Thomas Kron · Thomas Grund (Hrsg.) Die Analytische Soziologie in der Diskussion
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Thomas Kron · Thomas Grund (Hrsg.) Die Analytische Soziologie in der Diskussion
Thomas Kron Thomas Grund (Hrsg.)
Die Analytische Soziologie in der Diskussion
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16914-9
Inhalt Thomos Kron (Aachen)/ Thomos Grund (Oxford): Einführung in die Diskussion zur Analytischen Soziologie
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Sozialtheorie MichaelSchmid (München): Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Sozialen". Bemerkungen zum Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie
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Rainer Greshl!ff(Oldenburg): Wie aussage- und erklärungskräftig sind die sozialtheoretischen Konzepte Peter Hedströms?
67
Jürgen Macker! (potsdam) Auf den Schultern von Robert Merton? Zu Peter Hedströms Analytischer Soziologie
91
Christofer Edling (Bremen) / Jens Rydgren (Stockholm) Auf der Suche nach Identität. Analytische Soziologie und die Makro-Mikro-Verbindung ... .. . . . . .. . . . . . . .. . . . .. 115 Markus BaHm (Aachen): Der soziale Wandel der Analytischen Soziologie im Lichte kritischer Reflexion..................................................................
133
Handlungstheorie Gunn Elisabeth Birkelund (Oslo): Die Kontextualisierung von Akteuren und ihren Präferenzen
153
Andrea Maurer (München): Die Analytische Soziologie Peter Hedströms und die Tradition der rationalen Sozialtheorie
165
5
Andreas Diekmann (Zürich): Analytische Soziologie und Rational Choice
193
Methodologie PeterAbell (London): Singuläre Mechanismen und Bayessche Narrative. . . . . . .. . . . . .. . .. . . . . . .. . . . . . . . .. 207 PerArne Trifte (Oslo): Kritik der Analytischen Soziologie. Zur Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden zur Erklärung durch Mechanismen. . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . ..
225
Riccardo Boero (Turin)/ Flaminio Squa~oni (Brescia): Agentenbasierte Modelle in der Soziologie. Über eine Integration von Empirie und ModelIierung .
243
Gianluca Manzo (paris): Populationsbasierte versus nachbarschaftsbasierte soziale Vergleiche. Ein agentenbasiertes Modell für das Ausmaß und die Gefühle relativer Deprivation .. . . . . .. . .. . . . . .. . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . .. . . .
265
Autoren................................................................................. 295
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Thomas Kron / Thomas Grund
Einführung in die Diskussion zur Analytischen Soziologie 1. Einleitung Die Analytische Soziologie ist eine sich "herauskristallisietende" (Barbara 2006) Bewegung, die sich die Aufgabe gestellt hat, ein neues Forschungsprogramm zu entwickeln, "eine Strategie, die soziale Welt zu verstehen" (Hedström/Bearman 2009: 4). Auch wenn zentrale Anstöße bereits in "Social Mechanisms" (Hedström/Swedberg 1998) formuliert worden sind, gilt Hedströms ,,Anatomie des So~/en" (2008 [zuerst 2005]) als Manifest dieses Programms, das nun allmählich geschärft werden soll, indem die systematische Verwendung von Mechanismen in den Sozialwissenschaften diskutiert (siehe Hedström/Bearman 2009) und zentrale Elemente des Forschungsprogramms zusammengestellt werden (siehe Hedström/Ylikoski 2010). Mit dem vorliegenden Sammelband wird dieser Diskurs aufgegriffen, indem verschiedene Konzepte und Modelle innerhalb der Analytischen Soziologie kritisch diskutiert werden. Ganz bewusst wird dabei keine "intellektuelle Lobpreisung" vorgenommen - wie dies so häufig passiert, wenn ein Forschungsprogramm verbreitet werden soll -, sondern es soll nach Möglichkeiten und Notwendigkeiten Ausschau gehalten werden, die Analytische Soziologie fortzuentwickeln. In der Metapher des "soziologischen Werkzeugkastens" (Schimank 2010: 349ff.) formuliert, liegt mit der Analytischen Soziologie eine Gebrauchsanweisung zur Erklärung sozialer Phänomene vor, die auf ganz bestimmte soziologische Werkzeuge rekurriert. An dieser Stelle sollen nun sowohl die Gebrauchsanweisung als auch die einzelnen Werkzeuge auf ihre Leistungsfähigkeit hin befragt werden: Was kann die Analytische Soziologie und - noch wichtiger - was kann sie eventuell nichP. Und damit verbunden: Was für eine Art von Soziologie betreiben wir, wenn wir der Analytischen Soziologie folgen? Was geht mit der Analytischen Soziologie verloren? Welche sozialtheoretischen Grundlagen werden benötigt? Welche Art von Handlungstheorie muss eingesetzt werden? Wie relevant sind methodische Verfahren wie die Netzwerkanalyse oder die Sozialsimulation? Usw. Zum einen wird mit dieser kritischen Diskussion an die Entstehungsgeschichte dieses "anafytical turn" (Elster 2007: 455) angeschlossen. Die Analytische Soziologie speist sich aus verschieden philosophischen und soziologischen Traditionen und reicht in ihrer theoretischen Fundierung bis zu den Anfängen soziologischen Denkens zurück. Dementsprechend beruht die zeitgenössische Analytische Soziologie 7 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie auch auf jenen Konfrontationen, die die Soziologie von Beginn an in Auseinandersetzung mit ihren Grundlagen begleitet hat. Nicht zuHillig erscheint die Analytische Soziologie heute als eine Art Mittelweg oder Brücke zwischen verschiedenen soziologischen Postionen. Und auch die jüngsten Publikationen zum MechanismenKonzept in den Sozialwissenschaften, aber auch zu anderen Elementen der Analytischen Soziologie, dokumentieren nicht nur die große Aufmerksamkeit, die diesem Ansatz geschenkt wird, sondern verweisen auf die insgesamt sehr lebendige Debatte (siehe z.B. Ballarino 2005; Barbano 2005; Barbara 2004, 2005, 2006; Bunge 1997; Cherkaoui 2005; Demeulenaere 2010; Gross 2009; Hedström 2005; Hedström/ Bearman 2009; Hedström/Swedberg 1998; Hedström/Ylikoski 20lOb; Kron 2005, 2006; Lucchini 2007; Malsch 2006; Manzo 2007a, 20007b, 2007c, 2009, 2010; McAdam/Tarrow/Tilly 2001; Maurer 2009; Mayntz 2002, 2003; Tilly 2001; Schmid 2006, 2010; 0sterberg 2009; Steel 2004). Trotz der Fundierung des analytischen Ansatzes in lange geführten Debatten und Theorietraditionen ist die Analytische Soziologie folglich ad initium. Parallel zu diesem Diskurs institutionalisiert sich die Analytische Soziologie zusehends. Forschungsnetzwerke sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene haben sich mittlerweile gebildet. Ein wichtiger Knoten in diesem Netzwerk ist das "European Network 0/ Ana!Jtical Sociologists" - gegründet 2007 von Peter Hedström, Thomas Kron, Thomas Grund und Anderen, in dessen Rahmen alljährlich Konferenzen zur Analytischen Soziologie organisiert werden1 und in dem Forschergruppen aus den USA, Großbritannien, Schweden, Deutschland, Norwegen, Italien, Spanien und Frankreich aktiv sind.
2. Erklären als Kern der Analytischen Soziologie Dreh- und Angelpunkt dieses internationalen Netzwerkes ist die Frage nach den Möglichkeiten des Erklärens von sozialen Phänomenen. Auch wenn der Erklärung individuellen Handelns dabei eine wichtige Bedeutung zukommt, sind es doch vor allem soziale Muster, die von Interesse sind und diese lassen sich eben nicht direkt auf individuelle Eigenschaften der Akteure reduzieren. Im Gegensatz zum deduktiv-nomologischen Versuch, ein Explanandum mit empirisch validierten Gesetzen zu erfassen und dieses als erklärt zu betrachten, wenn es durch ein Explanans (statistisch) erwartbar ist, betont der analytische Ansatz die Notwendigkeit der Eifassung des Prozesses der Genese des Explanandums. Zur Entschlüsselung dieser Prozesse greift die Analytische Soziologie auf Mechanismen zurück, um diese EntsteDie erste Konferenz hat 2008 in Oxford stattgefunden, gefolgt von Turin 2009 und Barcelona 2010. Für 2011 ist ein Treffen in Aachen in Planung. Das ,,European Network ofAlIa!JlicalSociologists" ist erreichbar über http://www.analytical-sociology.org.
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Thomas Kron / Thomas Grund hungsprozesse präzise formulieren und modellieren zu können. Größter Wert wird dabei auf die Notwendigkeit von Präzision und Klarheit gelegt. In den Worten von Elster (2007: 455): Der "anafytical turn" in den Sozialwissenschaften beruht "auf einer nahezu besessenen Betonung von Klarheit und Präzision". Durch das Sei/eren soi/aler Prozesse2 wird versucht, die "Zahnräder" der sozialen Maschinerie offenzulegen. Trotz aller Unklarheiten über die genaue Definition eines Mechanismus ist allen Variationen dabei die Vorstellung der "Generierung" oder "Erzeugung" von Ergebnissen gemein (vgl. Epstein 2006; Boudon 1979). Das Credo lautet: Um etwas zu erklären, muss man zeigen, wie es zustande kommt, es also generieren oder erzeugen (siehe Boudon 1979; Harre 1970; Kron 2006; Manzo 2010).3
2.1 Die Rolle von Akteuren Der Forderung, für eine soziologische Erklärung den generativen Prozess eines sozialen Phänomens zu sezieren, führt dazu, dass die relevanten Akteure in diesem Prozess identiftziert werden müssen. Sofern Hedström Akteure in ihrem handelnden Zusammenwirken als energetische Einheiten erforderlich zur Konstruktion eines Mechanismus erachtet, greift seine Analytische Soziologie methodologisch auf das Modell soziologischer Erklärung von Coleman (1990) zurück - die bekannte "Badewanne". Dieses Modell schreibt u.a. vor, dass man sowohl die Situationslogik als auch die Selektionslogik des Handelns von Akteuren speziftsch darzulegen habe. Hedström schlägt dazu vor, als Handlungstheorie die DBO-Theorie zu verwenden. Opportunitäten, Bedürfnisse und Überzeugen erklären dann, worauf ein Akteur in einer Situation achtet und weshalb er dann die Handlung auswählt und vollzieht. 4 Wenn Akteure von anderen Akteuren beeinflusst werden, dann ebenfalls über Opportunitäten, Bedürfnisse und Überzeugungen. Wenngleich die DBO-Theorie durch ihre Einfachheit besticht, so sehr lässt sie sich sicherlich in vielerlei Hinsichten kritisieren, und auch in diesem Band gibt es Einiges dazu zu lesen. Was eine Handlungstheorie im Vergleich zum empirischen Handeln von Menschen tatsächlich abdecken und erklären muss oder anders formuliert: Wie unvollständig die Handlungstheorie sein darf, ist abhängig von ganz 2 3
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Nicht umsonst nennt Hedström sein Buch im englischen Original "Dissecling the Social' und zeigt im Titelbild einen Anatomiesaal. In der Analytischen Soziologie schließt das Sezieren eines zu erklärenden Phänomens mittels der Formulierung von Mechanismen konttafaktische Gedankene:xperimente mit ein, d.h., der mechanismenbasierte Ansatz lässt sich im Sinne von Woodwatds (2002, 2003; siehe auch Morgan/Winship 2007) Verständnis von Kausalität verstehen, nach dem die erklärende Kraft einer Generalisierung in ihrer Fähigkeit liegt, zu erfassen, was unter anderen Umständen geschehen würde. Die Selektion und der Vollzug der Handlung sind bei Hedsttäm (wie auch bei Coleman) ein (Modellierungs-)Schritt. Vor allem der Pragmatismus verweist darauf, dass diese (In der Regel stillschweigend getroffene) Annahme möglicherweise nicht angemessen ist (siehe etwa Grass 2009; Joas 1992).
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Eiriführung in die Diskussion
zur AnalYtischen Soifologie
unterschiedlichen Bedingungen, vor allem aber von der Antwort auf die Frage, was denn als "Soziales" gilt. Gleich wie man diese Frage zu beantworten geneigt ist, unabdingbar ist für jedes handlungstheoretisch fundierte Forschungsprogramm anzugeben, warum nicht mehr Eigenschaften des Akteurs, gemessen an der Realität menschlichen Handelns, modelliert werden. Mit anderen Worten: Man benötigt eine Modeilierungsstoppregel Hedström verzichtet beispielsweise darauf, mit seiner Handlungstheorie jene komplexen Vorgänge im Gehirn des Akteurs zu modellieren, mit denen dieser bei der Situationsdefmition zu einer Antwort auf die Frage kommt, "was geht hier eigentlich vor?" (Goffman 1977: 16) - im Gegensatz etwa zum in DeutscWand viel diskutierten Frame-Selection-Model von Hartrnut Esser (2001,2003,2004; vgl. zusammenfassend Greshoff/Schimank 2005; Kron 2005b: 52ff.), der diese Modellierung für unabdingbar hält (vgl. dazu kritisch zusammenfassend Kron 2004). Ohne die Angabe einer derartigen Modellierungsstoppregel wird man zum einen die Diskussion um die Angemessenheit der Handlungstheorie woW niemals zu einem wenigstens vorläufig gut begründeten Ende bringen können. Zum anderen kann die Analytische Soziologie sich ohne die begmndete Darlegung der Modellierungsstoppregel kaum des Vorwurfs der Beliebigkeit erwehren, sofern sie darauf Wert legt, die DBO-Theorie nicht als definierendes Element der Analytischen Soziologie zu betrachten und sich nicht auf diese eine Handlungstheorie festzulegen, sondern stattdessen dadurch auszeichnen möchte, offen für und anscWussfihig an weitere Handlungstheorien zu sein (siehe Hedström/Ylikoski 2010: 60f.). Zudem ist drittens der Beliebigkeiten bzw. der Offenheit in der handlungstheoretischen Frage eine faktische Grenze innerhalb der Analytischen Soziologie gesetzt, weil eine Artformaie Selektionsregel angegeben werden muss!5 Weniger aus epistemologischen (vgl. Esser 1999) als vielmehr aus methodischen Gründen, wenn nämlich Sozialsimulationen eingesetzt werden sollen. Dazu gleich mehr. Hedströms Argument ist an dieser Stelle, dass Akteure notwendig sind, damit Soziales erzeugt werden kann, da sich das Soziale auflösen würde, wenn es keine Akteure mehr gäbe (siehe Hedström 2008: 16). Dies ist allerdings kein allzu klar formuliertes Argument. Denn erstens hängt die Notwendigkeit für das Soziale davon ab, was man unter "dem Sozialen" zu verstehen geneigt ist - hier bleibt Hedström sehr vage, so dass man an dieser Stelle einen Präzisierungsbedarf anmelden kann. Doch selbst wenn die sozialen Phänomene, die Hedström erklären will, "sozial" genannt werden können und Akteure zu deren Entstehung, Erhaltung oder Wandel notwendig sind, dann trifft dieses Merkmal der Notwendigkeit Akteure vermutlich nicht alleine. Hier kann man das Gegenargument von Luhmann (2009: 36) aufgreifen, dass man für diese Phänomene auch weitere notwendige Bedingungen be5
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Insofern eignet sich etwa die pragmatistische Handlungstheorie genauso wie alle Praxistheotien gegenwärtig nicht, solange sie keine formalisierbaren Selektionsalgotithmen angeben können.
Thomas Kron / Thomas Grund nötigt: Luft, Erdmagnetismus, Sonnenstrahlung... Eine Möglichkeit, Akteure als Notwendigkeitsbedingung argumentativ zu stützen, führt Michael Schmid (1998) an, der auf eine problemorientierte Perspektive des Sozialen verweist: Wenn die zu erklärenden sozialen Phänomene als Problemlösungsmuster betrachtet werden, dann ist erstens die Frage, auf welche Probleme diese Lösungen reagieren. Eine Antwort ist, dass es generell Koordinationsprobleme, Kooperationsprobleme und (Verteilungs-)Konflikte sind, die als Probleme solche Lösungen provozieren, wie die Soziologie sie etwa als Markt, Herrschaft oder Moral thematisiert. Wenn man bis hierhin folgen möchte, ist die anschließende Frage, wie, d.h. unter welchen Bedingungen solche Probleme überhaupt entstehen können. Konkreter bezogen auf die Handlungstheorie: Welche Eigenschaften müssen Akteure aufweisen, damit sie überhaupt die genannten Probleme erzeugen können? Offensichtlich ist z.B., dass Akteure in einem gewissen Maße eigennützlich an Ressourcen interessiert sein müssen, um in Verteilungskonflikte hinein zu geraten. Offensichtlich ist eine gewisse Zweck-Rationalität des Akteurs also notwendig, um derartige Probleme entstehen zu lassen. Die Spieltheorie hat an dieser Stelle darüber hinaus überzeugend dargelegt, dass diese Rationalität des Akteurs auch hinreichend ist, denn wenn rationale Akteure es miteinander zu tun bekommen, dann entstehen celeris paribus die genannten Probleme. Hinreichend ist die Rationalannahme aber nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich wenn die Akteure interagieren und dann in "Intentionsinterferenzen" (Schimank 2010: 186ff.) geraten. Und zu einem Zusammenwirken des Handelns bzw. Interaktionen wird es nur dann kommen, wenn die Ressourcen knapp sind. Man muss sich nur koordinieren, miteinander kooperieren oder Ressourcen verteilen, wenn man nicht so viele und genau die Art von Ressourcen zur Verfügung hat, wie jeder einzelne Akteur benötigt. Im ScWaraffen1and gäbe es diese Probleme nicht, weil jeder individuelle Akteur genau die Art und Anzahl von Ressourcen vorftndet, die er gerade meint zu benötigen. Knappheit ist für viele Ressourcen als empirische Tatsache vermutlich eine plausible und faktisch richtige Annahme - weshalb die meisten Sozialtheorien dieses Miteinander-zu-tunbekommen ontologisch setzen. Wenn dies aber die einzige ontologisch plausible Annahme wäre, da ein Schlaraffenland zur Zeit6 nicht in Aussicht steht, wäre der homo oeconomicus folglich ein angemessenes, da zur Problemerzeugung notwendiges und hinreichendes Akteurmodell - wenn es nicht empirisch falsch wäre, Letztes ist Hedströms Argument. Teilt man diese Behauptung, dass der homo oeconomicus nicht nur unvollständig, sondern auch in unkontrollierter Art und Weise falsch ist, dann muss man ein anderes Modell anbringen. Leider ist ein solches alternatives, adäquates und empirisch 6
Da man nicht weiß, wie die zukünftige Gegenwart aussieht, können wir allerdings nur auf eine gegenwärtige Zukunft rekurrieren.
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Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen Soifologie innerhalb bestimmter Genauigkeitsgrenzen gültiges Handlungs- oder AkteurmodelF bislang nicht entdeckt worden - ob die DBO-Theorie diese Alternativtheorie ist, steht aktuell zur Diskussion. Man kann insgesamt festha1ten, dass die Argumentation über Notwendigkeiten, wie Hedström sie einbringt, alleine nicht weiterführt, sondern auch die hinreichenden Bedingungen einbezogen werden müssen. Dementsprechend hält Luhmann einzig Kommunikation - ohne Akteure gedacht - für hinreichend, was allerdings lediglich, aber immerhin, per dejinitionem (vgl. Münch 1992) richtig ist, da Luhmann nur das für Sozial hält, was kommunikativ ist. Nun sind Akteure alleine nicht hinreichend für das Soziale, aber interagierende Akteure sind es möglicherweise. Die Bedingung, die bei Hedström die für das Soziale notwendige Bedingung der Akteure hinreichend ergänzt, ist die Interaktion. Kurz: Hedström nimmt schlicht an, dass die mit Bedürfnissen, Überzeugungen und in bestimmten, knappe Ressourcen einschließenden Opportunitätsstrukturen handelnden Akteure es miteinander zu tun bekommen und in ihrem Handeln wechselwirken. Dies ist schließlich auch Georg Simmels (1989: 115ff., 1992: 13ff.) sozialtheoretisches Argument gewesen, die aus den wechselwirkenden Akteuren (die Inhalte) hervorgehenden Formen zu untersuchen und nicht wie etwa Max Weber oder später Talcott Parsons spezifische Akteur-Eigenschaften (sinnhaftes Verhalten, gemessen am Maßstab der Zweckrationa1ität bzw. normative Orientierung des Handelns) vorauszusetzen - was Simmel u.a. den Ausschluss aus Parsons' Integrationsversuch in "The Structure rif Soda! Action" eingebracht hat (siehe Kron 2010: 189ff.). Ohne es zu explizieren, folgt Hedström hier eher Simmel als Weber, da es in der Analytischen Soziologie streng genommen nicht immer Akteure sein müssen, die den erklärenden Mechanismus tragen, sondern dies können verschiedene (mit Simmel gesprochen) Inhalte sein - hier öffnet sich die Analytische Soziologie z.B. für die Möglichkeit, Hybride aller Art zu inkludieren (vgl. Latour 2007; Schulz-Schaeffer 1998; Weyer 2006). Nicht die Art der Eigenschaften von Akteuren erscheint der Analytischen Soziologie relevant (solange diese notwendig und hinreichend zur Problemerzeugung sowie empirisch bestätigt sind). Entscheidend ist vielmehr, dass ein zu erklärendes Phänomen in seine Bestandteile zerlegt, das wechse!wirkende Verhalten dieser Bestandteile genau beleuchtet und letztendlich wieder zusammengeführt wird. Und nur dann, wenn dieser Vorgang das beobachtete Phänomen reproduziert, wird von einer "Erklärung" gesprochen. Das legt nahe, die Handlungstheorie unter diesen Vorgaben so einfach handhabbar wie möglich zu halten. Dieses Aufforderung zur Einfachheit wird noch da7
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Die Unterscheidung von HandIungs- und Akteurtheorie bezieht sich darauf, dass nicht alle Handlungstheorien automatisch Akteurtheorien sein müssen. Parsons' systemische HanclIungstheorie etwa war keine Akteurtheorie.
Thomas Kron / Thomas Grund durch gestützt, dass Hedström die chaostheoretische Einsicht mitführt, dass soziale Prozesse sensibel gegenüber den Anfangsbedingungen sind - kleine Veränderungen am Anfang können zu unterschiedlichen sozialen Verläufen mit völlig unterschiedlichen Resultaten führen. Krieg oder Frieden in der Welt kann so gesehen manchmal von einem kurzfristig desorientierten Kutscher abhängen... Wenn aber soziale Prozesse derart "chaotisch" ablaufen können, dann empfiehlt es sich, zur Modellierung dieser komplexen Abläufe die Kompliziertheit der aufeinander wirkenden Elemente so gering wie möglich zu halten, um jene Regelsätze formulieren zu können, mit denen komplexe Muster erzeugt werden können, was nur in einem geringen Parameterraum überhaupt möglich ist.B Dies ist nicht nur die Empfehlung von Coleman, sondern wird auch innerhalb der Forschung zur Komplexitätstheorie erhoben. Wird die Kompliziertheit der Entitäten an sich zu groß, explodiert der zu analysierende Parameterraum, so dass man letztlich nur noch zu dem Ergebnis kommt, dass alles mit allem (oder nichts mit nichts) zusammenhängt und es irgendwie auf mannigfaltigen Wegen - Stichwort: Äquifmalität bzw. Multifinalität - zu dem beobachteten Sozialmuster kommt. Kurz: Wenn die Analytische Soziologie auf generative Erklärungen komplexer sozialer Phänomene setzt - und es gibt gute Gründe dies zu tun - und dabei von handelnd-wechselwirkenden Akteuren ausgeht, dann muss das zugrundeliegende Akteurmodell möglichst einfach sein - so das gemeine Motto. Leider gibt es kein Maß für die Einfachheit und die Kompliziertheit bzw. für die pragmatische Handhabung von Akteurmodellen - genau dies hat die Suche nach einer Modellierungsstoppregel bislang erschwert. Die üblicherweise vorgetragene Antwort, es hänge ganz von dem empirischen Fall ab, den man zu analysieren gedenkt, wie reichhaltig man den Akteur modelliert9, ist unbefriedigend, weil damit keine Regel formuliert ist, aus der man folgern könnte, dass in dem einen Fall ein kompliziert-reichhaltiges Akteurmodell und in dem anderen Fall ein einfaches 8
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Wir verwenden hier den Begriff der "Komplexität" (oder ,,komplex"), um auf die Eigenschaften eines Systems zu verweisen, die sich aus dem Zusammenspiel der Entitäten ergeben, und den Begriff der ,,Kompliziertheit" (oder "kompliziert''), um eine Eigenschaft einer Entität zu erfassen. Folglich könnte man vielleicht sagen, dass soziologische Bezugsrahmen und Theorien durchaus kompli'(jert sein können oder dürfen, was bedeutet, dass diese zwar schwierig zu überblicken sind, aber eine Zerlegung in Untereinbeiten erlauben, was zu einer Auflösung der "Verwicklung" führt. Mit Hilfe der übersichtlichen Teile wird ein Verständnis des Gesamtsystems möglich. Für einen komplexen Bezugsrahmen oder eine komplexe Theorie ist die Unterteilbarkeit nicht möglich bzw. tragen die Untereinbeiten ftir sich nicht zu einer "Entwirrung" bei, denn gerade die Vernet:lJmg der vermeintlichen Einzelteile prägen die wesentlichen Eigenschaften des Gesamten, die mit Hilfe der getrennten Teile kaum erfassbar sind oder u.U. gar nicht existieren (vgl. Richter/Rost 2002: 3ff.; Vester 1983; 1999: 26ff.). Umgangssprachlich (und auch innerhalb der Sozialwissenschaften) ist diese Unterscheidung oft nicht klar. Dies ist auch die Auffassung von Hedström: "the explanatory task thus detertnines how rich the psychological assumptions must be." (Hedström/Ylikoski 2010: 60)
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Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen 50ifologie Akteunnodell zum Zuge kommt. IO Aus dem bisher Gesagten können wir aber folgern, dass es nützlich wäre, wenn wir über einen akteurtheoretischen Bezugsrahmen verfügen könnten, der sowohl sehr einfach Akteurmodelle - z.B. rein ökonomisch orientiertes Handeln - als auch sehr kompliziert orientiertes Handeln zu modellieren in der Lage ist. Dann nämlich kann man die Vollständigkeit, Reichhaltigkeit und damit die Kompliziertheit experimentell bis zu dem Punkt steigern, an dem man mit einem möglichst vollständigen und reichhaltigen (und damit komplizierten) Akteurmodell genau jene Muster erzeugt, die man zu erklären beabsichtigt: 50 vollständig wie möglich und so einfach} d.h. so unvollständig wie nölig - dies ist die entsprechende Modellierungsregel. ll Man beginnt z.B. mit einem rationalen Akteurmodell, wechselt dann zu einem normorientierten Akteurmodell (homo sociologicus), dann zu einem Akteur, der affektua1 orientiert ist (emotional Man) usw. Die nächste Steigerung der Vollständigkeit/Reichhaltigkeit ist dann die Mischung dieser Akteurtypen, z.B. zu einem Modell eines rationalen und emotionalen und vielleicht zudem normativ-orientierten Akteurs. Auf diese Weise wird man vermutlich mit steigender Reichhaltigkeit des Akteunnodells immer mehr äqui- und multifinale Wege zu dem zu erklärenden sozialen Muster erhalten, da mit steigender Parameterkomplexität der Möglichkeitsraum für die Unterschiedlichkeit der weiteren Verläufe immer größer wird. Derart die Vollständigkeit des Akteunnodells steigernd kann man fortfahren, bis eine Grenze der Handhabbarkeit erreicht ist - was dem soziologisch sensiblen Bedürfnis entgegenkommt, so nah wie möglich an das tatsächliche Handeln von Menschen heranzutreten, ohne ein bestimmtes Generalisierungsniveau der Erklärung zu unterschreiten (siehe Schimank 2002).12 Wo die Grenze der Handhabbarkeit liegt, sollte dann aber nicht ausschließlich von dem Einsatz der eingesetzten Analysetechnik abhängen, sondern von der Erk/iirungsperformanz. Das bedeutet, zum einen sollte man im Sinne des Erklärens durch Mechanismen in der Lage sein darzulegen, warum und wie genau ein bestimmter Weg zu dem sozialer Muster führt, d.h. man sollte in der Lage sein, die gefundenen Wege anhand des Ineinandergreifens bestimmter Entitäten (Körper, z.B. Akteure) und Aktivitäten (Kräfte, z.B. äußere Kräfte wie Normen, Werte, Akteurkonstellationen des handelnden Zusammenwirkens, Systeme usw. sowie innere
10 Es überrascht dann auch nicht, wenn jene Forscher, die vorgeben, das Akteunnodell dem empirischen Fall anpassen zu wollen, de facto zumeist die (z.B. durch Fragebögen oder Interviews) eingefangene Wirklichkeit nach dem gerade bereitstehenden Akteunnodell ausrichten. 11 Es wird nicht überraschen, wenn wir an dieser Stelle auf den akteurtheoretischen Bezugsrabmen verweisen, den Kron (2005a) entwickelt hat. 12 Diese Modellierungsstopprege1 ist ganz im Sinne von Bunge (1963: 83f.) formuliert, der anmerkt: "If some rule has to be proposed, let it be the following: ,SimplifY in some respect as long as simplificarion does not elirninate interesring problems and does not carry a serve loss of generality, testability, or depth'."
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Thomas Kron / Thomas Grund
Kräfte, die durch den Sinnzusammenhang des Akteurs konstituiert werden) konkret nachzuvollziehen. 13 Dies wird besonders wichtig an jenen, in komplexen Prozessen möglicherweise mehrfach vorhandenen kritischen Verzweigungspunkten (CriticalJunctures), an denen sich der weitere Verlauf entscheidet: "Wenn historische Prozesse durch Multikausalität, Nichtlinearität und Interferenz geprägt sind, dann sind ihre Ergebnisse pfadabhängig, d.h. sie fallen unterschiedlich aus, je nachdem welchen Fortgang der Prozess an bestimmten Verzweigungspunkten nimmt, an denen alternative Wege offen stehen, ein bestimmter Schritt mithin möglich, aber nicht zwangsläufig ist." (Mayntz 1997d: 336).14 Zum anderen sollten alle gewonnen Wege empirisch plausibel sein, d.h., logisch mögliche, aber empirisch nicht vorkommende Pfade kann man (zunächst) ausschließen. Dieser empirische Abgleich sollte sich, wenn möglich, auf alle Teile des Mechanismus beziehen, also auf die Entitäten (Körper), die Aktivitäten (Kräfte) sowie auf die Art der Verlaufsform. Ist dies geleistet, dürfte die Gesamterklärung der Anforderung an eine Wirklichkeitswissenschaft entsprechen: "Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens [...] verstehen, [...] die Gründe ihres geschichtlichen So-und nicht anders-Gewordenseins." (Weber 1951a: 170f.)
13 ,,Mechanisms are composed of both entities (with their properties) and activities. Activities are the producers of change. Entities are the things that engage in activities. Activities usually require that entities have specific types of properties. [...] The organization of these entities and activities determines the ways in which they produce the phenomenon. Mechanisms are regular in that they work a1ways or for the most part in the same way under the same conditions [...]; what makes it regular is the protluctive continuity between stages." (Macharner/Darden/Craver 2000: 2) 14 Die Konzentration auf kritische Verbindungspunkte ist vor allem deshalb wichtig, weil somit in der historischen Analyse das Problem des infiniten Erlclärongsregresses in die Vergangenheit vermieden werden kann. Dieses Problem entsteht dann, wenn die Forschenden keine Kriterien zur Hand haben, die einen sinnvollen Startpunkt der Analyse von Pfadabhängigkeiten begründen könnten. Kritische Verbindungspunkte helfen, das Problem zu lösen, indem die Aufmerksamkeit auf Schlüsselereignisse gelenkt wird, die jene historischen Punkte markieren, die die Bandbreite möglicher Ergebnisse substanziell begrenzen. Auf diese Weise wird dem Subjektivismus der Identiflkation des Beginns eines historischen Pfades ein Stück weit Vorschub geleistet, dem etwa Popper (2000: 134) das Wort gesprochen hat: ,,Der Versuch, Kausalketten bis weit in die Vergangenheit zu verfolgen, würde nicht im geringsten helfen, denn jeder konktete Effekt, mit dem wir beginnen könnten, hat eine große Zahl verschiedener Teilursachen, d.h. die Randbedingungen sind sehr komplex und die meisten von ihnen interessieren uns nur wenig. Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist unserer Auffassung nach die bewusste Einführung eines vorgefassten selektiven 5tandpunkJs in die historische Forschung, d.h., wir schreiben die Geschichte, die uns intmssierl.". So gesehen begünstigen kritische Verbindungspunkte im Rahmen von Pfadabhängigkeiten strukturelle Selektionen (siehe Mahoney/Snyder 1999: 17; vgl. Schmid 1998a). Allerdings heißt das nicht, dass das Handeln aller anderen Akteure, die nicht dem aktuell eingeschlagenen Pfad folgen, nicht zu einem später Zeitpunkt wieder wichtig werden könnten, da, wie Thelen (2003: 231) es fonnuliert, "losers do not necessatily disappear".
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Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie 2.2 Interaktionsprozesse Wie oben bereits angedeutet, ist der Kern des analytischen Ansatzes die (vielleicht wenig originelle, aber nichtsdestotrotz wichtige) Erkenntnis der Relevanz des Interaktionsprozesses. Soziale Mechanismen haben die Resultate der Dynamik des handelnden Zusammenwirkens von Akteuren zu entschlüsseln, indem sie diese Interaktionsprozesse nachbauen und am Computer durchspielen, bis das zu erklärende Phänomen erzeugt worden ist. Wenn wir die von Epstein (2006) und Kron (2005: 312) eingebrachte Mechanik-Analogie der "Zahnräder" bzw. "Zahnradkette" wieder aufnehmen, wird deutlich, dass nicht nur die Bestandteile an sich, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie ineinandergreifen, von Bedeutung ist. Selbstverständlich hängt die Dynamik von sozialen wie nicht-sozialen Verlaufsformen auch von der Art der Bestandteile ab; Sand erzeugt z.B. schneller eine Lawine als Reiskörner. 15 Aber gleich welche Art von Bestandteilen wir annehmen: Eine Erklärung erhalten wir nur dann, wenn wir den Prozess des Zusammenwirkens beobachten. Um beispielsweise die Funktionsweise einer Uhr zu verstehen, genügt es nicht, wenn wir die "Zahnräder" ausgebreitet vor uns auf dem Tisch betrachten und uns vielleicht zusätzlich noch streiten, welche Eigenschaften der Zahnräder nun wirklich in die Analyse einbezogen werden müssen oder nicht. Erst durch das Arrangement der einzelnen Teile und durch die Darlegung der Verlaufs figur im Ineinandergreifen können wir erklären, wie eine Uhr funktioniert. Selbstverständlich behauptet die Analytische Soziologie nicht, dass sich soziale Prozesse als Uhrwerke betrachten ließen. Soziale Prozesse sind nicht (immer) deterministisch, sondern stellen sich oftmals als komplex dar. Wie gesagt, dies bedeutet nicht, dass etwas kompliziert ist, sondern dass die Interaktionsprozesse zwischen den Entitäten selbst bei einfachen Mechanismen kaum ermöglichen vorherzusagen, in welchen Mustern diese resultieren werden und welche Art von Regelmäßigkeit dahintersteckt. Die Analytische Soziologie berücksichtigt derartige Komplexitäten explizit. Man könnte sagen, dass der "ana!Jticai turn" auch ein Versuch darstellt, auf den noch viel zu wenig beachteten "compJexiry turn" CUrry 2005) in den Sozialwissenschaften zu reagieren. 16 Damit folgt die Analytische Soziologie der Auffassung sowohl von der Nicht-Reduzierbarkeit der spezifisch sozialen Eigenschaften auf die Akteure als auch der Ablehnung eines reinen Holismus und damit dem bekannten Schlagwort der "Dualität von Handeln und Strukturen" (siehe 15 Siehe zur Relevanz für selbstorganisiert-kritikale soziale Systeme (Bak 1996; Kron 2007; Kron/ Grund 2009). 16 In den zeitgenössischen deutschen soziologischen Theorien lässt sich allerdings ablesen, dass diese auf eine "soziologische Komplexitätstheorie" hin konvergieren; siehe dazu Kron (2010: 189ff.). Dies macht die deutsche Soziologie für die Fortentwicklung der Analytischen Soziologie besonders interessant.
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Thomas Kron / Thomas Grund Giddens 1984; Schimank 2000).J7 In diesem Sinne fordern Hedström und Ylikoski (2010: 63) die "Kollektivität als Ganzes, nicht aber als kollektive Entität [zu] untersuchen".
2.3 Computersimulation Eine äußerst geeignete Methode, komplexe, pfadabhängige soziale Prozesse zu analysieren, ist die Computersimulation (vgl. Flache/Maey 2006; Gilbert 1994, 1996, 2000, 2008; Gilbert/Troitzsch 2005; Maey/Flache 2009; Troitzsch 1997, 1999, 2000, 2009). Da die Computer-Analyse darin besteht, Phänomene künstlich zu erzeugen, liegt es nahe, Computersimulationen für soziologische Erklärung im Sinne einer "generativen Soziologie" einzusetzen. Im Gegensatz zu dem in der Soziologie üblichen ex-postjacto-Design der Erklärung setzt man hier auf ein experimentelles Design, das eine hohe interne Validität, d.h. vor allem: die Kontrolle von Störvariablen gewährleistet - eine notwendige Bedingung für die Analytische Soziologie unter "chaotischen" Rahmenbedingungen. In Kombination mit der oben zur Modellierungsstopprege1 beschriebenen Vorgehensweise wird zudem die externe Validität kontrolliert. Computersimulationen sind ganz grundsätzlich notwendig, weil man die komplexen sozialen Prozesse schlichtweg nicht durchdenken kann, wie bereits der Blick z.B. auf das Schachspiel zeigt, bei dem man in der Regel vor allem in der Mitte des Spiels kaum über besonders viele Züge hinweg die möglichen Verlaufsformen durchdenken kann - und das im Vergleich zur sozialen Wirklichkeit im Rahmen einer sehr begrenzten Topologie mit einer sehr begrenzten Anzahl von Akteuren, die sogar immer weniger werden. Schimank (1999) hat in Anlehnung an diese Analogie empfohlen, sich auf jene Situationen zu konzentrieren, die leichter durchdenkbar sind, wie im Schach die Anfangs- und Endsituationen, sich also auf die Analyse von theoretischen Pattialmustern für bestimmte Episoden sozialer Vorgänge zu konzentrieren. Die Analytische Soziologie mit ihrem generativen Erklärungsziel würde zusätzlich anraten, die dabei nicht durchdenkbaren Verläufe zu simulieren und zu analysieren. Dass die Sozialsimulation noch kein Standard in der Soziologie ist, liegt u.a. an dem noch unbefriedigenden Anschluss der Comrnunity der Sozialsimulation an die Soziologie. Sehr häufig werden im Rahmen von Sozialsimulationen willkürlich, 17 Damit soll nicht gesagt werden, dass Hedström sich an der Soziologie von Giddens (oder Schimank) orientieren würde. Gemeint ist vielmehr, dass jene (oft genug impliziten und diffusen) ontologischen, epistemologischen und methodologischen Annahmen, die unter dem Schlagwort der "Dualität" subsummierr werden, auch für die Analytische Soziologie gelten. Zu überlegen wäre allerdings, ob man auf dieses Sprachspiel zugunsten der in der Analytischen Soziologie geforderten Präzision und aufgrund der Vagheit des gemeinsam-soziologischen Verständnisses dieser Dualität nicht besser verzichten sollte.
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Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie ohne weitere Kenntnisnahme soziologischer Handlungs- und Akteurtheorien, auf der Basis der uns ja allen zugänglichen Alltagserfahrungen über das Soziale G,schließlich leben wir doch alle in der sozialen Welt!'') Agenten gebastelt, so dass das in Frage stehende Problem gelöst werden kann. Ein empirischer Abgleich von Agent-Akteur-Mensch, wie er oben angesprochen wurde, fmdet dabei zumeist nicht statt. Diese Art der ad-hoc-Modellierung führt in der Regel nicht nur zu Ergebnissen mit sehr geringem Generalisierungspotential, sondern basiert zudem auf einem - für das generativ-epistemologische Anliegen der Analytischen Soziologie kontra-produktiven - Prozessdeterminismus: Wenn man nur irgendwie qua Simulation einen einigermaßen plausiblen Weg zum Explanandum generiert hat, sei Letzteres auch erklärt - womöglich noch soziologisch befriedigend. Hedström verdient an dieser Stelle außerordentlich Anerkennung dafür, dass er zum einen der Soziologie die Computersimulation als Analysemethode anträgt und zum anderen - vor allem - die angewandten Simulationsanalysen von Beginn an soifotogisch gerahmt wissen möchte. Das bedeutet, dass erstens die verwendeten Agentenmodelle möglichst mit den Erkenntnissen der soziologischen Handlungsund Akteurtheorien kompatibel sind. Zweitens setzt Hedström (2008: 188ff.) auf "empirisch kalibrierte Simulafionen". Es besteht vermutlich noch Bedarf an Klärung, an welchen Stellen des erklärenden Mechanismus eine empirische Kalibrierung ansetzen soll oder sogar muss. Dass es eine solche empirische Kalibrierung, wenn möglich1s, geben sollte, ist unbestritten. 19 Dass sich Soziologie und Sozialsimulation aufeinander zubewegen können, wird etwa anhand der Ne/i!Perkana!Jse deutlich, die als eine weitere Analysemethode gerne von der Analytischen Soziologie genutzt wird. Zum einen hat die soziale Netzwerkanalyse (vgl. Jansen 2006) längst erkannt, dass sie sich in Richtung der Analyse dynamischer Netzwerke fortentwickeln muss, denn soziale Beziehungen entstehen und verschwinden wieder. Inwieweit sodat fies von den Attributen der Akteure abhängig sind (selection), oder aber diese Attribute verändern (influence), steht im Zentrum dieser Debatte (z.B. Aral et al. 2009; Christakis/Fowler 2007; Snijders et al. 2010). Analytisch betrachtet sind beides höchst unterschiedliche Mechanismen, die zum selben Ergebnis führen können (z.B. dass jugendliche Raucher
18 Nicht alle die Soziologie interessierenden Situationen sind der Empirie zugänglich, z.B. nicht die "Ur-Situation" doppelter Kontingenz: ",Reine' doppelte Kontingenz, also eine sozial vollständig unbestimmte Situation, kommt in unserer sozialen Wirklichkeit zwar nie vor. Trotzdem eignet sich dieser Ausgangspunkt, wn bestimmte Fragen weiter zu verfolgen." (Lubmann 1984: 168; vgl. Dittrich/Kron 2002; Kron/Lasarczyk/Schirnank 2003; Lepperhoff2000). 19 Wobei anzumerken ist, dass manche Soziologen die Bedeutung von Computersimulationen für theoretische Gedankenexperimente betonen, die nicht versuchen, die reale Welt abzubilden (vgl. Fn. 17) (siebe Axeltod 1997: 25; Maey/Willer 2002: 147). Das heißt aber nicht, dass "empirisch kalibrierte Simulationen" in Frage gestellt werden.
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oft mit anderen Rauchern befreundet sind, siehe hierzu Mercken et al. 2009). Zum anderen haben jene Netzwerkforscher, die sich aus der Physik kommend der Analyse sozialer Phänomene widmen, verstanden, dass sie sowohl soziologische Erkenntnisse integrieren als auch ihre oftmals abstrakten Modelle empirisch untersuchen müssen. Ein gutes Beispiel dafür sind die small-world-network-Untersuchungen von Duncan J. Watts, der zunächst einen allgemeinen Mechanismus für das Phänomen der "six-degrees" (siehe Watts 1999) gefunden, diesen dann soziologisch zugänglich gemacht (siehe Watts 2003, 2004) und empirisch geprüft (siehe Kossinets/Watts 2006; Lopez-Pintado/Watts 2008) hat. Die Analytische Soziologie ist aufgefordert, ebenfalls diese noch oft getrennten Wissenswelten - Soziologie, Sozialsimulation und Netzwerkanalyse - miteinander ins Gespräch und synthetisiert zur Anwendung zu bringen.
3. Beiträge zur Diskussion Mit dieser kurzen Einführung wird einerseits das Innovationspotential der Analytischen Soziologie, andererseits der sicherlich vorhandene Diskussionsbedarf deutlich. Selbstverständlich ist damit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Weitere Diskussionspunkte schließen z.B. an die von Manzo (2010) identifizierten sieben Einwände gegen die Analytische Soziologie an. Diese sind: 1) Die Analytische Soziologie beruht auf dem Mechanismen-Konzept, das an sich nur ungenügend definiert ist (vgl. Bunge 2007: 259; Gross 2009). 2) Mechanismen haben einen mehrdeutigen erkenntnistheoretischen Status innerhalb der Analytischen Soziologie (siehe Brante 2008: 276; Reiss 2007: 166). 3) Die in der Analytischen Soziologie verwendete Handlungstheorie ist zu unterkomplex (siehe Abbott 2007a; Gross 2009; Lucchini 2008; Pisati 2008; Sawyer 2007: 257). 4) Die Relevanz von Beschreibungen wird vernachlässigt (siehe Bernardi 2007; Opp 2005, 2007; Pisati 2007; Reiss 2007: 164). 5) Die Analytische Soziologie lehnt einen nomologischen Ansatz von Erklärung ab (Norkus 2005: 352ff.; Opp 2005: 174ff., 2007: 117f.; Sawyer 2007: 259). 6) Mechanismenbasierte Erklärungen bleiben immer unvollständig, da Mechanismen immer auch weitere Mechanismen enthalten (vgl. Opp 2005: 169; Pisati 2007: 7; vgl. Steel2004: 61ff.). 7) Die Verwendung von agentenbasierter ModelIierung wird überbetont (so Abbott 2007b; Lucchini 2007: 236ff., 2008: 9ff.; Sawyer 2007: 260). Man wird in diesem Sammelband nicht auf alle Einwände, Kritiken, Anregungen eingehen können. Aber das Ziel ist es, die Diskussion zum "ana!Jtical turn" zu bereichern und einen kleinen weiteren Schritt zur Präzisierung der Analytischen Sozi19
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ologie zu machen. Denn nur wenn die analytische Soziologie ein besseres Verständnis von sozialen Phänomenen als alternative Ansätze liefert, ist die Verwendung dieser Forschungsstrategie gerechtfertigt. In diesem Sinne werden in den folgenden Beiträgen zentrale theoretische Begriffe verfeinert, erweitert und überdacht. Daneben gilt es, methodische Entwicklungen voranzutreiben und in empirischen Studien den analytischen Ansatz anzuwenden. Konkret erwartet den Leser folgende Beiträge: Michael Schmid legt ausführlich die entscheidungstheoretischen Grundlagen des von Hedström vorgelegten Ansatzes dar und plädiert dafür, die DBO Theorie als Spezialfall einer weiter gefassten Rationaltheorie zu sehen und nicht umgekehrt. Mit der Verwendung der DBO Theorie zur Erklärung individuellen Verhaltens begrenzt sich die Analytische Soziologie auf ein Forschungsfeld, das nur bestimmte Interdependenzverhältnisse (Koordinationsprobleme) bearbeiten kann. Vor diesem Hintergrund sieht Schmid den Nutzen einer Rationaltheorie des Handelns darin, andere Interdependenzgeflechte modellieren zu können (z.B. Verteilungskonflikte). Im Weiteren hält Schmid dem Hedströmschen Verständnis sozialer Mechanismen entgegen, dass für eine realistischere Deutung von Theorien und Modellen weniger auf deren induktive Bestätigung als auf deren Widerlegung Wert zu legen sei. Rainer Greshoff unterstreicht in seinem Beitrag, dass es notwendig ist, genauer als bisher die Grundbegrifflichkeiten der Analytischen Soziologie herauszuarbeiten, um die mechanismische Methodologie fruchtbar zu machen. In seiner Perspektive beeinflussen Akteure sich nicht einfach gegenseitig durch ouverte Handlungen in ihren Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten, sondern auch durch wechselseitige Erwartungserwartungen. Greshoff argumentiert, dass folglich eine genauere Fassung der "Mikro-Prozesse" notwendig ist, um zu verstehen, wie soziale Kollektivitäten entstehen. Das Modell der Frame-Selection-Theory (FST) wird von ihm als eine Möglichkeit gesehen, um die Situations- und Selektionslogik des Handelns der Akteure zu entschlüsseln. Dabei wird die FST nicht als Gegenentwurf zu Hedström verstanden, sondern als ein Konzept, das genauer angeben kann, wie der Entscheidungshorizont (Bedürfnissen, Überzeugungen, Opportunitäten) im Entscheidungshandeln der Akteure definiert wird und darin auch das Handeln und die Erwartungen anderer Akteure berücksichtigt. Jiirgen Macker! diskutiert kritisch die Auseinandersetzung mit Mertons Theorien mittlerer Reichweite in der Analytischen Soziologie. Seiner Ansicht nach sind die Abgrenzungsbestrebungen von Hedström gegenüber Merton unbegründet und falsch. Stattdessen werden von Macker! Gemeinsamkeiten hervorgehoben, aber auch aufgezeigt, welche Elemente des Mertonschen Denkens stärkere Verwendung in der Analytischen Soziologie finden sollten. Für Macker! ist die Bedeutung jener Zwänge entscheidend, die Opportunitätsstrukturen dem Handeln der Akteure auf-
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Thomas Kron / Thomas Grund erlegen, sowie die Bedeutung sozialer Mechanismen im Sinne von Mertons Theorien mittlerer Reichweite. Christopher Edling und Jens Rydgren stellen die Notwendigkeit der Intentionalität des Handelns in der Analytischen Soziologie in Frage. Eine Beschränkung auf derartiges Handeln grenze den Erklärungsbereich unnötig ein. Stattdessen plädieren sie dafür, Interessen als eine von vielen Triebfedern für Handlungen zu verstehen. Die Analytische Soziologie täte gut daran, sich ernsthaft auch mit Sozialisationsprozessen und "weichen" Ideen wie "Kultur" und "Identität" auseinanderzusetzen. Nur mit derartigen Bezügen sei zu verstehen, warum Individuen das tun, was sie tun. Inwieweit diese Forderungen umzusetzen sind, ohne den analytischen Anspruch aufzugeben, zeigen sie exemplarisch an der Rolle von sozialer Identität. Markus Baum weist in seinem Beitrag auf den in der Diskussion um die Analytische Soziologie bislang kaum beachteten Punkt bin, dass es innerhalb der Analytischen Soziologie keine systematische Berücksichtigung und Darlegung des eigenen normativen Standpunkts gibt. Die Berücksichtigung der eigenen, oft genug impliziten Normativität müsse auch für die Analytische Soziologie eingefordert werden, besonders da sie für sozialpolitische Implementationsmaßnahmen offen ist. Zur Begründung dieser Forderung rekonstruiert Baum aus der Sicht der Kritischen Theorie die Theorie Hedströms und verortet dessen empirisches Beispiel schwedischer Arbeitsloser machttheoretisch im Anschluss an Foucault. An dieser Stelle wird Hedström als Vertreter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik entlarvt, so dass sein entdeckter erklärender Mechanismus implizit dem hegemonialen Diskurs entspreche. Daraus resultiert die Forderung nach einer integrativen Theoriebildung, die die Reflexion des eigenen Standpunkts umfasst. Gunn Elisabeth Birke/und betont, dass Akteure kontextualisiert betrachtet werden müssen. Ein gutes analytisches Modell sollte die Effekte von Eigenschaften eines sozialen Aggregats, vor allem von Opportunitätsstrukturen, auf die Beschränkungen und Orientierungen der Akteure explizieren. Dies macht sie für Präferenzen deutlich. Verschiedene Kontexte und strukturelle Positionen führen dazu, dass Akteure als Träger multipler Präferenzen angesehen werden können. Damit einhergehend, so Birke/und, sind multiple Präferenzordnungen zu erwarten. Sozial Kontexte sind folglich nicht nur dahingehend wichtig, dass sie Möglichkeiten für Handlungen bieten, sondern auch die Wahl der geltenden Präferenzordnung bestimmen. Andrea Maurer bezieht sich in ihrem Beitrag auf das Verhältnis der Analytischen Soziologie zur Rational-Choice-Theorie. Sie kritisiert, dass die von Hedström verwendete DBO-Theorie im Gegensatz zu Rationaltheorien keine deduktiv belastbare Ableitungen zulässt, sondern aufgrund der vielfältigen möglichen Kombinationen von Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten auf der Handlungsund Interaktionsebene theoretisch unbestimmt bleibt. Die von Hedström eingesetzten "elementaren Mechanismen" seien somit nichts weiter als ad-hoc-Hypothe21
Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen Soifologie sen, die nicht systematisch erweitert werden können, weshalb Rationaltheorien vorzuziehen seien, die dies systematisch und theoretisch angeleitet leisten können. Andreas Diekmann sieht die von Hedström vorgelegten Konzepte sehr eng mit der Rational-Choice-Theorie verbunden. Hedströms Instrumentalismus-Vorwurf gegenüber der Rational-Choice-Theorie ist, so Diekmann, letztlich genauso unhaltbar wie die Unterscheidung von "deskriptiv unvollständigen" und "deskriptiv falschen" Theorieansätzen. Zudem sei die von Hedström verwendete DBO-Theorie gar keine Theorie, da sie im Sinne Poppers nicht falsifizierbar sei. Erst mit der Annahme einer Entscheidungsregel, wie z.B. der Maximierung des Erwartungsnutzens, wird die von Hedström gewählte DBO-Perspektive zu einer erklärenden Theorie. Diekmann betont die Allgegenwärtigkeit von strategischen - zukunftsgerichteten - Interaktionen (z.B. Kollektivgutprobleme, soziale Dilemmata und soziale Bewegungen) und die Notwendigkeit, die Analytische Soziologie um spieltheoretische Konzepte zu ergänzen. Die Spieltheorie ist präzise, auf viele Fälle anwendbar und hält eine formale Sprache bereit, die man benötigt, wenn man zeigen möchte, dass eine kleine Ursachenänderung eine große Wirkung haben kann. Im Weiteren sieht Diekmann Forschungsbedarf bei der Weiterentwicklung von evolutionären Modellen sowohl für das Forschungsprogramm des rationalen Handelns als auch für die von Hedström vorgelegte Analytische Soziologie. Peter Abell zeigt systematisch auf, wie kausale Schlüsse in Situationen mit nur wenigen Fällen oder gänzlich auf Fallstudien beruhend gezogen werden können. Hierfür bedient er sich des Konzepts Bayesscher Narrative. Sokhe Erzählungen lassen sich als Verknüpfungen von Handlungsketten und Einzelbelegen verstehen. Oftmals ist nur für Einzelfälle bekannt, wie eine bestimmte Handlung zu einer anderen führt. Mittels des Bayesschen-Theorems zeigt Abell, wie derartige singuläre Belege oder Mechanismen zusammengeführt werden können, um allgemeingültige Aussagen zu treffen. Damit bietet Abell eine wichtige Ergänzung zur Analytischen Soziologie, die ja gerade davon ausgeht, dass Mechanismen nicht immer deterministisch sind und auf singulärer Ebene (der einzelnen Individuen) nicht immer zu gleichen sozialen Ergebnissen führen. Das Konzept der Bayesschen Narrative ist auch dahingehend attraktiv, da es sich nicht nur bei kleinen Fallzahlen anwenden lässt, sondern eben auch dynamische Prozesse implizit berücksichtigt. Per Arne Trifte argumentiert, dass die Analytische Soziologie der Relevanz von Sinnverstehen und Interpretation noch nicht gerecht wird. Seiner Ansicht nach sind sowohl Beschreiben als auch Verstehen als Grundvoraussetzungen für adäquates Erklären zu begreifen. Soziale Phänomene können folglich nur durch das Entschlüsseln des individuellen und kollektiven Sinns verstanden werden, der ihnen beigemessen wird. Für diese Zwecke erachtet Trifte ein Zusammenspiel von sowohl quantitativen als auch qualitativen Methoden in der Analytischen Soziologie als angebracht.
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Thomas Kron / Thomas Grund Riccardo Boero und Flaminio Squa~oni unterstreichen die Rolle, die Computersimulationen in der Analytischen Soziologie spielen. Agentenbasiertes Modellieren erlaubt eine explizite Abbildung von Akteuren, deren Interaktionen und relevanten Mechanismen. Auf diese Weise 1J.ssen sich generative Prozesse direkt beobachten und untersuchen. Im Weiteren können oftmals Muster und d.h. auch: unvorhersehbare soziale Konsequenzen individuellen Handelns nachgebildet werden. Wenn die Analytische Soziologie Wert auf das Soziale erzeugende Prozesse legt, gehören Computersimulationen zum Standard-Werkzeug dieser Forschungsgemeinde. Boero und Squa~oni zeigen verschiedene Typen von Computersimulationen auf und legen dar, wo die Herausforderungen für den Einsatz von agentenbasierten Modellen in der Soziologie liegen. Gianluca Manzo demonstriert eine konkrete Anwendung solcher Computersimu1J.tionen und beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass Akteure objektive Bedingungen und Chancen oftmals als schlechter empfmden, je besser diese "objektiv" sind. Am Beispiel re1J.tiver Deprivation - der Tendenz, sich als benachteiligt im Vergleich zu Anderen zu fühlen - zeigt Manzo auf, wie allgemeine Bezüge zu verschiedenen lokalen und globalen Bezugsgruppen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen. Einen weiteren Beitrag liefert er mit der systematischen Unterscheidung zwischen dem Vorhandensein von re1J.tiver Deprivation und der Intensität eines dadurch verursachten Gefühls. Wir hoffen sehr, dass diese Beiträge Anregungen zur Fortentwicklung der Analytischen Soziologie geben können. Dass dies in einem Sammelband möglich ist, ist nicht alleine uns zuzuschreiben, sondern der Hilfe verschiedener mithandelnder Akteure geschuldet: Unser Dank gilt Kulbarsch & Partner für die Übersetzungen der englischen Beiträge (zudem wurden alle Passagen aus "Dissecting the Social" überall dort der deutschen Übersetzung angepasst, wo es auf die sprachlichen Differenzen offensichtlich nicht ankommt); Timur Ergen und Pascal Berger danken wir für die unermüdliche Unterstützung bei Formatierungs- und sonstigen Arbeiten, die nahezu mit detektivischem Geschick ausgeführt werden mussten, sowie für das Korrekturlesen, an dem auch Andreas Braun sehr hilfreich mitgewirkt hat. Dem Verlagftir SoiJalwissenschqften ist für die geduldige Kooperationsbereitschaft zu danken, nicht zuletzt auch in der Vertragsgestaltung, wofür Cori A. Mackrodt in diesem Fall ein besonderer Dank gebührt. Nicht zuletzt hat uns Peter Hedströ", bei Rückfragen stets bereitwillig Auskünfte über Details seiner Analytischen Soziologie verraten - auch diese Diskussionen tragen die Hoffnung, dass die Analytische Soziologie noch 1J.nge nicht an ihrem Ende angekommen ist.
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Sozialtheorie
MichaelSchmid
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Sozialen" Bemerkungen zum Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie
1. Einleitung Peter Hedström hat vor wenigen Jahren ein mitderweile auch ins Deutsche (und Italienische) übersetztes Buch! vorgelegt, in dem er sich für eine Neuorientierung der soziologischen (aber auch der "interdisziplinären" (Hedström/Swedberg 1996a: 282)) Theoriebildung einsetzt, die verspricht, wenigstens einige der überkommenen (sowohl erklärungslogischen als auch prüfungstheoretischen) Unzulänglichkeiten und zudem die "Fragmentarisierungen" (Hedström 2008: 25, 46) bzw. den (in den Augen Hedströms unhaltbaren) "theoretischen Pluralismus" (Hedström 2008: 59) der Disziplin zu meiden. Betrachtet man den genaueren Argumentationsgang des Traktats, der in den Augen seiner Anhänger als eine Art "Manifest der Analytischen Soziologie" gilt (Barbera 2006: 32), dann kann man ihn auch als den Versuch bewerten, ein "neues" Theorieparadigma zu begründen, das mit dem Ehrgeiz auftritt, marktgängige Theorieüberlieferungen ignorieren (Hedström 2008: 11, Fn. 2)2 und den immer wieder beklagten Hiatus zwischen theoretischer und empirischer Forschung überwinden zu können. 3
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Vgl. Hedström (2005, 2006, 200B). Ich halte mich an die deutsche Übersetzung, verwende abet dort, wo mir wichtig ist, dass der Leser dieses Kommentars die englischen Begriffskonnotationen kennt, die originale englische Nomenklatur. Freilich werden auch Max Weber (Hedström 2006c: 73, 200B: 17), Georg Simmel (Hedström/ Swedberg 199B: 5) und det frühe (Hedström 200B: 13, 17), wegen seiner funktionalistischen Behandlung sozialer Mechanismen aber nicht der späte Parsons (Hedström/Swedbetg 199B: 6, Fn. B) verschiedentlich erwähnt, und auch de Tocqueville findet sich in die Ahnenreihe der "analytischen Soziologen" aufgenommen (vgl. Hedström 2006c: 73, 2005; Edling/Hedström 2005). Barbera (2006: 34f.) und Nogueta (2006: 10) enthalten erweitette Listen von Autoren, die sie als (detzeitige) Vertreter der ,,Analytischen Soziologie" einstufen. Dem dienen offenbar auch weitete Vetöffentlichungen, in denen det Autor seinen ,,Ansatz" theoriepolitisch zum Durchbruch verhelfen möchte, vgl. Hedström/Witrrock (2009) und Hedström/ Bearman (2009).
31 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Ich möchte in einem ersten Schritt diese programmatischen Vorschläge zur Etablierung einer integrativen "Analytischen Soziologie" bewerten4, um sie daraufhin einer - wie ich hoffe - teils klärenden, teils weiterführenden Kritik zu unterziehen.
2. Bewertung der Analytischen Soziologie Ich möchte zunächst diejenigen Überzeugungen des Hedströmschen Forschungsprogramms herauszustellen, die durchweg zu verteidigen sind. Wenn ich seine Auffassung nicht verfälsche, so möchte Hedström die Soziologie aus ihrer (theoretischen und zumal erkenntnistheoretischen) "Krise", die Raymond Boudon bereits vor über drei Jahrzehnten ausgemacht hatte (vgl. Boudon 1980: Hf.), befreien, indem er sie drängt, sich vom überkommenen Ballast metaphysischer, normativer und typologisch-narrativer Theorieauffassungen zu trennen und davon abzusehen, sich vornehmlich in empiriefernen "metatheoretischen" (Hedström 2008: 11) und "exegetischen Exkursen" (Hedström 2008: 26) zu ergehen. An die Stelle der "farbenfrohen" (Hedström 2008: 66) oder "holistischen" Begrifilichkeit (Hedström 2008: 210) und der "oft nichtssagenden Schriften der ,großen' soziologischen Theoretiker" (Hedström 2008: 11) soll eine kompromisslos wissenschaftliche und d.h. für den Autor vor allem: eine theorie- wie empiriegeleitete Soziologie treten, die dazu in der Lage ist, die "operative Logik" (Hedström 2008: 210) der sozialen Realität zu erklären, und sich den wissenschaftslogischen Anforderungen, die an ein derartiges Unternehmen zu stellen sind, unterwirft. 5 Dabei hängt der Erfolg des zu diesem Zweck entwickelten "explanatory framework" (Hedström 2005: 11) in der Tat von der Identifikation und formalen ModelIierung "generativer sozialer Mechanismen" (vgl. Hedström 2008: 25, 41 u.a.) ab, die logisch abzuleiten erlauben, wie sich "soziale Tatsachen" (Hedström 2008: 68) aus den jeweiligen Motiven und Handlungsorientierungen einzelner Akteure und ihren Interaktionsregimes zwangsläufig ergeben. Zur Bestimmung dieser Motive (Hedström 2008: 62) und deren "causal powers" (Hedström 2005: 105)6 wiederum benötigt der Forscher eine Theorie des 4
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Ich beschränke mich (weitgehend) auf die Ideen, die Hedström vorgelegt hat. Barbera (2006) und Noguera (2006) verbinden mit dem Begriff der ,,Analytischen Soziologie" offenbar unifikatorische und einheitsparadigmatische Ansprüche, die sich derart expressis verbis bei Hedström nicht finden lassen. Eine Implikarion dieser Anlehnung muss sein, dass die Soziologie darauf verzichten sollte, sich zur methodologischen Deckung ihrer luftigen Begriffsübungen und definitorischen Mystifikationen (Hedström 2008: 14) eine eigenständige Methoden- und Erkennmislehre zuzulegen, die sich von der Wissenschaftstheorie, die die Naturwissenschaften für verbindlich halten, unterscheiden müsste. Auf eine solche alternative Theorie der Wissenschaft sind vor allem jene Soziologen angewiesen, die weder Erklärungen geben noch ein realistisches Forschungsprogramm verfolgen wollen. Damit entfernt sich Hedström mit Nachdruck von allen Handlungsauffassungen, die auf (kausale) Handlungserklärungen glauben verzichten zu sollen, und steckt damit zugleich den Bereich ab, innerhalb dessen eine Zusammenarbeit mit der Handlungspsychologie naheliegt. Die Arbeiten von
MichaelSchmid individuellen Handelns (vgl. Hedström 2008: 56), die zugleich plausibel macht, wie "causal agents" (Hedström/Swedberg 1996a: 290) Interaktionsstrukturen und deren Kollektiveffekte vermittels ihrer (aufeinander bezogenen) Handlungen "generieren" (Hedström 2005: 111) oder "erzeugen" (Hedström 2008: 159). Soziologische Erklärungen verpflichten sich auf diese Weise einem kompromisslosen, aber keinesfalls (ontologisch) "extremen" Methodologischen Individualismus (Hedström 2008: 16, Fn. 4), der reduktionistische7 und strukturalistische Erklärungspraktiken zugunsten mehrstufiger und mikrofundierender ErklärungenB gleichermaßen vermeiden möchte. Auf der damit festgelegten Basis kann in der Tat ein heuristisch fruchtbringendes soziologisches Theorieprogramm entworfen werden, das - wie Hedström mehrfach zeigt - auf empirische Bestätigungen (oder fortschreitende Korrekturen9) nicht zu verzichten braucht. Die Leistungskraft dieser Heuristik lässt sich insofern genau abschätzen, als jedes Erklärungsargument im Ralunen eines handlungstheoretisch basierten Modells formalisiert werden muss, um die erwünschte Ableitungsgenauigkeit und damit eine, mit Hilfe empirischer Daten kontrollierbare, Vorhersagekraft zu garantieren. Insoweit der Modelleur die jeweils vorausgesetzten, in ganz unterschiedliche Richtungen weisenden Anwendungsbedingungen genau angeben kann, lassen sich im Rahmen eines derartigen Forschungsprogramms unterschiedliche Erklärungsszenarien (oder "Strukturmodelle", vgl. Esser 2002: 142ff.) voneinander unterscheiden, die Hedström - in Anlehnung an seinen Mentor Robert K. Merton - an verschiedenen Stellen als "Theorien mittlerer Reichweite" bezeichnet (Hedström 2008: 20f., 199; Hedström/Swedberg 1998: 5f.; Hedström/Swedberg/ Udehn 1998: 353).10 Da diese Kennzeichnung indessen niemanden daran hindern kann, zu fragen, wie sich diese Einze1modelle auseinander ableiten, miteinander verbinden und auch ausbauen lassen, braucht sich die Analytische Soziologie keine Jon Elster, der genau besehen keine "sozialen", sondern - in kritischer Auseinandersetzung mit der Rational Choice-Tradition - "psychische Mechanismen" untersucht (vgL Elster 1989: 9 u.a.), sind ihm dabei verbindliches Vorbiki. 7 Vgl. für ein solches Missverständnis Pickel (2006), das aber insoweit konsequent ist, als
153 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen analytisch wichtiger als Bedürfnisse, wenn wir unsere Handlungswahl verstehen wollen. Ich werde in diesem Artikel hauptsächlich das Konzept der Präferenzen verwenden.
2. Modelle sind wichtig Ein Modell ist naturgemäß eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Die Frage ist, wie wir vorgehen sollten, um die Wirklichkeit zu vereinfachen. Für analytische Zwecke sollten unsere Modelle die uns interessierenden spezifischen sozialen Phänomene und die wichtigsten Eigenschaften dieser Phänomene herausstellen. Ärzte sind am menschlichen Körper interessiert, folglich wird ein Arzt für Innere Medizin den menschlichen Körper in Bezug auf die inneren Organe darstellen, während ein Orthopäde ein Modell des menschlichen Skelettes benutzen wird. Dies reflektiert eine Arbeitsteilung - verschiedene Teile des Körpers benötigen verschiedene Modelle.2 Dies verhält sich in den Sozialwissenschaften nicht viel anders. Psychologen agieren oft anhand von Modellen, bei denen der Akteur in verschiedene innere Bestandteile oder Identitäten aufgeteilt ist. Dieser Ansatz hat sich für das Verstehen psychologischer Prozesse als nützlich erwiesen. 3 In den Wirtschaftswissenschaften ist das neoklassische Modell der Ökonomie relevant. In diesem Modell sind die Akteure Nutzenmaximierer und betreiben einen ökonomischen Austausch auf dem Markt. 4 Dieses Modell hat sich auch für andere Gebiete als ökonomische Transaktionen als stabil und informativ erwiesen, wie z.B. im Bereich der Partnerwahl auf dem, was wir Heiratsmarkt nennen. Wir haben in der Soziologie viel Zeit damit verbracht, die Modelle anderer Disziplinen zu kritisieren, vor allem die in der Ökonomie verwendeten, neo-klassischen Modelle, und dabei die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Disziplin geflissentlich ignoriert. Innerhalb der Soziologie ist sogar die Idee der Anwendung von Modellen an sich diskutiert worden. Dennoch, wenn man daran interessiert ist, die Gesellschaft zu beschreiben und zu verstehen, müssen wir bessere Modelle entwickeln. Um im Alltagsleben zu funktionieren, sind wir durch Erziehung und viel2 3
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Diese Modelle sind oft deskriptiv, und Mediziner befassen sich schon seit Hippokrates damit, wie körperliche Prozesse erklärt und verstanden werden können. Fteuds Modell vom Es, Ich und Übet-Ich ist ein klassisches Beispiel dafür. Ferner sind die Modelle so konstruiert, dass sie Forschenden dabei helfen, den Gegenstand ihrer Recherchen besser zu verstehen. Die Strukturen des Marktes können differieren. Die drei bekanntesten (idealtypischen) Marktformen sind: Freie Marktwirtschaft, mit einer großen Anzahl von Akteuren sowohl auf der Seite der Nachfrage als auch des Angebotes; das Oligopol mit wenigen Akteuren auf einer der beiden Seiten und das Monopol, das nur einen Akteur auf einer dieser Seiten umfasst.
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Gunn Elisabeth Birke/und leicht auch genetisch als Staatsbürger programmiert, um nur einige Aspekte der komplexen Realität, in der wir leben und die wir beobachten, zu selegieren und uns nur mit diesen zu befassen. Folglich selegieren und abstrahieren wir unbewusst die ganze Zeit, da es Myriaden von Impressionen gibt, die wir aufnehmen und verarbeiten müssten, wenn wir alles und allem erlauben würden, relevant zu sein. Für Forschende ist die Fähigkeit, sich auf einige wenige isolierte Punkte zu konzentrieren und die Realität zu sezieren, noch ungleich wichtiger, da wir mehr als nur unsere Alltagsimpressionen zu verstehen suchen. Damit wird offensichtlich: Wir brauchen gute Modelle der Gesellschaft.
3. Was zeichnet ein gutes Modell aus? Das Rational-Choice-Modell und die DBO-Theorie beinhalten beide Vorstellungen von Akteuren und Strukturen. Das ursprüngliche RC-Modell nimmt an, dass Akteure rationale, nutzenmaximierende Individuen sind, wohingegen andere Versionen auf der Annahme beruhen, dass Individuen nach Befriedigung und nicht nach Maximierung streben und mit der Maximierungsstrategie verknüpfte Erwartungen als Vorhersage für irrationales Verhalten (für eine endlose Suche nach und Verarbeitung von Informationen etc.) verstanden werden kann. Die strukturellen Anteile dieser Modelle sind trotzdem oft nicht besonders spezifiziert. Das RC-Modell beinhaltet keinesfalls expliifte Annahmen über Strukturen, basiert aber auf Annahmen über den Markt, der eine spezifische Art von Struktur mit Grenzen ist, die durch soziale Verträge definiert sind - inklusive Eigentumsregelungen, Transaktionsregeln, dem Finanzsystem, wie z.B. den Kredit- und Finanzmarkt etc. Folglich beinha1tet das RC-Modell einen, wenn auch nicht spezifizierten, Strukturgedanken. Das DBO-Modell ist expliziter bezüglich struktureller Annahmen, da es den Opportunitätsbegriff enthält. Aber genauso wie das RC-Modell ist das DBOModell ein abstraktes und allgemeines Modell, das besonders hinsichtlich dessen, was wir mit "Opportunitätsstruktur" meinen, spezifiziert werden muss, um fruchtbar auf konkrete Forschungsbereiche angewendet werden zu können.
3.1 Zeit und Raum Elster (2007) argumentiert, dass opportunitätsbasierte Erklärungen sozialen Verhaltens wichtig sind, besonders um die Varianz des Verhaltens im Zeitverlauf erklären zu können. Ich würde hinzufügen, dass opportunitätsbasierte Erklärungen auch wichtig sind, um die Varianz des sozialen Verhaltens im soifa/en Raum zu erklären. Der Grundgedanke eines strukturellen Arguments ist, dass Unterschiede in den Möglichkeiten und Beschränkungen mit unterschiedlichen strukturellen Positionen
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen einhergehen. In der Soziologie werden Individuen nicht als autonome Akteure betrachtet, sondern als eingebunden in soziale Strukturen, oftmals definiert durch festgelegte Rollen-Sets, organisatorische Positionen, Arbeitsstätten etc. Daher werden die Möglichkeiten und Beschränkungen, mit denen sich Akteure auseinandersetzen müssen, normalerweise eng mit ihren strukturellen Positionen, ihrem Zugang zum Netzwerk usw. verbunden.
3.2 Strukturelle Positionen Abhängig davon, wie "Struktur" definiert ist, kann man normalerweise verschiedene Interessen und normative Verhaltensregeln anhand ihrer strukturellen Position identifizieren. Zum Beispiel sind Arbeitnehmer in Lohnverhandlungen eher am eigenen Verdienst interessiert, während Arbeitgeber zuerst das Wohl der Firma im Auge haben: Die Arbeiter wollen ihren Verdienst maximieren, der Arbeitgeber seinen Profit. 5 Dahingehend sind - per definitionem - verschiedene strukturelle Positionen mit unterschiedlichen Interessen verbunden. Wir würden annehmen, dass diese positionalen Unterschiede verschiedene Weltsichten implizieren - nicht für alle möglichen Aspekte, aber für jene Angelegenheiten, die mit klassenbasierten Interessen zusammenhängen (siehe Wright 1995). Daher wären wir auch nicht überrascht, wenn es eine Verbindung zwischen der Position innerhalb der Klassenstruktur und des politischen Wahlverhaltens gäbe (siehe z.B. Chan/Goldthorpe 2007). Die Klassenposition beeinflusst die Wahrnehmung der Interessen von Akteuren, was wiederum ihre politischen Präferenzen beeinflusst - zumindest insoweit wie ihre klassenverbundenen Interessen reichen. Der für das Verstehen von Präferenzen und Entscheidungen höchst relevante Zugang zu Informationen (siehe Morgan 2002) ist oft von der Verortung eines Akteurs innerhalb der Opportunitätsstruktur abhängig.
3.3 Soziale Netzwerke Man kann davon ausgehen, dass die sozialen Netzwerke, in denen Individuen eingebunden sind, einen Einfluss auf die Präferenzen jener Akteure ausüben, die sich in ihnen bewegen. Das DBO-Modell befürwortend, diskutiert Hedström (2005) bedürfnisorientierte und überzeugungsorientierte soziale Interaktionen. Diese Konzepte erfassen Situationen, in denen die Bedürfnisse und Überzeugungen von Akteuren von ihrer Interaktion mit anderen Akteuren, z.B. mit ihren Freunden, beeinflusst werden. 5
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Es gibt Regeln für Tarifverhandlungen, die besagen, dass der Verhandlungsprozess Fortschritte macht, wenn keine der Parteien eine bedingungslose Maximierungsstrategie anstrebt (siebe H0gsnes 1994).
Gunn Elisabeth Birke/und Netzwerke haben ihre eigene Struktur (z.B. Small-World-Netzwerke). Zudem können Netzwerke in Abhängigkeit von den involvierten Personen mehr oder weniger einflussreich sein. Ein stark verbundenes Netzwerk wird wahrscheinlich weniger neue Informationen bieten, z.B. in Bezug auf Karrierechancen (vgl. Granovetter 1995). Und ein eng geknüpftes Netzwerk kann Menschen auch in soziale Zellen einschließen (soziale Schließung), was den Beteiligten je nach Menge der verfügbaren Ressourcen neben Nachteilen auch Vorteile einbringen kann. Starke soziale Verbindungen z.B. in Imrnigrantengemeinschafen können für das soziale Wohlbefinden nützlich sein, aber nicht für die Integration. 6 Daher müssen soziale Netzwerke aus vielen Untersuchungszwecken mit Opportunitätsstrukturen verknüpft werden, die einen unterschiedlichen Zugang zu sozio-ökonomischen und politischen Ressourcen aufweisen.
4. Akteure und Strukturen Die strukturalistische Tradition in der Soziologie würde argumentieren, dass Strukturen wichtiger sind als Akteure. Besonders die strukturell-funktionalistische Tradition wurde bezichtigt, Akteure gar nicht oder wenn überhaupt, dann als ein übersozialisiertes Konzept des Menschen zu verstehen (siehe Wrong 1961). Meiner Ansicht nach würde eine Diskussion über die analytische Priorität den Akteur an die vorderste Front stellen: Soziale Strukturen existieren nicht, ohne durch Akteure kontinuierlich von innen heraus oder von außen erzeugt, aufrechterhalten oder verändert zu werden. Wenn wir wissen wollen, wo Strukturen "herkommen", fInden wir uns in einem unendlichen Regress zwischen Akteur und Struktur wieder, wenn wir in der Zeit zurückgehen. Trotzdem nehmen wir, meistens aus analytischen Zwecken, die Geschichte und die Existenz sozialer Systeme als gegeben an und versuchen, die Effekte der Eigenschaften eines sozialen Systems mittels der Beschränkungen und Orientierungen des Akteurs zu erläutern. Dies ist die erste Komponente des Makro-Mikro-Makro-Modells von James Coleman. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Handlungen von Akteuren, die sich innerhalb des Systems befInden, und die dritte Komponente ist die Kombination oder Interaktion dieser Handlungen, die das Systemverhalten bzw. die emergenten Eigenschaften hervorbringen (Coleman 1990: 27). Ein gutes analytisches Modell besteht daher aus Akteuren, der Struktur und der Wechselbeziehung zwischen diesen beiden (vgl. Hernes 1998). Annahmen über die Akteure, über die Strukturen und ihre Wechselbeziehungen müssen spezifIziert werden, wenn wir die reale Welt verstehen wollen.
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Siehe zum Beispiel zum Konzept des negativen sozialen Kapitals Portes (1998).
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen Lassen sie uns mit einem Beispiel fortfahren: Es gibt ein gesellschaftliches Gefille bei Bildungsabschlüssen. Kinder von Eltern mit einem hohen Bildungsabschluss kommen eher als Kinder von Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss in den Genuss hoher Bildung.B Warum ist das so? Wie können wir derartige Bildungsleistungen modellieren?
4.1 Akteure Das erste und einfachste Modell lässt die Struktur außen vor und differenziert zwischen den Eigenschaften der Akteure. Mit diesem Modell nehmen wir an, dass die Differenz zwischen Akteuren der einzige Mechanismus ist, der Unterschiede im Ergebnis produziert (vgl. Hernes 1998). Dies ist ein sehr einfaches Handlungsmodell. In unserem Fall könnten wir argumentieren, dass einige Kinder eine bessere Arbeitseinstellung, größeren Ehrgeiz und bessere Noten haben und deswegen eher eine höhere Bildung verfolgen. Wir könnten weiterhin eine genetische Komponente einbeziehen und annehmen, dass die Lernfahigkeit und der Intelligenzquotient ungleich zugunsten dieser Kinder verteilt sind. Für manche Zwecke, speziell wenn wir nicht daran interessiert sind, warnm die Akteure sich unterscheiden, mag dieses Modell völlig ausreichen. Es sagt nichts über die Umwelt der Individuen aus, was gleichbedeutend mit der Annahme ist, dass alle Kinder in der gleichen Umwelt aufwachsen, und/oder ihre Umwelt nicht relevant ist. Für viele Erklärungszwecke ist dieses Modell jedoch zu limitiert. Wir möchten nämlich ebenfalls den Einfluss der Umwelt verstehen. 9
4.2 Struktur In einem weiteren Modell wird angenommen, dass die Akteure identisch sind, sich jedoch in ihrer Position innerhalb einer Sozialstruktur unterscheiden. Dies ist ein strukturalistisches Modell und hier muss spezifizieren werden, welche Art von Sozialstruktur gemeint ist. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, ließe sich argumentieren, dass die identischen Akteure in zwei verschiedenen Orten lokalisiert sind, definiert durch den Bildungsgrad der Eltern: Familien mit hohem und Familien mit niedrigem Status. lO Ihre Kinder haben dieselben Fähigkeiten und Ambitionen. Jedoch ist höhere Bildung eine ökonomische und gesellschaftliche Investition und es ließe sich eher von Kindern aus höhergestellten Familien erwarten, dass sie die besDies ist eine ziemlich allgemeine Erkenntnis, obwohl der angesprochene Zusammenhang im Laufe der Zeit und in verschiedenen Ländern variiert (siehe Birkelund 2007; Hout/diPrete 2006). 9 Wir hegen als Soziologen ein spezielles Interesse am so:dafen Umfeld des Akteurs (obschon andere Teilbereiche ihres Umfeldes damit verflochten sind, wie z.B. ökonotnische, politische, technologische und andere sozio-materielle Aspekte). 10 Empirisch existiert eine positive Korrelation zwischen sozialem Status und dem Bildungsweg (vgL Chan/GoldthOlpe 2007). 8
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Gunn Elisabeth Birke/und sere Bildung erhalten. Die Gründe hierfür liegen in den Unterschieden zwischen den Umwehen, in denen die Kinder erzogen werden: Familien mit einem höheren Status sind ökonomisch bessergestellt und deshalb eher in der Lage, ihre Kinder finanziell zu unterstützen, wenn sie sich für einen höheren Bildungsweg entscheiden. 11 Also würde die einfache Version dieses Modells die Akteure als einander ähnlich begreifen, ausgestattet mit denselben (wahrscheinlichkeitsverteilten) Ambitionen und Fähigkeiten. Dieses Modell würde voraussetzen, dass Unterschiede in ihren strukturellen Positionen unterschiedliche Möglichkeiten (und Einschränkungen) implizieren. Dies wäre der Mechanismus, der die im Ergebnis Unterschiede hervorruft, z.B. im BildungsabscWuss. 4.3 Akteure und Strokturen Schließlich sind Modelle, die die Interaktionen zwischen Akteuren und ihrer Umwelt einbeziehen, aus vielerlei Gründen wichtig. In diesen Modellen sind Akteure heterogen (unterschiedliche Charakteristika) bezogen auf ihre Position in unterschiedlichen Umwelten. Dies erlaubt uns, komplexere Modelle aufzubauen, und komplexe Modelle sind näher an der Realität. Um unser Beispiel fortzusetzen: In diesem Interaktionsmodell würden wir erwarten, dass Eltern mit niedriger Bildung ihre Kinder weniger dazu ermuntern, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen als Ehern mit höherer Bildung. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Akteure von Geburt an dieselben (wahrscheinlichkeitsverteilten) Eigenschaften haben, was (kognitive und nicht-kognitive) LernEihigkeiten angeht, beeinflusst ihre Erziehung sie in einer Weise, dass Kinder von Eltern mit einem höheren Status eine bessere Arbeitseinstellung, höhere Ansprüche und bessere Noten haben und deswegen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen höheren Bildungsweg einschlagen. 12 Wir könnten auch davon ausgehen, dass besser gestellte Familien die Ausbildung ihrer Kinder fmanziell eher unterstützen werden und ihnen die Entscheidung für eine Hochschulausbildung erleichtern. Demzufolge wären Kinder in niedriger gestellten Familien nicht denselben Einflüssen ausgesetzt und würden folglich nicht herausgefordert, ihre Fähigkeiten auszunut11 Ein bekanntes Modell zur Wahl des Bildungsweges, vertreten durch Boudon (1974) und später durch Erikson und Jonsson (1996) sowie durch Breen und Goldthorpe (1999) weiterentwickelt, argumentiert in der Weise, dass Kinder aus Familien mit hohem sozialen Status wahrscheinlicher einen akademischen Bildungsgrad anstreben werden, da ihre Kosten-Nutzen-Analyse eine andere ist. Im Prinzip sind die Präferenzen die gleichen und sie möchten einen Abstieg vermeiden. Da ihnen aber eine andere strukturelle Verorrung gegeben ist, sieht ihre Kosten-Nutzen-Rechnung anders aus. 12 Es ist zu beachten, dass wir hier keine ungleiche Verteilung genetischer Faktoren voraussetzen, die die erwartete Ungleichmäßigkeit vergrößern würde.
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen zen, in der Schule hart zu arbeiten oder den Wert von Bildung höher einzuschätzen als andere Aktivitäten. Dieses Modell würde also sowohl unterschiedliche Präferenzen als auch Opportunitäten für Kinder mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund erwarten. 13 Die empirische Forschung scheint eher mit diesem Modell im Einklang zu stehen. Morgans (2002) Status-Sozialisations-Theorie führt aus, dass der Vorsatz von Schülern., eine Hochschule zu besuchen, durch ihre eigenen Erwartungen geformt werden sowie dadurch, wie diese Erwartungen mit denen ihrer Eltern, Lehrer und Clique korrespondieren. Akteure verschiedener sozialer Herkunft können unterschiedlichen Zugang zu präzisen Informationen Z.B. über ein Hochschulstudium haben. Hinzu kommt, dass normative Erwartungen im Zusammenhang mit strukturellen Positionen variieren. "Es scheint unbestreitbar zu sein, dass die Verteilung der Überzeugungen von Schülern im Austausch mit den Ansichten und Handlungen ihrer Signifikanten Anderen gebildet wird." (Morgan 2002: 422). Diese Kontexteffekte können normativ oder nachahmend sein: Ein Schüler könnte sich dafür entscheiden, eine Hochschule zu besuchen, weil seine Eltern dies von ihm erwarten (normativ geleitetes Verhalten). Oder er kann sich entscheiden, zur Universität zu gehen, weil seine Freunde dies auch tun (nachahmendes Verhalten). Zusammengefasst: Soziologen haben lange Zeit behauptet, dass es wichtige Wechselbeziehungen zwischen exogenen strukturellen Mechanismen, endogenen sozialen Einflussmechanismen und dem Verhalten von Individuen gibt. Indem die Interaktionen zwischen Akteuren und Strukturen integriert werden, bekommen wir ein besseres Verständnis dafür, wie die Auswirkungen der Eigenschaften eines sozialen Gebildes auf die Orientierungen eines Akteurs erklärt werden können (vgl. Coleman 1990).
5. Die Ausbildung von Präferenzen Ökonomen haben behauptet, dass es "nützlich sein kann, Geschmäcker als stabil im Zeitablauf und unter den Menschen als gleichartig zu behandeln" (Stigler/ Becker 1977: 76). Unterschiedliche Handlungswahlen wären dann das Resultat unterschiedlicher Opportunitäten, nicht verschiedener Präferenzen oder Geschmäcker. Obwohl Sclgler und Becker anerkennen, dass Priiferenzen giformtwerden, argumentieren sie, dass eine Analyse des Präferenzwande1s für die Ökonomie nicht angebracht ist. Dies ist ein altes Mantra in der Ökonomie. 1962 führte Milton Friedrnan an, dass "Veränderungen von Präferenzen und die Erforschung ihrer Ursprünge besser anderen Disziplinen überlassen werden sollte." (Friedman 1962: 13 Einige Forschende haben auch das Argument vorgebracht, dass sich eine Kultur der Ablehnung der Schule unter den Kindern der Arbeiterklasse entwickeln könnte.
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Gunn Elisabeth Birke/und 12f.; vgl. Rizvi 2001: 141) In dieser Perspektive sollte jedes Verhalten, das auf Veränderungen von Präferenzen zu basieren scheint, in ein strikt ökonomisches Problem umgeformt werden, bei dem Änderungen im Verhalten als Resultat von Veränderungen von Preisen und Einkommen (d.h. Opportunitäten) und nicht als Veränderungen der Präferenzen angesehen werden (vgl. Rizvi 2001: 141). Diese Vereinfachung wird durch die Tatsache möglich gemacht, dass ökonomische Modelle im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften auf der Idee eines gemeinsamen Bewertungsmaßstabs (Geld) aufbauen, der eine metrische Rangordnung aller Güter und Dienstleistungen erlaubt. Annahmen zu den Präferenzen von Individuen können auf diese Weise rigoroser etabliert werden als ohne diesen gemeinsamen Nenner. Man kann vernünftigerweise annehmen, dass Jeder ein Objekt mit höherem Wert einem Objekt mit niedrigerem Wert vorziehen würde (beispielsweise einen BMW einem Fiat). Dennoch sind diese analytischen Vereinfachungen kritisiert worden, und insbesondere Psychologen haben eine empirisch basierte Kritik lanciert, indem sie zeigen konnten, dass Präferenzen konstruiert sind. Mehr als vierzig Jahre experimenteller Forschung auf diesem Gebiet zusammenfassend argumentieren Lichtenstein und Slovic (2006), dass die Entscheidungen von Menschen auf "einer Mischung aus Kosten-Nutzen-Abwägungen und wahrnehmungsähnlichen Prozessen basieren, die die Bearbeitung [...] und Rahmung mit einbeziehen." (Lichtenstein/Slovic 2006: 26) Akteure wollen sicher sein, dass sie das auswählen, was für sie richtig ist und bewerten Objekte anband ihrer Attraktivität. Die Attraktivität eines Objektes "setzt sich sowohl aus kognitiven/bewertenden und affektiven/emotionalen Komponenten zusammen" und die Urteile des Akteurs über die Attraktivität der Objekte werden "beispielsweise durch die Variabilität im Strom umweltbeclingter Inputs und durch die inneren Prozesse des Entscheidungsträgers verursacht, inklusive der Unsicherheit über die Ziele und die instabilen Zuordnungen der Ziele zu den Entscheidungsprob1emen" (Svenson 2006: 362). Einiges an dieser Unsicherheit mag dem verwendeten, experimentellen Forschungsdesign geschuldet sein, dennoch ist der Einfluss von Umgebungsvariablen auf die Präferenzen für unterschiedliche Ergebnisse von Bedeutung. Diese Art der Forschung hat in einer Suche nach neuen Theorien über Präferenzkonstruktion resultiert, besonders da die Vorstellung von Transitivität und Vollständigkeit der Präferenzordnungen empirisch nicht mehr aufrecht zu halten ist. Wenn wir die Entstehung von Präferenzen als einen Prozess verstehen, sind einige Einflüsse entscheidender als andere: Persönlichkeitsunterschiede wie biologi-
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen sche oder psychologische Neigungen, eingescWossen der Kognition, haben sich als wichtig herausgestellt. 14 In einer Lebenslaufperspektive sind interpersonelle Einflüsse derart vielfältig, dass diese Veränderungen in den Präferenzen wahrscheinlich machen. Daher gibt es eine Reihe von Argumenten, die nahe legen, dass die in den Standardmodellen der Ökonomie verwendeten Präferenzen sehr spezieller Natur sind und sich nur schwer verallgemeinern lassen. Problemfelder sind: Inkonsistenz der Präferenzen, nicht-autonome Präferenzen, Heuristiken, Meta-Präferenzen und multiple Präferenzordnungen.
5.1 Multiple Präferenzordnungen Unterstellt, dass Individuen multiple Rollen innehaben (Ehefrau, Mutter, Berufstätige usw.), würden wir auch multiple Präferenzordnungen erwarten, beispielsweise aufgrund ihrer Zeitverfügung. Als Mutter möchte ich mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen, als Professorin hätte ich gerne mehr Zeit für die Forschung. Die leidige Frage ist nun, wie ich mich entscheiden soll, d.h., was meine Prioritäten (präferenzen) zwischen konkurrierenden Zeitpräferenz-Schemata steuert. 15 Multiple Präferenzordnungen sind beständig und wir sollten nicht erwarten, dass sie zu einer einzigen Präferenzordnung "konvergieren". Bei multiplen Präferenzordnungen sind Konsistenzprobleme in der HandlungswaW offensichtlich, weshalb wir die HandlungswaWen von Individuen nicht als Information über ihre einzelnen Präferenzordnungen interpretieren können, (d.h., wir können keine RückscWüsse von der AuswaW auf die Präferenzen ziehen). Multiple Präferenzordnungen als gegeben unterstellt, wäre die entscheidende Frage, wann diese Einflüsse für die HandlungswaWen der Akteure entscheidend sind. Wir müssen genauer verstehen, was entscheidende Einflüsse auf die waW von Präferenzen (aus multiplen Präferenzen) hat, die soziales Verhalten beeinflussen.
5.2 Mikro-Makro-Link Wir gehen mit komplizierten Sachverhalten um, wenn wir versuchen, die individuelle Handlungstheorie mit den beiden anderen Komponenten zu verbinden, die wir brauchen, um ein soziales Phänomen zu erklären. Daher, so Coleman, sollte die Handlungstheorie einfach gestaltet sein: "Für eine Sozialtheorie, die aus den drei Komponenten besteht - einer Makro-zu-Mikro-Komponente, einer individuellen
14 Wie bereits Freese (2009) vorgeschlagen hat, wären Soziologen vielleicht besser damit beraten, das Individuum als Black-Box anzuseben und Diskussionen über den intrapersonaIen Aspekt anderen Disziplinen wie der Psychologie zu überlassen. 15 In solchen Siruationen mag der von Anderen ausgeübte Druck fiir unsere Entscheidungen wichtiger sein als sonst.
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Gunn Elisabeth Birke/und Handlungskomponente und eine Mikro-zu-Makro-Komponente - ist es überaus wichtig, dass die individuelle Handlungskomponente einfach bleibt." (Coleman 1990: 19). Dieser Aufsatz hat sich hauptsächlich mit der ersten Komponente befasst und für ein kontextualisiertes Modell sozialer Handlung argumentiert. Es gestaltet sich schwierig, die letzte Verbindung von der sozialen Interaktion zum Makroebenen-Ergebnis darzustellen. Wenn wir uns z.B. mit reiner Aggression beschäftigen, ist das einfach. Aber normalerweise ist die Mikro-zu-Makro-Komponente wesentlich komplizjerter, da sie mehr als einen Mechanismus involviert. 16
6. Zusammenfassung Ein gutes analytisches Modell setzt sich aus Annahmen über Akteure, Annahmen über Strukturen und Annahmen über deren Wechselbeziehungen zusammen. Soziologen wären mit Stiglers und Beckers Behauptung, dass Geschmäcker im Zeitverlauf stabil bleiben und bei allen Menschen gleich sind, nicht einverstanden. Wir gehen davon aus, dass Unterschiede in den Präferenzen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Um die Sache noch komplizierter zu machen, führen Soziologen an, dass Individuen in Strukturen wie zum Beispiel in Rollen innerhalb der Familie, Arbeitsplätzen, Netzwerken, usw. eingebunden sind. Da diese Positionen wahrscheinlich unterschiedliche Präferenzen und Handlungen mit sich bringen, würden wir Akteure mit multiplen Präferenzordnungen erwarten. Wenn mit einer bestimmten Position verbundene Präferenzen im Gegensatz zu Präferenzen einer anderen Position stehen, wird es oftmals schwierig sein, ein Ergebnis vorherzusagen. Das in diesem Beitrag vertretene Hauptargument ist, dass unsere Modelle die Effekte von Eigenschaften eines sozialen Gebildes auf die Beschränkungen und Orientierungen der Akteure explizjeren sollten.
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16 Siebe Manzo (2009) für ein sehr interessantes, agentenbasiertes Modell des BildungsabscWusses, das Mechanismen der Kosren-Nutzen-Wahmehmung von Akteuren mit einschließt, die er als heterogen modelliert - abhängig von ihrem sozialen Hintergrund.
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Andrea Maurer
Die Analytische Soziologie Peter Hedströms und die Tradition der rationalen Sozialtheorie
1. Einleitung Peter Hedström gehört zweifelsohne zu denjenigen, die die Soziologie als Wissenschaft vom Sozialen anlegen und zu diesem Zweck präzise, durch Abstraktion gewonnene Begriffe und kausale Erklärungen vorlegen wollen. Hedström tut dies im Anschluss an neuere Theorieentwicklungen im Kontext der Makro-Mikro-Diskussion, die den methodologischen Primat auf der Handlungsebene und die analytische Perspektive auf der Strukturebene verorten. "Sociology that really matters ... to me" ist für Hedström (2007) theoriegeleitetes Arbeiten mit dem Ziel, kausale Rekonstruktionen sozialer Prozesse in Form von Mechanismus-basierten Erklärungen auszuarbeiten. Die primäre Aufgabe einer so verstandenen Soziologie bestünde mithin darin, eine Sammlung Mechanismus-basierter Erklärungen anzulegen und diese der alltäglichen Arbeit zugrunde zu legen. Seit den Gesellschaftslehren der Aufklärung, vor allem aber mit der Schottischen Moralphilosophie,1 wird der Anspruch vertreten, die soziale Welt denkend, mit den Mitteln der Vernunft, einer präzisen Sprache und der formalen Logik "durchschaubar" zu machen und bis dato unverstandene soziale Prozesse analytisch "aufzuklären" und ihre Wirkungsweise kausal "aufzuhellen". Die Soziologie greift dies in der Diskussion um die Grundlagen und Mechanismen sozialer Ordnungsbildung bis heute in verschiedenen Theorietraditionen auf. Ob und inwieweit der von Hedström vertretene "mechanism approach" der Tradition rationaler Sozialtheorien zuzurechnen ist, will ich hier diskutieren. Ich werde dazu den methodologischen Rahmen der "ana!Jtischen So~ologie" (Abschnitt 3) rekonstruieren und darin eingebettet die Grundlagen (Abschnitt 4), die soziologische Heuristik (Abschnitt 5) und das Verhältnis des "mechanism approach" zu den rationalen Sozialtheorien (Abschnitt 6) erschließen und einschätzen.
Ich werde unten noch auf die Bedeutung der handlungstheoretischen Rekonstruktion des Marktmechanismus seit Adam Smith zu sprechen kommen.
165 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie
2. Aufklären sozialer Prozesse Die Idee, mit den Mitteln der Vemunft und einer präzisen Begriffsbildung2 eine denkende Ordnung in die komplexe soziale Welt zu bringen, hat in der Soziologie insbesondere Max Weber aufgegriffen. Weber hat die Entwicklung der (westlichen) Welt als umfassenden Rationalisierungsprozess rekonstruiert, der neben einem zunehmend bewusst geplanten individuellen Handeln auch die Systematisierung des Denkens, der Weltbilder und der Wissenschaft sowie die rationale Gestaltung sozialer Institutionen beinhaltet. Der ifVeckrationalen Handlungsorientierung kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Sie wird zum Ausgangspunkt soziologischer Erklärungen gemacht, da Zweck-Mittel-Relationen objektiv am evidentesten und am besten nachzuvollziehen sind, und sie wird als dominanter Handlungstyp der Modeme vorgestellt (vgl. insbes. Weber 1980: Kap. 1). Davon ausgehend stellt Weber soziale Ordnungsbildung als Problem wechselseitig verständlicher und stabiler Erwartungen dar und beschreibt allgemeine, bewusst und vor allem zweckrational gesatzte Regeln als formal rationale Grundlage sozialer Beziehungen. Die Verbreitung großer, rational organisierter Verbände mit formal-legalen Herrschaftsstrukturen ist für Weber die unausweichliche, wenngleich individuell ungeplante Begleiterscheinung der Modeme. Mit Popper, Albert u.a. Vertretern des kritischen Rationalismus, einer Variante der analytischen Philosophie, der sich Hedsttöm zurechnet (vgl. Abschnitt 2), findet sich auf der anderen Seite ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Bezugspunkt, der das analytische Denken, die Möglichkeit objektiver Wahrheitsfindung und die wissenschaftliche Kritik als Mittel der Erkenntnisfmdung ansetzt, dabei aber grundsätzlich von der Vorläufigkeit allen menschlichen Wissens und Erkennens ausgeht (vgl. insbes. Albert 1968; Popper 1969). Die Soziologie kann sich demzufolge als eigenständige Disziplin profilieren, indem sie "situationslogische AnalYsen" vornimmt, die Makrostrukturen als Handlungssituationen aus Sicht rationaler Akteure erschließen. Es geht dabei vor allem darum, den Problemgehalt sozialer Konstellationen zu erkennen und das dafür adäquate Handeln zu rekonstruieren. Das individuelle Handeln wird als "rationales" dargestellt, das den individuellen Absichten in der gegebenen Handlungssituation am besten entspricht (Rationalitätsprinifp; vgL Esser 1993: Kap. 4, 5; Hedström/Swedberg/Udehn 1998). Eine sozial-
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Das Postulat, präzise Begriffe und Aussagen zu formulieren, erinnert an das der Logik entnommene Postulat, dass der Gehalt einer Aussage umso höher ist, je präziser sie formuliert ist und je genauer und enger sie ihren Gegenstandsbereirh kennzeichnet (und damit erkennbar von bestimmten Aspekten abstrahiert und andere hervorhebt), und dass rein logische Aussagen keine neuen Erkenntnisse bergen, sondern dass dazu empirisch gehaltvolle Aussagen notwendig sind (vgl. Albert 1968; Popper 2000).
Andrea Maurer und gesellschaftstheoretische Wendung bekommt diese Methodologie, wenn "Alles Leben als Problemlösen"3 aufgefasst und die soziale Welt aus Sicht an sich vernünftiger Individuen als Ansammlung rational bearbeitbarer Probleme analysiert wird. Da zugleich von der Vorläufigkeit menschlichen Wissens ausgegangen wird, sind auch theoretische Gestaltungsvorschläge weiter unter dem Fokus "unintendierter" Folgeprobleme zu betrachten (vgl. Popper 1969,2008). Auf dieser Basis hat die Ökonomie früh damit begonnen, die kollektiven Effekte eines individuell rationalen und vor allem eigennutzorientierten Handelns zu thematisieren. Seit Smith wird materieller WoWstand (dessen Quelle ja seit den Physiokraten auf menschliche Leistungen zurückgeführt wird) als ökonomischer Problemfokus gewäWt und analysiert, unter welchen institutionellen Gegebenheiten eigennützige Wirtschaftsakteure dieses erreichen. In der Ökonomie wurde der Markt- respektive Wettbewerbsmechanismus lange als universell effiziente Form wirtschaftlichen Handelns betrachtet. Dahinter steht eine frühe Form der situationslogischen Analyse. Der Konkurrenzmechanismus benennt den eigennützigen Begehr der Akteure nach materiellen Konsumgütern als Ursache von Tauschhandlungen, die auf Wettbewerbsmärkten so lange andauern, bis durch eine zusätzliche Mengeneinheit kein Nutzenzuwachs mehr zu realisieren ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Grenzertrag gleich dem Marktpreis ist. Oder anders gesagt: Rationale Akteure, die durch ihren Eigennutz getrieben sind, generieren unter den Bedingungen eines vollkommenen Wettbewerbsmarktes allein durch ihre autonomen, freiwilligen Tauschhandlungen eine aus individueller und kollektiver Sicht optimale Verteilungsstruktur. Und Letzteres, ohne dies zu wissen oder anzustreben (vgl. ausführlicher Maurer/ Schrnid 2010: Kap. 6). Die solcherart erscWossene Logik des Wettbewerbsmechanismus wird sowoW in der Soziologie als auch in der Ökonomie (vgl. Hedström 2005; Hedström/Swedberg/Udehn 1998) aufgrund der stark vereinfachten Modelle auf der Handlungsebene (homo oeconomicus) und der Strukturebene (vollkommener Wettbewerbsmark~ als "unrealistisch" kritisiert, was aber nichts daran ändert, dass er kausal und durch Abstraktion präzise erklärt, warum individuelle Tauschhandlungen zu pareto-optimalen Gleichgewichten führen können. Innerhalb der Soziologie wurde vor allem das Handlungsmodell des homo oeconomicus wegen der dabei angenommenen vollständigen Information bzw. umfassenden Rationalität der Akteure und auch wegen des als universell unterstellten Handlungsprinzips der Nutzenmaximierung kritisiert (vgl. Hedström 2005). Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass das Handeln auf Wettbewerbsmärkten an die individuelle Rationalität keine größeren Anforderun3
So der bekannte Titel eines Vortrags und einer danach benannten Schriftensammlung Poppers. Problemerkennung, Fehlerkorrektur und Kritik spielen demnach eine zentrale Rolle bei der bewussten Verbesserung der Lebensumstände (siehe Popper 2008: 255ff.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie gen stellt, als Marktpreise richtig wahrzunehmen und sich an diesen zu orientieren. Aus der Logik des Wettbewerbs folgt dann, dass diejenigen, die dies nicht tun, weil sie zu hohe Preise verlangen oder zu niedrige anbieten, aus dem Markt herausfallen. Nur daher können Marktakteure so beschrieben werden, als ob sie rational handeln würden (siehe noch unten). Wesentlich zentraler scheint mir aus soziologischer Sicht jedoch die Kritik am Modell des vollkommenen Wettbewerbsmarktes zu sein, da dies grundsätzlich bedeutet, vom autonomen Entscheiden einzelner Akteure (welche Gütermenge er/sie bei gegebenen Preisen nachfragt oder anbietet) auszugehen und die Wirkung sozialer Verflechtungen wie Macht, Vertrauen oder Einfluss völlig zu ignorieren. Dies würde aber dem Grundanliegen und dem Selbstverständnis der Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln widersprechen. Es ist mir wichtig deutlich zu machen, dass soziologische Erklärungen gut beraten sind, zwischen Erweiterungen auf der Handlungs- und der Strukturebene zu unterscheiden, denn nur im zweiten Fall bzw. in Kombination von Handlungs- und Strukturannahmen werden so~ale Erklärungsfaktoren starkgemacht und ihre Wirkung auf das individuelle Handeln erkannt. Nur auf der Basis eines allgemeinen und deterministisch eindeutigen handlungstheoretischen Kerns ist es möglich, Situationskonstellationen4 in ihrer handlungsleitenden Wirkung zu erschließen und Handlungen eindeutig abzuleiten. Der Verzicht auf einen solchen festen handlungstheoretischen Kern bedeutet, die Wirkung von Situationsfaktoren nicht mehr klar erfassen zu können, sodass letztlich auch keine Heuristik anzulegen ist, wann, warum und an welcher Stelle Spezifikationen und Konkretionen vorzunehmen sind. Eine "erklärende So~ologie", die so:dale Strukturen über Handlungsannahmen erfassen und daraus soziale Prozesse erklären will, hat sich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sichtbar institutionalisiert (vgl. dazu etwa Boudon 1980; Coleman 1990; Esser 1993). Der Hintergrund dafür ist zum einen die kritische Auseinandersetzung mit funktionalistischen Argumenten (insbesondere mit Parsons) bzw. reduktionistisch-individualistischen Ansätzen (vor allem von Homans und Blau) und zum Anderen die Kritik an der Variablensoziologie (vgl. Boudon 1980; Hedström 2005,2007; Mayntz 2004). Coleman, Schüler von Blau, Parsons und Merton (vgl. Hedström/Wittrock 2009; Marsden 2005), hat, diese Auseinandersetzungen auf4
Der Vorschlag im Rational-Choice-Approach dazu ist, die allgemeine Wahlregel "situationsspezifisch" über Brockenhypothesen empirisch und theoretisch zu konkretisieren, um den inhaltlich leeren Interessen- und Nutzenbegriff zu fiillen. Lindenberg (1996) hat dazu etwa vorgeschlagen, "soziale Produktionsfunktionen" einzusetzen. Notwendig wären dann noch zusätzliche Annahmen über die mehr oder weniger vorhandenen Fähigkeiten der Akteure, rational handeln zu können, d.h., einerseits die objektive Situation im Lichte ihrer Intentionen wahrzunehmen und zu bewerten und andererseits sich auch über ihre Intentionen bewusst zu werden. Darauf stellt vor allern Hedström ab (vgl. Abschnitt 2).
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Andrea Maurer greifend, eine Sozialtheorie auf der Basis der Rational-Choice-Theorie vorgelegt (Coleman 1990), die analYtisch zwischen Struktur- und Handlungsebene unterscheidet und beide Ebenen mithilfe zusätzlicher, theoretischer und empirischer Hypothesen wieder verbindet, was sich im Bild einer "Badewanne" bzw. eines "Bootes" einprägsam abbilden lässt (siehe Coleman 1990: 8ff.). Coleman nutzt die situationslogische Analyse und soziologisiert die ökonomischen Situationsmodelle, indem er Situationen als je typische Verteilungen soi/ai konstituierter Handiungsrechte anlegt, die zum Tausch von Handlungsrechten und darüber zu Handlungssystemen mit ganz eigenen Funktionslogiken und Folgeproblemen führen, die eben nicht stabilen und optimalen Gleichgewichten entsprechen (vgl. ausführlich Maurer 2004, 2009). Hedström, der zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn längere Zeit in Harvard und im Umfeld von Coleman sowie den kritischen Rational-Choice-Theoretikern S0rensen und Elster verbracht hat (vgl. Edling/Stern 2003)5, ist durch diese Arbeiten geprägt (vgl. Hedström 2007, 2009) und sein "mechanism approach" erschließt sich auch in manchen Punkten erst vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit Coleman.
3. Der methodologische Rahmen: Analytische Soziologie Hedström (2005: Kap. 1; 2009) rechnet sich der analytischen Philosophie zu und benennt vier methodoJogische Grundprinifpien für sein Arbeiten: 1) Erklären, 2) Methodologischer Individualismus, 3) Abstraktion und Sezieren6 komplexer Sachverhalte sowie 4) Präzision in der Begriffs- und AussagenformulierungJ Er greift damit vor allem eine Forderung der analytischen Modell- und Theoriebildung auf (vgl. z.B. Esser/Klenovits 1991) und überträgt diese auf die Soziologie: die gedankliche Zerlegung der komplexen sozialen Welt in ihre Einzelkomponenten (Sezieren) in Verbindung mit dem Hervorheben bzw. Ausblenden einzelner Faktoren (Abstrahieren), um darin möglichst präzise beschriebene Kausalzusammenhänge finden zu 5
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In ihrer Expertise des skandinavischen Rational-Choice-Prograrnms geben Edling/Stem (2003) den Hinweis, dass Hedström bei Korpi, dem exponiertesten Rational-Choice-Soziologen in Schweden, studiert hat. Nach dem Hintergrund des englischen Originaltitels seines Hauptwerkes "Dissecting rbe sooo" befragt, gibt Hedström an, dass es ihm wirklich um die Anatomie und das Sezieren des Sozialen gehe. Hedström bezieht sich explizit auf die analytische Philosophie, ohne indes seine Bezugspunkte ausfiihrlich offenzulegen; so bleibt insbesondere sein Verhältnis zum kritischen Rationalismus weitgehend ungeklärt (vgl. als Ausnahmen Hedström/Swedberg 1998c; Hedström/Swedberg/Udehn 1998). Seine Referenzpunkte für die analytische Theoriehildung wie für rnehrstufJge, handlungstheoretisch fundierte Erklärungen sind einerseits die Klassiker Weber, Parsons und Merton sowie aktuelle Vertreter eines weiter und kritisch gefassten Rational-Choice-Ansatzes wie Boudon, Elster oder Schelling (Hedström 2005: 6; Hedström/Stem 2008).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie können: ,,00 explain complex social processes by carefully dissecting them, bringing into focus their most important constituent components, and then to construct appropriate models which help us to understand why we observe what we observe" (Hedström 2009: 332). Die analytische Theorie- und Modellbildung ist innerhalb der Soziologie mehrfachen Anfragen und Kritiken ausgesetzt, die vor allem den Realitätsgehalt und den Stellenwert der Handlungsannahmen adressieren. Hedström problematisiert vor allem, wie Annahmen auf der Handlungsebene gegenüber der Rational-ChoiceTheorie realitätsgerechter gefasst werden und wie falsche AnnahmenB vermieden werden können. Genauer formuliert bedeutet dies zu klären, an welchen Stellen und inwieweit Annahmen "vereinfacht" werden dürfen, welche Handlungstheorie für die Soziologie adäquat ist und wie Handlungs- und Strukturebene miteinander in Beziehung zu setzen sind. Das weist Hedström als Kritiker reiner Makroerklärungen (Strukturfunktionalismus, Neo-Funktionalismus, Neo-Marxismus) sowie rein individualistischer Erklärungsprogramme (Austauschtheorien, Symbolischer Interaktionismus) aus. Zugleich ist er damit auch von rein deskriptiven Beschreibungen, Gesellschaftsdiagnosen und der Variablensoziologie 9 abzusetzen. Innerhalb der erklärenden Soziologie differenziert er sich durch die Kritik am HempelOppenheim-Schema (siehe Hedström 2005: Kap. 2), dem er vorwirft, durch das deduktiv-nomologische Ableiten die Einmaligkeit und Pfadabhängigkeit sozialer Erscheinungen wie auch die Varianz des individuellen Handelns nicht berücksichtigen zu können. IO Hedström reiht sich stattdessen mit Merton in die Tradition der Theorien mittlerer Reichweite einll und schlägt dazu eben Erklärungen in Form kausaler Mechanismusrekonstruktionen vor, die regelmäßig wiederkehrende Prozesse aus Konstellationen von Akteuren und deren Handeln ableiten: "the purpose of theorizing, it seems to me, should always be to clarify matters, to make the complex and seemingly obscure clear and understandable" (Hedström 2005: 49). In der Frage des Realitätsgehalts bezieht Hedström, der Modelle ja als Abstraktion und nicht als Abbild der Welt sieht, entschieden Position gegen eine "instrumentalistische Umgangsweise" mit Annahmen. Unvollständige Abstraktionen sind von Modellen zu unterscheiden, die "falsche" Annahmen beinhalten. Weil daraus 8
"Wir nennen eine Aussage ,wahr', wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder den Tatsachen entspricht oder wenn we Dinge so sind, wie we Aussage sie darstellt." (popper 1969: 117) 9 Gegen staristische Kausalmodelle sowie auch große Längsschnittstuclien wendet er - wie andere auch (vgL z.B. Mayntz 2004) - immer wieder ein, dass sie "nur" Zusammenhänge zwischen Faktoren ausweisen ohne sagen zu können, warum wese Zusammenhänge vorliegen (vgl. Hedsrröm 2005: Kap. 2). lOlch werde genau wesern Argument hier widersprechen und zeigen, dass dies sehr wohl mög1ich und fruchtbar ist (vgl. Boudon 1980; Esser 1993, 2003; Esser/Klenovits 1991; Lindenberg 1992, 1996; Maurer/Schmid 2010: Kap. 2 sowie bier in Abschnitt 4.3). 11 Vgl. Mackert in wesern Band.
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Andrea Maurer falsche Erklärungen folgen, legt Hedström die DBO-Theorie anstelle der Theorie der rationalen Wahl12 als eine weite Entscheidungstheorie zugrunde. Dem ist jedoch das logische Argument entgegenzuhalten, dass zwar aus wahren Annahmen logisch wahre Theorien folgen, dass aber auch aus falschen Annahmen richtige Theorien deduziert werden können (vgl. Albert 1986; Coleman 1990: Kap. 1; Popper 1969: 116f.).13 "Ein gültiges deduktives Argument sagt nichts über die Wahrheit seiner Komponenten, das heißt genauer: In einem solchen Argument können alle Komponenten falsch sein, es können auch die Prämissen alle oder teilweise falsch und die Konklusionen wahr oder falsch sein; nur ein Fall kann nicht eintreten: aus ausschließlich wahren Prämissen können nicht falsche Konklusionen folgen." (Albert 1968: 14) Für die konkrete soziologische Erklärungsarbeit ist indes die auch von Hedström geteilte Auffassung bedeutsam, wonach Modellannahmen expliziert und durch Prüfung vervollständigt werden können bzw. müssen. Der Prüfung und Verbesserung von Modellen über Simulationen kommt daher bei ihm eine große Bedeutung zu, wohingegen er auf eine theoriegeleitete Erweiterung verzichtet. Damit vergibt er die Chance mehrstufiger, handlungstheoretisch fundierter Erklärungen, nämlich ausgehend von einem allgemeinen, deterministischen Handlungsprinzip, Faktoren als erklärungsrelevant "erkennen" und systematisch "einfacher" oder "komplexer" beschreiben zu können, weil eben deren Wirkung auf das Handeln explizit angegeben wird. Damit wäre dem vorzubeugen, was auch Hedström kritisiert: dass soziologische Analysen immer wieder von Neuem beginnen, dass sich eine scheinbar unaufhaltsame Auflösung in Bindestrichsoziologien vollzieht und dass die Soziologie unverbunden mit den anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen arbeitet (vgl. Hedström 2009; Mayntz 2004 u.a.).
4. Die Erklämngslogik: Mechanismus-basierte Erklämngen Hedström präsentiert den "mechanism approach" als eine eigenständige Erklärungsform vor allem in Unterscheidung zum Hempel-Oppenheim-Schema. Mechanismus-basierte Erklärungen benennen typische Konstellationen von Akteuren (Einheiten) und Handlungen (Aktivitäten) als kausale Ursache für typische soziale Prozesse, die in unterschiedlichen Feldern immer wieder gleich ablaufen. "A social me12 Die Heuristik der Theorie der rationalen Wahl für die Soziologie liegt darin, dass sie den Handlungsparameter ,,Intentionen" mit Sitwltionsfaktoren in funktionale Zusammenhänge bringt und damit etwa in Fonn "sozialer Produktionsfunktionen" auch situationsspezi.fisch konktetisieren kann. Vgl. zur soziologischen Diskussion der Rational-Choice-Theorie etwa Abell (1991), Cook/ Levi (1990) oder Coleman/Fararo (1992). 13 Davon zu unterscheiden ist die These Poppers (1969: 116): "Wenn alle Prämissen wahr sind und der Schluss gültig ist, dann mllJs auch die Konklusion wahr sein; und wenn daher in einem gültigen Schluss die Konklusion falsch ist, so ist es nicht möglich, dass die Prämissen alle wahr sind."
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie chanism is an integral part of an explanation wruch (1) adheres to the four core principles stated previously, and (2) is such that on the occurrence of the cause or input, it generates the effect or outcome." (Hedström/Swedberg 1996: 25) Ein sozialer Sachverhalt wird durch die Angabe eines passenden Mechanismus erklärt: "to explain facts of a type is to exhibit or hypothesize the mechanisms that bring them about" (Bunge 2007: 258; vgl. Hedström 2005: 11). Der "mechanism approach" ist eine soziologische Arbeitsweise, die sich auf die kausale Rekonstruktion von Mechanismen konzentriert und eine "tool box" aus Mechanismus-Modellen erstellen will (siehe Hedström 2009: 341; Hedström/Bearman 2009). 4.1 Konstruktionsprinzip und Elemente: Mikrofundierung und Mehrstuitgkeit Mechanismus-basierte Erklärungen grenzen sich explizit vom Hempel-Oppenheim-Schema ab, das vorsieht, ein Explanandum logisch aus empirischen Anfangsbedingungen und einem allgemeinen Gesetz abzuleiten (vgl. Hempel/Oppenheim 1948; Popper 1969: 117f.). Im "mechanism approach" werden hingegen logische Ableitungen ohne einen festen, erklärenden Kern vorgenommen. An dessen Stelle treten alle möglichen Konstellationen aus Akteuren (beschrieben durch soziale Interaktionsformen und Beeinflussungschancen) und deren Handlungen (abgeleitet aus spezifischen Konstellationen aus Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten). "Ein sozialer Mechanismus, wie er hier definiert wird, ist eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derart verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen." (Hedström 2008: 25) Damit geht jedoch die deduktive Stärke verloren, Ursachen für soziale Prozesse eindeutig angeben und Nebenbedingungen unterscheiden zu können. Anstelle dessen werden theoretisch nicht näher zu kennzeichnende Konstellationen als Ursache für soziale Prozesse erschlossen. 14 Diese theoretische Unterbestimmtheit ließe sich jedoch aufheben, wenn elementare Mechanismen und soziale Mechanismen durch eine Handlungstheorie wie z.B. die Theorie der rationalen Wahl begründet und als systematische Erweiterungen eines einfachen Typs angelegt werden würden. Dann wäre auch die Suche und Explikation von Mechanismus-basierten Erklärungen nicht mehr beliebig und zufällig, sondern könnte etwa über unterschiedliche Problemtypiken oder -gehalte angeleitet werden. "Die Kernidee hinter dem Mechanismen-Ansatz ist, dass wire in soziale Phänomen erklären, indem wir uns auf eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten beziehen, typischerweise 14 Genau dies hat meines Erachtens auch Webet mit dem von ihm präferierten und praktizierten Nachweis von Begünstigungskonstellationen getan, was ja bekanntlich dazu geführt hat, dass die These det Protestantischen Ethik so offen ist, dass die Suche nach weiteren Faktoren bis heute anhält.
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Andrea Maurer Akteure und ihre Handlungen, die in einer Art und Weise miteinander verbunden sind, dass sie regelmäßig den Typ von Phänomen hervorbringen, die wir erklären möchten." (Hedström 2008: 42) Hedström (2009: 341) stellt den "mechanism approach" nicht als integratives Programm unter einem theoretischen Dach und mit einem Problemfokus vor, wie dies Hobbes, Weber und Coleman tun (vgl. Abschnitr 2). Die theoretische Last im "mechanism approacH' trägt die deduktiv schwache DBO-Theorie. Die Rekonstruktion von Mechanismen bleibt theoretisch beliebig, was indes aber die Chance birgt, immer wieder neue Entdeckungen in Form neuer Mechanismen machen zu können. Beides ließe sich meiner Ansicht nach aber gut vereinbaren, wenn die Modellrekonstruktion15 auf der Grundlage eines allgemeinen und möglichst einfachen handlungstheoretischen Kerns erfolgen würde, der situationsbezogene Erweiterungen und Speziftkationen anzuleiten vermag.
4.1.1 Die DBO-Theone als Mikrofundierung Die DBO-Theorie16 beschreibt das individuelle Handeln allgemein als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, der durch unterschiedliche Konstellationen zwischen den Bedürfnissen (desires) und den Vorstellungen (beliefs) der Akteure auf der einen Seite und der objektiven Situation auf der anderen Seite bestimmt wird. Individuelles Handeln ist das Ergebnis variabler Konstellationen aus individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen unter der Berücksichtigung objektiver Handlungsmöglichkeiten. Es wird nicht von gegebenen und stabilen individuellen Bedürfnissen ausgegangen, um darüber handlungsrelevante Faktoren und Konstellationen zu ermitteln, sondern es werden Prozesse der Priiferenzbildung als Folge verschiedenster Kombinationen aus Vorstellungen und objektiven Gegebenheiten eingeführt, ohne diese jedoch theoretisch zu formulieren. Dies hat zur Folge, dass alle logisch möglichen Kombinationen aus den drei Parametern als relevant erachtet werden können, ohne dass theoretisch über deren Relevanz und Wirkung entschieden werden könnte. Der "mechanism approach" unterscheidet sich von mehrstuftgen Erklärungen auf der Basis einer Rational-Choice-Theorie dadurch, dass beliebige, logisch mögliche Konstellationen aus Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten mit ebenso beliebigen Situationskonstellationen kombiniert werden, bis typische 15 Diese würden nach meinem Dafürhalten eher in das Aufgabenfeld der Psychologie oder einer sozialwissenschaftlichen Verhaltensforschung fallen. 16 Hedsttäm nimmt in neueren Arbeiten eine kritische Haltung gegenüber der Rational-ChoiceTheorie ein und begründet dies mit deren insttumentalistischer Verwendung. Ich habe weiter oben schon darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung aus logischen Gründen keinen Sinn macht, dass falsche Aussagen nicht grundsätzlich zu verwerten sind und dass es zielführender wäre, die Rational-Choice-Theorie auszubauen bzw. integrative Handlungsmodelle zu entwickeln und zu nutzen (vgl. Esser 2001; Undenberg 1994 u.a.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie soziale Prozesse abgebildet werden, die dann als Folge dieser Konstellationen gelten. Wann und warum aber Vorstellungen Bedürfnisse überlagern (das alte Thema Webers und der Soziologie) oder wann gar der Zwang der Situation so groß wird, dass weder Vorstellungen noch Präferenzen wichtig sind, oder wann eben doch die Bedürfnisse und eine richtig eingeschätzte Situation das Handeln bestimmen, bleibt ungeklärt. Tautologischen Erklärungen wird dadurch Tür und Tor geöffnet. Den Wechsel von Präferenzen wie auch von Handlungsorientierungen ad hoc einzuführen, birgt nicht nur die Gefahr tautologischer Erklärungen, sondern gibt auch keine theoretische Handhabe, Konstellationen als besonders wichtig und daher erklärungsrelevant einzustufen. Dies macht den "mechanism approach" offen für viele Fragen und Situationen, lässt ihn aber auch theoretisch unterbestimmt wirken.
4.1.2 Ariforderungen an das Mikrofundament mehrsttifiger Erkkirungen Es ist eine der großen Stärken der Rational-Choice-Soziologie, darauf hingewiesen zu haben, dass eine allgemeine Handlungstheorie immer zusätzlicher Annahmen oder Hypothesen bedarf, die die Handlungsparameter mit der Situation in Verbindung setzen können, um den leeren Nutzenbegriff des ökonomischen Programms zu vermeiden und empirisch prüfbare Thesen über situationsspezifische Bedürfnisse einerseits und die Wirkung von Vorstellungen in konkreten Situationen andererseits aufstellen, prüfen und einsetzen zu können/müssen (vgl. dazu insbesondere Lindenberg 1996; Weede 1989). Die Theorie der rationalen Wahl ist zum einen eine in Grenzen 17 gut bestätigte Theorie und erlaubt es zum Anderen, derzeit als einzige Handlungstheorie, Struktur- und Handlungsebene funktional zu verbinden und damit den notwendigen Makro-Mikro-Link herzustellen (vgl. Boudon 1980; Coleman 1990; Esser 1993). Darüber hinaus kann die Rational-Choice-Theorie präzise Aussagen darüber treffen, wie Situationskonstellationen das Handeln bestimmen und kann daher auch die Konkretion von Situationsfaktoren anleiten. Für mehrstufige, handlungstheoretisch fundierte Erklärungen gilt, dass wenn dieselben Akteure (die über die allgemeine Handlungstheorie und Zusatzannahmen beschrieben werden) in variablen sozialen Konstellationen agieren, immer ein bestimmter sozialer Prozess oder sozialer Effekt zu erwarten ist. Seien dies nun Feudalherm im Mittelalter, die um knappes Land konkurrieren (Elias 1976), oder Unternehmen, die auf einem begrenzten Markt konkurrieren: Dahinter steht der Machtrnechanismus, der zeigt, warum immer wieder aus wenig Macht mehr Macht wird (vgl. Maurer/Schrnid 2008). Die Rekonstruktion von Mechanismen setzt bewusste Abstraktion voraus, was nichts anderes meint, als dass bestimmte Eigenschaften der Akteure und ihres Handelns sowie der Handlungssituation bewusst als nicht relevant ausgeblendet, 17 Vgl. dazu schon die Experimente von Kahnemann/Slovic/Tversky (1982).
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Andrea Maurer andere dagegen als bedeutsam besonders hervorgehoben werden, um die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen auszuleuchten: "ein Mechanismus expliziert die Details, wie Regelmäßigkeiten hervorgebracht werden." (Hedström 2008: 42) Während Ausarbeitungen des Hempel-Oppenheim-Schemas (vgl. Lindenberg 1996) dabei der Regel folgen, die relevanten Situationsfaktoren durch die Parameter der Handlungstheorie zu erschließen und dafür empirisch gehaltvolle, prüfbare Brückenhypothesen aufzustellen, die Konkretionen des Handlungsparameters und der Situationsfaktoren erlauben, kombiniert Hedström beliebige Interaktionsformen mit logischen Konstellationen aus Bedürfnissen, Weltbildern und Handlungsmöglichkeiten. Damit ist aber weder eine theoriegeleitete Erweiterung der Handlungsannahmen noch eine systematische Erfassung von Situationsfaktoren und -konstellationen mehr möglich.
4.2 Elementare Mechanismen Elementare Mechanismen bilden das mikrotheoretische Fundament im "mechanism approach": "Handlungs- und Interaktionstheorien bieten somit die Basis für erklärende soziologische Theorien und der Typus der Handlungstheorie, den wir suchen, sollte mindestens die folgenden drei Basis-Desiderata erfüllen: 1. er sollte psychologisch und soziologisch plausibel sein; 2. er sollte so einfach wie möglich sein; 3. er sollte in sinnvollen, aussagekräftigen Formeln erklären." (Hedström 2008: 56; vgl. Hedström/Swedberg 1996, 1998a)
4.2.1 Realitäts- und Wahrheitsgehalt Die erste Forderung, dass die Theorie des individuellen Handelns psychologisch und die des sozialen Handelns soziologisch plausibel (1m Sinne von realistisch und empirisch nachvollziehbar) sein sollten, deutet Hedström als Absage an die Möglichkeit von ,,Als-ob-Annahmen", etwa dass die Akteure komplexe Sachverhalte völlig durchschauen und mathematisch genau berechnen (Hedström 2005: 138). Das überzeugt im Kontext mehrstufiger soziologischer Erklärungen aus mehreren Gründen nicht völlig. Die Theorie des individuellen Handelns hat dort andere Aufgaben als die des sozialen Handelns. Soziologische Erklärungen wollen mithilfe von Annahmen über das individuelle Handeln soziale Sachverhalte und nicht das menschliche Handeln in a11 seiner Vielfalt erklären, weshalb schon Weber vorgescWagen hat, neben dem konkreten individuellen Handeln auch das "durchschnittliehe Handeln" Vieler oder auch Idealtypen des Handelns zu erfassen. Zum Zweiten lässt sich die an dieser Stelle bei Hedström durchscheinende Konfrontationslinie zwischen "empirisch plausiblen Handlungsannahmen" und "rationalen Konstruktionen von Handlungen" auflösen, wenn der von Weber angedachte und von Popper, Albert, Lindenberg, Esser u.v.a. weiterbeschrittene Weg gewäWt und die 175
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie Annahme eines zweckrationalen Handelns als rationale Rekonstruktion verstanden wird, die theoretisch begründet für realistische Erweiterungen offen ist, wenn die anHinglich möglichst "einfach" und "abstrakt" formulierten Handlungsmodelle nicht "ausreichen".18 Und drittens trägt auch der von Hedström vorgetragene Hinweis nicht, wonach zwischen unvollständigen und falschen Annahmen zu unterscheiden ist und dass nur "wahre Annahmen" im Sinne von empirisch bestätigten Annahmen verwendet werden dürfen. Es wäre also nicht der Einsatz der Theorie der rationalen Wahl abzulehnen und diese durch eine deduktiv schwächere Handlungstheorie zu ersetzen, sondern deren systematische und theoriegeleitete Erweiterung dort anzustreben, wo es für Erklärungszwecke notwendig ist, ansonsten aber die methodologischen Prinzipien der Einfachheit, der Eindeutigkeit und der Präzision als Auswahlregel gelten zu lassen, zumindest so lange, bis sich eine bessere handlungstheoretische Alternative abzeichnet. Hedström will das für die analytische Theorie- und Modellbildung unausweichliche Abwägen zwischen Einfachheit und Komplexität oder Realitätsnähe dadurch auflösen, dass er zwar eine Entscheidungstheorie als Mikrofundierung wählt, aber nicht die deduktiv starke Theorie der rationalen Wahl, sondern die nicht-deterministische Variante der DBO-Theorie. Das Handeln der Individuen wird wahlweise als intentionales und rationales Handeln im Sinne einer bewussten Konsequenzenorientierung, als von Vorstellungen geleitetes Handeln erklärt, bei dem die individuellen Intentionen überlagert, verfälscht oder gar außer Kraft gesetzt werden (vgl. Hedström 1998: 307; mit Bezug auf Elster 2005: 60f.). Eindeutige Ableitungen der individuellen Handlungswahl angesichts gleicher Situationskonstellationen sind daher nicht mehr zu erwarten, da zwei kausale Handlungsparameter unbestimmt nebeneinander wirken: Bedürfnisse und Vorstellungen.
4.2.2 Begründung undAuswahl elementarer Mechanismen Eine theoriegeleitete Heuristik zum Umgang mit Annahmen (vgl. ausführlich Esser 1993; Lindenberg 1992; Maurer/Schmid 2010), die auch die Option kennzeichnen würde, auf einfachere Annahmen und Modellierungen zurückzugreifen, fehlt dem "mechanism approach" daher. Das theoretisch nicht näher gefasste Wechselspiel von Bedürfnissen, Vorstellungen und objektiven Handlungsmöglichkeiten widerspricht nicht nur einer eindeutigen Ableitung von Handlungen, sondern vielmehr noch der 18 Die Bedenken Hedsttöms (etwa 2005: 60ff.) gegen die Re-Theorie als allgemeines handlungstheoretisches Fundament scheinen sich auf die in manchen (ökonomischen) Modellen zu findende Ausarbeitung des Modells des homo oeconomicus und das dort unterstellte vollständig informierte Handeln und nicht gegen die Annahme eines bewussten und intentionalen Handelns an sich zu richten. Eine gegenteilige Annahme ist jedoch der Mechanismus, dass Akteure das anstreben, was sie für unmöglich halten (das "grünere Gras des Nachbars" bzw. im Deutschen "Die Kirschen in Nachbars Garten'').
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Andrea Maurer Übersetzung von Situationskonstellationen in Handlungsmöglichkeiten. Aus den drei Faktoren auf der Mikroebene sind logisch 3n Verbindungen abzuleiten und zu modellieren. Hedström greift daraus relativ willkürlich drei Kombinationen heraus und betrachtet sie als für soziologische Erklärungen besonders wichtig: (a) adaptive preferences, (b) counteradaptive preferences und (c) wishful thinking (siehe Hedström 2005: 40,2008: 64). a) Pri!ftrenzanpassung: Gewollt wir~ was miJ"glich erscheint. Der erste Mechanismus beschreibt die Konstellation, dass die Bedürfnisse der Akteure durch ihre Vorstellungen bestimmt werden. Damit wird die Annahme exogen gegebener und stabiler Präferenzen bzw. Interessen aufgegeben, was bedeutet, dass die Handlungssituation auch nicht mehr allein über Intentionen bzw. Ressourcen erschlossen wird, sondern auch über Vorstellungen, ohne dass ein theoretisches Leitargument angegeben wird, wie sich diese im Konfliktfall zueinander verhalten. Vielmehr wird bei diesem Mechanismus unterstellt, dass die Interessen von den Vorstellungen dominiert werden. Hedström scheint damit implizit Situationen im Auge zu haben, in denen die Orientierung an Vorstellungen die Interessenverfolgung stützt, wie dies für die rationale Imitation19 gilt. Solange dies aber nicht theoretisch beschrieben wird, besteht die Gefahr tautologischer Erklärungen, denn Varianzen können dann ad hoc als Präferenzwechsel angesehen werden, ohne dass dies empirisch nachprüfbar ist, da ja Präferenzen nicht direkt erfassbar sind. Die Ökonomie und die RationalChoice-Soziologie haben daher die Empfehlung aufgestellt, auf Erweiterungen durch einen Präferenzwechsel zu verzichten, zumindest solange kein empirisch überprüfbares theoretisches Argument für die Präferenzänderung angegeben werden kann. b) Pri!ftrenzanpassung: Gewollt wir~ was nicht miJ"glich erscheint. Der zweite Mechanismus setzt ebenfalls die Annahme gegebener und stabiler Bedürfnisse außer Kraft und beschreibt, dass die Präferenzen negativ von den Vorstellungen beeinflusst werden. Im Gegensatz zum obigen Mechanismus wird angenommen, dass die Akteure nur solche Bedürfnisse verfolgen, von denen sie glauben, dass sie nicht zu realisieren sind. Die Kirschen in Nachbars Garten werden nur deshalb begehrt, weil sie nicht zu haben sind. Die Rationalität der Akteure wird damit außer Kraft gesetzt. Es ist nicht rational erklärbar, dass intentionale Akteure nicht-realisierbare Ziele verfolgen, wenn mit ,,rational" ganz einfach gemeint ist, dass die Individuen Intentionen haben, diese kennen und ihr Handeln bewusst darauf abstellen. Dann ist logisch kein Handeln mehr möglich, es sei denn, es gäbe einen triftigen Grund, 19 Von Coleman wird dies im Rahmen der RC-Theorie damit erklärt, dass ein Akteur Kontrollrechte an seinen Handlungen dann auf Andere überträgt, wenn er davon ausgeht, dass sich seine Situation verbessert, wenn er sich der ,,Lenkung des Anderen" anvertraut (was z.B. auch Phänomene wie die charismatische Herrschaft einer rationalen Erkliirung zugänglich macht (vg1. ausführlich Coleman 1990: 90ff., 96f.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie den eigenen Intentionen nicht mehr zu trauen (dies unterstellen sowoW Freud als auch die Kritische Theorie). An dieser Stelle feWt wiederum eine theoretische Aussage darüber, wann und warum intentionale Akteure nach "unrealistischen Zielen" streben sollten und wann eine solche Annahme für die Erklärung sozialer Sachverhalte realistischerweise sinnvoll ist. c) Wunschdenken. Der dritte Mechanismus beschreibt schließlich die Konstellation, dass die Bedürfnisse die Vorstellungen der Akteure so beeinflussen, dass sie alles für möglich halten, was sie wollen. Das besagt im Grunde, dass die Akteure nicht mehr zu einer realitätsgerechten Situationswahrnehmung filig sind und sie daher immer das tun, was sie wollen. Dies hätte für intentionale Akteure den mitunter individuell wünschenswerten Effekt, dass sie sich "unabhängig" von Erfolgsschätzungen dazu aufraffen, unrealistisch scheinende, aber wichtige Ziele zu verfolgen. Das macht aber wirklich nur dann Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass die subjektive Einschätzung der Lage nicht richtig ist, denn sonst wäre auch das irrational. Beispiele wären der aussichtslose, aber als vorteilhaft betrachtete Kampf gegen mächtige Gegner, moralisches Handeln in korrupten Systemen, Beiträge zu öffentlichen Gütern. ObwoW die Erfolgsaussichten gleich null sind und daher bei vollkommener Rationalität das Handeln ausbliebe, würde also gehandelt werden, was im Falle öffentlicher Güter auch ein kollektives Problem lösen würde. Ob Wunschdenken aber tatsächlich ein brauchbares Mittel für intentionale Akteure ist, bleibt an dieser Stelle bei Hedström unklar, da er nichts darüber sagt, wann und warum Aus- und Überblendungen von Erfolgsschätzungen eintreten (sie könnten ja auch Ideologie und Herrschaftsmittel sein). Genau dies war und ist ja schon die Schwäche der Mikrofundierung durch eine theoretisch nicht eindeutige Handlungstypologie bei Weber, die Abweichungen vom Modell des zweckrationalen Handelns durch "beliebige" empirische Faktoren zu erklären sucht.
4.2.3 Situationslogische AnalYsen und die theoretische Integration elementarer Mechanismen Dieses Problem können mehrstufIg und handlungstheoretisch angelegte Erklärungen auflösen, die der Popperschen Situationsanalyse (etwa Popper 1969, 2000: 337ff.) entsprechen (vgl. Esser 1993; Lindenberg 1996; Maurer/Schmid 2010). Der handlungstheoretische Kern trägt dann nämlich die analytische Last und beschreibt eindeutig die Wirkung sozialer Konstellationen auf das Handeln. Dies ist möglich, weil ein Handlungsparameter die Situationsfaktoren "aufschließt" und Aussagen darüber trifft, warum und wie sie handlungsrelevant werden. Im Falle eines konsequenzenorientierten Handelns werden dafür Zweck-Mittel-Relationen relevant (siehe Lindenberg 1994, 1996; Weber 1980), die sich noch durch subjektive Schätzungen spezifIzieren lassen. Im einfachsten Fall würden die in einer Situation relevanten Zweck-Mittel-Relationen aber sagen, welches Handeln als rationales zu erwarten ist. Zusätzliche Annahmen, welche die Fähigkeiten der Akteure spezifizieren, ihre 178
Andrea Maurer Zwecke operationalisieren und objektive Opportunitäten wahrnehmen und richtig beurteilen zu können, würden ,,Abweichungen" erklären lassen. Der homo oeconomicus beschreibt so gesehen den einfachsten Fall, dass die Akteure über eine geordnete, stabile und konsistente Präferenzordnung verfügen (sie wissen, was sie wollen und tun dies), aus dem Konsum materieller Güter ihren Nutzen ziehen und alle relevanten Informationen auch richtig wahrnehmen und deuten (das muss in diesem Fall keine komplexe mathematische Berechnung sein). Last but not least besagt das Handlungsgesetz dann "nur", dass sie die Handlung wählen, die den maximalen Ertrag hat. Realitäts- aber auch komplexitätssteigernde Erweiterungen sind an drei methodologisch zu unterscheidenden Stellen möglich: 1) Präzisierungen des handlungstheoretischen Kerns in Form einer inhaltlichen Füllung der Intentionen, 2) Präzisierungen der Fähigkeiten der Akteure (Rationalitätsgrad), Intentionen bewusst und konsistent zu realisieren, und 3) Präzisierungen der sozialen Handlungssituation über soziale Interaktionen, Interdependenzen usw. Mehrstufige, durch die Theorie der rationalen Wahl fundierte Erklärungen verfügen mit der Methode der abnehmenden Abstraktion (vgl. Lindenberg 1992) über eine systematische Heuristik, die sagt, wann und an welcher Stelle realitätsgerechtere Erweiterungen vorzunehmen sind oder wann diese auch zurückgenommen werden können, um dem Prinzip der Abstraktion zu entsprechen. Kurz zusammengefasst 1mtet die Anweisung: Unterscheide zwischen den Haupterklärungsfaktoren (in der Soziologie: soziale Konstellationen) und minoren Erklärungsfaktoren wie den individuellen Fähigkeiten und erweitere im ersten Schritt die Situationsbeschreibung, um so die Wirkung der sozialen Erklärungsfaktoren zuzuspitzen. Am handlungstheoretischen Kern wäre indes so lange wie möglich festzuhalten, um eben Tautologien zu vermeiden. In der Rational-Choice-Soziologie hat dies die Entwicklung komplexer, integrativer Handlungsmodelle forciert, die längst schon den Wechsel zwischen dem rein zweckrationalen Handeln und dem wertrationalen sowie auch zwischen traditionellem und affektuellem Handeln im Rahmen der Theorie der rationalen Wahl modellieren können (vgl. vor allem Esser 2001) bzw. verschiedene Rationalitätsmodi einsetzen (vgl. vor allem Boudon 1993; Elster 1986).
Die DBO-Theorie ist, wie schon Webers Handlungstypologie, ein deterministisch schwaches Handlungsfundament, da auch sie verschiedene Handlungsparameter nennt, ohne diese theoretisch zu verknüpfen. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Situationsfaktoren und den Handlungsparametern ist damit nicht herzustellen. Deshalb analysiert Hedström auch beliebige soziale Situationen daraufhin, wie Bedürfnis-Vorstellungs-Handlungs-Konstellationen soziale Prozesse in Gang setzen. Seine Hintergrundannahme dabei ist, dass die Stärke bzw. Dichte der Interaktion den Einflussprozess ausmacht. Da die DBO-Theorie aber als allgemeine Entscheidungstheorie angelegt ist, die das individuelle Handeln als Ergebnis 179
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie zweier kausaler Kräfte erklärt, den Bedürfnissen (desires) und den Vorstellungen (heliefs) der Akteure unter Berücksichtigung objektiver Handlungsmöglichkeiten, kann sie auch als Sonderform der Theorie der rationalen Wahl gefasst und die elementaren Mechanismen so unter einem Dach "in ihrer Funktionsweise" theoretisiert werden. So wäre etwa relativ problemlos zu erfassen, dass sich Vorstellungen und Bedürfnisse wechselseitig verstärken, weil dann andere Handlungsmöglichkeiten, die geringere Erfolgschancen haben, einfach schlechter bewertet werden, sich also Wert und Erfolgsschätzung zu einem zwingenden Argument verbinden. Komplexer anzulegen wäre indes die Überlagerung von Bedürfnissen durch Vorstellungen. Dazu wäre bei rationalen Akteuren anzunehmen, dass die Orientierung an Vorstellungen immer dann besser ist als die individuelle Abwägung, wenn individuelle Wahrnehmungskapazitäten begrenzt sind, etwa wenn Konventionen20 die Lösung festlegen helfen, Rituale oder Symbole Licht ins Dunkel bringen, Signale Informationen ins Rampenlicht rücken usw. Und auch das Außer-Kraft-Setzen der Konsequenzenkalkulation durch Gewohnheiten oder Werte kann rational begründet werden und so erklären, warum etwa bei relativ unspektakulären Alltagshandlungen, zudem wenn "erfolgreiche" Muster zur Verfügung stehen, die die Akteure überdies kennen oder einfach erschließen können, Gewohnheiten oder Kultur das Handeln leiten (vgl Esser 2001). Erst wenn auch durch die "realitätsgerechteren Annahmen" hinsichtlich der begrenzten Rationalität keine empirisch zu bestätigenden Ergebnisse zu erzielen sind, wäre die Annahme des bewussten und intentionalen Handelns aufzugeben, was aber letztlich bedeuten würde, auf die Möglichkeit verstehenden und rationalen Erklärens zu verzichten.
4.2.4 Deduktive Stärke oder Komplexität atif der Handlungsebene? Es dürfte deutlich geworden sein, dass die von Hedström eingesetzten elementaren Mechanismen Ad-Hoc-Hypothesen sind, die einer systematischen Erweiterung zunächst nicht zugänglich sind, sondern erst im Rahmen einer Theorie der rationalen Wahl integriert und theoretisch erweitert werden können. Nur dann sind gehaltvolle und überprüfbare Thesen darüber aufzustellen, wann und warum Präferenzanpassung, wann und warum kontrafaktische Präferenzen und wann und warum Wunschdenken bei an sich intentionalen Akteuren zu erwarten sind. Nur dann wäre die Standardanwendung der Theorie der rationalen Wahl zu erweitern, bzw. im negativen Fall würden dann die einfachen, aber allgemeineren Aussagen der 20 Dies würde den Erkennmissen aus Schellings (1960) Experimenr über das Koordinationsproblem zweier Freunde entsprechen, die sich in New York treffen wollen, aber keinen privaten Treffpunkt vereinbart haben. Im Experiment zeigre sich, dass die Orientierung an kollektiven wie an privaten Wissensbeständen dann vorteilhaft ist.
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Andrea Maurer Rational-Choice-Theorie ausreichen. Das macht letztlich den Mehrwert solcher Erweiterungen auf der Mikroebene aus und diesen auch erkenn- und nutzbar. So gesehen schlägt der "mechanism approach" auf der Ebene der Handlungsannahmen lediglich vor, die in der Ökonomie geläufige, methodologisch durch das Vermeiden von Tautologien begründete Annahme exogen gegebener und stabiler Intentionen zugunsten der Annahme aufzugeben, dass sich die individuellen Intentionen "mitunter" durch die Vorstellungen der Akteure ändern, so dass die Akteure entweder das wollen, was sie für möglich halten, oder das, was sie für unmöglich halten. Besonders problematisch erscheint mir die dritte vorgestellte Erweiterung, denn diese würde ja besagen, dass die Handlungsentscheidung ohne Anbindung an die objektive Situation erfolgt bzw. die Akteure Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die Situation zu realisieren suchen. Im Grunde reicht es dann zu wissen, wie die Bedürfnishierarchie aussieht. Anders gewendet: soziale Faktoren würden so als unwichtig angesehen werden, das wäre gegenüber der situationslogischen Analyse ein Rückschritt. Der ,,mechanism approach" ließe sich systematisieren, wenn Bedingungen benannt werden würden, unter denen intentionale Akteure ihre Präferenzen an positive bzw. negative Erfolgswahrscheinlichkeiten anpassen bzw. diese völlig ausblenden. Erst dann wären auch, was das ökonomische Erklärungsprogramm durch den Verzicht auf Präferenzänderungen zu erreichen suchte, tautologische Erklärungen zu vermeiden. Für soziologische Erklärungen wäre außerdem festzuhalten, dass die Annahme stabiler Bedürfnisse ja nicht bedeutet, auf eine Erklärung der sozialen Konstitution von Präferenzen zu verzichten, sondern nur dies als einen gesonderten Erklärungsschritt anzulegen (vgl. schon Hirschrnan 1977).
4.3 Soziale Mechanismen "Wir erklären ein beobachtetes Phänomen, indem wir uns auf den sozialen Mechanismus beziehen, durch den solche Phänomene regelmäßig hervorgebracht werden." (Hedström 2008: 42) Neben elementaren Mechanismen modelliert Hedström soziale Mechanismen, um die Wirkung so~aler Interaktioniformen auf die Vorstellungen, die Bedürfnisse und die Handlungsmöglichkeiten einzelner Akteure zu erfassen und Einzelhandlungen in soziale Effekte zu transformieren (Hedström 2005: 43ff.).
4.3.1 Konstruktionsprinifp Aus der Vielzahl der möglichen Interaktionsformen stellt er drei heraus (vgl. Hedström 2005: 68ff.).21 Die Grundidee ist, dass durch das Handeln Anderer eine An21
Im Modell der "Badewanne" wären dazu Annahmen über die soziale Verflechtung der Akteure als Situationsmodell vorzusehen, etwa derart wie Coleman zwischen Situationen unterscheidet, in de-
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie gleichung a) der Bedürfnisse, b) der Vorstellungen und/oder c) der Handlungsmöglichkeiten eintritt. Durch welchen Wirkmechanismus - etwa Vorteilsüberlegungen oder positiv gemachte Erfahrungen - dies geschieht, bleibt wiederum offen (vgl. Hedström 2005: 73ff.; 1998). Entsprechend offen wie die Wirkungsweise sozialer Interaktionsformen (vgl. die zusammenfassende Darstellung in Hedström 2005: 59), wird auch die Verkettung mehrerer Mechanismen, insbesondere die von elementaren und sozialen Mechanismen (siehe als Beispiel Hedström 2005: 58, 110), angelegt. Es fehlt eine Integrations- und Vergleichsbasis, um Mechanismen systematisch aufeinander zu beziehen. Der ,,mechanism approach" ist daher frei, Einzelmechanismen zu rekonstruieren und zu kombinieren. Diesen Weg scheint Hedström auch deshalb einschlagen zu wollen und zu können, weil sich dadurch das enorme Potenzial handlungsbasierter, formalisierter Mechanismus-Modelle22 und von Computersimulationen voll nutzen lässt und einer mathematisch fundierten Soziologie neue Impulse verleiht (vgl. die Anwendungsbeispiele in Hedström 2005: Kap. 4ff.). Die Stärke liegt darin, verschiedenste Variationen sozialer Interaktionsformen unter Berücksichtigung komplexester wechselseitiger Beeinflussungen auf der Mikroebene modellieren23 und durch die formal-mathematischen Modelle'1A präzise Aussagen über die jeweils zu erwartenden sozialen Effekte machen zu können. Die diversen Konstellationen können beliebig modifiziert und auf verschiedene Felder bezogen werden. Die in den jeweiligen Modellen eingefangenen Zusammenhänge sagen, warum Akteure in spezifischen Konstellationen typische Prozesse in Gang setzen. "Problemtypen" in Form verbesserbarer und gestaltbarer Situationen, wie sie die rationalen Sozialtheorien einfangen, stehen zwar nicht im Fokus, könnten aber erkannt und in ihrer Logik erläutert werden. 4.3.2 Anwendung: Das Problem des kollektiven Handeins undgemischte Gruppen Dies lässt sich besonders schön an der Modellierung des Problems des kollektiven Handelns durch Hedström zeigen. Die neue Modellierung der auf Olson (1965; nen die Akteure ein gemeinsames oder auch ein unterschiedliches, aber komplementäres Interesse an Handlungsrechten haben, was im ersten Fall zum Zusammenlegen von Handlungsrechten und im zweiten Fall zum Tausch von Handlungsrechten motiviert, was je typische soziale Formen zur Folge hätte (konjunkte versus disjunkte Handlungssysteme; vgl. Coleman 1990; interpretierend Maurer 2004). 22 Hedström (ZOOS: 57) bezieht sich dafür auf Michael Macy. 23 Klassische Rational-Choice-Erklärungen würden rein auf die Variation der objektiven wie subjektiv wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten setzen und neuere Rational-Choice-Erklärungen auf den Wechsel von Handlungsorientierungen, der aber im Rahmen der RC-Theorie (vgl. exemplarisch Esser 2001; Lindenberg 1992, 1994) bzw. durch gute Gründe (Boudon 1993) rational erklärt wird. 24 Vgl. dazu exemplarisch Hedström (2005: Kap. 6; 2007) und Hedström/Sandell/Stem (2000).
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Andrea Maurer vgl. auch Hobbes 1966; Hernes 1993) zurückgehenden Situationslogik des "kollektiven HandeIns" greift Erkenntnisse der behavioral economics bzw. sozialer Experimente in der Ökonomie auf (vgl. Hedström 2007: 8) und beschreibt gemischte Akteursgruppen bestehend aus 1) rationalen Egoisten, 2) bedingten Altruisten und 3) wahren Altruisten. Die DBO-Theorie erlaubt es, die bedingten Altruisten derart einzuführen, dass bestimmte Akteure abhängig von gemachten Erfahrungen auch dann kooperieren, wenn Abweichungsgewinne möglich wären. Die Problematik "öffentlicher Güter" liegt ja bekanntlich darin, dass Viele oder Alle an einem Gut interessiert sind und nach dessen Herstellung niemand vom Konsum ausgeschlossen werden kann oder soll, für dessen Herstellung aber gleichwohl die Beiträge einer Mindestzahl oder auch Aller erforderlich sind. Für rationale Akteure gilt daher, dass sie systematisch keinen Beitrag leisten werden, weil das für sie immer die beste Auszahlung ergibt. Entweder müssen sie davon ausgehen, dass ihr Beitrag für die Herstellung des öffentlichen Gutes irrelevant ist, es also ohnehin nicht zustande kommt, bzw. wenn es erstellt wird, sie auch profitieren, ohne zu kooperieren. In größeren Gruppen, wo der individuelle Beitrag in der Regel unerheblich ist, werden öffentliche Güter der Theorie zufolge also zu wenig oder gar nicht erstellt. Die RationalChoice-Theorie bietet als mögliche Auswege mächtige Akteure wie Unternehmer oder Kirchengründer, intrinsisch durch Werte motivierte Revolutionsführer, Agitatoren, Reformer oder zufaJJige selektive Außenanreize wie soziale Anerkennung, soziale Positionen, Vertrauen, Sozialkapital und nutzt dann Schwellenwertmodelle, um zu modellieren, dass diese Impulsgeber die Erfolgsrechnungen der Anderen positiv verändern. Hedström schlägt einen anderen Weg ein. Er hebt die Annahme auf, dass ausschließlich rational handelnde Egoisten aufeinander treffen. Dazu unterstellt er im ersten Schritt, dass neben rationalen Egoisten im realen Leben meist auch Altruisten in realen Gruppen anzutreffen sind und dass allein schon durch deren Existenz bzw. durch die Zusammensetzung der Gruppe direkt auf den Grad der Kooperation geschlossen werden kann: Gruppen mit einem Anteil von 10% rationalen Egoisten erreichen demnach 90% Kooperation, bei 20% immerhin noch 80% und bei 30% noch 70% und so weiter. Noch stärker ist die Wirkung, wenn Interaktionseffekte durch die Altruisten in einem zweiten Schritt eingeführt werden. Hedström tut dies, indem er zwischen absoluten und bedingten Altruisten unterscheidet und annimmt, dass sich die Kooperationsbereitschaft der bedingten Altruisten aus deren Erfahrungen in der Gruppe speist, was zu dem interessanten Ergebnis führt, dass in Gruppen, in die 5% rationale Egoisten eingeführt werden, sich die Kooperation auf 60% und bei 10% bereits auf 40% reduzieren würde (vgl. zu diesen Simulationen ausführlich Hedström 2005: 94ff., 2007: 8ff.). Dies erklärt sich daraus, dass die Kooperationsrate in der Gruppe nicht mehr allein durch den rationalen Egoismus bestimmt wird, sondern nun auch durch positive Lerneffekte, deren 183
Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Höhe von der Gruppenzusammensetzung bzw. dem Anteil an absoluten und bedingten Altruisten abhängt. Die soziologische Relevanz dieses Modells ist beeindruckend, denn damit lässt sich die Herrschaftstechnik von "teile und herrsche" erklären. Schon das Einschleusen einiger weniger rationaler Egoisten würde ja den Aufbau revolutionärer Gruppen, einer kritischer Opposition oder allgemein von Teams be- und verhindern. Und umgekehrt folgt daraus, wer kreative und produktive Teams etablieren und stützen will, sollte Trittbrettfahren durch strukturelle Maßnahmen wie selektive Anreize oder Kontrollen bzw. auch durch Sozialisation und Kultur soweit als möglich einschränken (da hatte die klassische Gruppensoziologie mit ihrem Modell durchaus recht) und zwar möglichst zu 100%, denn schon wenige rationale Egoisten würden den bedingten Altruismus außer Kraft setzen. 25 Die Logik kollektiven Handelns als Ordnungsproblem expliziert zu haben, ist und bleibt der Verdienst der rationalen Sozialtheorien. Denn es ist ja die Annahme des rationalen Handelns, die bei gemeinsamen Interessen die Abweichungsgewinne entdecken und mit Bezug auf rationalen Egoismus problematisieren hilft. Das Ordnungsmodell des Marxismus, des Humanismus und der klassischen Soziologie konnte nur auf dieser Basis als ,)dealisierendes Modell sozialer Ordnungsbildung" erkannt werden. Die Grenzen dieses Modells hat die rationale Sozialtheorie benannt. Die ModelIierung Hedströms stellt so gesehen eine wichtige ,,realitätsgerechtere" Fassung gegenüber sowohl der Rational-Choice- wie auch der klassischen Norm- und Gruppensoziologie dar.
5. Die soziologische Heuristik Die Soziologie ist den rationalen Sozialtheorien und den Gesellschaftslehren der Aufklärung vor allem dadurch verbunden, dass sie von Anfang an einen Beitrag zur Analyse und Behebung sozialer Problemlagen leisten wollte. Wir ftnden bis heute verschiedene Adaptionen des Anspruchs, soziale Problemlagen zu benennen, etwa Handlungs- und Abstimmungsprobleme (popper, Neue Institutionenökonomik, Coleman u.a.), die Analyse von Macht- und Entfremdungsstrukturen (Marxismus, Kritische Theorie), die Erfassung von Rationalisierungs- und Differenzierungsprozessen (Weber, Giddens, Bourdieu). Je nach erkenntnistheoretischer Position und Erklärungsanspruch werden dazu bis heute soziale Regeln, Herrschaft, Normen,
25 Auch innerhalb der Rational-Choice-Theorie liegen vieJfa1tige Anstrengungen vor, das mitunter empirisch zu beobachtende Auflösen des Kollektivgutproblems zu erklären (vgl. zusammenfassend Maurer/Schmid 2010). Mit scheint indes nach wie vor die eigentliche sozialwissenschaft:liche Heuristik darin zu liegen, explizieren zu können, dass gemeinsame Interessen keineswegs hinreichen, um kollektives Handeln zu bewirken und dass deshalb zum Beispiel auch schlechte Ordnungen so lange Bestand haben können bzw. Revolutionen so selten in der Geschichte zu beobachten sind.
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Andrea Maurer Moral, Gruppen oder Tausch vorgescWagen und in ihrer Wirkungsweise und ihren Effekten analysiert. Einer solch primär durch praktische gesellschaftliche Problemlagen inspirierten Soziologie will sich Hedström nicht zuordnen, er versteht sich vielmehr als Vertreter eines "theory-driven approach", der den Startpunkt der soziologischen Arbeit in theoretischen Ideen und Konzepten mittlerer Reichweite sieht. Es sind die Konzepte des kollektiven Handelns, Diffusionsprozesse in Netzwerken, der Bandwagon-Effekt oder die großen Effekte kleiner Ursachen, die Hedström (2007; vgl. die frühen Arbeiten wie Hedström 1991, 1994; sowie Hedström/ Sandell/Stem 2000) in formalen, mathematischen Modellen einfangen und über Akteurs- und Handlungskonstellationen aufzuhellen trachtet. 26 Aus dem Anspruch, Mechanismen als Konzepte und Theorien mittlerer Reichweite anzulegen folgt, dass Hedström nicht, wie das rationale Sozialtheorien, die Rational-Choice-Soziologie oder auch die Neue Institutionenökonomik27 tun, ein zentrales Problem thematisiert und darauf bezogen Mechanismen zu rekonstruieren sucht. Er strebt sichtlich kein integratives Erklärungsprogramm an und "the structure of theoretical knowledge is better understood as a theoretical toolbox than as a deductively organized axiomatic system." (Hedström 2009: 341) Das schließt jedoch nicht aus, dass der "mechanism approach" nicht auch soziologisch und gesellschaftlich relevante Fragen aufgreifen und erhellen könnte. Die soziologische Heuristik ist vielmehr breit und folgt aus den verwendeten Konzepten. Mir scheint zudem, dass Hedström diese Konzepte nicht zufällig aus dem RationalChoke-Programm bezieht: kollektives Handeln, Ungleichheit, soziale Dynamiken. Damit kann er den "mechanism approach" als Alternative (eventuell besser als Erweiterung) zur Standardanwendung der Rational-Choice-Theotie profilieren (vgl. insbesondere Hedström 2005: Kap. 3 und 4, 2009; Hedström/Swedberg 1996). Aber auch ModelIierungen sozialer Interaktionen wie sie die Spieltheorie (also Koordination und Kooperation), das Tipping-Point-Modell von Schelling, die Tragödie der Allmende oder auch neo-klassische Marktmodelle vorgeben, kommen für die Rekonstruktion von Mechanismen nach Hedström in Frage.28 Mechanismus-Modelle
26 Als erkenntnistheoretische Grundlage wird dazu die analytische Philosophie tnit ihrem Plädoyer für eine präzise und daher formale Sprache und den Eiosatz der formalen Logik (vor allem io Form mathematischer Modellierung) und der analytischen Abstraktion zentraler und weniger zentraler Erkliirungsfaktoren benannt (siebe oben). Z7 Auch io der Neuen Institutionenökonomik findet sich dieser Weg, "problembehaftete Situationen" aus Sicht rationaler, egoistischer und begrenzt rationaler Akteure zu thematisieren und so rationale Erklärungen für klassisch soziologische Phänomene wie Herrschaft und Vettrauen vorzulegen (vgl. Maurer 2004). 28 Vgl. zur Spieltheorie Diekmann io diesem Band.
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie können daher auch Problemlösungen für "soziale Dilemmata"29 wie etwa die Rolle von Agitatoren beim Aufbau sozialer Bewegungen benennen und in ihrer Wirkung entscWüsseln. 30 Als starke und eigentliche Leistung des "mechanism approach" erweist sich dabei, dass auch noch bei komplexen Handlungsmodellen und Interaktionsformen erklärende Modelle konstruiert und mithilfe von Computersimulationen in soziale Effekte übersetzt werden können. 31
6. Mechanismus-basierte Erklärungen und die rationale Sozialtheorie Rationalen Sozialtheorien unterliegt die Prämisse von der prinzipiellen Vemunftfähigkeit der Individuen. Daraus leiten sie zum einen die Möglichkeit eines denkenden, analytischen Aufklärens komplexer sozialer Prozesse und zum Anderen auch die einer bewussten und vorteilhaften Gestaltung der sozialen Welt ab. In der Soziologie hat sich diese Grundfigur beim Nachweis von Situationen als fruchtbar erwiesen, die aus Sicht der Individuen "verbessert" werden können, was zur Frage führt, wie es denn den Individuen in ihren sozialen Verhältnissen gelingen kann, darauf bezogen rational zu handeln und vorteilhafte soziale Ordnungsformen wie etwa Normen, Tausch, Herrschaft und Organisation, Moral, Vertrauen, Sozialkapital, Positionsgefüge zu etablieren, zu gestalten und aufrechtzuerhalten. Bereits bei Hobbes fmdet sich schon die spätere Leitproblemarik der Soziologie angelegt: die erträgliche oder gar vorteilhafte Gestaltung des Zusammenlebens formal freier und intentionaler Akteure. Hobbes hat ein Problem "entscWüsselt", das für viele soziale Situationen kennzeichnend ist: wie intentionale und formal freie Akteure gemeinsame Interessen durch Kooperation realisieren können. Sein Argument war, dass bilaterale Absprachen dazu nicht hinreichen, weil die dadurch in Aussicht gestellten ,,Abweichungsgewinne" rationale Egoisten dazu anhalten, die notwendigen Absprachen nicht einzuhalten, sodass Gesellschaft immer auch Herrschaft bedeutet.
29 Es wäre eine eigene Aufgabe, in diesem Kontext zu prüfen, ob und inwiefem sich soziale Institutionen als helfender Rahmen für die in den elementaren Mechanismen beschriebenen Abweichungen vom vernunft:geleiteten Handeln systematisieren und erklären ließen. 30 Bereits in seinen frühen Arbeiten hat sich Hedsttöm mit dem Aufbau kollektiver Bewegungen und Organisationen - konkret der Sozialdemokratie in Schweden von 1860 bis 1920 - beschäftigt und Agitatoren als relevante "Durchbrecher" des Trittbrettfahrerproblems erkannt und deren Funktion darin benannt, die Vorstellungen der anderen Akreure zu beeinflussen. Dies wäre im Übrigen auch durch die Standardanwendung der RationaI-Choice-Theorie zu erklären, die mithilfe von SchwellenwertmodelIen die Wirkung von werttational agierenden Führern modelliert (vgl. Coleman 1990: Kap. 18). 31 Es kann auch als Weiterfiihrung des "alten Vorschlags" von Coleman (1990; vgl. Boudon 1980) einer "mathematischen Soziologie" gelesen werden (vgL etwa Hedsttöm 2005: Kap. 5, 2007).
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Andrea Maurer Weber hat grundsätzlich thematisiert, wie es formal freien und sinnhaft handelnden Akteuren gelingen kann, wechselseitig verständliche und stabile Handlungserwartungen zu etablieren, und sah die Grundlage für ein gemeinsames Zweckhandeln ebenfalls in rational organisierten Herrschaftsverbänden. Coleman hat diese Fragen aufgegriffen und weitergeführt. Er hält dabei einerseits an der Prämisse fest, dass die Menschen die Welt gestalten und zielorientiert handeln und tritt daher auch für eine analytische Theoriebildung ein, die neben präzisen Begriffen und dem Einsatz einer mathematisch-formalen Sprache auch eine starke Handlungstheorie nutzt (Coleman 1990: Kap. 1). Seine Erklärungslogik, die analytisch zwischen Annahmen auf der Handlungs- und der Strukturebene unterscheidet und beide Ebenen mittels zusätzlicher, auch empirischer Theorien und Modelle zu verbinden sucht, hat als Mikrofundament eine Theorie des zielgerichteten Handelns. Dies begründet Coleman ausdrücklich mit dem Hinweis, dass Bezugspunkt und Gegenstand der Sozialwissenschaften das menschliche Verhalten und dessen Ergebnisse sind, die Menschen mithin als absichtsvolle Urheber der sozialen Welt anzusehen sind (vgl. Coleman 1990: 17ff.).32 Dabei gesteht Coleman zu, dass Akteure nicht immer rational handeln und dass viele ihre Handlungen externen Beobachtern als irrational erscheinen, dass es ihm aber darum geht, die "Sichtweise rationaler Akteure" zu erschließen, um das Funktionieren sozialer Systeme zu analysieren (Coleman 1990: 18f.) Dabei tritt Coleman aber gegen einen "naiven Aufklärungsoptirnismus" und zu einfache Erklärungen an, die direkt aus dem individuell rationalen Handeln sozial vorteilhafte Ergebnisse ableiten wollen und macht gegen ökonomische Erklärungen stark, dass individuelle und kollektive Rationalität analytisch zu trennen sind. Um dies umzusetzen, werden zwei getrennte Erklärungsschritte angelegt: die rationale Rekonstruktion von Handlungen mit Bezug auf Situationen (Makro-Mikround Mikro-Mikro-Link) und die Transformation der so "erklärten individuellen Handlungen" in Makroeffekte verrnittels Transformationsregeln wie Institutionentheorien oder mathematischen Regeln. Der zweite Erklärungsschritt nutzt "Modelle sozialer Interdependenzen", die gegenüber den statischen Gleichgewichtsanalysen der Ökonomie emergente Effekte und soziale Dynarniken erfassen sollen. Soziologischen Gehalt gewinnt Coleman durch eine Erweiterung auf der Makroebene: Er charakterisiert Handlungssituationen als Verteilung von Handlungsrechten, die zum einen die Macht der Akteure (Verfügung über die Ressource 32 Bei Coleman findet sich, wie oben ausführlich dargestellt, auch der Hinweis, dass diese Theorie spezifiziert werden muss, etwa durch die Nutzentheorie, dass diese aber auch allgemeiner als ,,intentionales" Handeln gefasst werden kann, dann aber auch einer SpezifIkation der Intentionen bedarf, wie er sie etwa über das Konzept der Handlungsrechte vornimmt: Das individuelle Handeln ist motiviert durch das Interesse an Handlungsrechten und =öglicht durch das Halten von Kontrollrechten über Handlungen (Coleman 1990: Kap. 1).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Handlungsrechte) und zum Anderen deren Interessen an Handlungsrechten wiedergeben. Coleman konzentriert seine Analysen auf die seit Hobbes zentrale soziologische Frage, wie gemeinsame Interessen und die in der Ökonomie behandelten, z.B. komplementären Interessen vorteilhaft realisiert werden können. Gemeinsame Interessen motivieren rationale Akteure demnach dazu, Handlungsrechte zusammenzulegen und "kollektiv" zu regeln. Die Analyse sagt, dass in solchen Handlungssystemen immer Regeln zu einer optimalen Aufteilung der Rechte zwischen dem Kollektiv und den Individuen und darüber hinaus aber auch zur Abwendung des allgegenwärtigen Trittbrettfahrens gefunden, eingerichtet und nachjustiert werden müssen. Im Fall von Handlungssystemen, die aufgrund unterschiedlicher, aber komplementärer Interessen über den Tausch von Handlungsrechten entstehen, sind hingegen typischerweise Kontrollprobleme zu erwarten und daher Anreizoder Normsysteme zur Nachgestaltung wichtig. Die Logik solcher Handlungssysterne entspricht dem der Prinzipal-Agenten-Beziehung, denn die Käufer der Handlungsrechte (Wirtschaftsunternehmer, politische Führer, Kirchenbegründer usw.) wollen ja das Handeln der Anderen in ihrem Sinne einsetzen. Da diese aber Träger der Handlung bleiben und ihnen dieses Ansinnen regelmäßig Kosten auferlegt, sind Kontrollprobleme allgegenwärtig. Im Mittelpunkt der Gesellschaftsanalyse Colemans steht, wie schon bei Hobbes und Weber, die Errichtung und massenhafte Verbreitung "kollektiver Akteure" in modemen Gesellschaften. Diesen Prozess problematisiert Coleman nun ausgehend von der Prämisse formal freier Akteure, indem er darstellt, dass so zunehmend mehr Handlungsrechte von kollektiven Akteuren und nicht mehr von individuellen Akteuren gehalten werden, d.h., die Machtverhältnisse in modernen Gesellschaften haben sich durch die eigenen freiwilligen Tauschakte zu deren Ungunsten verändert. Die Analyse verweist zudem darauf, dass freiwillig und intentional errichtete soziale Verhältnisse zumeist Folgeprobleme und emergente Effekte nach sich ziehen, also keine stabilen und pareto-optimalen Gleichgewichte sind. Für Coleman kennzeichnend ist, dass er diese Folgen aus Sicht der "mächtigen Akteure" betrachtet und auch ausschließlich aus dieser Perspektive Gestaltungsvorschläge entwirft, was ihm zurecht den Vorwurf einbringt, für Probleme schwacher Gruppen blind zu sein. Dabei sind beide Situationsmodellierungen für Konkretionen offen, sodass theoriegeleitete Analysen ganz konkreter Handlungsbereiche und auch verschiedenste Lösungswege in den Blick genommen werden können: Normen, Herrschaft, Kultur und Vertrauen. Und auch die Aufgaben und Probleme der Soziologie und der Sozialwissenschaften reflektiert Coleman in diesem Kontext, indem er die Frage stellt, wer an deren Analysen interessiert ist und welche Themen sie als relevant erachten sollte. Sozialforschung kann nach Coleman einerseits als "öffentliches Gut" thematisiert werden, andererseits aber auch als Auftrag mächtiger Akteure, je nachdem muss die 188
Andrea Maurer Institutionalisierung anders aussehen: Im ersten Fall müssen Anreize zu deren Sicherstellung geschaffen werden, im anderen muss verhindert werden, dass nur mächtige Interessen bedient werden. Hedström folgt zwar den Grundprinzipien der analytischen Theoriebildung, ohne indes die Prämisse der Vernunftfahigkeit der Menschen explizit zu verwenden und auch ohne den sozialtheoretischen Bezug herzustellen. Dies wird etwa daran deutlich, dass Hedström zwar wie Hobbes, Smith, Weber, Coleman u.a. die Soziologie sowohl als Handlungs- wie auch als Erfahrungswissenschaft versteht und im Unterschied zur Philosophie nicht nach der idealen Welt sucht, sondern aus dem Handeln intentionaler Akteure3 3 angesichts sozialer Interaktionsformen soziale Prozesse und Effekte zu erschließen und zu erhellen sucht. Ihm fehlt indes der Bezug auf die individuellen Intentionen, um "soziale Problemlagen" zu erschließen und zu fokussieren. Daraus erklärt sich denn auch, dass Hedström keinen "rahmenden Problemfokus" verwendet und zum Bezugspunkt seiner Rekonstruktion von Mechanismus-Modellen macht. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass er kein integratives Erklärungsprogramm anstreben kann und will und dass die von ihm entwickelten Modelle zwar soziologisch wichtige und spannende Prozesse einfangen, aber keinen expliziten Bezug zu den rationalen Sozialtheorien haben und sich scheinbar auch der Grundfrage der Soziologie nicht in systematischer Absicht annehmen möchten. 34 Die analytische Soziologie Hedströms ist vielmehr der Versuch, für vielfältige soziale Prozesse handlungstheoretisch fundierte MechanismusModelle anzulegen, um so wirkende Kräfte in ihrer kausalen Wirkung kenntlich zu machen und möglichst gehaltvolle und gut bewährte Erklärungen für theoretische Probleme anzubieten. Ein sozial- und gesellschaftstheoretischer Anspruch wird aber nicht explizit erhoben. Die starke Attraktivität des "mechanism approach" geht derzeit aber von der Möglichkeit aus, auch komplexeste Konstellationen auf der 33 Eine realitätsgerechtere Erweiterung scheint für He,iström durchaus die auf Elster (1986b) zurückgehende Idee zu sein, dass die Akteure nicht nur in ihren Fähigkeiten zum rationalen oder intentionalen Handeln eingeschränkt sind, sondern dass ihnen ihr "mind" mitunter auch ein Schnippchen schlägt (vgL Hedström 2005: Kap. 3), wie dies Elster für kurz- und langfristige Interessen und das "comrnitment" der Akteure diskutiert. 34 Der erste Schritt von der Makro- zur Mikroebene wird in anderen Ausarbeitungen (vgl. Coleman 1990; Esser 1993) als Logik der Situation angelegt und explizit von der Erklärung der Handlungswahl mithilfe der Handlungstheorie unterschieden (Logik der Selektion oder Mikro-Mikro) und der dritte Erklärungsschritt als Logik der Aggregation oder Transformation bezeichnet und als bislang am wenigsten "geklärt" beschrieben (dazu finden sich bis dato vor allem Institutionentheorien, Schwellenwertmodelle oder einfache mathematische Regeln eingesetzt). An dieser Stelle bietet der "mcchanism-approach" durch das "agent-based modelling" und den Einsatz der Computersimulation einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Mikro-Makro-Übergangs, der bemerkenswerterweise an den "alten Vorschlag" (vgl. Boudon 1980; Coleman 1990) einer "mathematischen Soziologie" anschließt und dazu die neuen Möglichkeiten der EDV effektiv nutzt (vgI. etwa Hedström 2005: Kap. 5; 2007).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Handlungs- und Strukturebene mithilfe der agentenbasierten Modelle und Simulationen in Makroeffekte zu übersetzen.
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3. Soziale Interaktionen und Spieltheorie Die Spieltheorie befasst sich mit einer Teilmenge sozialer Interaktionen, nämlich mit strategischen Interaktionen. In sozialen Interaktionen werden D, B oder 0 wechselseitig durch die an einer Interaktion beteiligten Akteure beeinflusst. In 195
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice spieltheoretischen Modellen ist D durch die Auszahlungen gegeben. 0 dagegen ist in dem Sinne endogen, dass die Handlungsresultate von den Entscheidungen der anderen Akteure abhängen. Bei einer Klasse sehr interessanter Spiele, nämlich Spiele mit unvollständiger und asymmetrischer Information sind auch die "beliefs" endogen. In Signalspielen z.B. ändert sich B in Abhängigkeit der Handlungen ~,Signale'') der Mitspieler. Obwohl soziale Interaktionen im Mittelpunkt der ,,Analytischen Soziologie" stehen, werden spieltheoretische Modelle fast völlig ausgespart. Das ist erstaunlich für eine Analytische Soziologie, die die Präzision von Aussagen zu ihren obersten Prinzipien zählt. Dies ist übrigens keine Besonderheit von Hedströms Arbeit, denn auch viele soziologische RC-Theoretiker ignorieren spieltheoretische Modelle in ihren Arbeiten. Die Begründung erfahren wir in einer Fußnote. Hedström (2007: 44) argumentiert, dass nicht-strategische Interaktionen im Alltagsleben wichtiger seien als strategische Interaktionen. Die Spieltheorie, so wird nahe gelegt, sei deshalb weniger bedeutsam in der Soziologie. Wenn man an die Fülle von Beispielen strategischer Interaktion bei klassischen Problemen der Soziologie, aber auch bei vielen anderen Fragestellungen ebenso wie bei alltäglichen sozialen Interaktionen denkt, überrascht diese Einschätzung. Denken wir an das klassische Problem sozialer Ordnung, das Hobbessche Problem. Spieltheoretische Arbeiten haben nicht nur zur Präzisierung beigetragen, sondern auch neue Lösungen aufgezeigt und ein äußerst fruchtbares Forschungsprogramm aufgespannt, das bis heute aktuell ist. Normen und Sanktionen waren und sind ein Kernthema der Soziologie. Strategische Interaktionen und das Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung, das Problem des Sanktionsvollzugs, sind grundlegend für jede Theorie sozialer Normen. Kollektivgutprobleme, soziale Dilemmata und soziale Bewegungen sind ohne Annahmen über strategisches Handeln nicht angemessen erklärbar. Sozialer Austausch und Reziprozität sind Grundkategorien soziologischen Denkens. Jede zeitverzögerte Transaktion impliziert ein Vertrauensproblem. Sozialkapital, Reputation, Reziprozitätsnormen oder Institutionen wie Pfänder und Kautionen sind mögliche Lösungen von Vertrauensproblemen. Mittels spieltheoretischer Modelle, mit dem Vertrauensspiel und seinen diversen Varianten, kann der Charakter der strategischen Situation präzise beschrieben werden. Auch im Alltagsleben überwiegen strategische Interaktionen. Wo die Konflikte nicht direkt bemerkt werden, liegt es daran, dass Regelungen und Institutionen existieren, die Lösungen für strategische Interaktionen darstellen. Von der Verkehrsampel über Höflichkeitsnormen bezüglich Vortrittsrechten bis hin zu Mietkautionen oder der stillschweigenden Übereinkunft, bei Akkordarbeit auf Höchsdeistungen zu verzichten, sind Menschen mit stillschweigenden oder expliziten Regeln konfrontiert, die nur auf dem Hintergrund strategischer Interaktion erklärbar sind.
196
Andreas Diekmann Solche Situationen sind angemessen und präzise durch spieltheoretische Modelle beschreibbar. Deshalb kann eine Analytische und RC-Soziologie nicht auf Spieltheorie verzichten. Hedström (2007: 57) selbst befasst sich mit einem spieltheoretischen Modell von Boudon, ohne aber explizit den spieltheoretischen Charakter hervorzuheben (siehe auch Boudon 1979). Mit dem Modell wird versucht zu erklären, dass - im Anschluss an eine Hypothese von Toqueville und einer Studie über Beförderungschancen von Stouffer - zusätzliche Aufstiegschancen parado:Kerweise zu abnehmender Zufriedenheit führen können. Die Akteure stehen vor der Entscheidung, Ressourcen in eine Aufstiegsmöglichkeit zu investieren. Erreichen sie ihr Ziel, beträgt die Auszahlung dt. Verlieren Sie trotz Investition, erhalten sie die Auszahlung dz (der status qua abzüglich der Investitionskosten). Investieren sie nicht, d.h., begnügen sie sich mit ihrer derzeitigen Stellung, bekommen sie d3. Es gilt dt > d3 > dz. Natürlich sind die Aufstiegspositionen eine knappe Ressource, d.h. die Anzahl der Positionen nt ist kleiner als die Zahl der Mitglieder n der Gruppe. Das parado:Ke Resultat erhält man unter der Bedingung, dass nt derart erhöht wird, dass sich alle Akteure entschließen, am Wettbewerb um die knappen Positionen teilzunehmen. Dies ist der Fall, wenn der Erwartungswert für Investitionen größer ist als die Auszahlung im status quo, also (1)
Unter dieser Bedingung werden alle Mitglieder der Gruppe investieren mit dem Ergebnis, dass es nt zufriedene Gewinner und n-nt unzufriedene Verlierer gibt. Wenn die Unzufriedenheit der Verlierer insgesamt stärker gewachsen ist als die Zufriedenheit der Erfolgreichen, wird das Niveau der Zufriedenheit in der Gruppe absinken. Wie bei allen Problemen, bei denen mehrere Akteure um eine knappe Ressource konkurrieren, handelt es sich um eine Situation strategischer Interaktion. Im Beispiel, das Hedström untersucht, ist "investieren" die dominierende Strategie mit dem Ergebnis eines Nash-Gleichgewichts. Hedström skizziert in aller Kürze das zentrale Argument. Um die Wettbewerbssituation genauer zu analysieren, müsste man allerdings auch die anderen Konstellationen berücksichtigen. Nur für den trivialen Fall nt = 0 ist "nicht investieren" eine dominierende Strategie. Und nur wenn die oben angegebene Ungleichung (1) erfüllt ist, wird ,,investieren" zur dominierenden Strategie. Ob die Ungleichung erfüllt ist, hängt von den Parametern nt, n, dt, dz, d3 ab. Nehmen wir an, es existiert ein Schwellenwert nt*, so dass die Ungleichung für nt2:nt* erfüllt ist. Wächst also die Zahl der Positionen von null auf nt2:nt*, dann werden sämtliche Akteure zur Alternative "investieren" wechseln. Was passiert aber, wenn keine dominierende Strategie existiert? Ob sich "investieren" oder "nicht investieren" lohnt, hängt in diesem Fall davon ab, wie viele Per197
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice sonen (:K) sich an dem Wettbewerb beteiligen. Der Erwartungswert für ,,investieren" ist E(:K)=dl, falls :K:Snl und E(:K)= (nt/:K) 'dl +((:K-nl)/:K) 'dz, falls :K~nl. Investieren lohnt sich, wenn die Zahl der Mitbewerber gering ist. Bei einer größeren Zahl von Mitbewerbern kann es dagegen ratsam sein, sich mit dem status quo zu begnügen (falls E(:K) 0 (d.h. L b > 1), wenn b positive Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeiten hat; P(b IA) > P( b I ~), § Log L b < 0 (d.h. L b < 1), wenn b negative Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeiten hat; P(b IA) < P(b I ~). In der Praxis können zwei oder mehr Anhaltspunkte bezüglich der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Hypothese A existieren. Beginnen wir mit der Annahme, dass es zwei Anhaltspunkte gibt (b, und b2), die gegenseitig unabhängig von A und ~ bedingt sind (z.B. zwei gänzlich unabhängige Berichte). Dann ergibt sich: §
und
P(A I b"bd . P(b,) . P(bd = P(A) . P(b, IA) . P (b2I A ) P( ~ I b"bd . P(b,) . P(bd = P(~) . P(b,1 ~) . P(b2
I ~)
(5)
Teilen wir die erste Gleichung durch die zweite:
=
P(A)· P(b,IAI . PChl.AJ P(~) ·P( b,l ~) ·P(b21~)
Kürzen wir P(b,) und P(bd ergibt sich:
Odds «A : ~I Ib,Jzd. = ---fllz, I~I . P~hl4L- = Odds(A : ~) P(b,I~) . P(b21 ~)
L b,· L b2
(6)
Folglich ist; Log Odds ((A: ~) Ib" bd - Log Odds (A :~) = Log L b, + Log L b2
(!)
Lassen wir
(8) wobei ~ der Wahrscheinlichkeitsquotient von b, und b2 bedingt durch A und ~ ist. Demnach werden wir für n konditional unabhängige Anhaltspunkte folgendes vorfmden:
(9) und
(10)
216
Pe/erAbell Gleichung (10) beinhaltet, wie alle Anhaltspunkte konditional unabhängiger Beweise sich zur Bestätigung oder Verneinung der Hypothese A (alternativ: Bestätigung oder Verneinung der Hypothese oA) zusammenfügen. Wie wir im Folgenden sehen werden, liefert uns ~ einen Schätzwert dessen, inwieweit die kombinierten (von A und oA konditional unabhängigen) Anhaltspunkte die Log-Odds von A ebenso wie gegen --,A verändern; genauer gesagt, die Log-Odds für die Existenz einer Kausalverbindung zwischen den chronologisch spezifizierten Handlungen/Ereignissen. Nehmen wir nun an, dass b1 und b2 nicht bedingt durch A und --,A sind (z.B. in zwei teilweise gemeinschaftlichen Berichten). Dann gilt,lO
P(A Ib/Jbd . P(b/Jbd = P(A.) . P(bl IA) . P(b2I A ,b1) P(oA Ib/Jbd . P(b/Jbd = P(oA) . P (bl I oA) . P(b21 oA,b1)
(11)
Dividieren und logarithmieren wir,
Log Odds ((A.: oA) Ib1,bd - Log Odds (A.: oA) = Log L b1 + Log L b2/ b1
(12)
wobei L b2/ b1 der Wahrscheinlichkeitsquotient von b2 ist, gegeben b1 konditional zu A und --,A. Daraus folgt, dass wir, bei multiplen konditional abhängigen Anhaltspunkten, Gleichungen ähnlich denen in [T) und (8) erzielen, die aber das Muster der konditionalen Abhängigkeit unter den Anhaltspunkten widerspiegeln. Der Vergleich der Gleichungen (12) und [T) demonstriert, dass die konditionale Abhängigkeit der Anhaltspunkte das Gesamtbild nicht grundlegend verändert. Der Wandel der Log-Odds bei zwei Beweisstücken ist in beiden Fällen die Summe des entsprechenden Logarithmus der Wahrscheinlichkeitsquotienten. Es ist klar ersichtlich, dass die Analyse auf jede beliebige Zahl von konditional abhängigen Anhaltspunkten ausgedehnt werden kann. Um analytische Erkenntnisse zu gewinnen, ziehen wir zunächst in Betracht, dass die einzelne, in Abbildung 3 dargestellt Dekomposition, bei der Hypothese A o (es existiert eine Kausalverbindung zwischen al und a3) in zwei Hypothesen dekomponiert (kolligiert) wird, namentlich in AI (es besteht eine Kausalverbindung zwischen al und a2) und in A 2 (es besteht eine Kausalverbindung zwischen a2 und a3). 10 Hier ist zu beachten, dass die Bayessche Analyse die gleiche Wahrscheinlichkeit der Existenz und der Nichtexistenz einer Kausalverbindung als "Null-Hypothese" ansieht und nicht das NichtVorhandenseins einer Kausalverbindung. Beweise deuren dann in die ein oder in die andere Richtung.
217
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative
Abbildung 3: Kolligation
at
•
•
I
At
~)\ Al)
)
a2
at
.a3
•a3
b,
Nehmen wir weiter an, dass wir zwei Beweisstücke bt und b2 haben, jeweils einer bezogen auf die Hypothesen At und A z. Gehen wir nun davon aus, dass: (1) bt und b2 konditional unabhängig von A ound ""A osind. (2) bt unabhängig von A ound ""A obedingt durch At und ""A t ist. Dies wird durch die in Abbildung 3 fehlende, direkte Verbindung zwischenAo und bt impliziert. (3) b2 unabhängig von A o und ""Ao und bedingt durch At and ""A t ist. Dies wird wieder durch die fehlende direkte Verbindung zwischenA o und b2 impliziert. (4) At and A 2 konditional unabhängig von A o and ""Ao sind. Folgen wir nun Abbildung 4, könnten wir festschreiben:
218
Pe/erAbell Abbildung 4: Dekomposition der Hypothese Ao oder ""Ao
P(b1 IAoJ = P(A1I A oJ . P (b1 IAtJ + P(~1 IAoJ . P (b1 I~tJ P(b1 I~oJ = P(A1 I ~oJ . P(b1 IAtJ + P(~1 I ~oJ . P(b1 I~tJ
(13)
Also gilt: L b1 =
PV41~t-lA1)+ P(~1~11 ~1J P(A11~oJ· P(b1I A 1) +P(~11~oJ· P(b11~1)
(14)
genauso wie
(15) und
(16)
Generalisiert für n Beweisstücke: L B = L b1 . L b2
·Lbn
(17)
Daraus folgt: Mit n Beweisstücken, die alle paarweise konditional unabhängig von der untersuchten endgültigen Hypothese (A o und ""A o) sind, wird die gesamte Beweiskraft der Belege wie zuvor durch die Multiplikation der Wahrscheinlichkeitsquotienten von jedem Beweisstück errechnet. Da dennoch intervenierende Hypo219
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative thesen (AI and A 2) zwischen den Beweisstücken undAo and --'Ao stehen, errechnen sich die Wahrscheinlichkeitsquotienten aus den konstituierenden Komponenten (Gleichungen (14) und (15)). Nimmt man eine Verallgemeinerung der Annahme (1) vor, so dass die Beweisstücke b, und b2 nun konditional abhängig von A o und --'Ao sind, gilt
(18) Wobei
Generalisiert auf n Beweisstücke:
Ln = L bl • L b2/ bl • L bJ/ b2'b1
••••••••••••••
L bn/bl. b2.......b.(n-Ij
(20)
Um diese Art von Gleichungen schlussfolgernd nutzen zu können, werden Schätzungen der verschiedenen Wahrscheinlichkeitsquotienten benötigt. Diesen wenden wir uns nun zu.
5.2 Schlussfolgernde Verfahren Angenommen, wir vermuten eine Kausalverbindung in einer Chronologie (oben A o genannt), die dann endgültig in feinkörnige Kausalverbindungen dekomponiert wird, von denen jede mit einem/mehreren Beweisstück(en) (bI' b2 •••) verbunden ist, dann wollen wir den nachfolgenden Wahrscheinlichkeiten einen Wert in Anbetracht unserer Belege zuzuteilen. Aufgrund des Mangels an wiederholten Beobachtungen (Frequenzen) muss der Wert aus der "Stärke der Überzeugung" des Analysierenden ermittelt werden (vgl. Schum 1994). Der Analysierende wiederum mag sich auf die Schätzungen informierter Gesprächspartner stützen, beispielsweise auf sachkundige Historiker. Natürlich gibt es in der Soziologie eine lange Tradition, sich in sorgfältiger Weise auf die Aussagen von Experten oder "Schlüssel-Informanten" zu verlassen. March et al. (1991) schreiben in ihrem provokant titulierten Aufsatz "Leamingfrom Samples if One or Fewel': "Theorien historischen Schließens tendieren dazu, auf ein Zusammenlegen von Beobachtungen Wert zu legen. Die Bildung eines Zusammenschlusses von Beobachtern scheint in einigen alltäglichen Situationen Vorteile zu haben, aber in Abwesenheit einer klaren Formulierung der involvierten Gewinne und Verluste gestaltet es sich schwierig, die präzisen Bedingungen zu spezifizieren, wann eine Strategie der anderen vorzuziehen ist." Ich vermute, dass Bayessche Narrative in dieser Hinsicht hilfreich sein könnten. 220
Pe/erAbell
Es ist schwierig zu erkennen, wie man ohne diese Mutmaßung auskommen soll, wenn die Vergleichsfälle fehlen. Natürlich kann die Dekomposition der Verbindung A o zu feiner strukturierten Verbindungen führen, welche jeweils wiederholt beobachtet werden können, wenn die zuvor vermuteten Korrelationen zwischen den durch die Kausalverbindung verknüpften Zustände in die Chronologie eingefügt werden können. Da die Schätzung der bedingt durch den vorliegenden Beweis nachfolgenden Wahrscheinlichkeiten unser Hauptanliegen ist, könnten wir bei jedem "Schlüssel-Befragten" ihren Wert auf die Probe stellen. Wir könnten auch einfach nach Simon den Durchschnitt über eine bestimmte Anzahl von Befragten ermitteln. Solche Schätzungen abzugeben würde sich indes als schwierig erweisen, sowohl für die Befragten, wenn sie zuverlässig erscheinen sollen, als auch für Vergleichsschätzungen der Auswirkungen der individuellen Beweisstücke für die späteren Wahrscheinlichkeiten. Den Befragten sollte vielmehr ein Bezugsrahmen geboten werden, in dem sie ihre geschätzten Wahrscheinlichkeiten für das jeweilige Ereignis ansammeln können, während sie die Folgerichtigkeit ihrer Schlussfolgerung überprüfen. Die generelle Inferenz-Struktur der vorangegangenen Analyse sieht so aus: Odds((A:~)
Ibf J2.~,J.
Odds(A:~)
=~=
L bf • L b2 / bf ••• ·LbJ:/bf... bk-f··· ·LIm/ bf ... bn-f·
(21)
Um die a posteriori Odds((A:~) Ibf, b2 ••••• • ,b,J von ~ abzuschätzen, brauchen wir immer noch zuerst einen Schätzwert der apriori Odds. Auf diesen Umstand komme ich gleich zurück. Sachkundige Informanten können Schätzwerte erstellen durch: 1. Die konstituierenden Wahrscheinlichkeiten der entsprechenden Gleichung für ~.
2. Die globale Wahrscheinlichkeit für Ln. Der Analysierende kann dann diese Schätzwerte auf ihre Konsistenz hin prüfen, bevor er die Schätzung des globalen Wahrscheinlichkeitsquotienten ~ als gegeben annimmt. Alternativ kann die Wahrscheinlichkeit auch so geschätzt werden, als ob die Beweisstücke für sich gesondert konditional unabhängig von A o and -'A o und ihren unterschiedlichen Produkten wären. Der globale Schätzwert von ~ könnte dann der konditionalen Abhängigkeit zwischen den Beweisstücken zugeschrieben werden. Im Allgemeinen wird der Analysierende bei diesen Schätzwerten berücksichtigen, dass manche Schlüssel-Informanten weder konsistent sind, noch eine große Bandbreite an Anhaltspunkten umfassen. 221
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative Da unsere Zielsetzung darin besteht, die Odds((A:~) Ib"b2 ••• ,b,J abzuschätzen, benötigen wir noch immer einen Schätzwert bezüglich der apriori Odds A o zu --'Ao' Hierbei stehen uns zwei sinnvolle Ansätze zur Verfügung: § Wir nehmen an, dass die Wahrscheinlichkeiten 1 sind (d.h., wenn jeglicher Beleg fehlt, sind A o und --'A o gleichermaßen möglich). § Wir fragen den Schlüssel-Informanten nach einer Schätzung (siehe Schum (1994) für eine entsprechende Analyse). Dann können in jedem Fall die aposteriori Odds aus den apriori Odds und den entsprechenden Wahrscheinlichkeitsquotienten berechnet werden. Ermöglichen uns die so berechneten Odds schlussendlich, "über jeden Zweifel erhaben" zu schlussfolgern, dass entweder A o oder --'Ao richtig ist? Wie bei jeder auf Häufigkeiten basierenden Konzeption von Kausalität kann man mehr oder weniger strenge Kriterien bezüglich der Signifikanz aufstellen. Die Werte von P(AaJ und p(~aJ sind vorgegeben durch:
P(AaJ =
XI (1 +X)
(22)
P(~aJ
= 11(1+X)
(23)
wobei X zu 1 der Wert der Odds ist, dass A o richtig ist. Indem wir die apriori Odds auf 1 fesdegen setzen wir voraus, dass - ohne Beweise - P(AaJ und P(~aJ im Wert identisch und daher beide gleich 0.5 sind. Wenn Beweise vorliegen, könnten wir folgerichtig annehmen, dass A o "zweifellos" richtig sein muss, wenn die aposteriori Odds 100:1 sind (in Abbildung 3 existiert eine Kausalverbindung zwischen at und a3). Wenn weiterhin die Odds bei 1:100 stehen, dann ist --'A o unzweifelhaft richtig (es besteht keine Kausalverbindung zwischen at und a3). Die Wahrscheinlichkeiten verändern sich über vier Log-Einheiten. Der Leser mag über die subjektive Natur dieser verschiedenen Schätzwerte ein wenig befremdet sein, aber mein Ziel ist es, durch Genauigkeit bezüglich der Inferenzen und Berücksichtigung der internen Konsistenzprüfungen eine systematisch schlussfolgernde Prozedur zu entwickeln, die kausale Inferenz erlaubt, ohne verschiedene Fälle miteinander zu vergleichen.
6. Fazit Die Befürworter der Analytischen Soziologie nehmen an, dass wir die Natur der kausalen Mechanismen erforschen können, inklusive menschlicher Handlungsweisen (und Unterlassungen), die den Wandel der Gesellschaft verursachen. Die Methode, dieses Ziel zu erreichen, wenn Ereignisse wiederholbar sind und statistische
222
PeterAbell
Inferenzen realisiert werden können, sind allgemein bekannt. Wenn jedoch Ereignisse nur seltener auftreten, ist aus Mangel an etablierten kausalen Generalisierungen kausale Inferenz problematischer. Ich habe eine alternative Methode kausaler Inferenz erarbeitet, die auf solche Umstände angewandt werden kann und nenne sie die Methode der Bayesschen Narrative.
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223
PerArne Trifte
Kritik der Analytischen Soziologie 1 Zur Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden zur Erklärung durch Mechanismen 1. Einleitung Die Analytische Soziologie ist in immer größerem Maße Diskussionsgegenstand unter den Soziologen Norwegens geworden. In der Abteilung für Soziologie und Humane Geographie an der Universität in Oslo hat sich ein Forum für Analytische und Quantitative Soziologie gegründet und für Forscher mit Interesse an sozialen Mechanismen und einem analytischen Ansatz hat sich am Nationalen Institut für Verbraucherforschung ein Diskussionsforum gebildet. Dieser Artikel basiert auf verschiedenen Fragen, Kommentaren und Kritikpunkten, die sich in diesen Diskussionsgruppen in Bezug auf die Analytische Soziologie ergeben haben. Einige dieser kritischen Anmerkungen habe ich hier unter allgemein gefassteren Überschriften gesammelt und klassifiziert. Einige der Argumente gründen sich meiner Meinung nach auf Missverständnissen oder Fehlinterpretationen. Andere stellen interessante Herausforderungen für den analytischen Ansatz dar. Die Kritikpunkte und Fragen werden unter zwei Überschriften eingeordnet: erkenntnistheoretische und methodologische Argumente. Einen zentralen Aspekt der Diskussion wird die Beziehung zwischen der Analytischen Soziologie und anderen soziologischen Traditionen darstellen. Es ist mein Hauptanliegen, eine Grundlage für die Kommunikation zwischen den Fürsprechern der Analytischen Soziologie auf der einen und anderen soziologischen Traditionen auf der anderen Seite zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Austausch wichtig für den Erfolg eines "ana!Jtical turn" der Sozialwissenschaften ist.
2. Erkenntnistheoretische Argumente Ich beginne mit einigen erkenntnistheoretischen Inhalten. Eine der zentralen Fragen ist, wie die Analytische Soziologie im Verhältnis zu anderen soziologischen Ich danke Professor Gunn Elisabeth Birkelund und den Teilnehmern des Workshops ,,Mechanismen und Analytische Soziologie" in Turin am 15. und 16. Juni 2009 für wertvolle Kommentare zu einer vorausgehenden Version dieses Artikels.
225 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Kritik der AnalYtischen Soif%gie Traditionen einzuordnen ist. Weitere Punkte befassen sich hauptsächlich mit dem Schwerpunkt, den die Analytische Soziologie auf das Erklären legt. Die Argumente sind, dass die Unterscheidung zwischen Erklären und Beschreiben in der Soziologie unklar ist und dass die Analytische Soziologie der Relevanz von Sinn und Interpretation in den Sozialwissenschaften keine Aufmerksamkeit schenkt. Meine Antwort darauf lautet, dass sowohl Beschreiben als auch Verstehen oft Grundvoraussetzungen für adäquate Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene sind.
2.1 Die Beziehung zu anderen soziologischen Traditionen Die analytische Neuausrichtung der Soziologie (anaIYtica/ turn) ist nicht auf bestimmte Traditionen der soziologischen Forschung begrenzt. Nichtsdestotrotz hat die Analytische Soziologie bestimmte Eigenschaften, die sie zu bestimmten Traditionen besser passen lässt als zu anderen. Eine mögliche Klassiflkation aus der Wissenschaftstheorie basiert auf der Kreuzung zweier Dimensionen: der erkenntnistheoretischen Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen und der methodologischen Unterscheidung zwischen Holismus und Individualismus (vgL Hollies 1994):
Erklären
Verstehen
Holismus
Systeme
"Spiele"
Individualismus
Agenten
Akteure
Der rystemische Ansatz konzentriert sich auf (funktionale und kausale) Makro-Erklärungen sozialer Phänomene. Der agentenorientierte Ansatz vereint die Idee des methodologischen Individualismus mit der des Erklärens. Soziale Phänomene werden mittels einer Kombination von kausalen und intentionalen Erklärungen erklärt. Auf den ersten Blick scheint es nur natürlich, die Analytische Soziologie in dieses Bezugssystem einzupassen. Der akteurorientierte Ansatz kombiniert das Verstehen mit einem Individualismus. Die Aufgabe der Soziologie ist es dann, den Sinn hinter der individuellen Handlung zu verstehen. Der spie/theoretische Ansatz vereint die holistische Perspektive mit Interpretieren/Verstehen. Dieser Ansatz basiert auf einer erweiterten Konzeption von Sinn. Das reine Verstehen des individuellen Sinns hinter Handlungen wird hier als nicht zufriedenstellend begriffen. Der Forscher muss sich auch auf den sozialen Sinn des Handelns beziehen. "Sinn" ist kein gebräuchlicher Begriff in der Analytischen Soziologie. Auf die Verbindung zwischen Erklären und Verstehen gehe ich im Folgenden noch detaillierter ein.
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PerArne Ttifte Darüber hinaus existieren weitere, verschiedene Klassifikationen sozialer Traditionen. Collins (1994) unterscheidet z.B. vier soziologische Traditionen: Die makro-orientierte K01iflikt-Tradition, die Durkheimsche "Soifale Ordnung"-Tradition, die mikro-orientierte rationale/utilitaristische Tradition und die mikro-interaktionistische Tradition. Ritzer (2008) identifiziert drei andere Paradigmen in der Soziologie: das Paradigma der soifalen Fakten, das Paradigma der soifalen Difinitionen und das Paradigma des soifalen Verhaltens. Nach Collins Klassifikation würde die Analytische Soziologie woW am besten in die rationale/utilitaristische Tradition passen. Hedsträm (2005: 61) hingegen betont, dass es für die Analytische Soziologie unangebracht sei, ihren Ausgangspunkt in der Rational-Choice-Theorie zu sehen. Somit ist diese Einordnung nicht optimal, obwoW bestimmte Aspekte wie begrenzte Informationsverarbeitung und begrenzte Rationalität oder Paradoxa kognitiver WaWen in der Rational-Choice-Theorie inbegriffen sind (siehe Collins 1994: 4). Eine Einordnung der Analytischen Soziologie in Ritzers Schema ist ein wenig komplizierter. Einerseits teilt die Analytische Soziologie das Interesse an sozialen Handlungen mit dem Paradigma der sozialen Definition. Andererseits teilen Analytische Soziologen - vor allem jene, die durch die Verhaltensäkonomie beeinflusst sind - die Ansicht über die Relevanz von Belohnungen und Bestrafungen im sozialen Austausch mit dem sozialbehavioristischen Verhaltensparadigma. Der norwegische Soziologe Lars Mj0set führt eine Typologie dreier methodologischer Bezugsrahmen in die Soziologie ein: der Standarabezugsrahmen, der sich auf Erklärungen in der Form von Gesetzen und Mechanismen konzentriert; der soifalphilosophische Bezugsrahmen, der Sinn und Verstehen in den Mittelpunkt rückt, und der pragmatistische/partizipatorische (später als kontextualistisch bezeichneteZ) Bezugsrahmen, der den Schwerpunkt auf Erklärungen mittlerer Reichweite und die Relevanz des Kontextes legt. Die Analytische Soziologie lässt sich auch hier nicht klar einordnen. Elemente aus allen drei Bezugsrahmen kommen in ihr vor, am wenigsten konsistent ist sie vielleicht mit dem sozialphilosophischen Bezugsrahmen. Der methodologische Individualismus und der Schwerpunkt auf Mechanismen passen auf den ersten Blick zum Standardbezugsrahmen. Auf der anderen Seite stimmt der Fokus auf die Kontextualität von Mechanismen und Interaktionen mehr mit dem kontextualistischen Bezugsrahmen überein. Sofern man auch individuelle Motive und Beweggründe untersuchen mächte, ist hier auch Platz für den interpretativen Ansatz - demzufolge passt die Analytische Soziologie auch zu einigen Elementen der sozialphilosophischen Tradition. Dazu kommt, dass eine Verbindung zum sozialphilosophischen Bezugsrahmen existieren muss, wenn theoretische "Brücken" zwischen Analytischer Soziologie und einigen Versionen des symbolischen Interaktionismus bestehen. 2
Vgl. dazu Birkelund in diesem Band.
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Kritik der Ana!Jtischen Soifologie Die Frage, wo in der soziologischen Landschaft die Analytische Soziologie ihren Standort hat, ist schwerer zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheint. Methodologiseher Individualismus, der Fokus auf Erklärung, sozialen Mechanismen und Handlungstheorien, eine gewisse Tendenz zu Rational-Choice-Erklärongen: Diese Eigenschaften implizieren den Agenten-Ansatz (Hollies), die rational/ utilitaristische Tradition (Collins) oder den Standard-Bezugsrahmen (Mj0set). Der Bruch mit Theorien rationalen Handelns, die Kontextualität von Mechanismen, der Fokus auf Theorien mittlerer Reichweite, die Erklärung konkreter Fälle und der unklare Status von Sinn und Verstehen passen besser zu anderen soziologischen Traditionen. Ich werde nun die Verbindungen zwischen Analytischer Soziologie und anderen soziologischen Positionen weiter untersuchen. Zuerst analysiere ich das Verhältnis zu Erklärung, Beschreibung und Verstehen.
2.2 Erklärung und Beschreibung Eins der vier Elemente in Hedströms Definition der Analytischen Soziologie ist, dass die soziologische Analyse sich darauf konzentrieren sollte zu erklären, warum soziale Ereignisse auftreten und diese nicht einfach nur zu beschreiben. "Die analytische Soziologie konzentriert sich auf Erklärungen. Anders als Beschreibungen, die typischerweise Antworten auf ,Was'-Fragen suchen, bieten Erklärungen Antworten auf ,Warum'-Fragen. Erklärungen begründen, warum Ereignisse stattfinden, warum sich etwas im Laufe der Zeit verändert hat oder warum Ereignisse in Raum und Zeit kovariieren" (Hedström 2008: 12). Die grundlegende Herangehensweise für Erklärongen ist, Mechanismen zu bestimmen, d.h. "eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ereignistyp erzeugen." (Hedström 2008: 42) Diese Sichtweise ist in zweifacher Hinsicht zu kritisieren. Erstens behaupten manche Kritiker, dass die Fürsprecher des "ana!Jtical turn" (Elster 2008: 455) die Anwendbarkeit der Analytischen Soziologie durch diese Inanspruchnahme unnötig begrenzen. Der Zweck einer soziologischen Analyse kann entweder beschreibend oder erklärend oder beides zugleich sein. Kompetente Soziologen sollten in der Lage sein, sowohl "Was" als auch "Warum"-Fragen zu stellen und zu beantworten. Durch die Beschränkung auf "Warum"-Fragen ist die Analytische Soziologie für die Praxis weniger relevant. Zweitens behaupten manche Kritiker, dass eine reine Erklärung unmöglich ist: Man muss immer viele "Was"-Fragen beantworten, bevor man eine "Warum"-Frage beantworten kann. Erklärungen beruhen immer auf Beschreibungen. Dieses Argument ist verwandt mit der Ansicht, dass keine Untersuchung rein empirisch oder "theoriefrei" sein kann, "Beobachtung ist immer Beobachtung im Lichte der Theorie" (popper 2002: 37). Wenn wit beispielsweise erklären wollen, warum manche 228
PerArne Ttifte überschuldete Personen nur widerwillig ihr Kaufverhalten ihren finanziellen Rahmenbedingungen anpassen, brauchen wir zuerst eine präzise Beschreibung ihrer finanziellen Probleme und anderer Charakteristika des Individuums (Alter, gesellschaftlicher Status, Gesundheit, etc.). Erklärungen können nicht getestet werden, bevor wir nicht zuvor eine Menge "Was"-Fragen beantwortet haben (z.B.: Welcher Art sind die fInanziellen Probleme? In welcher Lebensphase befIndet sich die Person? Etc.). Deshalb ist die Erklärung von Ereignissen nur möglich, wenn man vorab über eine angemessene Beschreibung dieser Ereignisse verfügt. Hinzu kommt, dass Beschreibungen in Erklärungen enthalten sind. Die Beschreibung eines Ereignisses impliziert oft eine Beschreibung der involvierten Mechanismen und Prozesse. Bei der ModelIierung sozialen Handelns sollten wir nachweislich sicherstellen, ob unser Forschungsanliegen es wert ist, analysiert zu werden oder nicht. Wie Merton (und Lieberson) (1985) erinnert haben: "Bevor man beginnt, ein Phänomen zu interpretieren, ist es angeraten sicherzustellen, dass das Phänomen wirklich existiert, dass es mit genügender Regelmäßigkeit auftritt, um eine Erklärung zu benötigen und zu rechtfertigen." (Merton 1987: 2) Diese Standpunkte sind nachvollziehbar, aber auch nicht unvereinbar mit der Analytischen Soziologie. Dessen generelle Idee ist nicht, dass sich die Soziologie auf Erklärungszwecke beschränken soll, sondern dass die soziologische Analyse sich nicht ausschließlich auf Beschreibungen konzentrieren sollte. Eine soziologische Analyse muss ebenso die Mechanismen bereitstellen, die verschiedenste soziale Ereignisse beeinflussen. Ab einem bestimmten Punkt reicht es nicht mehr aus, einfach nur die Situation überschuldeter Haushalte zu beschreiben. Schließlich wollen wir auch die Mechanismen kennen, die erklären, warum sich einige Individuen schneller der veränderten finanziellen Situation anpassen, andere langsamer und wieder andere überhaupt nicht. 3 Folglich ist die Beschreibung ein notwendiger, aber nicht hinreichender Bestandteil der Sozialwissenschaft. Eine andere Möglichkeit, dieses Argument vorzutragen, ist zu betonen, dass sich die Analytische Soziologie, aber auch die Soziologie im Allgemeinen, mit "Wie"-Fragen auseinander setzten sollte. Solche "Wie"-Fragen erzwingen sowohl Beschreibungen als auch Erklärungen. Wir müssen beschreiben und erklären, wie Ereignisse stattfInden, wie sich etwas im Laufe der Zeit verändert oder wie Zustände oder Ereignisse sich gegenseitig in Zeit und Raum beeinflussen. Die Frage "Wie geht das?" ist eine Frage nach Beschreibungen/Erklärungen im Sinne von Mechanismen.
3
Mögliche Erklärungen könnten sem: der Wunsch, den sozialen Status beizubehalten; mangelnde Selbstkontrolle angesichts von hoher Rabatte; Kaufsucht usw.
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Kritik der Ana!Jtischen Soifologie 2.3 Erklärung und Verstehen Einige soziologische Traditionen betonen die Interpretation und das Verstehen. Ihnen zufolge ist die Aufgabe der Sozialwissenschaft, intentionale Phänomene zu verstehen, indem ihr Sinn interpretiert wird. Manche Kritiker führen an, dass die Analytische Soziologie die Relevanz des Sinnverstehens bei sozialen Ereignissen ignoriert. 4 Die Wichtigkeit des Sinns im sozialen Leben impliziert, dass soziale Praktiken, Institutionen und Verhalten an sich bedeutungsvoll sind und dass der Sinn sozialer Ereignisse durch die Bedeutung konstituiert wird, die soziale Akteure diesen Ereignissen zuschreiben. Soziale Phänomene können also nur durch das Entschlüsseln des Sinns verstanden werden, der ihnen beigemessen wird. Dies bedeutet, dass soziale Phänomene aus der Sicht der Akteure heraus verstanden werden müssen. Demzufolge werden kausale Erklärungen als wenig oder überhaupt nicht wichtig erachtet (siehe Martin/MacIntyre 1994). In Hollies' Typologie stellen sowohl der akteurorientierte als auch der spieltheoretische Ansatz das Verstehen und nicht das Erklären sozialer Phänomene in den Vordergrund. Im akteurorientierten Ansatz ist das Ziel phänomenologisch, d.h., die Welt und die Handlungen von Individuen soll so beschrieben werden, wie der Akteur diese Handlungen sieht und interpretiert. Handlungen sind mehr als bloße physische Bewegungen, sie haben auch einen Sinn. Dieser individuelle Sinn ist oft nur schwer aufzuzeigen. Die verordnete Forschungsmethode ist daher qualitativer Natur. Analysen bestehen darin, diesen subjektiven Handlungssinn aufzudecken und, wenn möglich, gemeinsame Bedeutungen oder typische Variationen von Bedeutungen in sozialen Gruppen zu finden. Einbindung und Empathie werden zu den zentralen Orientierungspunkten der Forschenden. Der spieltheoretische Ansatz betont, dass sozialer Sinn nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist. Goffmans Rahmenana!Jse kann als Beispiel für diese Position dienen: "Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse - zumindest für soziale - und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Deftnitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ,Rahmen'." (Gaffman 1980: 19) Nach Goffmans Auffassung tendieren wir dazu, Ereignisse in sogenannten primären Bezugsrahmen wahrzunehmen und zu beschreiben, z.B. Interpretationsschemata, die Sinnaspekte in einer Situation hervorheben, die andernfalls bedeutungslos wären. Solche primären Bezugsrahmen sind soziale Standards, die Handlungen Sinn verleihen. Wie man sieht, existieren zwei verschiedene Deftnitionen von "Sinn": eine individuelle Deftnition, die auf die individuelle Bedeutung einer Handlung oder eines Ereignisses abhebt und eine gesellschaftliche Deftnition, die den Sinn von Hand4
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Vgl. dazu auch Edling/Rydgren in wesern Band.
PerArne Ttifte lungen und Ereignissen in einer Kollektivität verankert. "Sinn", zumindest im Sinne der letzteren Deftnition, ist nahe daran, eines jener verschleiernden Konzepte zu werden, vor denen Hedsttöm (2005) warnt. Trotz alledem sollten wir die Relevanz, die das Sinnverstehen für die Analytische Soziologie hat, nicht unterschätzen. Es gibt wenigstens vier verschiedene Standpunkte zum Verhältnis von Erklärung und Verstehen. Eine Position ist, dass Soziologie grundsätzlich erklärend ist und Interpretationen für die Erklärung sozialer Ereignisse von geringer Relevanz sind. Dementsprechend sollten soziale Ereignisse kausal erklärt werden, vorzugsweise durch Bezugnahme auf soziale Gesetze. Diese Position wird z.B. von Comte (1853) vertreten. Eine andere Position vertritt die Ansicht, dass Soziologie grundsätzlich interpretativ ist und Erklärungen wenig oder gar nicht relevant sind. Taylor ist ein berülunter Vertreter dieser Sichtweise: "in einer hermeneutischen Wissenschaft ist ein bestimmtes Maß an Erkenntnis unabdingbar, und diese Erkenntnis kann nicht durch die Sammlung roher Daten oder durch die Einführung formaler Begründungen oder Kombinationen von diesen beiden kommuniziert werden. Sie ist nicht formalisierbar." (Taylor: 1994: 207) Eine dritte Ansicht ist, dass Verstehen und Erklärung komplementär sind, d.h., sie liefern z.B. verschiedene Arten von Kenntnissen über soziale Ereignisse. "Die sozialwissenschaftliche Wissenschaftstheorie ist durchweg durch zwei aufeinander bezogene Dichotomien geplagt worden: die zwischen Verstehen und Erklären und die zwischen Verursachung und Bedeutung. [...]. Was an jeder dieser Sichtweisen falsch ist, die sich ausschließlich auf eine Art von Theorien fokussiert, ist, dass sie notwendigerweise bestimmte Typen von Fragen und damit bestimmte Typen von Antworten unberücksichtigt lassen." (pay 1996: 133) Die vierte Position - die meiner eigenen sehr nahe kommt - ist, dass Verstehen und Bedeutung auf der einen und Erklärungen und Verursachungen auf der anderen Seite sich nicht widersprechen müssen. Verstehen genauso wie Beschreiben ist oft Voraussetzung für angemessene Erklärungen sozialer Ereignisse. Diese Position stimmt mit der Ansicht Webers überein, der Soziologie als "eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (Weber 1978: 4), bezeichnet. Weber hebt hervor, dass Verstehen auf zwei Arten stattftnden kann. Die erste Art ist das direkt beobachtende Verstehen des Handlungssinns. Wenn Ideen ausgedrückt werden, verstehen wir sie. Mimische und körperliche Expressionen ermöglichen es, emotionale Reaktionen zu verstehen. Manchmal kann man Handlungen direkt verstehen, indem man sie beobachtet. Die andere Art des Verstehens ist das erklärende Verstehen. Hier verstehen wir die Motivation einer Handlung, unabhängig davon, ob sie auf rationalen oder irrationalen, affektiven Motiven beruht: "Alles dies sind verständliche Sinni!'sammenhiinge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen 231
Kritik der AnalYtischen Soifologie Ablaufs des Handelns ansehen" (Weber 1978: 9). Die Validität unseres Verständnisses von Sinn kann entweder auf rationalen Annahmen oder auf Empathie und mitfühlender Anteilnahme beruhen. Weber empfieWt, mit einer rationalen Hypothese des Handelns zu beginnen. Abweichungen von diesem rationalen Modell lassen uns die irrationalen, emotional determinierten Elemente des Verhaltens erkennen. Hier entwirft Weber eine wichtige Strategie für Erklärungen von Verhalten: Beginne mit rationalen Hypothesen und modifiziere diese dann, wenn sie nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen. Dies stimmt mit der Argumentation F0llesdals (1979) überein. Er hebt hervor, dass Rationalitätsannahmen eine Voraussetzung zum Verstehen sind. Wir verstehen Handlungen, wenn wir ihre Gründe oder ihre bewussten Motive kennen, die Individuen für bestimmtes Verhalten haben. Eine Rationalitätshypothese des Handelns unterstellt, dass ein Individuum die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegeneinander abwägt, um sich dann für jene zu entscheiden, die seiner Meinung nach seinen Nutzen maximiert. Wenn wir nicht in der Lage sind, eine Handlung im Lichte einer Rationalitätshypothese zu erklären, kann sie vielleicht kausal, mit Bezug auf psychologische oder neurologische Ursachen erklärt werden. Demzufolge können kausale Erklärungen und Verstehen als zwei verschiedene Wege gesehen werden, Handlungen zu erklären. Vetstehen ist gewöhnlich mit der hermeneutischen Methode gekoppelt, einer Methode zur Interpretation des Sinns von Texten oder sozialen Phänomenen (siehe Gadamer 1989). Ein zentraler Aspekt dieser Methode ist der "hermeneutische Zirkel", bei dem der Interpretierende schrittweise ein Verständnis gewinnt, indem er sich zwischen der Interpretation des Ganzen und seiner einzelnen Teile fortlaufend hin und her bewegt. Im Allgemeinen wird die hermeneutische Methode von der hypothetisch-deduktiven Methode abgegrenzt. Diese erfordert eine gewisse Form des Eingebundenseins und der Bewusstheit des Verhältnisses zwischen Forscher und Informant(en), was normalerweise kein Bestandteil der hypothetisch-deduktiven Methode ist. Allerdings demonstriert F0llesdal überzeugend, dass die hermeneutische Methode eine Unterart der hypothetisch-deduktiven Methode sein kann. Die hermeneutische Methode arbeitet, indem sie deduktiv Rationalitätshypothesen entwickelt, die anhand des Textes oder der Daten aus einem bestimmten sozialen Feld überprüft werden. Somit gibt es hier keinen Konflikt zwischen Verstehen und Erklärung. Im Gegenteil besteht Verstehen sogar aus der Überprüfung von Rationalitätshypothesen auf der Grundlage von Vor- und Rückwärtsbewegungen zwischen der Interpretation des Ganzen und seiner einzelnen Teile. Es sollte dennoch erwähnt werden, dass mir das Verstehen um des Verstehens Willen sehr unbefriedigend erscheint. Ich bin der Meinung, dass die Bedeutungen von Handlungen, egal ob sie individuell oder gesellschaftlich sind, vor allem dann soziologisch bedeutsam sind, wenn wir durch ihre EntscWüsselung verstehen, warum Menschen in genau dieser Weise agieren
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PerArne Ttifte oder interagieren. Das reine Verstehen gleicht in vielerlei Hinsicht reinen Beschreibungen. Dies bedeutet, dass das Verstehen von Sinn der Suche nach Erklärungen für Handlungen und Ereignisse gleichkommt. In diesem Falle ist es wichtig nachzufragen, was Sinn in der DBO-Theorie repräsentiert. Ich halte es für angemessen, Sinn als Überzeugungen (belieft) anzusehen. Sie sind Definitionen, Meinungen oder Evaluationen verschiedener Handlungsalternativen und von Handlungen anderer Menschen. Dementsprechend beeinflussen sie die Art und Weise, in der Menschen agieren. Sozialer Sinn ist als Erklärung insoweit relevant, soweit er die Handlungen eines Individuums oder die Reaktion eines anderen Individuums auf seine oder ihre Handlung anleitet (z.B. in der Form von Zustimmung oder Missbilligung).
3. Methodologische Argumente Ähnlich der erkenntnistheoretischen Dichotomie zwischen Erklärung und Verstehen existiert auch die methodologische Dichotomie zwischen quantitativer und qualitativer Methode. Ich diskutiere hier einige methodologische Fragestellungen: Sind qualitative Methoden kompatibel mit der Analytischen Soziologie oder baut der "ana!Jtical turn" der Sozialwissenschaft auf der Verwendung quantitativer Methodologie auf? Und sind quantitative Methoden adäquat, um soziale Mechanismen zu untersuchen? Ich denke, dass die qualitative Forschung mit der Analytischen Soziologie kompatibel ist, insbesondere, wenn sie mit quantitativen Methoden kombiniert wird. 3.1 Qualitative Methode Große Teile der empirischen Forschung innerhalb der analytischen Tradition basiert auf quantitativen Daten. Bedeutet dies, dass die qualitative Forschung nicht analytisch sein kann? Meiner Meinung nach ist die Analytische Soziologie sowohl mit der qualitativen als auch mit der quantitativen Methode kompatibel Ich halte es für eine der großen Stärken der Analytischen Soziologie, dass sie eine Basis für die Integration beider methodologischen Traditionen bietet. Aus der Sicht der Analytischen Soziologie mag die qualitative Methode sowohl Stärken als auch Schwächen haben. Goldthorpe (2007) zeigt zwei potentielle Unzulänglichkeiten auf: Ablehnung oder Abkehr von der Logik der Inferenz, die allen Wissenschaften gemein ist und das Problem der Variation (z.B. gültige Verallgemeinerungen einer Population betreffend). Dennoch weist Goldthorpe auch auf eine potentielle Stärke hin, nämlich dass die qualitative oder ethnographische Forschung einen Vorteil hat, wenn es um kontextuelle Probleme geht (z.B. bei der Analyse sozialer Prozesse oder Mechanismen). Erstens haben sich bezüglich der
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie
Logik der Inferenz einige in Verbindung mit bestimmten qualitativen Methoden stehende soziologische Positionen von einer wissenschaftlichen Logik abgesondert (oder gelöst), die Evidenzen und Argumente verbindet: "Die Anwendung dieser Logik setzt voraus, dass eine Welt existiert, die unabhängig von unseren Vorstellungen über diese Welt ist und dass wir mit unseren wissenschaftlichen Untersuchungen das Ziel verfolgen, Informationen oder Daten über diese Welt zu sammeln, die wir dann als Grundlage für Verallgemeinerungen benutzen, die über diese Daten hinausgehen, sei es in einer beschreibenden oder erklärenden Art." (Goldthrope 2007: 63) Für die qualitative Methode ist diese Charakterisierung dennoch nicht allgemeingültig. Elster (2008) klassifiziert die Sozialwissenschaft anhand von drei Oberkategorien: weiche, qualitative und quantitative Sozialwissenschaft. Er wendet vier Kriterien zur Evaluation des wissenschaftlichen Status dieser Kategorien an: (1) Es sollte eine allgemeingültige Übereinkunft darüber herrschen, was wahr und was unwahr ist; (2) es sollte einen kumulativen Prozess geben, durch den falsifizierte Theorien falsifiziert bleiben; (3) Konzepte und Theorien sollten in klaren und eindeutigen Begriffen formuliert sein; (4) man sollte nicht von den "Klassikern" der Disziplin voreingenommen sein. Die Schlussfolgerung, die sich für ihn hieraus selbstverständlich ergibt ist, dass weiche Sozialwissenschaften, wie die Postmoderne, Postkolonialistische Theorie oder Dekonstruktivismus usw. kein einziges der Kriterien erfüllen, um wissenschaftlich genannt werden zu können. Was die über Fallstudien definierte qualitative Forschung angeht, identifiziert Elster einige Schwächen, anerkennt aber eine analytische Wende mit einer größeren Betonung auf Klarheit und Eindeutigkeit. Einige der Merkmale dieser "analytischen Wende" in der qualitativen Sozialforschung sind folgende: • Ein Schwerpunkt auf der Differenzierung konzeptueller und kausaler Verbindungen zwischen den Untersuchungsobjekten. • Weniger Essentialismus, d.h., Definitionen müssen daraufhin geprüft werden, inwieweit sie uns ermöglichen, gute Erklärungen zu finden - und nicht, wie gut sie zugrundeliegende Essenzen/Realitäten einfangen. • Die Abkehr von der "nicht-deduktiven abstrakten" Beweisführung, d.h. von Konzepten, die ihren Gehalt während einer Diskussion ändern, was wiederum zu einer unlogischen Argumentation, zu einem Appell oder zu Analogiebildung führt. Auf dieser Grundlage schließt Elster, dass der anaIYtica/ turn der Soziologie "nicht auf dem Gebrauch von quantitativer Methodologie, sondern auf einem nahezu besessenen Beharren auf Klarheit und Genauigkeit beruht" (Elster 2008: 455). Dem-
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PerArne Ttifte nach können sowohl qualitative als auch quantitative Forschung als analytisch gelten und die Logik des Schlussfolgerns beinhalten. 5 Was das Aufstellen von Schlussfolgerungen angeht, ist es möglicherweise problematisch, dass Messungen in qualitativen Studien oftmals ungenauer sind als in quantitativen Studien. Auf einigen Gebieten existieren etablierte und validierte quantitative Messungen für bestimmte Phänomene, wie Z.B. die Hopkins-Syndrom-Checkliste (HSCL) für das Maß geistiger Gesundheit. Auf anderen Gebieten sind die Messinstrumente weniger entwickelt, so gibt es z.B. keine Messungen für Phänomene wie soziale Klasse und Armut, über die Einigkeit erzielt werden konnte. Wie Elster (2008) richtig bemerkt, können diese variierenden Messinstrumente zu unterschiedlichen Resultaten führen. Da qualitative Interviews oft weniger präzise Kriterien für die Kodierung und die KlassifIkationen benutzen, dürfte das Problem hier noch schwerer wiegen. Dies muss aber nicht notwendigerweise so sein. Qualitative Interviews werden z.B. genutzt, um quantitative Messwerte wie die HSCL zu validieren. Gute qualitative Interviews können dem Forscher reichhaltigere Daten und eine solidere Basis für Klassiftkationen bieten als standardisierte Interviews. Außerdem basieren viele quantitative Messungen in Experimenten auf Experteneinschätzungen. Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass es nicht in der Natur der qualitativen Methode liegt, exakte Messungen von vorneherein auszuschließen. In der Haushaltsökonornie etwa können qualitative Interviews herangezogen werden, um sowohl Daten über den Sinn und die Intentionen als auch präzise Informationen über fInanzielle Angelegenheiten wie Einnahmen, Ausgaben, Verschuldung etc. zu gewinnen. Zweitens - das Problem der Variation betreffend - treten Schwierigkeiten bei der Verallgemeinerung von Ergebnissen auf, da qualitative Forschungen selten eine Stichprobenauswahl vornehmen (aber sie könnten dies defInitiv), sondern normalerweise Interview-Partner strategisch auswählen. Es ist schlicht nicht bekannt, wie repräsentativ die ausgewählten Fälle oder Beobachtungen für die Gesamtbevölkerung sind. Dies macht es unmöglich, Hypothesen und Erklärungen statistisch zu überprüfen. Eine Lösung dieses Problem ist es gewesen, zwischen zwei verschiedenen Arten der Generalisierung zu unterscheiden: statistische und theoretische bzw. analytische Generalisierung. Der Gedanke hinter der analytischen Generalisierung ist, dass Erklärungen und Mechanismen aus einer Studie zwar nur für eine begrenzte und ausgewählte Gruppe von Menschen gelten, sie dennoch für diese Gruppe gültig sind. Daraus können wir sozusagen eine theoretische oder analytische Generalisierung kreieren. Wir wissen, dass die Erklärung mindestens für die Gruppe relevant ist, die wir untersucht haben und wahrscheinlich auch für eine größere Gruppe von Menschen, da die Stichprobe strategisch gezogen wurde. Wir können 5
Vgl. dazu auch Abell in diesem Band.
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Kritik der AnalYtischen Soifologie Erklärungen in Form von Mechanismen entwickeln, aber wir können nicht sicher sein, inwieweit diese Erklärungen für die Gesarntpopulation repräsentativ sind. Für Goldthorpe (2007) ist die analytische Generalisierung keine zufriedenstelIende Art der Vera11gemeinerung. Auf analytischer Generalisierung aufbauende ethnographische Studien können als Basis zur Entwicklung von Theorien, Erklärungen oder Mechanismen genutzt werden, müssen sich aber daraufhin testen lassen, inwieweit sie nur Erklärungen ganz spezieller sozialer Ereignisse sind. Es mag daher eine angemessene Forschungsstrategie sein, eine Art Triangulation zu nutzen: Quantitative Forschung folgt qualitativen Untersuchungen, um jene Erklärungen zu überprüfen, die in den qualitativer Untersuchungen entwickelt wurden. Kontextuelle Probleme betreffend hat die qualitative Forschung drittens einige Vorteile gegenüber der quantitativen Forschung. Der qualitativen Forschung wird oft ein sekundärer Status eingeräumt. Innerhalb der evidenzbasierten Forschung hat die qualitative Sozialwissenschaft diesen untergeordneten Rang, weil sie oft für ungeeignet zur Untersuchung von Erklärungen gehalten wird. Qualitative Untersuchungen werden oft im Rahmen explorativer Studien und zur Vorbereitung für wissenschaftlichere quantitative Forschungen eingesetzt. Im Prinzip ist die qualitative Forschung aber nicht auf einfache beschreibende oder explorative Verfahren begrenzt. Gute Untersuchungen weniger Fälle können den Forscher mit reichhaltigen Daten versorgen, die ihm ermöglichen, realistische analytische Mechanismen zu formulieren. Qualitative Studien können für erklärende Zwecke genutzt werden und sind eine ideale Datenquelle für DBO-Erklärungen. Auf diese Art und Weise ermöglichen qualitative Interviews und Beobachtungen es dem Forscher manchmal, "Black Boxes" zu öffnen. Qualitative Studien können nicht beweisen, dass spezifische Mechanismen am Werke sind, aber das können quantitative Untersuchungen genauso wenig. Quantitative Untersuchungen, insbesondere Real-Experimente bieten die Möglichkeit, auf Störvariablen hin zu kontrollieren und reduzieren so das Risiko, verfiilschende Beziehungen aufzudecken, obwohl dieses Risiko immer besteht (siehe Lieberson 1985). Ferner heben Shadish, Cook und Carnpbell (2002) hervor, dass Experimente zwar überlegen sind, wenn es darum geht herauszufmden, ob eine kausale Beziehung zwischen zwei Variablen existiert oder nicht, sie aber nicht geeignet sind, um Mechanismen oder "kausale Beschreibungen" aufzudecken. Hier mag qualitative Forschung tatsächlich angemessener sein. 3.2 Quantitative Methode Ein weiterer methodologischer Vorbehalt hängt mit der Möglichkeit zusammen, die theoretischen Amhitionen der Analytischen Soziologie mit statistischen Analysen zu kombinieren. Statistische Verfahren sind begrenzt in ihrer Fähigkeit, Erklärungen im Sinne von Mechanismen zu liefern. Das Hauptproblem besteht darin,
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PerArne Ttifte dass Erklärungen in der Statistik oft Variablen-Erklärungen oder Black-Box-Erklärungen ohne Überprüfung spezifischer Mechanismen sind. Elster (2008) betont, dass es der quantitativen Forschung oft an Übereinstimmung darüber mangelt, was wahr und was falsch ist und dass der Forschungsprozess nicht in dem Maße kumulativ ist, wie wir es gerne hätten. Er unterscheidet drei Variationen quantitativer Sozialwissenschaft: Messungen, Datenanalyse und ModelIierung. Er verweist auf die großen Messprobleme in den Sozialwissenschaften und folgert, dass Variationen in empirischen Ergebnissen oftmals auf unterschiedliche Messverfahren zurückgeführt werden können. Die Datenanalyse betreffend können Forscher gleich in mehrere Fallen tappen: Datamining, Willkürlichkeit, Scheinkorrelationen, Autokorrelationen, Fehleinschätzung kausaler Richtungen, nicht vergleichbare Analyseeinheiten usw. Bezüglich der Modellierung ist die zugrunde liegende Annahme normalerweise die Rational-Choice-Theorie, manchmal aber auch evolutionäre oder mechanistische Prozesse. Diese Annahmen führen oft zu ziemlich unrealistischen Erklärungen. Ein weiteres mögliches Problem ist, dass insbesondere in der Soziologie und in der Politikwissenschaft die Modellierung oft nicht explizit gemacht ist. Lineare Regressionsmodelle unterstellen in diesen Wissenschaften meist, dass kausale Effekte linear und additiv sind, ohne dafür Unterstützung in der Theorie zu finden. Es gibt aber brauchbare Lösungen für das Black-Box-Problem. Erstens könnte die Lösung die Sammlungfeinkiirnzgerer Daten sein. Manchmal kann man reichhaltige quantitative Daten erzielen, die mit fortgeschrittenen statistischen Techniken analysiert werden können. Elster (2008: 36) definiert Mechanismen als "regelmäßig auftretende und leicht erkennbare kausale Muster, die im Allgemeinen unter unbekannten Bedingungen oder mit unbestimmten Konsequenzen ausgelöst werden". In meiner Interpretation bedeutet dies, dass Mechanismen von spezifischen Kontexten abhängig sind. Es ist möglich, Variablen zu erheben, die verschiedenste Kontexte spezifizieren und diese in Datenanalysen als (statistische) Interaktionsvariablen aufzunehmen. Im Prinzip ist es möglich, Hypothesen darüber zu testen, welche kontextuellen Eigenschaften verschiedene Mechanismen "triggern" (verstanden als gestiegene Wahrscheinlichkeit). Im Idealfall sollten quantitative Daten sowohl Makro- als auch Mikro-Ebenen-Variablen enthalten. Es stehen verschiedene statistische Techniken für die Untersuchung solcher Daten zur Verfügung, wie z.B. die Multilevel-Analyse oder die mehrstufige Zeitreihenanalyse. Diese Techniken erlauben es dem Forscher, weitere Verbindungen und Mechanismen zu entdecken, die sich zwischen Mikro- und Makrolevel einschalten. Dies stellt zwar eine Herausforderung dar, ist aber nicht grundsätzlich unmöglich. Zweitens gibt es zwei interessante Gebiete, die weiterentwickelt werden sollten. Das eine ist die soiJale Neo/erkana!Jse. Statistische Techniken zur Analyse von Netzwerkdaten sind bereits vorhanden und werden weiter entwickelt. Ein anderes
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie Gebiet ist die Soifa/simu/ation, im Besonderen die agentenbasierte Modellierung. Die agentenbasierte Modellierung erlaubt dem Forscher, den Effekt von Mechanismen der Mikro-Ebene auf Makrostrukturen und den Einfluss solcher Makro-Veränderungen auf die Handlungen und Interaktionen von Individuen zu simulieren (vgl. Epstein 2006). Ein weiterer leistungsstarker Weg, quantitative und qualitative Daten miteinander zu verknüpfen ist es drittens, einer quantitativen Studie eine qualitative Studie folgen zu lassen. Korrelationen und Black-Box-Erklärungen von quantitativen Studien können mit einer nachfolgenden qualitativen Studie genauer untersucht werden, die darauf abzielt, Mechanismus-Erklärungen zu finden. Ich halte diese Forschungsstrategie für sehr effektiv. Daher möchte ich sie mit einem Beispiel aus meiner eigenen Forschungsarbeit über Überschuldung und Schuldenbereinigung illustrieren. Das Beispiel zeigt, wie quantitative und qualitative Methoden kombiniert werden können, aber auch, wie die Konzentration auf Sinn-Verstehen eine Basis für die Entwicklung von Erklärungen im Sinne von Mechanismen sein kann.
3.3 Beispiel Das folgende Beispiel entnehme ich meinen eigenen Forschungen (siehe Tufte 2005). Es wurde eine Untersuchung während der Finanzkrise 1992 durchgeführt, um die Vorbehalte gegenüber einem neuen GesetzesvorscWag zu untersuchen, der es überschuldeten Akteuren ermöglicht hätte, sich in Zusammenarbeit mit ihren Gläubigem zu entschulden. Eine solche Schuldenbereinigung bedeutet, dass der Schuldner über einen Zeitraum von fünf Jahren ein bestimmtes Einkommen behalten darf, während der Rest des Einkommens an die Gläubiger zurückgezaWt werden muss. Nach Ablauf der fünf Jahre ist der Schuldner von seiner Schuldenlast befreit und entschuldet. Die Untersuchung ergab, dass Menschen mit einem höheren Bildungsgrad und höherem Einkommen eine strengere Auffassung über die legitime Höhe des Eigenbedarfs der Betroffenen hatten. Sie neigten auch eher dazu, denjenigen, die von diesem Insolvenzverfahren betroffen waren, nur ein sehr geringes Einkommen zuzugestehen. Dies ist nur eine Korrelation und natürlich keine befriedigende Erklärung gewesen. Die Frage war also, warum dies der Fall war. Um sie zu beantworten, wurden Interviews mit Individuen verschiedenen Alters und mit unterschiedlichem Beschäftigungsstatus durchgeführt. Zur Vereinfachung wurden die Befragten in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: Junge Angehörige der Arbeiterklasse, ältere Angehörige dieser Klasse, junge Angehörige der Mittelklasse und ältere Angehörige der Mittelklasse. Der Hauptgrund für die Durchführung einer qualitativen Untersuchung war, dass es in einer Umfrage schwierig sein würde sicherzustellen, dass alle relevanten vermittelnden Variablen mit einbezogen wer-
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PerArne Ttifte den. Ein qualitatives Design bot dagegen eine adäquate Flexibilität, um mögliche Erklärungen zu identifizieren. Der Preis, den man für diesen Ansatz zweifellos zahlen muss, ist das Unvermögen, die Ergebnisse statistisch zu generalisieren. Der qualitative Ansatz erlaubt zwar, mögliche Mechanismen zu entdecken, aber wir können nicht belegen, wie weit verbreitet sie sind Der Hauptgrund, Interviews mit bestimmten Gruppen durchzuführen war, dass ich Standpunkte zur sozialen Gerechtigkeit aufdecken wollte. In Gruppeninterviews diskutieren Menschen miteinander und innerhalb dieser Diskussionen lassen sich ihre Ansichten und Wertvorstellungen sehr viel leichter feststellen als in Einzelinterviews. Interessanterweise wiesen die Gruppeninterviews dieselben Muster wie die Umfrage auf: Befragte aus der Mitteklasse hatten in der Regel viel strengere Vorstellungen als die Befragten aus der Arbeiterklasse. Die Diskussionen ließen mehrere mögliche Erklärungen für diesen Unterschied erkennen: Ein Mechanismus verlief über die wahrgenommene gesellscheiftliche Distanz. Die Befragten aus der Arbeiterklasse kannten Menschen mit Schuldenproblemen und waren sich bewusst, dass diese Probleme auch sie selbst betreffen könnten. Verschuldete Menschen sind lebendige Beispiele für Situationen, die finanzielle Probleme verursachen können. In der Mittelklasse kannten nur sehr wenige Befragte Menschen, die Schulden hatten und Letztere drückten aus, dass überschuldete Menschen zu einer anderen gesellschaftlichen Klassen gehören müssten, insbesondere zur Arbeiterklasse. Zusammengefasst zeigten die Interviews, dass je größer die gesellschaftliche Distanz war, desto eher wurde für niedrigere Budgets während der Schuldenbereinigung plädiert. Im Zusammenhang mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz steht die wahrgenommene Verantwortung. Die Mitteklasseangehörigen waren eher bereit, die Schuld für ihre Zahlungsprobleme den Schuldnern selbst anzulasten. Da sie die finanziellen Probleme mindestens teilweise als selbst verschuldet ansahen, setzten sie das Budget für den Eigenbedarf wesentlich geringer an als die Befragten aus der Arbeiterklasse. Ebenfalls mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz hängt der moralische Stellenwert der Schulden zusammen. Die Befragten unterschieden zwischen "guten" Schulden wie Hypotheken und "schlechten" Schulden wie Kreditkartenschulden oder Schulden, die mit Konsumgütern zusammenhängen. Die Schuldenart hat ebenfalls eine Signalfunktion bezüglich der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und damit zusammenhängend bezüglich der moralischen Integrität der Schuldner. Schuldner mit "guten" Schulden waren achtbare Akteure, die weniger eingeschränkte Lebensumstände während der Insolvenzphase verdienten. Gleichzeitig, zusammenhängend mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz, hielten Befragte aus der Mittelklasse es für gegeben, dass überschuldete Personen "schlechte" Schulden hatten und daher mit kleineren Budgets zurechtkommen sollten. Diese und andere
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie Mechanismen könnten als Erklärungen für die Korrelation zwischen der gesellschaftlichen Position, gemessen an Bildung und Einkommen, und der Bewertung der Schulden dienen. Sie sind "dichte Beschreibungen" (Geertz 1973) in dem Sinne, dass sie demonstrieren, wie sich Vorbehalte und Vorverurteilungen "logisch" aus den verschiedenen gesellschaftlichen Positionen der Befragten aus der Mittelklasse- und Arbeiterklasse ergeben. Diese Mechanismen sind analytische Abstraktionen, aber sie sind trotzdem realistisch, da sie auf empirischen Daten basieren. In diesem Fall sind die qualitativen Interviews empirische Daten.
4. Fazit Dieser Artikel hat einige erkenntnistheoretische und methodologische Anmerkungen zur Analytischen Soziologie kommentiert. Der Hauptaspekt ist, dass die Analytische Soziologie sich auf viele soziologische Traditionen und Perspektiven bezieht. Die Konzentration auf die Erklärung sozialer Phänomene impliziert nicht, dass Beschreiben und Verstehen nicht Bestandteil der soziologischen Analyse sein können. Zudem sollte sich die Analytische Soziologie nicht auf quantitative Methoden beschränken. Qualitative Untersuchungen können Mechanismen aufdecken, die zur Erklärung statistischer Korrelationen in quantitativen Analysen genutzt werden können.
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Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni
Agentenbasierte Modelle in der Soziologie über die Integration von Empirie und Modellierung
1. Einführung Dieser Beitrag zielt darauf ab zu illustrieren, wie agentenbasiertes Modellieren für die Integration von Theorie und Empirie bei mechanismenbasierten Erklärungen hilfreich sein kann. Unser Ausgangspunkt ist, dass die Erforschung der MikroGrundlagen sozialer Resultate der wichtigste Stützpfeiler bei Untersuchungen in der Analytischen Soziologie ist. Wenn Makro-Resultate auf Handlungen, Motivationen und Interaktionen von Individuen zurückgeführt werden, kann die Soziologie weit informativere Erklärungen liefern als nur durch aggregierte Perspektiven (vgl. z.B. Bruch/Mare 2006: 667f.). Darüber hinaus gibt es unwiderlegbare Beweise dafür, dass soziale Ergebnisse in hohem Maße von Mikro-Details beeinflusst werden, die sich empirischer Beobachtung oft entziehen und in Großtheorien oder Makro-Darstellungen unterschätzt werden. Unserer Ansicht nach ist agentenbasiertes Modellieren für die Aufdeckung von relevanten Details von ausschlaggebender Bedeutung, wenn man ihre analytischen Konsequenzen im rechten Licht erscheinen lassen will. Um diese Argumentation zu illustrieren, fassen wir verschiedene Komponenten der Analytischen Soziologie und der Sozialsimulation zusammen. Sozialsimulation ist die Analyse sozialer Auswirkungen mit Hilfe von Computersimulationen, in denen das Verhalten von Agenten, ihre Interaktionen untereinander und ihre umweltbedingten (räumlichen, strukturellen, institutionellen) Beschränkungen explizit modelliert werden, um jene mikrobasierten Thesen zu untersuchen, die für uns interessante Makro-Regelmäßigkeiten erklären (vgl. Squazzoni 200Ba). Wir hoffen demonstrieren zu können, dass das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie in hohem Maße von der Adaption der agentenbasierten Modellierungsperspektive der Simulationsstudien profitieren kann, da Letztere zugleich aussagekräftige erkenntnistheoretische Elemente aus der Analytischen Soziologie absorbieren können. Diese Argumente haben uns dazu gebracht, eine gegenseitige Befruchtung dieser beiden Stränge in diesem Beitrag zu unterstützen. Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: Im zweiten Abschnitt geht es um den Grundgedanken der mechanismenbasierten Erklärungen. Unser Ziel ist es, eine knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes zu geben, unser Verständ243 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie nis dessen, was einen Mechanismus ausmacht, zu illustrieren und die Hauptbestandteile einer mechanismenbasierten Erklärung zu identifizieren. Der dritte Abschnitt versucht, den mechanistischen Gedanken mit Modellierungsmethoden zu vernetzen, indem die agentenbasierten Modelle kurz vorgestellt und ihre Bedeutung für (1) die Erforschung und Identiftzierung von Mechanismen, (2) informative Beschreibungen über die Wirkungsweise von Mechanismen auf soziale Konsequenzen und (3) die Integtation von Theorie und Empirie angedeutet wird. Wir vertreten die Ansicht, dass agentenbasierte Modelle alle notwendigen ontologischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Eigenschaften aufweisen, die sie zu natürlichen Verbindungsgliedern, zu einem naturgegebenen Werkzeug der Analytischen Soziologen des 21. Jahrhunderts machen, welches es der Soziologie erlaubt, Theorie und Datenmengen zu kombinieren und informative und beschreibende Erklärungen sozialer Phänomene anzubieten. Der vierte Abschnitt bietet eine Modell-Klassiftkation an, die die Relevanz von Theorien mittlerer Reichweite für die Analytische Soziologie betont, während das fünfte Kapitel erläutert, warum wir für eine Verbindung von Empirie und Modellierung plädieren. Im letzten Abschnitt fassen wir die Hauptargumente des Aufsatzes noch einmal zusammen und schlagen einige zukunftsweisende Maßnahmen vor, agentenbasierte Modelle in das Forschungsprogtarnm der Analytischen Soziologie zu integrieren.
2. Mechanismenbasierte Erklärungen In Begriffen von Mechanismen zu denken bedeutet in den Sozialwissenschaften, dass zur Erklärung eines bestimmten Ergebnisses diejenigen Kapazitäten zur Speziftzierung und zum Verstehen der zugtundeliegenden mikroskopischen Handlungssysteme benötigt werden, die für die Auswirkungen auf der für uns interessanten Makro-Ebene verantwortlich sind. D.h., dass es sich bei dem, was Sozialwissenschaftler in der empirischen Realität messen und beobachten können, um das Makro-Resultat (intentional oder unbeabsichtigt, geplant oder ungeplant) basaler Prozesse auf der Mikro-Ebene handelt. Diese zugtundeliegenden Prozesse können unter der Bedingung, dass Wissenschaftler ein Verständnis für/eine Beschreibung von ihren generativen Mechanismen anbieten können - eindeutig dargelegt werden. Faktisch sind oft nur die Auswirkungen nachweisbar, während die dahinter stehenden Ursachen und Motivationen unbeobachtbar bleiben. Die Offen1egung dieser generativen Kräfte ist die conditio sine qua non für eine Sozialwissenschaft, die in der Lage sein will, erklätende Kraft zu erlangen. Dieser Denkansatz hat in der Philosophie eine ehrwürdige Tradition, die bis zum kritischen Realismus des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann (vgl. Manicas 2006; Mayntz 2004; Salmon 1984). Viele Begtünder der klassischen Sozi244
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni alwissenschaften hatten ebenfalls einen solchen Denkansatz vor Augen. So argumentierte Merton (1986) bei der Verteidigung seiner Idee von Theorien mittlerer Reichweite, dass das Verstehen sozialer Funktionen unter der Bedingung möglich sei, dass Sozialwissenschaftler eine "konkrete und detaillierte Darstellung der operierenden Mechanismen, die eine bestimmte Funktion ausüben" geben könnten. Schon vor Merton behauptete Schumpeter (1912), dass der Aufgabenbereich der Ökonomen nicht in der Vorhersage von Ereignissen liege, sondern in der Untersuchung des "Wie" der ökonomischen Prozesse, da sich die Wirtschaft durch Innovationen, Kreativität und Unvorhersehbarkeit auszeichnet. Viele soziale Mechanismen wurden durch Sozialwissenschaftler entdeckt, etwa das Marktgleichgewicht, monopolistische Konkurrenz, se!lfu!ft1Jing prophecies, kreative Zerstörung, räumliche Segregation und tertius gaudens, um nur einige zu nennen (vgl. Bunge 2004; Hedström/Swedberg 1998; Manicas 2006; Mayntz 2004). Auf den Mechanismus der se!llu!ftlling prophery wurde zuerst von Merton (1968) hingewiesen. Merton zeigte auf, dass in bestimmten vorgegebenen Situationen von Individuen formulierte Erwartungen genau die vorher formulierten erwarteten sozialen Ergebnisse erzeugen können: "Die sich selbst erfüllende Prophezeiung ist anfangs nur eine falsche Definition der Situation, die aber ein neues Verhalten hervorruft, welches die ursprünglich falsche Konzeption wahr werden lässt. Der trügerische Wahrheitsgehalt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung erzeugt einen endlosen Kreislauf von Irrtümern. Der Prophet nämlich wird den gegenwärtigen Ereignisablauf als Beweis dafür ansehen, dass er von Anfang an Recht hatte." (Merton 1968: 477) Indem er das inzwischen berühmte Beispiel des Bankrotts einer Bank benutzte, nach dem durch eine unwahres Gerüchte über eine Insolvenz eben diese verursacht wird, folgert er, dass die "öffentlichen Definitionen einer Situation (prophezeiungen oder Vorhersagen) zu ihrem festen Bestandteil werden und somit die nachfolgenden Ereignisse beeinflussen. Dies ist menschlichen Angelegenheiten eigen." (Merton 1968: 477) Der soziale Mechanismus der sich-selbst-erfüllendenProphezeiung ist derartig allgemeingültig und abstrahiert, dass er völlig verschiedene empirische soziale Auswirkungen, von der Kaffeeknappheit über eine insolvente Bank bis hin zu einem Verkehrsstau erklären kann. Andere klassische Beispiele könnten die Mechanismen der "totalen Institution", zuerst beschrieben von Goffman (1961), oder der "Verhöflichung" sein, die für den gesellschaftlichen Wandel von feudaler Agrarwirtschaft zu industrieller Verstädterung verantwortlich war, wie Elias (1969) sehr schön beschrieben hat. Im ersten Fall haben wir zwei gänzlich widerstreitende Agententypen, die in einer klar definierten sozialen Relation zueinander stehen, beispielsweise die Manager und die Gemanagten, die auf Ressourcen zurückgreifen können, welche von strikt regulierten Rollen mit einer gegenseitigen sozialen Distanz abhängen, die formal vorgeschrieben ist. Jeder Agent hat Ziele und Überzeugungen ebenso wie strukturierte Erfolgskapazitäten. Während bei245
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie spielsweise Manager Einfluss auf die Untergebenen ausüben können, indem sie diese unterdrücken, können diese die Regelungen anfechten, sich fraternisieren und die Situation aussitzen. Institutionelle Zeremonien werden organisiert, um ein gemeinschaftliches Engagement für die offiziellen Ziele der Institution zu zeigen. Starke Wechselwirkungen implizieren, dass die Überzeugungen von Agenten - ob falsch oder richtig - die Reproduktion der Institutionen ebenso wie die Ro11enhierarchie, die gesellschaftliche Distanz und die Unterdrückung begünstigen. Dieselben Auswirkungen zeigen sich in völlig verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, wenn auch mit unterschiedlich starker Ausprägung, wie z.B. in Internaten, Konzentrationslagern, Gefangnissen, Konventen und Kasernen, um nur ein paar zu nennen. In Elias' Fall haben wir drei gesellschaftliche Gruppen von Höflingen (der König und seine Dynastie, die Aristokratie und die Bourgeoisie), die - um ihr Prestige in einem neuen konkurrenzbetonten politischen Umfeld, das sich um die sozialen Wechselbeziehungen am Hofe herum aufbaut, zu maximieren - mit auffallender Verschwendungssucht und unbedingter Befolgung der höfischen Rituale darin enden, dass sie die ökonomische und politische Macht des Hofes unterstützen und damit zur Revolution der Außenstehenden und der Zerstörung des Hofes als politische Institution ermuntern. Dieses Beispiel von Elias wirft ein interessantes Licht auf einige soziale Mechanismen (z.B. selbstbezügliche Vergleiche unter Insidern), die für viele gesellschaftliche Umwandlungen in der Geschichte der modernen Wissenschaften verantwortlich sein können (vgl Squazzoni 2008b; Timmermanns/de Haan/Squazzoni 2008). In den 1990er Jahren erfuhr der mechanismenbasierte Ansatz eine Verjüngungskur durch erneuernde Impulse aus der Biologie, Chemie, Medizin, den Geistes- und Sozialwissenschaften (vgl. Coleman 1990; Giorganni et al. 1997; Hedström/Swedberg 1998; Little 1998; Raffel et al. 1995; Srinchcombe 1991). Mittlerweile sind viele Definitionen für den Begriff des "Mechanismus" erstellt worden (siehe Hedström 2005: 24f. für einen Überblick): Mechanismen werden verstanden als • "Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig Veränderungen vom Anfang bis zum Ende produzieren" (Machamer/Darden/Craver 2000: 3); • "eine detaillierte Beschreibung der Komponenten eines Systems und ihrer Interaktionen" (Sawyer 2004: 261); • "ein Prozess (oder eine Sequenz von Zuständen oder Verlauf) in einem konkreten System, natürlich oder sozial" (Bunge 2004: 186); • "Sequenz kausal vernetzter Ereignisse, die sich unter bestimmten Umständen regelmäßig wiederholen" (Mayntz 2004: 241);
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Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni •
"eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derartig verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen" (Hedström 2008: 25); • "Struktur oder Prozess auf der grundlegenden Ebene, die/der ursächlich für das Ereignis oder das Phänomen auf der empirischen Ebene verantwortlich ist (oder, in einigen Darstellungen, eine Repräsentation der zugrunde liegenden Struktur oder des Prozesses)" (Reiss 2007: 166). Der mechanismenbasierte Ansatz unterscheidet sich sowohl von allgemeinen Wissen und Beschreibungen, statistischen Erklärungen als auch von deduktiv-nomologischen Erklärungen. Er bezieht sich weder auf allgemeingültige oder deterministische Gesetze, noch auf statistische Beziehungen zwischen Variablen, noch auf detailliert beschreibende Berichte über die soziale Realität. Er versteht Erklärungen nicht im Sinne linearer Ursache-Wirkungsprinzipien, nach denen zwischen einem vorhergehenden Ereignis (Ursache) und einem folgenden Ereignis (Effekt) eine Kausalität besteht. Ühlicherweise werden Ursachen und Wirkungen in den Sozialwissenschaften nicht einfach als Ereignisse angesehen, sondern als Attribute von Agenten oder Aggregaten, die genauso als Nicht-Ereignisse oder nicht direkt sichtbar angesehen werden können (vgl. Mahoney 2001). Eine mechanismenbasierte Erklärung beinhaltet, dass das zu erklärende Objekt ein soziales Ergebnis ist, Aktion und Interaktion die zu modellierenden Bausteine sind und ein kausaler, generativer Mikto-Makro-Mechanismus das theoretische Konstrukt darstellt, das isoliert untersucht werden muss und zwar in dem Sinne, dass ein solches Konstrukt es dem Wissenschaftler ermöglicht, unter spezifischen Bedingungen, die wiederholt in der Realität angetroffen werden, das Objekt zu erklären (siehe Goldthorpe 2000). Wie Elster anführte, ist die mechanismenbasierte Erklärung in Hinsicht auf BlackBox-Erklärungen nach einer detaillierten Logik aufgebaut, wonach "wenn A [der Mechanismus], dann manchmal B, C und D [soziale Ergebnisse]", so dass "der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Mechanismus derselbe ist wie zwischen einer statischen Korrelation ~,wenn X, dann Y'') und einem Prozess ~,X führt über die Schritte A, B, C zu Y'') (siehe George/Bennett 2004: 141). Dies liegt an der Rolle, die die spezifischen empirischen Bedingungen spielen sowie an der Möglichkeit, dass Mechanismen paarweise und sich gegenseitig ausschließend auftreten können, ebenso wie sie simultan mit gegenteiligen Effekten auf das Objekt wirken können, wie im Beispiel des Einflusses von Steuern auf das Angebot von Arbeitskräften, das von Elster (1998) aufgegriffen wurde. Tatsächlich werden Mechanismen oftmals von Bündeln oder Konfigurationen von Mechanismen hervorgebracht, "von denen einige den Effekt unterstützen und wieder andere dem Effekt entgegenwirken oder seine Ausmaße reduzieren." Im Folgenden ein einfaches Beispiel, aufgezeichnet von Paul Hurnphreys: "ein Auto wird aus der Kurve getra247
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie gen - wegen überhöhter Geschwindigkeit und sandiger Fahrbahn, trotz klarer Sicht und eines aufmerksamen Fahrers. Jener stellt fest, dass die Hinzunahme eines anderen Mechanismus oder kontextuellen Faktors eine mitwirkende Ursache in eine kontraproduktive verwandeln kann oder vice versa: Sand verrringert die Reibungsfähigkeit auf trockenem Untergrund, erhöht sie aber, wenn die Straße vereist ist." (George/Bennett 2004: 145f.) Jenseits aller Differenzen zwischen all den oben erwähnten Definitionen und Perspektiven - einige eher mit realistisch orientierten Begriffsinhalten, andere eher den erkenntnistheoretischen Bedeutungen des Begriffes "Mechanismen" zugeneigt - bedeutet das Denken in Begriffen von sozialen Mechanismen eine Konzentration auf erklärende Modelle, die auf folgenden wesentlichen Bestandteilen beruhen: a) Initiale Konditionen und Hemmnisse. b) Entitäten (z.B. individuelle Agenten) mit spezifischen Eigenschaften. c) Aktivitäten, also die Prozesse, in denen sich Entitäten engagieren und durch die Veränderungen verursacht werden, oftmals in Begriffen der Interaktion zwischen Entitäten ausgedrückt. d) RBgelmi!ßige, erwartete E'l,ebnisse, also stabile Konsequenzen auf der MakroEbene, die Entitäten und Aktivitäten unter bestimmten Startbedingungen und Hemmnissen normalerweise hervorrufen. Ein Mechanismus ist nur dann als solcher identifiziert, wenn der generative Prozess (z.B. Entitäten und Aktivitäten), der Startbedingungen und Ergebnisse miteinander verbindet, genau erklärt und gründlich spezifiziert worden ist. Wie von Machamer, Darden und Craver (2000: 22) richtig behauptet, beinhaltet eine Erklärung eine Aufdeckung des generativen Prozesses, seine Nachvollziehbarkeit, die genaue Beschreibung seiner Wirkungsweise und ein Verständnis seines speziellen Wirkungskreises: "Die Erklärung macht ein Phänomen nachvollziehbar. Mechanismus-Beschreibungen zeigen, wie Dinge miiglicherweise, wie sie plausiblerweise oder wie sie tatsächlich arbeiten. Nachvollziehbarkeit entsteht nicht durch die Korrektheit einer Erklärung, sondern eher durch die erhellende Beziehung zwischen dem explanans (den Grundbedingungen und den intermediäten Entitäten und Aktivitäten) und dem explanandum (der bestimmenden Bedingung oder dem zu erklärenden Phänomen)." Demzufolge kann ein bestimmter Modelltyp den generativen Prozess des zu erklärenden Ergebnisses nur durch die Erforschung der Relevanz der Startbedingungen und Hemmnisse, die im Falle sozialer Systeme sehr kritisch sind, erhellen, indem er spezifiziert, wie Entitäten und Aktivitäten tatsächlich verbunden sind. In dieser Vollständigkeit liegt der genuin beschreibende Wert einer mechanismenbasierten Erklärung in Hinblick auf statistische und gesetzesmäßige Erklärungen. Ihr Mehrwert in Bezug auf empirische Befunde und narrative Beschreibungen liegt in ihrem Vermögen, generative Mechanismen sozialer Ergebnisse durch Reduktion, Simplifikation und Abstraktion zu erfassen. 248
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni
3. Mechanismen erfordern agentenbasiertes Modellieren Unserer Ansicht nach ist es nur schwer möglich, ohne Formalisierung und Modellierung mechanismenbasierte Erklärungen zu erreichen. Erstens hilft Formalisierung dabei, einen Mechanismus von der Vielzahl empirischer oder substantieller Details zu abstrahieren, ihn klar darzustellen und seinen kontextuellen Wirkungsbereich genau zu untersuchen. Zweitens zwingt sie dazu, Theorien in kurzer und knapper Form auszudrücken und logische Schlussfolgerungen aus den Voraussetzungen zu ziehen. Drittens ist sie unabdingbar, um intersubjektive Kontrolle und eine Steigerung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu garantieren, beispielsweise um die VerifIzierung des Gültigkeitsbereiches von Wissen zu begünstigen und zunehmende Extensionen zu ermöglichen. Der Punkt ist, dass nicht alle Formalisierungen und Modellierungstechniken für das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie geeignet sind. Hedström (2007) argumentiert, dass der geradlinigste Weg, die Relevanz von Agenten und Interaktionen für das Verstehen von sozialen Ergebnissen aus einer mechanismenbasierten Perspektive heraus zu demonstrieren, darin besteht, agentenbasierte Modelle zu benutzen. Die Begründung hierfür ist, dass agentenbasierte Modelle Soziologen erlauben, alle Bestandteile des mechanismenbasierten Erklärungsstils explizit in das Herzstück des Modells einzufügen (siehe Abbildung 1) und nach den generativen Bedingungen zu suchen, z.B. den speziellen Bedingungen und Modi, unter denen Entitäten und Aktivitäten zusammenarbeiten, um das soziale Ergebnis zu generieren, das für uns von Interesse ist. Agentenbasierte Computersimulationen erlauben dem Analytiker, die Verbindung zwischen explanans und explanandum genauestens zu untersuchen und die Nachweisbarkeit der Effekte verständlich zu machen, die die vermutlichen generativen Ursachen auf Ergebnisse haben. In diesem Sinne kann die Bedeutung von "ein Ergebnis erklären" und "ein Ergebnis generieren" innerhalb eines Computers naturgemäß miteinander verschmelzen (siehe Epstein 2006; Epstein/Axtell 1996). Agentenbasierte Modelle erlauben, das Verbindungsglied zwischen Mikro-Hypothesen und Makro-Auswirkungen sowie den Einfluss initialer Konditionen und von Makro-Beschränkungen auf resultierende Ergebnisse zu entschlüsseln, das Verhalten von Agenten und die Netzwerkstrukturen zu identifIzieren, die sich für das Ergebnis verantwortlich zeichnen und Langzeit-Konsequenzen der Interaktionen von Agenten zu erforschen. Die ontologischen und erkenntnistheoretischen Verbindlichkeiten der Analytischen Soziologie vorausgesetzt, beispielsweise den Mehrwert handlungsbasierter Erklärungen für soziale Ergebnisse (vgl. z.B. Hedström 2007), verlangt jede soziologische Recherche aus dieser analytischen Perspektive heraus, dass man sich mit 249
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie dem Dreh- und Angelpunkt der Modell-Agenten, also der Interaktion und dem Verhalten, ausführlich befasst. Wie Abbildung 1 zeigt, stimmt die mechanismenbasierte Form der Erklärung mit den agentenbasierten Praktiken überein, die es ermöglichen zu verstehen, wie x (= initiale Bedingungen und Hemmnisse) undy (= Entitäten und Aktivitäten) regelmäßig Z hervorbringen (= die relevante soziale Auswirkung). Jedes agentenbasierte Modell hilft bei der Formalisierung von Hypothesen darüber, wie x undy beteiligt sind, Z zu generieren (siehe Gilbert 2008). In einem praxisbezogenen Sinne ist ein Mechanismus der Prozess, der Z hervorbringt, indem er x und y koppelt, und das Modell ist das Hilfsmittel, um den Mechanismus zu finden und zu illustrieren.
Abbildung 1: Darstellung der Bausteine der mechanismenbasierten Form der Erklärung durch agentenbasierte Modelle
Anfangsbedingungen und Beschränkungen
Entitäten und Aktivitäten
Soziale Auswirkung
Agentenbasiertes Modell
Der Mechanismus
Ein Standardbeispiel dafür findet man in der Sozialsimulation im SegregationsModell von Schelling. Schellings Ziel war es ursprünglich, die Dynamik der wohnortbezogenen Mobilität und Segregation durch Rassen und ethnische Zugehörigkeit zu illustrieren, d.h., ein Langzeitmuster vieler Großstädte in den USA zu erstellen. In seinem einfachen und abstrahierten Modell, zuerst mit weißen und schwarzen Steinen auf einem Schachbrett dargestellt, hat er aufgezeigt, dass sich die individuellen Präferenzen bei der Wohnortwahl in kumulierten räumlichen Mustern wohnortsbezogener Segregation zusammenfügen. Schelling hat die Kraft gegenseitig voneinander abhängender Mechanismen demonstriert, um die Mikro-MakroVerbindung zu erklären (vgl. Squazzoni 2008a). 250
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni Die erste Version dieses Modells basierte auf einem rechteckigen Flächenraster von 16*13 Zellen, die in Schellings idealisierter Darstellung das Stadtgebiet repräsentierten. In diesem Raum stellt jede Zelle einen von 138 Haushalten dar, schwarz oder weiß, wobei ungefähr ein Viertel der Zellen frei blieb. Folglich existierten 3(16x13)= 3 208 ,.. 1099 mögliche Systemversionen, von denen jede ein mögliches Verteilungsmuster der Wohnorte der schwarzen und weißen Haushalte repräsentierten (siehe Casti 1994). Die Annahme ist, dass Agenten (Haushalte), die zu einer von zwei Gruppen (schwarz oder weiß) gehören, es vorziehen, einen bestimmten Prozentsatz (50% oder mehr) ihrer acht Nachbarn (sog. "Moore-Umgebung'') aus derselben Gruppe zu haben, dass sie in der Lage sind, die Zusammensetzung ihrer Nachbarschaft zu erkennen und dass sie die Motivation haben, an den nächsten erreichbaren Ort zu ziehen, an dem der Prozentsatz der ähnlichen Nachbarn akzeptabel ist. Erlaubt man den Haushalten, im Raum zu interagieren, resultiert daraus, dass die Haushalte durch die gegenseitige zeitliche und räumliche Abhängigkeit ihrer Umzugs-/Verweil-Entscheidungen ihren Umschlagspunkt in einer Spiralbewegung erreichen. Jeder, der seinen Umschlagspunkt erreicht und aus seiner Nachbarschaft wegzieht, verkleinert die Anzahl der Haushalte der Gruppe in der Nachbarschaft, zu der sie/er gehört und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderer aus dieser Gruppe ebenfalls seinen Umschlagspunkt erreicht. Darüber hinaus impliziert dies, dass die nachrückenden Neuankömmlinge, die den Platz derjenigen einnahmen, die weggezogen sind, überwiegend die Minorität darstellen und dass der Prozess ultimativ und irreversibel die Zusammensetzung einer Nachbarschaft verändere. Dies war der Nachweis dafür, dass es keine rassistischen Agenten braucht, um Segregation zu verursachen. Es verhält sich eher so, dass ihr Auftreten von Interaktionsmechanismen abhängt, bei denen Agenten sich vor Ort und innerhalb einer bestimmten zeitlichen Abfolge wechselseitig beeinflussen. Granovetter und Soong (1988: 103) haben die neuen Ansätze Schelling-ähnlicher Modelle wie folgt zusammengefasst: "Diese Modelle haben gegenüber den meisten herkömmlichen Modellen drei entscheidende Vorteile: (1) Sie befassen sich explizit und zentral mit der Dynamik (z.B. verfahren sie nicht mit komparativen Statistiken); (2) sie stellen keine Hypothesen über lineare Beziehungen zwischen Variablen auf und (3) sie werden nicht von Korrelationen, sondern von genau definierten kausalen Mechanismen gesteuert. Wir betrachten derartige Modelle als Teil einer größeren Bewegung hin zu expliziten, konkreten und dynamischen Analysen innerhalb der Soziologie, weg von generalisierten linearen Modellen, welche uns in der Annahme, dass das Ausmaß der Ursachen das Ausmaß der Konsequenzen bestimmt, nur ungenügend auf die vielen Überraschungen vorbereitet, die das soziale Leben für uns bereithält."
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie In den vergangenen Jahren hat sich das durch Schelling inspirierte Segregationsmodell zu einer starken Strömung entwickelt. Epstein und Axtell (1996) haben eine Von-Neumann-Umgebung (4 Agenten) vorgestellt, ein 50*50 Gitter mit 2000 Haushalten, 20% der Haushalte vakant, mit toleranteren Grenzwert-Präferenzen (z.B. von 50% bis 25% Haushalte derselben Gruppe in der direkten Nachbarschaft), anderen Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf Umzüge und einer begrenzten Lebensdauer der Haushalte. Die Resultate belegen, dass sogar ein klein wenig Rassismus ausreicht, um eine Gesellschaft in ein segregiertes Muster kippen zu lassen. Andere Varianten wurden von Pancs und Vriend (2007) untersucht, die Haushalte mit Tendenzen zur Integration und bewusster Ablehnung gegenüber Segregation eingeführt haben. Lauri und Jaggi (2003) haben den Effekt der vergrößerten räumlichen Sichtweite von Haushalten analysiert. Gilbert (2002) hat die Standardversion modifiziert, um auftretende Eigenschaften zweiter Ordnung einzuführen, wie die Kriminalitätsrate und die Fähigkeit der Agenten, das jeweilige subjektive positive oder negative "Image" der ihnen zur Wahl stehenden Nachbarschaften zu erkennen. In Übereinstimmung mit dem altbekannten Argument der "multiplen Realisierbarkeit" sozialer Ergebnisse zeigen Gilberts Simulationen, dass sehr unterschiedliche Mikro-Hypothesen dasselbe Makro-Ergebnis erzeugen können - beispielsweise ein räumliches Segregationsmuster. Die Konsequenz ist, dass empirisch die Unterschiede zwischen dem Verhalten verschiedener Individuen auf einer Mikro-Ebene, was Begrifflichkeiten wie Überzeugungen, Gründe und Motivationen angeht, insbesondere dann wichtig werden, wenn Licht auf ein derartiges soziales Ergebnis geworfen werden soll. Dieser Anregung folgend, zeigen Bruch und Mare in jüngster Zeit (2006), wie sehr das Segregationsmuster des Schelling-Standard-Modells kritisch von der Art der angenommenen Präferenzen auf der Mikro-Ebene abhängt. Das Schelling-Modell basiert auf einer Übersetzung des angenommenen Schwellenwert-Verhaltens auf der Mikro-Ebene in einen Schwellenwert auf der Ebene des Gesamtwertes. Sie zeigen, dass eine kleine Veränderung an der Art der Präferenzen (beispielsweise die Annahme kontinuierlicher Funktionen) den Haushalten erlaubt, sich an die Zusammensetzung ihrer Nachbarschaft anzupassen und ein enorm unterschiedliches Bild auf der Makro-Ebene generiert. Als Konsequenz argumentieren sie, dass wohnortbezogene Umschlagspunkte in höchstem Masse modellabhängig sind. Darüber hinaus schlagen sie empirisch validierte Simulationen ihrer Segregationsmodelle vor, indem sie ihr agentenbasiertes Modell mit Daten aus der ,,Multi-City 5 tu4J 0/ Urban Inequality" (1992, 1994) und der "Detroit Area Studies" (1976, 1992) verbinden, welche zeigen, dass Menschen Nachbarschaften eher nach kontinuierlichen als nach grenzwertbezogenen Präferenzfunktionen evaluieren. Es ist erwähnenswert, dass die Aussage dieser Studie zum Gegenstand einer neuen Kontroverse wurde, in der lineare und Grenzwert-Präferenzen ebenso wie unterschiedliche Parameterbe252
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni reiche der Wahrscheinlichkeitsabhängigkeit sowie der Wandel Letzterer sorgfältig als Quelle für Erklärungen für Segregation oder Integration gegenüber gestellt wurden (siehe Bruch/Mare 2009; Van Rijt/Siegel/Macy 2009). Diese hier nur kurz zusammengefassten Beispiele untermauern zweierlei Evidenzen mit einer gewissen Relevanz. Erstens demonstrieren sie, dass formalisierte Modelle den Fortschritt des Wissenschaftsprozesses unterstützen, indem sie Möglichkeiten zur Erforschung des Gültigkeitsbereiches des produzierten theoretischen Wissens anbieten. Durch die Untersuchung verschiedener initialer Makro- Bedingungen und Hemmnisse, verschiedener Verhaltensmaßregeln und Interaktionsstrukturen können Sozialwissenschaftler die erkenntnistheoretischen Grenzen des untersuchten erklärenden Mechanismus umreißen und weitere Studien anregen. Zweitens zeigt der genannte Disput, dass der Aufstieg auf die Höhen der makrosoziologischen Sichtweise in Richtung von Mikro-Details und dem Einbringen empirischer Nachweise in agentenbasierte Modelle essentiell für die Erfassung der wirklich relevanten Details ist.
4. Typen agentenbasierter Modelle Auf einem unserer vorherigen Aufsätze aufbauend (siehe Boero/Squazzoni 2005) identiftzieren wir drei Typen von agentenbasierten Modellen in den Sozialwissenschaften: Fallbasierte Modelle, Modelle mittlerer Reichweite und abstrahierte Modelle (siehe auch Gilbert 2008). Ahstrahierte Modelle zielen darauf ab, einige grundlegende soziale Mechanismen zu untersuchen, die hinter vielen empirisch konkreten Realitäten stehen. Sie sind weder eine Darstellung konkreter empirischer Phänomene, noch eine Typisierung einer speziftschen Familie von empirischen Phänomenen. Abstraktionen haben dann eine konkrete Bedeutung, wenn sie generalisiert und abstrakt genug sind, um sich selbst von jeglicher empirischen Situation zu differenzieren. Fallbasierte Modelle haben einen empirisch, räumlich-zeitlich begrenzten Zielbereich. Das Phänomen wird durch idiosynkratische und individuelle Merkmale charakterisiert. Das Modell ist oft eine Art Faksimile oder ein ad hoc- Modell. Modelle mittlerer Reichweite sind theoretische Konstrukte mit dem Ziel, diverse Eigenschaften zu untersuchen, die für eine große Bandbreite von empirischen Phänomenen gelten, die sich einige Gemeinsamkeiten teilen - sozusagen eine bestimmte "Familie" von Phänomenen. Sie zielen darauf ab, Mechanismen zu verstehen, die in einer speziftschen Familie empirischer Phänomene von Interesse sind. Sie repräsentieren nicht alle möglichen empirischen Neigungen der Familie selbst (vgl. Willer/Webster 1970). Diese Modelle benötigen Typisierungen in Bezug auf
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie komplexe und kontingente Generalisierungen, die dabei behilflich sein können, Theorie und empirische Nachweise zu verbinden (siehe Merton 1957). Fallbasierte Modelle können aus verschiedenen Gründen sehr wichtig sein, sowoW für wissenschaftliche Bestätigungen als auch für wissenschaftliche Entdeckungen. Erstens sind sie oft Beispiele für eine "Ereigniskategorie" (George/Bennett 2004: 17), d.h. ein fundamentaler Teil zur Konstruktion einer Theorie mittlerer Reichweite. Die Vorteile von fallbasierten Modellen liegen in ihrer konzeptionellen Validität, der Möglichkeit, neue theoretische Hypothesen zu entwickeln, und - als wichtigstes von allen - in der detaillierten Untersuchung kausaler Mechanismen vermittels des Modellierens und der Untersuchung komplexer kausaler Verbindungen (siehe George/Bennett 2004: 19ff.). In fallbasierten Modellen neigt sich die Waagschale zwischen theoretischer Sparsamkeit und Simplifizierung und erklärender Reichhaltigkeit eindeutig in die Richtung Letzterer. Eine erschöpfende Taxonomie fallbasierter Modelle enthält Beispiele wie diese: "a-theoretische idiographische" Fallstudien; "disziplinierte konfigurative Fallstudien", die benutzt werden, um etablierte Theorien zu testen; "heuristische" Fallstudien, die zur Identifizierung neuer Hypothesen oder kausaler Mechanismen benutzt werden; Fallstudien zur Theorienprüfung, die zur Überprüfung der Validität und des Gültigkeitsbereiches einzelner oder konkurrierender Theorien genutzt werden; "Plausibilitätsproben"Modelle, die als vorhergehende Studien über relativ ungeprüfte Theorien angesehen werden, und nicht zuletzt "Baustein-Studien bestimmter Typen von Unterarten eines Phänomens". In diesem letzten Fall geht es darum, "kumulativ kontingente Generalisierungen, die genau definierte Typen oder Unterarten von Fällen mit einem hohen Grad an erklärender Reichhaltigkeit betreffen" (George/Bennett 2004: 31), zu entwickeln. Somit können fallbasierte Modelle in Hinblick auf die Perspektive mittlerer Reichweite gedacht werden. Die Möglichkeit, fallbasierte Modelle zu nutzen, um durch Prozessüberwachung und strukturierte Vergleiche einwandfreie Implikationen für die Theorieentwicklung oder -überprüfung zu ziehen, ist für den wissenschaftlichen Prozess von größter Bedeutung. Dies liegt daran, dass fallbasierte Modelle oft die einzigen Mittel darstellen, um "kontingente Generalisierungen" zu finden - ein Versuch der Generalisierung innerhalb einer Familie von Phänomenen, aber auch zwischen verschiedenen Familien von Phänomenen durch Tests und Analysen dessen, was "am wahrscheinlichsten, am unwahrscheinlichsten und was am wichtigsten" ist, oder um konkurrierende Erklärungen von bestimmten Fällen zu überprüfen (siehe George/Bennett 2004: 110ff.). Abstrahierungen sind wichtige Instrumente für die wissenschaftliche Analyse, weil sie bei der Erforschung und Entwicklung von Theorien helfen und neue Einsichten in den Aufbauprozess von Theorien verschaffen. Sie erlauben dem Analysierenden, sich Gegenständen zuzuwenden, die empirisch schwer zu erfassen und 254
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni zu verstehen sind, wie etwa Langzeit-Evolution oder die Rolle, die sehr komplizierte Interaktionsstrukturen bei Mikro-Makro-Ergebnissen spielen. Diese Modelle haben den Vorteil, einfach, transparent, in hohem Grade formalisiert und efftzienter intersubjektiver Kontrolle unterzogen zu sein. Gleichzeitig aber bilden sie in der ergodischen Welt der Sozialwissenschaften generisches Fachwissen aus, "mit einer Fülle von Interpretationen", die nur sehr schwer zu falsifIzieren und anzubringen sind (vgL Carley 2000). Darüber hinaus können abstrakte Modelle mangels eines seriösen Anschlusses an empirische Beweisbarkeit keine konkrete mechanismenbasierte Erklärung liefern. Modelle mittlerer Reichweite bieten einen Weg, um komplexe Interaktionen oder kausale Mechanismen zu modellieren, indem wiederkehrende Kombinationen hypothetischer Mechanismen als eindeutige KonfIgurations-Typen einbezogen werden. Sie bilden "ein Repertoire an kausalen Mechanismen", die eine breit angelegte, aber spezifIsche Familie von empirischen Phänomenen zu erklären helfen, da sie auf dem Schnittpunkt zwischen der SpezifItät des individuellen kausalen Mechanismus (fallbasierte Modelle) und der in höchstem Grade abstrahierten Ebene der allgemeingültigen Theorien angesiedelt sind (vgl. Miller 1988). Modelle mittlerer Reichweite können sowohl Ergebnis von vorangegangenen fallbasierten als auch von abstrahierten Modellen sein. Sie können eine Möglichkeit darstellen, fallbasierte Modelle zu generalisieren oder vice versa hochgradig abstrahierten Modellen eine empirische Beweiskraft zu verleihen. Mit ihrer Positionierung in der Mitte sind diese Modelle von enormer Bedeutung für die Vereinigung von theoretischen Abstraktionen und empirischer Beweiskraft im Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie. Die oben erwähnte Studie von Bruch und Mare (2006) gibt ein gutes Beispiel für ein agentenbasiertes Modell mittlerer Reichweite ab, das zwischen empirischen Fallstudien und Abstrahierungen angesiedelt ist. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um ein allgemeingültiges Schwellenwert-Modell, das darauf abzielt, Rückkopplungseffekte aus Mikro- und Makroprozessen zu erfassen und dabei auf einer hoch stilisierten Ebene bleibt, fern von jedem empirischen Sinnbezug wie z.B. der Bandbreite der Meinungen, dem Auftreten von Moden oder Ausbrüchen von Kriminalität in Großstädten (siehe Bruch/Mare 2006: 668). Vielmehr soll das Modell ein Licht auf eine spezifIsche Familie sozialer Ergebnisse werfen, d.h. ethnische Wohnraum-Segregationsmuster. Das Modell ist dementsprechend aufgebaut, mit einer eindeutigen Repräsentation einer Stadt, räumlichen Begrenzungen, Wohneinheiten, ethnischen Gruppen, Verteilung von Haushalten, Präferenzen-Funktionen und der Dynamik des räumlichen Wandels, so dass das dieses Modell empirisch spezifIzierter ist als ein generisches, abstrahiertes Schwellenwert-Modell. Zugleich ist es aber kein Modell, das nur einen ausgewählten Fall beleuchten will, z.B. die Wohnraum-Segregationsmuster in Chicago. Es wurde nicht im Hinblick auf eine 255
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie spezielle empirische Situation geschaffen, der Raum gleicht keiner besonderen Stadt, die ethnische Verteilung reflektiert keine reale Nachbarschaft, auch zielen die Präferenz-Funktionen nicht darauf ab, die aktuelle Komplexität der Entscheidungen von Menschen oder der Faktoren zu reproduzieren, die bei der Wohnortwahl eine Rolle spielen. Gleichzeitig ist das Modell mit empirischen Daten abgestimmt, um die Präferenzen der Agenten zu kalibrieren und so eine effektive Verbindung zwischen theoretischen und empirischen Dimensionen zu erlauben. Auf diese Weise - einige festgelegte Beschränkungen vorausgesetzt - generieren die empirisch kalibrierten Präferenzen regelmäßig im Sinne der strukturellen Elemente von Modellen (wie der Raumstruktur, der Agentenverteilung, der Agentenkomposition und der Anzahl der Agenten sowie der Interaktionsregeln) spezielle soziale Ergebnisse. Andere Beispiele für diese drei Modelltypen können bei Boero/Squazzoni (2005) gefunden werden.
5. Empirische Daten und ihre Relevanz für das Modellieren Mechanismen werden im philosophischen Diskurs und im sozialwissenschaftlichen Gebrauch generell als konkrete und reale Kräfte angesehen oder als rein analytische Konstrukte, die reale Phänomene beleuchten sollen. Der kausal-realistischen Auffassung nach, die wir in diesem Kapitel vertreten, ist der Zweck der Analytischen Soziologie, die unsichtbaren kausalen Mechanismen und die Pfade zu entschlüsseln, die es Wissenschaftlern erlauben, jene Faktoren empirisch zu begründen, die in bestimmten generativen Prozessen am Werke sind, um das zur Debatte stehende Ergebnis zu erklären. Die Notwendigkeit eines empirischen Unterbaus für Modelle besteht simultan aus den drei folgenden Gründen: Erstens benötigen agentenbasiert-analytisch arbeitende Soziologen empirische Datenmengen und Belege über die beobachteten sozialen Ergebnisse, die mit Makro-Simulations-Resultaten abgeglichen werden können. Dies soll die Voraussetzungen des so genannten "generativen Prinzips" der Erklärung erfüllen, nach dem es eine notwendige Bedingung für die Erklärung an sich ist, in der Lage zu sein, die interessierende Makto-Regelmäßigkeit durch ein agentenbasiertes Modell zu (re-)generieren (siehe Epstein 2006: 8). Zweitens werden Daten benötigt, die dem Schöpfer des Modells behilflich sind, einige kritische Simulationsparameter zu kalibrieren, beispielsweise die Interaktionsstruktur oder die Anzahl der Agenten, die das Ergebnis und folglich auch die Erklärung hochgradig beeinflussen können (vgl. Fagiolo/Moneta/Windrum 2007). Da es drittens eine Menge experimenteller und empirischer Belege gibt, dass die Standard-Rational-Choice-Theorie bei der Bereitstellung fehlerfreier Mikro-Unterbauten für sozialwissenschaftliche Modelle defizitär arbeitet, weil Agenten sehr heterogen in Be256
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni zug auf Überzeugungen, leicht durch Andere zu beeinflussen und sozialen Nonnen und Konventionen unterworfen sind (z. B. Bowles 2004; Fehr/Gintis 2007; Gintis et al. 2002; Heinrich et al. 2005), können empirische Daten über das Verhalten von Agenten helfen, detaillierte Mikro-Unterbauten aufzunehmen und zwischen den möglichen Mikro-Verhaltensmechanismen zu unterscheiden, die starken Einfluss auf die Entstehung des betreffenden sozialen Ergebnisses haben. Empirische Evidenz ist besonders entscheidend im Falle eines sozialen Ergebnisses, das einer "multiplen Realisierbarkeit" und "Aquifinalität" unterliegt. Jeder Computer-gestützt arbeitende Wissenschaftler weiß, dass das Zusammenführen von Mikro und Makro eine Quelle von Problemen ist, die große Herausforderungen bedeuten. Dafür gibt es zwei Gründe: Der erste ist, wenn wir Colemans (1990) Inspiration folgen, dass sich die Erklärung sozialer Ergebnisse auf eine Menge von generativen Mikro-zu-Makro-Mechanismen beziehen (im Sinne der Verkettung von MakroSituation - Mikro-Interaktion - Makro-Aggregation), mit der Konsequenz, dass in Übereinstimmung mit der berühmten Duhem-Quine-These - es nicht möglich ist, eine einzelne Hypothese isoliert zu veriftzieren/falsiftzieren (vgl. Windrum/Fagiolo/Moneta 2007). Der zweite Grund ist, dass - wenn man einmal vernünftigerweise Rational-Choice-Standard-Modelle aufgegeben hat - es sich ohne einen gewissenhaften Bezug auf empirisch begründete Mechanismen sehr schwierig gestaltet, zwischen all den alternativen Mikro-Unterbauten denjenigen herauszufinden, der es dem Forscher erlaubt, das betreffende Ergebnis präzise zu erklären. Dieses zweite Problem verlangt nach dem berühmten Argument der "multiplen Realisierbarkeit". Jenes ist in der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie wohlbekannt - insbesondere zwischen Unterstützern und Gegnern der "Emergenz" (vgl. Clayton/Davies 2006; Sawyer 2005) - ebenso wie in den Sozialwissenschaften, hier unter den Begriffen der ,,Aquifinalität" und "Multifinalität" (vgl. George/Bennett 2004; Sayer 1992). Die These der "multiplen Realisierbarkeit" meint im Grunde, dass ein Makro-Ergebnis M durch gänzlich unterschiedliches Mikroverhalten der Komponenten generiert werden könnte. M könnte prinzipiell durch N" ... N., ebenso aber auch durch K" ... K., oder durch Z" ... Z. erzeugt werden. Mit anderen Worten: Da das Zusammenführen von Mikro zu Makro an sich und auch de facto ein Abgleich von vielen Elementen auf ein Ganzes darstellt, könnte es der Fall sein, dass eine Menge ganz verschiedener Mikro-Unterbauten es dem Wissenschaftler ennöglichen würden, das gleiche zur Debatte stehende theoretisch Ergebnis zu erklären. In den Sozialwissenschaften beinhaltet die These der Aquifinalität oder Multifinalität, dass "die Arbeitsweise ein und desselben Mechanismus ganz verschiedene Resultate hervorrufen kann und alternativ dazu unterschiedliche Mechanismen dieselben empirischen Resultate zeitigen können." (Sayer 1992: 121) Oder, mit anderen Worten, "viele kausale Pfade zum selben Ergebnis" kommen und "viele Ergeb257
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie nisse im Einklang mit einer bestimmten Ursache" (George/Bennett 2004: 10) stehen. Eine solche Argumentation verkompliziert die Deduktions-/Induktionsprozesse, die in die wissenschaftlichen Untersuchung involviert sind, indem sie Modelle benötigen, die es dem Forscher ermöglichen, alternative Erklärungsmechanismen - mit dem Schwerpunkt auf empirischen Spezifthtionen und Belegen gleichzeitig zu untersuchen (vgL George/Bennett 2004: 161). An diesem Punkt stellt sich folgende entscheidende Frage: Angenommen, dass (1) der Grund, ein agentenbasiertes Modell zu erstellen ist, ein Werkzeug zur Verfügung zu haben, um eine mechanismenbasierte Erklärung eines sozialen Ergebnisses via eines Mikro-Makro-Modelles zu ftnden, (2) soziale Ergebnisse oft unter die erkenntnistheoretische Kategorie der multiplen Realisierbarkeit fallen und (3) Mechanismen Äquiftnalität oder Multiftnalität hervorbringen können - was erlaubt der Analytischen Soziologie die Entdeckung eines mikro-generativen Mechanismus, der das betreffende Ergebnis erklärt, wenn nicht ein Rückgriff auf empirische Grundlagen und Spezifthtionen? Diese Fragestellung ist von besonderer Relevanz, wenn das Problem der Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und -beschränkungen und all die anderen Konfliktherde ernsthaft mit einbezogen werden sollen, die für soziale Interaktionen nun einmal typisch sind und darüber hinaus jedwede theoretische Untersuchung und eventuelle Generalisierung verkomplizieren (vgL z.B. Miller/Page 2007). In der Sozialsimulation wird zurzeit ein intensiver Disput zwischen den Unterstützern der theoretischen Simpliftzierung und Abstraktion (dem KISS-Prinzip: "Keep It Simple, Stupid" und Befürwortern der deskriptiv-empirischen Annahmen (das KIDS-Prinzip: "Keep It Descriptive, Stupid', geführt (siehe Moss/Edmonds 2005). Der Punkt ist - wenn unsere These korrekt sein sollte -, dass ein rein theoretisches Modell, egal ob es einfach oder kompliziert ist, eine Auswahl möglicher oder plausibler zur Verfügung stehender Mikro-Spezifthtionen anbieten kann, vergleichbar mit einer abstrahierten Untersuchung innerhalb ihres theoretischen Parameter-Wirkungskreises, aber noch lange keine einwandfreie Erklärung des betreffenden Ergebnisses liefert (vgl. de Marchi 2005). Wenn eine Schlussfolgerung unzweifelhaft aus sozialen Simulationsmodellen und der Komplexitätsforschung gezogen werden kann, dann die, dass soziale Ergebnisse in höchstem Maße von kleinen Mikro-Details bezüglich des Verhaltens und der Interaktion von Agenten abhängig sind. Es ist daher unabdingbar, empirische Daten und Beweise für diese Aspekte zu ftnden, um informative Erklärungen anzuhieten. Gleichzeitig liegt eine schiere Replikation der Realität mit Faksimile-Modellen außerhalb des Wirkungsbereiches eines jeden ernsthaften Wissenschaftlers, da Replikation bei der Erstellung theoretischer Generalisierungen nicht behilflich sein kann - und auf ihnen basiert der wissenschaftliche Fortschritt nun einmal. Dies ist ein gutes Argument für die Arbeit mit Modellen mittlerer Reichweite, die Theorie und Empirie verknüpfen 258
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni und den Unterbau für theoretisch geleitete empirische Untersuchungen oder graduelle theoretische Abstraktionen bilden. Das Streben nach empirischen Unterbauten für agentenbasierte Modelle bezieht sich nicht einfach auf die empirische Validation von Simulationsresultaten, ebenso wenig auf die empirische Kalibrierung von Simulationsparametem. Neben der Tatsache, dass die Validationstechniken sich für verschiedene Typen von agentenbasierten Modellen unterscheiden, wie wir (siehe Boero/Squazzoni 2005) an anderem Ort bereits gezeigt haben, ist ihnen eine Eigenschaft gemeinsam: ihr mehrstufiger Charakter. Ohne über die lebhafte methodologische Debatte über empirische Validation agentenbasierter Modelle ins Detail gehen zu wollen1, ist der Punkt, dass ein mechanismenbasierter Ansatz einer mehrstufigen Erklärung und einer Spezifizierung des Makro-Mikro-Makro-Verkettungsprozesses nahe kommt, der für die Generierung eines bestimmten Ergebnisses verantwortlich ist. Die Herausforderung, eine gute Erklärung zu erstellen, ist demnach nicht einfach ein Problem von Daten und empirischen Belegen. Es geht nicht einfach um eine direkte oder indirekte Validierung, um eine ex-ante-Parameter-Kalibrierung oder um eine expost-Ergebnis-Validierung. Es geht vielmehr darum, dass mechanismenbasierte Erklärungen günstigstenfalls die empirische Spezifizierung der gesamten Kausalkette, die den "mechanistischen" Inhalt eines Mikro-Makro-Prozesses, der bei der Generierung eines Ergebnisses eine Rolle spielt, und - zuletzt und am wichtigsten die Mikro-Unterbauten (d.h. sowohl quantitative als auch qualitative Parameter) des Modells offen legen.
6. Schlussbemerkung Wie schon von Reiss (2007) bemerkt, sind mechanismenbasierte Erklärungen nur eine der vielen Ziele, die wir in der pluralistischen Welt der sozialwissenschaftlichen Methodologie verfolgen sollten, z.B. neben Vorhersagen, narrativen Beschreibungen und politischer Beratung. Dennoch würde es all diesen Aspekten zugutekommen, wenn die empirische Realität im Sinne sozialer Mechanismen verständlich gemacht werden könnte, indem belastbares Wissen zur Verfügung gestellt würde, wie das gesellschaftliche Leben konkret funktioniert. Anders gesagt, bevor wir versuchen, das "Warum" eines bestimmten sozialen Ergebnisses zu verstehen (und ebenso das "Wann''), ist es von immenser Wichtigkeit, das "Wie" zu erfassen, d.h., wie bestimmte soziale Ergebnisse durch mikro-generative Prozesse entstehen können.
Für den jüngsten Übetblick siehe Fagiolo/Windrum/Moneta (2007) und einige Beittäge in Squazzoni (2009).
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie Die Suche nach dem "Wie" verlangt zusätzlich nach einer Speziftkation kausaler Verbindungen, der informativen Beschreibung der Art und Weise, wie Dinge wirklich funktionieren und in letzter Konsequenz nach der Vorrangstellung des Modellierens und agentenbasierter Modelle. Aus der Perspektive der Analytischen Soziologie hat die Anwendung agentenbasierter Modelle viele Vorteile (siehe z.B. Bruch/Mare 2006; Frank/Squazzoni/ Troitzsch 2009; Manzo 2005, 2007): Indem man erstens den Computer als "virtuelles Labor" nutzt, kann ein sozialer Mechanismus auf einfache und "ökonomische" Weise vollständig beschrieben, formalisiert, erforscht und verstanden werden. Alle Bausteine eines mechanismenbasierten Erklärungsstils, den wir in Abbildung 1 dargestellt haben, können via Computersimulation modiftziert, ausgedehnt, kombiniert, neu kombiniert und verstanden werden. Agentenbasierte Modelle sind gut geeignete Werkzeuge, um die verfolgbaren Effekte eines generativen Prozesses sichtbar und verständlich zu machen. Agentenbasierte Modelle erlauben es dem Forscher zweitens, die Mikro-Makro-Verbindung in einer generativen, dynamischen Art und Weise festzulegen, die uns dabei helfen kann, die beiden Ebenen pragmatisch zu kombinieren und gleichzeitig einen ontologischen Streit über die Vorrangstellung zu vermeiden (siehe Squazzoni 2008). Indem sie drittens den Wandel und Einfluss qualitativer und quantitativer Parameter untersuchen, bieten agentenbasierte Modelle eine erste Orientierung, um den Gültigkeitsbereich eines Mechanismus zu prüfen. Indem sie beispielsweise Belege für eine multiple Realisierbarkeit eines bestimmten sozialen Ergebnisses liefern, können diese Modelle anzeigen, wie dringlich die Suche nach empirischen Mikro-Unterbauten in diesem speziellen Falle ist. Darüber hinaus unterstützen sie die Analytisch Soziologie, ihre theoretisch orientierten, empirischen Analysen durchzuführen. Auf der anderen Seite können sie bestätigen - indem sie Belege für die Robustheit des sozialen Ergebnisses bei Variationen von Mikro-Unterbauten beibringen -, dass der fragliche erklärende Mechanismus empirisch generalisiert werden und einen Anreiz für weitergehende empirische Analysen schaffen könnte, um den identiftzierten Mechanismus zu untermauern und seinen Wirkungsbereich auszudehnen. Anders als die Erkenntnistheorie und die Wissenschaftsphilosophie impliziert eine modellorientierte pragmatische Perspektive, dass die realistischen und die erkenntnistheoretischen Bedeutungen von "Mechanismen" nicht so drastisch voneinander getrennt werden können. Während wir der realistischen Sichtweise folgen, nach welcher der Mechanismus die aktuelle und konkrete Kraft darstellt, die das soziale Ergebnis von Interesse "strukturiert" (Manicas 2006), ist es gleichzeitig völlig klar, dass Soziologen, die mit Modellen umgehen, sich früher oder später in zunehmendem Maße daran gewöhnen, sich einer Erklärung für ein gegebenes soziales Ergebnis mittels eines "mechanistischen Werkzeugkastens" zu bedienen, d.h., sich ihm im Sinn eines potentiellen Mechanismus x,y oder Z anzunähern. Wie im 260
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni Falle der Idee des "Modells", das Objekt einer ähnlich gelagerten erkenntnistheoretischen Diskussion ist, ist es sinnvoll, dass Sozialwissenschaftler, die an der Erklärung und dem Verstehen von sozialen Ergebnissen interessiert sind, dieses "heiße Thema" den Philosophen und Erkenntnistheoretikem überlassen. Zusammengefasst verlangen die in diesem Beitrag angesprochenen Thesen zukünftig nach einer engen Verknüpfung zwischen der Analytischen Soziologie und den Sozialsimulation. Tatsächlich hängt die Etablierung und Verbesserung dieser Verbindung von zwei Bedingungen ab: Erstens von der Fähigkeit der Analytischen Soziologie, von denjenigen, die bereits Modellieren, die Einstellung zu übernehmen und mit diesen zu kooperieren, etwa mit den Akteuren der Gemeinschaft der Sozialsimulation. Anders als in mathematischen, statistischen oder Standard-Simulationsmodellen kann die Analytische Soziologie aus agentenbasierten Modellen den Vorteil ziehen, einen Formalismus zu übernehmen, ohne dabei die Einzelheiten oder die qualitative Natur sozialer Fakten, d.h. die Relevanz des Verhaltens der Agenten aus den Augen zu verlieren (vgl. Frank/Squazzoni/Troitzsch 2009; Gilbert 2008). Zweifellos impliziert dies weitere Schritte in Richtung auf die enorme Herausforderung, qualitative Belege in formale Modelle zu übersetzen (siehe GeIler 2008; Yang/Gilbert 2008). Zweitens, auf eine Langzeitperspektive hin gesehen, hängt diese Verbindung (unserer Ansicht nach der Fortschritt der Soziologie an sich) von den Kapazitäten der Gemeinschaft unserer Disziplin ab, eine neue Generation soziologisch Forschender heranwachsen zu lassen, die computergestützte Methoden schon mit der Muttermilch aufgesogen haben. Unserer Ansicht nach werden die frühen agentenbasierten Modelle Standardkomponenten im "Werkzeugkasten" von Soziologen darstellen, und je eher das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie Bekehrte für sich gewinnen kann, desto besser wird die Soziologie als Wissenschaft dazu in der Lage sein, denselben wissenschaftlichen Standard zu erreichen wie fortgeschrittenere Disziplinen.
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Gianluca Manzo
Populationsbasierte versus nachbarschaftsbasierte soziale Vergleiche Ein agentenbasiertes Modell für das Ausmaß und die Gefühle relativer Deprivation1
1. Einleitung Das Konzept der relativen Deprivation ist eines der meistgenutzten in der Ökonomie (siehe Clarks et al. 2008), der Sozialpsychologie (vgl. Tyler et al. 1997: Kap. 2; Walker/Smith 2001: Kap. 1) und in der Soziologie (vgl. Cherkaoui 2001; Coleman 1990: Kap. 8; Lundquist 2008). Trotz seiner Verbreitung sind formale Analysen der Mechanismen, die den Grad und die Gefühle relativer Deprivation generieren, weniger gebräuchlich. 2 In der Soziologie sind die bemerkenswertesten Ausnahmen zum einen Boudons (1979: 52ff.; 1982: Kap. 5) Analyse, die später von Kosaka (1986) und Yamaguchi (1998) aufgegriffen wurde und zum anderen Butts (1982: Kap. 5, 191ff.) Beitrag. Diese Analysen haben indessen unterschiedliche Schwerpunkte. Die erste Gruppe verfügt über folgende Charakteristika: a) Sie sind am Grad der relativen Deprivation interessiert; b) sie tendieren dazu, zu demonstrieren, dass die Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und -proportion unzufriedener Akteure sowohl positiv als auch negativ sein kann; c) sie beziehen sich implizit auf Akteure, die sich mit einer vorgegebenen Gruppe als Ganzes vergleichen (globale Vergleiche). Im Gegensatz dazu kann Burts Modell wie folgt charakterisiert werden: a) Es konzentriert sich auf die individuellen Gefühle der Deprivation; b) es stellt sich nicht die Frage nach der positiven oder negativen Natur der Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und der Intensität des Gefühls des Un-
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Ich möchte Marc Barbut, earlo Barone, Thomas Fararo, Michel Farse und Kenji Kosaka dafür, dass sie einen ersten Entwurf dieser Arbeit gelesen und kommentiert haben, sowie Alexandra Frenod für die Korrektur dieses deutschen Textes danken. Davis (1959) scheint der erste gewesen zu sein, der den Versuch machte, den Kemgedanken in " Tbc American So/dict" zu formalisieren. Sein Modell befasst sich mit dem Mengenverhältnis von benachteiligten Akteuren und es setzt völlig unstrukturierte Vergleiche zwischen Akteuren voraus. Dennoch enthält das Modell keinen generativen Mechanismus des Grades relativer Deprivation.
265 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche befriedigtseins; c) Es involviert Vergleiche zwischen Menschen, die in soziale Netzwerke eingebettet sind Ookale Vergleiche). Mein Ziel ist es, hier einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, der uns in die Lage versetzt, die Beziehung zwischen all diesen Aspekten gleichzeitig formal zu analysieren. Ich werde versuchen, folgende Punkte zu demonstrieren und zu erklären: a) dass die vierfache Beziehung zwischen der Attraktivität der zur Verfügung stehenden Güter, der objektiven Opportunitätsstruktur, dem Prozentsatz der unzufriedenen Akteure und der Intensität ihrer Gefühle der Unzufriedenheit verschiedene Formen annehmen kann, nur nicht jene, die am naheliegensten wäre, z.B. das Muster "Mehr-Möglichkeiten-weniger-unzufriedene-und-weniger-intensiv-unzufriedene-Akteure"; b) dass die Präsenz dyadischer Interaktion bestimmte Aspekte dieser vierfachen Beziehung signifikant verändern kann, so wie dies in einem Mikrokosmos der Fall ist, in dem Agenten vollkommen isoliert sind und wo nur globale Vergleiche gezogen werden. Verglichen mit den oben erwähnten formalen Analysen gibt es hier das zusätzliche besondere Merkmal, dass ich nach einer Lösung für diese Probleme gesucht habe, indem ich ein agentenbasiertes Modell programmiert und analysiert habe (vgl. Ferber 1999; Gilbert 2007).3 Im Kontext dieses Buches dient diese Anwendung noch einem weiteren Zweck. Ich behaupte, wenn wir erklärende Modi funktionsfahig erstellen wollen, wie sie von der Analytischen Soziologen befürwortet werden, dass die beste methodologische Lösung ist, agentenbasierte Modelle zu konstruieren und zu simulieren (vgl. Manzo 2005, 2007a, 2007b).4 Der Grund dafür ist einfach. Über die Unterschiede zwischen den Definitionen hinaus, die immer noch in der Literatur gefunden werden können (siehe Hedström 2005: 37ff.; Mahoney 2001: 577ff.), kann ein Mechanismus mindestens als eine Folge von Ketten aus "Entitäten, Eigenschaften und Aktivitäten" definiert werden, der die Fähigkeit aufweist, ein bestimmtes Bündel von Ergebnissen mit einiger Regehnäßigkeit zu generieren (vgl. Elster 2007: 36; Machamer/Darden/Craver 2000: 3). Das besondere Merkmal eines Mechanismus ist dann seine "Generativität" (vgl. Cherkaoui 2005; Fararo 2009). Und es gibt keinen direkteren Weg, diese grundlegende Bedingung zu erfüllen, als sie künstlich nachzubilden. Ein agentenbasiertes Modell zu simulieren heißt,
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Die Simulationsmethode ist kürzlich für ihre konzeptuelle Flexibilität und rechnerische Stärke (siehe Miller/Page 2007) in der Ökonomie (siehe AxteU 2000; Tesfatsion/Judd 2006), in der Finanzwelt (siehe Mathieu et al 2005), in den Politikwissenschaften (siehe Axelrod 1997; Cederman 2001;Johnson 1999), in der Geographie (siehe Sanders 2007) und zuletzt teilweise in der Soziologie (siehe Hummon/Fararo 1995; Maey/Willer 2002; Sawyer 2003; Squazzoni/Boero 200S) hervorgehoben worden. Vgl. auch Tufte in diesem Band.
Gianluca Manzo theoretische Mehrebenen-Systeme zu konstruieren, die Regelmäßigkeiten generieren. 5 Diese Verbindung sollte aktiv verfolgt werden. Nach der Ansicht vieler Soziologen ist die Analytische Soziologie lediglich eine leere Hülle. Morgan (2006: 26) z.B. schreibt wie folgt über die von Hedström und Swedberg (1998) gesammelten Beiträge: "Zweifellos haben sie ein Hauptproblem quantitativ orientierter Soziologie korrekt identifiziert. Sie haben aber keine zufriedenstellende komplette Lösung angeboten." Pisati (2007: 7f.) meint kürzlich: "Es ist nicht klar, wie die Erklärungsstrategie in der Praxis angewandt werden kann, um komplexe Systeme zu erklären - und das ist es, was soziale Phänomene stets darstellen". Obwohl wir zustimmen, dass "es keine Methode gibt - ganz zu schweigen von einer logischen -, um Mechanismen zu erahnen. [...] dies ist eine Kunst, keine Technik" (Bunge 2004: 200), scheint es mir dringlich, dass diese "Kunst" dem agentenbasierten Modellieren einen Platz einräumt, wenn wir derartige Mechanismen analysieren. Wenn wir uns nicht überwinden können, diesen Schritt zu gehen, dann könnte diese falsche Deftnition der Situation - z.B. "Analytische Soziologie ist eine leere Hülle" - wahr werden. Es liegt mir fern zu bestreiten, dass andere Methoden auch eine Rolle spielen, wenn es zur Anwendung des analytischen Ansatzes kommt. Dennoch ist es wichtig, zwischen 1) der Analyse der Prozesse der postulierten Mechanismen und der von ihnen produzierten Effekte sowie 2) ihrer empirischen überprüfung oder Validation zu unterscheiden. Die erste Aufgabe ist spezifisch für die Analytische Soziologie; der Anspruch ist, Mikrokosmen zu konstruieren, die in übereinstimmung mit dem einen oder anderen Regelwerk in der Lage sind, das eine oder das andere Set von kollektiven und individuellen Zuständen zu generieren. Diese AufgabensteIlung erfordert neue Methoden. Die zweite Aufgabe ist im Gegensatz dazu nicht spezifisch für die Analytische Soziologie: Es bedarf der Injektion empirischer Informationen am Ein- oder Ausgang dieser Mikrokosmen. Wir sind bereits im Besitz eines breiten Spektrums von (qualitativen und quantitativen) Werkzeugen, um dies zu bewerkstelligen. Offensichtlich geht es darum einen Weg zu finden, diese zwei Phasen miteinander zu verbinden. Zu behaupten, dass wir einen Mechanismus empirisch überprü-
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Auf die Wahlverwandtschaft zwischen generativer Erkenntnistheorie und der agentenbasierten Methode wurde bereits hingewiesen (siehe Cederman 2005; Epstein 2006). Auch wurde die agentenbasierte Methode kürzlich in die Agenda der Analytischen Soziologie aufgenommen (siehe Hedström 2005: Kap. 6)
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche fen können, bevor wir ihn rigoros formalen Analysen unterziehen, hieße, die Reihenfolge zu verkehren, in der die Probleme gelöst werden sollten.6 Das Kapitel ist wie folgt organisiert: Zuerst gebe ich einen Literaturüberblick über relative Deprivation und postuliere einige nützliche konzeptuelle Unterscheidungen. Dann präsentiere ich die theoretische Struktur des von mir mit dem Ziel entworfenen agentenbasierten Modells, gleichzeitig den Grad und die Gefühle der relativen Deprivation zu analysieren. Zuletzt diskutiere ich die computergestützten Resultate, die durch Simulation dieser künstlichen Gesellschaft unter mehreren Parametervorgaben erzielt wurden. Die Schlussfolgerung fasst die Fragestellungen, mit denen ich mich befasst habe ebenso wie die Hauptresultate und die Beschränkungen, denen die Analyse unterliegt, noch einmal zusammen.
2. Eine nützliche analytische Unterscheidung: RDprequenz und RDintensität Die empirischen Untersuchungen, welche die Verbreitung des Konzepts der relativen Deprivation (im Folgenden RD genannt) zur Folge hatten, beobachteten alle eine inverse Relation zwischen dem, wie Akteure die Bedingungen wahrnehmen, unter denen sie handeln und der "objektiven" Qualität dieser Bedingungen.? Stouffer und seine Kollegen (1956: Bd. I: 52, 125) waren die ersten, die dieses Konzept benutzt haben, um diese anscheinend paradoxe Korrelation zu erklären. Die in dieser "interpretativ intervenierenden Variable", wie Merton (1957: 229) sie nannte, enthaltene Hypothese ist die, dass die Abschätzungen von Akteuren hinsichtlich ihrer objektiven Möglichkeiten von ihren Vergleichsstandards abhängt (siehe Stouffer et al. 1965: Bd. I: 125).8 Obwohl es die empirische Beobachtung 6
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Ich habe versucht, beiden Anforderungen in meiner (2006, 2007c) Analyse der bildungserzieherischen Ungleichheiten in Frankreich und Italien gerecht zu werden. Zwei andere Beispiele für empirisch kalibrierte agentenbasierte Modelle sind Hedström (2005: Kap. 6) und Bruch/Mare (2006). Die bekannteste ist natürlich die inverse Korrelation im Kern von" The American Soldie'" (Stouffer et aL 1965: 251f.) zwischen den Beförderungsraten in der Armee und der subjektiven Wahrnehmung der Möglichkeiten zur Beförderung. Noch vor dem ,,American Soldiet" beobachtete Toqueville (1955: III, Kap. 4, 176), dass "es genau die Gegenden Frankreichs waren, in denen der größte Fortschritt stattgefunden hatte, in denen das Missbehagen der Bevölkerung am höchsten war." Durkheim (1951: II, Kap. V, 244) bemerkte, dass "ein ungewöhnlicher Anstieg von Suiziden unter diesen kollektiven Renaissance zu verzeichnen ist". Nach dem ,,Ameman Soldiet" bestätigte Runciman (1966: 3), dass "Unzufriedenheit mit dem Belohnungssystem und den Privilegien in einer Gesellschaft niemals in gleichem Maße empfunden wird wie der Grad der Ungleichheit, dem ihre verschiedenen Mitglieder ausgesetzt sind." Runciman lieferte als erster eine weiterentwickelte Deftnition: "Wir können annähernd sicher sein, dass A relativ benachteiligt in Bezug auf X ist, wenn (i) er X nicht bekommt, (ii) er eine oder mehrere Personen sieht, was ihn selbst zu einer früheren oder späteren Zeit einschließen kann, die im Besitz von X sein werden (egal, ob dies tatsächlich der Fall sein wird oder nicht), (üi) er X will und (iv) er es als realisierbar ansieht, dass er X bekommen könnte". Eine bahnbrechende Definition, die
Gianluca Manzo einer linear inversen Beziehung zwischen objektiven Opportunitätsstrukturen und den Wahrnehmungen von Menschen hinsichtlich dieser Opportunitäten gewesen ist, die die Anwendung des RD-Konzeptes ursprünglich motivierte, wurde das Problem, inwieweit diese Beziehung Allgemeingültigkeit hat, noch nicht vollständig gelöst. 9 Es handelt sich um ein komplexes Problem, da es in zwei unterschiedlichen, aber sich überlappenden Dimensionen entsteht. Einerseits bezieht das RDPhänomen zwei Aspekte mit ein, andererseits kann eine Vielfalt von verantwortlichen Mechanismen am Werke sein. Was den ersten Punkt angeht, sollte man genau unterscheiden zwischen RDprequenz - d.h. dem Verhältnis von Akteuren, die nicht das haben, was sie wollen und RDIntensität - der Stärke der Geftihle, die die Akteure mit dieser Diskrepanz verbinden (siehe Elster 2007: 58; Runciman 1966:10). Dies setzt voraus, dass die Mechanismen, die eine bestimmte Anzahl von Akteuren dazu bewegen, eine Diskrepanz zwischen ihren Bedürfnissen und der Realität wahrzunehmen, sich von denen unterscheiden lassen, die spezifische Reaktionen auf diese Wahrnehmung erzeugen. Daraus folgt wiederum, dass die Beziehungen zwischen objektiven Bedingungen des WoWgefühls und der subjektiven Wahrnehmung dieser Bedingungen unterschiedliche Formen annehmen können, je nachdem, welcher Aspekt der RD untersucht wird und welcher Mechanismus im Gange ist.l° In Bezug auf den zweiten Punkt können RD generierende Mechanismen auf einen basalen analytischen Raum bezogen werden, mit Achsen, die mit den von den in der Sozialpsychologie entwickelt wurde, fügt eine fünfte Komponente hinzu: "den Mangel an dem Gefühl der eigenen Verantwortung für das Verfehlen von X" (Crosby 1976: Tabelle 1). 9 Die Autoren von "Th. American Soldi.,., scheinen sich dieses Prohlems bewusst gewesen zu sein: "Um zurückhaltend zu bleiben, sollten wir unsere Schlussfolgerung darauf beschränken, dass eine Einheit mit relativ geringen Aufstiegsmöglichkeiten dazu neigt, einen größeren Anteil an Männern zu haben, die vorteilhaft über Beförderungschancen sprechen als in Einheiten mit geringeren Aufstiegsmöglichkeiten." (Stouffer et al. 1965: 257) Dieser Punkt wurde auch von Metton (1957: 237, 7) gestreift: ,,Mutmaßlich ist diese Beziehung kurvilinear und dies nötigt den Soziologen dazu, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen die beobachtete lineare Relation nicht aufttitt". Runciman (1966: 19f.) nahm den Faden fast zehn Jahre später wieder auf: "diese Relation ist sowohl kompliziert als auch variabel [...] sie kann ebenso die Form einer inversen als auch einer direkten Korrelation annehmen." (Runciman 1966: 247) In der Ökonomie wurde das EasterlinParadox, dass "steigendes Einkommen für Alle nicht das Glücksgefühl Aller ansteigen lässt" (Easterlin 1973: 4), wiederholt analysiert (siehe Clark et al. 200S), um zu demonstrieren, dass eine positive Relation zwischen Einkommen und Lebensglück existiert, nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der Gesamtebene, und nicht nur in einem bestimmten Land, sondern auch zwischen Ländern (vgl. Wolfers/Stevenson 200S). 10 Diese analytische Unterscheidung ist in zeitgenössischen Definitionen der RD in der Sozialpsychologie klar zu erkennen: "das Urteil, dass man im Vergleich zu einem gewissen Standard schlechter gestellt ist; dieses Urteil wiederum steht in enger Verbindung mit dem Gefühl von Wut und Verbitterung" (fyler et al 1997: 17); "ein subjektiver Zustand, der Emotionen und Kognitionen formt und das Verhalten beeinflusst" (pettigtew 2002: 353).
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Akteuren verwendeten Vergleichsbezugspunkten korrespondieren (für eine spezifischere analytische Abbildung siehe Gambetta 1998: 114ff.). Zwei Haupttypen (vgl. Tyler et al. 1997: Kap. 2) sind dabei identifiziert worden: a) akteurspezifische Bezugspunkte, nämlich eigene vergangene Bedingungen oder eigene Erwartungen (mtrapersonelle Vergleiche) und b) externe Bezugspunkte des Akteurs, nämlich andere Individuen oder Gruppen (interindividuelle und gruppenübergreifende Vergleiche). Jüngste sozialpsychologische Studien haben zu zeigen versucht, dass diese beiden Vergleichstypen aus einem einzelnen, viel generelleren Typ resultieren, bekannt als kontrafaktischer Vergleich: "Vergleiche gegenwärtiger Ergebnisse mit Ergebnissen, die man hätte erreichen können." (Olson/Roese 2002: 266)11 Verglichen mit der statistischen Analyse von Untersuchungsdaten (vgl. Clark et al. 2008: 111ff.), scheint die Konstruktion formaler Modelle RD-generierender Mechanismen und ihre deduktive Analyse ein attraktiver Weg für den Versuch zu sein, die Art der Beziehung zwischen objektiven Opportunitätsstrukturen und RDprequenz und RD:mtensität zu ermitteln. Diese Strategie versetzt uns tatsächlich in die Lage, all die Ergebnisse festzulegen, die logisch mit einem (oder mehreren) gegebenen Mechanismus in Verbindung stehen und dann diese Reihe von Möglichkeiten mit dem spezifischen Bereich der Realität zu vergleichen, der von den aus der Studie hervorgegangenen empirischen Daten abgedeckt wird. Wie bereits erwähnt, legt Boudons formales Modell die Vermutung nahe, dass diese Beziehung sowoW negativ als auch positiv sein kann, eine Ansicht, die durch Kosakas und Yamaguchis Re-Analyse des Modells bestätigt wurde. Der Mechanismus, der dieses Resultat generiert, ist einfach: eine kombinierte Reihe von Regeln, individuelle ScWussfolgerungen und eine Abhängigkeitsstruktur, die eine bestimmte AnzaW von Akteure dazu bringen, rationalerweise darauf zu hoffen, mehr zu 11 Aus historischer Sicht betrachtet finden wir intrapersonelle Vergleiche in Toquevilles (1955: 177) "DM &gime and the French Rwolulion": "Geblendet von der Aussicht auf eine bisher unbekannte und nun zum Greifen nahe Glückseligkeit war das Volk blind für den Fortschritt, der wirklich stattgefunden hatte und ebenso gegenüber den jüngsten Eteignissen. [...] geduldig etttagen, solange er unabänderlich erschien, kann ein Missstand nicht länger toleriert werden, sobald die Möglichkeit, ihn abzuschaffen sich einmal im Bewusstsein des Menschen manifestiert hat" (siehe Cherkaoui 2005: Kap.l für eine perzeptive Lesart dieser Mechanismen in Toquevilles Arbeit). Wir finden - mit erstaunlicher Parallelität - auch in Durkheims Denken intrapersonelle Vergleiche: "FoJglich will man immer mehr, je mehr man hat, da die Befriedigung nur Stimulationen erfuhr, statt Bedürfnisse erfüllt zu bekommen" (Durkheim 1951: 248) und "je weniger eingeschränkt man sich fühlt, desto weniger werden Einschränkungen an sich toleriert" (Durkheim 1951: 254). Durkheim scheint auch sensibel für gruppenübergreifende Vergleiche gewesen zu sein: ,,Der Mensch gewöhnt sich an den Mangel an Macht und erzwungene Mäßigung, solange nichts Neid erzeugen kann, weil niemand im Überfluss lebt" (Durkheim 1951: 254). Die Punkte in "TheAmerican So/dier" (Stouffer et al 1949: Bd.1, 251), die sich auf soziale Vergleiche bezogen, waren der Anlass für Mertons Analyse (1957: Kap. VII und VIII) über das Konzept der "Bezugsgruppe". Runciman (1966: 24f.) hat beide kombiniert, indem er einen Kreislauf zwischen dem Anstieg individueller Erwartungen und einem Anstieg des Niveaus in der Bezugsgruppe des Akteurs voraussetzt hat.
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Gianluca Manzo
bekommen, als sie objektiv erreichen können (nach Gurrs (1970: 51) Typologie ist dies ein "aspirationaler" Deprivations-Mechanismus). Im Sinne der oben genannten Unterscheidung zwischen RDPrcquenz und RDIntcnsitit haben sich all diese Autoren jedoch ausschließlich mit der RD prcquenz befasst. Aber wie sieht die Art der Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und RDmtcnsität aus? Und darüber hinaus, wie sind diese drei Elemente miteinander verknüpft?
3. Ein agentenbasiertes Modell der RDprequenz und der RDintensitiit Um diese Fragen zu beantworten, habe ich ein agentenbasiertes Modell programmiert, das sechs Komponenten enthält. Während die ersten fünf einfach Boudons Modell generalisieren, führt das sechste ein neues Modul ein, welches die Enttäuschung, den Neid und die Reue benachteiligter Akteure quantiftziert, die sie unter dem Druck intrapersoneller Vergleiche, populationsbasierter oder nachbarschaftsbasierter interindividueller Vergleiche oder kontrafaktischer Schlussfolgerung fühlen könnten. 12 (1) Opportunitiitsstruktur des Agenten: Sie wird durch die folgenden Elemente speziftziert: A) eine Population von NAgenten; B) eine limitierte Anzahl zweier Typen von Stellen L1 und L2; C) die Summe von L1 plus L2 ist immer gleich N; D) L1 und L2 unterscheiden sich in ihrer Attraktivität in dem Sinne, dass der Nutzen Bl (>0) verbunden mit L1 höher ist als der Nutzen B2 (? 0) verbunden mitL2; E) L1 und L2 unterscheiden sich ebenfalls in ihrer Zugänglichkeit, d.h., L1 kann nur erreicht werden, wenn der Agent Cl aufwendet (> 0 und< Bl), wohingegen L2 nur erreicht werden kann, wenn der Agent C2 (2':...0, S B2 und< Cl) aufbringt; F) alle Agenten haben genügend Ressourcen, um in der Lage zu sein, Cl oder C2 aufzuwenden. (2) Überzeugungen des Agenten. Diese bauen auf den folgenden Elementen auf: A) Jeder Agent kennt die Anzahl der in der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Stellen L1 und L2, nicht aber die jeweilige Zahl der Agenten A(Sl) und A(S2),
12 Ein Multiagenten-System zu konstruieren und zu analysieren, ist noch immer ein ziemlich aufwändiges Unterfangen (vgl. Janssen et al. 2008). Ich nutze hier die Möglichkeit einer agentenbasierten SimuJationsplattform (vgl. Railsback et al. 2006), genauer: NetLogo 4.0.3 (siehe Tisue/Wilensky 2004a, 2004b; Wilensky 1999).
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soifale Vergleiche die die Strategie Sl (Cl aufwenden, um Bl zu erreichen) oder S2 (C2 aufwenden, um B2 zu erreichen) anwenden; B) Jeder Agent muss daher den zu erwartenden Gewinn G[Sl] aus Gl im Vergleich zu dem zu erwartenden Gewinn G[S2] aus S2 als eine Funktion der Anzahl der Agenten A(Sl) abschätzen, die wahrscheinlich Sl wählen werden (und somit die wahrscheinliche Anzahl derer, die S2 wählen werden).13 (3) Bedürfnisse des Agenten. Jeder Agent möchte einen Nettogewinn aus seiner Wahl ziehen, so dass für jede Anzahl von Agenten A(Sl), die wahrscheinlich Sl wählen werden, der Agent dann - und nur dann - Sl wählen wird, wenn G(Sl) G(S2) > r (wobei r den Gewinn darstellt, den er mindestens erwartet). (4) Die endgültige Entscheidung des Agenten. Angesichts des durch die dynamische Konjunktion der Überzeugungen und Bedürfnisse des Agenten erzeugten vorgegebenen Entscheidungs-Vektors für oder gegen Sl steigt die Wahrscheinlichkeit einer endgültigen Entscheidung des Agenten für oder gegen Sl nichtIinear als eine Funktion des Verhältnisses der Fälle, in denen der Agent Sl wählt. Ich habe eine logistische Funktion gewählt, die durch lO-Einheiten-Intervalle diskreditiert wird.l 4
13 Insbesondere solange A(S') < LI, G[SI] = BI - C' G[S"J = (B2 - Cl)
(1)
*U /
(2)
A(S")
Stattdessen, wenn A(Sl) > LI, G[sl] = (Bl- Cl) * (LI / A(Sl)) + (B2 - Cl) = ((Bl- B2) * LI / A(Sl)) + (B2 - Cl) G[S2] = B2 - C2
* (A(Sl) -
LI) / A(Sl)
(3) (4)
Es ist erwähnenswert, dass weder Boudon (1982: 117) noch Kosaka (1986: 36ff.) den Fall in Bettacht gezogen haben, in dem A(Sl) < LI. Diese Auslassung ist sicher dem Umstand geschuldet, dass beide Autoren das Modell nur unter dem Gesichtspunkt B2 = C2 = 0 und r = 0 analysiert haben. Unter der Bedingung r = 0 ist der Fall A(Sl) < LI nicht von Interesse, da SI immer vorteilhafter als S2 sein wird. Wenn die Intention die ist, die Simulation über einen umfassenderen Bereich von Parameterkombinationen auszudehnen, muss diese Generalisierung der Überzeugungen des Agenten mit eingescbIossen werden. 14 Die beiden ursprünglich von Boudon (1979: 52ff.) untersuchten Situationen - SI wird in 50% der Fälle und SI wird in 100% der Fälle gewählt (SI als dominante Sttategie) - werden dadurch jeweils zu Gleichgewichtspunkten und Obergrenzen einer generelleren Entscheidungsfunktion. Die Entscheidung stellt hier dann die Hauptquelle für Heterogenität unter Agenten dar - ein Punkt, auf dem Yamaguchi (1998) nachdrücklich beharrt. Die Ursprünge der Heterogenität werden in der sechsten Komponente des Modells wesentlich umfangreicher.
272
Gianluca Manzo (5) Das End~el des Agenten. Sobald sich die Agenten deftnitiv für Sl oder S2 entschieden haben, müssen die Ll- und L2-Stellen auf die verschiedenen Teilnehmer verteilt werden. Es gibt drei mögliche Situationen: A) Wenn die Anzahl der Agenten, die deftnitiv für Sl votiert haben, genau gleich der Anzahl der Ll-Stellen ist, sind alle Agenten zufrieden: Diejenigen, die Ll wollten, haben Ll bekommen, diejenigen, welche L2 wollten, haben L2 bekommen. B) Wenn die Anzahl der Agenten, die deftnitiv für Sl votierten, größer ist als die Anzahl von Ll-Stellen, werden einige der Agenten, die Cl aufgewendet haben, um B1 zu erreichen, lediglich B2 bekommen. Da keine individuellen oder sozialen Selektionsmerkmale existieren, werden die Agenten, die geringeren Nutzen aus höheren Kosten ziehen, durch zufillige Selektion bestimmt. C) Wenn die Anzahl der Agenten, die für Sl votieren, geringer ist als die Anzahl der Ll-Stellen, wird die Anzahl der für S2 votierenden Agenten größer sein als die Anzahl der L2-Stellen. Wenn die Spielregel fesdegt, dass Bl nicht durch die Aufwendung von C2 erreicht werden kann, schließt dies die für S2 votierenden Agenten von vorneherein von den Ll Stellen aus. Die einfachste Lösung hierfür besteht darin, dem Überschuss der L2 begehrenden Agenten durch ein zufilliges Auswahlverfahren einen Nullgewinn zuzuweisen. In dieser Art und Weise programmiert, kann Baudans Modell nicht nur einen, sondern zwei RD-Typen erzeugen (im folgenden RDl und RD2 genannt), deren Frequenz wir nun analysieren können (mit Bezug auf die Frequenzen im Folgenden als RDhreq und RD2Preq gekennzeichnet). Der erste Typ betrifft Agenten, die trotz ihrer Wahl Ll nur L2 erreichen konnten, da nicht genügend Ll-Stellen zur Verfügung standen. Der zweite Typ bezieht sich auf Agenten, die L2 wollten, aber der Spielregeln wegen und aufgrund der zu kleinen Anzahl von L2-Stellen gar nichts bekamen. (6) Emotionen der Agenten. Die Erfahrung RDl könnte ein anderes Bündel von Gefühlen des Unbefriedigtseins erzeugen als die Erfahrung RD2. In diesem Zusammenhang stelle ich folgende Behauptungen auf: A) Intrapersonelle Vergleiche werden in beiden Fällen vorgenommen. Die Stärke der Enttäuschung, die sie generieren, ist proportional zu der Differenz zwischen dem erwarteten und dem am Ende wirklich erzielten Gewinn. B) Interindividuelle Vergleiche existieren sowohl für RDl als auch für RD2. Die Stärke des empfundenen Neides, den sie erzeugen, ist umgekehrt proportional zum Grad der relativen Deprivation. 15 15 Nach Elster (1999: 141) ist Neid eine der häufigsten vergleichsbasierten Emotionen (diejenigen, die "durch günstige oder ungünstige Vergl.eiche mit jenen Individuen, mir denen wir niemals interagieren werden, ausgelöst werden"). Ich quantifiziere hier detaillierter die Stärke dieser Emotion mit ei-
273
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche C) RD2 kann weiterhin eine spezifische Quelle der Unzufriedenheit implizieren. Agenten, die sich selbst in dieser Situation wiederfinden, könnten den Tatsachen widersprechend so argumentieren: "Wenn die Regeln des Spieles anders wären, gäbe es keine Verschwendung von Ll-Stellen".16 Sie könnten annehmen, dass die nicht verteilten Ll-Stellen zu einem geringeren Preis wieder ins Spiel eingebracht werden könnten - ausnahmsweise. Meine Annahme ist, dass eine solche Kritik, die implizit auf das Regelsystem an sich abzielt, ein Bedauern hervorrufen könnte und dass der Umfang dieses Bedauerns proportional zu der Anzahl der nicht verteilten Ll-Stellen ist. Mit der RDhntensität und RD2Intensität, welche den Grad der Unzufriedenheit der Agenten abbildet, die RDl oder RD2 erfahren, können wir die folgende einfache Darstellung dieser drei Hypothesen formulieren: RD1Intensität
=
RD2Intensilät =
a[(Bl - Cl) - (B2 - Cl)] + b(l/ RDlpreq)
(5)
c[(B2 - C2) - (0 - C2)] + d(l/ RD2Pre
*-
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Gianluca Manzo Graphen zu verbessern, habe ich die Verläufe der Anteile jener Agenten ausgespart, die erreichen, was sie wollen. 22 Wir sehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die RD2Prcq und die RD2Intensität in die gleiche Richtung verlaufen, höher ist als die Kurven bezüglich der RDIprcq und RDI Intensität. Im ersten Fall scheint die Zunahme des Anteiles an Agenten, die L2 wollten, aber 0 bekamen, mit einem intensiveren Gefühl von Deprivation einherzugehen und umgekehrt. Im zweiten Falle dagegen tendiert die Zunahme des Anteils an Agenten, die LI wollten, aber nur L2 bekamen, dazu, mit weniger intensiven Gefühlen der Deprivation einherzugehen, während deren Intensität zunimmt, wenn die Zahl dieser Agenten abnimmt. Die gesamte RD2Prcq-Quantität und die individuelle RD2Intensilät scheinen daher durch eine positive Relation verbunden zu sein G,mehr stärker-intensiv-unzufriedene-Individuen" oder "weniger schwächer-intensiv-unzufriedene-Individuen), wohingegen RDI prcq und RDIIntensität anscheinend durch eine negative Relation ,,(mehr schwächer-intensiv-unzufriedene-Individuen" oder "weniger stärker-intensiv-unzufriedene Individuen'') miteinander verbunden zu sein scheinen. Das spiegelt die Tatsache wider, dass die Mechanismen, die ich für die Generierung der Unzufriedenheit von Agenten mit jeweils RDI oder RD2 für verantwortlich halte, nicht in beiden Fällen dieselben sind (vergleiche die Gleichungen (5) und (6)). RDI ist ein einfacher Fall. Wir gehen hier davon aus, dass das Gefühl der Deprivation aus zwei verschiedenen Quellen entsteht: Einem Gefühl der Enttäuschung, dessen Intensität proportional zum Ausmaß der Kluft zwischen dem erwarteten und dem tatsächlich verwirklichtem Gewinn ist und dem Gefühl von Neid, dessen Intensität umgekehrt proportional zum Grad der Deprivation in der Bevölkerung verläuft. Unter diesen Bedingungen und für einen gegebenen Wert R(K) (wobei der Wert des Terms, der die erste Quelle quantifiziert, stabil ist) sinkt der Wert des Terms, der die zweite quantifiziert, wenn die RDIprcq steigt und umgekehrt. Das bedeutet, dass wir einer feststehenden Quantität zuerst eine graduell sinkende Quantität und dann eine graduell steigende Quantität hinzufügen. In allen 22 Ich biete hier eine Zusammenstellung typischer Muster an, die durch das Modell einer spezifischen Serie von R(B)- und R(K)-Werten generiert werden. Tatsächlich habe ich etwa 1976 verschiedene Kombinationen von BI_, C', B2_ und O-Werten erforscht Qeweils variierend zwischen 10 und 100; 1,5 und 95; 5 und 90 sowie 0 und 50), die Sl-Attraktivitätsniveaus zwischen (R(K)= =-0,90 bis (R(K)=98,5 oder alternativ (R(B» = 0,09 bis R(B» 99,5 produzieren. Auch die Variationen der Prozentsätze von Ll-Stellen in Betracht ziehend, habe ich das Modell für 20700 Parameterkombinationen simuliert, ein Gesamtwert von 207.000 Simulationen, da jede Kombination 10 mal simuliert wurde, um auf die Variabilität des Modellverhaltens in Verbindung mit seinen Zufallselementen zuzugreifen (um es kurz zu machen, habe ich hier die Werte der von mir benutzten "len seedt' ausgelassen). Alle Simulationen setzen Populationen von 100 Agenten voraus, die einen Minimalgewinn von r = 1 erwarten. Diese Sensitivitätsanalyse wurde mir dem NetLogo 4.0.3 "Verhaltensraum"-Modul durchgefiihrt.
277
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Situationen, in denen die RDlpttq erst steigt und dann sinkt, wird das Ergebnis eine abgeflachte U-Kurve für die RDhntensität sein. Dennoch, wenn wir uns der negativen Form der Relation zwischen der Opportunitätsstruktur und der RDlpreq nähern, wird die RD1Intensität mehr oder weniger langsam ansteigen, da in diesem Falle die RDl preq nur fillt. Der Fall RD2 ist etwas komplexer. Hier entsteht das Gefühl der Deprivation aus einem dritten Mechanismus, der sich zu den beiden anderen Quellen addiert, die für RDl berücksichtigt werden; nämlich dass Agenten, die RD2 erfahren, kontrafaktisch denken und dies wiederum ein Gefühl des Bedauerns generiert, dessen Intensität proportional zu der Anzahl nicht genutzter Ll-Stellen ist. Unter diesen Umständen neigt der Term, der den Effekt des kontrafaktischen Denkens quantifiziert, dazu anzusteigen, obwoW der Wert des den Effekt der intrapersonellen Vergleiche quantifizierenden Terms sinkt, wenn die RD2Preq ansteigt. Das bedeutet, dass je abrupter der Anstieg und das Ausmaß der RD2Pttq sind, desto wahrscheinlicher ist ein begleitender Anstieg der RD2Intensität. Wenn andererseits die RD2Pttq niedrig ist und nur wenig ansteigt, ist es wahrscheinlicher, dass die RD2Intensität stabil bleibt (die Effekte der anderen beiden Mechanismen schließen sich gegenseitig aus) oder gar umgekehrt zur RD2Prcq variiert (und hier kehren wir zu der Situation zurück, die RD1Intensität charakterisiert, bei der die interindividuellen Vergleiche Priorität haben).23 Sobald wir die vielfachen Formen beider bis hierher analysierter Gruppen miteinander kombinieren - einerseits die Beziehung zwischen einer verbesserten objektiven Opportunitätsstruktur und dem Prozentsatz unzufriedener Agenten (RD2Prcq und RDlpreq) (siehe Fußnote 20); andererseits die Verbindung zwischen dem Prozentsatz der unzufriedenen Agenten mit der Intensität ihres Gefühls der Deprivation (RD2Intensität und RD1Intensität) - entsteht das folgende allgemeingültige Ergebnis: Die Anreicherung der objektiven Opportunitätsstruktur kann in der Tat zu einer Verbindung zwischen dieser Struktur und sowoW der Quote unzufriedener Agenten G,mehr Möglichkeiten, weniger unzufriedene Individuen") als auch der Intensität der individuellen Gefühle der Unzufriedenheit G,mehr Möglichkeiten, geringfügigere Unzufriedenheit") führen. Es tritt das Problem auf, dass die Re23 Das Profil der gerade diskutierten und interpretierten Kurven ist stabil, wenn wir das Modell nach der Eliminierung der Ursprünge der interindividuellen Variabilität simulieren, die ich jedem der drei Mechanismen, die für die RDIInten,;tit und RD2Inten,;tit zuständig sind, zugewiesen habe. Und ihre Form ist nicht einmal mit dem Bereich der drei Terme verbunden, die die Handlungsweisen dieser Mechanismen formalisieren. Ich habe auch die wahrscheinlichkeitstheoretische und die deterministische Version des Modells simuliert, indem ich jeden der Terme dadurch standardisiert habe, dass ich sie mit dem Unterschied zwischen ihren minimalen und maximalen theoretischen Werten in Verbindung gesetzt habe. Obwohl diese standardisierte Version ohne Frage formal eleganter ist, ändert sie das Kurvenprofll in Abbildung 1 (Anhang) nicht, außer dass sie die Silhnuette weiter abflacht.
278
Gianluca Manzo gionen, in denen diese zwei Relationen Geltung haben, sich unter Umständen überhaupt nicht überlappen, wenn intrapersonelle Vergleiche in Kraft treten, die umgekehrt das Gefühl der Unzufriedenheit mit dem "Mangel" an DeprivationsErfahrungen verknüpfen. In diesem Falle wird die Intensität der Unzufriedenheit dazu neigen zu sinken, wenn die Anzahl der unzufriedenen Agenten steigt, während die Intensität dazu tendiert zu steigen, wenn ihre Anzahl sinkt. 3.2 Der nachbarschaftsbasierte Fall interindividueller Vergleiche N
Wenn wir eine dyadische Beziehung einführen, die die Agenten innerhalb des künstlichen Mikrokosmos miteinander verbindet (Gleichungen (J) und (8)): Wie wird die komplexe Relation zwischen der objektiven Opportunitätsstruktur (hier die Anzahl der Ll-Stellen), dem Prozentsatz der unzufriedenen Agenten (RD2Preq und RDhreq) und der Intensität des Deprivationsgefühls (RDIntensität) verändert? Die Relation zwischen Ll und RD2Preq - RDhreq sollte nicht beeinflusst werden. In der gegenwärtigen Version des Modells determinieren dyadische Interaktionen von Agenten nur diejenige Menge von Agenten, mit denen sich derjenige Agent, der RD erfahrt, selbst vergleicht. Daher wird es wohl die RD2- und RD1Intensität sein, die durch solche Interaktionen beeinflusst wird. Um zu sehen, in welchem Umfang sich dies bestätigt, versetze ich die Agenten in ein Zufalls-Netzwerk mit einer kleinen räumlichen Verzerrung (die durchschnittliche Kantenzahl per Knoten liegt hier bei 10). Abbildung 2 (Anlage) fügt der Abbildung 1 die RD2Intensitäts- und die RD1Intensitäts-Werte hinzu, die ich durch die Simulation des Modells unter diesen neuen Bedingungen gewonnen habe. 24 Wir können zuerst Situationen betrachten, in denen die Sl-Attraktivität gering ist, die, wie wir wissen, zu einem extrem hohen Grad an RD2Preq führen. In diesem Fall beobachten wir, dass im Vergleich zu einer künstlichen Welt ohne Netzwerk a) die Relation zwischen einem Anstieg von L1 und der RD2Intensität nicht ausschließlich positiv, sondern eher sowohl positiv als auch negativ ist; b) dass die RD2Intensität um ein Vielfaches höher ist, wenn die RD2Preq niedrig ist, dass sich aber die RD2Intensität wesentlich mehr dem Grad annähert, den wir beobachten, wenn keine Verbindungen zwischen den Agenten bestehen, wenn die RD2Preq ansteigt. Was ist für diese Unterschiede verantwortlich? Vorausgesetzt, dass Agenten, die in dyadische Interaktionen eingebettet sind, sich selbst mit unmittelbaren Nachbarn vergleichen, die RD2 erfahren, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein
24 Um das Netzwerk Zu konstruieren, wurde ein Algorithmus benutzt, der in NetLogo ab der Version 4.0.3 (siehe Stonedahl/WJ1ensky 2008) zur Verfügung steht. Er arbeitet wie folgt: a) wir nehmen einen zufällig ausgewählten Agent; b) wir bestimmen den Agenten, der ihm am nächsten steht (Euklidischer Abstand); c) wir erstellen eine Verbindung; cl) wir wiederholen diese Operationen, bis der durchschnittliche Netzwerkgtad den vor Beginn festgelegten Durchschnittsgrad erreicht.
279
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Agent andere Agenten, die sich in derselben Situation befinden, in seiner unmittelbaren Umgebung vorfindet, wenn die RD2Preq niedrig ist. Das impliziert, dass der Term der Gleichung (J), der die interpersonellen Vergleiche quantifiziert, für viele Agenten einen extrem hohen Stellenwert einnimmt und ein besonders hohes Niveau an RD2Intensität generiert. Steigt die RD2Preq an, verschwindet diese Bedingung: Der Term, der relativ zu den intrapersonellen Vergleichen ist, wird zunehmend niedrigere Werte annehmen, während der Term, der mit dem kontrafaktischen Denken in Verbindung steht, kontinuierlich ansteigen wird. Daher können durchschnittliche RD2Intensi tär Niveaus erst abfallen und dann wieder ansteigen. Wenn wir nun Situationen betrachten, in denen die RD1Preq die RD2Preq ersetzt, weil die Sl-Attraktivität stärker ist, beobachten wir gleichermaßen signifikante Modifizierungen. Verglichen mit der künstlichen Welt ohne Netzwerk verändert sich die Form der Relation zwischen einem Anstieg von L1 und der RD1Intensität nicht wir bewegen uns graduell von einer gemischt positiv/negativen Relation hin zu einer gänzlich positiven ~,mehr Möglichkeiten, stärkere Unzufriedenheit) - aber der Grad der RD1Intensität ist in den Spitzen wesentlich höher und zwar dann, wenn die RD1Prcq gering ist. Dies liegt wieder daran, dass der allumfassende "Mangel" an RD1 die Existenz vieler "Nachbarschaften" impliziert, in denen Agenten, die RD1 erfahren, keine Nachbarn haben, die dieselbe Erfahrung machen. Da dieser Agent der einzige ist, der nicht bekommen hat, was er wollte, fühlt er ein Maximum an Neid. 25 Wie Abbildung 3 (Anhang) zeigt, wird die Existenz dieser Strukturen durch die Resultate der Simulation mit einem durchschnittlichen Vemetzungsgrad (Kanten per Knoten) von 10 bis 50 bewiesen. Unter diesen Bedingungen tendieren die Unterschiede zwischen den durchschnittlichen RD1Intensitäts- und RD2Intensitäts-Niveaus, die zwischen Gesellschaften mit und Gesellschaften ohne Zufalls-Netzwerke existieren, dazu sich aufzulösen. Dies liegt daran, dass (vorausgesetzt die "Nachbarschaft" des Agenten wird ausgedehnt) der Agent sehr viel wahrscheinlicher jemanden trifft, der ebenfalls RD erfahrt, und das trotz der Tatsache, dass die Gesamtrate von RD1 und RD2 gering ist. Ein ziemlich fester Bestandteil des Effektes ist der spektakuläre Anstieg des Terms, der die nachbarschaftsbasierten interindividuellen Vergleiche quantifiziert. Wir können deutlichere Belege für dieses Phänomen erreichen, indem wir ein skalenfreies Netzwerk (anstelle eines Zufalls-Netzwerks) in das Modell einführen. 25 Dieser aggregiette Effekt wird natürlich mehr oder weniger deutlich erscheinen, ahhängig von der Funktionsform, die zur Formalisierung des die interpersonalen Vergleiche quantifizierenden Terms für den Fall, in dem der Agent keine Nachbarn in der gleichen Deprivationssitwltion wie er selbst hat, gewählt wurde. Er kann fast gänzlich beseitigt werden, z.B. indem man diesem Term eine logarithmische Transformation in den Gleichungen (J) und (8) hinzufügt. Nach der Analyse des Modellverhaltens unter diesen Bedingungen habe ich indessen den Schluss gezogen, dass diese Art der Manipulation die Präsenz eines signifikanten theoretischen Phänomens eher verschleiert.
280
Gianluca Manzo
Der Zweck dieser Vorgehensweise ist die standardmäßige Konstruktion einer Situation mit einer großen Anzahl kleiner "Nachbarschaften" und der dadurch erfolgenden strukturellen Multiplikation von Situationen, in denen es unwahrscheinlich wird, dass ein Agent, der RD1 oder RD2 erfahrt, einen anderen Agenten in derselben Situation fIndet. Dies sollte die durchschnittlichen RDIntensitäts-Niveaus deutlich erweitern. 26 Abbildung 4 (Anhang) zeigt, dass exakt dies passiert. Unabhängig von der S1Attraktivität sind RD2Intensität oder RD1Intensität in der Tat in der künstlichen Gesellschaft, der ein skalenfreies Netzwerk zugrunde liegt, regelmäßig höher als in derjenigen künstlichen Gesellschaft ohne dyadische Interaktionen. Die Agenten, mit denen man sich selbst vergleicht, sind nur eingeschränkt zu fInden. Dasselbe gilt, wenn wir den skalenfreien Netzwerk-Mikrokosmos mit dem Zufa1ls-NetzwerkMikrokosmos (siehe Abbildung 2, Anhang) vergleichen, ausgenommen in Extremsituationen, d.h., wenn die RD2Preq oder die RDlpreq gering ist. Das ist schnell erklärt. Obwohl im skalenfreien Netzwerk tatsächlich eine große Anzahl kleiner "Nachbarschaften" existiert - und dies die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein RD erfahrender Agent keinen anderen in derselben Situation beftndlichen Agenten in der Nachbarschaft antreffen wird -, bedeuten dieselben kleinen Nachbarschaften, dass der Agent mit seiner Erfahrung allein unter einer kleinen Anzahl zufriedener Agenten dasteht. Trotz der Tatsache, dass die Unzufriedenheit hier im Vergleich zu der Situation maximal ist, in der man wenigstens ein paar Nachbarn hat, die dieselben RD erfahren, wird dieses Maximum im Vergleich zur Zufalls-Netzwerk-Gesellschaft (mit einem durchschnittlichen Vemetzungsgrad von 10), wo ein Agent allein unter einer großen Anzahl zufriedener Agenten sein wird, dennoch geringer sein. Tabelle 1 und 2 demonstrieren (für die extremen Werte von R(B) - R(K)) deutlich diese strukturellen Grundlagen für die Unterschiede im RD2Inrcnsitäts- und RD1Intensitäts-Niveau, die in der künstlichen Gesellschaft mit Zufalls-Netzwerk und in der skalenfreien Netzwerk-Gesellschaft in Erscheinung treten. In den gerade kommentierten Simulationen sehen wir zum einen, dass der Anteil der Agenten, die RD2 und RD1 erfahren, im Durchschnitt in den skalenfreien Netzwerken niedriger ist als in denen, die nahezu Zufalls-Netzwerke sind, und zum anderen, dass 26 Zur Konstruktion dieses Netzwerkes habe ich einen in NetLogo (Wilensky 2005) enthaltenen Logatithmus benutzt, der auf einer Fonnalisierung des ,;FreftntialAttachmenf'-Mechanismus basiert, zuerst vorgebracht von Barabasi/Reka (1999). Forscher sind laufend damit beschäftigt, Algorithmen zu konstruieren, die Mechanismen fonnalisieren, die wiederum skalenfreie (und small-world-)Netzwerke generieren, welche soziologisch signifikanter sind als derjenige, den ich mit dem von mir benutzten Algorithmus implementiert habe (siehe beispielsweise Pujol et al. 2005). Was mich bier indessen interessiert, sind vielmehr die strukturellen Charakteristika eines skalenfreien Netzwerkes, nicht die Prozesse, die diese herausbilden.
281
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche der Prozentsatz der Agenten, die als einzige ihrer Nachbarschaft RD erfahren, im ersten Falle im Durchschnitt höher ist als im zweiten Fall.
Tabelle 1: Durchschnittliche Rate von Agenten, die RD2 erfahren und Prozentsatz dieser Agenten, die keine Nachbam in RD2 haben (Durchschnittswerte mit Standardabweichung in Klammem), für jede der drei genutzten Netzwerkstrukturen (im Falle von R(K) = -0,09 siehe Abbildungen 2,3 und 4 für die RD prequenr und RDIntensitäts-Trends) ZufaI1snetzwerk (durchschnittlicher Vemetzungsgrad 10)
=
Zufallsnetzwerk (durchschnittlicher Vemetzungsgrad 50)
=
Skalenfreies Netzwerk
% der % der % der RD2 RD2 RD2 Agenten, Agenten, Agenten, durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten haben haben haben 5 10 15 20 25 30
35 40
45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
95 100
282
9,9 10,2 9,9 9,9 9,9 9,9 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 9,9
-
1,5) 0,8) 0,7 0,5 0,5 0,4 0,24) 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,2
52,0 (24,0) 35,0 (18,6) 16,7 (10,4) 13,0 (6,0 10,0 6,' 4,7 3,4 1,7 1,9 0,5 1,0 0,9 1,S' 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0
-
52,5 51,2 50,9 49,7 49,9 49,6 49,0 49,5 49,9 49,7 50,0 49,9 49,9 49,8 49,9 49,8 49,7 49,8 49,7
-
5,2 3,3 3,3 2,6 2,2 2,6 2,3 2,1 2,0 1,4 1,1 1,2 1,0 0,8 0,7. 0,8 0,6 0,5 0,8
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 6,0 (12,8)
-
1,7 1,7 2,1 2,0 1,9 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1
0,8 0,7 1,0 0,8 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1
-
88,0 18,3 80,0 15,5 74,0 18,2 71,5 14,8 66,0 13,4 59,0 12,3 52,0 9,7) 49,8 (12,2 42,4 8,6 36,4 7,3 28,4 7,1 25,8 7,7 22,3 4,8 20,6 4,5 17,7 4,1 13,8 5,'i 9,4 (3,8 6,8 (4,1 25,3 (7,9)
-
Gianluca Manzo
Tabelle 2: Durchschnittliche Rate von Agenten, die RDl erfahren und Prozentsatz dieser Agenten, die keine Nachbarn in RDl haben (Durchschnittswerte mit Standardabweichung in Klammern), für jede der drei genutzten Netzwerkstrukturen (im Falle von R(K) = 23.75, siehe Abbildungen 2, 3 und 4 für die RD prequenzund RDrnt<nsitäts-Trends) Zufallsnetzwerk Zufallsnetzwerk Skalenfreies (durchschnittlicher (durchschnittlicher Netzwerk Vernetzungsgrad = 10) Vernetzungsgrad = 50) % der % der % der RD2 Agenten, RD2 Agenten, RD2 Agenten, durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 haben haben haben 5 10 15 20 25 30
35 40
45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
95 100
10,0 10,0 10,0 10,0 10,1 10,1 10,1 10,1 10,1 10,1 10,3 10,3 10,4 10,4 10,3 10,4 10,5 10,4 10,3 -
0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,3 0,2 0,2 0,3 0,3 0,4 0,4 0,4 0,5 0,7 1,1)
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,4 0,8 0,4 0,9 0,8 0,1 1,4 1,8 1,7 1,7 5,6 3,7 9,0 6,2 18,7 (8,8) 32,0 (19,4) 60,0 (32,2) -
50,0 50,0 49,7 49,7 49,7 50,2 50,3 50,2 50,1 50,1 50,0 49,8 49,7 49,6 49,5 49,6 49,6 49,1 50,0
0,3 0,3 0,5 0,7 0,7 0,9 1,1 1,2 1,2 0,9 1,7 2,0 2,0 2,5 3,2 3,2 3,3 4,6 0,3
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 10,0 (13,4)
2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,1 2,0 2,1 2,1 1,8 1,8 1,8 1,5
0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,3 0,4 0,4 0,4 0,5 0,6 0,7 0,6 0,5 0,6 0,3 -
3,7 (2,4 7,2 (4,3 9,6 (5,6] 12,6 6,5) 18,5 9,4 22,4 10,4 24,3 10,8 26,0 10,5 32,0 14,5 37,6 17,1 41,6 16,0 44,0 12,9 50,0 14,2 55,3 16,6 57,6 13,5 70,5 14,2 72,7 16,5 78,0 18,3 92,0 16,0 -
Diese Resultate lassen darauf schließen, dass dyadische Interaktionen von Bedeutung sind. In meinem minimalistischen hypothetischen Schema - meine einzige Annahme ist gewesen, dass ein Netzwerk die Vergleichspunkte von Akteuren beeinflusst - zeigen diese Simulationen, dass die Präsenz von Interaktionen jene individuelle Ausprägung der Unzufriedenheit signifikant verändert, die einen Mikrokosmos charakterisiert, dessen Agenten völlig isoliert sind. Die Einschränkung der Grundlagen für interindividuelle Vergleiche läuft paradoxerweise auf eine erhöhte 283
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Wahrscheinlichkeit für stärkere individuelle Unzufriedenheit hinaus. Je mehr die dyadische Interaktionskonfiguration die Anzahl der Nachbarschaften multipliziert, in denen der Agent der einzige ist, der nicht bekommen hat, was er wollte, desto weiter entfernen wir uns von den Unzufriedenheitsniveaus, die entstehen, wenn der Agent in einer künstlichen Welt seine Deprivationssituation mit der allgemeinen Verbreitung von Deprivation in der Gesamtbevölkerung vergleicht.
5. Schlussbemerkungen Dieser Artikel zielt darauf ab, bestimmte Problemstellungen zu behandeln, mit denen sich die wenigen existierenden formalen Modelle der relative Deprivation generierender Mechanismen noch nicht auseinander gesetzt haben. Im Besonderen habe ich versucht, einen vereinheitlichten theoretischen Bezugsrahmen zu skizzieren, der zwei Problemklassiftzierungen miteinander verbindet: zum einen, dass der Umfang unzufriedener Akteure sowie heterogene intensive individuelle Gefühle der Unzufriedenheit simultan generiert werden; zum anderen die Möglichkeit zur Bestimmung, ob diese Unzufriedenheit die gleiche wäre, wenn Individuen die Erfolgsrate ihrer unmittelbaren Umgebung anstatt allgemeiner Erfolgsraten in Betracht ziehen. Der methodologische Ansatzpunkt ist hier zu zeigen, dass dieses Unterfangen von Computer-Modellierungen und Simulationstechniken - agentenbasierte Modellierung - profitieren kann, die es sowohl ermöglichen, die konzeptuelle Struktur eines Bündels von Mechanismen auf hochgradig flexible Art zu spezifizieren, als auch ihre Effekte unter einem weiträurnigen Bereich von Bedingungen zu untersuchen. Indem ich gleichzeitig generative Mechanismen relativer Deprivationsgtade und Deprivationsgefühle einbracht habe, kann ermittelt werden, dass ein verbessertes Opportunitätssystem mit zwei verschiedenen Situationen einhergehen kann. Erstens kann ich ein "mehr Opportunitäten, mehr unzufriedene-jedoch-weniger-intensiv-unzufriedene Agenten"-Muster produzieren; zweitens könnte dies mit einem "mehr Opportunitäten, weniger unzufriedene-jedoch-intensiver-unzufriedene Agenten"-Muster einhergehen. Die Bedingung, unter der das hier analysierte Modell zur Emergenz dieser komplexen Relationen führt, ist die Präsenz interpersoneller Vergleiche, die individuelle Unzufriedenheit spiegelbildlich mit der Verbreitung von Deprivationssituationen verknüpft. Diese computergestützten Resultate sind von theoretischem Interesse, weil sie die Erweiterung des klassischen "mehr Opportunitäten, höhere Unzufriedenheitsniveaus"-Muster umschreiben, indem sie zeigen, dass das umgekehrte Muster, d.h. "mehr Opportunitäten, niedrigere Unzufriedenheitsniveaus" ebenfalls möglich ist. Dennoch zeigen sie ebenso, dass die beiden Muster inkompatibel sein könnten.
284
Gianluca Manzo Diese Unvereinbarkeit wird in dem extremen Fall beispielhaft erläutert, in dem alle Akteure die attraktivsten Güter erreichen wollen, unabhängig davon, wie viele Mitbewerber sie vielleicht haben. Wenn sich in diesem Falle die Opportunitäten verbessern, fant die Anzahl der unzufriedenen Agenten, während die Intensität der Frustration der Agenten, die Deprivation erfahren, nur anwachsen kann. Bezüglich der absoluten Intensität dieses Gefühls könnte das Niveau der individuellen Unzufriedenheit in der Bevölkerung letztendlich fallen (wenn diese Agenten nicht intensiv unzufrieden sind) oder, im gegenteiligen Fall, ansteigen (wenn die Anzahl dieser Agenten gering ist und sie auch intensiv unzufrieden sind). Dyadische Interaktions-Konfigurationen können dann eine entscheidende Rolle beim Auftreten des einen oder anderen systemischen Gleichgewichtes spielen. Die letzte Variante des hier simulierten Modells nimmt an, dass individuelle Unzufriedenheitszustände dazu tendieren anzusteigen, wenn wir unterstellen, dass Akteure die Verteilung von Deprivation in ihrer lokalen Nachbarschaft eher wahrnehmen als die innerhalb der Gesamtbevölkerung. Wenn das Netzwerk wenige Knoten mit geringem Verbindungsgrad enthält, tritt diese Explosion dann zutage, wenn die globale Quote unzufriedener Agenten reduziert ist; im Gegensatz dazu scheint ein genereller Anstieg stattzufinden, wenn es viele Knoten mit geringem Verbindungsgrad gibt. In diesem Falle, unabhängig von der globalen Menge unzufriedener Agenten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Agent für sich genommen der Einzige in seinem Umfeld ist, der nicht bekommen hat, was er wollte. Das theoretische Interesse daran, mehrere Strukturen dyadischer Bindungen einzuführen, was durch das agentenbasierte Modellieren sehr vereinfacht wurde, ist offensichtlich. Erstens - obwohl die Idee nicht neu ist - hat Merton seinerseits bereits Vergleiche mit solchen Menschen, die "in relevanter Hinsicht den gleichen Status haben oder in der gleichen Kategorie sind" unterschieden von Vergleichen "mit der Situation Anderer, mit denen [man] in direkter Verbindung, in fortwährenden sozialen Beziehungen [war]" (Metton 1957: 231). Ein formales Modell zur Implementierung dieser Unterscheidung hat weithin gefehlt. Dies scheint einen wirklichen Fortschritt darzustellen, da, wie Gartrell (1987: 49) bemerkte, "der Netzwerk-Ansatz helfen wird, um fundamentale, unbeantwortete Fragen über soziale Evaluation, zuerst von Merton und Rossi 1950 gestellt, zu lösen - insbesondere die Entstehungsgeschichte der vergleichenden Bezugsrahmen und der Verbindung zwischen Individuum und kategorischen oder gruppenabhängigen Referenzpunkten". Zweitens bietet uns die Einführung von nachbarschaftsbasierten Vergleichen die Gelegenheit, einige existierende konzeptuelle Unterscheidungen aufzubereiten. Zum einen scheint es vernünftig, sofern die letzte Modellversion "Neid" als Nebenprodukt von Vergleichen begreift, die durch dyadische Verbindungen zwischen Akteuren gesteuert werden, eine Hybridkategorie einzuführen, d.h. das, was man in Elsters (1999: 141f.) Typologie "vergleichs-interaktionsbasierte Emotionen" nenn285
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche en könnte, welche zwischen vergleichsbasierten Emotionen und interaktionsbasierten Emotionen unterscheidet. Andererseits neigt dieses Konzept dazu, Hedströms (2005: Kap. 3, Abbildung 3.2) Typologie sozialer Interaktionen komplexer zu gestalten. Zusätzlich zu "überzeugungsvennittelten", "opportunitätsvennittelten" und "bedürfnisvermittelten" Interaktionen sollten wir tatsächlich auch die Möglichkeit "emotionsvermittelter" Interaktionen in Betracht ziehen. Die Haupteinschränkungen der diskutierten Resultate sind ebenso offensichtlich. Erstens ist das hier präsentierte Modell ausgesprochen einfach im Vergleich mit den Mechanismen, von denen wir uns vorstellen, dass sie realiter sowohl die Ziffer der unzufriedenen Agenten in einer gegebenen Gesellschaft als auch die Intensität ihrer Gefühle erzeugen. Zweitens, welchen Grad der theoretischen Komplexität wir diesen Mechanismen auch immer zugestehen, wir müssten ihre Wirksamkeit in realen Gesellschaftsformationen aufzeigen. Wonach ich in dieser vorläufigen Analyse gesucht habe, war schlicht Material, das dazu dienen könnte, den Leser davon zu überzeugen, dass agentenbasierte Simulation ein sehr brauchbares Werkzeug für die Analytische Soziologie darstellt, da es Soziologen auf diesem Gebiet ermöglicht, die angestrebten Effekte theoretischer Modelle zu konstruieren und so umfassend wie möglich zu analysieren. Hinsichtlich einer Anreicherung der Theorie sollte es offensichtlich sein, dass wir diesen Analysetyp soweit wie möglich weiterentwickeln sollten. Die Technik kann zudem extrem nützlich sein, wenn es Ziel das ist, das Modell mit der Realität in Verbindung zu bringen. Es ist in hohem Maße dazu in der Lage, detaillierte empirische Daten über Argumentationen, Vergleiche, Gefühle und/oder spezifische Objekte zu behandeln, die auf individuellen Zuständen der Deprivation basieren. Gleichermaßen können die hier diskutierten Regelmäßigkeiten ebenso leicht mit empirischen Untersuchungen über die Anzahl unzufriedener Akteure sowie mit Komponenten des individuellen Gefühls der Unzufriedenheit verglichen werden. Aus dieser Perspektive offerieren agentenbasierte Modelle noch einen zusätzlichen Nutzen: Sie legen genau fest, wo unsere empirischen Daten unzureichend sind und zeigen nebenbei auf, wie wir unsere Erhebungsmethoden neu aufstellen können.
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Populationsbasierte versus nachbarschqftsbasierte so:dale Vergleiche
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