gekommen? Wahrscheinlich so?“ „Nein.“ Tomilin schüttelte den Kopf. „Dieser Plan ist schon ein bißchen veraltet. Hier gibt es jetzt eine neue Straße. Ich werde sie mal einzeichnen.“ Er zog vorsichtig zwei Bleistiftstriche. „So etwa.“ Igor studierte aufmerksam den Plan. Dann meinte er zweifelnd: „Vielleicht hat gar nicht Bulawkin den Wagen gestohlen?“ „Doch. Und irgend jemand wird ihn auch gesehen haben“, sagte Tomilin. „Es kann doch nicht sein, daß niemand etwas bemerkt hat. Wolow sucht jetzt mit den Jungs die Strecke ab.“ Eine Zeitlang brüteten sie noch über dem Plan. Plötzlich läutete das Telefon. Der Diensthabende teilte mit, daß Lara Koshewa eingetroffen sei und er sie zu ihnen nach oben geschickt habe. Eine Minute später wurde zaghaft an die Tür geklopft. Lara Koshewa war ein schmächtiges Mädchen mit großen blauen Augen und einer struppigen, goldblonden, durch ein dunkelblaues Band zusammengerafften Mähne. Das kurze Röckchen ließ ihre braungebrannten Beine sehen. Die abgetragenen Sandaletten hatten ihre ursprünglich weiße Farbe längst eingebüßt, und die vom Staub eingefressenen schwarzen Streifen gaben ihnen das Aussehen einer Birkenrinde. Verlegen knetete das Mädchen mit seinen zarten Fingern eine weiße Handtasche mit langem Riemen. „Kommen Sie nur herein“, forderte Igor sie auf, während er unauffällig sein hinten aus der Hose gerutschtes Hemd zurechtschob. Lara trat an den Tisch und ließ sich, die Handtasche mit beiden Händen gegen ihre Knie pressend, auf der Stuhlkante nieder. 96
Igor setzte sich ihr gegenüber, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und sagte: „Tja, Lara, wir suchen Sergej. Und Sie müssen uns dabei helfen.“ „Warum suchen Sie ihn denn?“ fragte das Mädchen erschrocken. „Was heißt, warum?“ Igor war verblüfft. „Schließlich ist er verschwunden.“ „Er ist nicht verschwunden. Er ist dienstlich unterwegs.“ „Dienstlich?“ Igor horchte auf und warf Tomilin einen raschen Blick zu, als wollte er sich vergewissern, ob dieser das gehört hatte. Dann blickte er wieder das Mädchen an. „Woher wissen Sie das? Sie sind doch selbst zu Anfissa Gordejewna gelaufen und haben nach ihm gefragt?“ „Das war gestern mittag. Abends aber habe ich einen Zettel von ihm bekommen. Er ist weggefahren.“ „Sieh mal an!“ Wieder wandte Igor sich Tomilin zu. „Er hat in der ganzen Stadt Zettel verteilt.“ „Hat er geschrieben, wohin er gefahren ist?“ fragte Tomilin streng. „Nein. Er hat nur geschrieben, daß er eine Dienstreise macht.“ „Und wann will er zurück sein?“ „Na, anscheinend heute.“ „Warum anscheinend?“ erkundigte sich Igor. „Weil’s ziemlich unleserlich geschrieben war, darum. Aber wenn er’s versprochen hat, wird er auch kommen. Auf Sergej ist nämlich Verlaß.“ Das Mädchen hatte sich offensichtlich an die fremde Umgebung gewöhnt und gab bereits ganz kesse Antworten. „Folgendes, Lara“, sagte Igor entschieden. „Wir müssen einen Blick auf diesen Zettel werfen. Haben Sie ihn bei sich?“ „Den hat Papa mir weggenommen“, sagte das Mädchen leise und senkte den Kopf. 97
„Wer hat Ihnen den Zettel gebracht?“ „Unsere Nachbarin. Sergej kam am Abend vorbei, aber ich war nicht zu Hause. Darum hat er ihn bei ihr gelassen. Am nächsten Morgen bin ich früh zur Arbeit gelaufen. Darum hat sie ihn mir erst am Abend gegeben.“ Die nächste Frage stellte Tomilin. „Wer hat ihn denn in der Retschnaja gesehen?“ „Papa hat ihn da gesehen.“ „Aha. Dann müssen wir uns also mit ihm unterhalten.“ Das Mädchen schlug die Hände zusammen. „Bloß nicht! Er wird wieder mit mir schimpfen.“ „Warum denn?“ „Na, weil …“ Sie senkte die Augen und sagte kaum hörbar: „Weil ich mich nicht mit Sergej treffen darf.“ Igor schmunzelte. „Darüber wollen wir auch gar nicht mit ihm reden. Wo ist er jetzt, auf seiner Arbeitsstelle?“ „Nein, zu Hause. Er bummelt Überstunden ab.“ Igor stand entschlossen auf. „Fahren wir. Wir haben nicht viel Zeit.“ Zu dritt traten sie auf die Straße. Zum Glück war der braune Pobeda gerade frei. Die Fahrt dauerte ziemlich lange, denn die Koshews wohnten in einer Arbeitersiedlung auf der anderen Seite der Bahnlinie. Nachdem sie den Bahnübergang endlich passiert hatten, fuhren sie durch zwei oder drei menschenleere Straßen mit welken Grasrändern und vereinzelten, anscheinend erst vor kurzem gepflanzten kleinen Bäumen, die in der Hitze traurig die Köpfe hängenließen, und hielten vor einem weitgeöffneten Tor. In der Tiefe des Hofes sah man ein langgestrecktes, zweistöckiges Holzhaus, dessen gelber Putz stellenweise abgebröckelt war und das darunterliegende Rohrgeflecht entblößte. Auf einer Bank neben dem Tor saßen zwei ältere 98
Frauen mit weißen Kopftüchern. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und musterten neugierig den haltenden Wagen. Ein Stück von ihnen entfernt saß ein untersetzter, glatzköpfiger Mann in einem Turnhemd. Ein Bein über das andere geschlagen und die dicken, behaarten Arme über der Brust gekreuzt, warf auch er den Ankömmlingen einen scheelen Blick zu. „Da ist Papa“, sagte Lara ängstlich und wies auf den Mann im Turnhemd. Igor stieg aus und ging auf den Mann zu. „Guten Tag, Gerassim Philippowitsch“, sagte er, als er ihn erreichte. „Wir würden uns gern einmal mit Ihnen unterhalten.“ „Was sind Sie denn für welche?“ fragte er träge mit krächzender Baßstimme, ohne sich von der Stelle zu rühren. Anscheinend hatte er gerade ein Nickerchen gemacht. „Wir sollten uns lieber im Haus unterhalten“, erwiderte Igor mit einem Blick auf die in der Nähe sitzenden Frauen, die ihrem Gespräch mit unverhohlener Neugier lauschten. „Da haben Sie recht.“ Der Mann nickte und erhob sich mühsam von der Bank. „Die hätte man als Horchposten an der Front einsetzen können. Die reinsten Empfangsantennen, diese Weiber.“ Der Mann ging mit finsterer Miene quer über den Hof auf das Haus zu. Die Ankömmlinge folgten ihm. Gerassim Philippowitsch war ein unmäßig großer und dicker Mann. Als sie die Treppe zum zweiten Stock hinaufstiegen, ließen die Stufen unter ihm ein unangenehmes Knarren hören. „Diese verdammte Treppe!“ brummte er, während er die Tür aufschloß. „Bitte.“ Er ließ die drei an sich vorbeigehen, ohne seine Tochter auch nur eines Blickes zu würdigen. Über einen langen, dunklen, mit Kinderwagen, aller99
lei Schüsseln und Kisten vollgestellten Korridor gelangten sie in ein sonnenüberflutetes, stickiges Zimmer. Durch die offene Tür erblickte man ein zweites Zimmer mit einem großen Ehebett und einem Spiegelschrank. Nachdem sich alle an dem Tisch unter dem großen orangefarbenen Lampenschirm niedergelassen hatten, trat für eine Sekunde Schweigen ein. Dann stellte Igor sich vor und erläuterte den Zweck ihres Besuchs. Gerassim Philippowitschs Miene verfinsterte sich, und während er kräftig seine großen, rauhen Handflächen rieb, brummte er, seiner Tochter nach wie vor keinen Blick schenkend: „Von diesem Halunken will ich, Bürger Mitarbeiter, nichts wissen. Kurz und gut, er hat dem Mädel den Kopf verdreht. Dabei müßte sie lernen, statt bummeln zu gehen und im Gebüsch herumzuwispern. Bis zur Sünde ist’s da nicht weit …“ „Papa …“, piepste Lara mit dünnem Stimmchen und senkte den Kopf. „Was heißt ‚Papa‘?“ brummte Gerassim Philippowitsch drohend. „Das paßt dir wohl nicht? Und mir paßt’s vielleicht nicht, daß du dich von morgens bis abends vor dem Spiegel drehst. Jetzt befaßt sich, kurz und gut, die Miliz mit deinem Kavalier. Und das ist richtig so! Wie oft habe ich dir gesagt, daß er ein Nichts ist. Ein Nichts!“ Dann wandte er sich Igor zu und sagte bereits in etwas leiserem Ton: „Den Zettel aber, Bürger Mitarbeiter, habe ich ins Klo geschmissen. Kurz und gut, wohin er auch gehört.“ „Ist Ihnen etwas Schlechtes über den jungen Mann zu Ohren gekommen, Gerassim Philippowitsch?“ fragte Igor vorsichtig. „Da braucht mir gar nicht erst was zu Ohren zu kommen. Ich sehe doch mit eigenen Augen, daß er sie auf die falsche Bahn bringt. Einmal habe ich ihn mir schon vorgeknöpft. Habe ihm ins Gewissen geredet, das Mädel in Ruhe zu lassen. Da kommt der mir mit Gefühlen. Ich 100
sage ihm: ‚Gefühle hin, Gefühle her, das Mädel ist noch keine siebzehn.‘ Na, stimmt schon, nach der achten Klasse ist sie arbeiten gegangen. Aber ich habe sie zur Abendschule gescheucht. Wo gibt’s denn so was, daß man mit sechzehn Techtelmechtel anfängt?“ „Romeo und Julia waren erst vierzehn“, warf Tomilin überraschend ein. „Und was war das für eine Liebe!“ „Was?“ fragte Gerassim Philippowitsch verständnislos. „Ich rede von einem Werk Shakespeares.“ „Ich bin aber kein Shakespeare, Bürger Mitarbeiter“, sagte Gerassim Philippowitsch aufbrausend. „Und mein Werk ist das hier.“ Er stieß die still gewordene Lara mit dem Finger an. „Aus diesem Werk soll noch mal was werden.“ „Gut, Gerassim Philippowitsch“, schaltete Igor sich ein. „Wir wollten Sie noch nach etwas anderem fragen. An dem Abend, an dem Sergej den Zettel brachte, haben Sie ihn in der Retschnajastraße gesehen?“ „Ja. Da trieb der Halunke sich ’rum.“ „Mit wem war er zusammen?“ „Weiß der Teufel, ’s war schon dunkel.“ „Haben Sie bemerkt, wohin die beiden gegangen sind?“ fragte Igor wieder. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Bürger Mitarbeiter.“ Gerassim Philippowitsch schüttelte den Kopf. „Kurz und gut, ich bin froh, wenn ich den Kerl nicht sehe. Die beiden waren auch ein ganzes Stück weg, als sie abbogen.“ „Was heißt: als sie abbogen? Wohin denn?“ „Na, in einen Toreingang. Wohin sonst?“ „Und in welchen?“ „Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Hab’, kurz und gut, nicht drauf geachtet.“ Igor und Tomilin verabschiedeten sich. Gerassim Philippowitsch brachte sie bis zur Wohnungstür und meinte zum Abschied brummend: „Hof101
fentlich finden Sie ihn. Der Kerl hat Dreck am Stecken. Das ist, kurz und gut, so sicher wie das Amen in der Kirche.“ Die Nachbarin zu finden bereitete keine große Mühe. Schon am Bahnübergang hatte Lara ihnen erklärt, wo diese wohnte. Die Nachbarin teilte ihnen ein wichtiges Detail mit: Bulawkin war, wie sich herausstellte, mit dem Wagen vorgefahren. Und sie konnte auch die genaue Zeit angeben: halb elf. Da war der Sohn mit der Schwiegertochter gerade aus dem Kino gekommen. Anschließend fuhren Igor und Tomilin ins Werk. Sie mußten noch einmal die Umstände klären, unter denen Bulawkin den Wagen gestohlen hatte. „Er hatte es also gar nicht eilig, wenn er erst noch den Zettel wegbrachte“, stellte Tomilin grimmig fest. „Vielleicht mußte er sowieso dort vorbei“, widersprach Igor. „Wenn wir zurück sind, werden wir uns den Stadtplan noch einmal genauer ansehen.“ Ihm war da ein Gedanke gekommen, dem man nachgehen mußte. Wieder warteten sie lange an der Schranke. „Ach, einen halben Tag hat uns das gekostet“, meinte Igor seufzend. Endlich langten sie im Werk an. Rewenko war durch das Vorgefallene ernstlich beunruhigt. „Stellen Sie sich das nur mal vor!“ sagte er aufgebracht, während sie zu dritt zur alten Werkhalle hinübergingen. „Ich finde einfach keine Worte! Er machte doch einen ganz ordentlichen Eindruck, Sie haben ihn ja gesehen. Und jetzt so was. Dazu in einem solchen Moment! Er sollte am nächsten Tag, das heißt gestern, eine Dienstreise antreten. Frühmorgens. Ganz dringend!“ „Eine Dienstreise?“ fragte der hinter den beiden gehende Tomilin. „Na ja. Zum Tschechowsker Werk. Von da sollte er bis zum Abend mit Bauplatten zurück sein. Der dortige Fah102
rer ist erkrankt. Da hat Bulawkin uns was Schönes eingebrockt. Und der Wagen! Ohne den sind wir völlig aufgeschmissen!“ Rewenko knöpfte sein Sakko über dem sich durch das weiße Hemd deutlich abzeichnenden Bauch bald auf, bald zu, und immer wieder fuhr er sich mit der Hand durch das helle, vom Wind zerzauste Lockenhaar. In seinem Gesicht malte sich aufrichtige Verzweiflung. Die Hände in den Taschen und den Blick zu Boden gesenkt, schritt Igor schweigend aus. Seine Augenbrauen waren finster zusammengezogen, und das schwere Kinn schob sich drohend vor. Tomilin ging ein Stück hinter den beiden. Sie ließen das Hallengebäude hinter sich und gelangten an den Zaun. Die in den Zaun geschlagene Bresche war bereits wieder geschlossen. Der Erdboden und das Gras ringsum waren mit frischen Sägespänen und Holzsplittern übersät und von vielen Füßen zertreten. Sosehr Igor sich auch anstrengte, konnte er doch keine Reifenspuren mehr entdecken. Übrigens hatte Wolow diese am Morgen noch gesehen. Es war ohnedies klar, daß der Wagen durch die Bresche im Zaun das Werkgelände verlassen hatte. In Gedanken stellte Igor sich den Weg von dem Schutzdach neben dem Gebäude der Werkleitung bis zu dieser Stelle vor. Ja, das war ein Kinderspiel, und der Wächter in seiner Bude am Tor hatte vielleicht nicht einmal das Motorengeräusch gehört. Dieser Bulawkin! Als sie zur Stadtabteilung zurückgekehrt waren, sagte Igor zu Tomilin: „Hol noch mal den Stadtplan ’raus.“ Von neuem vertieften sie sich in das Gewirr der Straßen und Gassen. „Der Diebstahl so eines Wagens ist doch kein Spaß“, meinte Igor. „Damit muß man so schnell wie möglich aus der Stadt verschwinden. Bulawkin aber fährt zu seinem Mädchen, um sich zu verabschieden.“ 103
„Er hat’s also nicht eilig gehabt“, warf Tomilin finster ein. „Na, hör mal! Er muß es einfach eilig gehabt haben. Sieh mal her.“ Igor fuhr mit dem Finger über den Plan. „Hier verläuft der direkte Weg zu dieser Chaussee. Er brauchte nur einen kleinen Umweg zu machen.“ Tomilin schüttelte den Kopf. „Wir müssen auf allen Straßen nach ihm suchen.“ „Die Fahndung läuft überall, das ist klar. Aber wir selbst … Weißt du was? Laß uns noch mal zu der Schranke fahren. Es war spät am Abend und wenig Verkehr. Vielleicht ist der Gasik dort jemandem aufgefallen? Besonders wenn er hin- und zurückgefahren ist. Von Peski aus führt die Straße nur zum Bahnübergang oder zur Chaussee. Fahren wir.“ Nach zwei Stunden kehrten sie müde, aber zufrieden zurück. Igor ließ sich auf die Couch fallen und sagte: „Na, siehst du? War doch was dran.“ Der Gasik des Werkes hatte an jenem Abend tatsächlich den Bahnübergang überquert, war aber nicht mehr zurückgekehrt. Die Diensthabende kannte diesen Wagen gut, wie sich herausstellte. Nun bestand kein Zweifel mehr: Bulawkin hatte den Weg zur Swirsker Chaussee eingeschlagen.
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5. KAPITEL
Verschlungene Wege Vitali blickte zufrieden auf seine Notizen. Na, bitte. Nicht übel, gar nicht übel! Wenn es gelänge, all diese Momente zu klären, würde vieles verständlich werden. Auf einem Stück Papier hatte er notiert: „1. Auf welchen Schreibmaschinen wurden die drei anonymen Briefe getippt? 2. Sie wurden von einer Person geschrieben: Alle drei Briefe enthalten dieselben orthographischen Fehler. Wer ist diese Person? 3. Der vierte anonyme Brief wurde mit der Hand geschrieben – eine bekannte Handschrift, anscheinend die Bulawkins! 4. Die unterschriebenen Briefe enthalten nur Beschwerden, die anonymen Briefe dagegen Anschuldigungen.“ Was kann man zu Punkt eins sagen? Vorläufig noch nichts. Bisher ist keine der Schreibmaschinen bekannt. Jetzt zu Punkt zwei. Die Briefe enthalten ganz konkrete Anschuldigungen gegen Lutschinin. Sogar Zahlen werden genannt. Zum Beispiel der Bilanzwert der angeblich schrottreifen Ausrüstungen, die dem Baranowsker Kombinat übergeben wurden. Die Briefe stammen also von einem Menschen, der sich in den Angelegenheiten des Werkes gut auskannte und Zugang zu den Dokumenten hatte. Außerdem wurden sie einen oder zwei Monate vor der Revision geschrieben. Und schließlich Punkt drei. Äußerst interessant ist 105
vor allem der Stil des Briefes. Der anonyme Brief an Lutschinin ist in einer sehr vulgären Sprache geschrieben worden. Hier aber handelt es sich um den sachlichen Stil eines durchaus gebildeten Menschen. Jemand scheint Bulawkin den Brief diktiert zu haben. Zweitens werden hier Fakten angeführt, von denen Bulawkin selbst kaum etwas wissen konnte. Beispielsweise die ungesetzliche Auszahlung von Geldern für gefälschte Arbeitsaufträge. Wie kann er davon erfahren haben? Zufällig? Hat jemand in seinem Beisein darüber geredet? Kaum. Geschrieben aber wurde der Brief von Bulawkin. An diese Handschrift erinnerte Vitali sich gut. Der Experte wird das bestätigen. Einen Moment! Er hat doch, wie es scheint, den anonymen Brief an Lutschinin bei sich. Vitali schlug eine der Mappen auf dem Tisch auf und blätterte in den darin liegenden Papieren. Er zog zwei mit der Maschine geschriebene Bogen heraus. Das war Rewenkos Erklärung mit seinem Protest gegen einige Punkte des Revisionsprotokolls. Aufmerksam betrachtete Vitali die Schrift auf diesen beiden Bogen und holte dann die anonymen Briefe aus der Akte. Tatsächlich! Einer von ihnen war auf derselben Maschine getippt worden. Natürlich nicht von Rewenko. Wenn auch nur aus dem Grunde, daß Rewenko keine orthographischen Fehler hineingebracht hätte. Und überhaupt … Aber es war dieselbe Maschine! Vitali dachte an die griesgrämige Sekretärin in Rewenkos Vorzimmer. Wahrscheinlich hat auch sie die Briefe nicht geschrieben. Obwohl man auch das überprüfen muß. Wem aber hat sie die Schreibmaschine zur Verfügung gestellt? Eins jedenfalls ist klar: Der Verfasser des anonymen Briefes arbeitet im Werk. Wo aber war das an Lutschinin gerichtete anonyme Schreiben? In der Mappe befand es sich nicht. Wahrscheinlich hatte Igor es an sich genommen. Vitali blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, etwas zu essen. 106
Er nahm den Hörer ab und rief in der Stadtabteilung an. Der Diensthabende teilte ihm mit, daß Otkalenko und Tomilin irgendwohin gefahren seien und in eineinhalb Stunden zurück sein würden. Allein essen zu gehen, hatte Vitali keine Lust, und er beschloß, einen kleinen Stadtbummel zu unternehmen. Das anstrengende Gespräch mit Rogowizyn, das Kramen in den Papieren und schließlich das Sitzen am Schreibtisch hatten ihn ermüdet. Für eine solche Arbeit war er einfach nicht geschaffen. Vitali zog sein Sakko an und räumte die Papiere vom Tisch. Nachdem er der Sekretärin die Akten übergeben und angekündigt hatte, daß diese noch gebraucht würden, trat Vitali erleichtert auf die Straße. Gegen das grelle Sonnenlicht blinzelnd, hielt er einen Augenblick inne und überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte. Ins Hotel gehen mochte er nicht, und für die Stadtabteilung war es zu früh. Wohin also? Zum Fluß? Von weitem hatte er ihn ja schon gesehen. Ein beachtlicher Fluß. Dort befand sich auch die bewußte Brücke … Vitali runzelte die Stirn. Er mußte sich die Brücke ansehen. Sie hing doch mit diesem Fall zusammen. Außerdem, zum Teufel, stand es in seinem Plan. Vitali blickte sich um. Der Fluß lag wahrscheinlich in jener Richtung. Die Straße erwies sich als ungewöhnlich lang und sanft ansteigend. Zu beiden Seiten der Straße standen alte, zweistöckige Steinhäuser mit tiefen, dunklen Torbogen und einem endlosen Schilderwald an den Fassaden. Geschäfte wechselten mit Büros und Institutionen ab. Man hatte den Eindruck, als wären sämtliche Organisationen der Stadt in dieser Straße untergebracht. Allmählich wurden die zweistöckigen steinernen Gebäude von einstöckigen Holzhäusern abgelöst. An den Bürgersteigen zogen sich Vorgärten mit Zäunen entlang, 107
die Aushängeschilder verschwanden. Die asphaltierte Fahrbahn ging in Kopfsteinpflaster über. Das Sakko über die Schulter geworfen, schritt Vitali, sich neugierig nach allen Seiten umschauend, flott aus. Die Straße verlief jetzt bergab. Die seltener werdenden Häuser traten kaum aus dem Grün der Gärten hervor, und die Straße nahm zunehmend dörflichen Charakter an. Unwillkürlich beschleunigte Vitali seinen Schritt. Bald lag der Fluß vor ihm, und dahinter erstreckten sich bis zum Horizont Wiesen, Birkenhaine und ein dunkler Waldstreifen. Im blauen Himmel hoch über der Wiese schwebten zwei Habichte. Die Straße endete unversehens. An mehreren Stellen führten Trampelpfade über den gelbgrünen, mit Gras bewachsenen Hang zu einer dicht am Flußufer stehenden Reihe mächtiger Weiden und dichten Buschwerks hinab. Vitali blickte sich um. Linker Hand, wo die Stadt zurückgeblieben war, schwang sich eine dunkle, massive Eisenbahnbrücke über den Fluß. Rechts erkannte man hinter den Bäumen eine breite Holzbrücke, über die gerade ein Lastwagen fuhr. Vitali folgte dem Pfad, der sich dicht am Flußufer durch Büsche und Bäume schlängelte. Er gelangte überraschend schnell zur Brücke. Unter ihren schwarzen Bohlen plätscherte das Wasser. Ein öde daliegender gelber Weg lief über das Feld auf sie zu. Auf der Brücke erblickte Vitali eine einsame Gestalt. Aufs Geländer gestützt, starrte eine Frau reglos in die Ferne. Unwillkürlich verhielt Vitali neben dem letzten Baum, dessen dicken, knorrigen Stamm er mit einem Arm umfaßte. Das Bild, das sich ihm hier plötzlich bot, verblüffte ihn durch seine seltsame, stumme Traurigkeit: die Brü108
cke, der öde Weg, die Frauengestalt, das Rascheln des Laubes über seinem Kopf und das Plätschern des Wassers … Nach einer Weile begab sich Vitali zur Brücke. Die Frau kehrte ihm den Rücken zu. Erst als er die runden, unebenen Brückenbalken betrat, wandte sie sich um. Vitali erkannte sie sofort wieder, obwohl sie jetzt ein einfaches, dunkles, ärmelloses Kleid, eine dünne, feuerrote Korallenkette um den Hals und schwarze Schuhe an den braungebrannten Füßen trug. In der Hand hielt sie eine Aktentasche. Das kurze, in dunklen Kupfertönen schimmernde Haar war leicht vom Wind zerzaust, und die großen, ausdrucksvollen Augen in dem brünetten Gesicht blickten Vitali zerstreut und schwermütig an. Unentschlossen blieb Vitali ein paar Schritte vor der Frau stehen und murmelte leicht verlegen, wie es sonst nicht seine Art war: „Guten Tag …“ Die Frau zuckte kaum merklich die Achseln. „Ich kenne Sie nicht.“ „Wir sind uns im Werk begegnet“, sagte er. „Vor Rewenkos Arbeitszimmer. Erinnern Sie sich nicht?“ „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Ich komme aus Moskau“, fügte Vitali hinzu, als wollte er sich rechtfertigen. „Aus Moskau?“ Sie drehte sich wieder um, und in ihren dunklen Augen blitzte Unruhe auf. „Ich habe davon gehört. Warum sind Sie hier?“ „Im Fall Lutschinin.“ „Um seine … Verbrechen aufzudecken?“ Sie brachte dieses Wort kaum über die Lippen. „Seinen Tod“, erklärte Vitali leise. „Seinen Tod …“, flüsterte die Frau. „Sie haben ihn nicht gekannt.“ „Ich habe ihn gut gekannt“, widersprach Vitali, sich ebenfalls aufs Geländer stützend. „Er war zehn Jahre lang mein Schulfreund.“ 109
„Shenja?“ „Ja, Shenja“, bestätigte Vitali nachdenklich, während er das rasche, funkelnde Strömen in der Tiefe beobachtete, und fügte dumpf, mit der Faust auf den Balken schlagend, hinzu: „Ich glaube es nicht … Ich glaube nicht, daß er dazu imstande war.“ „Ich hätte es auch … nicht geglaubt.“ „Nein?“ Vitali hob rasch den Kopf und blickte die Frau an. In ihren Augen standen Tränen, und sie biß sich auf die Lippen, um ihre Gefühle zu verbergen. „Aber Sie sehen ja …“ Die Frau verstummte für einen Augenblick. „Er hat es getan … Obwohl er so stark und mutig war …“ Ihre Stimme versagte wieder. „Wie konnte er nur?“ Sie wandte sich hastig ab und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ihre Schultern zuckten. Sie weint, dachte Vitali erschüttert. Sie weint … Sollte sie …? „Ich verstehe Sie“, sagte er mit bebender Stimme. „Ich war sein Freund … Ich kann das verstehen.“ Sie antwortete nicht, wischte sich nur die Tränen ab und starrte auf den Fluß hinab. „Aber sagen Sie mir“, fuhr Vitali fort, „wie konnte das geschehen? Ich hatte ohnedies vor, mich mit Ihnen zu unterhalten und Ihnen diese Frage zu stellen.“ Zur Antwort zuckte sie nur traurig und ratlos mit den Schultern. „Ich habe das Revisionsprotokoll gelesen“, fuhr Vitali nach einem kurzen Augenblick des Schweigens fort, „und die anonymen Briefe an die Staatsanwaltschaft.“ „Das sind alles Lügen!“ entgegnete sie leidenschaftlich. „Schmutzige, gemeine Lügen!“ Zwei Frauen sagen, daß es Lügen sind, dachte Vitali. Zwei Frauen, die ihn geliebt haben. „Das muß erst bewiesen werden“, sagte er voller Bitterkeit. „Und das ist alles andere als einfach.“ „Wenn Sie sein Freund sind, ist es Ihre Pflicht!“ 110
Sie drehte sich um und blickte ihn streng, ja fast zornig an. Wie schön sie ist! dachte Vitali unwillkürlich. Shenja, Shenja, was hast du angerichtet? „Ich werde tun, was ich kann, glauben Sie mir“, sagte er. „Aber Sie müssen mir dabei helfen.“ „Ich? Wie könnte ich Ihnen helfen?“ fragte sie beunruhigt. „Das werde ich Ihnen gleich sagen. Aber wir sollten uns erst einmal bekannt machen. Ich bin Vitali Lossew. Und Sie?“ „Tanja.“ Sie reichte ihm ihre kleine, gebräunte Hand. „Filatowa.“ „Und jetzt sagen Sie mir folgendes“, fuhr Vitali fort. „Sie haben doch mit Shenja zusammen am Projekt für das Baranowsker Kombinat gearbeitet?“ „Ja.“ Ihre Lippen fingen wieder an zu zucken. „Ich war für den technologischen Teil verantwortlich. Ich bin Technologin.“ „Wer gehörte noch zu der Brigade?“ „Pjotr Andrejewitsch Tscherkassow als Mechaniker. Er ist ein begabter und sehr erfahrener Ingenieur.“ Vitali erinnerte sich an den hageren, glatzköpfigen Mann mit der Brille und der ledernen Kollegmappe unter dem Arm, der damals zusammen mit Tanja im Vorzimmer gestanden hatte. „Was ist er für ein Mensch?“ „Er? – Na, ich sagte Ihnen doch …“ „Sie haben von seinen fachlichen Qualitäten gesprochen. Aber ich möchte wissen, was für ein Mensch er ist.“ Vitali stellte seine Fragen betont sachlich, energisch und trocken, damit sie nicht wieder in Tränen ausbrach. „Was für ein Mensch?“ Sie zögerte mit der Antwort und überlegte. „Höflich. Vorsichtig. Nun, vielleicht auch boshaft. Ja, ja. Sehr höflich und sehr boshaft. Überhaupt 111
ist er ein bißchen wunderlich.“ Sie lächelte schwach. „Er sammelt alle möglichen Sprüche und Redewendungen. Hin und wieder beglückt er mich mit einer seiner Spruchweisheiten. Heute zum Beispiel …“ Sie öffnete ihre Aktentasche, holte ein weißes Papierquadrat hervor und reichte es Vitali. „Er tippt sie sogar eigenhändig ab. Hier, sehen Sie sich das an.“ Vitali nahm ihr den Zettel ab und las: „Sprichwort der Einwohner Madagaskars. Handle wie ein Chamäleon: Wenn du nach vorn siehst, vergiß nicht zurückzuschauen, und sei immer auf der Hut. (Anmerkung: Das Chamäleon hat einzigartige Augen, die unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen blicken können.)“ „Ein interessantes Sprichwort“, sagte Vitali grinsend und bat Tanja: „Darf ich das vorläufig behalten?“ Mehr als das Sprichwort selbst interessierte ihn die Schrift, in der es getippt war. „Bitte“, meinte Tanja mit einem gleichgültigen Schulterzucken. „Sie können es überhaupt behalten.“ „Jetzt möchte ich Sie noch nach einem anderen Menschen fragen“, sagte Vitali, froh darüber, daß sie sich beruhigt hatte, daß ihre Stimme nicht mehr zitterte und in ihren schönen, strengen Augen keine Tränen mehr standen. „Nach wem denn?“ „Nach Ihrem Kraftfahrer, Sergej Bulawkin.“ „Der soll doch verschwunden sein“, meinte sie erstaunt. „Ja. Er wird gesucht. Also, erzählen Sie mir etwas von ihm.“ „Was soll ich Ihnen da erzählen?“ Sie dachte kurz nach. „Meiner Ansicht nach ist er ein oberflächlicher, hohler Mensch. Aber Shenja mochte ihn. Shenja mochte viele Leute. Dann sah er über ihre Fehler hinweg. Er …“ Von neuem füllten ihre Augen sich mit Tränen. „Schon gut“, sagte Vitali besänftigend. „Schon gut. Ich möchte Sie noch etwas anderes fragen.“ 112
„Fragen Sie nur“, erwiderte sie dumpf, ohne sich umzudrehen, und wiederholte mit Nachdruck: „Na, fragen Sie schon.“ „Gut.“ Vitali zögerte ein wenig, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. „Haben Sie mal davon gehört, daß man Shenja bedroht hat?“ Sie wandte sich so heftig um, daß Vitali zusammenfuhr. „Doch“, flüsterte sie erschrocken. „Ja, ja, ich habe davon gehört. Und zwar von … Mein Gott, wer hat mir davon erzählt? Ach ja! Iwan Spiridonowitsch. Also …“ „Warten Sie“, unterbrach Vitali sie. „Wer ist Iwan Spiridonowitsch?“ „Simakow. Ein großartiger Mensch! Er ist Schlosserbrigadier. Also. Nossow sagte einmal zu ihm … In angetrunkenem Zustand … Nossow sagte, daß Shenja ihn in den Dreck treten will, daß er das aber eher selbst tun wird.“ „So hat er sich ausgedrückt?“ fragte Vitali verblüfft. „In den Dreck treten?“ Schließlich kannte er den anonymen Brief, den Lutschinin erhalten hatte, so gut wie auswendig. „Ja, ja, genau so“, bestätigte Tanja Filatowa erregt. „Ich habe mir diese Worte gut gemerkt. Er hat es gewagt, so etwas zu sagen.“ Ihre Augen blitzten zornig. „Nossow also …“, flüsterte Vitali. „Ein gewisser Nossow taucht auf …“ „Oh, jetzt muß ich aber gehen!“ rief Tanja Filatowa nach einem Blick auf ihre Uhr aus. „Die Mittagspause ist längst vorbei.“ „Kommen Sie, ich begleite Sie in die Stadt zurück.“ Vitali ließ das Geländer los. „Für mich wird’s auch Zeit.“ Wie auf Verabredung warfen beide einen letzten, langen Blick auf das stille, in der Sonne glitzernde Wasser des Flusses. Dann schlugen sie langsam den Weg zur Stadt ein. Nossow, Nossow …, schoß es Vitali durch den Kopf. 113
Den Namen habe ich doch schon mal gehört. Und im Nu sonderte sein trainiertes Gedächtnis aus der Gruppe, die Rewenko damals im Vorzimmer umringt hatte, einen kleinen, breitschultrigen Mann mit speckiger Schirmmütze, Arbeitsjacke und einem dunkelblauen Turnhemd aus, das sich über einer mächtigen behaarten Brust spannte. Gleich darauf erinnerte er sich der Worte Rewenkos: „Lutschinin wollte ihn wegen Bummelei entlassen …“ Als Vitali völlig außer Atem endlich in der Stadtabteilung ankam, traf er Otkalenko und Tomilin bei einem leisen Gespräch am Tisch an. „Ach, da ist er ja“, sagte Igor und blickte auf. „Hat sich in der Staatsanwaltschaft wohl den Hosenboden blankgescheuert, während wir die halbe Stadt abgegrast haben.“ Das Sakko zur Seite werfend, ließ Vitali sich auf die Couch fallen. Igor blickte den Freund aufmerksam an: Wenn Vitali sein Sakko so achtlos hinwarf, mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein. „Na, erzähl schon, erzähl“, sagte Igor betont ruhig und leicht herablassend. Vitali entging dieser Ton nicht, und er lächelte geheimnisvoll. „Wenn ihr wüßtet, wen ich eben getroffen habe!“ rief er aus. „Einfach sagenhaft!“ Igor fragte sachlich: „In der Staatsanwaltschaft?“ „Nein, hinterher.“ „Erzähl lieber der Reihe nach. Fang am besten mit der Staatsanwaltschaft an.“ „Warum straft der liebe Gott mich mit so einem Vorgesetzten?“ Vitali wandte sich mitleidheischend zu Tomilin um. „Ich bin dabei, ihm eine umwerfende Neuigkeit mitzuteilen, er aber will’s ‚der Reihe nach‘ haben! Na gut, dann erzählen wir eben der Reihe nach.“ Er lehnte sich wieder auf der Couch zurück. „Also: neun Uhr nullnull. In 114
der Staatsanwaltschaft eingetroffen. Neun Uhr dreißig. Genosse Rogowizyn geruht mich zu empfangen …“ Eine Zeitlang hielt Vitali diesen Stil durch, bald aber verfiel er in einen Ton unverhohlener Empörung und fuchtelte mit der Faust herum. „… Kurz und gut, wir haben uns in aller Höflichkeit die Meinung gesagt. Dann habe ich mir, schon in einem anderen Raum, den Hosenboden blankgescheuert. Und da begannen die Entdeckungen …“ Schweigend und ohne ihn zu unterbrechen, hörten Igor und Tomilin zu. Dabei starrte Tomilin verdrossen auf einen Punkt am Fußboden, während Igor den Freund aufmerksam und ein wenig spöttisch beobachtete. Als Vitali jedoch auf seine Begegnung mit Tanja Filatowa zu sprechen kam, hob Tomilin aufhorchend den Kopf, und aus Igors Augen schwand der Spott. Nachdem Vitali seinen Bericht beendet hatte, fragte Igor abrupt: „Deine Schlußfolgerungen?“ „Kannst du haben“, erwiderte Vitali herausfordernd. „Erstens: Zwischen Nossow und Bulawkin besteht ein Zusammenhang. Zweitens: Beide haben etwas mit Lutschinins Tod zu tun. Drittens: Bulawkin hat den anonymen Brief an die Staatsanwaltschaft geschrieben, aber nach dem Stil zu urteilen, ist er ihm von jemandem diktiert worden.“ „Wenn Bulawkin diesen Brief geschrieben hat …“ „Da ist noch ein vierter Punkt: Die übrigen anonymen Briefe stammen von ein und derselben Person, obwohl sie auf verschiedenen Schreibmaschinen getippt wurden.“ „Wie kommst du darauf, daß sie von ein und derselben Person stammen?“ fragte Tomilin, der bis jetzt schweigend zugehört hatte. „Sie enthalten dieselben orthographischen Fehler“, erwiderte Vitali grinsend. „Außerdem falsche Silbentrennungen. Und jede Menge Tippfehler.“ 115
„Ist dir etwas über Nossow bekannt?“ „Einiges hat Tanja Filatowa mir erzählt. Lutschinin hat ihm zum Beispiel einmal einen Verweis erteilt. Bei der Vergabe der Wohnungen in dem neuen Haus hat er ihn übergangen. Sogar entlassen wollte er ihn. Das hat schon Rewenko erzählt. Erinnerst du dich? Also, Gründe gab es, wie du siehst, genug. Und ich gehe jede Wette ein …“ „Warte mit dem Wetten lieber noch. Warte ab. Vorläufig liegt das alles noch ziemlich im dunkeln.“ „Aber ein Lichtstrahl leuchtet immerhin schon“, widersprach Vitali aufbrausend. „Mag sein. Aber … Vielleicht sollten wir die Aufgaben neu verteilen. Hast du mal darauf geachtet, wie Fjodor Kusmitsch in solchen Fällen verfährt? Das ist unser Chef in Moskau“, erläuterte er für Tomilin. „Ach, bin schon im Bilde“, meinte Vitali grinsend. „Ich schlage folgendes vor.“ Igor zog langsam eine Zigarette aus der Tasche und schnipste mit dem Feuerzeug. Dann fuhr er fort: „Für uns ergeben sich drei Schwerpunkte. Erstens die Vergehen, die man Lutschinin vorwirft.“ „Fälschlicherweise, davon bin ich überzeugt!“ „Wart’s ab. Hier, mein Lieber, gibt’s für uns noch eine Menge zu tun. Unter anderem ist ein Haufen Papierkram zu sichten. Alles muß hundertfach überprüft werden. Jeder einzelne Fakt. Das übernehme ich. Weiter. Dann sind da Bulawkins Zettel und Bulawkins anonymer Brief … Nun, ersteren kann er natürlich selbst geschrieben haben …“ „Wieso kann er?“ rief Vitali erstaunt aus. „Er kann ihn nicht nur geschrieben haben, er hat ihn geschrieben! Und ihn selbst mit dem Wagen zu uns gebracht!“ „Mag sein. Aber hat er auch die anonymen Briefe geschrieben?“ „Es ist doch ein und dieselbe Schrift!“ „Einverstanden. Aber wessen Schrift?“ 116
„Na, weißt du! Bulawkin hat an jenem Abend den Wagen gestohlen, ist mit ihm zum Hotel gefahren und hat den Zettel abgegeben. Ist das ein Fakt? Ja! Stammt der Zettel also von ihm oder nicht? Eine Denkaufgabe für Vorschulkinder.“ „Hast du Bulawkins Handschrift mal gesehen?“ „Auf dem Zettel?“ „Nein, auf anderen Papieren.“ „Na, nehmen wir mal an …“ „Da gibt’s gar nichts anzunehmen“, unterbrach Igor ihn entschieden. „Wir brauchen ein qualifiziertes Gutachten. Wir müssen absolute Gewißheit erlangen. Wolow wird heute im Werk ein Muster seiner Handschrift sicherstellen. Das Gutachten aber werden wir wahrscheinlich erst am Montag bekommen.“ „Aber das Verfahren ist noch nicht wiederaufgenommen!“ beharrte Vitali. „Rogowizyn wünscht es nicht. Das hat er mir heute mit Bestimmtheit erklärt. Er wird sich nicht darauf einlassen!“ „Unsinn! Die Suche nach Bulawkin erfolgt unabhängig davon. Heute haben wir Freitag? Am Montag gehe ich selbst zur Staatsanwaltschaft. Zu diesem, wie heißt er?“ „Kutschanski“, half Tomilin aus. „Ja! Ich werde durchsetzen, daß das Verfahren wiederaufgenommen wird.“ „Sehr interessant.“ Vitali grinste ironisch. „Und welche Aufgabe überträgst du mir?“ „Du wirst dich mit dem Wichtigsten befassen – mit der Suche nach Bulawkin. Die Swirsker Chaussee. Hast du das schon vergessen?“ „Ach ja!“ sagte Vitali und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Wahrscheinlich hast du recht.“ „Jetzt zum dritten Schwerpunkt.“ Igor blickte Tomilin an. „Wir müssen Informationen über Nossow sammeln. Was ist das für ein Vogel?“ 117
„Wir werden sehen“, erwiderte Tomilin und setzte, mit einem Kopfnicken auf Vitali weisend, hinzu: „Wir geben ihm einen unserer Leute zur Unterstützung mit.“ Schließlich war alles besprochen. Bald darauf stieß Wolow müde und ergrimmt zu ihnen. „Wir haben alles abgesucht“, teilte er mit. „Eine komische Sache, muß ich Ihnen sagen. Zu dem Zeitpunkt, als Bulawkin von der Retschnaja zum Werk ging, befanden sich an verschiedenen Punkten seiner Wegstrecke drei Burschen und ein Mädchen, die er kannte. Zwei standen über eine Stunde lang an einem Tor und unterhielten sich. Ein anderer ist mit dem Mädchen ins Kino gegangen. Und zwar durch die Mendelejewstraße und anschließend durch die Retschnaja, das heißt Bulawkin genau entgegen. Aber keiner hat ihn gesehen. Keiner! Komische Sache, was? Als wäre er durch die Luft geflogen. Oder als hätte er aus irgendeinem Grund einen Umweg gemacht.“ „Tja. Das ist auch so ein Rätsel“, meinte Igor seufzend. „Davon haben wir nun langsam wirklich genug“, ließ Tomilin sich ärgerlich vernehmen. „Von diesen Rätseln.“ Unmerklich brach der Abend an. Wieder war ein anstrengender Tag zu Ende gegangen. Vor ihnen aber lagen andere, noch anstrengendere Tage. Die Schlinge zog sich langsam zu. Am Sonnabendmorgen kam Igor Otkalenko allein in die Stadtabteilung und schloß sich in Tomilins Arbeitszimmer ein. Er legte die grüne Mappe aus der Staatsanwaltschaft vor sich auf den Tisch und holte die zusammengefalteten Bogen mit Rewenkos Erklärung sowie das Papierquadrat mit dem Sprichwort der Einwohner Madagaskars hervor. Nachdem er das Sprichwort überflogen hatte, schüttelte er schmunzelnd den Kopf. 118
Zunächst befaßte Igor sich mit den Briefen aus der grünen Mappe. Auf einem Stück Papier notierte er der Reihe nach alle in diesen Briefen gegen Lutschinin vorgebrachten Anschuldigungen. Anschließend las er das Revisionsprotokoll. Genau dieselben Vorwürfe. Und worauf gründen sie sich? Aha, hier haben wir’s! Der Punkt der gesetzwidrigen Übergabe von Ausrüstungen an das Baranowsker Kombinat. Einige Leute behaupten, diese Ausrüstungen seien intakt gewesen. Andere erklären, sie hätten schrottreif im Schnee gelegen. Dabei berufen sie sich auf deren Ausbuchung wegen Verschleiß. Die Kommission aber glaubt aus irgendeinem Grunde ersteren. Igor hakte in seiner Liste den die Ausrüstungen betreffenden Punkt ab. Dann vertiefte er sich wieder in das Protokoll. Und plötzlich stieß er vor Verwunderung einen Pfiff aus. Wie sich herausstellt, beruft sich die Kommission nicht allein auf Worte. Sie hat weitaus solidere Argumente aufzuweisen! Die Buchhaltung des Werkes schickte dem Kombinat eine Rechnung für diese Ausrüstungen. Die Rechnung trug die Unterschriften des Werkdirektors und des Hauptbuchhalters Oleschkowitsch. Also waren die Ausrüstungen doch nicht schrottreif? Neben dem Häkchen notierte Igor den Namen Oleschkowitsch, unterstrich ihn dick und setzte ein Ausrufezeichen dahinter. So. Jetzt weiter, sagte er zu sich selbst, während ihn eine immer stärkere Unruhe erfaßte. Das Protokoll enthält auch den Vorwurf ungesetzlicher Geldzahlungen. Wieder mit einem Verweis auf die Buchhaltung. In der Lohnliste stehen die betreffenden Namen, aber Arbeitsaufträge sind nicht vorhanden. Nur eine Anweisung Lutschinins, das Geld auszuzahlen. Wieder notierte Igor den Namen Oleschkowitsch, 119
diesmal neben dem Punkt, der die Zahlungen betraf. Auch hier versah er ihn mit einem Ausrufezeichen. Da aber wurde er durch das Läuten des Telefons in seinen Gedanken unterbrochen. Der Diensthabende teilte ihm mit, daß der Ingenieur Tscherkassow eingetroffen sei. Fast zur selben Zeit ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Tür. An der Schwelle stand ein mittelgroßer, hagerer Mann mit Brille, dessen spärliches Haar glatt zurückgekämmt war und eine hohe Stirn entblößte, die die Anfänge einer Glatze erkennen ließ. Der schwarze Spitzbart wirkte in dem knochigen, nach der Rasur bläulich schimmernden Gesicht wie aufgeklebt. In seinen Händen hielt er eine abgewetzte lederne Kollegmappe. Dem Äußeren nach war Tscherkassow ungefähr fünfzig, vielleicht auch etwas älter. „Ist es gestattet?“ fragte er zurückhaltend. „Ja, ja, bitte“, erwiderte Igor und erhob sich. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie behelligen muß.“ „Das macht nichts“, erklärte Tscherkassow in ebenso zurückhaltendem Ton. „Was sein muß, muß sein. Das verstehe ich.“ Er setzte sich auf einen Stuhl. „Pjotr Andrejewitsch“, begann Igor das Gespräch, „ich würde gern Ihre Meinung über Lutschinins Erfindung und über diese ganze Geschichte mit dem Projekt für das Baranowsker Kombinat erfahren. Sie wissen doch darüber Bescheid?“ „Mehr oder weniger“, sagte Tscherkassow abgehackt und rückte nervös seinen Schlips zurecht. „Eher weniger. Bitte, verstehen Sie mich richtig. Ich bin Ingenieur und habe eigene Ideen. Nicht ganz unwichtige, wie ich hoffe. Dazu brauche ich Ruhe. Der Staat hat größeren Nutzen davon, wenn ich diese Ideen verwirkliche und mich nicht in Intrigen einmische.“ „Aber die Erfindung Lutschinins …“, wollte Igor einwenden. 120
„… wurde nicht anerkannt“, unterbrach Tscherkassow ihn rasch mit einer gewissen Genugtuung und einem leisen Lächeln. „Sagen Sie, Pjotr Andrejewitsch“, fragte Igor, „kennen Sie das Buch von Professor Jelzow?“ „Ja, natürlich.“ „Na, und hat Lutschinin wirklich …“ „Das weiß ich nicht“, erklärte Tscherkassow hastig. „Habe die Sache nicht untersucht.“ „Aber man könnte die Sache untersuchen?“ „Natürlich.“ „Aha. Jetzt zur Geschichte mit dem Projekt für das Baranowsker Kombinat. Hier wird behauptet,“ – Igor wies auf das vor ihm liegende Revisionsprotokoll –, „daß dem Kombinat Kopien von den Zeichnungen verkauft wurden, nach denen die Rekonstruktion Ihres eigenen Werkes erfolgte und die man in Jewgeni Petrowitschs Schreibtisch gefunden hat.“ „Unsinn!“ Tscherkassow hob beleidigt den Kopf. „Ich bin es nicht gewohnt, umsonst bezahlt zu werden.“ „Aber wie ist das alles dann vor sich gegangen?“ „Ganz einfach. Wir haben ein Originalprojekt geschaffen. Für das Kombinat. Unter Berücksichtigung seiner technischen Bedingungen. Und die Kopien davon – die Kopien, nicht die Originale! – hat Jewgeni Petrowitsch für das technische Archiv unseres Werkes zurückbehalten. Mit unseren Unterschriften, nebenbei bemerkt.“ „Aber es waren keine Unterschriften darauf“, entgegnete Igor. „Nur die Stempel des Werkes.“ „Wo die Unterschriften abgeblieben sind, kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen.“ Tscherkassow breitete die Arme aus. „Demnach unterscheidet sich das Projekt Ihres Werkes von jenem Projekt?“ „Natürlich.“ Tscherkassow schmunzelte. „In das neue Projekt sind auch meine Ideen eingegangen.“ 121
„Wo ist dann aber das Projekt Ihres Werkes?“ „Es hat nie eins gegeben.“ „Wieso hat es keins gegeben?“ „Die Rekonstruktion erfolgte unter Leitung Jewgeni Petrowitschs. Während der laufenden Arbeit. Direkt nach seinen Entwürfen.“ „Die Kommission aber behauptet, so etwas sei nicht möglich. Bei den in Jewgeni Petrowitschs Schreibtisch gefundenen Zeichnungen handle es sich um das Projekt Ihres Werkes.“ „Das ist doch idiotisch.“ Igor lächelte. „Haben Sie das der Kommission gesagt?“ „Man hat mich nicht danach gefragt“, sagte Tscherkassow mit einem nervösen Schulterzucken. Na, Vitali würde jetzt mit dir Schlitten fahren, dachte Igor ergrimmt. Aber das bringt nichts ein. Hier muß man anders vorgehen. „Tja, das ist logisch“, sagte er völlig ruhig. „Nicht wahr? Ich habe mir gesagt: Sollen sie das unter sich ausmachen. Was geht mich das Ganze an?“ „Durchaus logisch“, versicherte Igor noch einmal, und dabei zuckte kein Muskel in seinem Gesicht, nur seine Augen wurden um eine Spur dunkler, und das schwere Kinn schob sich leicht vor. „Aber Sie gestatten, Pjotr Andrejewitsch, daß ich mir Ihre Meinung notiere?“ Tscherkassow rieb sich besorgt den Bart. „Muß das sein?“ „Ja, allerdings.“ „Aber ich denke … das alles gehört der Vergangenheit an?“ „Nicht ganz. Noch besser wäre es, wenn Sie das selbst schriftlich niederlegen würden. In Form eines Kommentars oder einer Erklärung.“ „Auf gar keinen Fall“, protestierte Tscherkassow hastig, mit einer Handbewegung dieses Ansinnen gleichsam 122
von sich weisend. „Wie käme ich dazu? Sie haben mich hergebeten und mir Fragen gestellt. Die habe ich Ihnen lediglich beantwortet.“ „Also gut. Auch das ist logisch. Dann werde ich es selbst notieren. Sie haben doch nichts dagegen?“ „Sie müssen es wissen“, meinte Tscherkassow kleinlaut. „Also, fangen wir an“, sagte Igor. „Ich werde Ihnen noch einmal dieselben Fragen vorlegen. Haben Sie übrigens Ihren Ausweis bei sich?“ „Ja, ja, natürlich.“ Mit zitternden Fingern holte Tscherkassow die Brieftasche heraus, konnte den Ausweis aber nicht gleich finden. Er schob sogar die Brille auf die Stirn und hielt sich die Brieftasche dicht vor die Augen. Als sie fertig waren, reichte Igor ihm die beschriebenen Blätter. „Lesen Sie das noch einmal durch. Wenn alles richtig ist, unterschreiben Sie hier unten.“ Tscherkassow rieb mit den Fingern seine Brillengläser, als wären sie beschlagen, nickte schweigend und vertiefte sich in die Lektüre. Igor lehnte sich in seinem Sessel zurück, sein Gesicht ließ keinerlei Gefühlsregungen erkennen. „Wenn Sie gestatten, möchte ich hier etwas berichtigen“, sagte Tscherkassow und hob unterwartet den Kopf. „Sehen Sie, hier steht …“ Aus unerfindlichen Gründen rieb er noch einmal seine Brillengläser und las, das Blatt Papier dicht vor seine Augen haltend: „ ‚Die Kopien hat Lutschinin für das technische Archiv des Werkes zurückbehalten.‘ Setzen Sie hier bitte, wenn es keine Umstände macht, das Wort ‚wahrscheinlich‘ ein. Ich kann mich schließlich nicht dafür verbürgen.“ „Aber wozu denn?“ „Ich weiß nicht. Ich kann das alles ja nur vermuten.“ Igor setzte das Wort ein und machte am unteren Rand der Seite einen Vermerk. Dann fragte er: „Ist das alles?“ 123
„Moment, Moment“, erwiderte Tscherkassow hastig, während er weiterlas. „Ja. Und hier … Sie schreiben: ‚Die Kopien enthielten unsere Unterschriften.‘ Ich bitte hinzuzufügen: ‚Soweit ich mich erinnern kann.‘ Schließlich ist das alles schon lange her. Ich kann mich da auch irren. Darum bitte ich Sie sehr …“ Igor nahm auch diese Berichtigung vor. Das Blatt dicht vor seine Augen haltend, las Tscherkassow weiter. „Hier noch einmal“, sagte er ein wenig später. „Ich kann nicht einfach so kategorisch behaupten, daß es ein Projekt unseres Werkes nicht gegeben hat.“ „Aber Sie haben doch gesehen, daß die Arbeit nach Entwürfen erfolgte?“ „Entwürfe habe ich gesehen, ein Projekt nicht.“ Tscherkassow schüttelte eigensinnig den Kopf. „Was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, kann ich nicht behaupten. Das ist, wie Sie verstehen werden, elementar.“ „Tjaaa … Dann schreiben wir, daß Sie kein Projekt gesehen haben. Ist das korrekt?“ „Ich denke schon. Obwohl man es besser so formulieren sollte: Von Rechts wegen müßte ein Projekt dagewesen sein, ich persönlich aber habe nur Entwürfe gesehen.“ „Das mit dem Projekt ist eine Vermutung?“ „In gewissem Sinne ja.“ „Vermutungen kann ich nicht gebrauchen. Wir notieren nur die Fakten: Ein Projekt haben Sie nicht gesehen, aber die Entwürfe. Einverstanden?“ „Na, meinetwegen“, stimmte Tscherkassow zögernd zu. „Haben Sie noch irgendwelche Zweifel?“ „Nein, nein …“ Noch einmal berichtigte Igor das Protokoll. Ein Glück, daß Vitali dieses Gespräch nicht führen 124
muß, dachte er. Ich kann mir vorstellen, wie das ausgegangen wäre. Als Tscherkassow schließlich das letzte Blatt des Protokolls unterschrieben hatte, fragte Igor wie nebenbei: „Haben Sie übrigens eine Schreibmaschine zu Hause, Pjotr Andrejewitsch?“ „Ja“, erwiderte Tscherkassow unruhig. „Das ist doch wohl kein Verbrechen?“ „Aber nein.“ Igor rang sich ein Lächeln ab. „Ich würde nur gern wissen, ob Sie diese Maschine einmal verborgt haben. Können Sie sich daran erinnern?“ „Nein. Obwohl … warten Sie, warten Sie …“ Tscherkassow fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Irgendwem habe ich sie mal gegeben …“ „Das würde mich interessieren.“ „Wenn Sie gestatten“, stimmte Tscherkassow nicht sonderlich begeistert zu, „werde ich versuchen, mich zu erinnern. Wenn es mir wieder einfällt, rufe ich Sie gegen Abend an.“ Tscherkassow verabschiedete sich förmlich und ging. Igor gab ihm nicht die Hand, und auch Tscherkassow reichte ihm instinktiv die seine nicht. Na bitte, dachte Igor, während er im Arbeitszimmer auf und ab spazierte. Ich glaube, ich habe mich mit dir nicht umsonst herumgeplagt. Der Hauptanklagepunkt gegen Lutschinin sieht jetzt schon mehr als zweifelhaft aus. Na, und dieser Tscherkassow! Ein unaufrichtiger, mißgünstiger Mensch. Wahrscheinlich hat er Lutschinin beneidet. Allerdings ist er feige. Er selbst würde nie etwas unternehmen. Aber einen anderen vorschieben … ihm die Maschine zur Verfügung stellen … Wem mag er sie nur geborgt haben? Mal sehen, ob er sich daran zu „erinnern“ geruht. Tscherkassow rief nicht erst gegen Abend an, sondern nach genau einer Stunde. 125
„Es ist mir wieder eingefallen“, teilte er triumphierend mit, als sollte dies eine Kompensation für sein Verhalten bei dem Gespräch mit Igor sein. „Ich habe sie einmal an einen gewissen Slawa Nebogow verborgt. Er arbeitet in der Zeitungsredaktion. Sonst an niemanden. Glauben Sie mir: an niemanden!“ Die letzten Worte klangen nicht allzu überzeugend. Sieh mal an, dachte Igor erstaunt. Wer mag bloß dieser Nebogow sein? Am frühen Morgen konnte man Vitali bereits außerhalb der Stadt, auf der glühendheißen, windigen Swirsker Chaussee, antreffen. Die Straße stieg stetig an und führte dann wieder lange Zeit bergab, tauchte für kurze Augenblicke in den kühlen Schatten junger Wälder, um sich gleich darauf von neuem in die stickige Glut der Felder zu stürzen. Ab und zu zweigten beiderseits der Chaussee staubige Feldwege ab. An diesen Stellen ließ Vitali den Wagen halten und stieg zusammen mit dem ernsten, strammen Hauptfeldwebel der Miliz Iwan Uglow, dem Abschnittsbevollmächtigten dieses ganzen riesigen Bezirks, aus, der hier nicht nur jedes Dorf, sondern auch jeden Baum und jedes Schlagloch in der Chaussee kannte. Uglow war außerordentlich stolz über den Auftrag, den „Genossen aus Moskau“ zu begleiten, obwohl sich das anfangs nur in einer auffallenden Schweigsamkeit und einer geradezu soldatischen Knappheit der Antworten auf Vitalis Fragen äußerte. Uglow selbst wagte keinerlei Fragen zu stellen. Es war jedoch völlig unmöglich, mit Vitali längere Zeit auf diese Art zu verkehren. Bereits nach ein, zwei Stunden wich ein begeistertes breites Lächeln nicht mehr von Uglows braungebranntem, wettergegerbtem Gesicht, und er wandte kein Auge von seinem neuen Bekannten. Als sie wieder einmal ausgestiegen waren, untersuchte Vitali sachlich den von der Straße abzweigenden Feldweg, 126
indem er nach den Spuren von Kraftwagen und Fuhrwerken Ausschau hielt. „Wohin führt dieser Weg?“ fragte er Uglow. „Nach Bujanowka, Genosse Oberleutnant.“ „Hier kann er wohl nicht abgebogen sein, was meinst du?“ „Nein.“ „Na, dann fahren wir weiter. Kommt bald wieder ein Dorf?“ „Jawohl. In elf Kilometern. Posharowo.“ „Das ist mir eine Gegend! Bujanowka, Posharowo ∗ …“ „Ach was, bei uns geht’s ganz friedlich zu“, meinte Uglow lachend. „Dann waren’s wohl eure Vorfahren, die sich so hervorgetan haben.“ Die Chaussee stieg immer steiler an. Die Landschaft vor ihnen war hinter einem hohen Hügel verborgen. Nur weiße, Wattebällchen gleichende Wolken schwammen von dorther träge in den blauen, sonnigen Dunst. „Jetzt kommt gleich ein Fluß“, sagte Uglow seufzend. „Die Bugra.“ Mühsam und im zweiten Gang dumpf stuckernd, kroch der Wagen bergauf. Als er endlich die Anhöhe bezwungen hatte und die Chaussee wieder abwärts führte, ächzte Vitali vor Begeisterung auf. Tief unter ihnen schlängelte sich ein schönes, schmales, stellenweise mit Schilf und Lilien bewachsenes Flüßchen, dessen in weißblauem Perlmuttglanz schimmernde Wellen sanft in der Sonne glitzerten, geruhsam an Sträuchern, gelben Sandbänken und silbrigen Weiden vorbei. Am gegenüberliegenden Ufer dehnten sich bis zum Horizont Wälder, die gleich einem Meer in allen Grüntönen schimmerten: vom hellen Grün der fröhlichen jungen Birken bis zu den fast schwarzen Kronen ∗
von „Raufbold“ und „Brand“ abgeleitete Ortsnamen.
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der Fichten. Um das steile Ufer aber drängten sich wie Goldbronze schimmernde Kiefern. Das graue Band der Chaussee eilte zum Fluß hinab und bog in gerader Linie durch die grüne Wiese am Flußufer ab. „Das ist ja eine herrliche Gegend hier“, rief Vitali hingerissen aus. Nach einiger Zeit trat am Flußufer zwischen Sträuchern und Bäumen unerwartet eine kleine Lichtung hervor. Auf ihr brannte ein helles Feuer, an dem drei Frauen in Shorts und bunten Blusen hantierten. Über dem Feuer hingen schwarze, verrußte Kessel. Nicht weit von ihnen entfernt erblickte man einen improvisierten Tisch: zwei Bretter über mit Drähten verbundenen Pfählen und ringsherum Bänke aus langem, unebenem Stangenholz. Am Rand der Lichtung schimmerten hellgelbe Zelte aus dem Grün der Sträucher. Dicht am Wasser stand ein hoher, selbstgezimmerter Mast, an dessen Spitze eine eigenartige schwarze Flagge mit einem langen Einschnitt in der Mitte flatterte. Neben dem Mast machten sich zwei braungebrannte, mit Badehosen bekleidete Männer und zwei kleine Jungen, ebenfalls in Badehosen und weißen Panamahüten, an einem aufs Ufer gezogenen Paddelboot zu schaffen. „Touristen“, teilte Uglow sachlich mit. Vitali wies lachend auf die Flagge. „Na, hör mal, das ist ja eine Hose! Weiß Gott, eine schwarze Trainingshose! Die ersten Menschen auf unserem Weg. Wir müssen uns mit ihnen unterhalten.“ Er stieg aus und kletterte über den schmalen, steilen, sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelnden Pfad zum Ufer hinab. Uglow folgte ihm. Als er zusammen mit Uglow die Lichtung erreichte, ließen die Touristen sich gerade fröhlich an ihrem selbstgebauten Tisch nieder, und eine Rothaarige rief den noch immer am Boot hantierenden Jungen zu: „Ju128
ra! Alik! – Beeilt euch! Kommt essen! – Sonst kriegt ihr nichts mehr von der Fischsuppe ab!“ „Aber der Hecht … Wir haben einen Hecht!“ schrie einer der Jungen mit überkippender Stimme. „Der kommt uns doch um!“ Der andere Junge aber lief bereits mit einem langen, zappelnden Fisch in der ausgestreckten Hand auf den Tisch zu. Am anderen Ende der Lichtung trat ein kahlköpfiger Mann in einer Badehose aus dem Gebüsch. Schweißbedeckt und stolz zog er Bruchholzstämme hinter sich her. Vitali und Uglow betraten die Lichtung. „Seht mal dort! Wir bekommen Besuch!“ rief eine der Frauen. „Guten Appetit!“ sagte Vitali, während er an den Tisch trat. „Entschuldigen Sie die Störung, aber wir …“ „Sie stören doch nicht! Setzen Sie sich zu uns“, unterbrach ihn einer der Männer und wies neben sich auf die Bank. „Hier ist für alle Platz.“ „Kommen Sie, setzen Sie sich“, stimmte die Frau zu, die soeben die dampfende Fischsuppe auf die Schüsseln verteilt hatte. „Nein, nein, wir gehen gleich wieder. Wir wollten Sie allerdings um Ihre Unterstützung bitten. Sind Sie schon länger hier?“ „Erst seit vier Tagen“, erwiderte eine der Frauen. „Großartig. Also“, fuhr Vitali fort, „vorgestern muß hier gegen dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Uhr ein Wagen, und zwar ein grüner Gasik, auf der Chaussee vorbeigefahren sein. Er ist Ihnen nicht zufällig aufgefallen?“ „Wo denken Sie hin? Um die Zeit schlafen wir längst“, sagte die rundgesichtige, freundliche Frau, die die Fischsuppe ausgeteilt hatte. „Hier schläft man nämlich …“ „Moment mal!“ unterbrach sie der hochgewachsene Mann mit der Brille und wandte sich über den Tisch 129
hinweg an einen seiner Freunde: „Sascha, du mußt schon entschuldigen, aber ist dir nicht gerade an dem Tag ein Hecht von der Angel entwischt? Du konntest doch vor Ärger die ganze Nacht nicht schlafen.“ „Ja, das stimmt.“ Der Angesprochene nickte grimmig und drehte sich zu Vitali um. „Da ist tatsächlich ein Wagen vorbeigekommen. Ein alter Gasik. Das linke Standlicht hat nicht gebrannt. Und er hatte unterschiedliche Scheinwerfer. Außerdem klapperte, glaube ich, das Kardangelenk.“ „Stimmt!“ rief Vitali erfreut aus. „Stimmt genau! Das ist er!“ „Er ist mit halsbrecherischer Geschwindigkeit gefahren“, fügte der Mann hinzu. „Ja, ich auch … Ich habe auch von dem Gasik gehört!“ erklärte der ältere der beiden Jungen eifrig. „Der Vitja aus dem Dorf hat davon erzählt!“ Vitali horchte auf. „Aus welchem Dorf?“ „Papa und ich sind gestern mit einem Auto mit ins Dorf gefahren. Wir haben Milch geholt.“ „Das muß Posharowo sein“, sagte Uglow. „Sieben Kilometer von hier.“ „Und was hat dieser Vitja dir erzählt?“ fragte Vitali den Jungen. Der aber wurde plötzlich verlegen und murmelte mit gesenktem Kopf: „Ich darf nicht darüber reden …“ „Na, Alik“, meinte der Mann mit der Brille besorgt. „Du mußt schon entschuldigen, aber das ist doch eine wichtige Frage. Die Genossen hier sind schließlich von der Miliz.“ Der Junge hob sein hochrot angelaufenes Gesicht. „Papa, ich habe mein Wort gegeben!“ Da fragte er den anderen Jungen: „Jura, hast du auch dein Wort gegeben?“ „Nein“, erwiderte der seelenruhig mit einem schelmischen Blick. „Mich hat niemand darum gebeten.“ 130
„Hast du auch von dem Gasik gehört?“ „Na klar. Ich höre alles. Das, was ich hören soll, und das, was ich nicht hören soll.“ „Na, und was ist mit dem Gasik?“ horchte der Vater ihn, ein Lächeln unterdrückend, weiter aus. „Die Kinder aus dem Dorf haben ihn im Wald gefunden. Aber sie haben ausgemacht, vorläufig nichts davon zu sagen. Sie haben vor irgend etwas Angst.“ „Wovor denn?“ „Das haben sie uns auch nicht verraten.“ „Die Bengel kenne ich“, meinte Uglow besorgt. „Auch den Vitja. Das ist der Sohn von Georgi Semjonowitsch Wedernikow.“ „Fahren wir“, sagte Vitali, stand auf und verabschiedete sich. Uglow folgte seinem Beispiel. Die Männer und die Jungen begleiteten sie bis zur Chaussee. … Es war bereits stockfinster, als der todmüde und hungrige Vitali, über und über beschmutzt, in zerdrückten Hosen, mit Grasflecken auf den Knien und einem zerrissenen Hemd, von der Dorfpost aus in der Stadt bei Igor Otkalenko anrief. „Ich bin’s“, sagte Vitali leise in den Hörer. „Hörst du mich? Ich spreche aus Posharowo. Hab’ den Wagen gefunden. Im Wald. Schicke uns morgen dringend einen Experten und einen Hundeführer.“ „Verstanden“, erwiderte Igor. „Bei mir hier hat sich auch einiges getan. Habe ein paar Entdeckungen gemacht. Du wirst staunen, wenn du kommst.“
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6. KAPITEL
Die zweite Kette Als Tscherkassow vorsichtig die Tür hinter sich geschlossen hatte und gegangen war, stand Igor auf und wanderte nachdenklich von einer Ecke des Zimmers in die andere. Die Gereiztheit ließ allmählich nach, und doch blieb eine gewisse Unzufriedenheit mit sich selbst zurück. Irgend etwas hatte er falsch gemacht. Ja, ja, er hatte sein Ziel aus den Augen verloren und nicht die nötige Richtung eingeschlagen. Schließlich hatte Korschunow ihnen eine ganz konkrete Aufgabe gestellt: die wahren Umstände von Lutschinins Tod aufzuklären – war es Selbstmord oder Mord? Eine Antwort auf diese Frage erhielt man nicht durch die Untersuchung der gegen Lutschinin vorgebrachten Anschuldigungen. Sie konnten ihn in jedem Fall – ob sie nun falsch waren oder nicht – zum Selbstmord getrieben haben. Also sollten sie sich nur mit den Ereignissen jenes Abends befassen, an dem Lutschinin umgekommen war? Aber verflixt noch mal, es war doch nicht völlig gleichgültig, ob man Lutschinin nur verleumdet oder ob er tatsächlich ein Verbrechen begangen hatte! Igor spürte fast physisch, wie die gegen Lutschinin vorgebrachten Fakten und Beweise sich allmählich in Luft aufzulösen begannen. Noch waren sie nicht widerlegt, nur einige winzige Details hatten sich verschoben, und schon erhielt die Sache einen anderen Anstrich … Nein, Igor konnte das alles nicht einfach auf sich beruhen lassen und zu den Akten legen. 132
Schließlich war es auch nicht möglich, die Umstände von Lutschinins Tod zu klären, wenn man nicht ergründete, was der Tote für ein Mensch gewesen war, was dieser Lutschinin überhaupt darstellte – einen Verbrecher oder das Opfer eines Verbrechens. Lange noch durchmaß Igor das Arbeitszimmer von Ecke zu Ecke, dann warf er einen Blick auf die Uhr. Donnerwetter! Er räumte hastig die Papiere vom Tisch, legte sie in den Panzerschrank und rief den Diensthabenden an. „Haben Sie ein Telefonbuch? – Enthält es auch Privatanschlüsse? – Ausgezeichnet! Ich hole es mir gleich ab.“ Er begab sich rasch zur Tür. Wenige Minuten später rief Igor bereits in der Redaktion der Bezirkszeitung an, und als er erfuhr, daß Nebogow sich dort befand, ließ er ihm ausrichten, daß er nicht fortgehen solle. Er, Hauptmann der Miliz Otkalenko, werde gleich in die Redaktion kommen. Er müsse mit Nebogow sprechen. Erst als er den Hörer aufgelegt hatte, fiel Igor ein, daß er dort noch eine andere Frage klären mußte: Was war das für ein Artikel, den man gegen Lutschinin vorbereitet hatte? Dann blätterte er noch einmal im Telefonbuch und griff wieder zum Hörer. „Ist Valentin Grigorjewitsch zu sprechen? – Guten Tag. Hier ist die Stadtabteilung der Miliz. Hauptmann Otkalenko. Ich würde mich gern einmal mit Ihnen unterhalten – Wann? Möglichst bald. Sagen wir, morgen früh … Ich weiß, daß morgen Sonntag ist. Aber vielleicht können wir bei Ihnen zu Hause schon einige Dinge klären. Die Dokumente sehen wir uns dann, wenn nötig, am Montag an. Einverstanden? – Na, großartig. Entschuldigen Sie die Störung … Ja, ja, um elf. Ich verstehe.“ 133
Igor legte den Hörer auf und machte sich einen Vermerk in seinem Notizbuch. Ein komischer Kauz, dachte er grinsend. Die Zeitungsredaktion befand sich gleich um die Ecke, ganz in der Nähe der Stadtabteilung. Ein Vorzug der kleinen Städte, alles ist schnell erreichbar, und man spart das Fahrgeld. Mühelos machte Igor die zweistöckige Villa mit den Stuckverzierungen an der Fassade ausfindig. Den massiven Balkon stützten mächtige männliche Torsos. Zu beiden Seiten der breiten Eingangstür, zu der ein paar ausgetretene Stufen emporführten, hingen Schilder aller Größen mit den Namen der Institutionen, die die alte Villa bis in den letzten Winkel zu füllen schienen. Unter ihnen entdeckte Igor die Aufschrift „Redaktion der Zeitung ‚Krassnoje Snamja‘ “ und darunter, in kleinerer Schrift: „2. Stock rechts“. In dem riesigen Raum mit den venezianischen Spitzbogenfenstern und den marmornen Vorsprüngen der Säulen vortäuschenden Stützpfeiler entlang der Wände, der offensichtlich einst als Salon gedient hatte, waren die Schreibtische in komplizierten Zickzacklinien aufgereiht und bildeten zahllose Sackgassen, Ausbuchtungen und Gänge. Vielstimmiger Lärm erfüllte den Raum. Ununterbrochen Entschuldigungen murmelnd, bahnte Igor sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch, bis er Nebogow endlich ausfindig machte. Dies war ein junger Bursche in einem weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einem Biberhaarschnitt. Ein dichter Bart umrahmte gleich einem schwarzen Hufeisen seine schmalen, rosigen Wangen. Den Oberkörper über den Tisch gelegt, schrieb er schnell und schwungvoll mit einem hinterhältigen Lächeln im Gesicht. „Guten Tag, lieber Genosse“, begrüßte er Igor unbekümmert. „Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung 134
für …“ – er blickte auf seine Uhr – „zehn Minuten. Ich sitze nämlich an einem dringenden Artikel für die nächste Nummer. Ein Auftrag des Chefs. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.“ Seine strahlenden, noch sehr jungen Augen blickten selbstsicher und spöttisch drein. „Mal sehen, wie wir zurechtkommen“, widersprach Igor lächelnd. „Slawa!“ schrie in diesem Augenblick jemand vom anderen Ende des Raumes herüber. „Wo sind denn die Fahnenabzüge vom Rundtisch-Gespräch?“ „Bei Marina. Alles bei Marina!“ schrie Nebogow zurück. „Aber stört mich nicht mehr. Der Genosse ist schließlich von der Miliz!“ Einige Köpfe drehten sich neugierig zu ihnen um. „Wissen Sie, was?“ sagte Igor. „Ich mag keine überflüssige Publicity. Wollen wir nicht woandershin gehen?“ „Einen Augenblick.“ Nebogow hob die Hand. „Das werden wir gleich haben. Kommen Sie.“ Er sprang auf, flüsterte einem in der Nähe sitzenden Burschen etwas zu und eilte, sich geschickt zwischen den Tischen hindurchschlängelnd, zur Tür. Igor konnte ihm kaum folgen. Nebogow führte ihn zum anderen Ende des breiten Korridors und öffnete eine niedrige Tür. Sie betraten eine winzige, fensterlose Kammer mit abgeschrägter Decke, an der eine trübe Glühlampe baumelte. In der Kammer standen Eimer, überall lagen Wischlappen, elektrische Kabel und alle möglichen Schnüre umher, in einer Ecke lehnten Besen und Handfeger. Auch zwei wacklige Hocker standen hier. „Das ist Tante Paschas Reich“, erklärte Nebogow. „Dient zu Beichten und heimlichen Rendezvous. Setzen Sie sich. Hier wird uns keiner stören, da können Sie ganz beruhigt sein.“ Er setzte sich rittlings auf einen der Hocker. 135
„Also“, begann Igor, „die erste Frage: Haben Sie schon mal etwas von dem Direktor des Elektrodenwerkes gehört?“ „Natürlich! Was mich betrifft, so ist der Ausdruck ‚schon mal gehört‘ nicht ganz passend. Ich habe ein Feuilleton über ihn geschrieben.“ „Wurde es veröffentlicht?“ „Nein.“ „Und warum nicht?“ „Tja, wissen Sie, das hatte redaktionelle Gründe“, erwiderte Nebogow ausweichend. „Gut. Lassen wir das vorläufig. Fangen wir noch einmal von vorn an. Wie kamen Sie darauf, das Feuilleton zu schreiben?“ Nebogow kratzte sich nachdenklich den Bart. „Müssen Sie das unbedingt wissen?“ erkundigte er sich. „Sehen Sie, die Zeitungsethik …“ „Darauf können wir jetzt keine Rücksicht mehr nehmen“, unterbrach Igor ihn trocken. „Ein Mensch ist umgekommen …“ „Und zwar ein guter Mensch!“ entfuhr es Nebogow plötzlich. „Das können Sie mir glauben!“ „Aber warum haben Sie dann …“ „Na, gut! Ich werde Ihnen alles erzählen. Sie untersuchen diesen Fall, ja? Wie ich höre, kommen Sie aus Moskau.“ „Ja.“ „Das ist gut! Untersuchen Sie die Sache, und zwar gründlich.“ „Sie könnten uns dabei helfen.“ „Bin ja gerade dabei“, erwiderte Nebogow ärgerlich. „Alles fing mit einem anonymen Brief an.“ „Aha“, meinte Igor gedehnt und horchte auf. „Ein anonymes Schreiben läßt auf Gemeinheit oder auf Feigheit schließen. Es ist immer etwas Widerwärtiges. Das ist längst erwiesen. Aber dieser Brief enthielt 136
konkrete Fakten. Und zwar happige. Der Sache mußte man auf den Grund gehen. Allerdings vorsichtig. Um niemanden durch falsche Verdächtigungen zu kränken. Sie verstehen? Damit wurde ich beauftragt.“ „Wann haben Sie den anonymen Brief bekommen?“ fragte Igor. „Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Heute haben wir den Siebenundzwanzigsten? Dann war es vor genau zwei Monaten.“ „Demnach noch vor der Revision im Werk?“ „Sie fing gerade an, als ich dorthin kam.“ „Aha. Und weiter?“ „Ich legte den anonymen Brief erst mal unters Tischtuch. Und dann wartete ich.“ „Worauf denn?“ fragte Igor. „Auf den Ausgang der Revision natürlich. Wie sich herausstellte, hatten sich die Fakten bestätigt. Und da schrieb ich das Feuilleton.“ Nebogow seufzte auf. „Ein glänzendes Feuilleton. Das haben mir alle bestätigt.“ „Warum wurde es dann nicht veröffentlicht?“ Nebogow seufzte wieder und rieb sich stirnrunzelnd mit dem kleinen Finger den Bart. „Das war mein eigener Entschluß.“ „Ihr eigener?“ „,Ja, stellen Sie sich vor. Ich hatte Lutschinin nämlich inzwischen kennengelernt. Er kam von selbst zu mir, und wir haben uns unterhalten.“ Er lächelte schwach. „Und?“ „Und … er hat mir gefallen.“ „Das sieht nicht gerade nach Prinzipienfestigkeit aus“, bemerkte Igor. „Sie haben mich falsch verstanden!“ Nebogow errötete vor Empörung. „Mir gefallen nur ehrliche Menschen! Absolut ehrliche! Dafür habe ich einen Riecher. Zum Glück lernt man hier alle möglichen Typen kennen. Und stellen Sie sich vor, ich habe nicht an das Ergebnis der 137
Revision geglaubt. Ich dachte, er würde kämpfen.“ Dann fügte er mit leicht bebender Stimme hinzu: „Diesen Eindruck hat er auf mich gemacht.“ Igor blickte in das bärtige jugendliche Gesicht mit den lebhaften braunen Augen, deren Blick plötzlich streng, ja fast grimmig geworden war, auf seine fest zusammengepreßten Lippen, und er hätte diesen Jungen am liebsten umarmt. „Können Sie mir diesen anonymen Brief zeigen, Slawa? Und dazu auch gleich Ihr Feuilleton?“ „Den anonymen Brief gern. Aber das Feuilleton … Ehrenwort, ich hab’s weggeschmissen. In den Papierkorb. Alle drei Exemplare. Nicht mal der Chefredakteur hat mir deshalb einen Vorwurf gemacht … Konstantin Dormidontowitsch hat mich verstanden.“ Dann holte Nebogow den Brief. Igor brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um die Handschrift zu erkennen. Wieder dieselbe! Sollte das tatsächlich Bulawkins Schrift sein? Unklar war auch noch etwas anderes: Woher wußte Bulawkin von den Fakten, die er hier mitteilte? Und wie konnte er diese technischen und buchhalterischen Fragen so klar darlegen? Merkwürdig, sehr merkwürdig. „Diesen Brief muß ich mitnehmen“, sagte Igor. „Zum Teufel damit! Nehmen Sie ihn“, erwiderte Nebogow voller Abscheu. „Jetzt zur zweiten Frage, Slawa“, fuhr Igor fort. „Besitzen Sie eine Schreibmaschine?“ Nebogow blickte ihn erstaunt an. „Ja. Wieso?“ „Warum haben Sie sich dann Tscherkassows Maschine geborgt?“ „Pjotr Andrejewitschs? Ach, ja, ja, die hatte ich mal da! Meine war gerade in der Reparatur. Und ich mußte einen dringenden Artikel schreiben. Na, und außerdem …“ Nebogow lächelte verlegen. „Ein paar Gedichte habe ich auch darauf getippt.“ 138
„Haben Sie die Maschine an jemanden weitergegeben?“ fragte Igor beunruhigt. „Hat sonst niemand auf ihr geschrieben?“ „Wem hätte ich sie denn geben sollen? Nein, ich habe natürlich selbst darauf getippt.“ So ist das also, dachte Igor. Was Sie mir da einreden wollen, verehrter Pjotr Andrejewitsch, stimmt vorn und hinten nicht. Als Igor die Redaktion verließ, dämmerte es bereits, und seine Füße trugen ihn wie von selbst zur Stadtabteilung. Zwei Stunden später kam dann der Anruf von Vitali. Als der Wagen die lange, sanfte Steigung genommen hätte, lag das Dorf plötzlich in seiner vollen Größe vor ihnen. Vitali klangen noch die Abschiedsworte der Touristen in den Ohren, und nun lag vor Vitali bereits das Dorf Posharowo, in dem ein gewisser Vitja Wedernikow wohnte. Zwei bis drei Dutzend mit nachgedunkelten, gemusterten Dachschindeln bedeckte Häuser standen, von einzelnen Bäumen umgeben, mit kleinen Vorgärten und hinten hinaus mit Gemüsebeeten versehen, in scheinbarer Regellosigkeit zu beiden Seiten der Chaussee. Auf brachliegendem Gelände erblickte man hier und da die weißen, hölzernen Gerüste im Bau befindlicher Häuser. An den Häusern vorbei schlängelten sich durch das Gras und den Sand ungleichmäßige, von Traktoren ausgefahrene Radspuren. An einer Seite der Chaussee zog sich ein alter, stellenweise schadhafter Zaun entlang, hinter dem neben einem langen Schuppen erdverkrustete Eggen, zwei Radschlepper, ein aufgebockter Lastwagen und eine mächtige, plumpe Kombine standen. Gegenüber, auf der anderen Seite, sah man ein großes, 139
dunkles Haus mit der Aufschrift „Arbeiter-Teestube“ und daneben ein anderes, kleineres Gebäude, das durch ein Schild als Verkaufsstelle ausgewiesen wurde. Daneben parkten staubige Wagen und Fuhrwerke. Der an der Chaussee vor der Teestube haltende Pkw erregte allgemeines Aufsehen. Die wenigen Passanten blieben stehen und betrachteten, die Augen mit der Hand gegen die Sonne schirmend, den Wagen. Wie von einem unsichtbaren Magnet angezogen, strömten die Kinder von allen Ecken und Enden des Dorfes zur Teestube. Vitali stieg aus, blickte sich ungeduldig um und sagte zu Uglow: „Schaff mir diesen Vitja her.“ „Der wird gleich hier sein“, meinte Uglow grinsend. „Sein Trupp ist schon im Anrücken.“ Und tatsächlich winkte er einen Augenblick später einen struppigen blonden Jungen in langen Hosen, die ihm von dem nackten Bauch glitten, zu sich heran. Verlegen löste der sich aus der Jungenschar und kam unlustig, den Blick unverwandt auf seine staubigen, nackten Beine gerichtet, näher. „Grüß dich, Vitja“, sagte Uglow. „Guten Tag, Onkel Wanja“, entgegnete der Junge mit von vornherein schuldbewußter Stimme. „Suchst du etwas auf dem Erdboden?“ „Ich suche gar nichts. Was soll ich denn suchen?“ „Nun, natürlich. Du hast ja schon etwas gefunden, nicht wahr?“ Der Junge fuhr zusammen und hob die erschrockenen blauen Augen zu Uglow auf. „Wie meinen Sie das, Onkel Wanja?“ Uglow schmunzelte. „Komm, steig ein, dann wirst du schon sehen, wie ich das meine. Und nimm auch Serjoga mit.“ Durch ein Kopfnicken wies Uglow auf einen brünetten Jungen, der sich hinter den Rücken der etwas abseits zusammengescharten Kinder versteckte. „Die 140
beiden sind dicke Freunde“, erklärte Uglow, sich nach Vitali umblickend. „Ob Streiche oder Kopfnüsse, sie teilen alles.“ Er winkte den Jungen mit dem Finger zu sich heran: „Komm schon, komm, Serjoga.“ Der näherte sich Uglow mit niedergeschlagenen Augen und wirbelte mit seinen bloßen Füßen Staubwolken auf. „Also, ihr Bürschchen“, sagte Uglow streng. „Wir brauchen eure Hilfe. Macht mir ja keine Schande. Alles klar?“ Als die Jungen im Wagen saßen, lebten sie auf, und als sie begriffen, daß ihnen keine Strafe drohte, begannen sie, einander ins Wort fallend, bald an Uglow, bald an Vitali gewandt, zu erzählen. Ja, ja, sie wären beim Pilzesammeln gewesen, als sie im Wald auf einen Wagen stießen. Und in dem Wagen sei Blut gewesen, Ehrenwort! Gleich würden sie dem Onkel zeigen, wo der Wagen in den Wald eingebogen ist. Tatsächlich begannen nach etwa drei Kilometern die Entdeckungen. Das erste, was sie an dieser Stelle erblickten, waren über die Chaussee verstreute Glassplitter und eine schwarzgraue Bremsspur. Vitali befahl den Kindern, im Wagen zu bleiben, und machte sich zusammen mit Uglow an die Untersuchung der Spuren. Bald kauerte er, den aufgerissenen und mehrfach ausgebesserten Asphalt aufmerksam betrachtend, nieder, bald bewegte er sich vorsichtig und langsam, gewisse Stellen umgehend, vorwärts. „Sieh mal an … Interessant, muß ich dir sagen“, meinte er leise zu dem ihm auf den Fersen folgenden Uglow. „Hier handelt sich’s nicht um einen Unfall, mein Lieber. Es war kein anderer Wagen beteiligt … Die Scheibe wurde eingeschlagen … und zwar von innen … Die ganze Scheibe scheint herausgeflogen zu sein … Und da, sieh mal …“ Er kauerte sich hin und kniete dann, die Hände 141
auf den Asphalt gestützt, nieder. „Blut … Hier, auf dieser Scherbe … Und es stammt nicht aus einer Schnittwunde. Siehst du, wie verschmiert es ist? Und zwar auf der Innenseite …“ Vitali richtete sich auf. „Hier hat’s eine Schlägerei gegeben“, sagte er überzeugt. „Eine Schlägerei im Wagen. Bulawkin hat mit jemandem gekämpft. Diesen Jemand hat er aus der Stadt mitgenommen. Einen Bekannten also. Das ist hier eine abgelegene Ecke …“ Vitali blickte sich um. „Nichts als Wälder ringsum. Einen Schrei hört hier niemand.“ „Nicht mal einen Schuß würde man hören“, bemerkte Uglow finster. „Der hat genau gewußt, wohin er wollte.“ „Ja, da hast du recht.“ Vitali stieß einen Seufzer aus. „Na, überlegen wir mal weiter. Sie haben also miteinander gekämpft. Wie der Kampf ausgegangen ist, wissen wir vorläufig noch nicht. Aber der Wagen ist weitergefahren. Siehst du? Dort entlang, zum Straßenrand …“ Vitali folgte langsam der Spur. Uglow heftete sich wie ein Schatten an seine Fersen. „So“, fuhr Vitali fort und blieb stehen. „Hier hat er den Straßengraben überquert und ist in die Schneise eingebogen. Also, gehen wir in den Wald?“ Er blickte sich zu Uglow um. „Gehen wir“, stimmte Uglow, in den Straßengraben steigend, zu. Vitali winkte mit dem Arm und rief: „Kinder! Kommt her!“ Auf diesen Augenblick hatten die Jungen schon ungeduldig gewartet. Im Nu kletterten sie aus dem Wagen. In der schmalen, mit kleinen Erdbuckeln bedeckten, mit hohem Gras und jungen Fichten bewachsenen Schneise hatte Bulawkins Wagen deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Die Kinder redeten aufgeregt auf Vitali ein: „Jetzt ist’s nicht mehr weit, Onkel … Da, an der krummen Kiefer … 142
Hier hat’s ihn aber geschüttelt, wieviel Glas da rausgefallen ist …“ Vitalis Blick hing unverwandt an der unregelmäßigen, von Zeit zu Zeit verschwindenden Wagenspur. Die Glassplitter hatte er noch vor den Kindern entdeckt. Endlich erreichten sie die krumme Kiefer. Und dort, dicht neben dem Baum, erblickte Vitali im selben Augenblick den alten, grünlichen Gasik im Gebüsch, denselben Wagen, in dem Bulawkin Igor und ihn zum Hotel gefahren hatte. Der Gasik war auf eine Seite gekippt, seine Türen standen weit offen. „Hier habt ihr wahrscheinlich schon alle Spuren zertrampelt“, sagte Vitali ärgerlich. „Und alles angefaßt, ihr Teufel.“ Die Kinder versicherten erschrocken: „Nein, Onkel, nein! Als wir das Blut gesehen haben, sind wir ausgerückt! – Vitja hat nämlich mal gelesen, daß man nichts anrühren darf …“ „Schon gut, schon gut. Das wird sich gleich zeigen. Ihr bleibt solange hier.“ Vitali winkte ab und bahnte sich vorsichtig einen Weg zu dem Gasik. Ja, Spuren gab es zur Genüge, aber deutliche Schuhabdrücke waren nicht zu entdecken. Vitali suchte die ganze Umgebung ab. Das Gras, die Blumen und das Moos waren überall zertreten, plattgedrückt und mit Erde bestreut. Allmählich entfernte Vitali sich immer weiter von dem Wagen. Plötzlich entdeckte er eine Schleifspur. Er spürte sein Herz sofort heftiger schlagen. Ein breiter Streifen, der die im Weg stehenden Sträucher umging, war hier vor kurzem ins Gras gedrückt worden. Vitali beugte sich darüber, und sein scharfes Auge bemerkte an einigen Grashalmen bräunliche Blutflecken. Ein Experte würde das morgen natürlich überprüfen. Aber es handelte sich zweifellos um Blut! 143
Langsam, ohne die Augen von dem zerdrückten Gras zu heben und sich einen Weg durchs Gebüsch bahnend, um ja nicht auf die sich bereits wieder aufrichtenden Grashalme zu treten, bewegte Vitali sich vorwärts. Plötzlich sah er im Gras die Kippe einer billigen Papirossa. Ohne sie zu berühren, betrachtete Vitali sie aufmerksam. Mit Uglow, der inzwischen herangekommen war, ging er weiter. Nach wenigen Schritten erblickten sie hinter einem Gebüsch eine stark eingedrückte Vertiefung im Gras. Dort endete die Spur. „Hier hat er gelegen“, sagte Vitali. „Und dann … ist er wohl weitergegangen.“ „Oder man hat ihn fortgetragen“, ergänzte Uglow. „Ja“, stimmte Vitali zu. „Wahrscheinlich hat man ihn getragen.“ Schweigend das zerdrückte Gras betrachtend, standen sie noch einen Augenblick und kehrten dann zum Wagen zurück. „Morgen kommt ein Experte“, sagte Vitali unterwegs. „Bis dahin muß alles unverändert bleiben.“ Da bereits die Dämmerung einsetzte, untersuchten sie den Wagen nur in aller Eile. Auch in ihm entdeckten sie Blut, und am Lenkrad befanden sich Fingerabdrücke, von denen einige offensichtlich zur Identifizierung geeignet waren. Im Wald verdichtete sich die Dämmerung rasch. Einen letzten Blick auf den Wagen werfend, sagte Vitali noch einmal besorgt: „All das muß bis morgen unverändert bleiben.“ Nach kurzem Nachdenken setzte er hinzu: „Hör zu, Wanja. Du mußt hier bleiben. Ich fahre ins Dorf, bringe die Kinder nach Hause, rufe in der Stadt an und komme dann wieder zurück. Wir werden hier übernachten. Morgen früh kommen unsere Leute her. Nachts aber … Nachts könnte jemand hierher zurückkehren. Du verstehst?“ Uglow nickte. 144
„Fahr nur. Es wird gleich völlig dunkel werden. Und bring was zu essen mit.“ Immer wieder über Sträucher und Bäume stolpernd, gingen Vitali und die Jungen den langen Weg über die Schneise zurück. Dann fuhren sie ebenfalls lange, ehe sie das Dorf erreichten. Und auch das Telefongespräch, das Vitali führte, kam ihm endlos lang vor, da er ständig an Uglow denken mußte, der im Wald bei dem Wagen zurückgeblieben war, an den sich im Dunkeln jeden Augenblick jemand heranschleichen konnte. Und wenn es zwei waren …? Der nächste Tag war ein Sonntag. Trotzdem erwachte Igor Otkalenko mit den ersten Sonnenstrahlen, die den weißen Lampenschirm unter der Decke vergoldeten. Sein erster Gedanke galt Vitali. Wie war es ihm dort ergangen? Was hatte er entdeckt? Nun, anscheinend hatte er Bulawkins Wagen gefunden, und zwar im Wald. Das hatte Vitali ihm am Telefon mitgeteilt. Aber wie ging es weiter? Ach, er hätte selbst dorthin fahren sollen. Aber dann hätte Vitali sich mit Tscherkassow unterhalten müssen … Der Gedanke an Tscherkassow kam Igor, als er sich rasierte. Von diesem Augenblick an dachte er nur noch an eins: So schnell wie möglich zur Stadtabteilung! Noch im Morgengrauen mußten sie eine operative Gruppe nach Posharowo schicken. Diese Sache galt es unbedingt zu überprüfen! Igor konnte sich nicht erklären, warum ihn plötzlich eine solche Unruhe erfaßte. Auch auf die Begegnung mit dem Hauptbuchhalter mußte er sich vorbereiten. Dieser Herr hatte gestern erklärt: „Sonntags trinke ich um zehn Uhr Kaffee. Kommen Sie also bitte um elf.“ Er sprach im Ton eines Professors, der einem leistungsschwachen Studenten gestattet, ihn mit einer Frage zu behelligen. Nun, verehrter Valentin Grigorjewitsch, wir werden sehen, wie 145
Sie uns Ihre buchhalterischen Kunststücke erklären werden … Den Weg durch die menschenleeren Straßen zur Stadtabteilung legte Igor fast im Laufschritt zurück. Ob sie schon aufgebrochen waren? Sie waren! Dies teilte ihm der Diensthabende, der hinter seinem Tisch aufsprang, munter und zackig mit. Über Hauptmann Otkalenkos Auftauchen zu dieser frühen Stunde war er nicht im geringsten erstaunt. Auch die Namen der nach Posharowo Gefahrenen rasselte er ihm herunter. Selbst den merkwürdigen Namen des Hundes hatte er parat – der Hund hieß Gott. Lachend meinte er: „So können wir immer sagen, sie sind mit Gott gefahren. Also wird alles klappen. Das ist nämlich kein Hund, sondern …“ Er machte eine unbestimmte, begeisterte Handbewegung. „Den kennt man sogar in Moskau!“ Igor stieg in Tomilins Arbeitszimmer hinauf und holte die Papiere aus dem Panzerschrank. Punkt elf Uhr läutete Igor bereits an einer Wohnungstür im dritten Stock eines neuen Hauses in der Straße der Dekabristen. Eine kleine grauhaarige Frau mit Schürze öffnete ihm. Sie musterte Igor mißtrauisch und sagte: „Valentin Grigorjewitsch erwartet Sie. Gehen Sie dort hinein.“ Sie wies mit ihrem krummen Finger auf eine der Türen. Igor klopfte. „Ja, ja! Bitte!“ rief eine kräftige Baßstimme. Ein großer, wohlbeleibter Mann erhob sich, ein Buch zur Seite legend, von der Couch. Sein rosiges, erhaben wirkendes, gepflegtes Gesicht mit den Hängebacken und den Tränensäcken unter den Augen trug den Stempel der Selbstgefälligkeit und Sattheit. Eine beneidenswerte Verdauung, dachte Igor sarkastisch. Und ein ebensolches Nervenkostüm. 146
Oleschkowitsch fuhr sich mit der dicklichen Hand, an der er einen breiten, tief in den Finger einschneidenden Ehering trug, über sein graues Haar und reichte diese Hand dann seinem Gast. Es war eine riesengroße und erstaunlich weiche Hand. „Bitte“, wiederholte er, mit einer sanften Bewegung auf den Polstersessel neben dem Zeitungstischchen weisend, und nachdem er sich in dem anderen Sessel niedergelassen hatte, fragte er: „Womit kann ich dienen?“ „Valentin Grigorjewitsch, ich möchte gern einige Fakten zum Fall Lutschinin präzisieren“, erwiderte Igor. „Aber zunächst einmal: Was halten Sie überhaupt von dieser Geschichte?“ „Hm, überhaupt …“ Oleschkowitsch lehnte sich bequem im Sessel zurück und faltete die Hände über seinem Bauch. Dann ließ er die Daumen kreisen, zog die buschigen Brauen hoch und machte unbestimmte Kaubewegungen mit den Lippen. „Überhaupt will ich Ihnen dazu mal meine ganz private Meinung sagen: Jewgeni Petrowitsch hat mir außerordentlich imponiert. Ganz außerordentlich! Er war ein tüchtiger, kluger und außerdem charmanter Mensch. Aber aufbrausend und streitsüchtig. Mitunter mußte man ihn regelrecht auf die Erde zurückholen. Ohne daß er, wie ich bemerken muß, beleidigt gewesen wäre. Tja. Mit einem Wort,“ – Oleschkowitsch breitete die Arme aus –, „Sie können machen, was Sie wollen, aber den gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen Glauben zu schenken, sehe ich mich außerstande. Jawohl, außerstande.“ „Einige Fakten bedürfen dennoch der Präzisierung“, widersprach Igor hartnäckig und holte seine Papiere heraus. „Meinetwegen. Was ich kann, will ich Ihnen gern präzisieren.“ „Hier zum Beispiel“ – Igor nahm eines der Blätter zur 147
Hand – „die Auszahlung von Geldern an einige Mitarbeiter auf Anweisung Lutschinins, obwohl keine Arbeitsaufträge vorhanden waren. Wie ist das zu erklären?“ „Ganz einfach“, meinte Oleschkowitsch achselzuckend. „Das ist leicht zu erklären. Die bewußten Arbeitsaufträge hatten vorgelegen. In unserem Buch waren sie registriert. Aber im Moment der Revision waren sie nicht greifbar.“ „Was heißt, sie waren nicht greifbar?“ rief Igor erstaunt aus. „Sie waren eben nicht greifbar.“ Oleschkowitsch breitete die Arme aus. „Eine Mitarbeiterin der Buchhaltung erhielt dafür von mir einen strengen Verweis.“ „Aber erlauben Sie, Valentin Grigorjewitsch, wer konnte denn ein Interesse daran haben, die Arbeitsaufträge zu stehlen?“ „Keine Ahnung. Aber es ist nun mal eine Tatsache. Sie wurden gestohlen. Wie ich allerdings bemerken muß, nicht von meinen Mitarbeitern. Die hätten sie sonst nämlich auch aus dem Buch verschwinden lassen. Schließlich kennen meine Leute sich aus.“ „Tja“, meinte Igor nachdenklich. „Und die Kommission?“ „Die hat sich nicht darum geschert. Genauer gesagt, sie erklärte, daß die Arbeitsaufträge anscheinend gefälscht waren und daß sie, als die Revision drohte, in aller Eile vernichtet wurden. Völlig absurd, kann ich Ihnen versichern. Und diese Ansicht habe ich auch der Kommission nicht verhehlt.“ Igor machte sich eine Notiz und fragte: „Gestatten Sie mir später einmal, einen Blick in dieses Buch zu werfen?“ „Warum denn nicht? Dabei können Sie sich auch gleich mit meiner Mitarbeiterin unterhalten. Es handelt sich um Anna Nikolajewna Buraschnikowa. Eine durch148
aus qualifizierte Buchhalterin. Sie kann die Arbeitsaufträge nicht verbummelt haben.“ Buraschnikowa, Buraschnikowa … Irgendwo ist dieser Name mir doch schon begegnet, dachte Igor. „Na gut, Valentin Grigorjewitsch“, meinte er. „Und wie würden Sie beispielsweise folgenden Fakt erklären: Lutschinin hat dem Baranowsker Kombinat Ausrüstungen übergeben, die er für schrottreif erklärte. Sie aber schickten dem Kombinat vier Monate später eine Rechnung für diese Ausrüstungen. Demnach waren sie also doch nicht schrottreif, habe ich recht?“ „Nicht ganz.“ Oleschkowitsch schmunzelte. „Hier spielt, wenn Sie das bemerken wollen, ein wichtiges Detail eine Rolle. Die Ausrüstungen waren schrottreif. Das ist schon richtig. Dann aber schickte das Kombinat uns eine Reisekostenrechnung. Für diesen Posten hatten wir jedoch kein Geld mehr zur Verfügung. Was sollten wir machen? Na, da fielen mir diese Ausrüstungen ein. Zuerst wäre Jewgeni Petrowitsch fast aus der Haut gefahren. Immer wieder setzte ich ihm meine Gründe auseinander. Er aber: Kommt nicht in Frage. Wir stritten eine ganze Weile, bis er schließlich doch unterschrieb. Das Kombinat nahm die Rechnung an. Die Bilanz stimmte. Auch das habe ich der Kommission nicht verschwiegen. Doch wieder scherte sie sich nicht darum.“ Lange noch gingen sie die einzelnen Punkte des Revisionsprotokolls durch. Trotz seines vornehmen Gehabes und seiner gewählten Ausdrucksweise wurde Oleschkowitsch Igor immer sympathischer. Hinter seinem wunderlichen Wesen spürte man tadellose Ehrlichkeit, eine feine Beobachtungsgabe und eine furchtlose Geradheit des Urteils. Igor fand sich sogar bereit, eine Tasse Kaffee zu trinken, den die kleine alte Frau in der Schürze ihnen auf einem Tablett servierte. Der Kaffee war vorzüglich. Dazu bemerkte Oleschkowitsch: „Das Rezept habe ich aus 149
dem Iran mitgebracht. Dorthin hat es mich während des Krieges verschlagen. Wenn Sie wollen, verrate ich es Ihnen. Es garantiert Ihnen wahren Genuß.“ „Danke, Valentin Grigorjewitsch. Verraten Sie mir lieber Ihre Meinung über einige Ihrer Kollegen. Sie kennen doch die Leute im Werk.“ „Warum nicht? Wenn ich Ihnen damit einen kleinen Dienst erweisen kann.“ Man merkte, daß Oleschkowitsch für seinen jungen Gesprächspartner ebenfalls Sympathie empfand. Über Tscherkassow äußerte er verächtlich: „Er mag kein schlechter Fachmann sein, aber als Mensch … Achten kann ich ihn, wie ich gestehen muß, nicht.“ „Bei Ihnen arbeitet doch der Kraftfahrer Bulawkin. Was ist das Ihrer Ansicht nach für ein Mensch?“ Oleschkowitsch zuckte die Achseln. „Den kenne ich weniger. Aber Sie sehen ja, was er angerichtet hat.“ „Vielleicht hat er sogar noch mehr angerichtet“, bemerkte Igor. „Hier, sehen Sie, diesen Brief hat er an die Zeitung geschickt.“ Den Brief weit von sich haltend, las Oleschkowitsch ihn aufmerksam durch. Dann schüttelte er seinen massiven Kopf. „Das hat er nicht geschrieben.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Woher sollte er von diesen Dingen Kenntnis haben?“ „Ja, das habe ich mich auch gefragt: woher?“ Nach kurzem Zögern sagte Igor plötzlich: „Könnte beispielsweise Tscherkassow von all diesen Fakten gewußt haben?“ „Warum nicht? Natürlich könnte er das“, meinte Oleschkowitsch achselzuckend und verzog angewidert das Gesicht. „Abscheulich! Die Hände müßte man sich waschen, nachdem man so ein Papier angefaßt hat. Aber, wissen Sie, wir haben im Werk auch ganz hervorragende Leute. Da ist zum Beispiel Iwan Spiridonowitsch Sima150
kow. Ein feiner Mensch, muß ich Ihnen sagen. Und dazu ein kluges Köpfchen. Er ist Brigadier der Schlosser. Diese Rabauken beten ihn einfach an. Eine ungewöhnliche Erscheinung, kann ich Ihnen versichern. Übrigens ist er Mitglied der Parteileitung und genießt große Achtung. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich mit ihm bekannt zu machen.“ Simakow, Simakow …, schoß es Igor durch den Kopf. Das ist doch der, der mit Tanja Filatowa über Nossow gesprochen hat. Nicht übel … „Wo kann ich ihn denn finden, Valentin Grigorjewitsch? Es wäre gut, das noch heute zu erledigen.“ „Wir können ihn gleich anrufen.“ Sich mit beiden Händen auf die Sessellehnen stützend, erhob sich Oleschkowitsch mühsam. … Eine Stunde später marschierte Igor bereits durch die Stadt und suchte nach der Straße, die den seltsamen Namen Sackgasse am Wald trug. Unterwegs dachte er über sein Gespräch mit Oleschkowitsch nach und zerbrach sich über einige rätselhafte Dinge den Kopf. Jemand hat also die Arbeitsaufträge gestohlen! Aber wer? Bulawkin kann es nicht gewesen sein. Er hatte keinen Zutritt zur Buchhaltung, und selbst wenn er imstande gewesen wäre, dort einzudringen, hätte er diese Arbeitsaufträge doch nie im Leben gefunden. Wer käme sonst in Frage? Nossow? Auch sehr zweifelhaft. Wenn man die Version beibehält, daß Nossow Lutschinin zusammen mit Bulawkin ermordet, „in den Dreck getreten“ hat – wozu brauchten sie dann überhaupt die anonymen Briefe zu schreiben? Hatten sie dagegen beschlossen, Lutschinin nur im übertragenen Sinne „in den Dreck zu treten“, das heißt, lediglich zu verleumden – woher besaßen sie dann die Fakten? Irgendwie reimte sich das Ganze nicht zusammen. In dieser zweiten Kette mußte noch irgendein anderes Glied vorhanden sein. 151
Die Straße mit dem seltsamen Namen befand sich am Stadtrand und stieß tatsächlich auf ein kleines Wäldchen. Die letzten Häuser waren bereits unter Bäumen verborgen. Es ging schon auf sechzehn Uhr zu. Igor war rechtschaffen müde. Außerdem hatte er großen Hunger. Das Häuschen der Simakows war als eines der letzten direkt im Wald gelegen. Der hagere, schnurrbärtige Mann, der mit einem kleinen Mädchen im Arm auf einer Bank neben der Pforte saß, mußte Simakow sein. Auch Simakow hatte Igor bereits erspäht. Er erhob sich mühselig, indem er das Mädchen mit einem Arm umfaßte, und winkte Igor zu. „Sie wollen bestimmt zu mir, nicht wahr?“ sagte er leicht stotternd. „Ich bin Simakow.“ „So ist es, Iwan Spiridonowitsch.“ Lächelnd ging Igor auf ihn zu. „Guten Tag.“ „Bitte, gehen wir ins Haus.“ „Vielleicht bleiben wir lieber auf der Bank sitzen? Das ist ja hier die reinste Sommerfrische. Und so herrlich schattig.“ „Wir können auch hier bleiben“, stimmte Simakow zu. „Nur das Kind werde ich meiner Alten bringen, nicht wahr. Die jungen Leute sind im Urlaub, und wir alten dürfen uns abplagen, nicht wahr.“ Er streichelte liebevoll den blonden Kopf des Mädchens. „Setzen Sie sich nur, setzen Sie sich“, sagte er, auf die Bank weisend. „Ich bin gleich wieder da.“ Mit unerwartet leichtem, ja fast fliegendem Gang begab sich Simakow, das Mädchen an sich gedrückt, zum Haus. Ihr Gewicht schien er gar nicht zu spüren. Kurz darauf kehrte Simakow zurück und ließ sich neben Igor auf der Bank nieder. „Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?“ fragte er ruhig und ohne eine Spur von Neugier. „Es geht um Lutschinin“, sagte Igor leise, sich gleich152
sam für das traurige Thema des bevorstehenden Gesprächs entschuldigend. „Verstehe.“ Simakow nickte und fragte noch einmal: „Sie kommen wohl aus Moskau?“ „Ja.“ „Verstehe“, wiederholte Simakow. „Was ist nur mit ihm passiert?“ fragte Igor. „Was meinen Sie, Iwan Spiridonowitsch?“ „Ich frage mich immer wieder: Wie hat er nur Hand an sich legen können, nicht wahr?“ erwiderte Simakow ergrimmt. „Das will mir einfach nicht in den Kopf hinein.“ „Na, der ganze Ärger? Und dazu noch Tanja Filatowa …“ Simakow drehte sich mit einem Ruck um und sagte streng, ja geradezu schroff: „Tanja hat damit nichts zu tun.“ „Das wollte ich auch gar nicht sagen.“ „Sagen wollten Sie es vielleicht nicht, aber gedacht haben Sie es, nicht wahr, und da ist es Ihnen herausgerutscht“, widersprach Simakow. „Darum will ich Ihnen gleich meine Meinung dazu sagen. Damit ein für allemal Schluß damit ist. Tanja ist eine kristallklare Seele. Ich kannte sie schon, als sie noch so klein war.“ Er streckte seine schwielige Hand knapp über dem Erdboden aus. „Diese Liebe hat ihr genug Kummer gebracht. Auch er scheint sie ja geliebt zu haben. Aber sie wollte seine Familie nicht zerstören, nicht wahr. Sie hatte beschlossen, zu kündigen und unsere Stadt zu verlassen. Das stimmt, das hat sie gewollt. Aber daß er sich deshalb das Leben genommen hat, nicht wahr – das glaube ich nicht. Jewgeni Petrowitsch war ein starker, guter Mensch, das ist meine Meinung. Und was das Gerede über ihn angeht, nicht wahr, so haben wir ihm damals geradeheraus gesagt: ‚Für uns ist die Sache damit noch nicht erledigt, Jewgeni Petrowitsch. Wir werden weitergehen.‘ Er aber wurde regelrecht wütend. ‚Ich‘, sagte er, ‚werde selbst weitergehen.‘ Jetzt wissen wir, wohin er gegangen ist …“ 153
Beide verstummten. Dann sagte Igor: „Tanja Filatowa erzählte mir, daß Nossow ihm gedroht habe. Er wollte ihn ‚in den Dreck treten‘. Sie scheint diesen Nossow zu fürchten.“ „Das habe ich ihr, wenn ich mich recht erinnere, selbst gesagt, nicht wahr.“ Simakow nickte nachdenklich. „Nossow ist ein undurchsichtiger Typ.“ „Stand er mit Jewgeni Petrowitsch auf dem Kriegsfuß?“ „Der steht mit aller Welt auf dem Kriegsfuß.“ „Als was arbeitet er bei Ihnen?“ „Als Meister, nicht wahr. Jewgeni Petrowitsch hat ihm zweimal einen Verweis erteilt, und schließlich wollte er ihn ganz und gar entlassen.“ Simakow saß zusammengekrümmt da, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte unverwandt auf einen Punkt. Wieder herrschte Schweigen. Dann sagte Igor nachdenklich: „Der Selbstmord geschah am Zwölften, einem Freitag. Wo Nossow sich an diesem Tag befand, wissen Sie nicht zufällig?“ Dann fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu: „Woher sollten Sie auch?“ „Das will ich meinen“, stimmte Simakow zu. „Das kann ich wirklich nicht wissen, nicht wahr. Aber es wäre nicht schlecht, wenn man es wüßte …“ Als sie sich verabschiedeten, brach bereits die Dämmerung herein. Zum Schluß notierte Igor sich Nossows Adresse. Na, das reicht für heute, dachte er, als er müde die Straße entlangging. Jetzt möchte ich nur noch etwas essen. Plötzlich mußte er an Vitali denken. Was geht jetzt dort, in diesem Posharowo, vor? Was hat Vitali in Erfahrung gebracht? – Dieser Nossow … Sollte er tatsächlich einen Mord auf sich genommen haben? Zusammen mit Bulawkin? Aber wozu dann die anonymen Briefe …? An der Kreuzung schaute Igor sich um. 154
In dieser Stadt orientierte er sich bereits ganz gut. Jetzt zum Beispiel mußte er nach rechts abbiegen. Wenn er jedoch weiterging, kam er auf die Gogolstraße. Dort wohnte Nossow … Entschlossen schritt Igor, ohne abzubiegen, weiter. Ein paar Minuten später befand er sich bereits in der Gogolstraße, wo er nach den Hausnummern Ausschau hielt, die in der immer dichter werdenden Dämmerung kaum zu erkennen waren. Bald tauchten die Umrisse eines kleinen, zweistöckigen Hauses vor ihm auf. Aus der Haustür kam eine männliche Gestalt. Pfeifend, rasch und doch irgendwie sorglos bewegte sich der Mann direkt auf Igor zu. Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, rief Igor erstaunt aus: „Slawa! Sie …?“ Vor ihm stand, über diese unerwartete Begegnung ebenso überrascht wie Igor, der bärtige Nebogow. „Ach, Sie sind’s?“ fragte er seinerseits. „Stellen Sie sich mal vor“, meinte Igor lachend. „Aber wie kommen Sie hierher?“ Nebogow verneigte sich spöttisch. „Sir, ich frage nicht, wie Sie hierherkommen. Was mich angeht, so habe ich die Ehre, in diesem Haus zu wohnen.“ Er wies auf den Eingang, aus dem er gerade gekommen war. „In diesem Haus?“ fragte Igor ungläubig, während er die Erregung, die sich seiner bemächtigte, kaum unterdrücken konnte. „In welcher Wohnung denn?“ „In der Wohnung Nummer sieben, wenn Sie nichts dagegen haben“, entgegnete Nebogow nach wie vor in spöttischem Ton, wenn auch bereits ein wenig pikiert. „Wohnen Sie … allein dort?“ „Nein, wieso? Erstens besitze ich eine nette Schwester. Eine sehr sympathische, rothaarige Lehrerin. Ich kann Sie mit ihr bekannt machen, wenn Sie wollen. Zweitens haben wir leider noch einen Mieter in der Wohnung. Einen ziemlich unsympathischen Gesellen.“ 155
„Noch einen Mieter …?“ „Ja, genau. Sein Name ist Nossow. Mit Vor- und Vatersnamen heißt er Wassili Pawlowitsch. Ich möchte ihn ein Leben lang nicht mehr sehen, wie man in Odessa zu sagen pflegt.“ Igor hatte sich wieder gefaßt, ergriff Nebogows Arm und sagte fröhlich: „Ausgezeichnet. Ich begleite Sie, wohin Sie auch gehen mögen. Habe sowieso nichts Besseres zu tun.“ Müdigkeit und Hunger waren wie weggeblasen. Igor überlegte fieberhaft, wie er sich jetzt verhalten sollte. Es war noch sehr früh am Morgen. Im Osten begann sich der Himmel gerade erst rosig zu färben und unter den weit ausladenden alten Fichten herrschte noch finstere Nacht. Über der Schneise hingen milchige Nebelschwaden. Der ins Gebüsch gekippte Wagen, der nachts so geheimnisvoll und riesig gewirkt hatte, trat jetzt mit seinen vom Tau glänzenden schwarzen Rädern, den schmutziggrünen, weitgeöffneten Türen mit den darin steckenden Glasscherben und der stumpfen, gleichsam abgehackten Motorhaube wie auf einem Abziehbild hervor. Vitali nahm die Pistole in die andere Hand und streckte, sich auf der Erde abstützend, vorsichtig das eingeschlafene Bein aus, wobei er sich bemühte, den an seiner Seite schlafenden Uglow nicht zu wecken. Die Nacht war also vorübergegangen, ohne daß jemand den verlassenen Wagen aufgesucht hätte. Von der Chaussee her schreckte plötzlich ein langes, gellendes Hupsignal die Waldesstille auf. Dem ersten folgten ein zweites und ein drittes Signal. Vitali sprang erfreut auf, lehnte sich aber gleich wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht an einen Baumstamm. Er war vom langen Liegen völlig steif geworden und konnte sich weder aufrichten noch tief Luft holen. Seine Beine waren wie aus Watte. 156
„Verflixt noch mal!“ stieß er gequält hervor. „Die Jagd beginnt!“ sagte der erwachende Uglow und nickte zur Chaussee hinüber. „Unsere Leute sind da. Gehen wir ihnen entgegen.“ Eine halbe Stunde später war rings um den verwaisten Gasik bereits ein reges Treiben im Gange. Die Expertin, eine junge, füllige Frau in Milizjacke und Stiefeln, nahm sorgfältig die Fingerabdrücke vom Lenkrad und vom Armaturenbrett ab, schabte Blutspuren von den Sitzpolstern und untersuchte das Wageninnere mit Hilfe einer Lupe. Vitali fertigte inzwischen eine Skizze vom Tatort an. Sorgsam trug er den Wald, die Schneise und die Chaussee darauf ein, wobei er sich von Zeit zu Zeit zurücklehnte und sich gleichsam an seinem Werk erfreute. Anschließend machte er sich daran, mit Schritten die einzelnen Entfernungen auszumessen. Da rief die Expertin ihn plötzlich an. Sie hatte im Wagen eine Kippe mit charakteristischen Abdrücken entdeckt. Während Vitali die Kippe vorsichtig in Augenschein nahm, dachte er: Der linke Schneidezahn ist scharf wie bei einem Wolf. Er gab der Expertin die Kippe zurück und erinnerte sich seines eigenen Fundes. „Genau die gleiche.“ Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Sie stammt aber nicht von Bulawkin. Man müßte sich mal für die Speichelgruppe interessieren.“ Der Hundeführer suchte die Umgebung mit einem riesigen Schäferhund ab und brummte vor sich hin: „Als ob eine Herde Elefanten hier durchgezogen wäre. Wie soll man da eine Spur aufnehmen? Was meinst du dazu?“ wandte er sich an den Hund. Der hob die klugen braunen Augen zu ihm auf und rieb seine Schnauze am Stiefel des Hundeführers, als wollte er sagen: „Macht nichts, wir werden trotzdem unser Bestes tun.“ Der Hundeführer schmunzelte und klopfte ihm auf den kräftigen Hals. 157
Vitali ging auf die beiden zu. „Gib ihm das mal zur Information.“ Er reichte dem Hundeführer eine Schachtel, in der die beiden Kippen und ein im Wagen gefundener Knopf lagen. Der Hundeführer roch jedoch zuerst selbst daran und sagte dann vorwurfsvoll: „In der Schachtel war Tabak.“ Er schüttete sich die Kippen und den Knopf auf die Hand und hielt sie dem Hund vor die Nase. Der sog geräuschvoll wie ein Staubsauger die Luft darüber ein und begann, die Schnauze im Gras, zu suchen. „Such, Gott, such“, kommandierte der Hundeführer. „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, meinte Vitali lachend. „Wie konntet ihr ihm nur so einen Namen geben? Das verletzt doch die Gefühle der Gläubigen.“ „Den Namen hat er sich selbst ausgesucht“, erklärte der Hundeführer lächelnd. „Er hat nur auf ihn reagiert. Schon in der Schule. Kaum kam mir mal das Wort Gott über die Lippen, als er auch schon Hals über Kopf zu mir stürzte. So ist er zu seinem Namen gekommen. Na ja, die Obrigkeit …“ In diesem Augenblick machte der Hund plötzlich einen Satz, und der Hundeführer kippte, das Gleichgewicht verlierend, auf Vitali. „Verflixt! Sieh mal, er verfolgt eine Spur!“ Die beiden eilten dem sich in die Büsche schlagenden Hund hinterher. Dieser lief sicher, ohne irgendwo anzuhalten, geschickt die Bäume umgehend und sich einen Weg durch das spärliche Strauchwerk bahnend, immer weiter, wobei er geräuschvoll atmete und von Zeit zu Zeit ungeduldig und grimmig knurrte. Unter Aufbietung aller Kräfte, keuchend, zerkratzt und von Zweigen gepeitscht, stürmten sie lange durch den Wald, ohne sich dazu entschließen zu können, den Hund zu bremsen, um wenigstens für einen Augenblick zu verschnaufen. 158
Der Wald wurde indessen immer lichter, und bald tauchte das Dorf vor ihnen auf. Über den Häusern kräuselten sich friedliche Rauchwolken. In den Höfen krähten aus Leibeskräften die Hähne. Ein Traktor begann zu rattern und entlockte den Dorfkötern ein wildes Kläffen. Irgendwo brüllte verzweifelt eine Kuh. Das Dorf erwachte. Vitali und der Hundeführer stolperten schweißüberströmt und schwer atmend über die Wiese. Nur von Zeit zu Zeit drehte sich der Hund mit einem plötzlichen Ruck um und ließ ein leises, ungeduldiges Winseln hören, als wollte er zu seinem Herrn sagen: „Warum bleibst du zurück? Lauf, lauf!“ Schon bei den ersten Häusern büßte er jedoch seine Sicherheit ein. Er hastete hin und her und suchte nach der verlorenen Spur. Der Hundeführer ging mit ihm noch einmal ein Stück zurück. Der Hund schob die Schnauze ins Gras und stürmte vorwärts, trat aber schon einen Augenblick später wieder auf der Stelle. Das wiederholte sich noch ein paarmal. Schließlich legte sich der Hund müde ins Gras und hob schuldbewußt den Kopf. „Schluß“, meinte der Hundeführer seufzend und wischte sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. „Der Mann ist also ins Dorf gegangen“, sagte Vitali. Erschöpft ließ er sich, den Rücken an den niedrigen Zaun gelehnt, neben einem Haus nieder. Der Hundeführer setzte sich neben ihn. Der Hund streckte sich, die Schnauze auf den Pfoten, zu ihren Füßen aus und schloß die Augen. Nur seine Ohren zuckten nervös. „Versuchen wir uns ein Bild zu machen“, sagte Vitali und holte seine Pfeife hervor. „Dieser Mann – wahrscheinlich Bulawkin – schleppte sich nach der Prügelei blutbeschmiert ins Dorf. Mitten in der Nacht. Was wollte er hier?“ „Vielleicht war er verletzt?“ 159
„Möglich. Wenn auch nicht allzusehr. Sonst wäre er nicht so weit durch den Wald gelaufen, noch dazu im Dunkeln. Überhaupt hatte er ja ursprünglich nicht hierher gewollt. Für ein Versteck liegt das Dorf zu nahe – falls er überhaupt die Absicht hatte, sich zu verstecken. Dafür den Wagen zu stehlen lohnte sich auch nicht. Was hat er hier gewollt?“ Eine Zeitlang paffte Vitali nachdenklich vor sich hin. Dann verkündete er entschlossen: „Eins ist klar. Er hat hier Bekannte. Offensichtlich wollte er bei ihnen übernachten, sich umziehen und am nächsten Morgen weiterfahren.“ „Schon möglich“, stimmte der Hundeführer zu. „Geh jetzt zurück zu den anderen“, sagte Vitali zu ihm. „Nehmt euch den Wagen und fahrt in die Stadt. Es hat keinen Zweck, den Gasik noch länger zu bewachen. Jetzt wird keiner mehr kommen. Schick Uglow zu mir her. Nun, sagen wir, in die Teestube. Da können wir auch gleich etwas essen.“ Vitali erhob sich mühsam, klopfte sich, so gut es ging, ab, schob sein beschmutztes Hemd in die Hose und ging durch das Dorf zur Chaussee hinüber. Vor der Teestube standen ebenso wie am Tag zuvor mehrere Kraftwagen und Fuhrwerke, Pferde kauten, ihre Köpfe schüttelnd, Heu. Die Teestube war ziemlich voll. An den Tischen wurde gegessen und geraucht, man unterhielt sich laut, hier und da wurde gelacht und gestritten. Die Hand in der Tasche mit der Pistole, drängte Vitali sich zur Theke durch. Eine junge Frau mit einem sorgfältig geknüpften bunten Kopftuch und einer weißen Schürze, die soeben noch mit ein paar Gästen munter gescherzt hatte, sagte unfreundlich zu ihm: „Kannst gleich wieder gehen. Alkohol gibt’s erst ab zwölf.“ Vitali grinste. Ich mache wirklich Eindruck auf die 160
Dorfbewohner, dachte er und bat um eine Flasche Milch und eine Bockwurst. „Ich trinke keinen Alkohol“, fügte er barsch hinzu. „Das sieht man.“ „Hast keinen besonders scharfen Blick, Frau Wirtin.“ Erst jetzt blickte die Frau ihn aufmerksam an, und offensichtlich regte sich ein Zweifel in ihrer Brust. Da alle Tische besetzt waren, lehnte Vitali sich an das Ende der langen Theke. „Warum siehst du denn so wüst aus?“ fragte die Frau und fügte, bereits nicht mehr allzu überzeugt, hinzu: „Hast wohl im Straßengraben übernachtet?“ Vitali schüttelte mit vollem Mund den Kopf und erklärte kurz und bündig: „Im Wald.“ Inzwischen hatten die letzten Gäste die Theke verlassen, und die Frau wandte sich neugierig zu Vitali um. „Wieso denn im Wald?“ fragte sie, während sie sich auf der anderen Seite der Theke auf einem Hocker niederließ. „Dienstlich“, erwiderte Vitali. „Wir suchen einen Mann.“ Die Frau schüttelte mitfühlend den Kopf. „Na, so was … Was denn für einen Mann?“ „Er ist in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag ins Dorf gekommen. Bei irgend jemandem muß er übernachtet haben.“ „Wohl ein Fremder?“ „Hm …“ „Im Dorf war aber kein Fremder. Das würde ich wissen. Sind Sie gestern mit dem Wagen hier angekommen und haben unsere Jungen mitgenommen?“ „Ja.“ Vitali aß gierig und beantwortete die Fragen der Frau nur durch ein Kopfnicken. Dann fielen ihm plötzlich die Ermahnungen der Mutter ein, die er beim Abendbrot gewöhnlich zu hören bekam: „Stopf dir den Mund nicht 161
so voll, das schickt sich nicht.“ Und er mußte schmunzeln. „Worüber lachen Sie?“ fragte die Frau. „Glauben Sie mir nicht? Mein Alter ist Brigadier. Am Donnerstag hat er in aller Herrgottsfrühe sämtliche Höfe abgeklappert – wegen der Kühe. Es war kein Fremder im Dorf, das können Sie mir glauben.“ Mit finsterer Miene trank Vitali seine Milch aus. Dann erschien Uglow in der Teestube. Während er sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, gelang es ihm kaum, all die sich ihm entgegenstreckenden Hände zu drücken. „Sieh mal an, unser Iwan Kirillowitsch … Grüß dich, Wanja … Setz dich zu uns, wir rücken zusammen … Wanja, komm hierher!“ ertönte es von allen Seiten. Uglow war hier offenbar eine beliebte und geachtete Persönlichkeit. „Guten Tag, Iwan Kirillowitsch.“ Die Frau strahlte, als Uglow an die Theke kam. „Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen vorsetzen soll.“ „Gib mir einen Weißen, Dunjascha“, erwiderte Uglow fröhlich. „Ihren Weißen kenne ich schon“, meinte die und holte eine Flasche Milch hervor. „Bin gerade bei Ihrem Kollegen darauf reingefallen.“ Eine halbe Stunde später saßen Vitali und Uglow auf der Bank vor irgendeinem Haus und erörterten die entstandene Lage. „Die Gehöfte kenne ich alle“, sagte Uglow, an seiner Zigarette ziehend. „Zwei, drei lockere Vögel, die alles in der Teestube vertrinken, gibt’s natürlich. Aber die kennen wir.“ „Wer hat Verbindungen zur Stadt?“ fragte Vitali. „Mit wem könnte Bulawkin hier befreundet sein?“ „Verbindungen …?“ wiederholte Uglow nachdenklich. „Die gibt’s natürlich. Burakows Tochter arbeitet zum 162
Beispiel in der Stadt. Sie kommt oft mit ihrem Mann hierher. Anaschins Bruder auch.“ „Wo arbeitet dieser Bruder?“ „Der Bruder? Im Elektrodenwerk.“ Vitali blickte Uglow aufhorchend an. Der fügte seufzend hinzu: „Die Brüder taugen übrigens beide nichts. Sie vertragen wenig und werden leicht handgreiflich. Jeden Sonntag gibt’s Stunk mit den beiden.“ „Heute ist doch Sonntag.“ „Bis jetzt ist’s noch ruhig.“ „Weißt du, was?“ schlug Vitali vor. „Schauen wir doch mal bei ihnen vorbei, ja? Schließlich arbeitet auch Bulawkin im Elektrodenwerk.“ „Das läßt sich machen“, meinte Uglow zustimmend, fügte jedoch mit einem kritischen Blick auf Vitali hinzu: „Aber erst mußt du dich mal …“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung, als forme er etwas in der Luft. „Gehen wir zum Brigadier. Ich bin mit ihm verwandt.“ Im Hause des Brigadiers wurden sie mit fröhlichem Lärm empfangen. Die Kinder hängten sich jauchzend an Uglow. Der Hausherr, ein riesiger schnurrbärtiger Mann, der schon am frühen Morgen sonntäglich gekleidet war, las am Fenster die Zeitungen der ganzen Woche. Die Brille saß schief und unbequem auf seiner breiten Nase. Er schüttelte lange Vitalis Hand. „Sehr erfreut. Von Herzen erfreut“, brummte er zufrieden. „Seien Sie meine Gäste …“ Als Uglow erklärt hatte, warum sie gekommen waren, wirbelte alles um Vitali herum. Frisch gewaschen und rasiert, in einem sauberen Hemd, in gebügelten Hosen und blankgewienerten Schuhen trat er schließlich, rot vor Verlegenheit, hinter Uglow auf die Straße hinaus. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt überschritten, als Vitali und Uglow sich endlich dem Haus der Anaschins näherten. 163
Der Hausherr war jedoch nicht da. „Er ist in die Stadt gefahren“, sagte seine Frau. Sie war groß und hatte ein blasses, strenges Gesicht. „Zu Hause hat er ja nichts zu tun.“ „Ist der Bruder denn nicht gekommen?“ fragte Uglow. „Sie treiben sich schon den dritten Sonntag in der Stadt herum“, erwiderte die Frau verärgert und wischte sich die feuchten Hände an der Schürze ab. „Können wir kurz hereinkommen und uns ein wenig unterhalten?“ fragte Uglow. „Ja, treten Sie näher. Aber ich kann Ihnen nichts anbieten. Mit einem Hungerleider wie meinem Alten muß man sehen, daß man durchkommt.“ „Ich weiß, Pelageja Fjodorowna, ich weiß“, meinte Uglow seufzend, als er das Haus betrat. In dem großen, halbdunklen Hausflur hatte Vitali in einer Ecke Angeln, alte Fischreusen, Fischbehälter und an die Wand gelehnte Ruder entdeckt. Hier im Zimmer hing ein schwarzer Regenmantel am Ofen, daneben standen hohe Fischerstiefel. Auf dem Fensterbrett türmten sich alle möglichen Angelgeräte: Angelhaken, Senkbleie, wirre Knäuel von Angelsehnen und Blinker. Die Hausfrau wischte zwei der am Tisch stehenden Stühle mit ihrer Schürze ab und sagte: „Setzen Sie sich, bitte.“ „Ihr Mann angelt wohl?“ fragte Vitali. „Ja, wenn er mal nüchtern ist“, entgegnete die Frau brummig. „Damit gibt sich vor allem Jegorka ab. Sein Bruderherz.“ „Ganz allein?“ „Der bringt immer irgendwelche Leute mit. Mal zum Saufen, mal zum Angeln.“ „Mit wem geht er denn zum Beispiel angeln?“ „Da war mal ein guter Mensch hier. So ein Stattlicher. Jegorka scharwenzelte ständig um ihn herum. Anscheinend war’s sein Chef. Hab’ mich nicht weiter drum ge164
kümmert. Jetzt aber war er lange nicht mehr hier. Schon seit einem Monat nicht. Hat wohl gemerkt, daß mit den beiden Brüdern nicht viel los ist.“ Dann fügte sie seufzend hinzu: „Unser Jegorka ist nämlich ein Knastbruder.“ „Wie hieß denn der, der manchmal herkam?“ fragte Vitali vorsichtig. „Wie er hieß? Das weiß ich nicht mehr.“ „Denken Sie nach, Pelageja Fjodorowna“, bat Uglow. Während die Frau überlegte, glättete sie die Falten ihrer Schürze über den Knien. Vitali, den eine unbegreifliche Unruhe erfaßt hatte, stand auf, ging im Zimmer auf und ab und ließ sich dann wieder auf dem Stuhl nieder. „Jewgeni Iwanowitsch oder Jewgeni Petrowitsch hieß er, glaube ich …“, meinte die Hausfrau schließlich unsicher, ohne die Augen von der Schürze zu heben. Vitali warf Uglow einen bestürzten Blick zu. „Aha“, brachte er ein wenig heiser heraus und räusperte sich. „Jewgeni Petrowitsch. Also … Zum Angeln, sagen Sie, kam er her?“ „Ja.“ Die Frau nickte, ohne den Kopf zu heben, und setzte nach kurzem Nachdenken hinzu: „Er war immer schweigsam und müde und zog ein finsteres Gesicht …“ Vitali hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Unruhig marschierte er im Zimmer auf und ab. „Na, und mit wem trinkt er gewöhnlich?“ fragte Uglow, Vitali besorgt mit den Blicken folgend. „Mit wem er trinkt?“ fragte die Frau zurück und stieß einen Seufzer aus. „Na, mit seinem Waska, mit wem sonst?“ Als sie merkte, daß Vitali vor dem Rahmen mit den Fotos stehengeblieben war, nickte sie ihm zu. „Da sehen Sie doch die ganzen Fratzen.“ „Wo?“ Vitali drehte sich zu ihr um. Die Frau stand schwerfällig auf. Sie trat an den Fotorahmen, griff nach einer der Aufnahmen und reichte sie Vitali. 165
„Das sind sie. Hinten hat Jegorka, als er mal betrunken war, was draufgeschrieben.“ Ob sie Vitali nun das Foto verkehrt herum gereicht oder ob er es, als er es entgegennahm, selbst umgedreht hatte – jedenfalls sprang ihm als erstes die krakelige Aufschrift auf der Rückseite ins Auge: „Die zwei Unzertrennlichen“. Von dem Foto blickten ihn zwei Gesichter an. Ein unbekanntes, hageres Gesicht mit dünnen, fest zusammengepreßten Lippen, einer Hakennase und einer dunklen, über die Augen fallenden Haarsträhne. Der Blick der leicht zusammengekniffenen Augen wirkte dreist. Das andere, ein fleischiges, finsteres Gesicht, kam ihm seltsam bekannt vor. In diesem Augenblick fragte Uglow: „Pelageja Fjodorowna, war am vergangenen Mittwoch, in der Nacht, ein Fremder bei Ihnen?“ „Am Mittwoch?“ Die Frau zuckte unwillig die Schultern. „Nein. Am Mittwoch war keiner hier.“ „Vielleicht haben Sie geschlafen und nichts gehört? Anton kann ihn hereingelassen haben.“ „Der würde nie was hören. Im Suff schläft sich’s nämlich gut. Und Jegorka geht’s genauso. Ich dagegen … du meine Güte! Ich weiß schon nicht mehr, was das ist: ein ruhiger Schlaf.“ Während die beiden sich unterhielten, hingen Vitalis Blicke unverwandt an dem Foto. Dann fragte er: „Wissen Sie, wie dieser Waska mit Nachnamen heißt?“ „Der Waska?“ Die Frau wandte sich zu ihm um. „Natürlich weiß ich das. Nossow heißt er.“ „Nossow?“ wiederholte Vitali wie vor den Kopf geschlagen und blickte noch einmal auf das Foto. „Die zwei Unzertrennlichen.“ Die Sache hatte eine unbegreifliche, seltsame Wendung genommen.
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7. KAPITEL
Schuld und Verhängnis Über und über mit Staub bedeckt, müde und in einem fremden Hemd taumelte Vitali abends ins Hotelzimmer. Bei seinem Anblick rief Igor, seine Freude verbergend, spöttisch aus: „Wen haben wir denn da? Ist das etwa dieser Moskauer Modenarr Lossew?“ „Mach du dich nur lustig“, erwiderte Vitali mit einem begehrlichen Blick auf die Milchflaschen, die Wurst und die übrigen auf dem Tisch aufgebauten Dinge. „Mach dich nur lustig, bis ich mich satt gegessen habe. Für zwei ist es sowieso zuwenig.“ „Na, dann ist mir alles klar. Und wem hast du das Hemd ausgezogen? War das nun Diebstahl oder Raub?“ Übrigens besann Igor sich, über den ungeheuren Appetit seines Freundes verblüfft, gerade noch rechtzeitig und rettete, was noch zu retten war. Schließlich hatte er selbst den ganzen Tag nichts gegessen und war, nachdem er sich von Nebogow getrennt hatte, soeben erst zurückgekehrt. Als ihr erster Hunger gestillt war, fragte Igor: „Na, wer fängt an zu erzählen? Ich denke, wir lassen dem Jüngeren den Vortritt. Erstatten Sie Meldung, Genosse Lossew.“ „Sag mir wenigstens in zwei Sätzen, was du herausgefunden hast“, flehte Vitali. „Ich muß erst mal zu mir kommen.“ „In zwei Sätzen? Na gut. Du aber wasch dich inzwischen. Und zieh um Himmels willen dieses Hemd aus.“ 167
„Zu Befehl!“ Während Vitali am Waschbecken plätscherte, erzählte Igor, der sich neben ihm auf einem Stuhl niedergelassen und die Schuhe abgestreift hatte, von dem Gespräch mit Tscherkassow, den Begegnungen mit Oleschkowitsch, Simakow und Nebogow. „Dieser Slawa ist ein feiner Kerl. Und seine Schwester …“ „Aha, eine Schwester hat er auch“, warf Vitali, sich wie eine Schlange über dem Waschbecken windend, spöttisch ein. „Ja. Eine sehr strenge Lehrerin. Allerdings ist sie rothaarig. Und ihren Bruder hat sie fest im Griff.“ „Aber dich kann so was natürlich nicht schrecken?“ „Ich habe da schon gewisse Erfahrungen. Also: Nachdem ich Slawa noch ein Stück begleitet hatte, begab ich mich zu ihr. Ach so! Das Wichtigste! Nossow ist ihr Zimmernachbar! Kannst du dir das vorstellen?“ „Hm …“, brummte Vitali erstaunt, während er sich verbissen Gesicht und Hals einseifte und deshalb nicht imstande war, sich klarer auszudrücken. „Also“, fuhr Igor fort. „Wie sich herausstellt, hat Nossow die ihnen von Tscherkassow geliehene Schreibmaschine benutzt. Und zwar mit Tscherkassows Einverständnis. Verstehst du?“ Vitali verharrte für einen Augenblick reglos mit zusammengekniffenen Augen. Dann spülte er hastig die Seife von seinem Gesicht. „Demnach hat Nossow die anonymen Briefe getippt?“ fragte er, während er sich abtrocknete. „Und Tscherkassow …“ „Genau. Obwohl mir da noch längst nicht alles klar ist. Ich werde ihm ein paar Fragen stellen müssen. Und noch etwas. Nossow bekam oft Besuch von einem Unbekannten. Leider weiß Ljolja nicht, wie der Mann heißt.“ Hastig erklärte er: „Ljolja – das ist Nebogows Schwester.“ 168
„Verstehe“, meinte Vitali zartfühlend. „Schlicht und einfach Ljolja. Ohne all diese Förmlichkeiten.“ „Ach, hör schon auf!“ Igor winkte ungeduldig ab. „Also: Dieser Unbekannte ist jung, hager, hat ein schmales Gesicht, eine Hakennase und eine über die Augen fallende Haarsträhne …“ „Anaschin! Jegor Anaschin“, sagte Vitali grinsend. „Sein bester Freund; ‚Die zwei Unzertrennlichen‘.“ „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“ fragte Igor erstaunt. „Daß wir beide von verschiedenen Enden denselben Punkt erreicht haben. So muß man arbeiten! Ich erzähle dir gleich alles.“ „Diesem Nossow sollte man mal auf den Zahn fühlen.“ „Weißt du, was“, verkündete Vitali träumerisch. „Mich erinnert das Ganze an ein bekanntes Kinderspiel. Erst ist es kalt, dann wird’s warm und immer wärmer … Jetzt ist es schon ziemlich heiß. Trotzdem begreife ich vorläufig nicht, wo das Gesuchte versteckt ist. Und wenn du mich totschlägst. Jetzt hör dir an, was ich zustande gebracht habe.“ Vitali begann zu erzählen. „… Von den beiden Brüdern scheint Jegor der Gefährlichere zu sein. Pelageja Fjodorowna hat das so ausgedrückt: ‚Meiner ist ja ein Dummkopf, aber unser Jegorka hat Knasterfahrung.‘ “ „Der eigene Mann kommt den Frauen immer dümmer vor als andere“, bemerkte Igor philosophisch. „Das ist also kein Argument.“ „Du weißt das natürlich besser“, gab Vitali mit einem verstohlenen Lächeln zu. „Weiter. Lutschinin ist bei ihnen gewesen. Zweimal. Zum Angeln. Verstehst du? Das letzte Mal kurz vor seinem Tod.“ „Allein? Ohne Freunde? Was ist das für eine Angelpartie?“ „Das, mein Lieber, war bestimmt eine sehr langweili169
ge Angelpartie. Meiner Ansicht nach hat Shenja die Einsamkeit gesucht. Schließlich hatte der Ärger zu jener Zeit schon begonnen. Ihm stand ein Prozeß bevor.“ „Verstehe. Aber trotzdem begreife ich nicht, wo Bulawkin abgeblieben ist“, sagte Igor langsam. „Und wer befand sich noch in dem Wagen? Einer von ihnen ist schließlich ins Dorf gegangen, wenn der Hund euch dorthin geführt hat.“ „Das ist’s ja gerade! Es ist kein Fremder ins Dorf gekommen … Kein Fremder … Was?“ Vitali schaute Igor fragend an. „Das ist ein Gedanke.“ „Ja. Das müssen wir nachprüfen.“ In diesem Augenblick wurde ungeduldig an ihre Zimmertür geklopft. Igor erhob sich rasch. Vitali wollte ihm nach, besann sich aber noch rechtzeitig und zog sich eilig ein Hemd über. Igor schloß auf. An der Schwelle stand die zierliche Empfangschefin in dem dunkelblauen Kittel. „Sie werden am Telefon verlangt!“ teilte sie, nach Atem ringend, mit. „Aus Moskau!“ Igor stürzte über den dunklen Korridor zur Treppe. Alla! Schoß es ihm durch den Kopf. Ist was mit Dimka? Und ich habe noch nicht mal angerufen oder geschrieben. Voller Unruhe griff er nach dem auf dem Tisch liegenden Hörer. „Ja? – Hallo!“ schrie er. „Ich höre.“ Durch Rauschen und Knacken hindurch erreichte ihn die Stimme der Telefonistin: „Sie werden verbunden. Legen Sie nicht auf … Hallo, hallo, Moskau! Sprechen Sie!“ „Genosse Otkalenko?“ ertönte endlich eine ferne, aber irgendwie bekannt klingende Stimme. „Ja, ja! Wer ist da?“ „Mazulewitsch. Guten Tag, mein Lieber.“ 170
„Oh! Grigori Ossipowitsch! Guten Tag!“ rief Igor erleichtert aus. „Wie steht’s denn bei Ihnen?“ „Hören Sie zu. Diese Kommission haben wir auseinandergenommen. Stellen Sie sich vor, dieser Kobez, ihr Vorsitzender, ist von Beruf Hydrologe! Von unserer Arbeit versteht er nicht das geringste. Aber ein Auftreten hat der Mann! Wenn ich auf so eine Unverschämtheit stoße, werde ich auch unverschämt. Ich bin zum Minister gegangen. Warum auch nicht? Schließlich tue ich das nicht für mich selbst.“ „Wie ist denn das alles gekommen, Grigori Ossipowitsch? Warum hat man die Kommission überhaupt hergeschickt?“ „Ja, ja! Das ist auch so eine Sache! Alles hat mit einem anonymen Brief angefangen. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen.“ „An wen war er gerichtet?“ „An den Stellvertretenden Minister.“ „Und Kobez, wer ist das?“ „Sein Referent. Alles wie auf Bestellung.“ „Interessant …“ „Das will ich meinen, mein Lieber. Das will ich meinen!“ „War Kobez früher schon mal in dem Werk?“ „Das weiß ich nicht.“ „Versuchen Sie es herauszukriegen, Grigori Ossipowitsch. Wenn möglich, mit allen Einzelheiten. Und noch etwas.“ Igor überlegte einen Augenblick. „Wäre es nicht möglich, uns diesen anonymen Brief zu schicken?“ „Werde mich bemühen. Um alles. Na, und wie steht’s bei Ihnen, mein Bester?“ „Bei uns geht’s auch voran, Grigori Ossipowitsch.“ „Großartig! Einfach großartig!“ Sie verabschiedeten sich. Igor bestellte sofort ein neues Gespräch nach Moskau. Dazu trieben ihn die Gewissensbisse, die ihm auf dem Weg zum Telefon zugesetzt hatten. 171
Da man die Verbindung frühestens in einer Stunde herzustellen versprach, begab sich Igor, nachdem er der Diensthabenden Bescheid gesagt hatte, ins Zimmer zurück. Dort spazierte Vitali gerade in einem neuen Hemd mit Schlips, frisch rasiert, in blitzblanken Schuhen, die Hände in den Taschen, nachdenklich um den Tisch herum. „Jetzt fehlt dir nur noch eine Violine“, sagte Igor spöttisch. „Ich denke folgendes“, setzte Vitali ernst und ohne auf Igors Scherz einzugehen, an. „Dieser Anaschin …“ „Soll ich dir nicht zuerst verraten, wer angerufen hat?“ „Kann’s mir schon denken.“ Vitali verneigte sich galant. „Diesmal irrst du dich. Es war Mazulewitsch.“ Igor teilte Vitali den Inhalt ihres Gesprächs mit und runzelte plötzlich besorgt die Stirn. „Ach ja! Ich muß Tomilin anrufen. Er sammelt doch Material über Nossow. Das könnten wir beide gut gebrauchen. Morgen früh laufen wir wieder auseinander.“ Igor begab sich noch einmal zum Telefon. Als er zurückkehrte, erklärte er: „So, das hätten wir. Er ist in einer Stunde hier. Na, jetzt laß uns mal überlegen.“ Igor ließ sich auf der Couch nieder. Vitali spazierte weiter durchs Zimmer. Dann blieb er vor Igor stehen. „Natürlich hast du ein Gespräch mit Alla bestellt?“ „Ja.“ „Ich müßte eigentlich auch mal anrufen.“ „Warum nicht? Melde doch ein Gespräch an. Die bewußten Verwandten werden ja mittlerweile abgereist sein. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß man dich vermißt.“ Bald darauf traf Tomilin ein – groß, mit leicht gekrümmtem Rücken, in dunkelblauem Regenmantel und 172
mit einer Schirmmütze. Wie immer begrüßte er die beiden kurz angebunden und mürrisch. Dann zog er den Regenmantel aus, der so steif war, als wäre er aus Blech. „Na, wie sieht’s mit Nossow aus?“ fragte Igor, während Tomilin sich auf einem Stuhl niederließ. „Einiges weißt du ja schon.“ Über Tomilins Gesicht huschte ein Lächeln. „Was die Nachbarn und die Arbeit angeht.“ „Sieh mal an“, meinte Igor lachend. „Wie sich herausstellt, hast du auch über uns Material gesammelt. Na, erzähl uns mal, was wir noch nicht wissen.“ „Also“, begann Tomilin. „Nossow, Wassili Pawlowitsch, Geburtsjahr: neunzehnhundertzweiundzwanzig. Wohnhaft … Na, das weißt du ja. Arbeitsmäßig wird er schlecht beurteilt. Das weißt du auch.“ „Und doch hat er seinen Posten behalten“, bemerkte Igor. „Eben.“ Tomilin hob vielsagend den Zeigefinger. „Sogar eine Wohnung soll man ihm in Aussicht gestellt haben.“ „Ein flinkes Kerlchen“, meinte Vitali grinsend. Ohne auf Vitalis Ton einzugehen, fuhr Tomilin fort: „Einen seiner Kumpane habe ich ermittelt. Es ist …“ „Etwa Anaschin?“ fragte Vitali rasch. „Genau. Auch das wißt ihr schon? Dann haben wir hier noch folgendes. Vorher hat er in Leningrad gearbeitet. Im selben Werk wie Lutschinin. Er ist erst ein Jahr vor ihm hierher übergesiedelt. Da haben sich also alte Bekannte wiedergetroffen.“ „Denk mal an!“ rief Vitali aus. „Das ist ja wirklich interessant!“ „Wir müssen sofort eine Anfrage an unsere dortigen Kollegen richten“, sagte Igor. „Über unsere Direktverbindung.“ Tomilin nickte. „Wird gleich morgen erledigt. Jetzt weiter. Nossow hat 173
der Filatowa den Hof gemacht. Wie’s heißt, ist er ihr nicht von der Seite gewichen. Das war noch vor Lutschinins Ankunft. Sie hat ihm jedoch einen Korb gegeben. Na, was noch? Drei Tage vor Lutschinins Tod hat Nossow eine Dienstreise zum Tschechowsker Werk angetreten. Nach einer Woche kam er zurück. An dem Abend, an dem Bulawkin verschwand, besuchte er ein Konzert im Klub. Man hat ihn dort gesehen. Das ist vorläufig alles über Nossow.“ „So …“, meinte Igor gedehnt. „Eine ganze Menge, wie ich sagen muß. Was?“ Er blickte Vitali an. „Das ist schon was“, stimmte der zu. „Damit kann man was anfangen.“ „Morgen versuchen wir unser Heil.“ Igor rieb sich kräftig die Hände. In diesem Augenblick wurde er ans Telefon gerufen. An der „Strippe“ war noch einmal Moskau. „Bitte Alla, bei mir zu Hause anzurufen“, rief Vitali ihm nach. „Es ist alles in Ordnung, bin gesund und munter.“ Dann fügte er, an Tomilin gewandt, hinzu: „Das wird morgen ein Tag! Ich habe da so eine Vorahnung …“ Als Igor am nächsten Morgen zur Stadtabteilung kam, schloß er sich in Tomilins Arbeitszimmer ein. Er mußte sich auf die Begegnung mit Nossow vorbereiten. Vitali hatte ganz recht. Jetzt war der Moment gekommen, wo es anfing, heiß zu werden. Nun durften sie keinen Fehler machen. Igor rückte an den Tisch und sagte laut: „Machen wir uns mit dem Genossen Kutschanski bekannt. Schließlich behaupten alle, daß er so ein Kerl ist.“ Igor hob den Daumen. Er blätterte im Telefonbuch und wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft. Es wurde ein kurzes Gespräch. 174
„Ich fahre gleich los“, sagte Igor und berichtigte sich lächelnd. „Das heißt, ich gehe los. Habe mich noch nicht an die hiesigen Entfernungen gewöhnt.“ Als er von Kutschanski zurückkehrte, gab er eine kurze Anweisung in bezug auf Nossow und ging wieder nach oben, um sich auf die bevorstehende Begegnung vorzubereiten. Also, was hatten sie gegen diesen Nossow in der Hand? Eigentlich nur die anonymen Briefe, die er auf Tscherkassows Maschine getippt hatte. Ein äußerst schwaches Indiz. Nossow konnte leicht alles abstreiten. Schließlich hätte jeder die Maschine benutzen können. Aber andere Beweise hatten sie vorläufig nicht. Nur einen Verdacht. Und worauf gründete sich dieser Verdacht? Auf die allgemeine negative Einschätzung Nossows. Auf seine unbestrittene Feindseligkeit gegenüber Lutschinin – Gründe gab’s dafür zur Genüge. Auf seine Freundschaft mit Anaschin. Eine Sache, der man nachgehen mußte. Obwohl sie in eine andere Richtung führte. Damit befaßte sich im Augenblick Vitali. Was gab es noch? Die direkten Drohungen gegen Lutschinin. Ja, an Verdachtsmomenten mangelte es nicht. Aber eben nur daran. Wie sollte man in diesem Fall die erste Vernehmung aufbauen? Welche Taktik wählte man? Vieles hing davon ab, was für ein Mensch dieser Nossow war und was für einen Charakter er hatte. Igor erinnerte sich an das Foto, das Vitali ihm gestern gezeigt hatte, und dachte daran, wie Nossow ihnen damals in Rewenkos Vorzimmer begegnet war. Er schien weder dumm noch feige zu sein und war allem Anschein nach nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Dem Anschein nach … Wie aber war er in Wirklichkeit? Das mußte er gleich zu Beginn des Verhörs aus Nossows ersten Antworten, aus seinem Tonfall und seiner ganzen Haltung zu ergründen suchen. Und noch etwas war zu beachten. Die anonymen Briefe stammten von Nossow. Das stand fest. Aber hatte 175
er sie auch selbst verfaßt? Konnte er all diese Fakten selbst gesammelt haben? Schwer zu glauben. Dieser Nossow war doch ein ziemlich ungebildeter Mensch. Also mußte man ihm geholfen haben. Irgend jemanden hatte er um Hilfe gebeten. Würde Nossow diesen Jemand nicht auch jetzt um Rat und Hilfe ersuchen? Das brächte sie ein gutes Stück weiter. Doch zu diesem Zweck müßte man Nossow in Unruhe und Aufregung versetzen. Dazu aber war es noch zu früh. Wie sollte man also vorgehen? Vielleicht wäre es gut, ihn aus der Ruhe zu bringen? Noch lange zerbrach sich Igor über die bevorstehende Vernehmung den Kopf, formulierte Fragen und legte ihre Reihenfolge fest. Er spürte: Von dieser Vernehmung hing sehr viel ab. Endlich kam er zu einem Entschluß. Die Vernehmung durfte nicht völlig ruhig und gleichmäßig verlaufen. Er mußte die Spannung an- und abschwellen lassen. Auch Tanja Filatowa war nicht zu vergessen. Und Bulawkin. Interessant, was Nossow über diesen sagen würde. Schließlich wollten alle beide Lutschinin „in den Dreck treten“. Falls Bulawkin diesen Brief tatsächlich geschrieben hatte. Unmerklich verging die Zeit. Igor arbeitete so angespannt, daß er vor Überraschung zusammenfuhr, als das Telefon auf dem Tisch läutete. „Guten Tag, Genosse Otkalenko“, sagte eine Stimme aus dem Hörer. „Hier spricht Saweljew von der Staatsanwaltschaft.“ „Ah, Juri Sergejewitsch! Ich erwarte Sie.“ „Ich kann leider nicht kommen“, erwiderte Saweljew niedergeschlagen. „Ich schaffe es einfach nicht. Sie müssen das Verhör ohne mich vornehmen. Wir sprechen nachher noch einmal alles durch.“ „Gut. Haben Sie an das Gutachten über Bulawkin gedacht? Wir brauchen es dringend.“ „Natürlich! Es ist gegen Abend fertig. Übrigens wird es 176
von einem Experten aus Ihrer Gebietsverwaltung angefertigt.“ Sie verabschiedeten sich. Saweljew machte einen gehetzten und nervösen Eindruck. Der Fall Lutschinin war ihm so überraschend aufgebürdet worden, daß es ihm noch nicht gelungen war, die anderen Fälle, die er gerade bearbeitete, abzuschließen. Bald darauf meldete der Diensthabende, daß Nossow eingetroffen sei. Hastig räumte Igor die Papiere vom Tisch, rückte seinen Schlips zurecht und kämmte sich sogar aus unerfindlichen Gründen. Dann klopfte es an der Tür. „Herein!“ rief Igor. An der Schwelle erschien ein kleiner, untersetzter Mann in einem dunkelblauen, seidenen Polohemd, das die mächtige, behaarte Brust straff umspannte, und mit modischen, spitzen Schuhen. Die leicht zusammengekniffenen Augen blickten ruhig, ja fast verschlafen aus dem fleischigen, finsteren Gesicht. „Haben Sie mich herbestellt?“ fragte Nossow grob, aber friedfertig und blieb an der Tür stehen. „Ja. Treten Sie näher“, entgegnete Igor kurz angebunden. Er hat sich ordentlich angezogen, stellte Igor fest. Und natürlich gut vorbereitet. Überhaupt ist er vorläufig eindeutig im Vorteil. Na, wir werden sehen. Nossow durchquerte gemächlich das Zimmer und ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Eine Zigarette, Wassili Pawlowitsch?“ fragte Igor, ihm die Schachtel zuschiebend. „Aus Moskau. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Sie könnten uns in einigen Punkten weiterhelfen.“ „Warum nicht?“ erwiderte Nossow wichtigtuerisch, während er sich mit seinen dicken Fingern eine Zigarette aus der Schachtel angelte. 177
„Wir haben uns schon mit einigen Ihrer Kollegen unterhalten. Sie haben sicherlich davon gehört?“ „Ja. Wieso?“ „Na, ausgezeichnet. Die Ergebnisse der Revision im Werk sind Ihnen natürlich auch bekannt. Was meinen Sie: Hat das alles seine Richtigkeit?“ „Das weiß die Obrigkeit besser“, meinte Nossow grinsend. „Dafür wird sie schließlich bezahlt.“ „Da haben Sie recht. Aber ich glaube, mit der Obrigkeit haben Sie nicht immer auf gutem Fuß gestanden?“ In Nossows Augen blitzte Mißtrauen auf. „Wieso?“ fragte er. Aha, er ist leicht beunruhigt, stellte Igor im stillen fest. „Na ja, zum Beispiel“, fuhr er fort, „habe ich mir hier das Revisionsprotokoll durchgelesen. Da steht drin, daß Lutschinin dem Baranowsker Kombinat untaugliche, schrottreife Ausrüstungen übergeben hat.“ „Die waren nicht schrottreif“, widersprach Nossow. „Die Ausrüstungen waren völlig in Ordnung. Es wurde behauptet …“ „Sehen Sie?“ unterbrach Igor ihn lebhaft. „Lutschinin behauptete, daß sie schrottreif waren, Sie aber sind anderer Meinung. Stimmt’s?“ „Allerdings. Der kann behaupten, was er will.“ „Lutschinin kann überhaupt nichts mehr behaupten, Wassili Pawlowitsch“, widersprach Igor in bitterem Ton. „Na ja, das ist mir nur so rausgerutscht“, berichtigte Nossow sich finster. „Klar, daß er das nicht kann, wenn er nun mal tot ist.“ So, mein Lieber, jetzt werden wir mal wieder etwas lockerlassen, dachte Igor. Allzusehr aufregen wollen wir dich vorläufig nicht. „Haben Sie mal was von seiner Erfindung gehört?“ fragte er weiter. „Er soll ja dem Baranowsker Kombinat werkeigene Zeichnungen verkauft haben?“ 178
„Davon weiß ich nichts“, erwiderte Nossow sichtlich erleichtert. „Hatte nichts damit zu tun.“ „Und mit welchen Punkten des Protokolls hatten Sie zu tun?“ „Na, zum Beispiel mit den Ausrüstungen, das stimmt. Das ist bekannt. Oder daß er manchen Leuten für nichts und wieder nichts Geld ausgezahlt hat. Das weiß ich auch. Die Kollegen haben nämlich geschimpft.“ „Welche Kollegen?“ Nossow rieb sich nachdenklich das Genick. „Weiß der Kuckuck. So was merkt man sich doch nicht.“ „Na, Sie haben doch bestimmt Freunde im Werk.“ „Von wegen Freunde!“ Nossow winkte ab. „Das reinste Gesindel, kann ich Ihnen sagen.“ Sieh mal an, dachte Igor. Scheinst dich ja vollkommen in Sicherheit zu wiegen, mein Lieber. „Aber doch nicht alle“, widersprach er. „Nehmen wir nur mal Tanja Filatowa.“ Wieder geriet Nossow in Aufregung, er rutschte sogar auf seinem Stuhl hin und her und entgegnete unwillig, während er gierig an seiner Zigarette sog: „Das ist natürlich eine ganz ansehnliche Frau. Aber auch …“ Er winkte ab. „Hab’ kein Vertrauen zu ihr, muß ich Ihnen sagen.“ „Warum denn nicht?“ Nossow grinste feindselig. „Die bildet sich ziemlich viel ein. Hält’s mit der Obrigkeit. Je höher, um so besser. Unsereinen guckt die gar nicht an.“ „Ja, so was kennt man“, meinte Igor, seinerseits grinsend. Wir kommen uns schon näher, dachte er grimmig. Nossow ging sofort auf Igors neuen Ton ein und konnte sich nicht enthalten, hinzuzufügen: „Ohne das kann die einfach nicht leben. Wenn’s bei dem einen nicht klappt, versucht sie’s beim nächsten.“ Wen meint er bloß? dachte Igor. Na, der eine ist Lutschinin. Aber der nächste? Ach, du Halunke! 179
„Doch nicht etwa bei Ihrem Chefingenieur?“ fragte er wieder mit einem Grinsen. „Auch den hat sie rangelassen“, erwiderte Nossow boshaft. „Man hat so was läuten hören.“ Gleich darauf aber setzte er, sich besinnend, hinzu: „Dabei ist der noch nicht mal der Schlimmste. Der weiß wenigstens, wo’s lang geht.“ Bist ja direkt ein Diplomat! dachte Igor. Mit der lebenden Obrigkeit willst du’s dir lieber nicht verderben. „Na, schön und gut“, sagte Igor. „Und wie sieht’s in Ihrer Buchhaltung aus? Stimmen da die Abrechnungen?“ „Bei dem Laden kann man sich den Mund fußlig reden. Ehe man da sein Recht kriegt, kommt man ganz schön ins Schwitzen. In diesen verfluchten Arbeitsaufträgen kann man wühlen und wühlen …“ Wühlen? – Igor horchte auf, fragte jedoch in gleichgültigem Ton: „Was gibt’s denn da zu wühlen? Die müssen sie doch selbst raussuchen.“ „Da kann man lange warten. Wenn man die nicht mit der Nase draufstößt, spielt sich nichts ab.“ „Aha. Na, vielen Dank. Das ist ein wichtiges Moment. Kennen Sie eigentlich Bulawkin? Was hat der bloß angestellt?“ Nossow hatte sich offensichtlich schon wieder völlig beruhigt und spielte die Rolle eines hilfsbereiten Menschen. „Das ist ein verrücktes Huhn, muß ich Ihnen sagen. Von dem kann man alles erwarten. Heute stiehlt er, sagen wir mal, einen Wagen, und morgen denkt er sich noch was Schlimmeres aus.“ „Oder gestern.“ „Wieso?“ fragte Nossow verständnislos. „Ich meine, daß er vielleicht schon was Schlimmeres angestellt hat.“ „Kann schon sein“, stimmte Nossow bereitwillig zu 180
und drückte vorsichtig die Kippe im Aschenbecher aus. „Der macht vor keinem Paragraphen halt.“ Sieh mal an, wie er seinen Kumpan mit Dreck bewirft, dachte Igor erstaunt. „Was könnte er denn Ihrer Meinung nach angestellt haben, Wassili Pawlowitsch?“ fragte Igor vertraulich, die Tatsache ihres „Näherkommens“ ausnutzend. „Was? Na, ’ne ganze Menge! Schließlich ist er getürmt. Er könnte zum Beispiel jemand ausgeraubt oder einen guten Menschen umgelegt haben. So was ist dem Sergej zuzutrauen.“ Donnerwetter! Igor staunte noch mehr. Er spielt auf die anonymen Briefe an. Will Bulawkin total erledigen. Warum bloß? „Ist das denn schon vorgekommen?“ „Man erzählt sich allerlei“, erwiderte Nossow ausweichend und vielsagend. „Aber bisher hat ihn keiner dabei zu fassen gekriegt, muß ich Ihnen sagen, und ein entwischter Dieb ist kein Dieb, wie’s so schön heißt. Wenn Sie ihn haben, sollten Sie ihn mal ordentlich filzen.“ Bist ja regelrecht in Fahrt geraten, dachte Igor. Und der passende Jargon kommt auch zum Vorschein. ’s wird Zeit, dir ein bißchen auf die Finger zu klopfen. „Tja, erst muß er mal gefunden werden“, meinte Igor seufzend. „Wie sind eigentlich Ihre Beziehungen zu dem neuen Chef, gibt’s keine Klagen?“ „Von mir?“ In Nossows kleinen Augen blitzte wieder Wachsamkeit auf. „Nein. Was soll ich für Klagen haben? Umsonst schwärze ich keinen an.“ Soso, wir müssen also noch ein bißchen stärker klopfen. Du wirst schon noch die Beine in die Hand nehmen, Freundchen, falls du irgendwo einen Ratgeber sitzen hast. „Das ist richtig“, stimmte Igor zu. „Na, und wenn es nicht umsonst wäre?“ „Wieso?“ fragte Nossow wieder verständnislos. Dies181
mal aber tat er nur so, als verstehe er nicht, dafür hätte Igor seine Hand ins Feuer gelegt. Igors Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er achtete so krampfhaft auf jede Intonation Nossows und registrierte dessen Reaktion auf jedes seiner Worte, daß ein Irrtum ausgeschlossen war: Nossow täuschte bloß vor, ihn nicht zu verstehen, er wollte Zeit gewinnen. Diese Zeit aber durfte er ihm jetzt nicht geben. Ihre erste Begegnung näherte sich dem Ende, und sie mußte so beendet werden, daß Nossow aufgerüttelt wurde, daß seine Nerven erschüttert waren und mit ihm durchgingen, sobald er wieder mit sich allein sein würde. Abrupt in einen anderen Ton verfallend, fragte Igor hintergründig: „Sie haben nicht zufällig ein paar Briefe losgejagt? Haben sich nicht über Mißstände oder vielleicht noch Schlimmeres beschwert?“ „Ich? – Worüber sollte ich mich denn beschweren?“ murmelte Nossow verwirrt. „Na ja … wie soll ich’s sagen? – Vielleicht habe ich mal … aber ich glaube nicht …“ „Na gut, Wassili Pawlowitsch“, unterbrach Igor ihn entschieden. „Es wird Ihnen schon noch einfallen. Jetzt werde ich Ihnen noch einmal die wichtigsten Fragen vorlegen, und Sie wiederholen mir Ihre Antworten. Die schreiben wir dann auf. Sie haben uns sehr geholfen. Dafür sind wir Ihnen dankbar. Sie haben doch nichts dagegen?“ „Was weiß denn ich … Das ist Ihre Sache …“ Nossow hatte sich noch nicht von dem letzten Schlag erholt, obwohl Igors Dankbarkeit seine schlimmsten Befürchtungen wieder beschwichtigte. Auch das war nicht zu übersehen. Igor packte die Vernehmungsformulare aus und fing an zu schreiben. Seine Fragen drehten sich nur um Werkangelegenheiten und um Bulawkin. Zum Schluß reichte Igor Nossow die beschriebenen Bogen. 182
„Lesen Sie sich alles durch, und unterschreiben Sie unten auf jeder Seite. Am Ende schreiben Sie darauf: ‚Nach meinen Worten richtig wiedergegeben und von mir persönlich durchgelesen.‘ Auch das unterschreiben Sie dann, bitte.“ „Wozu muß ich das aufschreiben?“ widersprach Nossow plötzlich in rüdem Ton. „Ich unterschreibe, und damit basta.“ „Das ist Vorschrift.“ „Ich werde nichts schreiben. Da können Sie machen, was Sie wollen.“ „Warum denn nicht?“ fragte Igor erstaunt. „Ich habe doch wohl alles richtig wiedergegeben?“ „Das schon. Aber schreiben … Meine Handschrift können Sie sowieso nicht entziffern.“ „Macht nichts“, erwiderte Igor streng. „Aber alles muß seine Richtigkeit haben.“ Was hat er bloß? überlegte Igor verblüfft. „Na, wenn’s sein muß.“ Krakelig und unleserlich schrieb Nossow den geforderten Satz auf. Dann ging er. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rief Igor den Diensthabenden an. „Wir sind fertig“, sagte er leise. „Er kommt jetzt ’runter.“ „Verstanden“, erwiderte der Diensthabende rasch. Morgens begab sich Vitali gemeinsam mit Igor zur Stadtabteilung und griff sofort nach dem Telefon. Die Verbindung nach Posharowo kam ziemlich schnell zustande. „Ich fahre jetzt los“, sagte Vitali. „Wir treffen uns beim Brigadier. Wie steht’s bei dir? – Verstehe.“ Wieder erstreckte sich vor seinen Augen das bekannte graue Band der Chaussee. Hinauf und hinunter, durch 183
gelbgrüne Felder und schattige junge Wälder, vorbei an den bekannten Feldwegen. Dann kam eine lange Auffahrt, und wieder dehnten sich vor ihm wie im Märchen unüberschaubare Wälder bis zum Horizont, und die stille, schöne Bugra tauchte auf. Vitali sog an seiner Pfeife, blickte sich zerstreut nach allen Seiten um und überlegte. Was man auch sagen mochte, es war doch seltsam, hol’s der Teufel! Der Hund hatte sie ins Dorf geführt. Also war der Mann dorthin gegangen. Ein Fremder? Aber in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag war, wie alle einstimmig beteuerten, kein Fremder ins Dorf gekommen. Das hatte ihm auch Uglow gerade noch einmal bestätigt. Also war es kein Fremder, also wußte er genau, wohin er ging. Er kannte jenes Haus, in dem man ihn in seiner zerrissenen, blutbeschmierten Kleidung aufnehmen, ihm Schutz gewähren und niemandem etwas von seinem Kommen sagen würde. Was war das für ein Haus? Uglow kannte alle Dorfbewohner, hier kannte jeder den anderen. Nur zwei Häuser kamen in Frage. Das der Anaschins und das Borowkows, eines Säufers und Schnapsbrenners. Aber Borowkow befand sich seit einem Monat im Krankenhaus, das Haus war verschlossen und verriegelt, und im Hof lag ein grimmiger, hungriger Köter auf der Lauer. Borowkow entfiel also. Blieb nur noch Anaschin. Aber Pelageja Fjodorowna sagte, in jener Nacht sei niemand zu ihnen gekommen. Hatte sie Angst? Wollte sie ihren Mann schützen? Kaum. Vielleicht war es Anton selbst gewesen,? Dann war Bulawkin im Wald geblieben. Warum hatte er Anton aus der Stadt mitgenommen? Hatte der ihn darum gebeten? Nein, wenn man einen Wagen stiehlt, lädt man sich keine Fahrgäste ein. Vielleicht hatte Anton ihn erkannt, und Bulawkin ließ ihn absichtlich einsteigen, um sich später dieses lästigen Zeugen zu entledigen? Aber sie waren durch das ganze Dorf gefahren, und Anton hätte 184
Lärm geschlagen, wenn Bulawkin nicht angehalten hätte. War er betrunken gewesen und eingeschlafen? Dann hätte Bulawkin im Wald leichtes Spiel mit ihm gehabt. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Und trotzdem führte die Spur, wie man’s auch drehen mochte, zu Anaschins Haus. Vielleicht war in jener Nacht weder Anton noch Bulawkin dorthin gekommen, sondern … „Wir sind da“, sagte der Fahrer in diesem Augenblick. „Das ist Posharowo.“ Uglow empfing ihn freudestrahlend und schüttelte lange seine Hand, als hätten sie sich nicht erst gestern getrennt. „Also, gehen wir“, sagte Vitali. „Statten wir Pelageja Fjodorowna einen Besuch ab. Ist er selbst schon zurück?“ „Er ist noch in der Stadt.“ Uglow winkte ab. „Wahrscheinlich vertreibt er sich irgendwo mit seinem Bruderherz den Katzenjammer.“ „Vorläufig werden wir nicht nach ihm suchen. Es ist noch zu früh, ihn aufzuschrecken.“ Sie traten auf die Straße hinaus. Zum ersten Mal seit vielen Tagen war der Himmel verhangen. Die Hitze hatte nachgelassen. Auf der Vortreppe zu Anaschins Haus lagen aufgeplusterte Hühner. Auf der obersten Stufe stand, hochmütig Ausschau haltend, ein schwarzroter Hahn. Als er die näher kommenden Männer erblickte, stieg er würdevoll die Stufen hinab, und die Hühner folgten ihm, ihr Gefieder schüttelnd, gehorsam nach. Uglow klopfte. Pelageja Fjodorowna öffnete ihnen die Tür. „Wir kommen noch einmal zu Ihnen“, sagte Uglow. „Wir wollen uns noch ein wenig unterhalten. Sie müssen schon entschuldigen.“ „Kommen Sie herein“, erwiderte die Frau mit einem müden Seufzer. 185
Im Haus hatte sich nichts verändert. Allerdings war diesmal der Herd geheizt, und es roch kräftig nach Kohlsuppe und Bratkartoffeln. „Wo ist denn der Hausherr?“ „In der Stadt. Wo sonst?“ erwiderte Pelageja Fjodorowna ärgerlich. „Vor dem Abend läßt er sich jetzt nicht mehr blicken. Möchten Sie etwas Kohlsuppe?“ „Danke, wir haben schon gegessen“, entgegnete Uglow. Sie verwickelten Pelageja Fjodorowna in ein Gespräch. Diese machte sich am Herd zu schaffen und gab nur unwillige Antworten. Überhaupt war sie diesmal noch zurückhaltender als am Vortag und durch den neuerlichen Besuch sichtlich beunruhigt. „Was hat Anton am Mittwoch gemacht?“ fragte Uglow. „Wissen Sie das noch?“ „Ich glaube, er hat mit Jegorka am Fluß Hechtangeln ausgelegt. Mein Gott, ich weiß es. nicht mehr. Hab’ genug eigene Sorgen.“ „Haben sie an dem Tag was gefangen?“ „Ja, ich glaube, sie haben was mitgebracht.“ „Besitzt Anton ein eigenes Boot?“ fragte Vitali. „Natürlich, was denn sonst?“ Vitali blickte sich zerstreut um. Nein, seit dem gestrigen Tag hatte sich hier absolut nichts verändert. Und es gab auch keinerlei Spuren, die eine Anwesenheit des Hausherrn oder einer anderen Person in diesem Zimmer verraten hätten. Warum aber war die Hausfrau so verändert? Vitalis Blick blieb am Fensterbrett hängen. Dort lag nach wie vor ein wirrer Haufen von Angelhaken, Blinkern, Schwimmern, Angelsehnen, irgendwelchen Schrauben, Muttern, Drahtstücken und Streichholzschachteln. In einer Ecke des Fensterbretts steckte eine vor Alter vergilbte Papirossakippe. Vitali streckte lässig die Hand aus und nahm wie zu186
fällig zusammen mit einigen Angelhaken die Kippe auf. Wie hatte er sie gestern nur übersehen können? Derselbe scharfe Wolfsbiß auf dem Mundstück und die gleiche Papirossa wie im Wagen. Marke „Sewer“. Wem gehörte sie? – War das eine Papirossa Antons? Oder Jegors? Oder sollte jener Fremde früher schon einmal bei ihnen gewesen sein? Nossow? Nein. Der wurde an jenem Abend im Klub gesehen. Damit entfiel er. Wer kam noch in Frage? Eins war nun klar: Der Mann aus dem Wagen hatte Anaschins Haus aufgesucht. Vitali hörte zerstreut der Unterhaltung zwischen Uglow und Pelageja Fjodorowna zu. „Nicht zum Aushalten ist das“, klagte die gerade. „Manchmal vertrinkt er alles, was er am Leibe hat. Und seine verfluchten Saufkumpane verprügeln ihn obendrein noch und schlagen ihm die Fresse blutig. Dann liegt er wieder eine Woche flach. Andere haben ordentliche Männer abgekriegt. Aber ich … Mein Gott, wofür werde ich so gestraft?“ „Diese Saufkumpane sollte man sich mal vorknöpfen“, sagte Vitali. „Kommen sie oft her?“ „Das sollen sie nur wagen“, erwiderte Pelageja Fjodorowna empört. „Um den Feuerhaken täte es mir nicht leid. Das weiß mein Alter nur zu genau. Bloß den Waska traut er sich herzubringen. Aber auch nur, wenn der Jegorka dabei ist.“ Als sie Anaschins Haus verließen, sagte Vitali leise: „Wir sollten uns mal das Boot ansehen.“ „Können wir machen“, erwiderte Uglow bereitwillig. Sie gingen durch Gemüsegärten, überquerten eine Wiese und kamen in ein kleines Waldstück, das sanft zum Fluß hin abfiel. „Ob wir das Boot finden?“ fragte Vitali. „Keine Sorge. Da unten gibt’s jetzt genug Angler. Was meinst du, wie die Fische bei dem Wetter beißen?“ Tatsächlich begegneten sie, noch bevor sie ans Ufer 187
kamen, einem Jungen mit mehreren Angeln über der Schulter. In der freien Hand trug er einen Eimer. Der Junge kehrte anscheinend bereits nach Hause ins Dorf zurück. „Grüß dich, Pawel“, sagte Uglow. „Na, beißen die Fische?“ „Es macht sich, Onkel Wanja“, erwiderte der, fröhlich seinen Eimer schwenkend. „Kannst du uns zeigen, wo Anaschins Boot liegt?“ „Da ist es doch. Gleich dort im Gebüsch. Soll ich mitkommen?“ bot sich der Junge diensteifrig an. „Nicht nötig, wir schaffen’s schon. Danke.“ Und in der Tat entdeckten sie das Boot bald in einem dichten Weidengebüsch. Es war mit einer Kette an einem Weidenstamm festgemacht. „Sieh mal an“, bemerkte Uglow. „Ganz wie ein guter Hausherr.“ Vitali hängte sein Sakko an einen Ast und meinte, sich umschauend: „Man müßte es an Land ziehen.“ „Wohin denn?“ gab Uglow zu bedenken. „Ringsum ist nichts als Gebüsch.“ „Tja. Dann müssen wir’s anders machen.“ Geschickt sprang Vitali ins Boot. Von Zweigen und Riedgras gehalten, schaukelte es nicht einmal. „Da ist ja Wasser drin!“ rief Vitali aus. „Womit könnte man das wohl …? Ach, ich hab’ schon was gefunden!“ Er zog eine alte Konservendose unter der Bank hervor und begann geräuschvoll das Wasser auszuschöpfen. Uglow nahm die Uniformmütze ab, fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn und streckte sich der Länge nach unter einem Busch aus. Vitali fragte ihn mit einem spöttischen Seitenblick: „Wanja, bist du von jemandem hergeschickt worden?“ „Wieso?“ fragte Uglow erstaunt zurück. „Ich wollte dir nur sagen, daß ich keine UNOBeobachter gebrauchen kann.“ 188
„Wenn’s was zu tun gibt, dann sag’s mir lieber gradheraus.“ Zum ersten Mal schien Uglow ernstlich gekränkt zu sein. „Und zur Beobachtung hat mich die Sowjetmacht hergeschickt.“ „Eins zu eins“, meinte Vitali lachend, während er weiterschöpfte. Uglows gutmütiges Gesicht zerfloß zu einem Lächeln, sosehr er sich auch bemühte, ärgerlich auszusehen. Er stand auf, klopfte sich ab und fragte: „Was soll ich also machen?“ Vitali richtete sich ächzend auf und erklärte vielsagend und mit Nachdruck: „Wir müssen herauskriegen, ob Anton Anaschin am letzten Mittwoch in der Stadt war oder nicht. Wenn ja, wann und auf welche Weise er zurückgekommen ist. Und zwar müssen wir danach nicht Pelageja Fjodorowna fragen, sondern jemand anders. Klar?“ „Klar“, erwiderte Uglow kurz und bündig. „Das ist deine Aufgabe. Ich aber werde mich noch ein bißchen mit dem Äppelkahn hier befassen. Jede Ritze muß untersucht werden.“ „Kommst du zu meinem Schwager zum Mittagessen?“ fragte Uglow. „Sieh zu, daß du es schaffst, sonst ist er beleidigt.“ „Ich komme, sobald ich fertig bin. Warte dort auf mich.“ Wieder machte Vitali sich ans Schöpfen. Uglow verschwand im Gebüsch. Man hörte nur das Bruchholz unter seinen Füßen knacken. Immer leiser und leiser … Vitali blieb allein. Eine Zeitlang kratzte er noch emsig mit der Büchse über den Boden: Jetzt war kaum noch Wasser im Boot. Schließlich setzte er sich auf die Bank und wischte sich den Schweiß von der Stirn. So, sagte er zu sich selbst. Jetzt kann’s losgehen. 189
Vitali rückte die Pistole in seiner Tasche zurecht, holte aus der anderen eine Klapplupe, betrachtete seufzend seine Hosen und ließ sich auf die Knie nieder. Hol euch der Teufel! dachte er. Bis Moskau müßt ihr noch durchhalten – genau wie ich. Er legte sich bäuchlings über die Bank und untersuchte sorgfältig die Bordwände. Wenn irgendein Fleck oder ein Riß im Holz seine Aufmerksamkeit auf sich zog, richtete er vorsichtig die Lupe darauf. Er konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Unterdessen hatte die Sonne die Wolkendecke durchbrochen, feine goldene Strahlen drangen wie Nadeln durch das dichte Laub der Büsche und tanzten auf dem dunklen Wasser. Ächzend richtete sich Vitali auf und blickte angewidert auf seine feuchten, ausgebeulten Hosen. Er stieg ans Ufer, legte sich an derselben Stelle, an der sich vor ein oder zwei Stunden Uglow ausgestreckt hatte, unter einen Strauch und versank in Gedanken. Man konnte also fast mit Sicherheit annehmen, daß einer der Anaschin-Brüder sich in Bulawkins Wagen befunden hatte. Und zwar war er bereits in der Stadt eingestiegen. Sie fuhren an seinem Dorf vorbei, worauf die Prügelei begann. Wohin wollte Bulawkin? Wie kam es zu der Prügelei? Warum hat er den Wagen gestohlen? Vor allem aber – wo war er abgeblieben? Die beiden Brüder waren schließlich noch da. Und was hatte das Ganze mit Lutschinins Tod zu tun? Vitali wußte nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Plötzlich stieß er einen Schrei aus und sprang auf. Dann klopfte er hastig seine feuchten Hosen ab. Große rote Ameisen krabbelten über seine Beine. Vitali schüttelte sie erbittert ab, grinste dann resigniert und stieg wieder ins Boot. Diese Version mußte man bis zum Ende verfolgen, um sie verwerfen zu können. Das war der Lieblingsspruch Zwetkows, seines Chefs. 190
Die Zeit verging. Ich glaube, diese Version habe ich bis zum Ende verfolgt, dachte Vitali schließlich. Man kann sie verwerfen. Das Boot hat nichts erbracht. In diesem Augenblick entdeckte er neben der Bank an der Bordwand Blutspuren unter der Rudergabel. Rotbraune, an Blut erinnernde Flecken, berichtigte Vitali sich, bemüht, der ihn erfassenden Erregung Herr zu werden. Lediglich an Blut erinnernde Flecken, beachte das. Er war so abgespannt, daß ihm alles vor den Augen verschwamm, seine Glieder schmerzten, und die Lupe zitterte in seiner Hand. Ich muß mich etwas ausruhen, beschloß Vitali. Wieder stieg er aus dem Boot und ließ sich, ängstlich die Stelle meidend, auf der er zuvor gelegen hatte, nieder. Worüber freute er sich eigentlich so? Selbst wenn es tatsächlich Blut sein sollte – von wem stammte es? Einer der Anaschins konnte sich die Hand verletzt oder den Fuß blutig gestoßen haben. Alles war möglich. Schließlich konnte dasselbe auch Shenja passiert sein, als er mit ihnen angelte. Die Flecken besagten noch gar nichts. Und trotzdem – er hatte Blutspuren gefunden …! Plötzlich trat aus den Sträuchern ein völlig unbekannter, hagerer, hochgewachsener Mann heraus. Er hatte ein schmales, sonnenverbranntes Gesicht, schwere, an Vorschlaghammer erinnernde Hände und trug ein grünkariertes Sporthemd, das ihm halb aus der Hose gerutscht war. Dunkle, leicht verkniffene Augen starrten Vitali feindselig an. „Ach, habe ich dich erwischt …“, verkündete der Mann mit einem unguten Lächeln, während er die Hände in die Taschen schob und leicht schwankte. „Dir Kanaille drehe ich den Hals um!“ Eine unangenehme Situation. Hoffentlich breche ich ihm nichts, dachte Vitali, während er friedfertig sitzen 191
blieb und fragte: „Wieso wollen Sie mir denn den Hals umdrehen, Onkelchen?“ „Das fragst du noch?“ krähte der giftig. „Das fragst du Kanaille noch? Einen Hänfling wie dich“, er rückte drohend gegen Vitali vor, „zerquetsche ich wie eine Fliege!“ Seine Augen durchbohrten Vitali haßerfüllt, in seinen Mundwinkeln klebte Speichel. Er zog die Hände aus den Taschen, und als er ausholte, blitzte in seiner Rechten etwas matt auf. Vitali warf sich zur Seite und sprang auf. „Vorsichtig, Onkelchen“, sagte er streng, die rechte Hand des Mannes scharf im Auge behaltend. „Wenn ich zurückschlage, geht’s dir schlecht.“ „Ach, du Miststück“, brummte der und versteckte die Rechte hinter seinem Rücken. „Na, komm schon her, komm schon. Kriegst gleich eine verpaßt!“ „Vielleicht erklärst du mir erst mal …“, bat Vitali grinsend. „Werd’s dir gleich erklären!“ schrie der Mann mit einem wilden Glanz in den Augen und stürzte sich auf Vitali. Nach einem kurzen, verbissenen Kampf hatte Vitali den Alten überwältigt. „Na, Onkelchen“, sagte Vitali keuchend. „Vielleicht können wir uns jetzt unterhalten?“ „Laß mich los, du Miststück!“ erwiderte der dumpf, ohne den Kopf zu heben. „Gleich, gleich. Sag mir erst mal, warum du über friedliche Leute herfällst.“ Statt einer Antwort fing der Mann unerwartet, das Gesicht ins Gras gepreßt und mit dem ganzen Körper bebend, zu weinen an. „Was hast du denn?“ fragte Vitali erstaunt. „Und du … was mußt du … fremde Boote klauen?“ Erst jetzt begriff Vitali, mit wem er es zu tun hatte. „Ist das etwa dein Boot?“ fragte er sicherheitshalber. 192
„Was denn sonst?“ Vitali grinste. Das war also Anaschin! „Du bist mir ein Kauz! Ich wollte es doch überhaupt nicht stehlen.“ „Du lügst … Die Kinder haben’s mir gesagt … ‚Da macht jemand dein Boot los.‘ Bin natürlich gleich losgewetzt …“ Wieder versuchte er, sich frei zu machen. „Laß los, sage ich dir! Wenn ich dabei draufgehe, kriegen sie dich dran! – Ich ster-be-e!“ heulte er, sich wie ein Betrunkener mit dem ganzen Körper windend und in die Erde beißend. Der ist ja hysterisch, verflucht noch mal, dachte Vitali besorgt. Der stirbt mir hier tatsächlich noch. „Na gut“, meinte er? „Ich lasse dich los. Aber gib mir erst den Schlagring.“ „Das könnte dir so passen“, fluchte Anaschin grimmig. „Dann nehme ich ihn dir ab. Onkelchen.“ „Ich ster-be-e-e! – Hilfe, ich ster-be-e!“ heulte Anaschin wieder auf. „Ach, zum Teufel mit dir.“ Vitali hatte endgültig genug. „Steh schon auf.“ Er ließ Anaschin los und erhob sich, während er bei jeder Bewegung spürte, wie sein verletzter Rücken brannte. Anaschin lag eine Sekunde lang reglos da, dann drehte er sich um und blickte Vitali von unten herauf an. Sein hageres Gesicht war tränenüberströmt und mit Erde beschmiert. „Spendierst du ’ne Flasche?“ fragte er unerwartet friedlich. „Dann stehe ich auf.“ „Wofür denn?“ Vitali war verblüfft. „Na, für die Qualen, die ich von dir auszustehen hatte. Der ABVer ist im Dorf, wenn ich dem erzähle …“ „Also, weißt du, Onkelchen“, erwiderte Vitali erstaunt. Dann aber kam ihm ein Gedanke, und er sagte gutmütig: „Na schön. Sollst deinen Willen haben. Ich spendiere 193
zwei Flaschen. Aber nur unter der Bedingung, daß wir Freunde werden.“ „Klar! Das haut hin!“ Anaschin richtete sich rasch auf und setzte sich auf seine untergeschlagenen langen Beine. „Schwindelst du auch nicht?“ „Hier hast du einen Vorschuß“, erklärte Vitali grinsend und zog sein Portemonnaie heraus. Anaschin entriß ihm das Geld, schob es schnell in seine Tasche und stand, sich am Erdboden abstützend, auf. „Schließen wir Frieden“, sagte er und streckte die Hand aus. „Ich bin der Anton. Und du?“ „Der Vitja.“ „Klar! Das haut hin!“ wiederholte Anaschin erfreut und fügte rasch hinzu: „Jetzt gib mir das Geld für die zweite Flasche.“ „Nicht so hastig, Onkelchen“, meinte Vitali lachend. „Willst sie wohl allein austrinken?“ „Aber nein! Nur mit meinem Freund!“ Anaschin klopfte Vitali auf die Schulter. „Wirst’s gleich sehen. Wenn du mir ’nen Dreier gibst, hole ich die Flasche ’raus! Haut das hin?“ „Hast du sie denn hier?“ „Na klar.“ Anaschin zwinkerte listig. „Hab’ schon vorgesorgt, da kannst du ganz beruhigt sein.“ Vitali blickte ihn neugierig an. „Na, wenn’s so ist, dann nimm.“ Anaschin schnappte nach dem Geld und verschwand im Gebüsch. Gleich darauf kam er mit einer schäbigen Kunstledertasche wieder zum Vorschein. Vitali zwang sich zu dem begeisterten Ausruf: „Das ist ein Ding!“ Wenn Wanja jetzt auftaucht, schmeißt er mir die ganze Vorstellung, dachte er besorgt und schlug Anaschin vor: „Suchen wir uns lieber ein anderes Plätzchen. Sonst kommt noch jemand her. Hast doch bestimmt so gebrüllt, daß es im ganzen Dorf zu hören war.“ 194
„Hast du etwa Angst vor dem ABVer?“ Anaschin kicherte, stimmte jedoch sofort zu: „Aber du hast schon recht. Der Mensch braucht seine Ruhe. Gehen wir. Ich kenne da ein ruhiges Fleckchen. Im Dorf kann ich mich jetzt sowieso nicht blicken lassen. Hab’ nämlich noch was vor.“ Er zwinkerte vielsagend. „Warte mal“, hielt Vitali ihn zurück. „Könntest mir erst mal den Rücken abwaschen. Das brennt ja wie verrückt.“ „Klar, mein Lieber.“ Anaschin war sofort Feuer und Flamme. „Das machen wir.“ Vitali zog sich das zerrissene Hemd über den Kopf. Kurz darauf folgten sie einem schmalen Pfad, der sich durch das Gebüsch schlängelte und immer weiter vom Fluß entfernte. Sie gelangten in den Wald. Hier ist es, dachte Vitali. Der Wald war alt, finster und unzugänglich. Immer wieder versperrten ihnen umgestürzte Bäume oder zerfallene, morsche Baumstümpfe mit riesigen Ameisenhaufen den Weg, und sie mußten sich durch Büsche und Berge von Bruchholz hindurchschlagen. Es roch nach Fäulnis, warmen Kiefernnadeln und irgendwelchen Kräutern. Schließlich machte Anaschin auf einer kleinen, sonnigen, von Strauchwerk umgebenen Lichtung halt, schaute sich nach allen Seiten um und erklärte entschieden: „Hier bleiben wir.“ Er entnahm der Tasche vorsichtig eine große, mit einer trüben Flüssigkeit gefüllte grünliche Flasche, die mit einer zusammengedrehten Zeitung zugestopft war. Anschließend packte er ein halbes Schwarzbrot, ein paar junge weiße Zwiebeln mit abgebrochenem grünem Lauch und einen zerbeulten Nickelbecher aus. Selbstgebrannter, dachte Vitali. Woher mag er den haben, der Hundesohn? Anaschin breitete alles im Gras aus, goß Selbstgebrannten in den Becher und reichte ihn Vitali. „Hier, mein Lieber. Ich trinke gleich aus der sündigen Flasche.“ 195
Sie stießen miteinander an. Anaschin setzte die Flasche an den Mund und konnte sich lange nicht von ihr losreißen. Sein spitzer Adamsapfel hüpfte an dem mageren, schmutzigen Hals auf und ab. Vitali nippte nur an dem Becher und schüttete den Selbstgebrannten unauffällig ins Gras. Dann begannen sie zu essen. Anaschin beklagte sich bitter über sein verpfuschtes Leben und über seine Frau. „… die bringt’s fertig und schnappt nach deiner Hacke. Das ist kein Weib, sondern der reinste Wachhund! Und keifen tut die alte Hexe von früh bis spät …“ Sie tranken noch einmal. „Dann habe ich noch“, fuhr Anaschin, sich immer mehr in Rage redend, fort, „einen jüngeren Bruder. Na, mit dem wird’s noch mal ein schlimmes Ende nehmen. Ein schrecklicher Draufgänger! Und auch ein verpfuschtes Leben.“ Anaschin drohte jemandem erbost mit der Faust. „Für Jegorka würde ich jedem die Kehle durchschneiden. Jedem!“ „Richtig so! Schließlich ist’s dein Bruder“, stimmte Vitali zu. „Mein leiblicher Bruder!“ Anaschin schlug sich mit der Faust gegen die Brust und schluchzte plötzlich auf. „Der einzige! Und was haben sie mit ihm gemacht! Er hat im Werk um Arbeit gebeten, aber sie wollten ihn nicht haben, die Kanaillen! Alles mögliche hat er versucht. Die Obrigkeit kam sogar zum Angeln her. So weit ist’s gekommen!“ Vitali spürte, wie sein Herz plötzlich zu hämmern anfing und sein Mund trocken wurde. „Aber einstellen wollte der Mistkerl ihn nicht! Hatte wohl spitzgekriegt, daß unser Jegorka ein gebranntes Kind war“, fuhr Anaschin grimmig fort. „Na schön. Der hat sich selbst beiseite geschafft. Dann kam ein neuer. Der hat ihn genommen, da kann man nichts sagen. Jetzt aber ist Je196
gorka schon wieder dabei, sich das Leben zu verpfuschen. Kann ich das etwa zulassen? Was meinst du?“ „Nein.“ Vitali schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht zulassen.“ „Genau!“ meinte Anaschin. „Das sage ich ja auch! Trinken wir noch einen!“ Er goß Vitali von dem Selbstgebrannten ein. Seine Hände zitterten. Als er getrunken hatte, fiel ihm plötzlich etwas ein. „Ach du Schreck! Ich muß weg!“ Mit gesenkter Stimme, den Kopf ängstlich zur Seite geneigt, fügte er hinzu: „Wer weiß, was mein Bruder vorhat.“ „Kann ich dir helfen?“ schlug Vitali vor. Anaschin hörte sogar auf, die Zeitung in die noch nicht völlig geleerte Flasche zu stopfen, und blickte Vitali mißtrauisch an. „Hast du keine Angst?“ „Nicht mal vor dem Teufel.“ „Dann komm. Kannst uns wirklich helfen.“ Er sprang gewandt auf, ergriff die Tasche und drehte sich plötzlich abrupt zu Vitali um. Sein hageres, unrasiertes Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse. „Aber sieh dich vor, Freundchen. Wir sind nicht zu Späßen aufgelegt. Wenn wir was merken, geht’s dir dreckig.“ Die Zähne …, schoß es Vitali plötzlich durch den Kopf. Seine Zähne! „Gehen wir“, brummte er. „Zu Späßen bin ich auch nicht aufgelegt. Da kannst du Gift drauf nehmen.“ Anaschin wechselte die Tasche in die linke Hand und drang rasch, ohne sich noch einmal umzusehen, auf einem kaum erkennbaren Pfad ins Waldesinnere ein. Vitali folgte ihm. Nach der Vernehmung lief Igor lange von einer Ecke in die andere. Da war ihm ein Goldfisch ins Netz gegangen, wie Zwetkow zu sagen pflegte. Dieser Nossow war ein Erzgauner! 197
Mal sehen, wie das Gutachten über Bulawkin ausfällt. Die Genossen haben immer noch nicht angerufen. Na, bis zum Feierabend ist’s ja noch weit. Im Werk muß auch noch einiges überprüft werden. Wen ruft man da am besten an, ohne Verdacht und Gerede aufkommen zu lassen? Tanja Filatowa, Rewenko, Simakow? Alles nicht das Richtige. Na, und Tscherkassow ist erst recht nicht vertrauenswürdig. Wie wäre es … Igor setzte sich wieder an den Tisch, auf dem noch die Formulare der gerade beendeten Vernehmung lagen, zog das Telefon zu sich heran und wählte nach einem Blick in sein Notizbuch eine Nummer. „Valentin Grigorjewitsch? Guten Tag. Hier spricht Otkalenko von der Stadtabteilung der Miliz.“ „Guten Tag, mein Lieber“, erwiderte Oleschkowitsch mit samtweicher, rollender Stimme. „Womit kann ich dienen?“ „Ich brauche eine Auskunft. Aber nur Sie und ich dürfen davon wissen.“ „Verstehe, verstehe. Fühle mich außerordentlich geehrt. Ich werde Ihnen auf vertraulichste Weise Mitteilung machen.“ Igor legte seine Bitte dar, und der erstaunte Oleschkowitsch versprach, alles nach Wunsch auszuführen. Sie vereinbarten, daß Igor in einer halben Stunde anrufen würde. Am Tisch sitzend, dachte Igor über seine weiteren Schritte nach. Dabei glitten seine Augen mechanisch über die vor ihm ausgebreiteten Papiere. Plötzlich aber wurde sein Blick konzentriert. Er runzelte die Stirn und rückte näher an den Tisch heran. Hol’s der Teufel, bildete er sich das nur ein, oder … Aber schließlich kann niemand seine Handschrift völlig verstellen! Obwohl andererseits … Er nahm mit einem Ruck den Hörer ab und rief den Diensthabenden an: „Sagen Sie, ist der Experte aus der Gebietsverwaltung noch da? – Ja?“ fragte er erfreut zurück. „Wo sitzt er denn?“ 198
Igor warf den Hörer auf die Gabel, griff nach den letzten Bogen der Vernehmungsformulare sowie nach der grünen Mappe aus der Staatsanwaltschaft und stürzte zur Tür. Er vergaß sogar, die übrigen Papiere in den Safe zu schließen, vergaß sein Jackett über dem Stuhl, vergaß anscheinend alles auf der Welt! Ein plötzlich aufgetauchter Verdacht betäubte ihn. Er drehte nur mechanisch den Schlüssel in der Tür herum und eilte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab. Als er eine Stunde später zurückkehrte, schleuderte er die dünne Mappe mit den Papieren auf den Tisch und ließ sich kraftlos auf die Couch fallen. Dann sah er sich mit abwesenden Blicken im Zimmer um. Das war eine Entdeckung! Aber man durfte nichts übereilen. Immerhin war es nur eine vorläufige Schlußfolgerung. Erst ein oder zwei Merkmale stimmten bisher überein. Mochten sie sich noch bis morgen damit befassen. Und zu einem endgültigen Ergebnis kommen. Na, und das dort … Igors Blick blieb an der Mappe hängen, die er von dem Experten mitgebracht hatte. Das offizielle Gutachten über Bulawkin. Na ja, das war zu erwarten gewesen! In diesem Augenblick läutete das Telefon. Igor erhob sich träge von der Couch und nahm den Hörer ab. „Ich habe Ihre Aufträge aufs gewissenhafteste erledigt“, verkündete Oleschkowitschs Baßstimme. „Sie aber rufen nicht an.“ „Ach ja, Valentin Grigorjewitsch!“ Igor war diese Sache völlig entfallen. „Entschuldigen Sie bitte.“ Er zog ein Blatt Papier zu sich heran und griff nach dem Bleistift. … Erst am späten Abend kehrte Igor ins Hotel zurück und war so müde, daß er sich nur noch ausziehen und ins Bett fallen lassen konnte. Beim Ausziehen begann er bereits einzunicken. Am nächsten Morgen aber war er pünktlich um neun wieder in der Stadtabteilung. Eine halbe Stunde später 199
lag das offizielle Gutachten vor ihm auf dem Tisch. Der Schriftsachverständige bestätigte, daß die zur Begutachtung eingereichten Briefe, der Zettel und der Vermerk auf dem Vernehmungsformular von ein und derselben Person stammten. Von ein und derselben Person! Also hatte Nossow das alles geschrieben! Nicht Bulawkin, sondern Nossow! Verstehst du, Vitali? All das hat Nossow geschrieben! Wie sehr Igor auch auf dieses Ergebnis gewartet, wie sehr er sich darauf vorbereitet hatte – als nun das Gutachten vor ihm lag, spürte er doch ein verräterisches Zittern in der Hand. Na, dann! Jetzt können Sie kommen, Nossow. Hiernach werden wir uns ganz anders mit Ihnen unterhalten. Heute werden Sie nicht mehr, so wie gestern, zu Ihrem Ratgeber laufen. Der ist tatsächlich vorhanden. Ja, ja! Auch darin haben wir uns nicht geirrt. Den aber werden wir uns ein andermal vorknöpfen. Dieser Tscherkassow ist natürlich ein feiger Schuft, und doch … Dann nahm Igor den Hörer ab und rief die Staatsanwaltschaft an. Bald darauf traf Nossow ein. Genau wie am Tag zuvor setzte er sich in seinem dunkelblauen, seidenen Polohemd, in geputzten Schuhen, klein, untersetzt, mit langen, muskulösen Armen, seelenruhig an den Tisch. Seine übermäßig langen Arme fielen Igor aus irgendeinem Grunde diesmal sofort auf. Aber Nossows fleischiges, mürrisches Gesicht wirkte bereits nicht mehr verschlafen. In seinen Augen flackerte eine kaum merkliche Unruhe. „Was wollen Sie denn noch von mir?“ fragte er barsch. „Immer noch dasselbe“, erwiderte Igor, bemüht, Nossows ausweichenden Blick einzufangen. „Die Wahrheit.“ Dir werde ich gleich so den Marsch blasen, daß du deine Ruhe völlig verlierst, dachte Igor. Er wußte noch nicht, welche Enttäuschung ihn erwartete. 200
„Was denn für eine Wahrheit?“ „Das werden Sie gleich erfahren“, versprach Igor und holte ein Vernehmungsformular hervor. „Diesmal werden wir Fragen und Antworten sofort notieren.“ „Von mir aus.“ Nossow zuckte mit seinen mächtigen Schultern. „Wie Sie wollen.“ „Ganz richtig. Also, die erste Frage: Was wissen Sie über Lutschinins Erfindung?“ „Das haben Sie mich doch schon mal gefragt.“ „Ich frage Sie heute noch einmal. Vielleicht geben Sie mir nach einigem Nachdenken eine andere Antwort.“ „Da gibt’s gar nichts nachzudenken. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe.“ „Wiederholen Sie es.“ „Gar nichts weiß ich darüber, und basta.“ „So werden wir’s auch aufschreiben. Die zweite Frage: Warum haben Sie sich von Ihrem Nachbarn eine Schreibmaschine geborgt?“ Nossow warf Igor einen raschen, mißtrauischen Blick zu und wandte sofort wieder die Augen ab. Mit der Antwort zögerte er allerdings: „Kann mich nicht erinnern. Schon möglich, daß ich sie mal ausgeborgt habe.“ „Versuchen Sie sich zu erinnern.“ „Wozu wollen Sie wissen, ob ich sie mir geborgt habe oder nicht?“ „Die Fragen stelle ich“, erwiderte Igor in scharfem Ton. „Und merken Sie sich: Seit gestern hat sich einiges verändert. Haben Sie sich die Maschine also geborgt?“ „Na, nehmen wir mal an, ich hab’ sie mir geborgt.“ „Das schreibe ich ohne Ihr ‚Nehmen wir mal an‘ auf. Oder soll ich Ihnen eine Gegenüberstellung mit Ljolja Nebogowa arrangieren?“ „Das fehlte mir gerade noch.“ Nossow antwortete in barschem Ton und sichtlich nervös werdend. „Sie haben sie also ausgeborgt?“ 201
„Meinetwegen. Na und?“ „Wozu brauchten Sie die Maschine?“ „Weiß ich nicht mehr. Basta.“ „Gut. Es wird Ihnen schon noch einfallen. Die nächste Frage: Wo ist Bulawkin?“ „Was?“ Nossow hob den Kopf. Sein Hals lief zusehends rot an. Von seiner früheren Schläfrigkeit war keine Spur mehr vorhanden. Seine Augen starrten Igor so grimmig und angespannt an, als versuchte er, in ihn hineinzuschauen. „Was wollen Sie mir da anhängen?“ fragte er heiser. „Ihre Ausdrucksweise, Nossow, wirft kein gutes Licht auf Sie. Also überlegen Sie sich, was Sie sagen“, erklärte Igor spöttisch. „Und beantworten Sie meine Frage: Wo ist Bulawkin?“ „Woher soll ich das wissen? Was habe ich …“ Nossow brach plötzlich mitten im Satz ab und verstummte. „Also schreiben wir auf, daß Sie es nicht wissen“, sagte Igor nach einem kurzen Schweigen. „Antworten Sie jetzt: Warum haben Sie in seinem Namen diese Nachricht an uns geschrieben?“ Er zog den Zettel hervor und zeigte ihn Nossow. „Ich habe nichts geschrieben.“ „Sie haben das nicht geschrieben? Dann lesen Sie mal dieses Sachverständigengutachten. Sie haben eine ganze Menge geschrieben, Nossow. Das werden Sie alles noch zugeben müssen. Lesen Sie.“ Igor reichte ihm das Protokoll über den Tisch. Nossow nahm es mit einem ungläubigen Grinsen entgegen, drehte es hin und her und zwang sich dann zum Lesen. Drückendes Schweigen trat ein. Nossow überlegte offensichtlich. Dann sagte er finster, den Blick auf den Fußboden gerichtet: „Gut. Ich gebe es zu. Ich hab’s geschrieben.“ 202
Ein so rasches Geständnis hatte Igor nicht erwartet. Vor allem aber gefiel ihm die Ruhe nicht, mit der Nossow es ablegte. Warum diese Ruhe ihm nicht gefiel, hätte Igor allerdings nicht zu sagen vermocht. „Soso“, sagte er. „Jetzt werden Sie meine Frage vielleicht anders beantworten: Wo ist Bulawkin?“ „Anders kann ich nicht antworten. Ich weiß nicht, wo er ist. An jenem Abend habe ich ihn getroffen. Er bat mich, Ihnen auszurichten, daß er nicht kommen könne, weil seine Mutter krank geworden sei. Ich aber hatte keine Lust, mich bei Ihnen blicken zu lassen. Darum habe ich den Zettel geschrieben.“ „Sonst hat er nichts zu Ihnen gesagt?“ „Nein.“ „Sind Sie mit einem Wagen zum Hotel gefahren?“ „Woher sollte ich einen Wagen haben?“ „Man hat ihn doch gesehen, Nossow.“ „Na, wer ihn gesehen hat, der soll sich melden. Ich habe keinen gesehen.“ Sieh mal an, dachte Igor beunruhigt. Der wird ja immer frecher. „Na, gut. Jetzt erklären Sie mir folgendes: Warum haben Sie die anonymen Briefe geschrieben, und wohin haben Sie sie geschickt?“ „Wohin?“ fragte Nossow mürrisch, aber ruhig zurück. „An die Staatsanwaltschaft habe ich sie geschickt und an die Zeitung. Damit sie Bescheid wußten.“ „Warum haben Sie zu Verleumdungen gegriffen?“ „Wieso Verleumdungen?“ Nossows Stimme klang überraschend spöttisch. „Die Kommission aus Moskau hat das alles bestätigt. Also ist es keine Verleumdung. Ich habe nur ein Signal gegeben, und basta.“ „Die Schlußfolgerungen der Kommission werden wir noch überprüfen.“ „Was geht mich das an? Überprüfen Sie sie doch.“ Igor spürte, wie ihm die Führung bei diesem Verhör allmählich entglitt. Nossow hatte überraschend und 203
geschickt den Spieß umgedreht. Derselbe Nossow, der noch gestern bereitwillig allen Wendungen des Verhörs gefolgt und am Ende so arg in Verlegenheit geraten war. Zum Teufel, was war mit ihm los? Die entscheidende Entdeckung, die Igor gemacht hatte, hing jetzt gleichsam in der Luft und trug nicht im geringsten dazu bei, diesen Halunken zu entlarven. Darum hatte er so schnell und willig gestanden. Nur darum? Igor mußte sich zusammenreißen und vorsichtig den Rückzug antreten. „Tja, da haben Sie ganz recht“, meinte Igor nachdenklich und fuhr dann vorwurfsvoll, ja fast wohlmeinend fort, obwohl dieser Ton ihm nicht leichtfiel: „Trotzdem ist es nicht schön, anonyme Briefe zu schreiben. Wenn Sie Ihren Namen daruntergeschrieben hätten, wäre das ganz was anderes. So aber haben Sie sich nur verdächtig gemacht und uns zusätzliche Arbeit beschert.“ „Von wegen meinen Namen darunterschreiben. Schließlich ging’s gegen die Obrigkeit. Wenn die was merkt, zerquetscht sie einen doch wie eine Ameise“, erwiderte Nossow grinsend. Seine Stimme klang bereits nicht mehr feindselig. Igor rieb sich die Stirn und bat plötzlich: „Wassili Pawlowitsch, erklären Sie mir doch mal, Worin die konstruktiven und technologischen Besonderheiten von Lutschinins Erfindung bestanden. Ich kann daraus nicht schlau werden.“ „Weiß der Kuckuck.“ Nossow winkte ab. „Da müssen Sie schon einen anderen, Klügeren fragen.“ „Im Protokoll steht, daß er angeblich alles aus irgendeinem Buch abgeschrieben hat …“ „Solche Bücher habe ich noch nie gelesen. Das ist nicht meine Sache, muß ich Ihnen sagen.“ Nossow grinste selbstzufrieden. „Dafür werde ich nicht bezahlt.“ Auf diese Frage hast du dich nicht vorbereitet, mein Lieber, dachte Igor. Oder: Man hat dich nicht vorberei204
tet. Das müßtest du nämlich wissen, wenn … Mit gleichgültiger Stimme, als handle es sich um eine reine Formalität, sagte Igor: „Schreiben wir auch das noch auf. Sie haben doch nichts dagegen?“ „Meinetwegen“, erwiderte Nossow herablassend. Er hatte sich bereits wieder völlig beruhigt und war sogar recht guter Dinge. Das Verhör ging zu Ende. Diesmal unterschrieb Nossow seine Aussagen bereitwillig und ohne jeden Protest. Als er bereits im Aufbrechen begriffen war, sagte Igor, abrupt seinen Ton ändernd, trocken: „Morgen, Wassili Pawlowitsch, werden Sie mir trotzdem erklären müssen, was der Ingenieur Lutschinin vorgeschlagen hat und was Professor Jelzow. Wenigstens so weit, wie Sie das in Ihren anonymen Briefen getan haben.“ In diesem Augenblick ging mit Nossow eine unerklärliche Veränderung vor sich. Der sichere, selbstzufriedene Ausdruck wich augenblicklich aus seinem fleischigen Gesicht, die Augen huschten ratlos hin und her, und der dicke Hals lief allmählich rot an. „Was denn … für ein … Jelzow?“ fragte er stockend. „Derselbe, über den Sie geschrieben haben“, erwiderte Igor spöttisch und fügte drohend hinzu: „Aber lassen Sie sich nicht einfallen, wieder zu Ihrem Berater zu laufen. Er wird weder auf der Arbeit noch zu Hause anzutreffen sein.“ In diesem Moment bot Nossow einen kläglichen Anblick. Gehetzt sah er sich nach allen Seiten um, seine blaß gewordenen Wangen bebten, und man glaubte seine Zähne klappern zu hören. „Ach, so ist das?“ krächzte er und blickte Igor plötzlich ergrimmt in die Augen. „Ihr habt’s also doch rausgekriegt? – Na, wenn’s so ist … Jeder ist sich selbst der Nächste … Schreib!“ rief er aus. „Schreib alles auf! Der Teufel soll ihn holen!“ Er riß seinen Hemdkragen auf. 205
Als sie fertig waren, sagte Igor kalt und mit Nachdruck: „Das müssen Sie uns aber erst noch beweisen!“ „Das werde ich auch!“ Nach kurzem Nachdenken erklärte Igor plötzlich: „Sie fühlen sich nicht wohl. Deshalb werden Sie drei Tage lang das Haus hüten. Und niemanden treffen. Dabei werden wir Ihnen behilflich sein. Klar? Jetzt wird man Sie nach Hause begleiten. Verhaften will ich Sie nicht.“ Er griff zum Telefonhörer. Als Nossow gegangen war, sammelte Igor die Papiere vom Tisch, um sie in den Safe zu schließen. Und plötzlich erstarrte er und betrachtete den wohlbekannten Raum mit ganz neuen Augen. Gleich wird der wirkliche Mörder hereinkommen, dachte er. Aber wahrscheinlich werde ich ihn nicht einmal verhaften können. Das Telefon läutete. Eine ferne, aufgeregte Stimme fragte: „Hauptmann Otkalenko?“ „Ja. Ich höre.“ „Hier spricht der Abschnittsbevollmächtigte Uglow. Ich bitte Sie sehr: Sie müssen unbedingt herkommen. Oberleutnant Lossew ist verschwunden. Wir haben schon alles abgesucht. Aber er ist nirgends zu finden!“
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8. KAPITEL
Ein Mörder tritt ein Anaschin blieb plötzlich stehen und lauschte. Aber außer dem Rascheln der Blätter und munterem Vogelgezwitscher war nichts zu hören, nichts Auffallendes oder Verdächtiges. „’s war nichts weiter“, erklärte Anaschin beruhigend und bewegte sich, etwas vor sich hin murmelnd, wieder vorwärts. Vitali beschleunigte seine Schritte, um ihn einzuholen. Das trockene Bruchholz knackte verräterisch unter ihren Füßen. „… Nicht ein bißchen Grütze hat er im Kopf!“ Anaschin redete plötzlich laut und ärgerlich mit sich selbst. „Nicht ein bißchen, sage ich … Wie kann man nur so was machen? – Weißt du, was auf so was steht? – Dabei habe ich dich gewarnt, du Kanaille … Kusch! Versteck dich und muckse dich nicht! Verpfusch dir nicht dein Leben …“ Eilig, hin und wieder den Pfad verlassend und sich einen Weg durchs Gebüsch bahnend, wobei er immer nervöser und merklich nüchterner wurde, huschte Anaschin zwischen den Bäumen hindurch. Endlich erreichten sie die Schneise. Hier blickte Anaschin sich erneut um, diesmal aber sagte er verblüfft und unruhig: „Wo ist bloß das verfluchte Ding? Wir müssen uns verlaufen haben.“ Wieder zog er sich in den Wald zurück und ging an der Schneise entlang in Richtung Chaussee, wobei er 207
sich ständig nach allen Seiten umsah und offensichtlich nach etwas Ausschau hielt. Er sucht den Wagen, erriet Vitali. In diesem Wald orientierte er sich bereits ganz gut und wußte, daß sie die gesuchte Stelle gleich erreichen würden. Auch Anaschin schien das klargeworden zu sein. Er legte einen Schritt zu und sah sich nicht mehr um. Bald gelangten sie zu der krummen Kiefer, neben der noch gestern Bulawkins Gasik im Gebüsch gelegen hatte. Dort blieb Anaschin mit einem Ruck stehen und starrte entsetzt auf das zertretene Gras ringsum. „Wo ist bloß das verfluchte Ding?“ fragte er immer wieder. „Hat es sich in Luft aufgelöst?“ „Hast du was verloren?“ fragte Vitali. Anaschin blickte ihn verstört an. „Hier war er …“ Er wies auf das Gebüsch. „Und jetzt ist er weg …“ „Wer denn?“ „Na, der Wagen … der verfluchte!“ erwiderte Anaschin. „Er ist weg …“ Vitali tat verblüfft. „Schlag dir das aus dem Kopf. Das hast du dir wohl im Suff ausgedacht. Wo soll denn hier ein Wagen herkommen?“ Anaschin war durch all diese Ereignisse so niedergeschmettert, daß er jede Vorsicht vergaß. Er mußte sich aussprechen, mußte seinen Kummer bei jemandem loswerden und Worte des Mitleids hören. „Wieso, wieso … Jegorka … Er hat ihn hergefahren, verstehst du, und hier stehenlassen. Und ich kann ihn jetzt suchen! – Er hatte hier mit einem ’ne Rechnung zu begleichen, verstehst du …“ „Was denn für eine Rechnung?“ fragte Vitali erstaunt. Er mußte sich anstrengen, um die ihn erfassende Erregung zu verbergen. „Ach, was weiß ich“, erwiderte Anaschin gereizt. „Ist 208
doch auch völlig schnuppe … Aber sich deshalb einen Mord aufhalsen?“ „Einen Mord?“ Anaschin warf Vitali einen mißtrauischen Blick zu. „Na, was sperrst du deinen Rachen auf?“ fragte er grob. „Im Suff ist ihm die Hand ausgerutscht. Jegorka war voll wie ’ne Haubitze. Hat ihm eine verpaßt und ihn liegengelassen. Nachher sind wir zu zweit noch einmal hierhergegangen. Haben gesucht und gesucht und ihn nicht wiedergefunden. Allein aber konnte er nicht mehr weg. Wenn das kein Rätsel ist! Und jetzt ist auch noch der Wagen verschwunden.“ „Jemand hat ihn gefunden und ist damit abgefahren, was sonst?“ sagte Vitali verächtlich. „Bestimmt sind Kinder oder Weiber beim Pilzesammeln drauf gestoßen.“ „Dann hätte man im Dorf was davon gehört.“ Anaschin schüttelte zweifelnd den Kopf. „Und der Wagen, der war kaputt.“ Gleich darauf fügte er besorgt hinzu: „Vor allem aber: Wo ist dieser Kerl? Das möcht’ ich mal wissen.“ „Wozu brauchst du den denn?“ „Wozu? Ich muß Jegorka retten – dazu.“ Anaschin biß sich nachdenklich auf die Lippen. „Der wird wieder zu sich gekommen und abgehauen sein“, mutmaßte Vitali so gleichgültig wie möglich. „Wo willst du ihn jetzt suchen?“ „Wenn Jegorka zuschlägt, kommt man nicht mehr zu sich.“ Anaschin kratzte sich den Hinterkopf und erklärte entschlossen: „Hör zu. Hier ist noch ein Dorf in der Nähe. Wir müssen uns auf alle Fälle mal dort umsehen. Vielleicht ist dieses Miststück dahin gekrochen?“ Vitali stellte sich für einen Augenblick den nächtlichen Wald und den verwundeten, mit letzter Kraft durchs Gras kriechenden Bulawkin vor, seine zerschundenen, mit Erde beschmierten Hände. 209
„Gehen wir“, sagte er streng. „Ich kann dich jetzt nicht allein lassen.“ Anaschin warf ihm einen raschen, halb mißtrauischen, halb dankbaren Blick zu, wechselte die Tasche in die andere Hand und brummte: „Na, gehen wir.“ Sie schlugen einen Bogen um die Schneise und drangen wieder in den Wald ein. Hier wurde der Wald lichter, es gab kaum noch Sträucher, und unter den Bäumen breitete sich ein weicher Grasteppich aus. Das Gehen fiel jetzt leichter. Hier kriecht es sich auch besser, dachte Vitali. Birken, Erlen und Espen traten allmählich zurück und machten bronzefarbenen hohen Kiefern Platz, zwischen denen ab und zu schwarze, mit grauen Spinnweben überzogene Tannen standen. Unter ihren dichten, ausladenden Zweigen herrschte feuchtes Halbdunkel. Anaschin und Vitali gingen jetzt nebeneinander, beide von fast derselben Ungeduld und Unruhe vorwärts getrieben. Anaschin schwenkte seine Tasche und schien, vom raschen Gehen erhitzt, völlig nüchtern geworden zu sein. Außerdem brachte er seinem Begleiter anscheinend immer größeres Vertrauen entgegen. Jedenfalls drängte es ihn, seinen Kummer loszuwerden. Nachdem er noch ein paarmal mit grimmigen Worten seiner Frau und ihres „hündischen Wesens“ gedacht hatte, kam er wieder auf die ihn quälenden Gedanken an seinen Bruder zurück. „… Ich sage also zu diesem Miststück: ‚Was willst du eigentlich noch? Arbeit hast du nun, Gott sei Dank, gefunden. Geld zum Trinken und zum Feiern ist auch da. Was, zum Teufel, brauchst du noch mehr?‘ Aber nein. Irgendwas zwackt ihn, verstehst du, immerzu zwackt ihn was …“ Warte nur, dachte Vitali böse. Jetzt werde ich mich um deinen Jegorka kümmern. Ich werde ihn schon zwacken, diesen Banditen. „… Irgendwas drückt ihm das Herz ab“, fuhr Anaschin 210
fort. „Und läßt ihm keine Ruhe. Und dann ist da noch dieser Waska, sein Busenfreund. Kaum sind die beiden zusammen, da geht’s auch schon los … So schnell kann man gar nicht gucken.“ Waska? Vitali horchte auf. Das ist natürlich Nossow. Soso. Grinsend fragte er: „Was geht denn da los? Was mit Weibern?“ „I bewahre.“ Anaschin winkte ab. „Irgendwas haben die beiden. Sie verraten’s mir bloß nicht. Ich trau’ mich gar nicht, sie danach zu fragen, weiß Gott! Das ist ein hitziges Völkchen – die haben einiges hinter sich. Ich … Ach, verflixt noch mal!“ Er stolperte über eine Wurzel im Gras, ließ die Tasche fallen, hob sie hastig wieder auf, öffnete sie und sah nach der Flasche mit dem Selbstgebrannten. „Ist heil geblieben, das gute Stück“, meinte er mit einem erleichterten Seufzer und schlug vor: „Vielleicht trinken wir den Rest aus, was?“ „Na klar, warum nicht?“ Sie setzten sich ins Gras. Anaschin packte seine Vorräte aus. All das machte er, ob nun aus Ungeduld, bald etwas zu trinken, oder aus dem Wunsch heraus, rasch weiterzukommen, in ziemlicher Hast. Vitali war es kaum gelungen, den Selbstgebrannten unauffällig aus dem Becher zu schütten, als Anaschin schon eilig zu essen begann, wobei die Zwiebel laut zwischen seinen Zähnen krachte. Dann zog er eine zerdrückte Papirossaschachtel der Marke „Sewer“ heraus, steckte sich eine an und sprang auf. „Wir müssen weiter“, erklärte er. Der Wald wurde immer heller. Links erstreckte sich dichtes Gebüsch, und dahinter glitzerte der Fluß. Vor ihnen breitete sich eine Wiese aus. Es roch stark nach sonnenwarmem Gras. Nur einzelne Kiefern waren bis hierher vorgedrungen, als hätten sie nicht gleich ihren Freundinnen am Waldrand zu bleiben vermocht. 211
Hinter der Wiese, direkt am Fluß, tauchte ein kleines Dorf auf. Auf einem Hügel stand eine weiße Kirche. In der Ferne raste ein Wagen und gleich dahinter ein zweiter über die Chaussee. „Da ist es.“ Anaschin wies mit einem Kopfnicken hinüber, blieb stehen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Das ist das Dorf Miroljubowo ∗ .“ Nach Bujanowka und Posharowo klingt das schon wesentlich besser, dachte Vitali belustigt. Laut sagte er: „Hier gibt’s ja noch weniger Häuser als in eurem Dorf.“ „Dafür haben sie eine Kirche“, erklärte Anaschin wichtig. „Also, auf geht’s. Sieh zu, daß du nicht zurückbleibst“, fügte er, Vitali einen scheelen Blick zuwerfend, hinzu. In diesem Blick lag Wachsamkeit. Anaschin schien es bereits zu bedauern, diesen Unbekannten, mit dem er obendrein noch getrunken und dem er sein Herz ausgeschüttet hatte, mitgenommen zu haben. Was hat er nur? dachte Vitali besorgt. Wie’s scheint, habe ich mich doch nicht verraten. Auch er wäre Anaschin, der ihn mit jedem Wort und jeder Bewegung reizte und jetzt die Suche nach Bulawkin nur erschweren konnte, gern losgeworden. Aber er durfte Anaschin nicht aus den Augen verlieren. Der hätte Jegor warnen können. Diesen aber mußte man überraschend fassen, man mußte ihn stellen und ihm keine Gelegenheit zur Flucht geben. Daß sie Jegor Anaschin verhaften mußten, und zwar so schnell wie möglich, stand für Vitali fest. Allein schon wegen des Überfalls auf Bulawkin. Dann würden sie weitersehen. Nicht umsonst zwackte es Jegor. Nicht umsonst. Sie überquerten jetzt die Wiese. Das hohe Gras behinderte jeden Schritt. Die Sonne brannte so unbarmherzig, als wollte sie alles nachholen, was sie am Morgen versäumt hatte. ∗
von „friedliebend“ abgeleitet
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„Wie wollen wir ihn denn finden?“ fragte Vitali. „Hat er Papiere bei sich?“ „Das laß mal meine Sorge sein“, fuhr Anaschin ihn finster an. „Na weißt du, Onkelchen!“ Vitali konnte nicht länger an sich halten. „Scheinst mich ja überhaupt nicht gebrauchen zu können. Wozu hast du mich eigentlich mitgeschleppt?“ Auf diese Frage schien Anaschin nur gewartet zu haben. Er drehte sich mit einem Ruck um und brüllte: „Wer hat dich denn mitgeschleppt? Wer? Hast dich mir selber aufgedrängt! Kenne ich dich etwa? Kennst du mich? Bist wohl auf fremden Wodka aus?“ Sein hageres, mit Stoppeln bedecktes Gesicht zuckte nervös, und die tränenden Augen blitzten wütend. „Scher dich bloß weg! Sonst ziehe ich dir noch eins über! Du hast mir gerade noch gefehlt!“ Und er holte mit der Tasche nach Vitali aus. „Na, Onkelchen, du machst mir Spaß“, sagte Vitali erstaunt und sprang zur Seite. „Wer hat denn mit mir Brüderschaft getrunken? Und das Geld für den Wodka hast du mir auch abgeluchst.“ „Geld? Ich sehe schon, was du für einer bist! Ein Miststück bist du!“ „Na, und was bist du?“ fragte Vitali übermütig, den diese Szene zugleich ärgerte und belustigte. „Ich? Ich kann machen, was ich will! Mir stellt jede Kommission einen Schein aus! Ich bin nämlich nicht zurechnungsfähig! Verstanden? Mein Go-o-ott!“ stieß er plötzlich heulend aus. „Wenn dieses Aas bloß krepiert ist! Wenn es bloß krepiert ist!“ „Jetzt bist du wohl total durchgedreht?“ fragte Vitali ärgerlich, durch diesen plötzlichen Übergang verblüfft. „Was brüllst du denn so?“ „Sonst wird der Jegorka doch wieder verknackt. Verknackt wird er!“ 213
„Wenn der tot ist, kriegt Jegorka noch mehr.“ „Wer soll das denn rauskriegen? Wer? Dem Kerl kann das im Jenseits doch völlig schnuppe sein. Wozu noch einen Menschen zugrunde richten? Oh, mein Gott! – Na, gehen wir?“ schlug er, schon wieder ganz friedfertig, vor. „Gehen wir“, meinte Vitali seufzend. „Zum Teufel mit dir.“ Der ist tatsächlich nicht zurechnungsfähig, dachte er. Von so einem kann man alles erwarten. Und doch war Vitali auf das, was bald darauf geschehen sollte, nicht vorbereitet. Sie überquerten die Wiese und ein großes Kartoffelfeld, das unmerklich in Gemüsegärten überging, und erreichten schließlich die staubige Dorfstraße. Neben einem der Häuser stand ein Fuhrwerk. Von ihm lud ein Mann Bretter ab. Der vorgespannte Schecke schüttelte, die Bremsen verjagend, den Kopf. Watschelnd und schon vorher ein breites, schmeichlerisches Lächeln aufsetzend, ging Anaschin auf das Fuhrwerk zu. „Grüß dich, Gevatter“, rief er. „Gott helfe dir!“ „Danke“, erwiderte der Mann trocken, während er fortfuhr, die Bretter abzuladen. „Kommst wohl wieder her, um Blödsinn zu treiben?“ Auch hier schien man Anaschin schon zu kennen. „Gottbewahre! Ich komme geschäftlich zu dir“, erwiderte dieser gekränkt. „Mit dir habe ich noch nie Geschäfte gemacht und werd’s auch in Zukunft nicht tun. Sieh zu, daß du weiterkommst.“ Der Mann warf dem etwas abseits stehengebliebenen Vitali einen mißbilligenden Blick zu. „Ich will dich doch bloß was fragen!“ flehte Anaschin. „Hast du ein Kreuz?“ „Nein, habe ich nicht.“ Der Mann warf das nächste Brett auf den Erdboden und richtete sich auf. „Na, frag schon!“ 214
„Du, sag mal“, begann Anaschin aufgeregt. „Vielleicht weißt du was davon. Hat man hier einen Burschen aufgegriffen? Er muß auf allen vieren hergekrochen sein.“ Der Mann warf Anaschin einen mißtrauischen Blick zu. „Dann war das also dein Werk, du Halunke?“ „Gottbewahre!“ Anaschin wehrte erschrocken ab. „Was du bloß immer hast! Hier,“ – er wies plötzlich auf Vitali –, „seine Verwandten suchen nach ihm.“ Nun blickte der Mann Vitali aufmerksam an und fragte: „Der Bursche gehört zu Ihnen?“ „Ja“, bestätigte Vitali. In diesem Augenblick kam eine Frau aus dem Haus und blieb, dem Gespräch der Männer lauschend, auf der Außentreppe stehen. „Wir haben ihn hier aufgelesen“, sagte der Mann seufzend. „Er war bewußtlos. Wir wollten ihn ins Krankenhaus schaffen, aber auf der Chaussee kam und kam kein Auto vorbei. Da sahen wir Touristen auf einem Floß vorüberfahren.“ Er nickte zum Fluß hinüber. „Die haben wir herangewinkt. Sie haben ihn dann mitgenommen. Bis zum Krankenhaus ist’s ja nicht weit. Es befindet sich in Tschudilowka und liegt auch direkt am Flußufer.“ „Wann war denn das?“ fragte Vitali, um ganz sicherzugehen. „Wann? Heute haben wir Dienstag? Dann war das also …“ Der Mann begann die Tage an den Fingern abzuzählen. „Genau am Donnerstag war’s“, sagte die Frau von der Treppe herab. „Du wolltest doch gerade in die Stadt fahren.“ „Dieses Krankenhaus …“, setzte Vitali an. „Ich weiß, wo’s ist“, mischte Anaschin sich unwillig ein, „’s sind höchstens drei Kilometer, nicht mehr. Wenn wir die Abkürzung nehmen.“ Der Mann nickte zustimmend. 215
„Das ist richtig. Mehr sind’s nicht. Aber wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.“ Die Frau fragte unterdessen mitfühlend: „Vielleicht möchten Sie einen Schluck Milch trinken? Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.“ „Kannst dir deine Milch an den Hut stecken“, fuhr Anaschin sie grob an. „Wir kommen schon hin.“ Dann winkte er Vitali zu: „Gehen wir.“ „Vielen Dank“, sagte Vitali. „Da ich nun mal einen so widerborstigen Begleiter habe, muß ich wohl mitgehen.“ Na warte, Freundchen, dachte er ergrimmt. Du kannst was erleben. In tiefem Schweigen umgingen sie das Dorf und betraten wieder den Wald. Anaschin rauchte nervös und würdigte Vitali keines Blicks. Überhaupt merkte man, daß er immer aufgeregter wurde. Er schlug Vitali nicht einmal vor, einen Schluck zu nehmen, obwohl er die Tasche vorsichtig, immer wieder nach dem daraus hervorlugenden, mit der Zeitung zugestopften Flaschenhals sehend, in der Hand trug. Ein Pfad war nicht zu erkennen. Sträucher und umgekippte Bäume umgehend, marschierten sie quer durch den Wald. Anaschin schritt sicher aus. Es war nicht zu übersehen, daß er sich in dieser Gegend gut auskannte. Beide schwiegen, und dieses Schweigen wurde immer feindseliger. Vitali überdachte die entstandene Situation. Der verletzte Bulawkin war also anscheinend ins Krankenhaus gebracht worden. Vor fünf Tagen. Warum hatte man von dort aus nicht in der Stadt angerufen? Schließlich war der Mann verletzt und offensichtlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Seltsam. Vielleicht war Bulawkin im Krankenhaus gestorben? Aber dann hätten sie es erst recht melden müssen. Wenn die Touristen ihn nun nicht ins Krankenhaus gebracht haben … Aber das ist un216
wahrscheinlich. Warum hat man von dort nicht die Miliz benachrichtigt? Dazu sind sie doch verpflichtet. Aber das ist im Moment nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, daß Bulawkin lebt, daß er aussagt und bereit ist, alles zu erzählen. Warum hat er die anonymen Briefe geschrieben? Warum hat er sie beschwindelt und ist geflohen? Wozu hat er den Wagen gestohlen? Hoffentlich erzählt er ihnen das alles. Wahrscheinlich aber wird er es nicht tun. Man wird ihn erst überführen müssen. Vor allem aber muß er wieder gesund werden. Die arme Anfissa Gordejewna! Wenn sie wüßte, was ihrem Sergej zugestoßen ist … Er muß aus dem Krankenhaus gleich in der Stadt anrufen, damit sie unverzüglich … „Halt“, sagte Anaschin überraschend. „Wir sind da. Siehst du? Da liegt Tschudilowka. Und dort ist das Krankenhaus.“ Der Wald endete hier und grenzte an ein goldenes Weizenfeld. Dahinter erblickte man ein großes Dorf. Die Häuser konnte man gar nicht mit einem Blick überschauen. Im Zentrum des Dorfes ragten sogar zweistöckige Steinhäuser auf. Und nicht nur im Zentrum. Zwei von ihnen standen, weiß und mit grünlich schimmernden Dächern bedeckt, etwas abseits, direkt am Fluß. Auf sie schien Anaschin zu weisen. Das Krankenhaus! „Trinken wir uns erst noch mal Mut an“, sagte Anaschin finster und stellte seine Tasche im Schatten der letzten Bäume am Waldrand ins Gras. „Na los“, stimmte Vitali zu. Soll er sich ruhig noch einen eintrichtern, dachte er. Um so leichter komme ich nachher von ihm los. Anaschin packte die bereits zur Hälfte geleerte Flasche, einen Kanten Brot und ein paar Zwiebeln aus. Beide waren ziemlich erschöpft. Vitali spürte kaum noch seine Beine, als er sich im Gras ausstreckte. Sie waren bestimmt fast fünfzehn Kilometer durch Wald und Wiesen gelaufen, und das bei dieser Hitze. Wie an217
genehm war es, wenigstens für eine Sekunde die Augen schließen zu können. Die Sonne neigte sich gen Westen. Die Hitze ließ allmählich nach. Ein leichter Windhauch strich über Vitalis Gesicht. Anaschin machte sich mit der Flasche zu schaffen und zerrte mit den Zähnen an dem zusammengedrehten Zeitungspfropfen. Endlich hatte er ihn heraus, goß Selbstgebrannten in den Becher, stellte ihn vor Vitali hin und schob ihm Brot und Zwiebeln zu. Dann stand er, vor sich hin murmelnd, auf, scharrte im Gebüsch und schien etwas daraus hervorzuzerren. Träge öffnete Vitali die schwer gewordenen Lider. Im selben Augenblick traf ihn ein fürchterlicher Schlag. Gereizt legte Igor den Hörer auf. So ein Unsinn! Was heißt „verschwunden“? Wohin sollte Vitali verschwinden? Er wird mit etwas beschäftigt sein, vielleicht ist er auf eine Spur gestoßen und hat keine Zeit oder nicht die Möglichkeit, jemanden zu benachrichtigen. Das ist alles. Da gerät dieser Uglow gleich in Panik. „Sie müssen unbedingt herkommen.“ Als ob’s brennt. In Wirklichkeit brannte es hier, bei Igor. Vitali hätte gesagt, es sei „heiß wie Feuer“, heißer konnte es kaum noch werden! Ungeduldig schritt Igor im Zimmer auf und ab. Vielleicht war es ein Fehler, Nossow nicht zu verhaften? Schließlich hätte der Gehilfe des Staatsanwalts, Kutschanski, ihm die Genehmigung dafür erteilt. Nossow hatte Lutschinin einen Drohbrief geschickt, und kurz darauf war dieser aus dem Leben geschieden; er hatte einen verdächtigen Zettel in Bulawkins Namen geschrieben, und nun war dieser verschwunden. Beide Male hatte Nossow seine Finger im Spiel gehabt. Aber die Spur führte in eine andere Richtung, zu Anaschin 218
beispielsweise. Doch da war vorläufig noch alles unklar. Die anonymen Briefe aber … Nach seinem Geständnis gleicht Nossow einer Marionette, einem Spielball in fremden Händen. Der eigentliche Verbrecher ist nicht er! Nossows Verhaftung würde ihn, den Hauptschuldigen, nur aufschrecken und mißtrauisch machen! So aber wird Nossow drei Tage lang das Haus hüten. Ein Telefon ist nicht in der Nähe. Er kann keinem eine Nachricht schicken. Also auch niemanden warnen. Das ist die Hauptsache. Entscheidend ist jetzt das Überraschungsmoment. Also wird er sich beeilen müssen. Gleich morgen muß er … Igor trat an den Tisch und entwarf einen Plan für den nächsten Tag. Punkt eins, Punkt zwei, Punkt drei … Wie viele Leute er vernehmen muß. Wie kann er da wegfahren? Soll er alles hinwerfen und nach Posharowo eilen? Aber was ist mit Vitali … Igor griff zum Telefon und rief den Diensthabenden an. „Hier ist Otkalenko. Ist Wolow noch nicht zurück? – So. Und wo ist Tomilin? – Aha, alles klar!“ Er drückte auf die Gabel und wählte eine neue Nummer. „Nikolai Ignatjewitsch? – Warum kommst du nicht mal bei mir vorbei? – Aha, ich verstehe. Also: Du mußt nach Posharowo fahren. Lossew ist da irgendwo verschüttgegangen. Du weißt, wie dringend wir diesen Bulawkin brauchen. Am besten informierst du dich an Ort und Stelle. Uglow erwartet dich.“ „Alles klar“, erwiderte Tomilin mit dröhnender Stimme. „Sag dem Diensthabenden Bescheid.“ Erleichtert legte Igor den Hörer auf. Das wäre erledigt. Auf Tomilin konnte man sich verlassen. Wer weiß, wo Vitali abgeblieben war. Noch einmal rief er den Diensthabenden an. „Notieren Sie folgendes, Genosse Skworzow. Wir brauchen einen Wagen. Tomilin muß nach Posharowo 219
fahren. Benachrichtigen Sie Wolow. Morgen bin ich von früh an in der Staatsanwaltschaft. Zu elf Uhr bestellen Sie mir … zu dreizehn Uhr … zu fünfzehn Uhr …“ Nachdem Igor dem Diensthabenden die entsprechenden Namen diktiert hatte, erinnerte er ihn noch einmal: „Nossow ist ständig zu beobachten. Morgen wechseln Sie die Genossen ab. Raskatow sage ich gleich Bescheid. Ist er in seinem Zimmer?“ Igor legte auf, räumte die Papiere vom Tisch, warf sich das Jackett über und verließ den Raum. Ins Hotel kehrte er wie immer spät zurück. Der Morgen brach ganz überraschend an, als Igor schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, ihn je zu erleben. Als er erwachte, wurde ihm klar, daß er zu spät kommen würde. Igor strich die Morgengymnastik und das Frühstück und brachte es sogar fertig, sich mit dem elektrischen Rasierapparat zu schneiden … In der Staatsanwaltschaft wurde Igor von Saweljew und dem Gehilfen des Staatsanwalts, Kutschanski, einem eleganten, braungebrannten Mann mit schön geschwungenen schwarzen Augenbrauen, fröhlichen braunen Augen und einem schmalen Gesicht, empfangen. Obwohl Kutschanski einen brünetten Teint und schwarzes Haar hatte und ungefähr zehn Jahre älter war, erinnerte er Igor aus irgendeinem Grunde an Vitali. Mit Kutschanski war die Arbeit eine Freude. Er verstand die leiseste Andeutung, gab unauffällig Denkanstöße, widersprach oder negierte etwas, was sein Gesprächspartner sagte, auf eine Art, die niemanden kränkte, und freute sich auch über die Erfolge anderer. „Sie haben Nossow großartig in die Enge getrieben“, sagte Kutschanski. „Das war saubere Arbeit. Aber …“ Er strich nachdenklich die Asche von seiner Zigarette. „Er ist psychisch schneller zusammengebrochen, als zu erwarten war. Finden Sie nicht auch?“ 220
„Allerdings.“ Igor nickte. „Übrigens kommt mir da ein Gedanke. Nossow steht sowohl mit Anaschin als auch mit Bulawkin in Verbindung. Und diese Linie wiederum führt zu Lutschinin.“ „Diese Schlußfolgerung ist ein wenig voreilig“, bemerkte Saweljew. „Lutschinin war zweimal bei Anaschin, um zu angeln. Und Bulawkin wollte uns, wie es scheint, etwas über Lutschinin mitteilen. Das ergibt noch keine geschlossene Linie.“ „Aber man sollte der Sache nachgehen“, widersprach Kutschanski sacht. „Allerdings darf man sich nicht verzetteln. Die zweite Linie ist vorläufig noch recht hypothetisch, die erste dagegen völlig real. Sie erklärt alles, bis hin zu Lutschinins Tod.“ „Ja, es schient so“, stimmte Igor nicht sehr überzeugt zu. Kutschanski lachte auf. „Sie müssen jetzt alle Zweifel über Bord werfen!“ rief er energisch aus. „Sie befinden sich schon auf der Zielgeraden. Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?“ „Ich habe folgenden Plan. Sehen Sie.“ Gegen elf Uhr war Igor wieder in der Stadtabteilung. Kurz darauf traf Tanja Filatowa ein. „Ja“, sagte sie feindselig. „Er hat mir den Hof gemacht. Herz und Hand hat er mir geboten. Er ist sogar zu meinen Eltern gefahren und hat versucht, sie zu beeinflussen.“ „Haben Sie sich mit ihm ausgesprochen?“ „Ja …“ „Und?“ „Er sagte …, daß ich ihn noch liebgewinnen würde. Ein widerlicher Mensch.“ Igor schwieg. Es war ihm unangenehm, sie nach diesen Dingen zu fragen. „Sie müssen entschuldigen, daß …“ 221
„Ich verstehe das“, unterbrach sie ihn. „Fragen Sie nur.“ „Wußte er von Ihrem … von Ihren Beziehungen zu Lutschinin?“ „Wahrscheinlich … Jedenfalls hat er es geahnt.“ „Das hat ihn nicht davon abgebracht?“ „Den? Nein. Dazu ist er nicht der Mensch. Er ist nur nach außen hin freundlich und höflich. Er versteht’s großartig, sich zu verstellen. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“ „Hat er mit Ihnen über Lutschinin gesprochen?“ „Niemals.“ „Aber er war doch sicherlich eifersüchtig?“ „Wahrscheinlich … Ja, natürlich war er eifersüchtig. Ich habe einmal einen Blick aufgefangen, mit dem er Shenja bedachte …“ Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, und sie biß sich hastig auf die Lippe. „Hat er Ihnen mal geschrieben?“ „Ja …“ „Besitzen Sie diese Briefe noch?“ „Na, hören Sie!“ Sie hob erstaunt die Augen zu ihm auf. „Ja, natürlich.“ Igor wurde verlegen. „Verzeihen Sie. Noch eine letzte Frage: Hat er mit Ihnen über seine Zukunftspläne gesprochen?“ „Oh, er hatte große Pläne.“ Tanja Filatowa lächelte schwach. „Er ist sehr ehrgeizig. Obwohl … Aber ich habe Ihnen schon gesagt, daß er es versteht, sich zu verstellen.“ „Na, dann noch eine Frage: Kennen Sie jemanden von seinen Bekannten außerhalb des Werkes?“ Tanja Filatowa dachte nach. „Ja“, sagte sie schließlich und blickte Igor an. „Er hat mir von jenem Menschen erzählt. Sie sind Freunde.“ „Hat er nicht gesagt, wo sie sich kennengelernt haben?“ 222
„Ich glaube, sie haben zusammen studiert.“ „Das gibt’s nicht!“ rief Igor aus, fügte aber sofort schmunzelnd hinzu: „Allerdings ist im Leben alles möglich.“ „Ja“, wiederholte Tanja leise. „Im Leben ist alles möglich.“ Dann ging sie. Wenige Minuten später klopfte Anna Nikolajewna Buraschnikowa, eine kleine, füllige Frau mit runder Brille, die ihr dunkles, stark ergrautes Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt trug. An ihrem Arm baumelte eine große, abgewetzte Tasche, deren schmaler Bügel tief in ihre üppige Armbeuge einschnitt. Aus ihrem runden Gesicht sprach eine so offensichtliche, verschämte Gutmütigkeit, daß es einfältig gewirkt hätte, wäre nicht der kluge, geduldige Blick ihrer hellen, ein wenig ausgeblichenen Augen unter der Brille gewesen. Bevor Frau Buraschnikowa sich an den Tisch setzte, die Tasche auf ihre Knie stellte und sich mit einem feuchten, in ihrer Faust zusammengepreßten Tuch die Schweißperlen von der Stirn wischte, machten sie sich rasch miteinander bekannt. „Ja, er kam mal vorbei“, antwortete sie auf Igors Frage, „und hat sich die Arbeitsaufträge angesehen.“ „Hat er sie mitgenommen?“ „Ja, das muß ich zugeben – er hat sie mitgenommen. ‚Will mir das alles mal gründlich ansehen‘, meinte er. Ich sagte noch zu ihm: ‚Das ist nicht erlaubt.‘ Er aber bat: ‚Machen Sie doch mal ’ne Ausnahme. Ich muß mich vorbereiten. Es kommt eine Kommission aus Moskau.‘ Na, was sollte ich machen? Ich wußte gar nicht, was er damit wollte. Die Buchhaltung ging ihn ja nichts an. Aber Valentin Grigorjewitsch war gerade nicht da, er war krank. Sonst hätte ich es auch gar nicht gewagt.“ „Erlauben Sie auch anderen, in den Arbeitsaufträgen zu wühlen?“ „Bestimmt nicht. Das kann bloß mal vorkommen, wenn 223
einer die nötige Frechheit besitzt. Und dann auch nur bei mir.“ Sie lächelte verlegen. „Ich bin nun mal keine Respektsperson. Alle sagen sie ‚Tante Anja‘ zu mir. Was soll man da machen? Aber daß was verschwunden wäre – das ist noch nicht vorgekommen.“ „Ja, bis auf dieses eine Mal, Tante Anja“, meinte Igor schmunzelnd. Mit Frau Buraschnikowa konnte man sich ganz ungezwungen unterhalten, was Igor nach jenem bedrückenden, qualvollen Gespräch mit Tanja Filatowa als besonders wohltuend empfand. „Wenn nötig, unterschreibe ich das auch“, meinte Frau Buraschnikowa seufzend. „Außer ihm kann sie keiner genommen haben. Das weiß ich genau.“ „Aber das ist noch nicht alles, Anna Nikolajewna.“ Igor griff nach der grünen Mappe aus der Staatsanwaltschaft und blätterte in den Vernehmungsprotokollen. Jetzt waren in dieser Mappe sämtliche Protokolle vereint – sowohl die, die bei Rogowizyn gelegen hatten, als auch die, die Raskatow Igor und Vitali gleich nach ihrer Ankunft übergeben hatte. Endlich fand Igor, wonach er suchte, und während er das beschriebene Blatt überflog, sagte er: „Anna Nikolajewna, Sie sagten, Sie hätten Lutschinin an jenem Abend gesehen. Und zwar nicht allein.“ Frau Buraschnikowa nickte traurig. „Ja, ich habe ihn gesehen. Allerdings war es schon dunkel.“ „Haben Sie ihn aus der Nähe gesehen?“ „Näher geht’s gar nicht. Die beiden sind an meinem Zaun vorbeigekommen.“ „Mit wem war er denn zusammen?“ „Den anderen Mann kannte ich nicht.“ „Würden Sie ihn wiedererkennen?“ „Oh, mein Guter, das weiß ich nicht. Ich habe nur für Zahlen und Dokumente ein Gedächtnis. Da können Sie 224
mich nachts aufwecken, und ich bete sie Ihnen her. An Menschen aber kann ich mich nie erinnern. Nichts zu machen“, erklärte sie betrübt und fügte, als wollte sie Igor trösten, hinzu: „Aber wegen der Arbeitsaufträge können Sie sich drauf verlassen: Da konnte kein anderer ’ran. Das habe ich gestern auch zu Valentin Grigorjewitsch gesagt, als er mich konfi… konfi… – ich weiß nicht mehr, wie er sich ausdrückte –, als er mich jedenfalls vertraulich, unter vier Augen, danach fragte. Nur mit Ihnen darf ich darüber sprechen.“ „Das ist wirklich sehr wichtig, Anna Nikolajewna“, meinte Igor nickend. Dann ging auch Frau Buraschnikowa. Bald darauf saß auf ihrem Platz bereits, die Beine übereinandergeschlagen und den spitzen Ellbogen aufs Knie gestützt, der hagere, schnurrbärtige Simakow. In kurzen Abständen die Asche von der Zigarette auf den Teppich blasend, ohne dies vor Aufregung zu bemerken, erklärte er: „Ich sage Ihnen, wie es ist, nicht wahr: Achten kann ich ihn nicht.“ Seine leicht schielenden Augen blickten Igor voll an, und die in einem stumpfen Winkel aufeinanderstoßenden Augenbrauen gaben diesem Blick einen vorwurfsvollen Ausdruck. „… Bisher habe ich den Leuten immer wieder gesagt: Man muß ihm helfen, nicht wahr“, fuhr Simakow fort. „Aber jetzt wird mir immer klarer, daß wir nicht dem Richtigen helfen. Dieser Nossow steht uns allen bis hier.“ Simakow klopfte sich mit der flachen Hand gegen den Hals. „Na, was macht der denn auch? Eine Weile werden wir uns das noch mit ansehen, nicht wahr, aber wenn’s nicht besser wird, zitieren wir ihn vor die Parteileitung.“ Simakow ist ein guter Kerl, dachte Igor plötzlich. Gerecht und klug. Und alle spüren das. Darum ist er wohl auch so beliebt. Außerdem ist er ein Mann mit Charakter. 225
„Über Nossow sind wir uns im klaren“, sagte Igor. „Woher aber kommt dieser Anaschin?“ „Den kennt keiner.“ Simakow schüttelte den Kopf. „Aber er hat sich schon als Großmaul ausgewiesen.“ „Wer hat ihn denn ins Werk geholt? Schließlich ist er vorbestraft.“ „Na und?“ Simakow blickte vorwurfsvoll unter dem Dreieck seiner Brauen hervor. „Da ist zum Beispiel Valerka Gontscharow. Der ist auch vorbestraft. Aber wie klotzt der ’ran? Hängt an der roten Tafel, nicht wahr. Niemand wirft ihm seine Vergangenheit vor. Das sollte mal einer versuchen!“ Igor schüttelte den Kopf. „Das ist schon alles richtig. Aber Sie haben mich falsch verstanden. Vorbestrafte stellt schließlich keiner gern ein. Oft müssen wir erst selbst dahinterhaken. Hier aber lief alles wie am Schnürchen. Wie kommt das?“ „Ach, mein Lieber. Im Leben kommt alles mögliche vor, nicht wahr. Wer konnte denn ahnen, was das für ein Mensch ist?“ „Vielleicht hat’s doch jemand geahnt. Ich möchte Sie bitten, Iwan Spiridonowitsch, sich mal dafür zu interessieren, wie Anaschin ins Werk gekommen ist, an wen er sich gewandt hat. Ich möchte mich da gern raushalten, damit’s kein unnötiges Gerede gibt.“ „Warum nicht, das läßt sich machen.“ Sie verabschiedeten sich. Igor begleitete Simakow nach unten und fragte den Diensthabenden: „Hat Tomilin noch nicht angerufen?“ „Nein, immer noch nicht, Genosse Hauptmann“, erwiderte der und erhob sich. Igor nickte verdrießlich. Er konnte eine wachsende Unruhe nicht unterdrücken. „Der Genosse Oberstleutnant bittet Sie, bei ihm vorbeizukommen“, fügte der Diensthabende hinzu. Igor lief zu ihm. Raskatow und er gingen zusammen essen. 226
„Kannst mir bei der Gelegenheit gleich erzählen, was sich im Moment bei euch tut“, sagte Raskatow mit der Bestimmtheit des Hausherrn. „Und was ihr noch von uns braucht. Welche Unterstützung.“ Die Fortsetzung des Gesprächs fand in Raskatows Arbeitszimmer statt. Igor berichtete stirnrunzelnd vom Verschwinden Lossews. Raskatow blickte ihn irgendwie eigenartig an und sagte: „Du kennst unseren Tomilin nicht. Und Uglow schon gar nicht. Auf die beiden kannst du dich verlassen wie auf dich selbst. Sie werden tun, was in ihren Kräften steht. Leute wie sie kann man mit der Lupe suchen. Verstehst du?“ Als sie ihr Gespräch beendet hatten, begleitete Raskatow Igor zur Tür, legte ihm seine riesige Pranke auf die Schulter und meinte nachdenklich: „Der Fall Lutschinin weitet sich immer mehr aus. Ihr leistet gründliche Arbeit. Ich bin in allen Punkten mit dir einverstanden. Also, mein Lieber, mach weiter so.“ Anschließend empfing Igor Lutschinins Frau, die still und verschlossen wirkte und ein strenges Kleid mit einem schmalen weißen, eng an dem zarten Hals anliegenden Krägelchen trug. Ihr starres weißes Gesicht war wie aus Marmor. Das hochaufgetürmte, sehr helle Haar schien völlig ergraut zu sein. „Entschuldigen Sie, Olga Andrejewna, daß wir Sie noch einmal behelligen müssen“, sagte Igor, dem nicht nur das Sprechen, sondern sogar das Atmen schwerfiel, wenn er in ihre erloschenen, gequälten Augen blickte. „Und daß wir an einen so schweren … an so schwere Erinnerungen rühren.“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, erwiderte Lutschinins Frau trocken, und ihre durchsichtigen Finger drehten nervös an dem Tüchlein, das sie in der Hand hielt. „Also“, fuhr Igor fort, „ich muß Ihnen einiges erzählen. Und Sie nach einigen Dingen fragen. Mein Kollege war vor einer Woche bei Ihnen, als wir gerade erst ange227
kommen und mit dem Fall noch nicht sonderlich vertraut waren. In dieser einen Woche haben wir vieles aufgeklärt.“ Igor verstummte, nach Worten ringend, und fuhr dann ebenso zögernd fort. „Ich sage Ihnen vorläufig nur das, was ich sagen kann. Wir haben erfahren, daß im Ministerium, bei der Zeitung und bei der Staatsanwaltschaft schon vor Beginn der Revision im Werk anonyme Briefe mit Anschuldigungen gegen Jewgeni Petrowitsch eingingen. Wir sind bereits so gut wie überzeugt davon, daß diese Briefe nichts als Verleumdungen enthalten. Und wir haben ihren Verfasser ermittelt …“ Die Frau schrak zusammen und blickte Igor starr an. „Wie wir erfahren haben, hat er sie nicht selbst geschrieben, das heißt, jemand hat ihm bei der Abfassung der Briefe geholfen. Mit Ausnahme des einen Briefes, den Sie gefunden haben. Den hat er selbst verfaßt. Wir wissen auch, wer ihm sonst geholfen hat.“ „So eine Gemeinheit“, flüsterte Frau Lutschinina mit gesenktem Kopf. „Jetzt begreife ich …“ „Das ist noch nicht alles“, entgegnete Igor. „Diese Gemeinheit betrifft auch Sie.“ „Mich …?“ Sie hob den Kopf. „Ja, ja … Ich verstehe.“ „Das sind gemeine Verleumdungen.“ „Nein!“ rief Frau Lutschinina nervös aus. „Das sind keine Verleumdungen! Es ist wahr.“ Zum ersten Mal verzerrte sich ihr blasses Gesicht schmerzlich. „Es ist wahr“, wiederholte sie leise. Igor schüttelte stumm den Kopf. „Wissen Sie, was?“ Frau Lutschinina blickte ihm starr in die Augen. „Wenn es so ist, lassen Sie uns die Dinge bei ihrem Namen nennen.“ Sie war stärker, als er vermutet hatte. „Gut“, stimmte Igor zu. „Zuerst zu den Tatsachen. Sie …“ Igor konnte sich nicht entschließen, Tanjas Namen zu nennen. „Sie hat Jewgeni Petrowitsch wirklich geliebt. Er sie wahrscheinlich auch. Aber … Hier hört 228
die Wahrheit bereits auf, und die Lüge beginnt. Er hat Sie nicht betrogen. Er hat sich gequält. Vielleicht wäre die ganze Geschichte im Sande verlaufen. Sie wollte die Stadt verlassen. Vielleicht wäre die Geschichte auch nicht im Sande verlaufen. Dann aber hätten Sie es von ihm selbst erfahren. Und erst danach … wäre er gegangen. Anständig und offen. Denn eben so war er als Mensch, das wissen Sie doch.“ „Ja, ich weiß“, bestätigte sie leise. „Aber ich habe mich auch gequält … Ich habe Anrufe bekommen … Mein Gott, was man mir alles an den Kopf geworfen hat … Schmähbriefe hat man mir geschrieben … Und …“ „Wissen Sie, wer das war?“ „Oh! Es waren verschiedene Stimmen. Eines Tages aber … kam er selbst zu mir. Hat sich sogar als Freund ausgegeben. Ich aber … habe ihn davongejagt. Ich konnte einfach nicht anders. Shenja habe ich nichts davon gesagt. Nichts … bis zuletzt.“ „Na, sehen Sie“, sagte Igor. „Das ist doch wirklich eine Gemeinheit. Und all das ging von ihm aus.“ „Das ist mir jetzt schon völlig egal, glauben Sie mir …“ „Nein. Da bin ich nicht mit Ihnen einverstanden. So eine Gemeinheit muß bestraft werden.“ Igor ballte unwillkürlich die Fäuste. Am Abend suchte Kutschanski Igor im Hotel auf. Schweigend hörte er Otkalenko an und meinte schließlich seufzend: „Tja. Sie sehen ganz schön mitgenommen aus. Und natürlich nicht ohne Grund. Die verfluchte Arbeit! Aber ohne sie könnte ich zum Beispiel gar nicht leben. Wissen Sie, was Kwatschewski schon vor hundert Jahren über unsere Arbeit gesagt hat? Der Alte hatte was drauf. Hab’s mir sogar mal rausgeschrieben. Hören Sie zu!“ Er holte sein Notizbuch hervor, blätterte darin und las: „ ‚Den Untersuchungsrichter dürfen die Leiden anderer nicht erschüttern, die schlimmsten Greueltaten 229
nicht schrecken, in seiner Handlungsweise und seinen Verfügungen darf er sich von ihnen nicht zum Nachteil von Pflicht und Wahrheit beeinflussen und hinreißen lassen.‘ Treffend gesagt.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Dann widersprach Igor mit Bestimmtheit. „Ich kann meine Empörung aber nicht unterdrücken. Ich bin keine Maschine. Man darf sich nur nichts anmerken lassen.“ „Nein“, erwiderte Kutschanski. „Wenn es so ist, kommt es darauf an, daß Ihre Empörung die Wahrheitsfindung nicht behindert, sondern erleichtert. Die Wahrheit – das ist der Gott, vor dem ich mich verneige!“ rief er aus, und seltsamerweise klangen diese Worte aus seinem Munde nicht einmal pathetisch. „Schön gesagt“, meinte Igor grinsend. „In unserem Vitali hätten Sie einen andächtigen Zuhörer.“ „Vor allem ist es richtig“, widersprach Kutschanski aufbrausend. „Tja“, meinte Igor nachdenklich. „Morgen steht mir ein Gespräch mit diesem Typ bevor. Ein entscheidendes. Und Juri Saweljew ist wie zum Trotz wieder mal beschäftigt. Da soll man noch ruhig bleiben.“ In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Igor sprang von der Couch, als hätte er nur auf dieses Klopfen gewartet. An der Schwelle stand die schwer atmende Diensthabende. „Sie werden dringend … am Telefon verlangt.“ „Bin gleich wieder da!“ rief Igor Kutschanski zu und eilte über den dunklen Korridor zur Treppe. Der schwarze Hörer lag unten auf der Barriere. „Hallo!“ rief Igor, während er den Hörer krampfhaft ans Ohr preßte. „Hier ist Otkalenko!“ „Tomilin am Apparat“, sagte eine ferne, kaum hörbare Stimme. „Hab’ deinen Lossew gefunden … Ich spreche aus dem Tschudilowsker Krankenhaus.“ 230
„Was, was?“ brüllte Igor. „Lauter!“ „Ich spreche … aus dem Krankenhaus …“ Die ferne Stimme ging im Rauschen unter. „Bulawkin ist hier …’s steht sehr schlecht … Verstehst du? – Wir klären das … Morgen rufe ich aus Posharowo an … Das ist besser … Mach’s gut …“ Dicht belaubte, zartgrüne Birkenzweige schlugen gegen die Fensterscheiben. Der Wind blies von einer Seite her, die Zweige rauschten und wischten über die Scheiben, und in dem kleinen Zimmer des Chefarztes huschten goldene Sonnenflecken über den Tisch und die weißen Wände. An einem Tisch in Fensternähe saß eine füllige Frau in weißem Kittel und mit weißer Haube, unter der kurzes graues Haar hervorlugte. Die Frau rauchte mit zusammengekniffenen Augen, wodurch die zahllosen Fältchen in ihrem gesunden, gebräunten Gesicht noch tiefer und auffälliger wurden. Aus einer Tasche ihres Kittels schauten ein Brillenbügel und die Gummischläuche eines Stethoskops hervor. An der anderen Seite des Tisches saß der hochgewachsene, ein wenig plump wirkende Tomilin in seinem steifen blauen Regenmantel. Zwischen ihnen hatte sich Vitali rittlings auf einem Hocker niedergelassen. Sein Kopf war mit einem dicken Mullverband umwickelt, aus dem nur am Scheitel eine blonde Haarsträhne aufragte. Vitali trug dunkelblaue Krankenhaushosen und ein Krankenhaushemd mit langen Ärmeln und Litzen am Hals. Trotzdem sah er recht munter aus. Er sog energisch an seiner Pfeife und sagte zu der stirnrunzelnden Frau: „Aber so geht das nicht, Tamara Anissimowna. Da liegt jemand fünf Tage lang bewußtlos bei Ihnen, und Sie …“ „Und wir“, unterbrach ihn die Frau, „haben alles getan, damit er wenigstens am sechsten Tag zu sich kam.“ „Ja, aber die Miliz muß doch über solche Fälle informiert werden.“ 231
„Das wissen wir. Aber unser Telefon funktioniert nicht, das sehen Sie doch? Wir rufen von der Post aus an. Da ist es eben passiert. Die diensthabende Ärztin dachte, die Schwester hätte angerufen, und die, sehen Sie, war davon überzeugt, daß die Ärztin angerufen hätte. Ich aber zweifelte nicht daran, daß weder die eine oder die andere die Sache gemeldet hat. Mit einem Wort, es war ein Mißverständnis. Zudem handelte es sich um einen so Schwerkranken, daß wir ihn Tag und Nacht keine Minute allein lassen konnten. Eine Schwester hat für ihn Blut gespendet und dann selbst vierundzwanzig Stunden hier gelegen.“ „Das verstehe ich ja alles“, widersprach Vitali sanft. „Aber Sie müssen doch zugeben, daß das nicht in Ordnung ist. Wir haben uns die Hacken abgelaufen.“ „Wir, nebenbei bemerkt, auch. Nur, daß Sie ihn gesucht, wir dagegen ihn gerettet haben. Ein kleiner Unterschied.“ „Tamara Anissimowna, ich habe den größten Respekt vor der Medizin.“ Vitali legte die Hand an die Brust. „Erstens sind meine Eltern ebenfalls Mediziner, und ich selbst wäre um ein Haar auch Arzt geworden. Meine Mutter kann mir das bis heute nicht verzeihen. Zweitens“ – er tippte sich an den Verband – „haben Sie soviel Verbandzeug für mich verschwendet. Ich hoffe nur, daß Sie mir den Verband morgen früh …“ „Da brauchen Sie sich keine Hoffnungen zu machen“, unterbrach ihn die Frau. „Drei Tage müssen Sie den Verband tragen. Dann ersetzen wir ihn durch eine Binde. Und Bettruhe!“ sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Vitali blickte sie vorwurfsvoll an. „Auch drei Tage?“ „Ja, ja. Vergessen Sie nicht, daß Sie eine Gehirnerschütterung hatten.“ „Na gut.“ Vitali seufzte ergeben. „Morgen veranstalten wir ein Konsilium unter seinem Vorsitz.“ Er wies auf 232
Tomilin. „Aber erzählen Sie uns erst einmal alles über den Patienten Bulawkin.“ „Was gibt’s da schon zu erzählen? Die Touristen haben ihn Donnerstag früh hier eingeliefert. Hoher Blutverlust, Stichwunden, ein verletzter Lungenflügel. Er war bewußtlos. Der Puls kaum zu spüren. Wir mußten rasch handeln. Na, das ist unsere Arbeit. Er kam noch einmal zu sich, aber nur für kurze Zeit. Endgültig aufgewacht ist er erst heute. Ich hoffe, daß er es übersteht.“ Sie fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. „Hat er im Fieberwahn etwas gesagt?“ fragte Vitali. „Er hat irgendwelche Namen genannt, geschrien, geschimpft und nach jemandem gerufen.“ „Aha. Das ist schon interessant. Denken Sie nach, Tamara Anissimowna, ich bitte Sie sehr. Was hat er geschrien, nach wem hat er gerufen?“ „Na, er hat geschrien: ‚Ich schlage dich tot!‘ Nach seiner Mutter hat er gerufen. Und nach irgendeiner Lara. Immer wieder hat er nach ihr gerufen … Einmal flüsterte er, ich habe es selbst gehört: ‚Jewgeni Petrowitsch, für Sie würde ich …‘ “ „Was würde er?“ fragte Vitali mit bebender Stimme. „Mehr konnte ich nicht verstehen. Er hat nur die Lippen bewegt. Dann ist er in eine tiefe Ohnmacht gesunken. Sprechen Sie mit Schwester Vera. Sie hat vier Tage und vier Nächte an seinem Bett gesessen. Das Mädchen ist Gold wert. Ich wollte sie nach Hause schicken, ihre Mutter kam, bat und schimpfte. Sie aber ging nicht. Sie weinte und wollte nicht fort.“ „Wo ist Schwester Vera jetzt?“ fragte Vitali. „Ich habe sie gerade weggeschickt. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Bulawkin aber hat um etwas zu essen gebeten. Ein guter Junge übrigens. Das sieht man an den Augen.“ Vitali blickte sie stirnrunzelnd an. „Ein guter Junge, meinen Sie?“ 233
„Ja. Aber Sie müssen sich hinlegen. Auf der Stelle“, sagte die Frau streng. „Sie können hier, bei mir, bleiben.“ Die Chefärztin wies auf ein hohes weißes Bett, das an der Wand stand. „Ich gehe jetzt zu meinen Patienten. Die Abendvisite ist fällig. In einer Stunde bin ich zurück.“ „Ich werde mich wirklich ein wenig hinlegen. Und du“ – Vitali wandte sich an Tomilin – „setzt dich zu mir und erzählst.“ Er fuhr sich mit der Hand über die verbundene Stirn. „Mir ist ein bißchen schwindlig.“ Tomilin half ihm aufs Bett. Die Chefärztin stand, sich schwer auf ihre Knie stützend, auf, schob mit gewohnter Handbewegung eine graue Strähne unter das Häubchen und begab sich zur Tür. „Tamara Anissimowna“, rief Vitali sie an und blickte an die Decke. „Wann können wir mit Bulawkin sprechen?“ „Morgen. Mit ihm und auch mit Schwester Vera erst morgen. Ruhen Sie sich inzwischen aus.“ Sie ging mit wiegenden Schritten hinaus und schloß die Tür fest hinter sich. Vitali drehte sich ungeduldig zu Tomilin um. „Vor allem: Wo ist Anaschin, dieses Aas?“ „Im Dorfsowjet. Uglow bewacht ihn dort.“ „Aha. Morgen schaffen wir ihn in die Stadt.“ „Meinst du, sie läßt dich weg?“ Tomilin wies mit dem Kopf zur Tür. „Klar läßt sie mich weg. Na, jetzt erzähl mal, wie ihr mich gefunden habt.“ Tomilin grinste erstaunt. „Was denn? Hast du das Gedächtnis verloren? Uglow und ich kamen zum Krankenhaus. Da sahen wir Anaschin rumschleichen. Als er uns erblickte, nahm er die Beine in die Hand. Na, wir haben ihn natürlich eingeholt. ‚Was suchst du hier?‘ fragten wir ihn. ‚Warum bist 234
du so erschrocken?‘ Wir brachten ihn zurück zum Krankenhaus. Und da sahen wir dich, schwankend und den Kopf mit den Händen festhaltend, übers Feld laufen. Als Anaschin dich erblickte, fiel er auf die Knie, bekreuzigte sich, verdrehte die Augen und brüllte mit fremder Stimme: ‚Er kommt! – Ich weiß von nichts! – Er kommt!‘ Hat geradezu verrückt gespielt. Als wärst du aus dem Jenseits aufgetaucht.“ „Dahin wollte dieser Schuft mich ja auch verfrachten.“ „Na ja. Ich habe ihn also festgehalten. Uglow aber stürzte zu dir. Was meinst du, wie du ausgesehen hast! Aber deine Rübe ist ziemlich stabil. Nachher haben wir, wie sich’s gehört, mit Zeugen einen Abstecher zum Tatort gemacht. Anaschin hat uns selbst hingeführt. Auch den Knorren, mit dem er dir eins übergebraten hat, hat er uns vorgeführt. Ein wuchtiges Ding.“ Im Zimmer wurde es allmählich dunkel. Die Sonne war untergegangen, und im Westen leuchtete der Himmel glutrot. „Schön!“ meinte Tomilin und sah aus dem Fenster. „Wie im Theater. Sieh nur.“ Vitali stützte sich auf einen Ellbogen. Die Tür knarrte. Ein gelber Lichtstreifen aus dem Korridor fiel auf den Fußboden. Tamara Anissimowna kam herein. „Halten Sie Schummerstunde?“ fragte sie und knipste das Licht an. „Es gibt gleich Abendbrot.“ „Ja, dann werde ich mal gehen“, sagte Tomilin und stand auf. „Uglow langweilt sich bestimmt schon.“ „Wo übernachtet ihr denn?“ „Na, gleich da, im Dorfsowjet. Wo soll man sonst mit dem Galgenstrick hin? Uglow hat hier Verwandte, also ist unser Abendbrot gesichert.“ „Sag bloß! Der hat ja überall Verwandte“, meinte Vitali mit einem neidischen Grinsen. „Ja, ja, wir stammen alle von Nikita und Matrjona ab.“ 235
Da mußte auch der finstere Tomilin grinsen. „Er hat mir schon erzählt, daß du ein Spaßvogel bist.“ Sie verabschiedeten sich, und Tomilin ging. Eine schwüle Nacht brach herein. Lange wälzte sich Vitali von einer Seite auf die andere, ohne eine bequeme Lage finden zu können. Der Kopf tat nicht mehr weh. Dafür schmerzte jedoch der ganze Körper. Die Gedanken jagten einander, ohne daß das überreizte Hirn mit ihnen fertig wurde. In den Schläfen hämmerte es. Vitali hatte Durst. Da trat unhörbar die diensthabende Schwester zu ihm, reichte ihm ein Glas Wasser und ließ ihn ein Pulver schlucken. Ihre kühle Hand strich über seine Wange. Vitali schlief ein. Morgens fühlte er sich wieder ausgezeichnet. Er frühstückte mit Appetit, scherzte mit der Schwester und mit den Ärzten, drohte, Morgengymnastik zu machen und aus dem Fenster zu springen, wenn man ihm nicht bald den schrecklichen Verband abnehme. Dann traf der unausgeschlafene Tomilin mit roten Augen im Krankenhaus ein. Man gab ihm einen Kittel. Vitali packte eine solche Ungeduld, daß er kaum warten konnte, bis die Chefärztin ihre Morgenvisite beendete. Als sie endlich zurückkehrte, fragte er rasch und aufgeregt: „Also, können wir?“ „Sie können. Gehen Sie nur. Die dritte Tür links. Aber denken Sie daran: fünf Minuten. Nicht länger. Sonst komme ich persönlich und jage Sie hinaus. Vergessen Sie das nicht.“ Vitali und Tomilin begaben sich in Bulawkins Krankenzimmer. In dem schmalen, hellen Raum standen vier Betten. In einem von ihnen, am Fenster, lag der verbundene, kreidebleiche und bis zur Unkenntlichkeit abgemagerte Bulawkin mit bläulichen Ringen unter den Augen. Er blickte die Eintretenden stumm an. Die übrigen Betten waren leer. 236
Vitali und Tomilin setzten sich nebeneinander auf das Bett gegenüber, und Vitali sagte leise und so ruhig, wie Tamara Anissimowna es ihm am Vorabend geraten hatte: „Sergej, erzähl uns alles, was du uns damals im Hotel mitteilen wolltest.“ Die Wimpern in dem blassen Gesicht zuckten, Bulawkins Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, und er flüsterte kaum hörbar: „Ich werde … alles sagen … Ich selbst aber … habe wohl … ausgekämpft …“ Als Igor morgens zur Stadtabteilung kam, meldete der Diensthabende: „Post aus Moskau, Genosse Hauptmann. Auf Ihren Namen.“ Er reichte ihm ein dickes Kuvert. „Ich erwarte jemanden“, kündigte Igor an. „Werde ständig in meinem Zimmer sein.“ Das Kuvert öffnete er erst, nachdem er sich an den Schreibtisch gesetzt und mit jemandem telefoniert hatte. Der Brief kam von Mazulewitsch. Das heißt, von ihm stammte eigentlich nur ein Zettel. Alles übrige aber … Igor überflog rasch die in dem Kuvert liegenden Papiere und rieb sich munter die Hände. Sieh mal an, der Grigori Ossipowitsch! Diesen Kobez haben sie dort ganz schön in die Zange genommen! Schließlich hat er das alles eigenhändig niedergeschrieben. Jetzt hat er Angst um seine Haut, der Halunke! Igor steckte sich eine Zigarette an und las noch einmal gründlich die vor ihm liegenden Papiere durch, wobei er sich Notizen machte. In diesem Augenblick klopfte es. „Ja, ja!“ rief Igor und beendete hastig seine Notizen. Das Zimmer betrat ein kleiner, hagerer Mann mit einem Köfferchen in der Hand. „Sie kommen von Saweljew?“ fragte Igor. „Setzen Sie sich, bitte. Haben Sie den Schein vom Untersuchungsführer mitgebracht?“ 237
„Natürlich“, erwiderte der Mann lächelnd. „Ohne ihn arbeiten wir nicht. Genau wie Sie.“ „Ausgezeichnet. Ich habe bereits im Werk angerufen. Dort ist alles in Ordnung. Hat Ihnen Juri …“ Igor konnte sich plötzlich nicht mehr an Saweljews Vatersnamen erinnern. „… Sergejewitsch“, half der Mann ihm aus. „Ach ja. Juri Sergejewitsch. Hat er Ihnen gesagt, was Ihre Aufgabe ist?“ „In groben Zügen. Die Einzelheiten wollten Sie mir mitteilen. Ich bin schließlich hier für ganz andere Dinge verantwortlich.“ „Das ist mir bekannt. Ihre Aufgabe besteht in folgendem …“ Igor begann seine Erklärungen. Der Mann hörte aufmerksam zu. „Alles klar“, sagte er schließlich. „Wann brauchen Sie das Gutachten?“ „So bald wie möglich.“ Igor blickte auf die Uhr. „Na, wenigstens bis um zwei. Das Verhör fängt früher an. Aber kommen Sie ruhig herein, genieren Sie sich nicht. Ich wünsche Ihnen Erfolg. Den wünsche ich Ihnen sehr, wie Sie begreifen werden.“ Er lächelte. „Und überhaupt danke ich Ihnen für Ihre Unterstützung.“ Dann kam Oberstleutnant Raskatow vorbei. Er drückte Igor die Hand, lächelte geheimnisvoll und sagte: „Gestern abend, nachdem Sie gegangen waren, hat Sergej Pawlowitsch Korschunow angerufen. Das ist ein Mann! Habe mit ihm zusammen mal einen Fall gelöst. Damals hat er einen ganz schönen Wirbel gemacht.“ Ja, so was vergißt man nicht, dachte Igor. „Also“, fuhr Raskatow fort. „Wie sich herausstellt, war dieser Mazulewitsch bei ihm …“ „Aha, jetzt ist mir alles klar“, rief Igor erfreut aus. „Und mit jenem Kobez hat Sergej Pawlowitsch sich persönlich unterhalten. So liegen die Dinge. Nun, und 238
dann interessierte er sich dafür, wie seine Adler hier vorankommen“, erklärte Raskatow schmunzelnd. „Er bittet Sie, ihn heute abend anzurufen.“ Raskatow ging, die Hände im Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab, blieb dann vor Igor stehen und fügte hinzu: „Dem heutigen Verhör würde ich gern beiwohnen. Sie haben doch nichts dagegen?“ „Bitte“, erwiderte Igor zurückhaltend. Hat Korschunow das angeordnet, oder ist es seine eigene Initiative? überlegte er, entschied jedoch gleich darauf: seine eigene. Schließlich nimmt die Sache einen völlig neuen Verlauf. Bald darauf traf Rewenko ein. Er riß geräuschvoll die Tür auf und rief laut und selbstsicher, ja fast fröhlich: „Seien Sie gegrüßt, Igor Wassiljewitsch, seien Sie mir gegrüßt! Ah, Sie sind auch hier?“ Er wandte sich zu dem etwas abseits auf der Couch sitzenden Raskatow um. „Haben uns lange nicht gesehen, Wikenti Petrowitsch. Lange nicht mehr. Was macht die Leber, hat sie sich beruhigt? Läßt sie’s noch zu?“ Er schnipste sich mit einem schelmischen Lächeln gegen die Gurgel. Raskatow murmelte trocken: „Wenn nur alles so in Ordnung wäre wie meine Leber.“ Rewenko drehte sich erneut zu Igor um. Seine kurze, füllige Gestalt mit dem sich unter dem weißen Hemd abzeichnenden Bauch und der nachlässig gebundenen Krawatte an dem faltigen Hals drückte Sicherheit und unerschütterliche Ruhe aus. Das breite, von der Sonne rosig gefärbte Gesicht mit den Tränensäcken unter den Augen zeigte ein offenes, freundliches Lächeln. „Also, ich stehe zu Diensten“, sagte er, während er sich setzte und die solide Aktentasche mit den zwei Schlössern auf seine kurzen Oberschenkel legte. „Was kann ich für Sie tun?“ 239
„Das werden Sie gleich erfahren“, erwiderte Igor ruhig und holte die Vernehmungsformulare hervor. „Füllen wir zuerst den allgemeinen Teil aus.“ „Eine Vernehmung nach allen Regeln der Kunst“, meinte Rewenko grinsend und glättete sein lockiges helles Haar. Er beantwortete rasch alle Fragen, und Igor reichte ihm das Formular. „Hier müssen Sie unterschreiben.“ „Und was ist das?“ fragte Rewenko interessiert. „Eine Ermahnung. Für falsche Aussagen wird hier, wie Sie sehen, eine Strafe angedroht.“ „So ein Unsinn! Aber meinetwegen.“ Rewenko unterschrieb schwungvoll. Er war nach wie vor ruhig und selbstsicher, hatte sich nur unmerklich gestrafft, und seine Augen strahlten Kälte aus. „Und wie geht’s weiter?“ fragte er, während er sich zurücklehnte. „Wir werden die Sache weiter klären, Wladimir Jakowlewitsch. Vor allem aber sagen Sie mir eins: Wie standen Sie zu Lutschinin?“ „Ich? Aufs beste. Ich behaupte auch jetzt noch, daß er zweifellos ein begabter Ingenieur und Organisator war. Obwohl er mit den Menschen nicht immer gut auskam. Ich mußte da manches glätten.“ „Sehr gut. So schreibe ich es auch auf. Und seine Erfindung? Erkennen Sie sie als die seine an?“ „Wie soll ich’s Ihnen sagen? In dieser Frage bin ich, wie ich zugeben muß, nicht allzu kompetent.“ Rewenko zuckte die Achseln. „Es heißt, daß er sie nur entlehnt hat.“ „Und Ihre Meinung?“ „Was ich nicht weiß, mein Lieber, weiß ich nicht.“ „Das kann vorkommen. Halten wir es so fest. Jetzt zur Rekonstruktion Ihres Werkes. Sie waren doch daran beteiligt, nicht wahr?“ 240
„Ja, natürlich.“ „Nach welchen Zeichnungen erfolgte sie?“ „Nach welchen Zeichnungen? Na, nach denen, die man später im Baranowsker Kombinat entdeckt hat.“ „Sind Sie sicher, Wladimir Jakowlewitsch?“ „Allerdings. Aber warum fragen Sie danach?“ „Weil Sie bei der Rekonstruktion des Werkes, wie sich herausstellt, zeitweise stark vom Projekt abgewichen sind. Wie kommt das?“ „Na, wissen Sie!“ Über Rewenkos konzentriertes Gesicht huschte ein nachsichtiges Lächeln. „Während der Arbeit ergibt es sich immer, daß man Veränderungen vornehmen muß. Ohne das geht’s nun mal nicht ab.“ „Aber warum so viele? Sogar in der Anordnung und der Menge der Ausrüstungen, in der Konstruktion und schließlich auch im Fertigungsschema.“ „Das müssen Sie schon die Projektanten fragen.“ „Das habe ich getan. Sie haben übrigens mit Ihnen zusammen an der Rekonstruktion des Werkes gearbeitet.“ „Ich hoffe, die haben Ihnen alles erklärt?“ „Ja, sie haben mir erklärt, daß diese Zeichnungen erst nach der Rekonstruktion angefertigt wurden.“ „Das ist ja ein Witz! Und wie haben wir Ihrer Meinung nach damals das Werk rekonstruiert?“ Rewenko lachte auf. In seinem runden Gesicht entdeckte man weder Verlegenheit noch Ärger. Der Mann hat Nerven, dachte Igor und erklärte: „Wie’s heißt, erfolgte die Rekonstruktion nach Entwürfen. Haben Sie das nicht bemerkt?“ „Nein, das habe ich nicht bemerkt.“ „Seltsam.“ Igor schüttelte den Kopf. „Finden Sie nicht auch? Schließlich haben es außer Ihnen alle bemerkt.“ „Ich finde etwas anderes seltsam.“ „Was denn?“ „Ihren Ton“, erwiderte Rewenko streng. „Es kommt 241
mir vor, als wollten Sie mir irgendeine Schuld anhängen.“ „Es geht nicht um den Ton, sondern um die Fakten. Sind Sie damit auch unzufrieden? Mich versetzen sie in Erstaunen. Sie sind doch ein kluger Mann, Wladimir Jakowlewitsch. Sehen Sie, was sich ergibt: Ihr Werk wurde mit erheblichen Abweichungen vom Projekt rekonstruiert. Ist das richtig?“ „Ja. Worauf wollen Sie hinaus?“ „Das Baranowsker Kombinat hat seine Werkhalle dagegen exakt nach diesem Projekt gebaut. Hier ist die Bestätigung. Was hat das zu bedeuten? Jeder Mensch wird Ihnen sagen: Das bedeutet, daß die vorliegenden Zeichnungen für das Baranowsker Kombinat bestimmt waren. Wo aber sind dann die Zeichnungen, wo ist das Projekt, nach dem Ihr Werk rekonstruiert wurde? Vielleicht sind sie vernichtet worden? Oder verlorengegangen?“ „Unsinn!“ „Ich bin völlig Ihrer Meinung. Bleibt nur eins zu vermuten: Es hat nie welche gegeben. Lediglich Entwürfe.“ „Auch das wäre ein grober Verstoß!“ rief Rewenko, sich an seine Aktentasche klammernd, aus. He, mein Lieber, du beginnst dich zu vergessen, dachte Igor, vor sich hin grinsend. Selbst deine Nerven scheinen das nicht auszuhalten. Ungerührt bemerkte er: „Natürlich ist das ein Verstoß. Aber Lutschinin, der Autor des Projekts, hat die Rekonstruktion selbst geleitet. Alle hatten es sehr eilig. Man kann also das alleinige Vorhandensein von Entwürfen, wenn auch nicht rechtfertigen, so doch erklären.“ „Ihre Aufgabe ist es nicht, etwas zu erklären, sondern sich Erklärungen anzuhören!“ „Genau das habe ich getan. Und so haben es mir außer Ihnen alle erklärt. Ihre Erklärung ist sehr eigenartig.“ 242
„Die ganze Kompanie fällt aus dem Schritt, nur er marschiert richtig“, brummte Raskatow aus seiner Couchecke. „Ach, Sie!“ Rewenko fuhr zu ihm herum. „Sie …!“ Plötzlich aber beendete er den Satz ruhig und spöttisch: „Sie waren doch, glaube ich, ganz anderer Ansicht, Wikenti Petrowitsch. Sind Sie tatsächlich so schnell umgeschwenkt?“ „Schnell war das nicht gerade“, brummte Raskatow. „Ganz gewiß nicht. Es hätte schneller gehen können.“ „Einen Augenblick, Wladimir Jakowlewitsch“, mischte Igor sich ein. „Ich werde mir Ihre Erklärung notieren. Also, das Werk wurde nach den Zeichnungen rekonstruiert, nach denen später die Werkhalle im Baranowsker Kombinat gebaut wurde. Dabei haben Sie in das Projekt größere Veränderungen eingebracht und es dadurch sogar verschlechtert.“ „Erlauben Sie mal! Wieso verschlechtert?“ „Die Qualität der Produktion ist bei Ihnen etwas schlechter. Und die Arbeitsproduktivität geringer. Hier habe ich die Bestätigung des Chefingenieurs aus dem Kombinat.“ „Na, wissen Sie. Wir haben als erste gebaut.“ „Natürlich. Ich habe Sie also richtig verstanden?“ „Ja“, erwiderte Rewenko scharf. „Und eine kompetente Kommission aus dem Ministerium …“ „Auf diese Kommission kommen wir noch zu sprechen“, unterbrach Igor ihn. „Kennen Sie ihren Vorsitzenden schon lange?“ „Ich? – Relativ lange.“ „Sie haben anscheinend zusammen studiert?“ Rewenko grinste, eine erstaunliche Selbstbeherrschung an den Tag legend, und fuhr sich mit der Hand übers Haar. „Wer hat Ihnen das gesagt? Ach so, ich darf Ihnen ja keine Fragen stellen. Und Sie haben … äh, Ihre eigenen Methoden.“ 243
„In diesem Fall war die Methode ganz einfach“, erwiderte Igor ungerührt. „Das hat uns Nikolai Gawrilowitsch Kobez selbst mitgeteilt.“ „Er selbst?“ Rewenko konnte sein Erstaunen nicht verbergen. „Aber erlauben Sie! Wie konnten Sie …“ „Stellen Sie keine Fragen“, unterbrach Igor ihn trocken. „Dafür habe ich zu viele, die ich an Sie richten muß. Also, Kobez hat seine völlige Inkompetenz in dieser Angelegenheit zugegeben. Darauf kommen wir nachher noch zurück. Jetzt aber sagen Sie mir eins: Wußten Sie von den anonymen Briefen, die die Staatsanwaltschaft, die Zeitung und das Ministerium über Lutschinin erhielten?“ Rewenko nahm sich zusammen und entgegnete ruhig: „Natürlich. Ich habe sie sogar gelesen.“ „Sie enthalten im allgemeinen ein und dieselben Anschuldigungen, nicht wahr?“ „Mag sein.“ „Hatten Sie nicht den Eindruck, daß alle von ein und demselben Verfasser stammten?“ „Darüber habe ich nicht nachgedacht.“ „Haben Sie auch nicht darüber nachgedacht, daß der Verfasser sich sehr gut in den Angelegenheiten des Werkes auskannte und vielleicht selbst im Werk arbeitete?“ „Das ist sehr wahrscheinlich.“ Rewenko war erstaunlich ruhig, nur die Lippen bewegten sich. „Auch wir haben uns Gedanken darüber gemacht“, sagte Igor langsam. „Und wir haben den Briefschreiber gefunden.“ „Gratuliere.“ „Er hat es bereits zugegeben. Ihm blieb eigentlich nichts anderes übrig. Es ist ein gewisser Nossow. Kennen Sie ihn?“ „Ja“, erwiderte Rewenko trocken. „Großartig. Nur eins erscheint auf den ersten Blick 244
seltsam. Alle in den Briefen enthaltenen Anschuldigungen wurden von der Kommission bestätigt. Die Erläuterungen bekam sie von Ihnen …“ „Nicht nur von mir.“ „Natürlich. Aber Sie gaben die Erläuterungen eben zu diesen Punkten. Das schreibt uns Kobez.“ Igor wies auf eines der Papiere auf dem Tisch. „Und genau dieselben Punkte, dieselben Anschuldigungen haben Sie Nossow für seine Briefe zugeflüstert. Hier sind seine Aussagen.“ „Das ist eine Lüge“, äußerte Rewenko ruhig. „Eine unverschämte Lüge.“ „Tatsächlich?“ fragte Igor erstaunt. „Aber Kobez ist eine Amtsperson und außerdem Ihr alter Freund. Warum sollte er …“ „Ich spreche von Nossow“, sagte Rewenko, jedes einzelne Wort betonend, langsam und sicher. Sein Gesicht blieb dabei völlig reglos, und die Augen waren starr auf einen Punkt gerichtet. „Von Nossow?“ fragte Igor zurück. „Kobez hat also recht?“ „Ja.“ „Das wollen wir festhalten … Jetzt zu diesem Nossow. Ich bin mit Ihnen einverstanden. Dieser Mensch verdient kein Vertrauen. Er hat es nicht nur faustdick hinter den Ohren, er ist ein Schuft. Auch Sie hat er hinters Licht geführt. Können Sie sich denken, womit?“ „Nein.“ „Wissen Sie nicht mehr, daß Sie ihn einmal gebeten haben, ihm ein Papier, genauer gesagt, einen Zettel, zurückzugeben, und daß er Ihnen sagte, er habe ihn verloren?“ „Auch das ist eine Lüge.“ „Möglich. Aber dieser Zettel befindet sich jetzt in unseren Händen. Darauf sind in Ihrer Handschrift einige für Nossow schwierige Wörter und Formulierungen notiert. Dazu die Bemerkung: ‚Sieh zu, daß Du alles richtig schreibst, sonst wird keiner draus schlau.‘ “ 245
„Lüge!“ „Hier ist dieser Zettel.“ Igor nahm ein kleines, zerdrücktes Blatt Papier vom Tisch und zeigte es Rewenko. „Gestatten Sie …“ Der streckte die Hand danach aus. „Nein. Sie werden es auch so wiedererkennen.“ „Gestatten Sie!“ wiederholte Rewenko drohend, während er weiter wie versteinert mit ausgestreckter Hand auf seinem Stuhl sitzen blieb. „Nein. Sehen Sie es sich von dort aus an. Das reicht …“ „Na, dann machen wir’s so!“ Rewenko sprang unerwartet auf, wobei seine Aktentasche polternd zu Boden fiel, entriß Igor den Zettel und steckte ihn sich blitzschnell in den Mund. Es war ihm jedoch noch nicht gelungen, ihn zu verschlucken, als Raskatow von der Couch her zu ihm stürzte und ihm die Kehle zudrückte. „Los, ausspucken!“ brüllte er keuchend. Rewenkos Gesicht lief dunkelrot an. Laut schnaufend versuchte er, Raskatows Finger von seinem Hals zu lösen. Der aber drückte mit der anderen Hand bereits mit solcher Kraft gegen seinen Unterkiefer, daß Rewenko aufstöhnte, die zusammengebissenen Zähne öffnete und das Papierklümpchen auf den Boden fallen ließ. Raskatow beförderte es mit einem Fußtritt zu Igor hinüber. Der glättete den feuchten Zettel vorsichtig und angewidert, legte ihn auf ein Löschblatt und drückte eine dicke Mappe darauf. Kraftlos, eine Hand gegen seine Kehle drückend und seinen Unterkiefer hin und her bewegend, ließ Rewenko sich wieder auf den Stuhl fallen. Das Blut wich allmählich aus seinem Gesicht. Er war nicht imstande, ein Wort zu sagen, und beobachtete nur mit haßerfüllten Augen, wie Raskatow langsam zur Couch zurückkehrte. Raskatow ließ sich auf ihr nieder und krächzte, seiner Erregung noch nicht ganz Herr geworden: „Am liebsten hätte ich dich erwürgt!“ 246
Rewenko kam endlich wieder zu sich und sagte mit einem schiefen Grinsen zu Igor: „Da ich Ihr Protokoll sowieso nicht unterschreiben werde, brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen.“ „Doch, ich werde mir die Mühe machen“, widersprach Igor. „Alles Weitere wird sich zeigen. Ich mache nur rasch einen Vermerk über diesen beeindruckenden Auftritt.“ „Wie Sie wollen.“ Rewenko verneigte sich mit dreister Förmlichkeit, doch man merkte ihm an, daß er seinen Hals nur schlecht bewegen konnte. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und der Mann mit dem Köfferchen trat ins Zimmer. „Genosse Dolin“, sagte Igor. „Schade, daß Sie erst jetzt kommen. Dieser Bürger hat gerade erfolglos versucht, ein Stück Papier zu verschlucken.“ „Macht nichts. So was habe ich schon öfter gesehen“, erwiderte dieser seelenruhig. „Hier ist das Gutachten. Es war alles genau so, wie Sie vermutet haben. Na, und ich …“ „Vielen Dank. Jetzt wird unser Gespräch noch lustiger werden“, erwiderte Igor. Sie verabschiedeten sich, und der Mann ging. Igor fragte Rewenko so ruhig, als wäre nichts geschehen: „Haben die Ingenieure Tscherkassow und Filatowa zusammen mit Lutschinin an dem Projekt für das Kombinat gearbeitet?“ „Wenn man das als Arbeit bezeichnen kann!“ „Wieso?“ „Lesen Sie sich das Protokoll der Kommission durch“, erwiderte Rewenko spöttisch und noch immer mechanisch seine Kehle reibend. „Das habe ich gelesen. Es wird behauptet, daß auf den Zeichnungen kein Stempel des Werkes gewesen sei, sondern nur Unterschriften. Dabei stellte sich im Moment der Revision heraus, daß wohl Stempel vorhanden 247
waren, aber keine Unterschriften. Merkwürdig, nicht wahr?“ „Das geht mich nichts an.“ „So? Aber eben Sie haben diese Zeichnungen der Kommission vorgelegt. Das schreibt Kobez.“ „Da man mich darum gebeten hat, habe ich sie vorgelegt.“ „Warum hat man Lutschinin nicht selbst darum gebeten?“ „Er war zu diesem Zeitpunkt krank.“ „Woher hatten Sie die Zeichnungen?“ „Aus seinem Arbeitszimmer.“ „Wo lagen sie dort genau?“ „Das weiß ich doch jetzt nicht mehr. Und überhaupt …“ „Einen Augenblick. Immer mit der Ruhe! Lutschinin behauptete, sie wären in seinem Schreibtisch eingeschlossen gewesen.“ „Der Schreibtisch war offen!“ „Ach so?“ Igor zögerte eine Sekunde und fragte plötzlich: „Wo sind die Schlüssel zu Ihrem Schreibtisch?“ Rewenko wollte in seine Tasche greifen, zog aber gleich darauf die Hand langsam zurück und blickte Igor starr an. „Die habe ich der Sekretärin gegeben“, sagte er langsam und deutlich. „Das Schloß ist nicht in Ordnung, es klemmt. Ich habe darum gebeten, es reparieren zu lassen.“ „Es ist nicht das Schloß, mit dem etwas nicht in Ordnung ist, sondern der Schlüssel“, entgegnete Igor kalt. „Weil Sie mit diesem Schlüssel das Schubfach in Lutschinins Schreibtisch geöffnet haben und der Schlüssel sich dabei verbogen hat. Außerdem ist eine Zacke aus seinem Bart gebrochen. Da das Schloß sich nicht auf Anhieb öffnen ließ, haben Sie dieses und auch Ihren Schlüssel beschädigt. Hier ist das spurenkundliche Gutachten.“ Igor wies auf das Papier, das Dolin ihm soeben 248
gebracht hatte. „Warum haben Sie das getan? Warum ließen Sie sich von der Sekretärin den Werkstempel geben? Hier sind die Aussagen der Sekretärin.“ Er entnahm der Mappe einen weiteren Bogen und reichte ihn Rewenko. „Machen Sie sich damit bekannt.“ „Ich sagte es ja schon“, erwiderte Rewenko langsam, das Papier von sich schiebend. „Ich werde Ihr Protokoll nicht unterschreiben. Und Fragen werde ich auch nicht mehr beantworten.“ „Das ist auch gar nicht nötig“, entgegnete Igor. „Auch so ergibt sich ein klares Bild. Ich kann Ihnen sogar sagen, warum Sie Lutschinin gehaßt haben. Er war eine markantere und begabtere Persönlichkeit als Sie. Sie haben ihn beneidet. Er wurde zum Werkdirektor ernannt. Vorher waren Sie der Direktor. Und schließlich liebte Tanja Filatowa ihn und nicht Sie …“ „Ich verlange …“, schrie Rewenko plötzlich in herrischem Ton, „daß Sie sich da nicht einmischen! Das ist eine persönliche Angelegenheit! Das … das ist eine Gemeinheit!“ „Sie sprechen von Gemeinheit?“ fragte Igor erstaunt. „Sie …? Warum haben Sie Tanja Filatowa nachgestellt? Warum sind Sie zu Lutschinins Frau gegangen? Warum haben Sie sie mit Anrufen und Briefen belästigt? Wie soll man das alles nennen, frage ich Sie?“ Das Blut strömte von neuem in Rewenkos volles Gesicht, und wütend schrie er: „Und ich sage Ihnen: Mischen Sie sich da nicht ein! Das geht Sie überhaupt nichts an, begreifen Sie das? Sie sind ein Papierkrämer, eine seelenlose Maschine! Wissen Sie, was Liebe ist? Wären Sie imstande, alles für sie zu opfern? Alles, was Sie im Leben besitzen? Aber ich kann das! Ich kann das! Und ich liebe sie! Sie können mich umbringen! Bitte! Aber auch dann werde ich sie noch lieben …!“ Aus seiner überkippenden Stimme sprach ein solcher Grimm, eine solche Leidenschaft, daß es Igor allein bei 249
dem Gedanken schauderte, wozu dieser Mensch seiner Liebe wegen fähig war. „Aber Sie haben sie nur unglücklich gemacht!“ sagte er leise. „Es ist unser gemeinsames Unglück! Und Sie haben sich da nicht einzumischen! Das ist unsere Liebe!“ „Jetzt reicht’s aber!“ sagte Igor streng und schüttelte den Kopf, als wollte er sich aus der ihn erfassenden Erstarrung lösen. „Es reicht. Im Namen der Liebe darf man kein Verbrechen begehen.“ „Doch darf man das! Man darf alles!“ „Na, dann muß man auch dafür geradestehen. Sie haben Lutschinin mit Lügen und Verleumdungen umstrickt. Sie haben ihn zum Selbstmord getrieben, wenn Sie es wissen wollen! Hier ist der Haftbefehl. Sie sind verhaftet, Rewenko.“ „Eine Provokation!“ schrie der und sprang auf. „Eine Provokation! Das ist eine Verletzung der Gesetzlichkeit! Dafür werden Sie sich zu verantworten haben!“ Seine kleine, dicke Gestalt raste mit geballten Fäusten durchs Zimmer. Beim Anblick seines flammenden, hochroten Gesichts, der zerzausten hellen, ihm an der Stirn klebenden Haare und seiner vor Wut weißen Augen dachte Igor für einen Augenblick, Rewenko hätte den Verstand verloren. „Eine Provokation!“ schrie der bereits heiser gewordene Rewenko weiter und stürzte plötzlich zur Tür. Da aber vertrat Raskatow ihm den Weg. „Zurück!“ brummte er drohend. Als Rewenko endlich abgeführt wurde, lehnte sich Igor erschöpft in seinen Sessel zurück. Das Telefon läutete. Igor nahm träge den Hörer ab, vergaß aber augenblicklich alle Müdigkeit: Er erkannte die Stimme Tomilins. „Morgen früh kommen wir zurück. Lossew ist wiederhergestellt“, sagte Tomilin. „Wie steht’s bei dir?“ 250
Igor teilte ihm kurz den Inhalt der gerade beendeten Vernehmung mit. Tomilin schwieg. „Hörst du mich?“ schrie Igor. „Ich höre“, erwiderte Tomilin nach einer Weile. „Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Bulawkin hat ausgesagt …“
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9. KAPITEL
Bulawkin hat ausgesagt Morgens fuhr an der Stadtabteilung ein verstaubter Gasik vor. Als erster sprang Vitali Lossew in einer fast auf die Augen gedrückten grauen Schirmmütze heraus. Nach ihm erschien Tomilin. Er stieg ohne Eile aus und rief den an der Tür stehenden Milizionär heran. Dann begab auch er sich in die Stadtabteilung. Der Diensthabende sprang auf und schüttelte den Ankömmlingen freudig die Hände. Auf der Treppe aber eilte ihnen Igor entgegen. Er umarmte Vitali. „Na, sind wir feuer- und wasserfest?“ „Natürlich“, erwiderte Vitali. „Gehen wir schnell, es gibt eine Fuhre Neuigkeiten.“ In diesem Augenblick holte der Milizionär den sich nach allen Seiten umschauenden Anton Anaschin aus dem Gasik. Als die drei das Arbeitszimmer betraten, schloß Vitali fest die Tür und sagte aufgeregt zu Igor: „Also, Bulawkin erinnert sich an Lutschinins letzte Worte, die er an jenem Tag, kurz vor seinem Tode, sprach. ‚Ich werde kämpfen, Sergej. Ich bin kein Jesus Christus. Mich kann man nicht so einfach in den Dreck treten.‘ Das war es, was Sergej uns mitteilen wollte.“ Wenn Igor erregt war, wurde er im Gegensatz zu Vitali wortkarg und schroff. Auch jetzt ließ er sich, während er sich an den Tisch setzte, abgehackt und barsch vernehmen: „Erzähl der Reihe nach. Was ist mit Bulawkin 252
passiert? Und setz dich, hüpfe um Gottes willen hier nicht herum.“ Diesen Ton konnte Vitali nicht ausstehen. Deshalb sagte er betont kalt und offiziell: „Bitte, Genosse Hauptmann, ich kann mich auch setzen. Ich kann auch der Reihe nach erzählen.“ Er ließ sich neben Tomilin auf der Couch nieder, nahm diesem einen dünnen Ordner aus der Hand und löste seine Bänder. „Hier sind Bulawkins Aussagen“, erklärte er zurückhaltend. „Nach seinen Worten hat sich alles wie folgt abgespielt: Am Abend des Zweiundzwanzigsten wollte Bulawkin zu uns kommen. Am nächsten Morgen sollte er eine Dienstreise zum Tschechowsker Werk antreten und einen Lastwagen mit Bauplatten von dort abholen. Der Kraftfahrer des dortigen Werkes war erkrankt. An jenem Abend aber fing ihn, als er bereits zu uns unterwegs war, auf der Straße vor seinem Haus Nossow ab und übermittelte ihm eine Anweisung Rewenkos, daß er sofort zu dem Werk fahren solle. Nossow übergab ihm auch den Dienstreiseauftrag und Geld und sagte, daß die Sache sehr eilig sei. Deshalb solle er zusammen mit dem Arbeiter Anaschin fahren. Der Wagen warte bereits vor Anaschins Haus in der Retschnaja. Bulawkin ist ein disziplinierter Mensch. Es wunderte ihn zwar, daß Nossow den Wagen zu Anaschin gefahren hatte, aber er weigerte sich nicht, die Fahrt anzutreten. Sie begaben sich gemeinsam zur Retschnaja. Dort fiel Bulawkin auf, daß der Wagen nicht auf der Straße, sondern im Hof stand, aber er maß dem weiter keine Bedeutung bei. Dann, als sie durch Posharowo kamen, fiel Anaschin plötzlich über ihn her. Alles Weitere wissen wir bereits. Hier sind die Aussagen. Machen Sie sich damit bekannt, Genosse Hauptmann.“ Vitali stand auf und legte die Papiere vor Igor auf den Tisch. Er war nach wie vor demonstrativ offiziell. 253
Igor schmunzelte. „Schon gut, laß die Faxen. Hat Bulawkin gesagt, warum Anaschin über ihn hergefallen ist? Vielleicht haben sie sich unterwegs gestritten?“ „Das begreift er selbst nicht. Es hat keinerlei Streit gegeben. Sie kannten einander kaum.“ „Aha … Das ergibt ein interessantes Bild …“ „Jetzt aber“, wollte Vitali, der die Kränkung noch nicht verwunden hatte, wieder ansetzen, „müssen wir unverzüglich …“ Ihn unterbrach das Läuten des Telefons. Der Diensthabende meldete: „Ein Mädchen möchte zu Ihnen, Genosse Hauptmann.“ Nach wenigen Minuten klopfte es an der Tür. An der Schwelle erschien ein schmächtiges Mädchen mit einem goldblonden, von einem hellblauen Band zusammengerafften Haarschopf, in einem kurzen bunten Rock und mit geflickten weißen Sandaletten an den braungebrannten Füßen. Igor erkannte sie sofort wieder. „Kommen Sie herein, Lara, kommen Sie nur“, sagte er und erhob sich. „Guten Tag. Nun kommen Sie schon, warum stehen Sie an der Tür?“ Das Mädchen hob störrisch ihr spitzes Kinn und fragte herausfordernd, Vitali und Tomilin einen raschen Blick zuwerfend: „Suchen Sie nun nach Sergej oder nicht? Wie lange soll das noch dauern? Er ist jetzt schon“, ihre Stimme zitterte leicht, „seit neun Tagen verschwunden. Das nennen Sie suchen?“ Sie hatte Mühe, ihre Verlegenheit zu verbergen, und wirkte dadurch noch dreister und ergrimmter. „Wir haben ihn gefunden“, sagte Igor ernst. „Warum erfahren wir das nicht?“ rief das Mädchen fast weinend von der Tür her. „Wir … Anfissa Gordejewna weint sich die Augen aus … Wie kann man nur … die Menschen so quälen?“ 254
„Ihm ist etwas zugestoßen …“ „Was?“ Sie schob den Oberkörper vor. „Lebt er? Sagen Sie mir nur das eine!“ „Er lebt und befindet sich im Krankenhaus in Tschudilowka.“ „Oh!“ Sie schlug die Hände zusammen. „Ich fahre gleich hin! Da gibt’s ’ne Buslinie! Ich muß nur meinem Betrieb …“ „Und der Papa?“ fragte Igor lächelnd. „Was soll mit dem sein? Den werde ich lange fragen …“ Sie griff schon mit der Hand nach der Tür, wandte sich aber gleich darauf noch einmal zu Igor um. „Er lebt also, ja? Ist das auch wahr?“ „Aber natürlich.“ Kaum hatte sie die nochmalige Bestätigung vernommen, schoß sie los. „Was wolltest du gerade sagen, als sie kam?“ fragte Igor. „Ich? – Ach so.“ Vitalis Miene verdüsterte sich. „Wir müssen Jegor Anaschin sofort verhaften. Unverzüglich! Ich fahre selbst hin.“ „Du hattest mit dem einen Bruder schon genug Scherereien“, erwiderte Igor. „Wir sollten uns die Arbeit teilen. Ich rufe gleich Saweljew an.“ „Ah! Hast du ihn schon kennengelernt?“ „Natürlich. Die Untersuchung wird in aller Form wiederaufgenommen. Und ihm anvertraut.“ „Ach du Schreck! Und mein Freund Rogowizyn?“ fragte Vitali mit drolliger Verzweiflung und faßte sich an den Kopf. „Der wurde davon befreit. Wegen außerordentlicher Überlastung“, erklärte Igor grinsend. „Ei, ei. Wer hat denn das gewagt?“ „Kutschanski. Ein prima Kerl. Er wird dir gefallen.“ Igor wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft. „Juri Sergejewitsch? Seien Sie gegrüßt. Hier ist Otkalenko. Es handelt sich um folgendes …“ 255
Während sich die beiden unterhielten, flüsterte Vitali Tomilin etwas zu, und der ging, sich schwer von der Couch erhebend, zur Tür. Eine Minute später kehrte er mit einem großen, in eine Zeitung gewickelten Paket zurück. Als Igor auflegte, sagte Vitali: „Wir haben noch was für dich. Zeig’s ihm mal, Nikolai Ignatjewitsch.“ Tomilin wickelte das Paket auf seinen Knien aus. Zum Vorschein kam ein dunkles, auf einer Seite noch feuchtes Brett, an dessen Kanten man frische Sägespuren entdecken konnte. Tomilin legte die Zeitung mit dem Brett vor Igor auf den Tisch. „Was ist denn das?“ fragte der erstaunt. „Das stammt aus Anaschins Boot“, erläuterte Vitali. „Gestern hat Nikolai Ignatjewitsch, während ich im Bett lag, eine offizielle Beschlagnahme vorgenommen. Sieh mal, wieviel Blut daran ist. Genauer gesagt“ – er grinste –, „Spuren, die an Blut erinnern. Wir müssen ein Gutachten anfertigen lassen.“ „Interessant …“ Igor betrachtete aufmerksam das vor ihm liegende Brett und drehte es dann vorsichtig um. „Ah … Ich sehe schon … Ziemlich deutliche Spuren … Und welche Vermutungen knüpfst du daran?“ „Alle möglichen“, erwiderte Vitali ausweichend. „Es wäre zum Beispiel ganz nützlich, die Ergebnisse des Gutachtens mit Bulawkins Aussagen zu vergleichen.“ „Ja, ja. Und nicht nur mit Bulawkins.“ Igor dachte kurz nach und fügte dann hinzu: „Auch mit denen Anna Nikolajewnas.“ „Wer ist denn das?“ „Eine sehr sympathische Frau. Sie arbeitet in der Buchhaltung des Werkes“, entgegnete Igor. „Sie hat Lutschinin an jenem letzten Abend gesehen. Und zwar nicht allein.“ „Mit wem denn?“ „Das weiß sie nicht. Aber wenn …“ „Genau!“ rief Vitali aus. „Das müssen wir machen.“ 256
Er hatte die Kränkung bereits vergessen, und seine Stimme klang jetzt weder offiziell noch spöttisch. „Zum Teufel! Das ist gut!“ Er rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Jetzt fällt’s mir wieder ein. Ihr Familienname ist Buraschnikowa, nicht wahr?“ „Völlig richtig. Und nun zu dem Gutachten.“ Igor runzelte wieder die Stirn und blickte Tomilin an. „Befaß du dich damit, Nikolai. Das muß in die Gebietshauptstadt geschickt werden.“ Als Tomilin, das Paket mit dem Brett in der Hand, gegangen war, legte Vitali als erster los. „Stell dir das bloß mal vor!“ rief er aus. „Nein, stell dir das vor! Also ist es doch Mord? Und ich habe fast geglaubt …“ „Wenn du dir alle Dokumente und besonders die Vernehmung Rewenkos durchliest, glaubst du noch fester daran“, meinte Igor finster. „Das ist vielleicht ein Schuft …“ „Ach ja! Das muß ich mir noch durchlesen!“ Vitali war sogleich Feuer und Flamme. „Wo ist es?“ „Ich geb’s dir gleich …“ Igor zögerte. „Trotzdem müssen wir alles noch zehnmal überprüfen. Schließlich war Lutschinin auch nur ein Mensch. Ach, was ich dir noch sagen wollte: Gestern abend habe ich mit Korschunow gesprochen.“ „Ja, na und?“ fragte Vitali ungeduldig. „Er interessierte sich dafür, wie wir vorankommen. Er hat uns übrigens von Moskau aus mächtig unterstützt. Mazulewitsch war bei ihm. Und er hat selbst mit diesem Kobez gesprochen.“ „Prima!“ rief Vitali aus. „Ich kann mir das Ergebnis vorstellen.“ „Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Kobez hat selbst alles schriftlich niedergelegt. Genau so, wie es war. Kannst es gleich lesen.“ Igor schlug mit der Hand auf den Aktendeckel. „Eine regelrechte Beichte.“ 257
Noch einmal läutete das Telefon. Igor erkannte Simakows Stimme. „Genosse Otkalenko?“ „Ja. Guten Tag, Iwan Spiridonowitsch.“ „Sie müssen schon entschuldigen, daß ich gestern nicht angerufen habe“, sagte Simakow. „Habe mich nach dem erkundigt, was Sie wissen wollten, nicht wahr.“ „Und, haben Sie es herausgefunden?“ „Allerdings. Auf dem Bewerbungsschreiben steht ein persönlicher Vermerk von Wladimir Jakowlewitsch: ‚Für die Dosierabteilung einstellen.‘ Alles, wie es sich gehört.“ „Also zu Nossow.“ „Jawohl. Die Jungs erzählen auch, daß Nossow ihn selbst angeschleppt hat. Sie sollen alte Freunde sein, nicht wahr. Aber diesem Pärchen werden wir …“ „Nein, Iwan Spiridonowitsch“, widersprach Igor resolut. „Mit diesem Pärchen werden wir uns jetzt befassen. Ist Anaschin im Werk?“ „Jawohl. Er soll schon wieder mit jemandem Krach gehabt haben.“ „Achten Sie darauf, daß er im Werk bleibt. Wir kommen gleich ’rüber. Aber vorsichtig, Iwan Spiridonowitsch. Sehr vorsichtig. Verstehen Sie mich?“ „Natürlich. Hier liegt der Fall klar. Aber da ist noch eine andere Sache.“ „Was denn noch?“ „Man erzählt sich, daß Rewenko verhaftet wurde, nicht wahr. Das muß man den Leuten doch erklären, Igor Wassiljewitsch. Sonst gibt’s bloß Gerede, und alle möglichen Gerüchte machen die Runde. So was ist nicht gut. Natürlich kennen wir ihn in- und auswendig …“ „In- und auswendig kennen vorläufig nur wir ihn“, meinte Igor lachend. „Wir werden schon noch alles erklären und publik machen, Iwan Spiridonowitsch. Darauf können Sie sich verlassen.“ „Na dann“, sagte Simakow befriedigt. „Ich würde ja 258
gern wissen, warum Sie ihn verhaftet haben, nicht wahr.“ „Wegen verschiedener Dinge. Aber vorläufig können wir noch nicht darüber reden, Iwan Spiridonowitsch. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.“ „Klarer Fall. Alles Gute.“ Igor legte auf. „Der Mann ist Gold wert“, sagte er. „Wenn man mit ihm spricht, lacht einem das Herz, Ehrenwort. Hier sind die Unterlagen. Befaß dich mal ein bißchen damit. Ich fahre jetzt los. Wir werden Anaschin festnehmen.“ Zuerst mußten sie in die Staatsanwaltschaft, zu Kutschanski, fahren, um sich einen Haftbefehl und einen Haussuchungsbefehl für Anaschin geben zu lassen. Der Überfall auf Bulawkin und dessen schwere Verletzung war eine ausreichende Begründung für diese Maßnahmen. Während Igor bei Kutschanski war, warteten Tomilin, Wolow und ein weiterer Mitarbeiter im Wagen auf ihn. Alle rauchten ungeduldig und blickten immer wieder auf die Uhr. Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Jedem war klar, daß eine schwierige Festnahme bevorstand. Anaschin war nicht der Mensch, der sich friedlich in sein Schicksal fügen würde. Endlich kam Igor zurück. Er stieg rasch ein, schlug die Tür zu und wandte sich zu seinen Kollegen um. „Ich habe eine Idee“, sagte er, als der Wagen sich in Bewegung setzte. „Warum nehmen wir, Nikolai, diesen Typ nicht allein fest? Und ihr beide“ – er wandte sich an Wolow – „steigt in der Retschnaja aus. Aufgabe: Haussuchung und, für alle Fälle, Einrichtung eines Postens. Schließlich kann alles mögliche passieren … Hier ist der Haussuchungsbefehl. Auch Saweljew kommt gleich dorthin. Keine Einwände?“ Einwände gab es nicht. Jedenfalls sprach keiner sie aus. 259
Igor holte das Foto hervor, das Anaschin zusammen mit Nossow zeigte. Zum x-ten Mal blickten alle aufmerksam in das hagere, nervöse Gesicht mit den schmalen, fest zusammengepreßten Lippen, der Hakennase und der dunklen, über die dreisten, zusammengekniffenen Augen fallenden Haarsträhne. „Scheint ein Draufgänger zu sein“, bemerkte Tomilin. „Er ist gefährlich“, berichtigte Wolow ihn nachdenklich. Der Wagen hielt am Ende der Retschnajastraße, weitab von Anaschins Haus. Die Mitarbeiter stiegen aus. Igor und Tomilin drückten ihnen zum Abschied die Hände. Igor warnte noch einmal: „Fallt nicht gleich mit der Tür ins Haus, Jungs. Und eine Haussuchung nach allen Regeln der Kunst.“ Der Wagen fuhr weiter. Igor wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war schwül und drückend. Als sie sich dem Werk näherten, wurde Igor plötzlich unruhig. „Erinnerst du dich, wo die Dosierabteilung ist?“ fragte er Tomilin. „Eines der letzten Gebäude. Das älteste.“ „Komm direkt dorthin“, sagte Igor zu dem Fahrer. „Etwa fünf Minuten nach uns.“ Wieder wischte er sich die Stirn ab. Am Werktor erblickte Igor zu seinem Erstaunen die hochaufgeschossene Gestalt Simakows in einem hellblauen, ärmellosen Hemd und einer in den Nacken geschobenen Schirmmütze. Neben ihm stand ein struppiger Bursche in einem ölverschmierten Arbeitsanzug. Die beiden hielten nach allen Seiten Ausschau, und Simakow redete ärgerlich auf den Burschen ein. Igor sprang aus dem noch fahrenden Wagen. „Was ist passiert, Iwan Spiridonowitsch?“ „Hier, das soll er Ihnen mal selbst erzählen, nicht wahr“, erwiderte dieser, ergrimmt auf den struppigen Burschen weisend. „So ein Rappelkopf! Man weiß nie, 260
was er im nächsten Augenblick tut, was er mal wieder von sich gibt, nicht wahr.“ „Konnte ich das denn ahnen? Der benimmt sich doch wie ein Verrückter!“ rechtfertigte sich der Bursche, verlegen angesichts der Fremden und der ihm jetzt offensichtlich werdenden Bedeutung seines Patzers. „Dabei habe ich gar nichts Besonderes zu ihm gesagt.“ Er sprach jetzt bereits zu Igor, der erriet, daß von Anaschin die Rede war. „Er aber, verstehst du, fängt gleich an zu krakeelen. ‚Ich denke nicht daran‘, schreit er. ‚Das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe meinen eigenen Chef. Wenn der wieder gesund ist, wird er mir schon sagen, was ich zu tun habe.‘ Damit meinte er Waska Nossow.“ Der Bursche grinste verächtlich. „Ich aber habe bloß zu ihm gesagt: ‚Dein Waska muß tatsächlich krank sein. Komme ich doch heute die Gogolstraße lang, da guckt er aus dem Fenster wie ein Wolf. Total unrasiert. Na, ich rufe ihm zu: ‚Warum gehst du nicht zur Arbeit?‘ Er aber schüttelt bloß den Kopf und winkt ab: Geh weiter! Na, da bin ich gegangen. Das war alles. Als aber Jegor das hörte, wurde er blaß, packte mich am Schlafittchen …“ „Wo ist er jetzt?“ unterbrach Igor den Burschen ungeduldig. „Ausgerissen ist er!“ rief der. „Jetzt eben, in diesem Augenblick! Iwan Spiridonowitsch und ich sind rausgelaufen, aber da war er schon über alle Berge. Na, wir natürlich …“ „Alles klar!“ fuhr Igor wieder dazwischen und fragte hastig: „Wie kommen wir von hier am schnellsten zur Gogolstraße?“ „Ich weiß Bescheid!“ rief der Fahrer, den Motor anwerfend, aus dem Wagen. „Steig ein. Wir fahren.“ Igor konnte gerade noch in den Wagen springen, als der auch schon aufheulend losraste. „Fahr langsamer“, sagte Igor zu dem Fahrer. „Wir müssen uns umsehen.“ 261
Kurz darauf bogen sie in eine schnurgerade und ebenfalls menschenleere Straße ein. Am Straßenrand wuchsen kümmerliche junge Bäume. Plötzlich tauchte weit vorn, hinter den Bäumen, die Gestalt eines laufenden Mannes auf. „Los!“ rief Igor, sich weit vorbeugend. Er öffnete die Tür und setzte zum Sprung an. Hinter ihm folgte Tomilin seinem Beispiel. Der Wind brauste in ihren Ohren. Als der Wagen den laufenden Mann fast eingeholt hatte, erkannte Igor Anaschin. Der schielte, krampfhaft durch den Mund atmend, nach dem Wagen, und noch bevor Igor auf den Bürgersteig springen konnte, raste Anaschin plötzlich auf einen hohen, dichten Zaun zu und schwang sich darüber. Igor folgte ihm eine Sekunde später. Jetzt liefen sie quer über den Hof auf ein etwas zurückgebautes Haus zu. „Halt!“ rief Igor. „Halt, stehenbleiben!“ Anaschin aber dachte nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Er lief, wie ein Hase Haken schlagend, von einer Seite zur anderen und stürzte von Baum zu Baum, da er offenbar befürchtete, daß Igor schießen könnte. Plötzlich kam ein weiß und braun gescheckter Hund aus dem Haus gerast, der sich jedoch aus irgendeinem Grund nicht auf Anaschin stürzte, sondern auf Igor. Igor verlor durch den Ansprung des Hundes fast das Gleichgewicht, schlüpfte dann aber, ohne lange zu überlegen, aus dem Jackett und eilte weiter. Anaschin lief gerade um das Haus herum. Der Hund aber schleuderte das Jackett knurrend von sich und stürzte zum Zaun. In diesem Augenblick krachte aus dem Haus unerwartet ein Schuß, anscheinend direkt über Anaschins Kopf. Der schrak zurück, stolperte und kam zu Fall. Im selben Moment warf Igor sich über ihn. 262
Anaschin wehrte sich verzweifelt. Für einen kurzen Augenblick geriet Igor unter ihn, machte aber sofort eine Brücke, wechselte blitzartig den Griff und befand sich wieder oben. Gleich darauf landete er noch einmal auf dem Erdboden. Es wollte und wollte Igor nicht gelingen, Anaschin zu überwältigen, der aber war seinerseits nicht imstande, sich Igors Griff zu entziehen. Keuchend und vor Wut fast blind, rollten sie durchs Gras. Da kam aus dem Haus ein Mann auf sie zugelaufen. Vom Zaun her näherte sich der von dem wie rasend bellenden Hund verfolgte Tomilin. Der Mann schrie mit überkippender Stimme: „Lord! Zurück!“ Dann blieb er verwirrt vor den Kämpfenden stehen, ohne zu wissen, für wen er Partei ergreifen sollte. In diesem Augenblick langte auch Tomilin bei ihnen an. Eine Minute später war alles vorbei. Tomilin riß Anaschin mit eisernem Griff an sich, so daß dieser, nach Atem ringend, in der Umklammerung sofort erschlaffte. Igor erhob sich keuchend. Aus seinem zerrissenen Hemd sickerte Blut. Aufgeregt knurrend lief der Hund zwischen ihnen hin und her, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen, sich auf einen von ihnen zu stürzen. „Verzeihen Sie“, erklärte sein Besitzer aufgeregt. „Ich habe gerade Jagdvorbereitungen getroffen und hatte das Gewehr beim Wickel. Da sehe ich ein paar Leute über den Hof laufen. Den da und hinter ihm diesen Mann. Na, mir war klar, daß ich die beiden aufhalten mußte. Da habe ich, ohne lange zu fackeln, abgedrückt. Und dann … Dann habe ich überhaupt nicht mehr durchgesehen …“ „Im allgemeinen sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet“, sagte Igor heiser und schob sein zerfetztes Hemd unter den Gürtel. „Aber wo ist mein Jackett?“ 263
„Lord!“ rief der Mann seinem Hund im Befehlston zu. „Such!“ Und er wies auf Igor. Gleichsam erfreut, daß man ihm endlich Beachtung schenkte und wenigstens etwas Klarheit in dieses menschliche Durcheinander kam, steckte der Hund die Schnauze ins Gras und sauste, den dünnen Schwanz lang ausgestreckt, zum Zaun. Eine Minute später zerrte er das zerknautschte und zerflederte Jackett herbei und legte es seinem Herrn zu Füßen. „Das ist ein ausgezeichneter Jagdhund, wissen Sie“, sagte dieser stolz, während er Igor das Jackett reichte. „Er ist zwar auf Federwild abgerichtet, aber Sie sehen ja …“ Anaschin wurde abgeführt. Eine halbe Stunde später saß er bereits in Tomilins Arbeitszimmer. Im Auftrag des Untersuchungsführers nahm Vitali die Vernehmung vor. Igor mußte zum Hotel fahren. Er wollte sich umziehen, waschen, seine Hand verbinden und wenigstens etwas beruhigen. Überhaupt war es nicht angebracht, daß er diese Vernehmung führte, denn nach dem Handgemenge, das er gerade mit Anaschin gehabt hatte, würde dieser jetzt keine einzige seiner Fragen beantworten. Bis Anaschin hereingeführt wurde, betrachtete Vitali aufmerksam die blutende Hand seines Freundes und schüttelte den Kopf. „Tja. Das hinterläßt Spuren fürs ganze Leben. So ein Mistkerl … Laß dich wenigstens gegen Tollwut spritzen.“ Trotzdem empfing er Anaschin mit völlig ungerührter Miene. „Na, wie ist’s, Jegor, packst du freiwillig aus?“ fragte er. „Ich habe nichts auszupacken“, knurrte der grimmig, und seine Augen unter dem zerzausten, in die Stirn fallenden Haar schossen Blitze. „Und wenn Sie mich anrühren, beschwere ich mich beim Staatsanwalt.“ „Sieh mal an, du kennst dich ja aus“, meinte Vitali 264
grinsend. „Leider mußten wir dich anrühren. Von selbst wärst du wohl kaum zu uns gekommen. Hast dich ja nach Kräften gewehrt. Natürlich macht’s dir keinen besonderen Spaß, von deinen Machenschaften zu erzählen. Das kann ich gut verstehen. Aber du mußt mich auch verstehen. Ehe wir auf dich gestoßen sind, haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Und vieles herausgefunden. Ich habe zum Beispiel dicke Freundschaft mit deinem Bruder geschlossen. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann haben wir uns wieder verstritten. Aber vorher hat er mir eine ganze Menge erzählt.“ Anaschin warf Vitali einen feindseligen und nun bereits mißtrauischen Blick zu. „Ja, ja, das Lied kennen wir.“ „Schlecht kennst du’s. Ich habe es nicht nötig zu lügen. Mir hat nicht nur Anton von dir erzählt. Auch Pelageja Fjodorowna. Und natürlich Nossow. ‚Die zwei Unzertrennlichen.‘ War’s nicht so?“ „Weiß ich nicht.“ „Klar weißt du’s.“ Vitali schüttelte den Kopf. „Erleichtere dir lieber das Gewissen. Mit reinem Gewissen lebt sich’s leichter. Schließlich ist’s für dich noch nicht zu spät. Welcher Jahrgang bist du?“ „Vierundvierzig“, murmelte Anaschin. „Na, siehst du.“ Anaschin hob plötzlich den Kopf und grinste. „Willst mich wohl überreden, Chef? Ich bin nicht mehr unbeleckt und kenne mich aus. Wenn du mich überreden willst, heißt das, daß du keinen Schimmer hast.“ Plötzlich sprang er auf und schrie: „Hol den Staatsanwalt her!“ „Setz dich“, sagte Vitali streng. „Kommst schon noch zum Staatsanwalt.“ Er mußte sich zurückhalten, um nicht aus der Haut zu fahren, ebenfalls zu schreien und in diese dreiste Fratze zu schlagen, aber all das war ja nur Ausdruck der ohn265
mächtigen Wut und Angst Anaschins. Schließlich wußte er, Anaschin, was er getan hatte und was darauf stand. „Gut“, sagte Vitali, sich beherrschend. „Gut. Wirst mir nachher schon alles erzählen, Jegor. Jetzt will ich dir erst mal was erzählen. Dann kannst du beurteilen, ob ich dich kenne oder nicht.“ Anaschin lümmelte sich auf seinen Stuhl und erklärte spöttisch: „Ich höre. Aber haben Sie nicht mal was zu rauchen?“ Offensichtlich verstand er Vitalis Geduld und dessen friedfertigen Ton falsch und gelangte zu dem Schluß, daß der „Chef“ tatsächlich nichts wisse und nun anfangen werde, ihn mit Bitten zu bestürmen, ihm Honig ums Maul zu schmieren und ihm gut zuzureden. „Setz dich ordentlich hin“, herrschte Vitali ihn an. „Bist nicht zu Besuch hier. Zu rauchen aber kriegst du was. Hier.“ Er zog mit einem Ruck das Schubfach auf und warf Anaschin über den Tisch eine angebrochene Zigarettenschachtel zu. Anaschin richtete sich träge auf seinem Stuhl auf, als erweise er Vitali eine Gnade, und steckte sich eine Zigarette an. Dabei machte er einen leicht betretenen und mißtrauischen Eindruck. Sein ganzer hagerer, sehniger Körper war wie eine Sprungfeder gespannt, und jeder Muskel, jeder Nerv straffte sich erwartungsvoll. Er rauchte gierig, in kurzen Zügen, als wollte er sich so rasch wie möglich betäuben und beruhigen. „Also“, setzte Vitali an. „Hör zu. Du und Anton, ihr seid im Kinderheim aufgewachsen. Eure Mutter kennt ihr nicht, euren Vater auch nicht. Obwohl Anton sich immerhin an die Mutter erinnern kann. Schön war sie, sagt er. Und immer vergnügt.“ „Ja, sie hat nur an ihr Vergnügen gedacht“, warf Anaschin finster ein. „Richtig, und zwar in einem Maße, daß sie ihre Kinder 266
ins Heim geben mußte. Du bist ein Dummkopf, Jegor. Sechsundvierzig hat sich keiner vergnügt. Viele haben gehungert. Die Faschisten hatten unser Land verwüstet. So sieht’s aus. Darum hat eure Mutter euch ins Heim gebracht. Dort hat sie auch euren Namen angegeben. Und euch besucht. Später ist sie dann krank geworden. Und Schluß. Eure Mutter ist gestorben. So seid ihr Seite an Seite aufgewachsen. Das Land hat euch aus letzter Kraft ernährt. Anton, der ist schwach, anhänglich und ängstlich. Du nicht, du bist ein Mensch, der nirgends Wurzeln schlägt. Anton lebte sich im Kinderheim ein, er hielt es dort aus. Da war es nicht besonders gut, das stimmt. Du aber bist ausgerissen. Und hast dich rumgetrieben. Auf Bahnhöfen, in Zügen, auf Trödelmärkten, in Bierhallen und Kindersammelpunkten, Kolonien und Etappengefängnissen. Das war ein Leben nach deinem Geschmack … Ein Zigeunerdasein.“ Anaschin fuhr zusammen, hob den Kopf und blickte Vitali starr, ohne zu blinzeln, an. „Wie viele Jahre so vergingen, hast du nicht gezählt“, fuhr Vitali, immer stärkere Bitterkeit empfindend und unmerklich selbst gefesselt, fort. „Andere haben sie für dich in Beschlüssen, Bescheinigungen und Urteilen gezählt. Aber auch du wurdest schließlich müde und begannst nachzudenken. Eines Tages faßtest du den Entschluß, deinen Bruder ausfindig zu machen – die einzige verwandte Seele auf der Welt. Und du hast ihn gefunden. Dein Bruder hatte, wie sich herausstellte, geheiratet und besaß ein Haus. Und auch er sehnte sich nach dir. Einen starken Charakter aber besaß er nach wie vor nicht. Er hatte sich dem Alkohol verschrieben. Zu Hause nörgelte und jammerte er und schurigelte seine Frau.“ „Ja, die hat’s nicht leicht mit ihm“, brummte Anaschin überraschend. „Allerdings. Und auch dich gewann sie lieb wie einen 267
Sohn. Nachts vergoß sie Tränen um euch beide. Und um sich selbst natürlich auch …“ Anaschin saß zusammengekrümmt da, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und rauchte, ohne den Kopf zu heben. „Hör schon auf, Chef“, sprach er dumpf gegen den Fußboden. „Wühl nicht in meiner Seele ’rum. Das hilft dir auch nicht. Damit du’s weißt.“ „Nein, Jegor, jetzt laß mich ausreden“, widersprach Vitali. „Vielleicht hilft es dir. Außerdem bin ich auch gleich fertig. Zu guter Letzt faßtest du den Entschluß, arbeiten zu gehen. Da tauchte ein neuer Freund, der Waska, auf. Er erzählte von dem Werk und von seinem Direktor. Na, und da gingst du eines Tages hin. Der Direktor aber wollte dich nicht einstellen.“ „Nicht mal über die Schwelle hat man mich gelassen“, sagte Anaschin noch ebenso dumpf, aber bereits mit Erbitterung. „Der Mistkerl hat mich nicht zu empfangen geruht!“ Vitali gab sich alle Mühe, nicht zu explodieren. Er verstummte nur für einen Augenblick. Gleich darauf aber fuhr er mit ruhiger, vielleicht sogar ein wenig zu ruhiger Stimme fort: „Er war kein Mistkerl, Jegor. Er hatte zu jener Zeit viel am Halse. Man hat ihm die Hölle heiß gemacht, und ihm drohte das Gefängnis.“ „Sag bloß!“ Anaschin hob ruckartig den Kopf und starrte Vitali ungläubig, voller Mißtrauen an. Vitali blickte ihm gerade in die Augen und fügte langsam hinzu: „Ein anderer hätte Hand an sich gelegt. Er aber fuhr bloß zum Angeln zu dir.“ Und da sah Vitali, wie plötzlich Schweißperlen auf Anaschins Stirn traten, wie sie als dicke Tropfen über seine Schläfen, die Backenknochen und den Hals rannen und wie zwei schlangenförmige Adern an Anaschins Stirn schwollen und zu pulsieren begannen. Anaschin 268
biß die Zähne zusammen und starrte mit seinen schwarzen, zwei Kohlenstücken gleichenden Augen auf einen Punkt im Raum. Einen Augenblick später rieb Anaschin sich mit der Handfläche kräftig über die Stirn und führte mit zitternder Hand die Zigarette an den Mund. Die aber fiel ihm aus den Fingern. Er bückte sich hastig und hob sie wieder auf. Vitali fuhr indessen fort: „Na, und dann … dann“, wiederholte er mit Betonung, „bist du im Werk eingestellt worden. Waska hat dich dort untergebracht. Der neue Direktor hielt aus irgendeinem Grund große Stücke auf Waska. Du aber, Jegor, verlorst plötzlich deine Ruhe“, sagte Vitali ganz langsam. „Und zwar in einem Maße, daß …“ „Die habe ich überhaupt nicht verloren!“ schrie Anaschin plötzlich hysterisch und fuchtelte mit den Armen, als wollte er sich Vitali vom Leib halten. „Von wegen verloren!“ „Ruhe!“ schrie Vitali ihn an. Ebenso unerwartet verstummte Anaschin wieder und bewegte nur noch lautlos die Lippen. „… und zwar in einem Maße, daß du“, schloß Vitali bereits im selben Ton wie zuvor, „dich bei der ersten besten Gelegenheit auf Bulawkin gestürzt hast. Warum hast du das getan?“ „Ich habe mich nicht auf ihn gestürzt!“ rief Anaschin erbost aus und wischte sich wieder die Stirn ab. „Das ist nicht wahr!“ „Aber er lebt“, sagte Vitali leise. „Er lebt, verstehst du? Und wir haben ihn gefunden.“ Anaschin starrte Vitali entgeistert an. Jetzt ließen seine Nerven ihn im Stich. Laut schluchzend und sich in den Ärmel beißend, ließ er den Kopf auf den Tisch sinken. Er wurde abgeführt. 269
Gegen Abend kam noch einmal Anna Nikolajewna Buraschnikowa. In Tomilins Arbeitszimmer führte man ihr vier dunkelhaarige junge Männer vor. Der zweite von rechts war Anaschin. Anna Nikolajewna musterte jeden von ihnen, kurzsichtig blinzelnd, drehte sich dann zu dem am Tisch sitzenden Saweljew um und sagte, verwirrt ihre Tasche in den Händen drehend: „Diese Sünde kann ich nicht auf meine Seele laden. Ich kenne keinen von denen.“ „Also, dann notieren wir das, Anna Nikolajewna“, erwiderte Saweljew ungerührt. Als sie allein blieben, sagte Frau Buraschnikowa betrübt und mit sich selbst unzufrieden: „Ich hab’ nun mal kein Personengedächtnis. Das habe ich Ihnen ja gleich gesagt. Da bleibt auch rein gar nichts hängen. Ich könnte sogar …“ Plötzlich aber verstummte sie und suchte sich krampfhaft an etwas zu erinnern. „Warten Sie mal, warten Sie …“, sagte sie schließlich. „Wie habe ich das nur vergessen können?“ Und sie fügte hastig hinzu: „Ja, natürlich! Meine Nichte kam doch damals gerade zu mir. Sie müssen ihr begegnet sein. Mein Gott! Und sie ist ein so scharfäugiges Mädchen! Ausgesprochen scharfäugig!“ Dieses scharfäugige Mädchen war – Lara Koshewa. An diesem Tag aber befand sie sich nicht in der Stadt. Abends schaute Kutschanski wieder bei den beiden Freunden vorbei. Der junge Gehilfe des Staatsanwalts hatte sich unmerklich mit den Kollegen aus Moskau angefreundet. Sie tranken starken, von Vitali aufgebrühten Tee. Kutschanski machte sich über die beiden lustig: „Jetzt haben wir schon zwei Geschädigte. Einen Geschlagenen und einen Gebissenen. Passen Sie bloß auf, Igor Wassiljewitsch, daß Sie nicht selbst noch zu beißen anfangen.“ „Das werde ich auch bald tun“, erwiderte Igor brum270
mig. „Diesem Rewenko wäre ich am liebsten an die Kehle gesprungen, Ehrenwort. Soweit hat er mich gebracht. Und zu allem Überfluß schiebt dieser Schuft auch noch alles auf die Liebe.“ Vitali meinte traurig: „Ach, wenn Sie wüßten, was für ein Mensch Shenja war …“ „Das wissen wir“, erklärte Igor. „Jetzt wissen wir schon, wie er war.“ Dann fügte er, scheinbar ohne jeden Zusammenhang, hinzu: „Morgen holen wir uns diese Lara her. Vielleicht erkennt sie Anaschin wieder.“ „Und dann?“ fragte Vitali aufhorchend. „Dann werden wir erleben, wie sie anfangen zu reden: Anaschin, Rewenko und auch Nossow.“ Vitali seufzte. „Was ist mit Nossow?“ fragte Kutschanski und spazierte durchs Zimmer. „Der wurde heute verhaftet“, erwiderte Igor. „Und nicht nur wegen der anonymen Briefe. Er ist Anaschins direkter Mittäter beim Überfall auf Bulawkin. Er ist der Anstifter, und er hat auch den Wagen aus dem Werk gestohlen. Wenn Sie sich erinnern, haben Sie den Haftbefehl schon vor drei Tagen unterschrieben.“ „Jetzt würde ich ihn mit noch größerer Überzeugung unterschreiben“, entgegnete Kutschanski. „Das ist eine notwendige und gerechte Maßnahme. Damals aber war es doch ein bißchen voreilig. Sie haben gut daran getan, ihn nicht gleich zu verhaften.“ Vitali blickte Kutschanski voller Sympathie an. „Was haben Sie morgen vor?“ fragte Kutschanski, der seinen Spaziergang durchs Zimmer wieder aufnahm. Igor schob sein leeres Glas zurück. „Ich sagte es bereits“, erwiderte er. „Einen neuen Versuch, Anaschin zu identifizieren. Dann ein Verhör des Anführers Rewenko auf Grund der neuen Informationen in bezug auf Bulawkin. Und ein Verhör Nossows, ebenfalls dazu. Wollen Sie daran teilnehmen?“ 271
„Ja. Besonders am Verhör Rewenkos. Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß es ohne ihn nicht gegangen wäre. Das Verhör aber muß einer von Ihnen vornehmen. Saweljew ist überlastet.“ Morgens, beim Frühstück, erörterten sie, wer von ihnen Rewenko vernehmen sollte. „Du hast dir’s mit ihm schon verdorben“, sagte Vitali. „Jetzt kriegst du keinen Kontakt mehr zu ihm und wirst ihm kein Geständnis entlocken. Laß mich das machen.“ „Dafür kenne ich ihn.“ Igor schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich weiß, was er für ein Mensch ist. Das ist auch nicht zu verachten. Ach, hol’s der Teufel!“ setzte er ärgerlich hinzu. „Ordentliche Leute nehmen am Sonnabend ein Bad, wir aber …“ „Wir waschen uns, wenn wir wieder in Moskau sind“, erwiderte Vitali spöttisch. „Nur schade, daß ich mir den Anzug verdorben habe.“ „Du sei lieber still“, meinte Igor seufzend. „Dich haben wenigstens keine Hunde gebissen.“ Zu guter Letzt, schon auf dem Weg zur Stadtabteilung, entschieden sie, daß doch Igor Rewenko vernehmen sollte. Nach Tschudilowka wurde unverzüglich ein Wagen geschickt, der Lara Koshewa holen sollte. Als Rewenko zur Vernehmung erschien, war er äußerlich völlig ruhig. Er trug noch immer denselben, nun allerdings schon ziemlich mitgenommenen Anzug. Sein Schlips war zur Seite gerutscht, und rötliche Bartstoppeln bedeckten die dicken Wangen. Er ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und fragte feindselig: „Was wollen Sie noch von mir? Ich sage Ihnen doch, daß ich nichts unterschreiben werde.“ Seine kurzen, mit goldenem Flaum bedeckten Finger krallten sich bald ineinander, bald löste sich ihr Griff, und schließlich steckte er die Hände in die Taschen seines 272
Sakkos. Gewöhnlich halfen sie ihm beim Sprechen, jetzt aber hatte Rewenko nicht die Absicht zu sprechen … Igor erwiderte ruhig: „Heute wollen wir uns um die Klärung einer ganz anderen Frage bemühen.“ „Wir?“ fragte Rewenko ironisch zurück. „Ich persönlich habe nicht die Absicht, irgendwelche Fragen mit Ihnen zu klären. Ich werde mich beim Staatsanwalt über Sie beschweren.“ Seine letzten Worte hörte der gerade ins Zimmer tretende Kutschanski. Während er Rewenkos forschenden, wachsamen Blick auf sich spürte, ließ Kutschanski sich gemächlich auf der Couch nieder und sagte: „Ich bin der Staatsanwalt. Nach der Vernehmung können Sie sich bei mir beschweren.“ „Ausgezeichnet“, erklärte Rewenko kurz und drehte sich zu Igor um. „Also, ich höre.“ „Werden Sie meine Fragen beantworten?“ „Nur, wenn es sich nicht wieder um eine Provokation handelt.“ Igor hielt den Atem an und versuchte bis zehn zu zählen. Es war doch gut, daß er diese Vernehmung übernommen hatte. Vitali wäre jetzt aus der Haut gefahren! „Ich möchte“, sagte er mit ruhiger Stimme, „einige Umstände klären, die den Kraftfahrer Bulawkin betreffen.“ „Bitte“, entgegnete Rewenko mit unerwarteter Bereitwilligkeit. „Soviel Sie wollen.“ Igor kam es sogar so vor, als hätte Rewenko einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, und das war äußerst merkwürdig. Trotzdem fragte er so gleichgültig wie möglich: „Was für einen Dienstreiseauftrag haben Sie Bulawkin ausgestellt?“ „Er sollte zum Tschechowsker Werk fahren und einen Lastwagen mit Platten zu uns bringen. Der dortige Kraftfahrer war erkrankt“, erwiderte Rewenko ohne das geringste Zögern. 273
„Wann sollte Bulawkin abfahren?“ Rewenko überlegte einen Augenblick und entgegnete diesmal so langsam, als horche er seinen eigenen Worten nach: „Am Morgen des Fünfundzwanzigsten, einem Donnerstag, wenn ich mich nicht irre. So lautete auch sein Dienstreiseauftrag.“ „Haben Sie Ihren Entschluß später geändert?“ Rewenko warf Igor einen mißtrauischen Blick zu, dann sah er kurz zu dem etwas abseits sitzenden Kutschanski hinüber und antwortete so hastig, als wäre er auf diese unangenehme Frage gefaßt gewesen: „Ja, ich habe meinen Entschluß geändert. Ich bekam einen Anruf aus dem Tschechowsker Werk …“ „Von dort ist nicht angerufen worden.“ Igor schüttelte den Kopf. „Das haben wir überprüft. Niemand hat angerufen.“ „Na … Das weiß ich nicht mehr so genau. Jedenfalls habe ich meinen Entschluß geändert“, sagte Rewenko gereizt. „Inwiefern geändert?“ „Bulawkin sollte schon am Mittwochabend, das heißt am Vierundzwanzigsten, fahren. Es stellte sich heraus, daß die Platten dringend gebraucht wurden. Obwohl … ich natürlich wußte, daß er zu Ihnen kommen wollte. Aber die Interessen der Produktion machten es erforderlich.“ „Warum waren Sie dann so aufgeregt und verwundert über sein Verschwinden? Sie hatten ihn doch selbst auf die Reise geschickt?“ „Ich war nicht verwundert“, widersprach Rewenko würdevoll. „Ich war, wenn Sie sich zu erinnern geruhen, empört.“ „Na, dann um so mehr: warum?“ „Was heißt ‚warum‘? Weil er den Wagen genommen hatte! Darüber bin ich heute noch empört. Zumal er überhaupt nicht zum Tschechowsker Werk gefahren ist. Das ist doch die Höhe!“ 274
Wieder verblüffte er Igor durch seine Selbstbeherrschung. Diesen kostete es große Mühe, ruhig zu wirken. „Wie sollte Bulawkin denn dorthin kommen?“ fragte er. „Na, mit dem Zug. Womit sonst? Schließlich hätte er nicht mit zwei Fahrzeugen zurückkommen können. Und überhaupt! Wenn Sie mit dem Tschechowsker Werk telefoniert haben, müßten Sie wissen, daß sie unseren Fahrer erwarteten.“ „Ja, sie haben ihn erwartet – das ist richtig. Aber sie haben vergeblich gewartet.“ „Na eben! Und Sie wundern sich, daß ich empört bin!“ „Mit wem sollte Bulawkin dorthin fahren?“ „Allein natürlich.“ „Das klingt alles sehr logisch, Wladimir Jakowlewitsch“, meinte Igor grinsend und legte den Federhalter beiseite. „Aber wie sich herausstellt, ist Bulawkin auf Ihre Anweisung mit dem Wagen gefahren, und zwar zu zweit.“ Rewenko sprang vor Überraschung vom Stuhl. Sein Gesicht lief wieder rot an. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Das ist eine ganz gemeine Lüge! Schon wieder eine Provokation, ja? Aber jetzt ist der Staatsanwalt dabei! Und ich werde beweisen … Ich verlange …!“ Er wandte sich zu Kutschanski um. „Hören Sie? Sehen Sie, was hier vorgeht?“ „Ich sehe es“, erwiderte Kutschanski kalt. „Und das ist kein erfreulicher Anblick. Vielleicht fragen Sie erst einmal, woher diese Informationen stammen, und regen sich hinterher auf?“ „Ja!“ schrie Rewenko und drehte sich wieder zu Igor um. „Woher haben Sie diese Informationen?“ „Von Bulawkin.“ „Was?“ Rewenko war wie vor den Kopf geschlagen. „Sie haben ihn also gefunden?“ „Ja, das haben wir.“ 275
„Dann holen Sie mir den Halunken her!“ Rewenko lief wieder rot an. „Ich verlange … eine … Gegenüberstellung! Das ist eine Lüge, verstehen Sie?“ Er regte sich so auf, daß Igor für einen Moment sogar an Bulawkins Worten zweifelte. Aber er verjagte diesen Zweifel sofort wieder. Rewenko wußte natürlich, was Bulawkin zugestoßen war, und glaubte, daß es keine Gegenüberstellung geben konnte. Deshalb sagte Igor ganz ruhig und ernst: „Haben Sie gehört, was Bulawkin damals in Ihrem Vorzimmer zu uns sagte?“ „Nehmen wir mal an, ich hätte es gehört.“ „Er sagte, daß er uns etwas mitzuteilen habe, was außer ihm niemand wisse. Hängt also Ihr Entschluß, ihn an jenem Abend fortzuschicken, mit dem Wunsch zusammen, sein Zusammentreffen mit uns zu verhindern?“ „Nehmen wir’s mal an, aber …“ „Wußten Sie, was er uns mitteilen wollte?“ „Nein, das wußte ich nicht. Aber … ich hatte tatsächlich Angst.“ Die letzten Worte sprach Rewenko leise, aber fest aus. „So. Das ist sehr wichtig“, bemerkte Igor. „Daraus ergibt sich …“ „Daraus ergibt sich gar nichts“, widersprach Rewenko entschieden. „Ich habe weder eine Anweisung hinsichtlich des Wagens noch hinsichtlich einer zweiten Person erteilt. Ich wiederhole: Das ist eine Lüge. Das wiederhole ich in Gegenwart des Staatsanwalts.“ Sein Ton war jetzt ruhig und leidenschaftslos. Und was Igor besonders erstaunte: Aus seiner Stimme sprach eine geradezu unerschütterliche Sicherheit. „Gut“, stimmte Igor zu. „Dann sagen Sie mir: Wie haben Sie Bulawkin an jenem Abend Ihre Anweisung übermittelt?“ Rewenko dachte einen Augenblick nach. „Über Wassili Nossow, einen Meister aus unserem Werk. Übrigens“ – er grinste – „kennen Sie ihn ja schon.“ 276
„Ja, wir kennen ihn. Also, Nossow streitet seine Beteiligung an dieser Episode generell ab. Er behauptet, Bulawkin an jenem Abend zufällig getroffen zu haben. Bulawkin habe ihn gebeten, uns zu benachrichtigen, daß er nicht kommen könne. Das ist alles.“ „Haben die sich alle gegen mich verschworen?“ Rewenko wollte gerade wieder aus der Haut fahren, nahm sich aber zusammen und sagte mit einem Blick auf Kutschanski schließlich kalt und entschlossen: „Ich verlange auch eine Gegenüberstellung mit Nossow.“ „Das läßt sich einrichten“, erwiderte Igor. „Nossow ist hier. Bulawkin dagegen liegt verletzt im Krankenhaus, und zwar über siebzig Kilometer von hier entfernt.“ „Was sagen Sie da?“ Rewenko schlug die Hände zusammen. Nein, so zu heucheln, sich so zu verstellen war unmöglich. Dieser Rewenko war entweder ein großer Schauspieler, oder … „Sagen Sie“, fragte Igor, „haben Sie Nossow gesagt, warum Sie Bulawkin fortschicken?“ „Ja.“ „Was haben Sie ihm gesagt?“ „Ich habe ihm gesagt, daß Bulawkin etwas weiß. Daß man ihn daran hindern muß, es Ihnen mitzuteilen. Ich meinte … diese unglückseligen Briefe.“ Igor und Kutschanski wechselten unauffällig einen Blick. „Gut“, sagte Igor. „Sie sollen Ihre Gegenüberstellung mit Nossow haben. Aber vorher unterschreiben Sie das Vernehmungsprotokoll.“ „Meinetwegen“, erklärte Rewenko langsam. „Und ich bitte den Genossen Staatsanwalt …“, bei diesem Wort verhaspelte er sich, „bei der Gegenüberstellung anwesend zu sein.“ „Warum nicht?“ stimmte Kutschanski zu. „Aber ich denke, Sie wollten sich beschweren?“ 277
„Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Rewenko ausweichend. „Jetzt werde ich es mir vielleicht überlegen.“ „Sie sollten sich noch einige andere Dinge überlegen“, bemerkte Kutschanski. „Sie sind doch kein eingefleischter Verbrecher, Rewenko, Sie sind zwar ein sehr schlechter und gefährlicher Mensch, aber wie mir scheint, auch klug und willensstark. Wenn Sie noch einmal gründlich nachdenken, in sich gehen und es sich fest vornehmen, könnten Sie noch ein anderer Mensch werden. Davon bin ich überzeugt.“ „Ich werde darüber nachdenken“, versicherte Rewenko noch einmal mit ruhiger, leidenschaftsloser Stimme. „Jetzt werden wir Sie in einen kleinen Nebenraum bringen“, sagte Igor. Er nahm den Hörer ab und rief den Diensthabenden an. Als man Rewenko hinausgeführt hatte, betrat Vitali das Arbeitszimmer. „So, das Mädchen ist da“, teilte er mit. „Wie steht’s bei euch?“ „Bei uns geschehen merkwürdige Dinge“, meinte Igor schmunzelnd und blickte Kutschanski an. „Finden Sie nicht auch, Andrej Michailowitsch?“ „Tja.“ Der schüttelte den Kopf. „Also erzähl schon, zum Teufel!“ rief Vitali ungeduldig aus. Igor hatte seine Erzählung noch nicht beendet, als der Diensthabende meldete, daß Nossow aus dem Gefängnis eingetroffen sei. „Man soll ihn zu uns bringen“, ordnete Igor an und fügte, an Vitali gewandt, hinzu: „Die Identifizierung kommt später dran. Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“ Man brachte Nossow herein. Er trug ein altes braunes Jackett über dem blauen, 278
seidenen Polohemd und alte, ziemlich abgetragene Schuhe. Seine langen Arme hatte er auf den Rücken gelegt. Das fleischige, finstere Gesicht war ruhig. Offensichtlich hatte er sich mit seiner Festnahme abgefunden. „Setzen Sie sich, Nossow“, sagte Igor. „Und denken Sie daran, daß der Staatsanwalt anwesend ist.“ Er wies auf Kutschanski. „Was geht mich das an?“ erwiderte Nossow in rüdem Ton, wahrend er sich auf einem Stuhl niederließ. „Ich habe alles erzählt, wie es war. Von mir aus kann sonstwer hier sitzen.“ Man merkte jedoch, daß die Anwesenheit des Staatsanwalts ihn trotzdem beeindruckte. „Sie werden das alles jetzt bei einer Gegenüberstellung bestätigen.“ Igor wandte sich zu Vitali um. „Führen Sie Rewenko herein.“ Nossow warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, wandte aber stumm wieder die Augen ab. Das war eine merkwürdige Gegenüberstellung. Mit Igors Erlaubnis stellte Rewenko Nossow die erste Frage. Sie saßen einander neben dem Schreibtisch gegenüber, nur durch ein kleines Tischchen voneinander getrennt – der dicke, schlaffe, nun aber konzentrierte und energiegeladene Rewenko und der kraftvolle, stämmige, aber verlegene und bedrückte Nossow. „Beantworte mir eine Frage, Waska“, sagte Rewenko nervös. „Welche Anweisung habe ich dir am Abend des Vierundzwanzigsten hinsichtlich Bulawkins erteilt? Antworte exakt!“ „Das wissen Sie doch selbst“, murmelte Nossow finster, mit zu Boden gesenktem Blick. „Antworte. Antworte ehrlich.“ Rewenko schien vergessen zu haben, daß er sich nicht im Werk befand und daß Nossow bereits nicht mehr sein Untergebener war. 279
Bei Nossows ersten Worten fuhr Vitali zusammen. Er erkannte die Stimme wieder. Von nun an blickte er Nossow starr und unverwandt an. „Was gibt’s da zu antworten?“ fragte Nossow abgehackt. „Sie sagten, er soll fahren, und Schluß. Hab’s ihm übermittelt.“ „Hast du ihm den Dienstreiseauftrag gegeben?“ „Ja, habe ich.“ „Für wie viele Personen war der Auftrag ausgestellt? Du hast ihn in meiner Gegenwart durchgelesen. Antworte!“ „Nur für ihn.“ „Wie konntest du es wagen, zwei Personen zu schicken?“ Nossow schrak zusammen und blickte Rewenko verdrießlich an. „Antworten Sie, Nossow“, sagte Igor. „Ich … habe keinen geschickt … Anaschin … hat sich selbst aufgedrängt. Er wollte zu seinem Bruder.“ „Das stimmt nicht, Nossow.“ Igor schüttelte den Kopf. „Bulawkin sagt, daß …“ Er hielt inne, als er sah, wie Nossow erbleichte, wie dessen behaarte Brust plötzlich schwer atmete, so daß das dunkelblaue Polohemd fast zu zerreißen schien. „Was?“ krächzte Nossow. „Was?“ Er keuchte. Rewenko schwieg verblüfft. „Bulawkin lebt“, sagte Igor langsam und kalt. „Er lebt, Nossow. Und er hat ausgesagt.“ „Ich weiß nichts! Gar nichts!“ krächzte Nossow weiter, ohne den Kopf zu heben. „Ich habe ihn nicht angerührt!“ „Das wissen wir“, bestätigte Igor ebenso kalt. „Anaschin hat das übernommen. Und zwar mit dem Messer.“ „Ich weiß von nichts.“ Mittlerweile kam Rewenko zu sich. Seine Wangen erbleichten ebenfalls, und sein Blick wurde stechend und böse. 280
„Habe ich erlaubt, den Wagen zu nehmen, Waska?“ fragte er mit kalter Wut. „Antworte!“ „Ich weiß nicht …“ „Was heißt, du weißt nicht?“ Rewenko schien endlich begriffen zu haben, in was er da hineingeraten konnte, und half jetzt nicht nur mit, Nossow zu entlarven, sondern verteidigte sich selbst gegen einen schrecklichen Verdacht. „Na, wird’s bald?“ schrie er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. „Antworte!“ „Ruhig, Rewenko“, sagte Igor streng. Nossow schwieg hartnäckig, mit gesenktem Kopf. „So, Waska“, erklärte Rewenko langsam und bitter. „Willst mich also ans Messer liefern. Dabei verdankst du mir eine Menge. Stimmt’s? Den Anaschin, dieses Stück Dreck aber … den verteidigst du. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Mich und auch dich selbst richtest du seinetwegen zugrunde. Ist’s nicht so?“ Nossow hob den Kopf und sah sich mit trüben Blicken im Zimmer um, als könne er nicht begreifen, wohin er geraten war. Dann blieb sein Blick an Rewenko hängen. „Ich … er selbst …“, murmelte Nossow unzusammenhängend. „Er hat ihn selbst rausgefahren … Jegor … hat den Zaun niedergewalzt …“ „Warum hast du Bulawkin zu ihm geführt?“ brüllte Rewenko. Sein dickes Gesicht lief wieder rot an, und die kurzen, rötlichen Finger umklammerten krampfhaft seine runden Knie. „Na ja … damit er … nichts ausplaudert …“, erwiderte Nossow stockend, während er Rewenko wie hypnotisiert in die Augen blickte. Rewenko, der Nossow ebenfalls völlig perplex anstarrte, flüsterte: „Demnach wolltet ihr ihn umbringen, damit er nichts ausplaudert … So ist das demnach?“ 281
Nossow ließ kraftlos den Kopf sinken, seine mächtigen Schultern hingen schlaff herab, und, das Gesicht war kreidebleich. Alle schwiegen. Einen erneuten Versuch, Anaschin zu identifizieren, nahmen sie erst zwei Stunden später vor. Es war offensichtlich, daß Rewenko und Nossow Bulawkin auf verschiedene Art fürchteten. Was Rewenko befürchtete, war klar. Was aber befürchteten Nossow und natürlich auch Anaschin, ja, ganz besonders Anaschin? Nach der Gegenüberstellung befand Nossow sich in einem Zustand, daß an eine sofortige Vernehmung nicht zu denken war. Dem schläfrigen, phlegmatischen und durch nichts zu erschütternden Nossow schien es endgültig die Sprache verschlagen zu haben. Er stieß nur noch unartikulierte Laute aus, schüttelte den Kopf und sah sich gehetzt um, wobei er sich überraschend bald nach der einen, bald nach der anderen Seite umdrehte, als befürchte er, hinterrücks überfallen zu werden. Dabei nahm sein fleischiges, blasses Gesicht einen so ratloserschreckten Ausdruck an, daß man glauben konnte, er habe zusammen mit der Sprache auch den Verstand verloren. Vitali kam sogar der Gedanke, daß es sich als nötig erweisen könnte, ein psychiatrisches Gutachten anfertigen zu lassen. Diesen Gedanken äußerte er auch gegenüber Igor und Kutschanski, als sie allein geblieben waren. „Der beruhigt sich wieder“, meinte Igor achselzuckend. „Das ist bloß alles ein bißchen unerwartet auf ihn eingestürmt. Laß uns lieber überlegen, warum sie Bulawkin beseitigen wollten. Was hat er ihnen, besonders Anaschin, getan?“ „Den hat Bulawkin doch so gut wie gar nicht gekannt“, sagte Vitali kopfschüttelnd, „irgend etwas stimmt da nicht.“ 282
„Auch mit Nossow ist Bulawkin anscheinend nie aneinandergeraten?“ fragte Kutschanski. „Nein“, bestätigte Igor. „Um so merkwürdiger ist das alles.“ „Außerdem“, fuhr Kutschanski fort, „hätte Bulawkin, wenn er etwas wüßte, es uns gesagt. Denn dieses ‚Etwas‘ muß doch sehr wichtig sein, wenn sie dafür bereit waren, einen Menschen umzubringen.“ „Natürlich“, bestätigte Igor noch einmal. „Bulawkin hat auch etwas sehr Wichtiges gesagt“, meinte Vitali nachdenklich. „Er erinnerte sich an Lutschinins Worte: ‚Ich werde kämpfen‘ und ‚Ich fahre zum Angeln‘.“ Die drei blickten sich schweigend an. … Gegen Abend traf endlich Saweljew ein. „Nun wollen wir die Identifizierung vornehmen“, schlug er ganz außer Atem vor. Wieder wurden vier junge, einander auf den ersten Blick sehr ähnliche schwarzhaarige Männer an der Wand des Arbeitszimmers aufgereiht. Anaschin war wie beim letzten Mal der zweite von rechts. Er stand ruhig da, und seine Lippen grinsten spöttisch. Lara Koshewa betrat den Raum. Das Mädchen stockte an der Schwelle und betrachtete verwirrt das Zimmer mit den darin befindlichen Leuten. Saweljew wollte sie gerade an ihre Verantwortung erinnern, als Lara plötzlich leise aufschrie, die Hand an den Mund preßte und, mit der anderen Hand auf Anaschin weisend, mit überkippender Stimme ausrief: „Das ist er! – Der da ging vorbei!“ „Beruhigen Sie sich, und sehen Sie noch einmal genau hin“, sagte Saweljew und gab sich alle Mühe, sich durch seine Stimme nicht zu verraten. „Treten Sie näher heran, und sehen Sie sich die Leute noch einmal gründlich an. Erkennen Sie denjenigen …“ Das Mädchen stürzte vor, machte ein paar Schritte 283
auf Anaschin zu und sagte voller Haß: „Das ist er. Er blieb noch mit der Angel an mir hängen und fluchte: ‚Ach, hol dich dieser und jener!‘ Der andere Mann aber wies ihn zurecht und sagte: ‚Entschuldigen Sie, Fräulein.‘ Ich erinnere mich noch sehr genau … Ja, ganz genau. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“ Sie wandte sich zu Vitali um. „Dumme Gans!“ preßte Anaschin durch die Zähne. „Mach die Augen auf … .“ „Schweigen Sie“, fuhr Saweljew ihn an. Dann füllte er das Protokoll aus. Das Mädchen ging zu der Couch, auf der konzentriert und ernst Vitali, Kutschanski und zwei andere Männer saßen – Bewohner des Nachbarhauses, die man als Zeugen dazugeholt hatte. Einer von ihnen stand auf und bot Lara seinen Platz an. Sie aber winkte schluchzend ab und kramte hastig ihr Tüchlein aus der Tasche. Anschließend fuhr Vitali zu Frau Lutschinina. „Ja“, sagte Olga Andrejewna. „Genauso war es an jenem Abend. Er nahm nur eine Angel mit und sagte, er müsse nachdenken. Mir aber kam es so vor …“ „Das ist jetzt unerheblich“, unterbrach Vitali sie sanft. „Das wichtigste sind jetzt die Fakten. Sonst hat er nichts gesagt?“ „Nein.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Wir haben in den letzten Tagen kaum miteinander gesprochen.“ „Womit war er bekleidet, als er losging?“ „Er trug einen braunen Regenmantel der Marke ‚Bologna‘. Eine Schirmmütze … Ich habe vergessen, welche Mütze“, sagte sie plötzlich verzweifelt. „Unwichtig. Was noch?“ „Was noch?“ wiederholte Frau Lutschinina. „Stiefel.“ „Die Stiefel stehen doch in der Diele?“ „Das sind andere.“ „Um wieviel Uhr ging er fort?“ 284
„Es dämmerte schon. Wahrscheinlich so gegen neun oder zehn.“ „Und wann war er von der Arbeit heimgekehrt?“ „Gegen sieben. Das war für ihn sehr früh. Aber es war ein Freitag. Darum.“ „Haben Sie zufällig bemerkt, ob er mit dem Wagen oder zu Fuß gekommen ist?“ „Doch. Ich stand auf dem Balkon und … wartete auf ihn.“ Olga Andrejewna schluckte. „Er ist mit dem Wagen gekommen“, fuhr Frau Lutschinina leise fort, während sie die Falten der Tischdecke glättete. „Dieser Bengel hat ihn hergefahren …“ Sie biß sich auf die Lippe. „Danke, Olga Andrejewna“, sagte Vitali ebenso leise. „Das ist alles. Ich gehe dann. Bemühen Sie sich nicht.“ Sie brachte ihn jedoch zur Tür. Der nächste Tag war ein Sonntag. „Ich habe eine Idee“, sagte Vitali beim Frühstück. „Wir könnten an den Fluß gehen, zur Brücke.“ Verträumt in die Ferne blickend, fügte er hinzu: „Wenn Shenja dorthin gegangen ist, muß man da gut nachdenken können.“ „Genehmigt“, meinte Igor. Sie betraten die sonnenüberflutete, aber noch morgendlich kühle und menschenleere Straße. Auf dem öden kleinen Platz vor der Stadtabteilung grüßte der diensthabende Milizionär die beiden Freunde. Anscheinend hatte er sie wiedererkannt. Dann überholte sie ein neuer weißer Moskwitsch. Unmerklich stieg die Straße an. Die Freunde schritten schweigend aus. Jeder wußte, woran der andere dachte. In ihren weißen Hemden ohne Krawatten waren sie einander merkwürdig ähnlich – der große, schlanke, hellhaarige Vitali und der untersetzte, brünette, bedächtige Igor, Oberleutnant und Hauptmann, 285
operative Mitarbeiter der Miliz, Ermittlungsbeamte, wie man früher gesagt hätte. Wenn man die beiden so sah, hätte man ihren Beruf schwerlich erraten können. Ingenieure, Sportler, Journalisten – das ja, aber Kriminalisten … Der Fluß tauchte unerwartet vor ihnen auf – breit, ruhig, in der Sonne funkelnd. Mehrere Pfade schlängelten sich den breiten Hang zu ihm hinab. Neben dem dichten Weidengebüsch am Ufer stand der weiße Moskwitsch. Von dorther, aus dem Fluß, hörte man Rufe, Lachen und das Plätschern von Wasser. Vitali und Igor liefen den Hang hinunter und gingen an dichtem Weidengestrüpp und Buschwerk entlang. „Die Leute baden jetzt“, sagte Vitali neidisch, als sie den Wagen erreichten. „Die haben’s gut …“ Die dunkle alte Brücke lag verlassen und still da. Unter ihr rauschte kaum hörbar das Wasser, und durch seine durchsichtige, leicht gesprenkelte Oberfläche erblickte man in der Tiefe den Grund, die mächtigen, von der Sonne erhellten Steine und die Schwärme winziger Fische dazwischen. „Die Strömung ist hier ziemlich stark“, bemerkte Vitali, der sich aufs Geländer lehnte und in das unter der Brücke wirbelnde Wasser schaute. „Ja, der Fluß hat’s in sich“, bestätigte Igor nickend. „Über die Brücke ging Shenja allein“, sagte Vitali nachdenklich. „Das steht fest. Wo aber war Anaschin abgeblieben?“ „Tja“, murmelte Igor unbestimmt. Er beugte sich noch weiter über das Geländer und betrachtete eingehend die nassen, schwarzen, mit Moos bewachsenen Brückenpfeiler. „Und überhaupt“, setzte Vitali seine Überlegungen fort, „wozu brauchte er diesen Anaschin? Das ist mir unbegreiflich … Wenn er angeln wollte, hätte er nach Posharowo fahren müssen. Was gibt’s hier schon zu angeln? Und was hatte Anaschin hier verloren …?“ 286
Während Vitali seinen Gedanken nachhing, kletterte Igor übers Geländer und baumelte, sich mit den Händen am Brückenbelag festhaltend, über dem Fluß, umklammerte dann mit den Beinen geschickt einen der dicken Pfeiler und glitt an ihm fast bis ans Wasser hinab. „Was machst du denn da?“ fragte Vitali erstaunt und beugte sich übers Geländer. „Hier war ein Boot mit einer Kette festgemacht“, erwiderte Igor dumpf, während er den gegenüberliegenden Pfeiler aufmerksam betrachtete. „Es wurde von der Strömung hin und her geschleudert …“ „Mit einer Kette? Sag bloß …“ Vitali stieg ebenfalls hinab. Als sie wieder auf der Brücke standen, fragte Vitali leicht außer Atem: „Was meinst du: Kann ein Sachverständiger feststellen, ob es sich um dieselbe Kette handelt? Die Abdrücke sind ja deutlich zu erkennen.“ „Man muß es jedenfalls versuchen“, entgegnete Igor bedächtig. „Ich meine, das müßte möglich sein. Zuerst aber sollten wir nach Posharowo fahren. Jetzt gleich. Das ist sowieso überfällig.“ „Und das Papierchen?“ „Das holen wir uns vom Genossen Staatsanwalt“, meinte Igor grinsend. „Die sachverständige Genossin müssen wir ebenfalls behelligen. Wie heißt sie doch gleich?“ „Oxana Wladimirowna. Hauptmann der Miliz und ehrwürdige Familienmutter. Es ist direkt unangenehm, sie am Sonntag zu stören.“ „Macht nichts. Im Moment ist ihre zweite Eigenschaft weniger wichtig als die erste. Die Ärmste wird da einiges gewohnt sein. Komm!“ „Gehen wir“, stimmte Vitali energisch zu. „Uglow werden wir auch mitnehmen müssen. Zeugen finden wir im Ort. Was aber machen wir damit?“ Er schielte nach dem sie interessierenden Brückenpfeiler. „Wenn man den absägt …“ 287
„Bist du verrückt?“ fragte Igor ärgerlich. „Die Sachverständigen werden ihn sich an Ort und Stelle ansehen müssen.“ „Morgen blasen wir zur Schlacht.“ Vitali grinste. Beinahe im Laufschritt kehrten sie in die Stadt zurück. … Die Schlacht begann jedoch erst zwei Tage später. Eigentlich war es gar keine Schlacht. Wie Vitali hinterher sagte, „lassen solche Schlachten sich nicht einplanen, sie entgleiten einem und warten auf ihre Stunde“. Gemeinsam betraten sie Kutschanskis Arbeitszimmer: Igor, Vitali und Tomilin. Außer Kutschanski war noch keiner da. Kutschanski drückte jedem die Hand und sagte: „Setzen Sie sich. Wir werden eine kleine Beratung abhalten. Die Sache ist ernst. Gleich kommen noch …“ Kutschanski kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Laut und ungeniert trat Raskatow wie ein Hausherr ein, und Saweljew folgte ihm auf dem Fuße. „Guten Tag, Genossen“, sagte Raskatow mit schallender Stimme, schüttelte allen die Hand und ließ sich ächzend auf der Couch nieder. „Was ist, fangen wir an, Andrej Michailowitsch?“ „Sofort“, erwiderte Kutschanski und griff zum Telefon. Als letzter traf Rogowizyn ein, genauer gesagt, er glitt unhörbar durch die Tür, so daß Vitali ihn im ersten Moment gar nicht bemerkte. „Guten Tag, verehrter Kollege“, sagte Rogowizyn direkt über seinem Ohr und reichte ihm seine knochige kleine Hand. Dabei lächelte er jedoch nicht. In seinem schmalen, runzligen Gesicht mit den eingefallenen Wangen waren keine einzelnen Züge zu unterscheiden, nur die Brillengläser in der dicken Fassung funkelten, und es war unmöglich, den Ausdruck seiner Augen darunter zu erken288
nen. Dann huschte die schmächtige Gestalt in dem grauen Anzug vorbei, und Rogowizyn ließ sich auf einem Stuhl im Winkel des Arbeitszimmers nieder. „Fangen wir an“, sagte Kutschanski, zu Igor gewandt. „Bitte, Genosse Otkalenko, legen Sie uns das Material zu dem Fall dar.“ Igor erhob sich, die Mappe mit den Papieren in der Hand. Er sprach langsam und bedächtig, jedes einzelne Wort abwägend. „… Hier die Ergebnisse der letzten Gutachten“, erklärte er schließlich. „Eins davon betrifft die Flecken im Boot, ein anderes die Flecken in der Kleidung des Verdächtigen, die im Haus seines Bruders in Posharowo beschlagnahmt wurde. Die Begutachtung der letzteren erwies sich als sehr kompliziert. Die Flecken waren sorgfältig ausgewaschen worden. Bei der Behandlung mit Luminal begannen sie jedoch im Dunkeln stark zu leuchten.“ Igor legte die Gutachten vor Kutschanski auf den Tisch und fuhr, in den Papieren blätternd, fort: „Hier das Protokoll der Identifizierung und das Protokoll der neuerlichen Vernehmung Nossows. Dann das spurenkundliche Gutachten über die von der Bootskette hinterlassenen Kratzer. Auch hier haben die Sachverständigen anerkennenswerterweise eine beachtliche Arbeit geleistet.“ „Was würden wir ohne sie überhaupt anfangen?“ warf Vitali ein. „Keinen Schritt könnte man ohne sie tun. So liegen die Dinge“, fügte Raskatow mit einer Betonung hinzu, als mache er jemandem einen Vorwurf. „Ihre Schlußfolgerungen sind klar“, sagte Kutschanski. „Und Ihre Forderung auch. Was sagen Sie, Pawel Iossifowitsch?“ Rogowizyn rieb sich das große, runzlige Kinn und sagte ruhig, ja fast spöttisch: „Diesmal haben unsere 289
jungen Kollegen uns nicht nur Gefühle und Erinnerungen aufgetischt, sondern Fakten. Dazu gratuliere ich Ihnen. Eine gewisse Voreiligkeit einzelner Schlußfolgerungen werden wir, wie ich hoffe, im Verlauf der Untersuchung ausbügeln. Ihre Version …“ „Das ist, entschuldigen Sie schon, keine Version mehr“, bemerkte Vitali scharf. „Ihre Version“, wiederholte Rogowizyn mit unbeteiligter Stimme, „ist einigermaßen erfolgversprechend. Endgültige Schlußfolgerungen aber sollte man erfahrungsgemäß nicht zu früh ziehen. An der Sache muß noch gearbeitet werden.“ „Halten Sie es für möglich, die Forderung der Genossen zu erfüllen?“ fragte Kutschanski. „Ich wiederhole: An der Sache muß noch gearbeitet werden. Leider …“ „Leider“, fuhr Kutschanski dazwischen, „hat Pawel Iossifowitsch im Moment sehr viele Fälle am Hals. Und deshalb“ – er wandte sich zu Igor um – „mußten wir diesen Fall einem anderen Untersuchungsführer übergeben.“ Offensichtlich war das keineswegs das, was Rogowizyn hatte sagen wollen, denn er senkte mit einem Ruck den Kopf und blickte Kutschanski über den Brillenrand hinweg an. Seine schmalen Lippen bildeten einen Strich, und er preßte kühl durch die Zähne: „Wie Sie wünschen.“ „Ihrem Vorschlag aber“, fuhr Kutschanski fort, als wäre nichts geschehen, „sollte man, meine ich, zustimmen. Ihre Ansicht, Juri?“ Er blickte Saweljew an. „Ja, unbedingt.“ Saweljew nickte. „Professor Otschakow ist am Sonnabend zurückgekehrt“, sagte Tomilin. „Und er ist einverstanden.“ „Na, großartig“, erwiderte Kutschanski. „Morgen nehmen wir die Exhumierung vor und lassen ein neues medizinisches Gutachten anfertigen.“ Er wandte sich 290
wieder Saweljew zu. „Wie würden Sie die Frage formulieren?“ „Weist Lutschinins Körper ihm zu Lebzeiten zugefügte Verletzungen auf, die zum Tode geführt haben können?“ sagte Saweljew ernst. „Einverstanden.“ Kutschanski schlug leicht mit beiden Handflächen auf den Tisch. „Ich denke, das ist alles, Genossen.“ Vitali und Igor traten als erste auf die Straße hinaus. Bald darauf gesellten sich Raskatow und Tomilin zu ihnen. Sie begaben sich gemeinsam zur Stadtabteilung. „Ach“, seufzte Vitali. „Wenn dieser Professor wenigstens zehn Jahre jünger wäre. Dreiundsiebzig Jahre sind schließlich kein Pappenstiel …“ Alle schwiegen. Nur Raskatow lächelte vielsagend. Am nächsten Tag begab sich Vitali am späten Nachmittag, gegen siebzehn Uhr ins Medizinische Institut. Vor ein bis eineinhalb Stunden erst hatte man von dort angerufen und mitgeteilt, daß das Gutachten fertig sei und abgeholt werden könne, und zwar beim Professor persönlich. Das lasse er ausrichten. Es wurde beschlossen, Vitali zum Professor zu schicken. Er war an diesem Tag nervöser als alle anderen. Außerdem würde er, wie Raskatow meinte, im Institut den besten Eindruck machen. „Er ist den Umgang mit wissenschaftlichen Größen gewohnt“, sagte er grinsend. „Schließlich ist sein Vater auch Professor.“ Und nun verließ Vitali mit kaum gezügelter Erregung das Hotel und stieg in den auf ihn wartenden Wagen. Die langen, hallenden Institutskorridore, die bunten Streifen der Wandzeitungen, die endlosen Aushänge und Listen an den Wänden, die vorüberhuschenden weißen Kittel, der scharfe Geruch nach Terpentin, Spiritus und Medikamenten, der ihm aus den Labors entgegenschlug – all das glitt an Vitalis Bewußtsein vorbei, während er erkundete, wo Professor Otschakow zu fin291
den sei. Endlich stand er vor der hohen, weißen Lehrstuhltür, an der ein blaues Täfelchen mit dem Namen des Professors angebracht war. Vitali blieb einen Augenblick mit angehaltenem Atem davor stehen. Professor Otschakow war ein großer Mann mit rotem Gesicht und einem grauen Kosakenschnurrbart. Er glich einem Recken aus der Sage, dem man einen weißen Kittel verpaßt und eine weiße Mütze übergestülpt hatte. Als er Vitali begrüßte, hallte seine dröhnende Stimme durch das geräumige Kabinett. Dabei drückte Professor Otschakow ihm so kräftig die Hand, daß Vitali dachte: Mein Gott, was muß das vor zehn Jahren für ein Mann gewesen sein! Noch überwältigender aber war der Eindruck des Gutachtens, das der Professor ihm aushändigte: „Eine zu Lebzeiten zugefügte Schädelverletzung mit unvermeidlichem letalem Ausgang … Die Verletzung wurde durch ein spitzwinkliges, metallisches Instrument verursacht, das auf Grund seiner Spezifik und der Wunde selbst identifiziert werden kann.“ „Ja, so sieht’s aus, mein Lieber“, meinte Professor Otschakow dröhnend, während er Vitali mit seiner mächtigen, vom Spiritus rauhen Pranke auf die Schulter klopfte. „Da staunen Sie, was? Wenn Sie mir das Mordinstrument bringen, identifiziere ich es Ihnen. Es muß etwa so aussehen. Gib mir mal ein Stück Papier“, wandte er sich an einen seiner Mitarbeiter. Professor Otschakows ungewohnt dröhnende Baßstimme betäubte Vitali geradezu. „Und ich habe diesen Burschen gekannt, mein Lieber“, fuhr Professor Otschakow fort. „Oho! Das war ein Kerl! Hier aber, mein Lieber, handelt es sich um Mord.“ Wie vor den Kopf geschlagen, kehrte Vitali in die Stadtabteilung zurück und stieg die Treppe zu Tomilins Arbeitszimmer hinauf. Dort kam er allmählich zu sich und reichte Igor das Gutachten. 292
„Also, der Professor …“, hauchte er. „Das ist ein …“ Da er keine Worte fand, breitete er nur begeistert die Arme aus. Anaschin wurde erst am nächsten Tag verhört. Inzwischen hatte Vitali noch zweimal Professor Otschakow aufgesucht. Das Verhör nahm Vitali gemeinsam mit dem Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft Saweljew vor, der diesen Fall auch abschließen sollte. „Also, Jegor“, sagte Vitali kalt und streng und sogar ein wenig matt – so viel Kraft hatte es ihn gekostet, seine Gefühle zum Schweigen zu bringen –, „hör mir gut zu und versuche dein Los zu erleichtern, soweit es noch möglich ist.“ In Vitalis Stimme schien etwas mitzuschwingen, was das Grinsen, mit dem Anaschin eingetreten war, im Nu von dessen Gesicht vertrieb. Unsicher sagte er: „Na, leg schon los, Chef. Aber gib mir erst mal was zu rauchen.“ Vitali schob ihm die Zigaretten hinüber. „Jetzt wirst du selbst loslegen, und zwar ohne etwas zu verschweigen“, forderte er Anaschin auf. „Und denke daran: Das Gericht weiß ein freimütiges Geständnis zu würdigen. Das ist für dich jetzt sehr wichtig.“ „Ich weiß, ich weiß“, murmelte Anaschin, gierig den Rauch einatmend. „Das kennen wir.“ „Na, dann beantworte meine erste Frage: Hast du Jewgeni Petrowitsch Lutschinin gekannt?“ „Kann mich nicht erinnern.“ „Du kannst dich nicht erinnern? Hier sind die Aussagen von Pelageja Fjodorowna. Du warst zweimal mit ihm dort. Reicht dir das?“ „Ja. Ich habe ihn gekannt.“ „So. Wer hat dich mit ihm bekannt gemacht?“ „Kann mich nicht erinnern.“ „Schon wieder nicht? Gut. Hier sind Nossows Aussagen. Willst du sie lesen?“ 293
„Na klar.“ Anaschin las langsam das Vernehmungsprotokoll durch. „Jetzt fällt’s mir wieder ein. Er hat mich mit ihm bekannt gemacht. Der hat gern geangelt.“ „Aha, das notieren wir gleich mal. Nur dein ‚Kann mich nicht erinnern‘ streichen wir. Das ist nicht gut für dich, Jegor“, warnte Vitali und stellte die nächste Frage: „Habt ihr zu zweit vom Boot aus geangelt?“ „Kann mich nicht erinnern“, wiederholte Anaschin hartnäckig und steckte sich eine neue Zigarette an. „Hier sind Antons Aussagen. Willst du sie lesen?“ „Ja.“ Eine Minute später fügte er hinzu: „Ja, vom Boot aus. Zu zweit.“ Vitali blickte Anaschin scharf an. „Willst du dir weiter jeden Schritt beweisen lassen? Von dir aus legst du kein Geständnis ab?“ „Nein. Beweise mir’s ruhig.“ „Wie du willst. Du mußt es wissen. Aber ich warne dich: Allein auf Grund deiner persönlichen Bekenntnisse wird das Gericht dich nicht verurteilen. Was nötig ist, sind Fakten und Beweise. Aber wenn diese vorhanden sind, brauchst du deine Bekenntnisse dringender als das Gericht. Verstehst du mich?“ „Das kennen wir“, murmelte Anaschin grimmig, ohne den Kopf zu heben und weiter gierig rauchend. „Gut. Am Freitag, dem zwölften Juli, als man dich mit Lutschinin sah, hattest du dir da tagsüber Antons Boot genommen?“ „Kann mich nicht erinnern. Ist schon zu lange her“, meinte Anaschin mit einem nervösen Grinsen. „Hier sind die Aussagen von Anton. Hier die von Pelageja Fjodorowna. Reicht das?“ „Vielleicht hab’ ich’s genommen. Na und?“ „Also, du hast es genommen. Und wohin bist du gerudert?“ „Kann mich nicht erinnern.“ 294
„So …“ Vitali hätte selbst nicht zu sagen vermocht, woher er diese teuflische Geduld nahm. „Du bist in die Stadt gerudert, Jegor. Dort hast du das Boot unter der Brücke mit einer Kette festgemacht. Diese Kette hat Spuren hinterlassen. Hier ist das Gutachten. Und dich hat man an jenem Tag in der Nähe der Brücke im Boot gesehen. Dort haben Leute gebadet. Vielleicht hast du sie auch bemerkt. Am Ufer stand ein weißer Moskwitsch. Die Leute sind zur Brücke geschwommen. Fällt’s dir jetzt wieder ein?“ „Kann mich nicht erinnern.“ Anaschin blickte Vitali, durch den Rauch hindurch blinzelnd, von unten herauf starr und haßerfüllt an. Wachsende Erregung schüttelte ihn. „Ist auch nicht so wichtig“, erwiderte Vitali, Anaschins Blick standhaltend. „Es wird dir schon noch einfallen.“ Anaschin wandte als erster die Augen ab. „Am Abend“, fuhr Vitali fort, „hast du dich mit Lutschinin getroffen. Ihr seid zusammen zum Fluß gegangen …“ „Nein, das sind wir nicht!“ schrie Anaschin, sich aufrichtend. „Es ist dumm, das zu leugnen. Man hat euch gesehen. Du erinnerst dich doch an das Mädchen?“ „Nein, ich … weiß von nichts! Verstanden …? Scher dich zum Teufel!“ Anaschin straffte sich, beugte den Oberkörper vor und umklammerte die Tischkante, als wollte er sich auf Vitali stürzen. Haß schüttelte ihn. Da konnte Vitali nicht länger an sich halten. „Was?“ schrie er. „Willst du über mich herfallen? Willst mich wohl schlagen? So wie Lutschinin? Damit?“ Er zog mit einem Ruck das Schubfach auf und schleuderte einen matt glänzenden Schlagring vor Anaschin auf den Tisch. 295
Anaschin sprang, den Stuhl umkippend, zur Seite. Seine Augen weiteten sich. „An deiner Jacke klebte Blut, verstehst du?“ sagte Vitali mit scharfer Betonung. „Und im Boot auch. Und zwar nicht dein Blut. Und auch nicht das Antons. Es war Lutschinins Blut …“ Anaschin bot einen schrecklichen Anblick. Sein Gesicht war grau geworden. Wieder schob er den Oberkörper vor und schien sich nun tatsächlich auf Vitali stürzen zu wollen. Es schüttelte ihn so, daß man seine Zähne rasch und dumpf aufeinanderschlagen hörte, als zerkleinerten sie etwas. „Zurück, Anaschin!“ schrie Saweljew aufspringend. In diesem Augenblick betrat Raskatow den Raum. Das Auftauchen einer weiteren Person übte eine überraschende Wirkung auf Anaschin aus. In ihm schien plötzlich eine straff gespannte Saite, irgendein wichtiger Nerv, zu zerreißen. Er fiel mit zurückgeworfenem Kopf auf den Stuhl, und sein spitzer Adamsapfel durchbohrte fast die Haut an seiner Kehle. Anaschin starrte an die Decke, als sehe er dort etwas, und schrie lauthals: „Ich hab’s nicht gewollt! Ich hab’s nicht gewollt! Ich wollte ihm nur … einen Denkzettel verpassen! Und da habe ich zugeschlagen! – Zugeschlagen habe ich …“, wiederholte er mit tonloser Stimme. Vor seinen Augen stand plötzlich jene schreckliche, ihn in den Nächten so oft peinigende Minute auf der Brücke über dem dunklen Wasser, in der der hochgewachsene Lutschinin in seinem Regenmantel zornig zu ihm sagte: „Du scheinst schon eine Menge Unheil angerichtet zu haben. Denk nach, denk gut nach, ehe du zu einem reißenden Tier wirst.“ Jegor aber war bereits zu allem entschlossen. Er dachte an Waskas Worte: „Der wird uns eines Tages ans Messer liefern. Er weiß eine Menge von uns.“ An jenem Abend hatte Jegor auf der 296
dunklen Brücke nach dem Schlagring in seiner Tasche getastet. Und geschrien: „Du lügst! Sag, was du weißt! Na, sag’s schon, los!“ Und: „Nimm mich zu dir ins Werk, sonst …“ Da hatte Lutschinin Jegor ins Gesicht geschlagen. Und sich abgewandt. Er war völlig außer sich gewesen. Das war Jegor erst hinterher klargeworden. In jenem Augenblick aber hatte er sich auf Lutschinin gestürzt. Rücklings … Dann hatte er ihn ins Boot geschleppt und ihn mitten auf dem Fluß über Bord geworfen. Raskatow öffnete die Tür zum Korridor, wo die durch Anaschins Geschrei alarmierten Begleitposten standen. „Abführen!“ sagte er im Befehlston. Vitali trat schweigend an den Tisch, nahm den Schlagring in die Hand und betrachtete lange die scharfen Stacheln und die von innen blankpolierten Ringe. „Ein Selbstgemachter“, sagte Saweljew, näher tretend. Vitali hörte jedoch nichts.
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Eva Kačirková Männer sterben nicht für Liebe Kriminalerzählungen Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer erscheint in Ganzleinen mit Schutzumschlag
Leseprobe Todeswechsel Die Musiker hörten einer nach dem anderen auf zu spielen. Am längsten hielt der Pianist aus. Er drehte sich mit seinem Stuhl um, seine Hände erstarrten in der Luft wie über einer unsichtbaren Klaviatur. Die blonde Sängerin unterbrach ihr schmachtendes Gewimmere und kreischte laut auf. Der Mann auf der Treppe bewegte sich. Er hatte schon eine Weile dort gestanden, nur als anonyme Silhouette auf dem Hintergrund des roten Vorhangs erkennbar, der den Eingang zu diesem unterirdischen Nachtlokal verhüllte, und niemand hatte ihn beachtet. Es war nichts Besonderes, daß von Zeit zu Zeit jemand hereinschaute. Übrigens war das Lokal, das aus einigen dicht beieinander stehenden Tischen, einer Bar, einem winzigen Parkett und einer Loge für die Musiker bestand, übersichtlich wie das Stationsverzeichnis einer Drahtseilbahn. Der Mann hatte unhörbar das Parkett betreten. Einige Paare, die gerade eine Pantomime zu einem Thema aus der Intimsphäre vorführten, traten höflich beiseite. Die Höflichkeit galt nicht der jungen, elastischen Gestalt in der Lederjacke, Auch nicht dem weißen Fleck von Gesicht, das bis zur Stirn von einem heruntergezogenen Schlapphut verdeckt war. Zweifellos galt die Ehre einem 299
eleganten Revolver in der leicht erhobenen Hand. Der Mann schritt daher wie ein Wünschelrutengänger und verkörperte auf vollkommene Weise den Sieg der Materie über den Geist. Die breite Schulter an der Bar fuhr zusammen. Ihr Besitzer wandte sich langsam um und zeigte sein Gesicht. In seinen Augen spiegelten sich vergnügter Schrecken, Neugier, Erwartung. Keinesfalls Angst. Die schwarzhaarige Schöne hinter der Bar stahl sich behutsam beiseite. Ihre Hand glitt nach unten. Der Bursche bewegte sich nicht. Die Pistole in seiner Hand zuckte gebieterisch. Die Bardame erbleichte. Plötzlich erlosch das Licht. In der Stille hätte man ein Haar zu Boden fallen hören. Gar nicht zu reden von den vier Schüssen, die in so schneller Folge krachten, daß sie wie ein kurzer Feuerstoß klangen. Der Fall eines Barhockers und das Aufschlagen eines schweren Körpers waren ein schwacher Nachhall dieses Getöses. Ich warf den Tisch um und stürzte los. „Die Nummer wissen Sie nicht“, stellte Hauptmann Chmelař mit verletzender Sicherheit fest. Ich schüttelte den Kopf. „Den Wagen habe ich überhaupt nicht gesehen. Aber es war ein Sportwagen – ein Škoda. Ein Zylinder funktionierte nicht richtig.“ Der Hauptmann musterte mich mit dem Blick eines Chefs. Mir war das gleich. Selbst wenn er einer der höchsten Chefs war, mein Chef war er nicht. In dem Drama hatte ich nur als Zuschauer mitgewirkt – oder, falls es der Hauptmann so wollte, als Statist. Daß ich Polizist war, änderte nichts daran. Auch ein Polizist darf Nachtlokale besuchen. Und kommt es dort zufälligerweise zu einem Mord, ist nicht im voraus garantiert, daß er den Mörder auf der Stalle am Kragen packt. Haupt300
mann Chmelař teilte meine Ansicht gewiß nicht. Er hätte den Mann bestimmt nicht fliehen lassen. Doch ich war nur ein kleiner Mitarbeiter aus der Abteilung für Wirtschaftsvergehen – eher ein Zahlendetektiv als ein scharfer Junge. Schade, daß der Hauptmann kein Barbesucher war. Vielleicht hätte dann der Mann im grauen Anzug nicht neben dem umgefallenen Barhocker gelegen. Der rote Fleck auf dem Hemd stach von der Krawatte ab. Die Krawatte gehörte mir. Und der Mann war mein bester Freund. Eigentlich der einzige, den ich jemals hatte. Der Schwarm aufgeschreckter Nachtvögel war in seine Nester zurückgeflogen. Die Experten wirkten, daß es nur so dampfte. Hauptmann Chmelař dirigierte sie wie ein gut eingespieltes Orchester. Die Schwarzhaarige war jedoch eine Solistin. Als sie nicht mehr hinter der Bar stand, sondern an einem Tischchen neben Hauptmann Chmelař saß, sah sie aus wie ein Mädchen, das vom Abiturientenball einen Abstecher in diese Nachtbar gemacht hatte. „Warum haben Sie das Licht ausgeschaltet?“ fragte der Hauptmann streng. „Ich wollte verhindern … ich dachte, daß …“ Sie sprach, als suchte sie nach den passenden Worten. Dem Hauptmann gefiel das nicht. „Als ich begriff, was der Mann vorhatte, fiel mir der Schalter unter der Bar ein. Ich dachte, im Dunkeln würde er nicht schießen. Hätte ich das nicht tun sollen?“ Seltsamerweise äußerte er sich nicht. Er blickte zu der reglosen Gestalt, die gerade von einem knienden Fotografen verdeckt war. „Kannten Sie ihn?“ „Ja. Er kam oft her.“ „Mit wem?“ 301
„Allein. Er saß immer an der Bar.“ Sie sah den Hauptmann direkt an, ohne ein Spur von Herausforderung. Ich wußte, welche Frage folgen würde, und sie wußte das ebenfalls. „Ist er Ihretwegen gekommen?“ Sie hob die Schultern, ein bißchen hochmütig, ein bißchen ungeduldig. Der Hauptmann fuhr sie an: „Also ja oder nein?“ „Das weiß ich nicht. Er hat mir das nicht gesagt.“ Sie stand auf, und das Schulmädchen war auf einmal erwachsen. „Hierher kommen viele Männer. Manche nur einmal, andere öfter. Wenn sie allein sind, setzen sie sich an die Bar und haben das Gefühl, sie hätten Gesellschaft gefunden. Mich stört das nicht, solange sie nicht zudringlich werden. Und das war er nicht.“ Hauptmann Chmelař rückte seinen Stuhl etwas zurück und sah ihr scharf ins Gesicht. „Was wissen Sie über ihn?“ „Daß er ein sympathischer Mann von gutem Benehmen war. Mit Niveau. Intelligent und taktvoll.“ Man konnte ihr nichts vorwerfen, trotzdem war ihre Absicht offenkundig. Die gibt’s ihm aber, dachte ich erfreut. Schade, daß sie lügt. Sie lügt wie ein Schulmädchen, und ich werde – leider – die Dinge zurechtrücken müssen. Bevor ich den Mund aufmachen konnte, stand der Hauptmann auf. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er sie wie ein Kinomörder an. Dann drehte er sich um und ging zu dem Toten. Die Spitze seines Schuhs blieb einige Zentimeter vor dem Revolver stehen, den der flüchtende Mörder weggeworfen hatte. Hauptmann Chmelař starrte auf die Waffe, und die Kraft seines Blickes drückte beinahe zum fünften Male an diesem Abend den Abzug. Als er sich an mich wandte, war er wieder ganz Chef. „Kommen Sie.“ 302
Ich folgte ihm gehorsam. An der Treppe blieb er stehen. „Sie werden höchstwahrscheinlich den Mörder identifizieren müssen“, sagte er über die Schulter der Bardame. Sie nickte unmerklich. „Wenn Sie ihn haben.“ Ungefähr vierzehn Tage zuvor saß ich in Richards Appartement, trank Whisky und hörte die letzte Einspielung von Johnny Cash. Diese beiden Vorlieben hatten wir gemeinsam – außerdem hatten wir beide eine mißratene Ehe hinter uns und beabsichtigten nicht, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Damit endete jedoch jegliche Ähnlichkeit zwischen uns. Während ich nur ein Rädchen in einem Apparat war, der sich mit sehr alltäglichen Delikten befaßte, leitete Richard Jaroš die Rechtsabteilung des großen Außenhandelsunternehmens Globex, und seine Karriere hatte längst nicht den Gipfel erreicht. Das Band war zu Ende, die Kassette blieb stehen. Richard erhob sich, aber statt unsere musikalischen Genüsse zu verlängern, schritt er zum Fenster und blickte auf die Illumination, die das nächtliche Prag bot. Dann wandte er sich an mich. „Hör mal … Würdest du etwas für mich tun?“ „Das ist doch keine Frage.“ Ich streckte ihm mein leeres Glas hin. Da Richard Whisky ausschließlich im Free shop kaufte, kostete ihn der Ballantines höchstens soviel wie mich unser Rum. Zwischen uns herrschte praktisch Kommunismus, doch diesmal rührte er sich nicht. Ich stellte das Glas hin. Richard gab ein Bild von Verlegenheit ab. „Worum geht’s denn?“ fragte ich. Richard kehrte zum Tisch zurück und leerte sein Glas in einem Zug. Erst jetzt bemerkte er, daß ich längst ausgetrunken hatte. „Entschuldige“, brummte er und korrigierte großzügig sein Versehen. 303
„Was soll ich tun? Wozu diese Umstände?“ fragte ich nach einem belebenden Schluck. „Eine Bekannte von mir hat Schwierigkeiten. Aber … das ist eigentlich Unsinn.“ Ich mußte lachen. „Was denn – ein Manko in einer Bar? Du besuchst doch keine Nachtlokale.“ „Was weißt du denn? Zufälligerweise besuche ich welche.“ So hatte ich beinahe ins Schwarze getroffen. Mit dem Unterschied, daß es nicht um ein Manko ging, sondern um anonyme Briefe. Obskures Geschreibsel, das eine Bardame in einem intimen Nachtlokal erhielt, wo hauptsächlich Stammgäste verkehrten. Die Dame hatte die Schreiben anfangs in den Papierkorb geworfen, aber als der unbekannte Lüstling zu Drohungen schritt, falls sie seinen Wünschen nicht willfahre – es handelte sich um ein Rendezvous an einem dunklen, verlassenen Ort –, vertraute sie Richard ihre Sorgen an. Das konnte ich mir vorstellen. Richard war genau die Beute, die junge Damen zur Jagd reizte. Dieses Mädchen war offenbar nur gerissener als die anderen. Aus der Rolle eines freiwilligen Beschützers kann man einen Mann leicht dazu bringen, die Rolle eines Beschützers auf Pflicht zu übernehmen …
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/116/81 • LSV 7204 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 483 5 DDR 3,– M