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Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003
Chloe Beihefte zum Daphnis Herausgegeben von Barbara Becker-Cantarino - Martin Bircher Mirosława Czarnecka - Klaus Garber - Ferdinand van Ingen Knut Kiesant - Wilhelm Kühlmann - Eberhard Mannack Alberto Martino - Wolfgang Neuber - Hans-Gert Roloff Ulrich Seelbach - Blake Lee Spahr - Jean-Marie Valentin Helen Watanabe-O’Kelly BAND 37
Amsterdam - New York, NY 2005
Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003
Herausgegeben von
Gert Hübner
The paper on which this book is printed meets the requirements of "ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence". ISBN: 90-420-1835-6 (bound) ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2005 Printed in The Netherlands
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ........................................................................................................ 1 Hybride Texte – wilde Theorie? Perspektiven und Grenzen einer Texttheorie zur spätmittelalterlichen Liebeslyrik. Von Manfred Kern (Salzburg) ............................................................... 11 Wie klingt die Liebe? Anmerkungen zur Wechselwirkung von Musik und Text im Lochamer-Liederbuch. Von Johannes Kandler (Neufahrn bei Freising) .................................... 47 Überlegungen zur Neuedition des sogenannten Liederbuches der Clara Hätzlerin nach den Handschriften Prag, X A 12, der Bechsteinschen Handschrift (Halle, 14 A 39) und Berlin, Mgf 488. Von Susanne Homeyer, Inta Knor und Hans-Joachim Solms (Halle) .. 65 Die Rhetorik der Liebesklage im 15. Jahrhundert. Überlegungen zu Liebeskonzeption und poetischer Technik im ‘mittleren System’. Von Gert Hübner (Leipzig) ................................................................... 83 Wer wacht? Wer schläft? ‘Gendertrouble’ im Tagelied des 15. und 16. Jahrhunderts. Von Sabine Obermaier (Mainz) .......................................................... 119 Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied. Von Nicola Zotz (Berlin) ..................................................................... 147 Frühe Anzeichen eines lyrischen Ichs. Zu einem Liedtyp der gedruckten Liedersammlungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Erhart Öglin, Peter Schöffer, Arnt von Aich, Christian Egenolff, Heinrich Finck, Georg Forster, Johann Ott) Von Harald Haferland (Berlin) ............................................................ 169 Die frühen Liebeslieder von Hans Sachs. Von Johannes Rettelbach (Würzburg) ................................................. 201 Die Liebeslieder in Georg Forsters Frischen Teutschen Liedlein (1539-1556). Von Horst Brunner (Würzburg) .......................................................... 221 Adressen der Autorinnen und Autoren .................................................... 235
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VORWORT “Solang es nicht eine greise Jugend gibt, wird stets das Liebeslied die Blume der Lyrik sein”, wußte Ludwig Uhland zu Beginn des LiebesliedKapitels seiner “Abhandlung über die deutschen Volkslieder” kundzugeben, dem zweiten Band der lange Zeit berühmten, 1844 und 1845 in Stuttgart erschienen Sammlung Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder. Beruhigenderweise ließ offenbar selbst das 20. Jahrhundert die Jugend nicht so weit vergreisen, daß das anhaltende Angebot an Liebesliedern nicht der Auswahl jedes Blumengroßmarkts standhalten könnte: Vielleicht wird ja in einer demographisch grauen Zukunft, fortbestehendes kulturgeschichtliches Interesse vorausgesetzt, die Einschätzung kursieren, daß das zwanzigste ein Liederjahrhundert war wie zuvor schon einmal das sechzehnte (zusammen mit seiner liedgeschichtlichen Sattelzeit im fünfzehnten). Uhland durfte freilich noch die Gewißheit pflegen, daß es Liebeslieder immer schon gegeben habe, wie die sich ewig gleichbleibende Jugend eben und wie das sich genauso gleichbleibende ‘Volk’, das er den Liedern seiner Sammlung als Namensgeber zuordnete. Daß es vor dem 15. Jahrhundert ein wenig hapert mit Liebesliedern, die sich im jugendlichen Volksmund vorstellen lassen, konnte er einer unglücklichen Überlieferung anlasten; hatte doch schon Karl der Große den Nonnen verboten, ‘winileodos’ zu singen,1 und war doch nichts von diesen Liedern übrig geblieben, die die karolingischen Nonnen, Uhlands Vorstellung nach, aus dem Volksmund bezogen hatten. Daß die Romantiker als Dichter wie als Germanisten nicht durchweg, aber großenteils für ‘Volkslieder’ hielten, was ihnen – zusammen mit anderen thematischen Typen – an Liebesliedern in Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts begegnete, war forschungsgeschichtlich zunächst ein Segen, denn es begründete Interesse – ein ästhetisches und ein politisches Interesse, die anfangs ein nicht ganz unsympathisches Liebespaar abgaben. 1
Vgl. dazu jetzt Cyril Edwards: winileodos? Zu Nonnen, Zensur und den Spuren der althochdeutschen Liebeslyrik. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Berlin, New York 1997 (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22), S. 189-206.
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Das Charmante an jener Idee vom ‘Volk’ war bekanntlich sein ‘Geist’; ein bißchen schade ist es schon, daß er abhanden kam. Doch eine unbarmherzige Literaturwissenschaft entzauberte die anfängliche Vorstellung von der Volksdichtung ebenso, wie eine unbarmherzige Sozialgeschichte die Vorstellung vom ‘Volk’, die man sich im 19. Jahrhundert machte, als eine den historischen Umständen verdankte entlarvte. Auch wenn die Literaturwissenschaft die Idee, Volkslieder seien schon produktionsseitig dem Volksmund entsprungen, recht bald zugunsten der Idee verabschiedete, Volkslieder würden rezeptionsbedingt zu ihrem populären Charakter gelangen und dergestalt, wer immer sie auch produziert haben mochte, zum Volkseigentum avancieren,2 blieb doch die lästige historische Frage offen, wer eigentlich jeweils das Volk gewesen sein soll: die Bauern, die Stadtbewohner (und welche unter ihnen), die Gaukler? Uhland hätte sicher gesagt, daß es jedenfalls nicht die Adeligen und die Gelehrten waren. Was unter den Liedern des 15. und 16. Jahrhunderts als Hof- oder Schulstubenproduktion eingeschätzt wurde, blieb weithin an den Rändern des für beachtenswert Gehaltenen. Denn darin bestand ja das politische wie ästhetische Interesse an der ‘Volksdichtung’, und das bestimmte ex negativo auch den Begriff: Daß sie keine Adels- und keine Gelehrtendichtung war und deshalb den Geist eines ‘Volkes’ zum Ausdruck brachte, das als immer schon bestehende Nation gedacht wurde. Man muß nicht ausführen, weshalb es langfristig dann doch kein forschungsgeschichtlicher Segen für die Lieder aus dem 15. und 16. Jahrhundert war, daß sie anfangs großenteils als ‘Volkslieder’ galten. Der Zugriff ging zu Recht verloren, doch mit ihm leider auch das Interesse. Es wandte sich der zuvor nur mit Vorbehalt goutierten Adels- und Gelehrtendichtung zu, deren große Zeiten in der Geschichte der deutschen Liebeslyrik vor und nach dem 15. und 16. Jahrhundert lagen. Der Minnesang auf der einen Seite, die humanistisch-petrarkistische Barocklyrik auf der anderen – beide eindeutig ‘Kunstdichtung’ identifizierbarer,
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John Meier: Kunstlied und Volkslied in Deutschland. Halle a. d. S. 1906; Handbuch des Volksliedes. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan. 2 Bde. München 1973-1975; Karina Kellermann: Abschied vom ‘historischen Volkslied’. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung ‘historisch-politische Ereignisdichtung’. Tübingen 2000 (= Hermaea 90); Armin Schulz: Volkslied. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 3 (2003), S. 794797.
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da in der Überlieferung identifizierter Autoren; beide mit offensichtlichem Kunst-, ja Künstlichkeitsanspruch; beide auf europäischer Ebene historisch durchaus verbindbar durch die Gelenkstelle des ‘letzten Trobadors’ Petrarca wie auch durch die ewig lieferfähige Firma ‘Ovid – europäisches Zentrallager für Sprache der Liebe’: Sie verdrängten aus dem Blickfeld der Forschung, was die frühe Germanistik einmal entschieden bevorzugt hatte, und zunehmend verdrängten sie es auch aus dem kulturellen Gedächtnis. Wer heute, da uns die Musikgeschichte auf den kleinen Silberscheiben in vielfacher Ausfertigung flächendeckend verfügbar scheint, einem Seminar Wie schön blüt uns der meyen in einer Version vorspielen will, die nicht nach der Hitparade der Volksmusik klingt, sondern etwa nach jener Art, in der Andreas Scholl alte englische (alas!) Lieder singt, hat eine erhellend beschränkte Auswahl. Dem politischen Interesse läßt sich nicht mehr nachseufzen; und auch das ästhetische ist in seiner ursprünglichen Verfaßtheit nicht mehr wiederzubeleben. Erinnern mag man sich immerhin noch daran, daß die Romantiker, als Dichter wie als Germanisten, in den Liedern des 15. und 16. Jahrhunderts die wahre, ungekünstelte und natürliche Poesie suchten. Wie man sich diese poetologisch dachte, trifft vielleicht keine Formulierung besser als die einer Goethe-Strophe:3 Da sind sie nun! Da habt ihr sie! Die Lieder, ohne Kunst und Müh Am Rand des Bachs entsprungen. Verliebt, und jung, und voll Gefühl Trieb ich der Jugend altes Spiel, Und hab sie so gesungen.
Man könnte das gewiß, mehr oder weniger erkenntnisträchtig, in eine gegenwärtige Theoriesprache übersetzen, doch die Schlagkraft der Übereinstimmung von Urteil und Diktion wäre damit nicht einzuholen. Allein schon, weil es den von Goethe in diesen Versen simulierten ‘Volkslied-Sound’ nicht nur bis zu Karl Krolow und Ulla Hahn, sondern auch bis zu den Songtexten unserer Tage gibt, verdient die Frage, ob es ihn tatsächlich auch in den Liebesliedern des 15. und 16. Jahrhunderts gab und wie er sich denn dort beschreiben ließe, Aufmerksamkeit (fort3
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1.1. Der junge Goethe 1757-1775. Hrsg. von Gerhard Sauder. München 1985, S. 152.
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bestehendes Interesse an poetischer Sprache und ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit einmal kühn vorausgesetzt). Denn wir alle wissen, daß Goethe vor “ohne Kunst und Müh” ehrlicherweise das Wörtchen ‘scheinbar’ hätte einfügen müssen, das freilich Gestalt wie Gehalt des Verses gesprengt hätte. Ob beispielsweise das alte Heidenröslein aus dem Liederbuch Pauls van der Aelst von 1603 wirklich ‘einfach’ ist oder ebenfalls nur scheinbar einfach wie das, was Goethe aus seiner zweiten Strophe machte – bei Lichte besehen wissen wir es nicht, weil es nach der Verabschiedung der Natürlichkeitsidee nur noch wenig Interesse dafür gab, was diese Liedtexte denn sind, wenn sie nicht die natürliche Poesie jenes Geistes sind, der aus dem Volksmund tönt. Wenn ich richtig sehe, erwartete sich die Germanistik nach der Katastrophe alles Völkischen von der Beschäftigung mit diesen Liedern in ungefähr dem Ausmaß kaum noch etwas, in dem sich die frühe Germanistik viel davon erwartet hatte.4 Bei den wenigen, die sich überhaupt noch damit beschäftigten, stellte sich eine Tendenz ein, sie als eine simplere Fortsetzung des Minnesangs zu verstehen – was angesichts diverser Konstanten unterschiedlicher Art bei einer weithin deutlich unambitionierteren Faktur (“ohne Kunst und Müh”) auch nicht fern liegt. Wo man soziale Situierungen belegen konnte, kam heraus, daß die Trägergruppen eben doch Adelige, reiche Stadtbürger, Gelehrte waren;5 4
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Das jüngste Dokument des Desinteresses ist eine immerhin 772-seitige Literaturgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, in der überhaupt keine Liebeslyrik mehr vorkommt: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Marina Münkler. München, Wien 2004 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1). Kurz fielen die entsprechenden Kapitel auch schon aus bei Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. 1. Teil. Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520. 2. Aufl. Neubearbeitet von Hedwig Heger. München 1974, S. 193-197 sowie 2. Teil. Das Zeitalter der Reformation 1520-1570. München 1973, S. 241-245. Vgl. außerdem Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1990, S. 308-318; Ulrich Müller: Sangverslyrik. In: Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Humanismus 1320-1572. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller. Reinbek bei Hamburg 1991 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 2), S. 46-69; Franz-Josef Holznagel: Mittelalter. In: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart 2004, S. 11-94, hier S. 72-89. Vgl. insbesondere Burghart Wachinger: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 386-406; Johannes Rettelbach: Lied und Liederbuch im spätmittelalterli-
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die Beharrungskraft vieler Ausdrucksformen ist offensichtlich; das Liebeskonzept macht den Eindruck einer weniger exaltierten Variante des höfischen. Bestünde nicht das alte Problem der Anonymität, die eine Reihe gängiger Zugriffsmöglichkeiten verbaut, könnten die Verfahren der Minnesanginterpretation (auch unterschiedlicher Schulen) vermutlich gut ablaufen. Aber auch so verfolgten Dissertationen der vergangenen Jahrzehnte gern aus dem Minnesang Bekanntes als fortgesetztes Traditionsgeschehen weiter – etwa das Tagelied, das Falkenmotiv, die Liedtypensystematik.6 Eine gelegentlich beobachtbare Freude an der Identifikation gelehrter Versatzstücke als humanistische Reflexe oder komplizierterer metrischer Formen als Kunstnachweise liegt davon nicht weit entfernt, weil sie der Überzeugung entspringt, daß es sich eben doch um Kunstlyrik handle, nur um insgesamt schlichtere. Die Bevorzugung der an Minnesang und meisterlicher Liedkunst entwickelten Beschreibungskategorien verbindet sich in der Vorliebe für die Beschäftigung mit den Liedern Oswalds von Wolkenstein – dem einzigen größeren Autorkorpus, dem am deutlichsten von Minnesang-Nachklängen geprägten und dem am offensichtlichsten meisterlich-kunstvollen. Doch die literaturwissenschaftlichen Techniken, die bei Oswald gut einrasten, bringen das Gros der anonymen Liederbuchlieder nicht so recht zum Leuchten. Wer sie als Fortsetzung höfischer Dichtkunst des 12. und 13. Jahrhunderts anschaut, sieht in erster Linie das Glanzlose. Ein neues Interesse für die Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts könnte vermutlich eher begründen, wer danach fragte, was sie gegenüber dem Minnesang auszeichnet – ohne ihn als historischen Ausgangspunkt aus den Augen zu verlieren, aber auch, ohne ihn zum Maßstab zu machen. Zu suchen wäre nach dem historischen Profil, das dieser Liebeslyrik eigen ist. Immerhin hat sie einen zweihundertjährigen Traditionszusammenhang seit dem Mönch von Salzburg aufzuweisen,7 und immer-
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chen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995, S. 281-307. Irmgard Lindner: Falkenmotive in der deutschen Lyrik und verwandten Gattungen vom 12. bis 16. Jahrhundert. München 1963; Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Diss. FU Berlin 1987; Doris Sittig: ‘Vyl wonders machet minne.’ Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Göppingen 1987. Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hrsg. von Christoph März. Tübingen 1999 (= Münchener Texte und Untersuchungen 114).
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hin entfaltete sie noch gegenüber der petrarkistisch-humanistischen Konkurrenz, die an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert in ihren Horizont trat, eine beachtliche Beharrungskraft.8 Gewissermaßen wäre also zu fragen, an welchem besonderen Bach eine Lied wie Wie schön blüt uns der meyen denn nun entsprang – welche poetische Kompetenz, welche kulturellen Bedeutungsordnungen und Lebenspraktiken dafür verantwortlich waren. Dem Kolloquium, aus dem dieser Band hervorging, lag freilich keine kompliziertere Ausgangsidee zugrunde, als zu überlegen, welche Zugangsmöglichkeiten und Erkenntnisaussichten sich hinsichtlich eines Gegenstands vorstellen lassen, der vor allem mehr ins gegenwärtige Gespräch zu bringen wäre. Die meisten Beiträge lassen dann auch die Überzeugung durchblicken, daß wir am Anfang des Fragens nach der Verfaßtheit dieser Texte und ihren Beziehungen zu den zeitgenössischen Bedeutungsordnungen und Lebenspraktiken stehen. Erweckten die Aufsätze Interesse für den Gegenstand und gäben sie Anstöße zu weiterem Fragen, wäre bereits gewonnen, was beabsichtigt und gegenwärtig realistischerweise zu gewinnen ist. Alle Beiträge geben darüber Auskunft, auf wessen Schultern sie stehen, so daß eine einleitende Revue der jüngeren Forschung bloß einen Verdopplungseffekt erzielen könnte.9 Fragelinien oder methodische 8
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Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186. Grundlegend insbesondere: Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978, S. 105-176; Horst Brunner: Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch der Erklärung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages Hamburg 1979. Hrsg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 392-411; Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29; Horst Brunner: Das deutsche Lied im 16. Jahrhundert. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 118-134. Weitere wichtige Beiträge sind: Christoph Petzsch: Hofweisen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liederjahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), S. 414-445; Horst Dieter Schlosser: Untersuchungen zum sog. lyrischen Teil des Liederbuchs der Klara Hätzlerin. Diss. Hamburg 1965; Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersu-
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Traditionen, heuristische oder epistemische Parteiungen ließen sich ihr ohnedies schwer abgewinnen; dazu ist die Zahl der Arbeiten dann doch zu gering. Die Anordnung der Aufsätze folgt teils der thematischen Reichweite, teils der Chronologie der Quellengrundlage: Den Anfang macht der übergreifende poetologische Entwurf von Manfred Kern. Er stellt die Vielfalt der Register und Stile in den Vordergrund und zeigt, wie der einzelne Text mehrere davon aktualisieren, überblenden oder konfrontieren kann. Eine Poetik, die solchen Verfahrensweisen zugrunde liegt, müßte sich daher am ehesten mit Kategorien wie Wildheit, Hybridität oder Dialogizität erfassen lassen. In der Konfrontation mit dem Minnesang und seiner kulturellen Umgebung könnten die hybriden Bedeutungsordnungen der Texte dann auf eine Hybridisierung kultureller Bedeutungsordnungen hin perspektiviert werden. Liedern aus der Lochamer-Sammlung gilt die Untersuchung Johannes Kandlers, die im Zusammenhang mit einer abgeschlossenen Münchner Dissertation steht. Sie bringt das Verhältnis zwischen Sprache und Musik chungen 29); Klaus Jürgen Seidel: Der Cgm 379 der Bayerischen Staatsbibliothek und das ‘Augsburger Liederbuch’ von 1454. Augsburg 1972; Arne Holtorf: Neujahrswünsche im Liebesliede des ausgehenden Mittelalters. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des mittelalterlichen Neujahrsbrauchtums in Deutschland. Göppingen 1973; Erwin Kraus: Die weltlichen gedruckten Notenliederbücher von Erhard Öglin (1512) bis zu Georg Forsters fünftem Liederbuch (1556). Eine textvergleichende Studie und eine Wortschatzuntersuchung des Forsterschen Liederbuchs. Frankfurt a. M. 1980; Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983-1984 (= Münchener Texte und Untersuchungen 82-83); Lyrik des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Amsterdam, New York 1984 (= Chloe 1); Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1. Epochen- und Gattungsprobleme, Reformationszeit. Tübingen 1987 sowie Bd. 2. Konfessionalismus. Tübingen 1987; Gaby Herchert: ‘Acker mir mein bestes Feld’. Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters. Mit Wörterbuch und Textsammlung. Münster, New York 1996; Albrecht Classen: Das deutsche Tagelied in seinen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Varianten. In: Etudes germaniques 54 (1999), S. 173196; Albrecht Classen: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. München, Berlin 2001; Martin Kirnbauer: Hartmann Schedel und sein ‘Liederbuch’. Studien zu einer spätmittelalterlichen Musikhandschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 810) und ihrem Kontext. Bern u.a. 2001 (= Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft Serie 2, Bd. 42); Julia-Maria Heinzmann: Die Buhllieder des Hans Sachs. Form – Gehalt – Funktion und sozialhistorischer Ort. Wiesbaden 2001 (= Gratia 38); Manfred Kern: Der verhuhnte Falke. Anmerkungen zur einer möglichen Ästhetik der spätmittelalterlichen Liebeslyrik. In: Neophilologus 86 (2002), S. 567-586.
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ins Spiel und umgeht dabei das alte Dogma, das die Frage nach musikalischer Bedeutungsabbildung vor der Renaissance unterbindet, indem sie den Blick auf dialogische Bedeutungsbeziehungen zwischen Sprache und Musik lenkt, die sich auf der Ebene der Bewegung von Melodie und thematischem Aufbau ergeben können. Die Potentiale ästhetischer Erfahrung in der Aufführung rücken dabei in neues Licht. Die von Klara Hätzlerin aufgeschriebene Textsammlung ist derzeit Gegenstand eines Editionsprojekts an der Universität Halle. Der Beitrag von Inta Knor, Susanne Homeyer und Hans-Joachim Solms stellt zusammen mit dem Vorhaben seinen unmittelbaren Anlaß, die Wiederentdeckung der lange Zeit verschollenen Bechsteinschen Handschrift, vor. Die Parallelüberlieferung zur umfangreichsten Liebesliedsammlung aus dem 15. Jahrhunderts in der Bechsteinschen Handschrift wird es der Neuedition ermöglichen, die Forschung auf eine erheblich bessere Grundlage zu stellen. Auf das Liebesliedkorpus in der Hätzlerin-Sammlung bezieht sich auch mein Beitrag, der versucht, in der Konfrontation mit dem Minnesang Grundaspekte einer im Kern anderen, ja in mancher Hinsicht konträren Vorstellung von Liebe in der Liederbuch-Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts zu beschreiben und den konzeptionellen Unterschied mit dem Unterschied in der poetischen Technik in Verbindung zu bringen. Ich knüpfe dabei an eine Qualität vieler Texte an, die die Romantiker meines Erachtens nicht ganz falsch wahrgenommen haben, die aber nicht als Ausdruck des Natürlichen, sondern als Effekt von Konstruktionen beschrieben werden muß, ehe sie kulturgeschichtlich verortet werden kann. Auf die Konfrontation von Minnesang und spätmittelalterlicher Liebeslyrik führt ebenso der Beitrag von Sabine Obermaier, der bis ins 16. Jahrhundert ausgreift. Eine kleine Differenz in den Handlungsschemata des Tagelieds bietet dem analytischen Blick die Möglichkeit, eine Durchsicht auf die Veränderung der poetischen Liebesmodelle und der davon abhängigen Modelle der Geschlechterbeziehung zu öffnen. Das unscheinbare Detail erweist sich als Symptom einer weitreichenden Umcodierung und gewinnt dadurch exemplarischen Erkenntniswert. Auch Nicola Zotz konfrontiert einen Aspekt der impliziten Poetik, die den Liebesliedern aus dem 15. und 16. Jahrhundert zugrunde liegt, mit der des Minnesangs. In ihrem Beitrag sind es prototypische Funktionen des Liedendes innerhalb des thematischen Textaufbaus, die eine Durchsicht auf den Zusammenhang zwischen poetischer Technik und Liebes-
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modell ermöglichen. Ein rezeptionsästhetisch perspektivierter Zugriff läßt dabei unterschiedliche Erwartungshaltungen gegenüber Liebe und Liebeslied erkennbar werden. Die in mehreren Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln ventilierte Anonymität der Textautoren steht im Mittelpunkt des Beitrags von Harald Haferland. Die Konfrontation der Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts mit dem Minnesang bezieht sich hier auf den Aspekt der pragmatischen Einbindung. Haferland knüpft an seine These an, die historischen Rezipienten von Minnekanzonen hätten das Gesungene nicht auf eine prätendierte (und in diesem Sinn fiktionale) Ich-‘Rolle’, sondern auf den ihnen leibhaftig gegenüberstehenden Autor-Sänger bezogen, und die Dichter hätten diese Zurechnung beim persönlichen Liedvortrag beansprucht. Das verlorene Interesse an der Textautorschaft und die veränderte Aufführungspraxis lassen sich auf dieser Basis als Indiz für die Auflösung der referentiellen Beziehung interpretieren. Haferland richtet den Blick auf Symptome dafür, daß die Verfasser diese Auflösung schon bei der Textproduktion berücksichtigten, und findet sie in Liebesliedern aus Sammlungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Hier wäre dann die historische Genese eines produktionsseitig konstruierten ‘lyrischen Ichs’ zu verorten. Johannes Rettelbachs Untersuchung der beiden erhaltenen frühen Liebeslieder von Hans Sachs führt vor, wie intime Kennerschaft der Liedüberlieferung und analytischer Scharfblick es ermöglichen, im Einzelfall ein überraschend konkretes Bild vom historischen Bach zu zeichnen, an dessen Rand Lieder entsprangen, und die keineswegs mühelose Kunst recht genau zu identifizieren, die ihre Produktion ermöglichte. Daß dies in einem Fall geschieht, bei dem die Tradition der meisterlichen Liedkunst im Spiel ist, rückt deren historische Bedeutung für die Liebeslieddichtung der Zeit in der gebotenen Weise ins Blickfeld. Wenn sich dabei die Möglichkeit abzeichnet, daß dem historischen Bach einer traditionellen Kunst Lieder entsprangen, mit denen sich dennoch der Jugend altes Spiel treiben ließ, gewinnt das Tableau einen Charme, dem man häufiger begegnen wollte. Den umfangreichsten und zumal hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte bedeutendsten Liedersammlungen des 16. Jahrhunderts gilt der Beitrag von Horst Brunner. Die Auffächerung der Liebeslieder in den Forsterschen Drucken nach unterschiedlichen Typen macht die Vielfalt des Repertoires erkennbar, die es erlaubte, die Konstanten des Liebesmodells in verschiedenen Perspektiven zu thematisieren. Dabei kommt ins-
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besondere der Möglichkeit Gewicht zu, glückliche und unglückliche Liebesbeziehungen sowie glückliche und unglückliche Situationen in Liebesbeziehungen zum Gegenstand zu machen – ein Variationspotential, das zu den großen Qualitäten dieser Liebeslyrik gehört und das erhebliche Verantwortung trägt für ihre Beharrungskraft gegenüber der petrarkistischen Alternative, die sich zwanzig Jahre nach der letzten Forster-Sammlung zu stellen begann. Mir bleibt zum Schluß der Dank: an die Autorinnen und Autoren für ihre Arbeit, an das Zentrum für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, dessen Mitglied ich von 1998 bis 2004 sein durfte, für die Finanzierung des Kolloquiums, und an die Chloe-Herausgeber für die Aufnahme des Sammelbands in ihre Reihe. Leipzig, im November 2004
G. H.
Manfred Kern HYBRIDE TEXTE – WILDE THEORIE? Perspektiven und Grenzen einer Texttheorie zur spätmittelalterlichen Liebeslyrik Abstract Ausgehend von Überlegungen zum prekären Verhältnis zwischen Poesie und Literaturtheorie versucht der Aufsatz mögliche theoretische Zugänge zum spätmittelalterlichen Liebeslied aufzuzeigen. Er konzentriert sich dabei auf Michail Bachtins Konzept der Hybridität. Es stellt zunächst ein deskriptives Organon bereit, mit dem die spezifische Poetologie dieser Lyrik (u. a. in Hinblick auf analoge Phänomene in der Epik) präziser gefaßt werden kann, gibt in weiterer Folge aber auch soziokulturelle Deutungsaspekte frei. Außerdem wird das Problem der weitgehend anonymen Überlieferung erörtert sowie der von Gert Hübner entwickelte Begriff des ‘mittleren Systems’ diskutiert und auf die Lyrik des 17. Jahrhunderts hin perspektiviert.
I. Das Verhältnis zwischen Lyrik und Theorie ist prekär. Es herrscht gegenseitiges Mißtrauen. Ein instruktives Beispiel dafür gibt Das Gespräch über Gedichte, zu dessen Niederschrift sich Hugo von Hofmannsthal 1903 aufgrund der Lektüre von Stefan Georges lyrischem Zyklus Das Jahr der Seele veranlaßt sah.1 Wie andere Texte dieser von Hofmannsthal kultivierten Gattung – allen voran der berühmt-berüchtigte ChandosBrief 2 – schlägt Das Gespräch einen besonderen Ton an, ist aber doch von grundsätzlicher Signifikanz. Zunächst sei ein ‘zeichentheoretischer’ oder eben gerade nicht zeichentheoretischer Gedanke hervorgehoben: “Poesie”, so heißt es, setze “niemals […] eine Sache für eine andere”, sondern sei “fieberhaft bestrebt […], die Sache selbst zu setzen, […] mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft.” (S. 498 f.) Das erinnert im emphatischen Grundgedanken 1
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Hugo von Hofmannsthal: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (= Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 495-509. Ein Brief (1902), ebd., S. 461-472.
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Manfred Kern
einer wieder zu gewinnenden substantiellen Beziehung zwischen Sprache und Ding an den Chandos-Brief, formuliert weiters aber in der Opposition zwischen Poesie und Wissenschaft ein klassisches Stereotyp. Bemerkenswert ist, daß die Wissenschaft das Attribut des Schwächlichen und Kränklichen abbekommt, der Poesie hingegen durchaus vitalistisch nicht bloß Zauber, sondern auch Kraft zugesprochen wird.3 Letzteres ganz im Gegensatz zu Bildern und Habitus poetischer Fragilität, die das gesamte Gespräch dominieren. Im Folgenden stellt der Georgeaner Gabriel in Abrede, daß Poesie etwas mit Metaphern oder Vergleichen zu tun habe. Die dingliche Wesenhaftigkeit poetischer Sprache formuliere vielmehr Metonymien oder auch Hieroglyphen. Hofmannsthal insistiert hier gewissermaßen auf dem Literalsinn poetischer Rede und wendet sich gegen das von der Interpretation geübte ‘Allegorisieren’. Dieser Literalsinn bedeutet freilich keinesfalls nüchterne Wörtlichkeit, sondern eine neue Symbolisierung der Dinge, von denen die Rede ist. Diese im Gespräch entwickelte Anschauung findet ihren Höhepunkt in einem etwas abgeschmackten Gleichnis, das Poesie als symbolhaftes Reden gleichsetzt mit dem Tieropfer, in dem der seinem Gott Opfernde gleichsam für den Augenblick mitsterbe. (S. 501 ff.) Eine ebensolche Ersatzhandlung, die im Moment ihres Vollzug, in ihrer ‘Präsenz’ sozusagen, gerade keine Substitution vornehme, sondern wesenhaft sei, sei die Poesie. Im augenblickshaften Sprachhandeln lösen wir uns gleichsam auf, so Gabriel, die magische Kraft der Worte lehre uns, “daß wir und die Welt nichts Verschiedenes sind.” (S. 503) Das Verhältnis zwischen Poesie und Welt ist also kein metaphorisches, sondern eben metonymisch. Ja, es kommt noch deftiger: In der Poesie würden wir “einen Teil [unserer] Schwere abgeben […] und wäre es nur für die mystische Frist eines Hauches. In unserem Leib ist das All dumpf zusammengedrückt: wie selig, sich tausendfach der furchtbaren Wucht zu entladen.” Diese etwas delirante Phantasie mag nun für George hingehen. Hofmannsthal scheint sie indes selbst zu viel zu werden und vielleicht hat er auch bemerkt, daß die Worte seines Gabriel einer gewissen unfreiwilligen Komik nicht entbehren, wenn sie
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Das Denkmuster scheint in der aktuellen theoretischen Debatte um die Kategorie der ‘Präsenz’, die gegen das ‘Hermeneutische’ gesetzt wird, neuerlich im Schwange zu sein, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2004 (= edition suhrkamp 2364) und Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004 (= edition suhrkamp 2373).
Hybride Texte – wilde Theorie?
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die Geschichte der Poesie als freigesetzte Blähungen des Alls in uns, als ans Licht gekommenen ‘flatus mundi’ charakterisieren. Clemens, der etwas kühlere Kopf, der Klassiker und Goetheaner, wendet daher an rechter Stelle ein, daß es doch Gedichte gebe, die “ohne diese schwüle Bezauberung” auskommen. Dabei denkt er an Goethe, aber auch an antike Priapeia. Gabriel ist nun gewitzt genug, gerade an den Priapeia seine Opfertheorie weiterzuverfolgen – denn dem obszönen altrömischen Gartengott werden ja Früchte dargereicht: aufgeplatzte Granatäpfel, verrunzelte Feigen. Faulige Früchte als poetische Opfergaben – hier könnten wir uns, die wir uns mit der deutschen Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigen wollen, schon eher wiederfinden als in der Sphäre schwüler Bezauberung. Hofmannsthals Gespräch über Gedichte an den Beginn einiger verstreuter Bemerkungen zur Frage einer Theorie der spätmittelalterlichen Liebeslyrik zu stellen, mag etwas gesucht erscheinen. Doch immerhin lassen sich von hier aus einige grundlegende Gedanken formulieren. Es sind vor allem eben die stereotypen Mißverständnisse zwischen Lyrik und ihrer Theorie, die auch für unser Vorhaben nicht uninteressant scheinen – auch und gerade wegen des Kontrasts zwischen den lyrischen Texten, über die Hofmannsthal handelt, und jenen, die uns beschäftigen, sowie wegen des Unterschieds zwischen Hofmannsthals poetischer und unserer literaturwissenschaftlichen Redeweise. Daß die Beziehung zwischen Lyrik und Theorie nicht immer eine prekäre gewesen ist, zeigt die Gattungspoetik vom Barock bis in die Zeit der Gefühls- und Genieästhetik des 18. Jahrhunderts. Sobald Poesie für Unmittelbarkeit und Subjektivität, für Individuation, Zartheit und Fragilität einstehen muß, scheint sich allerdings eine Barriere zur Theorie aufzubauen, die diese Poesie ihrerseits lange Zeit nur normativ verwaltete. Angedeutet ist dies in Hofmannsthals Verdikt von der “schwächlichen Terminologie der Wissenschaft”, die im Gespräch natürlich nicht bloß die Philologie meint, sondern einen Gegensatz zwischen ‘poetischer’ und ‘rationaler’ Weltwahrnehmung konstatiert, wie wir ihn beispielsweise schon im elegischen Grundton von Schillers Die Götter Griechenlandes fassen. Konkreter zur Philologie hin spricht Hofmannsthal allerdings in seinem Brief an George vom 27. VII. 1903, der in Zusammenhang mit dem Gespräch steht: Über Poesie lasse sich “mehr in Metaphern als in
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dürren Terminologien” reden.4 Das fordert von der Rede über Dichtung, zumal über Gedichte, nicht Abstraktion, sondern eine Seligkeit der Einfühlung, die alles andere als theoretisch sein muß, und erinnert ein wenig an Friedrich Schlegels tautologische Formel, “eine […] Theorie des Romans wue rde selbst ein Roman seyn mue ssen”.5 Daß im übrigen nicht nur die Theorie der Poesie, sondern auch die Poesie der Theorie verdächtig ist, ließe sich aus der gegenwärtigen literaturtheoretischen Praxis selbst schließen. Sie stellt die Lyrik ja nicht eben ins Zentrum ihrer Überlegungen. Die theoretische Leitgattung ist die Epik, genauer: der Roman. In der Mediävistik sind die Verhältnisse spezifisch gelagert. Zwar wird man insgesamt von einem Überhang an Theorie, mithin von theoretischer Sättigung auf der Seite der narrativen Gattungen sprechen, doch ist im Falle der Lyrik gerade in jüngerer Zeit theoretisches Terrain gut gemacht worden. Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß dies nie zum Schaden der Texte passiert, auch wenn sich mitunter etwas Überdruß einstellen mag. Es muß nun hier keine Bestandsaufnahme vorgenommen werden, was die neuere Theorie, vor allem des Minnesangs, betrifft. Betont sei, daß sie ganz vehement von der Prämisse der Alterität mittelalterlicher Lyrik ausgeht, beispielhaft in den jüngeren Untersuchungen zu Performativität, Ritualität und Repräsentation.6 Ein entsprechendes, eindringliches Votum gibt auch die Studie Harald Haferlands ab.7 Unabhängig davon, ob man Haferlands Thesen teilt oder nicht, zeigen seine Ausführung zu Kategorien wie ‘lyrisches Ich’ und ‘Fiktionalität’ deutlich, daß eine universale Gattungspoetik scheitern muß. Einer historisch perspekti4
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Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hrsg. von Robert Boehringer. Zweite, ergänzte Auflage. München, Düsseldorf 1953, S. 194. Friedrich Schlegel: Brief über den Roman (1800). Zitiert nach: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg. Stuttgart 1999 (= Reclam Universal-Bibliothek 18025), S. 259-265, hier S. 264. Stellvertretend sei verwiesen auf die Beiträge in: “Aufführung” und “Schrift” in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1996 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände 17). Zur Performanzdebatte vgl. u. a. Margreth Egidi: Der performative Prozeß. Versuch einer Modellbildung am Beispiel der Sangspruchdichtung. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema. Frankfurt a. M. [u.a.] 2004 (= Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 5), S. 13-25. Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000 (= Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10).
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vierten Theorie stellt sich freilich das grundlegende methodische Problem, daß sie die pragmatischen, medialen und kommunikativen Bedingungen mittelalterlicher Lyrik, also das, was deren ‘Materialität’ und die aus dieser gestiftete ‘Präsenz’ sein könnte,8 immer erst zu schaffen hat und daß sie dabei natürlich weitgehend auf die poetischen Texte und jene Perspektiven, die diese binnenliterarisch entwerfen, angewiesen ist. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß gerade im Rahmen performativitätstheoretischer Ansätze jene Sehnsucht nach dem Original versteckt weiterlebt, die wir in der Editionstheorie und Editionspraxis längst verabschiedet haben. Was nun die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Liebeslyrik betrifft, wird man mit Hofmannsthals Opposition – hier Zauberkraft der Poesie, dort dürre Terminologie – auf Schwierigkeiten stoßen. Wir haben es mit Texten zu tun, deren vordringlichstes Kennzeichen nicht eben eine wie immer geartete ‘poetische Aura’ wäre. Das ist natürlich ein Kriterium, das die Philologie theoretisch nicht gelten lassen kann, die suggerierte Dignität des Gegenstands ist dennoch ein zentrales a priori jeder philologischen Beschäftigung. Wollten wir pauschal und unbedarft in den Kategorien Hofmannsthals denken, so bräuchten wir jedenfalls nicht zu befürchten, mit der schwächlichen wissenschaftlichen Terminologie der Zauberkraft dieser Lyrik nicht beizukommen. Eher wäre hier für die Poesie von dürrer Terminologie zu reden, der gegenüber sich das Begriffsarsenal und die Denkanstrengung der Theorie als viel zu zauberkräftig erwiese. Und wenn nach Ansicht des Georgeaners Gabriel tatsächlich alle Gedichte Opfergaben wären, so wären unsere Liebeslieder eben zu den Opfergaben an Priap zu zählen, sind sie doch aus ähnlich grobem Eichenholz geschnitzt wie der römische Gartengott in der Geharnschten Venus Kaspar Stielers, eines barocken Liederbuchs, auf das ich am Ende zu sprechen komme.9 Dies zum einen als Hinweis auf eine gewisse 8
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Zum Begriff der ‘Materialität’ und der ‘Präsenz’ vgl. Gumbrecht und Fischer-Lichte (wie Anm. 3). Vgl. die Zuschreibung des “letzteren Zehens” (d. i. der letzte Abschnitt der Sammlung) an Priap. Die Geharnschte Venus oder Liebes=Lieder im Kriege gedichtet [etc.]. Verfertiget und lustigen Gemue thern zu Gefallen heraus gegeben von Filidor dem Dorfferer. Hamburg / Gedrukkt bey Michael Pfeiffern. In Verlegung Christian Guht / Buchhae nlers im Tuhrn / Im Jahr 1660. Ausgaben: Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus oder Liebes-Lieder im Kriege gedichtet. Hrsg. von Herbert Zeman. Mit Beiträgen von Kathi Meyer-Baer und Bernhard Billeter. München 1968 [FaksimileDruck; Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe]; Kaspar Stieler: Die geharnschte
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Ratlosigkeit, die die Philologin oder den Philologen möglicherweise beschleicht, wenn sie oder er als Leserin oder Leser, die sie ja auch sein müssen, auf diese Texte zugeht. Eher noch aber in Hinblick auf das immer wieder griffbereite Vorurteil gegenüber der Theorie, sie stünde im Mißverhältnis zu ihrem Gegenstand. Seitens des Minnesangs würde ihr ein geschmäcklerischer Zugang eher vorwerfen, sie wäre zu dürr; im Falle der Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhundert wäre die Frage, ob der fragile und fein ziselierte Denkaufwand der Theorie dem robusten Corpus gerecht wird, ob er die Texte, wie die Schulpädagogik sagen würde, wirklich dort abholt, wo sie stehen. Die Theorie könne den Texten und dem Bemühen um deren Erkenntnis niemals schaden, wäre hier eben fürs erste zu entgegnen. Die theoretische Beschäftigung mit der spätmittelalterlichen Liebeslyrik ist noch nicht allzu weit gediehen. Es gibt im Unterschied zum Minnesang noch keinen spezifisch konturierten Zugang. Die kurrenten neueren literaturtheoretischen Konzepte sind am Corpus noch kaum erprobt. Auf wichtige Ansätze sei freilich hingewiesen: So zum einen auf die grundlegende Darstellung der Situation des Liedes um 1400 bei Horst Brunner, die mittlerweile klassisch geworden ist, außerdem auf Brunners jüngste Ausführungen zum Lied des 16. Jahrhunderts; auf Burghart Wachingers Erörterung, die den großen Bogen vom ausgehenden 12. bis ins 16. Jahrhundert spannt.10 Sie können in erster Linie als Versuche einer deskriptiven, historisch und zum Teil komparatistisch akzentuierten Poetologie begriffen werden. Der ausführliche und einläßliche Aufsatz zu Christoph von Schallenberg von Gert Hübner hat schließlich mit dem
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Venus. Hg. von Ferdinand van Ingen. Stuttgart 1970 (= Reclam Universal-Bibliothek 7932-7934). Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein. Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 206), S. 105-146; ders.: Das deutsche Lied im 16. Jahrhundert. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 118-134. Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29.
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Begriff des ‘mittleren Systems’ einen Markstein für die weitere Forschungsdiskussion gesetzt.11 Ich kann im Folgenden nur knappe Perspektiven skizzieren und konzentriere mich auf drei Problembereiche: Erstens auf die Frage der poetologischen Verfaßtheit der lyrischen Texte. Hier will ich versuchen, ein theoretisches Modell anzuwenden, das in der Debatte um die spätmittelalterliche Epik schon seit einiger Zeit im Zentrum steht: nämlich Bachtins Konzept der Hybridität. Von hier aus ist zweitens ein Weniges zur zentralen Frage von Anonymität und Autorschaft zu reflektieren. Drittens werde ich auf Hübners Begriff des ‘mittleren Systems’ eingehen und in diesem Zusammenhang auf das Problem der Periodisierungen, vor allem des Übergangs zur Lyrik des 17. Jahrhunderts zu sprechen kommen. Mein Vorhaben ist also weder systematisch noch erschöpfend, wie sich das für eine Theorie allerdings gehören würde. Aber es soll ja um ein Erproben von Möglichkeiten gehen.
II. In seiner 1934/35 entstandenen Abhandlung Das Wort im Roman entwikkelt Michail Bachtin drei für die jüngere literaturtheoretische Debatte zentrale Kategorien: Dialogizität, Heteroglossie und Hybridität.12 Sie haben nach Bachtins Auffassung zentrale Bedeutung für die Beurteilung des literarischen Kunstwerks in seiner sprachlichen Verfaßtheit, in seiner Wortästhetik an sich und zugleich in der konkreten Historizität, die diese Wortästhetik ausmacht. Dialogizität als Überbegriff sei zunächst eine Eigenschaft, die dem Wort a priori zukomme (S. 168 ff.). Dies insofern, als es nicht für sich, sondern in einem dialogischen Verhältnis zu anderen Worten stehe, seine Identität erst aus dieser dialogischen Beziehung gewinne.13 Im sprachlichen Kunstwerk eigne der Dialogizität des Worts
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Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979 (= edition suhrkamp 967) Vgl. hierzu Bachtins Adamgleichnis (ebd., S. 172): “Nur der mythische Adam, der mit dem ersten Wort an eine noch nicht besprochene, jungfräuliche Welt herantrat, der einsame Adam hatte es noch nicht mit dieser dialogischen, wechselseitigen
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ein eminent mimetischer Charakter. Sie weise den literarischen Text nicht als Nachahmung von Wirklichkeit, sondern als Nachahmung von Sprachwirklichkeit aus. Indem der dialogische Text Redevielfalt mimetisch konstruiere, leiste er zugleich kritische Reflexion dieser Redevielfalt (S. 180 ff. und S. 212 ff.). Das wäre bis hierher nun eine literarische Universalie; Bachtin nimmt allerdings bekanntermaßen eine sowohl gattungstheoretische als auch historische Eingrenzung vor und gesteht Dialogizität im Sinne einer spezifischen poetischen Qualität erst dem neuzeitlichen Prosaroman zu, der nun die Redevielfalt der Sprachwirklichkeit integrativ fassen könne. Konkreten Niederschlag erfahre Dialogizität in Formen der Heteroglossie, der Mehrsprachigkeit, im Sinne wechselnder Sprecher, wechselnder Stile und Redeweisen – hier vor allem wichtig die Ironie –, im Sinne auch der wechselnden Jargons usw. (S. 192 ff.). Aufgrund der heteroglotten Verfaßtheit von Gattung und Prosaform sei nun jeder Roman ‘hybrid’. Wobei Hybridität für Bachtin eben primär Mimesis einer diversifizierten Sprachwirklichkeit bedeutet. In weiterer Folge meint sie aber auch das Zusammenspiel von unterschiedlichen Gattungen und Textmustern im Roman (S. 244 ff.) – und deshalb wurde Hybridität auch in der Mediävistik ein kurrenter Begriff. Bachtin unterscheidet im übrigen zwischen Hybridität als einem hochkomplexen intentionalen und artifiziellen Verfahren und der einfachen Vermischung bei – wie es heißt – “mittelmäßigen Prosaschriftstellern”. Hier liege keine “Orchestrierung mit Redevielfalt” vor, sondern bloß “die unreine und unbearbeitete direkte Sprache des Autors” (S. 251). Damit erweisen sich Dialogizität und Hybridität auch als eminent ästhetisch-kritische Kategorien. Indes beläßt es Bachtin natürlich nicht bei diesem poetologischen Befund. Die Redevielfalt im Roman ziele vielmehr auf die “Vorbehaltlichkeit der Welt”, reflektiere die “Idee eines lebendigen und historischen Wesens der Sprachen”, also deren Geschichtlichkeit, und formuliere ein diesbezügliches Bewußtsein (S. 219). Diese im weitesten Sinne metaphysische Dimension, die dem epischen Sprachkunstwerk zugesprochen wird, entspricht den gängigen Zumutungen, denen sich der Roman seitens seiner Theorie, zumal jener des früheren zwanzigsten Jahrhunderts, ausgesetzt sieht. Die
Orientierung an dem fremden Wort im Gegenstand zu tun.” Sobald er das erste Wort (zu)gesprochen hatte, war dies aber wohl der Fall.
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Legitimität dieser Zumutungen ist dabei in dem allgemeinen Prinzip nicht zu bestreiten, als sie die Relevanz von Literatur nachdrücklich einmahnen. Wollen wir Bachtins Theoreme und Terminologie zunächst bloß als heuristische Instrumentarien einer klarer perspektivierten poetologischen Analyse begreifen und ihre Praktikabilität für die Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts erproben, so bedarf dies der Rechtfertigung. Bachtin schließt die Poesie ja a priori aus seinem Konzept aus. Sie sei nicht dialogisch, sondern monologisch (S. 191, vgl. auch S. 242 f.). Sie pflege eine exklusive Sprache und prolongiere damit – so Bachtin griffig – ein “ptolemäisches” Modell (S. 178 und S. 180), sie sei keine lebendige, historische, sondern eine “Göttersprache” (S. 219). Das sind kräftige Worte, und etwas vorschnell scheint die implizite Gleichung zwischen autoritärer, oder sagen wir besser: eigenmächtiger Sprache der Poesie und Affirmation des Herrschenden und der Herrschenden gezogen.14 Ganz pauschal ließe sich darauf mit Adorno antworten, der in seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft ja gerade die Eigenmächtigkeit lyrischen Sprechens gegen den soziokulturellen Konsens gestellt sieht,15 um es vereinfacht zu sagen. Das wäre nun seinerseits am konkreten Text immer erst zu erweisen. Mit Hofmannsthal könnten wir gewissermaßen rezeptionsästhetisch argumentieren, daß Lyrik – aus der Sicht des Rezipienten – gerade nicht dessen Eigenes, sondern das Andere verkörpere, das sich durchaus auch gegen eine friktionsfreie Aneignung sperre. Schließlich müßte sich gerade in der exklusiven Sprache der Lyrik – aufgrund ihrer eminenten Differenz zur prosaischen Redevielfalt und aufgrund der prekären Situation des Sprechers – a priori Dialogizität einstellen. Mit diesem Einwand konfrontiert sich Bachtin im übrigen offenbar schon selbst, wenn er ausführt, daß Lyrik nur passives Verstehen, nicht aber aktives Antworten fordere.16 Gegen Bachtins Ausschluß der Poesie hat nun bereits Renate Lachmann luzide argumentiert.17 Ich kann hier nicht 14
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Vgl. ebd., bes. S. 177 ff. (“monologische Beharrlichkeit”) und S. 188 f. (“gespannte Einheit der Sprache”). Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften. Bd. 11. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1997, S. 49-68. Bachtin (wie Anm. 12), S. 175; vgl. dazu auch Bachtins These vom Unterschied zwischen Zweideutigkeit der Poesie und Zweistimmigkeit des Romans, ebd., S. 217. Renate Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hrsg. von Renate Lachmann. München 1982 (Theorie und Geschichte der Literatur und der
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zu einer ausführlicheren Kritik ansetzen; sie würde bei der Vielstimmigkeit von Bachtins eigenem Text beginnen müssen, die nicht zuletzt in einer auffälligen Divergenz zwischen luzider Terminologie und einem mitunter raunenden Gestus der Metaphern besteht. Wenn ich also zunächst die textanalytische Anwendbarkeit der Begriffe Heteroglossie und Hybridität auf die Lyrik des 15. und 16. Jahrhunderts erprobe, so in dem Bewußtsein, daß ich sie damit zu einem deskriptiven Instrumentarium profaniere und Bachtins ideologiekritischen sowie teleologischen Ansatz ausblende. Bachtins Vorbehalt gegen die Poesie will ich insofern Rechnung tragen, als ich die historisch-perspektivische Qualität der Begriffe gerade nicht aus den Augen zu verlieren versuche. Schließlich ist danach zu fragen, wie sich Hybridität in der spätmittelalterlichen Liebeslyrik als Form eines dialogischen Bezugs auf die literarische Tradition fassen läßt und welche kulturellen Konstruktionen sie freigeben könnte. Gerade in diesen beiden Punkten scheint mir Bachtin zu mimetisch zu denken, wenn er von Nachahmung von Sprachwirklichkeit spricht. Wenn Literatur Sprache nicht bloß nachahmt, sondern zugleich formt, so eignet ihr ja nicht bloß mimetische, sondern auch definitorische Qualität;18 insofern Sprachhandeln natürlich kulturelles Handeln ist und kulturelles Handeln definiert, gilt dieser definitorische Charakter für kulturelle Konzepte selbst, die sich nicht einfach in der Literatur formulieren, sondern von dieser erst formuliert werden. Hier greifen Bachtin wie auch die modernen Theoretiker des kulturellen Gedächtnisses zu kurz – sowohl, was die generelle Einschätzung der poetischen Möglichkeiten, als auch, was den behaupteten Zeitpunkt ihres ‘ersten’ Erscheinens betrifft.
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schönen Künste. Texte und Abhandlungen. Reihe A: Hermeneutik-Semiotik-Rhetorik Bd. 1), S. 51-62. Eine entsprechende Adaption des aristotelischen Mimesis-Begriffs unternimmt Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (1972). In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Auflage. Darmstadt 1996, S. 356-375, hier S. 373 f.
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III. Damit zum konkreten Text: Es handelt sich um ein Lied, das gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden sein mag. Es trägt den Titel Ein hübsch lied zuo singen jm schwartzen Ton von den schön frowen.19 Der Ton der sieben umfangreichen Stollenstrophen stammt von Regenbogen; ich referiere kurz den Inhalt nach der im Jahre 1500 zu Straßburg gedruckten Version: Die erste Strophe beginnt ganz im Sinne des gängigen Trennungsthemas der Liederbuchlyrik. Es ist vom notwendigen Abschied die Rede, die angeschlossene Mahnung an die Geliebte, sich nicht vom falschen Gerede beeindrucken zu lassen, reflektiert offenbar das omnipräsente Motiv der Klaffer. Die Antwort der Geliebten gibt nun aber nicht die erwartete Treuebekundung, sondern reicht im Sinne eines Hysteronproteron den Grund für die Trennung nach: Sie kündigt das Liebesverhältnis auf. Die zweite Strophe vertieft dies; auf das Unverständnis und die abermaligen Liebesbekundungen des männlichen Ichs bekräftigt die Geliebte ihre Aufkündigung mit den drastischen Worten, der Liebende solle sein weiteres Leben in “münches orden” (Z. 20) fristen. Daß er Liebe, Treue und Beständigkeit in den Sand gesetzt hat, bestätigen die abschließenden Worte des zweiten Stollens: “Weder Pfennig noch Geliebte bleiben dir” (Z. 23). Das gibt der Szene ein handfestes pekuniäres Kolorit, das nun der Abgesang ausführt. Der Wechsel der Perspektive wird damit deutlich: In durchaus derbem Ton bemerkt die Geliebte, sie habe den Geldsäckel des 19
Der Text findet sich im Anhang. Ich folge dem Abdruck in: Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden. Hrsg. von Walther Killy. Band 3. Gedichte von 1500-1600. Nach den Erstdrucken und Handschriften in zeitlicher Folge hrsg. von Klaus Düwel. München 1978. Nachdruck München 2001, S. 13-16. Das Lied ist in einer Handschrift (Basel O IV 28, 43v-45r) und in zwei, vier Blatt umfassenden Straßburger Drucken (Bartholomäus Kistler, 1500 und Konrad Kerner, 1517) mit jeweils geringeren Abweichungen überliefert; beim Ton handelt es sich nicht um Regenbogens Schwarzen Ton, sondern um seine Briefweise, hierzu: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. Band 5. Katalog der Texte. Älterer Teil. Q-Z. Bearbeitet von Frieder Schanze und Burghart Wachinger. Tübingen 1991, 1Regb/1/554a1 Regb/1/554c, S. 49 f. und ebd.: Band 1. Einleitung, Überlieferung. Tübingen 1994, Nr. 64, S. 358. Düwel folgt dem Straßburger Druck von 1500, dem ein Holzschnitt beigegeben ist. Dieser ist faksimiliert bei A. Schramm: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. 23 Bde. Leipzig 1923-1943, Bd. 20, Abb. 2047.
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Liebenden “vßgetroschen” (Z. 25); der ist restlos leer, und damit ist es auch mit der Liebe vorbei. “Deine Kohlen sind verloschen” (Z. 28 f.); die Metaphorik ist hier sowohl finanziell als auch erotisch zu lesen. Der ostentative Zynismus der Geliebten gibt Raum für die gängige misogyne Topik der dritten Strophe: Die hübschen Damen fegen zuerst das letzte Staubkorn aus dem Säckel und lassen es dann noch Spott regnen. Dem folgt ein Katalog von traditionellen Frauensklaven, von Alexander und David über Artus und Samson zu Salomon und Aristoteles und wieder zurück zu Adam. Hier schließen die vierte und die fünfte Strophe exkursartig eine entsprechende Schwankepisode von einem gewissen Herrn Filius an, der in die Tiefen des Meeres tauchte, seine Geliebte die Kette der Glocke halten ließ, die diese wiederum ins Wasser warf. Herr Filius hatte listigerweise Hund, Katze und Hahn dabei, tötete allerdings nur die Katze und wurde vom Meere ausgespieen. Dem Liebenden ist dies eine Lehre, er wählt sich einen neuen, zuverlässigen “buo len”, nämlich “mary […] ein himelische dirn” (Z. 57 f.). Damit ist das Thema der conversio angeschlagen. Sie wird in den folgenden Strophen im Sinne der contemptus-mundiTopik ausgeführt und mit der üblichen confessio des reuigen Liebenden kombiniert, wie wir sie beispielhaft schon bei Ulrich von Liechtenstein und natürlich bei Oswald von Wolkenstein finden.20 Die siebte Strophe führt dies im Sinne der Weltliebe abschließend aus und endet in einer Gnadenbitte an Christus, die alle Christenseelen und im “uns” vor allem die Zuhörer mit einschließt. Schon eine kursorische Lektüre vermittelt einen klaren Eindruck von der ‘Redevielfalt’ dieses Liedes. Wenn wir ein wenig ins Detail gehen, so können wir Heteroglossie an ganz konkreten divergenten Redeweisen festmachen. Zum einen konfrontieren die beiden ersten Strophen den konventionellen, vergleichsweise hohen Ton des Scheidethemas mit satirisch-schwankhaften bzw. derben Ausritten, zu fassen in den Worten 20
Vgl. Ulrichs Klage über sein “versûmtez leben”: Ulrich’s von Liechtenstein Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein. 2 Bde. Leipzig 1888 (= Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6-7), Bd. 2, Str. 1835 f. (L 589,19 ff.); sowie Oswalds Bekenntnisstrophen in Es fügt sich, in: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Unter Mitwirkung von Walter Weiss und Notburga Wolf hrsg. von Karl Kurt Klein. Musikanhang von Walter Salmen. 3., neubearb. und erw. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf. Tübingen 1987 (= Altdeutsche Textbibliothek 55), Nr. 18, Str. VI f.
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vom “münches orden” und vor allem in den pekuniären Phrasen der zweiten Strophe. Bezeichnend ist das Wort “vßgetroschen”, das wir als einschlägige Metapher der derb-erotischen Dichtung kennen.21 Heteroglott im Sinne einer stilistischen Divergenz zwischen dem ernsthaften Thema und der säkularen Metaphorik gestaltet sich auch die conversio mit der Wahl Mariens als des neuen “buo len”. Daß diese Form der Heteroglossie ganz traditionell ist, hat Helmut Tervooren gezeigt.22 Verweisen läßt sich für unseren Zusammenhang etwa auf eine erotische Jagdszene als Allegorie der Trinität bei Michel Beheim:23 Jäger, Fischer und Falkner buhlen hier um die Jungfrau Maria. Hybridität fassen wir noch deutlicher in der Kreuzung verschiedener gattungsgebundener Redeweisen, Topoi und Tropen: Zu nennen sind neben Scheide- und Absagethema vor allem der Frauensklaventopos, die Schwankepisode von Herrn Filius sowie die conversio-, confessio- und contemptus-mundiThematik. Hier ist also eine ganze Palette von Möglichkeiten des spätmittelalterlichen Liedes unter dem exordialen Register des Trennungsliedes vereint. Hinzuweisen ist auf einige konkretere intertextuelle Spuren: Bei den aufgezählten Frauensklaven läßt vor allem “Her filius” aufhorchen, hinter dem sich natürlich kein geringerer als Vergil verbirgt. Mit dieser Namensform und als Frauensklaven begegnen wir ihm in einer Strophe von
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Hierzu Gaby Herchert: “Acker mir mein bestes Feld”. Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters. Mit Wörterbuch und Textsammlung. Münster, New York 1996 (= Internationale Hochschulschriften 201). Helmut Tervooren: Säkularisierungen und Sakralisierungen in der deutschen Liebeslyrik des Mittelalters. In: Glaube – Kritik – Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Interdisziplinäres Symposium an der Universität-GH-Duisburg vom 16.-19. April 1991. Hrsg. von Lothar Bornscheuer, Herbert Kaiser und Jens Kulenkampff. Frankfurt a. M. [u.a.] 1993 (= Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 6), S. 213-231. Vgl. auch Burghart Wachinger: ‘Blick durch die braw’. Maria als Geliebte bei Oswald von Wolkenstein. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 103-117. Ein exempel von der heilg trinitot (Incipit: “Wol drey gesellen guo t”), in: Deutsche Lyrik, Bd. 3 (wie Anm. 19), S. 285. Vgl. auch: Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften. Bd. II: Gedichte Nr. 148-357. Hrsg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. Berlin 1970 (= Deutsche Texte des Mittelalters 64), hier Nr. 300, S. 557 ff.
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Regenbogens Langem Ton.24 Der anschließende Minneschwank ist uns aus der Alexandertradition bekannt. Wie kurrent die Tauchglockenfahrt ist, zeigt uns die Tatsache, daß die Glocke nicht einmal erwähnt werden muß. Daß das Abenteuer hier Vergil und nicht Alexander zugeschrieben wird, mag sich als Krasis mit dem bekannten Schwankmotiv von ‘Vergil im Korb’ erklären.25 Auf die Tradition der confessio des reuigen Liebenden wurde bereits hingewiesen, die contemptus-mundi-Thematik formulieren in Zusammenhang mit erotischen Registern beispielsweise Michel Beheim und Jörg Schiller.26 Beide Lieder beginnen im Stile einer Pastourelle und enden in einer Weltabsage: Bei Beheim begegnet das ausziehende Ich Frau Welt direkt, bei Schiller der schönen Frau Ehre, die ihn zur Weltabkehr bewegt. Bemerkenswert scheint mir im übrigen die dominante Thematik des Geldes bzw. der geldgierigen Geliebten. Sie ist grundsätzlich natürlich eine mögliche Variante im Rahmen des breiten Registers derb-erotischer Lyrik. Die konkrete Gestaltung hier läßt sich aber gut mit den entsprechenden Episoden im Fortunatus verbinden.27 Alle diese thematischen und topischen Splitter repräsentieren nun probate Möglichkeiten des spätmittelalterlichen, zumal des erotischen Liedes. Selten finden wir sie allerdings in dieser fast enzyklopädischen Weise zusammengezwungen. Analogen Phänomenen der Hybridität, vor allem im Sinne einer Kreuzung ursprünglich gattungsgebundener narrati-
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Abdruck in: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts [etc.] gesammelt [...] von Friedrich Heinrich von der Hagen. Dritter Theil. Erster Band. Leipzig 1838, S. 468 k, Str. 1,16. Zur Motivtradition vgl.: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hrsg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert. Berlin, New York 2003, s. v. Alexander, S. 38-54, hier S. 51 und S. 53 f. sowie s. v. Virgilius, S. 662-669, hier S. 667. Das Lied von Beheim bei Gille und Spriewald (wie Anm. 23), Nr. 279, S. 442-445; jenes von Jörg Schiller in: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Thomas Cramer. Band 3. Pfaffenfeind – Zwinger. München 1982, Nr. II, S. 194-207 und S. 555 f.; dazu Manfred Kern: Im Dickicht mit Frau Ehre. Zur Verwilderung in der spätmittelalterlichen Lyrik am Beispiel der ‘Maienweise’ von Jörg Schiller. Erscheint 2004 in: Deutsches Lied im Spätmittelalter. Hrsg. von Christoph März und Lorenz Welker, bei Reichert, Wiesbaden. Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bibliographie von Jörg Jungmayr. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1996 (= Reclam Universal-Bibliothek 7721), vgl. bes. das Kapitel “Wie Fortunatus zu boe ser geselschafft kam / mit denen / und mitt leüchten frawen / als sein gelt verthet / und sich darnach vil armuo t leiden muo ßt.”, S. 23-26.
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ver Muster, begegnen wir nun auch in der Epik. Die jüngere Forschung versucht, den kompositorischen Prozeß und dessen Ästhetik mit dem Begriff der Montage zu fassen, so etwa Kerstin Schmidt im Falle der ‘Kudrun’.28 Mir scheint indes jener des Bricolage günstiger, wie ihn Karlheinz Stierle nach Claude Lévi-Strauss eingeführt hat.29 Der Mythologe ist Lévi-Strauss zufolge ein Bricoleur, ein Bastler, der traditionelle Muster (in diesem Fall mythologische) zu einem neuen Ganzen zusammenzwingt. Die einzelnen Teile der mythologischen wie der literarischen Bastelei bleiben dabei kenntlich und voneinander abhebbar. Ähnlich funktioniert unser Lied. Es präsentiert sich als durchaus vielfältiger und zerlegbarer Bricolage. Dieser Bricolage dokumentiert nun zum einen die Verfügbarkeit und auch die Einflußmacht der lyrischen Tradition, der der Text – und das ist ästhetisch wie poetologisch entscheidend – nicht Herr wird oder im Sinne eines stringenten Konzepts auch nicht Herr werden will. Denn die Teile beanspruchen ja für sich ihr Recht, und angesichts der Kenntlichkeit der Fugen und der Künstlichkeit des Bricolage läßt sich auch schwerlich von einem konsistenten argumentativen Verlauf reden, der die conversio am Ende sozusagen authentisch erschienen ließe. In unserem Fall können wir dennoch von einer verhältnismäßig klaren Komposition reden, deren relative Stringenz sich aus einer mehrfach gebrochenen Absage ergibt: Der Absage der Geliebten an den Liebenden folgt jene des Liebenden an die Geliebte, dann an die Frauen insgesamt, schließlich an die Welt und die Hinwendung zu Maria respektive Christus. So ergeben die hier zusammen gezwungenen Register und lyrischen Redeweisen denn doch so etwas wie eine kleine Narration.
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Kerstin Schmitt: Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ‘Kudrun’. Berlin 2002 (= Philologische Studien und Quellen 174). Zum Folgenden vgl. meinen Aufsatz: Verwilderte Heldenepik in hebräischen Lettern. Literarischer Horizont und kultureller Austausch im ‘Dukus Horant’. In: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche). Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003 (= Philologica Germanica 25), S. 109-134, hier S. 124 ff. Karlheinz Stierle: Mythos als ‘Bricolage’ und zwei Endstufen des Prometheusmythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), S. 455-472; Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 29 ff.
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Wenn wir nun danach fragen wollen, was die ‘Redevielfalt’ eines solchen lyrischen Textes literarhistorisch, literarästhetisch und soziokulturell bedeuten könnte, so stoßen wir rasch auf die Grenzen unseres theoretischen Instrumentariums. Am schlüssigsten läßt sich noch literarhistorisch und literarästhetisch argumentieren: Zunächst müssen wir festhalten, daß sich die Heteroglossien unseres Textes nicht auf reale Sprachgegebenheiten, sondern auf überkommene poetische Redeweisen mimetisch beziehen. Deren enzyklopädische Kreuzung weist die Stile und Register hochmittelalterlicher Lyrik im Sinne von Erinnerungsformen als präsent und umfassend verfügbar aus. Daß die einzelnen Stimmen dabei eher gegeneinander als zusammen spielen, zeigt, daß die Lyrik der Zeit erst auf dem Weg zu einer verbindlichen neuen Ästhetik ist. Immerhin vermitteln Texte wie unser hübsch lied jm schwartzen Ton aber eine gewisse literarische Kompetenz an Publikumsschichten, die sozial nicht mehr streng zu definieren sind. Sie leisten eine Popularisierung von ästhetischen Möglichkeiten einer überkommenen poetischen Sprache, die erst wieder zu sich kommen muß. Ein Ausdruck dessen ist das eher serielle denn syntagmatische Prinzip der Komposition. Um generelle soziokulturelle Horizonte auszuloten, bedürfte es eines breiteren Corpus. Und auch dann wären sie für jeden Text und jedes Register neu zu formulieren. In unserem Fall scheinen mir contemptus mundi, confessio und eine pekuniäre Thematik, die an den Fortunatus erinnert, aufschlußreich. Die Topik unseres Liedes ließe sich als ein lyrisches Sensorium begreifen, das auf virulente mentalitätsgeschichtliche Gegebenheiten reagiert und in dem die entsprechenden Diskurse poetisch aktualisiert werden. Daß dies naturgemäß nicht in einfache sozialgeschichtliche Befunde umgemünzt werden kann, ergibt sich schon aus der Artifizialität des Textes. Gehen wir aber davon aus, daß auch in dieser Liebeslyrik Identifikationsmodelle oder, allgemeiner gesagt, ‘Entwürfe einer Subjekterfahrung’ formuliert werden, so präsentiert sich die IchRolle als nicht eben stabil. Dominant ist das Moment der Parodie und der Destruktion überkommener Konzepte, so u. a. jener Liebespassion, die der Minnesang oder auch der Tristanroman entwickeln und tradieren. Es macht einen Unterschied, ob die lyrischen oder epischen Entwürfe des Subjekts im erhabenen Sujet des Hohen Minnesangs bzw. des höfischen Romans oder ob sie in der Pose eines lyrischen oder epischen Fortunatus scheitern. Konstatieren dürfen wird man eine Distanz zu den überkommenen Liebeskonzepten, die in ihrem ursprünglichen Kontext, dem Höfischen, eine andere Form der kulturellen Verbindlichkeit und Repräsen-
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tanz hatten. Man darf in dieser Hinsicht auch der nicht allzu komplex gestrickten Liebeslyrik der Zeit eine gewisse soziokulturelle Relevanz zugestehen. Ins Auge springt zumal die offene Divergenz von Weltsucht und Weltflucht. Festzuhalten bleibt außerdem der affirmative Duktus des contemptus mundi am Lied-Ende, dem wiederum ein parodistischer Grundton und die Künstlichkeit des Bricolage zuwiderlaufen. Ähnliche ästhetische Entwicklungen und Sinngebungsmuster sind auch in der Kunst der Zeit zu finden, man denke an die ihrerseits hybride Ikonographie oder auch an die destruktiven Tendenzen u. a. im erotischen Sujet.30 Diese sehr kursorische Auflistung möglicher soziokultureller Aspekte soll auch demonstrieren, daß wir hier nicht besonders konkret werden können. Das ergibt sich ja schon aus der Traditionalität der Texte, aus der Macht der Topoi, die sie konfigurieren, und schließlich aus der simplen Tatsachen, daß wir sie – was Pragmatik und Performativität betrifft – einer mehr oder weniger trivialen Unterhaltungskunst zuschlagen könnten. Das spricht nun aber gerade nicht gegen ihre kulturelle Signifikanz, und vielleicht kann man in diesem Zusammenhang allgemein von kompensativer Funktion reden, die dieser Lyrik zukäme. Jenes kritische Potential, das Bachtin dem Prosaroman zusprechen will, werden wir in ihr freilich nicht finden. Auch wenn wir somit insgesamt sehr pauschal bleiben müssen, scheint mir das theoretische Instrumentarium, mit dem wir operiert haben, analytisch zielführend, zumal es die analogen textuellen Strategien in Epik wie Lyrik der Zeit sowie die aus ihnen deduzierbare Kulturalität kenntlich werden läßt und unser theoretisches Sichtfeld im Bereich der Lyrik erweitert. Aber zurück zum literarästhetischen Befund: Natürlich repräsentiert unser Lied einen Idealfall lyrischer Hybridität. Angesichts der unterschiedlichen Motive, Themen und Register, die hier kurzgeschlossen sind, könnte man es mit einigem Recht als ein Liederbuch en miniature bezeichnen. Vielleicht darf man das mit dem Medium in Verbindung bringen: Wer diesen Einzeldruck besitzt, besitzt gewissermaßen ein ganzes Liederbuch.
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Vgl. Manfred Kern: Der verhuhnte Falke. Anmerkungen zur einer möglichen Ästhetik der spätmittelalterlichen Liebeslyrik. In: Neophilologus 86 (2002), S. 567-586, hier S. 576 f. und S. 580 f.
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IV. Der Druck datiert auf 1500, fällt also in die Mitte jenes Zeitraums, der uns interessiert. Wir könnten die beobachteten Phänomene freilich an früheren wie späteren Texten ebenso festmachen. Beispiele für Hybridität finden sich, wenn wir auf der Zeitachse nach hinten blicken, in der Liederbuchlyrik des 15. Jahrhunderts zur Genüge.31 Blicken wir nach vorne, so würden wir bei Georg Forster ebenso fündig werden wie bei Christoph von Schallenberg, außerdem im Venusgärtlein, einem barocken Liederbuch von 1656, und schließlich in Kaspar Stielers Geharnschter Venus von 1660. Ich komme auf diese Beispiele unmittelbar vor und nach der Epochengrenze des Barock zurück. Zuvor sei kurz auf die weitgehende Anonymität der Liederbuchlyrik vor allem des 15. Jahrhunderts eingegangen, wobei ich mich auf den Zusammenhang zwischen Anonymität und Heteroglossie/Hybridität konzentriere. Zum einen ist man bei einer oberflächlichen Lektüre dazu verleitet, den Anonyma einen höheren Grad an ‘unkontrollierter’ Heteroglossie zu attestieren. Die Texte scheinen, pauschal betrachtet, um vieles weniger konsistent als die, die uns die Autorencorpora überliefern, oder die, die unter dem Namen eines Autors in den Sammlungen zu stehen kommen. Freilich wäre dies erst im einzelnen zu verifizieren. Der Autorname bürgt ja nicht a priori für einen konsistenteren Text. Entscheidenderes zur Textregie leisten thematische und formale Bindungen wie in unserem Fall die Absage, traditionelle metaphorische Topoi wie das Falkenbild, Exordialmotive, Anaphern und Refrains. Zum anderen hat die Aufgabe der Autorencorpora als Ordnungsmodell innerhalb der Überlieferungsträger aber in einem weiteren Sinn Auswirkungen auf das Phänomen der Hybridität. Redevielfalt läßt sich ja nicht bloß als ein Phänomen des einzelnen Textes, sondern auch als eines der gesamten Sammlung denken. Lyrische Texte stehen nicht für sich, sondern in einem Ensemble, und dessen Organisation ist nicht prinzipiell beliebig. Im übrigen haben wir in der Redevielfalt eines lyrischen Corpus
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Ich habe dies an einigen Texten aus dem Liederbuch der Klara Hätzlerin und an den spätmittelalterlichen Falkenliedern zu zeigen versucht, vgl. Kern (wie Anm. 26) und meinen Aufsatz: “Lyrische Verwilderung”. Texttypen und Ästhetik in der Liebeslyrik des 15. Jahrhunderts. Erscheint 2004 in: Texttyp und Textproduktion. Beiträge des Durhamer Colloquiums vom 12.-16. September 2001. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon bei de Gruyter, Berlin.
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viel eher das Pendant zur Redevielfalt des Romans zu sehen als im lyrischen Einzeltext, und unter diesem Aspekt läßt sich Bachtins Wort von der monologischen Sprache der Poesie noch viel schlüssiger widerlegen. Die Autorkategorie leistet nun eine einfache, aber effektive Organisierung lyrischer Œuvres, etwa in Hinblick auf Korrespondenzen zwischen den Liedern.32 Als Paratext im Sinne Gérard Genettes33 wirkt der Autorname zumindest auf die Rezeption der Texte zurück, wie ja auch die Minnesangphilologie zeigt: Verwiesen sei auf die biographistischen Interpretationstendenzen bzw. auf die u. a. von Carl von Kraus gepflegten Versuche des Nachweises von Zyklen, deren Berechtigung oder Stichhaltigkeit uns hier nicht beschäftigen soll. Harald Haferland widmet in seiner genannten Studie denn auch ein zentrales Kapitel der Frage des Zusammenhangs der Ich-Stimmen innerhalb eines Autorcorpus.34 Wenn ich seine Grundthese richtig verstanden habe, so erklärt sich die Überlieferung des Autornamens und die Zusammenstellung der Lieder eines Autors zu einem Œuvre aus dem ‘Persönlichen’, das der Minnekanzone eingeschrieben sei. Ich selbst habe an Walther zu zeigen versucht, daß sich aus den unter einem Autornamen versammelten Minneliedern und aus den Korrespondenzen zwischen ihnen so etwas wie eine ‘Persona’ konstituiert.35 Im Unterschied zu Haferland möchte ich freilich darauf insistieren, daß es sich hierbei um eine poetische Konstruktion handelt, deren Charakter sich binnenliterarisch ausbildet. Dafür ist der über dem Œuvre stehende Autorname freilich ein Paratext von entscheidender Bedeutung: Zum einen bündelt er die zunächst für sich stehenden Einzellieder unter einem Namen, der bei Walther im übrigen dezidiert auch
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Eine ausführliche Analyse der Corpora in den großen Minnesang-Handschriften bietet Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995 (= Bibliotheca Germanica 32). Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1510). Haferland (wie Anm. 7), S. 91-125 (mit einer ausführlichen Kritik der älteren Zyklustheorien). Manfred Kern: ‘auctor in persona’. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide. Erscheint 2004 in: Walther von der Vogelweide. Beiträge der Zeiselmauerer Tagung vom September 2003. Hrsg. von Helmut Birkhan. Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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jener des sprechenden Ichs ist. Der Autorname leistet somit eine Konkretisierung, die es erlaubt, für das Ich eines Liedes von einem poetischen Subjekt zu sprechen, das – wie das auch Haferland zu Recht einmahnt36 – mehr vorstellt als ein bloßes Rollen-Ich. Dennoch bleibt die Persona eine literarische Konstruktion. Ihre konkrete Stimme erhebt sie daher auch nicht zufällig immer aus der Deckung einer verbindlichen, gewissermaßen kollektiven Topik. Dieser Topik gehorcht auch das, was Rüdiger Brandt Walthers “biographische Prätention”37 nennt. Die Persona des Minnesängers führt also ihre Existenz in einem eigengesetzlichen, genuin literarischen Raum, zu dem der Vortrag selbst zählt. Mit biographischen Realitäten und den Realien des Hoflebens hat das, wenn überhaupt, so zumindest nicht unmittelbar zu tun. Jedenfalls bedeutet der Autorname eine Ordnungskategorie, die a priori eine gewisse Homogenität des Œuvres erzeugt, auch wenn dieses Œuvre durch Redevielfalt gekennzeichnet ist: Hybridität im Sinne einer unter dem Autornamen orchestrierten lyrischen Redevielfalt weist das Corpus Walther ohnehin auf, sie wäre ebenso für Morungen wie für Reinmar, aber auch für das Corpus des Mönchs oder Oswalds zu postulieren. Am deutlichsten wird die systematisierende Funktion des Autornamens natürlich dort, wo eine Sammlung bewußt nach den Maßgaben einer quasi-biographischen und damit einer narrativen Ordnung angelegt wird, wie beispielhaft bei Dante und Petrarca. Die Autorkategorie dokumentiert zudem ein Kanonbewußtsein, das literarästhetische wie soziokulturelle Rückschlüsse erlaubt, wie u. a. am musealen und repräsentativen Charakter einer Sammlung wie jener der Manessischen Handschrift zu sehen ist. Daß ein an Autornamen gebundener Kanon auch performative Konsequenzen hat, zeigt ganz allgemein die Praxis des Meistersangs mit ihrem Bezug auf die entsprechenden Autoritäten und dem hermetischen Rahmen der Aufführungen. Was den Minnesang betrifft, wird man weniger optimistisch sein, was die Rekonstruierbarkeit einer ursprünglichen performativen Praxis angeht.38 Daß 36 37
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Haferland (wie Anm. 7), S. 26-37. Rüdiger Brandt: ‘ich sach, ich hôrte, ich bin, ich wolt’. Biographische Prätention und Thematisierung nichtöffentlicher Bereiche bei Walther. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989 (= Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 155-169. Man denke an Haferlands These vom nur einmaligen Vortrag der Minnekanzone (wie Anm. 7, S. 65-90).
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das Bewußthalten der Autorkategorie allerdings auf den performativen Vollzug zurückwirken muß, davon ist auszugehen. Mit dem Verzicht auf die Autorkategorie entschlägt sich ein Liederbuch solcher systematisierender Möglichkeiten. Implizite syntagmatische Beziehungen zwischen den Texten werden auf diese Weise a priori verdeckt,39 die Texte bieten eine paradigmatische Palette lyrischer Redeweisen, Gattungen und Stile. Das serielle Prinzip, das den Liedtext im 15. und 16. Jahrhundert generell dominiert, ist auch ein Prinzip der Sammlung. Der integrierende Charakter des hybriden Liedes spiegelt sich in der hybriden, heteroglotten Anlage der Liederbuchsammlungen. Die Vereinzelung der Texte erhöht den Eindruck der kontingenten Zusammenstellung der Sammlungen. Redevielfalt erscheint als nicht orchestriert, auf der Ebene der Sammlung gedacht erweist sich Hybridität im Bachtinschen Sinne also nicht als bewußt organisiert, sondern als bloße ‘Vermischung’.40 Dies mag einer performativen Praxis entsprechen, die in Hinblick auf literarästhetisches Bewußtsein wie soziokulturelle Repräsentation keine klaren Beschränkungen kennt, sondern den situativen Gebrauchswert der Lieder dokumentieren könnte. In diesem Zusammenhang ist natürlich darauf hinzuweisen, daß die beiden Sammlungstypen keine historisch festen Modelle darstellen: So liegt uns etwa in den Carmina burana eine anonyme Sammlung aus dem frühen 13. Jahrhundert vor.41 Auf einen anderen Aspekt von Autorschaft und Anonymität konzentriert sich Gert Hübner. Er weist darauf hin, daß das fehlende Interesse an der Kategorie des Autors eine bewußte und reflektierte Auseinandersetzung mit Autoritäten und den von ihnen repräsentierten Liebeskonzepten ausschließe.42 Imitatio und aemulatio bedürfen der auctoritas. Hübner
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Ein luzides Beispiel hierfür gibt etwa Lied I.104 des Liederbuchs der Klara Hätzlerin (Hrsg. von Carl Haltaus. Mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966 [= Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters]), das zwar deutlich auf I.53 antwortet, der Bezug wird durch die Anordnung der Sammlung freilich mehr als verdunkelt; hierzu Kern (wie Anm. 31). Vgl. Bachtin (wie Anm. 12), S. 244 ff. mit der Unterscheidung von “bewußten” und “unbewußten Hybriden”. Von diesen beiden unterschiedlichen Sammlungstypen somit auf exklusive, historisch und kulturell eingrenzbare Formen der Performanz und auf ihre spezifische soziokulturelle, rituelle oder gar lebenspraktische Funktion zu schließen, wäre daher problematisch. Hübner (wie Anm. 11), S. 164 und S. 176 f.
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erkennt in deren Fehlen eine wesentliche Ursache für die integrative stilistische wie thematische Vielfältigkeit, die die deutsche Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts kennzeichne und die Beharrungskraft dieses ‘mittleren Systems’ erkläre.
V. Mit Hübners Begriff vom ‘mittleren System’ kommen wir abschließend zur Frage der Periodisierung, wobei ich mich nur auf den Übergang zum Barock konzentriere. Es wäre lohnend, wenngleich um vieles schwieriger, Möglichkeiten der Periodisierung innerhalb der Lyrik des in Frage stehenden Zeitraums zu reflektieren. Ich will zunächst eine kurze Kritik am Terminus ‘mittleres System’ versuchen. Seine Einführung bei Hübner ist an Klaus W. Hempfers Ausführungen zum Systemwandel in der europäischen Lyrik vor und nach 1600 orientiert.43 Hempfer geht von drei Systemen aus, die die Renaissancelyrik kenne: das petrarkistische, das neuplatonische und das antikisierende (oder antik-hedonistische), die zugleich drei unterschiedliche Liebeskonzepte transportieren. Das Ende der Renaissancelyrik werde dabei durch das Phänomen der ‘Pluralisierung’ herbeigeführt, also der synkretistischen – mit Bachtin würden wir sagen: der hybriden – Verbindung der drei Systeme. Diese Konstruktion wäre nun für sich auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Was Petrarca betrifft, so wird man einerseits darauf hinweisen müssen, daß sich sein System nur bedingt systematisch ausnimmt, da es selbst in hoher Weise inklusiv ist, wenn man etwa an den eminenten Bezug auf Dante denkt und in der erotischen Motivik eine Schulung an dem, was Hempfer das antik-hedonistische System nennt, zweifelsohne gegeben ist. Zudem stellt sich die Frage, ob sich ein so streng gefaßtes petrarkistisches System jenseits von Petrarcas Œuvre nachweisen läßt, wenn dies denn überhaupt dort möglich ist. Die poeti43
Klaus W. Hempfer: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 69, N. F. 38 (1988), S. 251-264; vgl. auch ders.: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard). In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33), S. 7-43.
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sche Praxis scheint mir somit keineswegs in jene Falle zu tappen, die ihr der definitorische Optimismus des Theoretikers aufgestellt hat. Auch das bezeichnet eine Grenze der Theorie. In seinem Bezug auf Hempfers Konzept exklusiver lyrischer Modelle ist Hübners Begriff vom ‘mittleren System’ nicht ohne Ironie. Denn wenn man die Palette lyrischer Register bedenkt, die die deutsche Liebeslyrik von 1400 bis 1600 kennt, und wenn man die hybriden Kreuzungen berücksichtigt, die uns unser Beispiel vorführte, so wäre jene Pluralisierung, von der Hempfer redet, in ihr längst vorweg genommen. Dies freilich nicht im Sinne einer Vermischung der drei Hempferschen Systeme, sondern in Hinblick auf die aus der hochmittelalterlichen Lyrik kommenden Gattungsmodelle und natürlich auf populärem Niveau. Wenn ich Hübner richtig lese, so ist nun sein ‘mittleres System’ in Abgrenzung zu Hempfer zu verstehen: als ein viertes, sozusagen populäres, ‘subliterarisches’ System, das unbehelligt von Hempfers ‘hochliterarischen’ und ‘internationalen’ Systemen der romanischen und neulateinischen Literaturen seine Existenz in deutscher Sprache führte. Wichtig für die Abgrenzung sind natürlich der Aspekt der Medialität – Liedlyrik versus Leselyrik – sowie grundsätzliche ästhetische Kategorien wie eben Anonymität auf der einen, auctoritas und Autorschaft auf der anderen Seite. Was Hübners Begriff so anziehend macht, ist natürlich die Griffigkeit der periodischen Formel, die er impliziert: Altes System, mittleres System, neues System.44 Das leistet nicht nur eine luzide Periodisierung, sondern nabelt das ‘mittlere System’ vor allem vom älteren System ab, von der hochmittelalterlichen Liebeslyrik. Die Grenze zur barocken Leselyrik braucht ohnehin nicht affirmiert zu werden. Sie ist – wie Hübner selbst betont45 – in der Germanistik ja geradezu institutionell verankert, was bekanntermaßen dazu geführt hat, daß sich weder Altnoch Neugermanistik für diese Lyrik sonderlich zuständig fühlten (ganz abgesehen von dem notorischen Topos, für die Liedlyrik des Zeitraums eine interdisziplinäre Beschäftigung von Literatur- und Musikwissenschaft einzumahnen – mit dem Effekt, daß beide Disziplinen den Ball 44
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Die Schlagkraft der im Begriff intendierten Periodisierung mag dabei aus der Sicht des Mediävisten gegeben sein. Ob sich die Neugermanistik mit einem aus ihrer Sicht zeitlich sehr weit gefaßten Begriff des “neuen Systems” abfinden könnte, sei dahingestellt. Hübner (wie Anm. 11), S. 137 ff.
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eher aneinander abtreten, als ihn sich zuzuspielen). Dies impliziert, wie ja auch Hübner im Resümee betont, die Aufforderung, die Liebeslyrik von 1400 bis 1600 als einen lohnenden Forschungsgegenstand wahrzunehmen, sie nicht einfach als ‘Afterlyrik’ eines heroischen Minnesangzeitalters zu verstehen, als Herbst des Mittelalters, aus dem kein Frühling folge. Verbindung hält der Terminus schließlich zu jenem der ‘mittleren Literatur’, der ja mit mehr oder weniger Fortune nach einer Institutionalisierung in der Germanistik strebt. Bei aller Produktivität bleibt aber dennoch die Gefahr, daß die Implikationen zumal des Systembegriffs zu einem schematischen Denken verleiten. Er suggeriert a priori eine Abgeschlossenheit, die m. E. nicht gegeben ist. Texte wie Sammlungen, die wir Hübners ‘mittlerem System’ zuordnen können, repräsentieren ja weniger ein systematisches Ensemble von Gattungstypen denn ein Fluidum lyrischer Möglichkeiten. Greifen wir hierfür das Phänomen der Hybridität wieder auf und schließen wir an unsere Überlegungen zur Anonymität an: Hübner erprobt sein Konzept an der Liedsammlung Christophs von Schallenberg, die am Ende einer Periode des ‘mittleren Systems’ zu liegen käme. Rein typologisch betrachtet, fügt sich Schallenbergs Sammlung, das wollen Hübners Ausführungen ja demonstrieren, gut in die Reihe der Liederbücher. Dennoch scheint ihr eine neue Qualität zu eignen, die wir u. a. am Autornamen, der über der Sammlung steht, ermessen können. Hier erweist sich ein Autor in ein und derselben Handschrift46 nicht nur zweier ‘Systeme’ – des neulateinisch-humanistischen wie des ‘mittleren’, volkssprachlichen – mächtig, sondern läßt die Grenzen auch durchlässig werden. Er verarbeitet – zugegeben triviale – petrarkistische und antik-hedonistische Topik auch in seinen deutschen Liedern. In der Metaphorik Bachtins gesprochen leistet Schallenbergs Corpus eine neue Orchestrierung lyrischer Redevielfalt: Zum einen in der Vereinigung lateinischer und deutscher Lyrik,47 zum zweiten in den Interferenzen zwischen beiden 46
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Daß die Handschrift als Sammlung eines Œuvres konzipiert ist, erweist sich darin, daß die beiden Schreiber beide Corpora – das lateinische wie das deutsche – zu Papier bringen. Zum Nachleben Schallenbergs in Zingcrefs Anthologie ebd., S. 184 f. Daß auch Humanisten deutsche Liedlyrik praktizierten, hat Volker Mertens in seinem Vortrag “Was Humanisten sangen” im Rahmen der Tagung “Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit”, Hofgeismar, 6.-10. September 2003, dargestellt. Ein Beispiel gibt etwa das Schedelsche Liederbuch, hierzu Martin Kirnbauer: Hartmann Schedel und sein “Liederbuch”. Studien zu einer spätmittelalterlichen Musikhandschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm
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Teilen und zum dritten in Hinblick auf eine neue Geschlossenheit und Stringenz auch jener deutscher Liedtypen, die der Tradition der Liederbuchlyrik folgen. Im Vergleich zu Opitz bleibt Schallenberg natürlich auf halbem Wege stehen. Die deutsche Sprache ist bei ihm noch nicht das Medium einer ‘hochliterarischen’ lyrischen Gattung geworden. Er bleibt, wie Hübner luzide darstellt, beim inklusiven mittleren System. Unter dem Aspekt der Redevielfalt bedeutet die neue Dominanz der mythologischen und rhetorischen Formen italienischer und lateinischer Renaissancelyrik aber doch eine auffällige Verschiebung. Was Schallenberg freilich nicht aufgibt, ist ein Phänomen, das wir in Anlehnung an Erwin Panofskys Formel zur Antikerezeption des Mittelalters das “Prinzip der Disjunktion” nennen können.48 Disjunktion meint die Trennung von antiker Form und antiken Inhalt: Die mittelalterliche Antikerezeption präsentiert antiken Inhalt entweder in mittelalterlicher Form oder antike Form mit mittelalterlichen Inhalt. Die Venus des Trojaromans erscheint in mittelalterlichem Gewand, die formal antike, schaumgeborene nackte Venus aber symbolisiert Luxuria. Analog präsentiert Schallenberg petrarkistische Formeln nicht in Sonetten und kreuzt antike oder antikisierende Topik in formal traditionelle deutsche Lieder ein. Schallenbergs Übertragungen aus dem Italienischen, die auch formal dem Vorbild folgen, fügen sich wiederum harmonisch ins Œuvre, treten nicht in Widerspruch zu den traditionellen deutschen Typen. Was im übrigen den inklusiven Charakter des mittleren Systems oder anders gesagt: dessen unsystematische Hybridität dokumentiert. So könnte man – und das ist ja auch Hübners Befund – in Abwandlung eines Bonmots von Volker Meid49 sagen: Von Schallenberg führt kein Weg zu Opitz. Alles andere würde auch bedeuten, die fundamentalen medialen und ästhetischen Unterschiede – Leselyrik, dezidierte aemulatio und nicht zuletzt die begleitende neue Poetik – zu negieren. Kontinuität im eigentlichen Sinn kann auch deshalb nicht gegeben sein, weil Opitz
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810) und ihrem Kontext. Bern [u.a.] 2001 (= Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft Serie 2, Bd. 42). Die Überlieferung von lateinischer Lyrik und deutschem Lied läuft allerdings bis Schallenberg weitgehend getrennt. Erwin Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. Übersetzt von Horst Günther. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1996 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 883), hier S. 90. Volker Meid: Barocklyrik. Stuttgart 1986 (= Sammlung Metzler 227), S. 4: “Es führt kein Weg von Hans Sachs zu Martin Opitz oder Andreas Gryphius.”
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von Schallenberg nichts wußte. Dennoch scheint manches, was erst Opitz einlöst, bei Schallenberg im Schwange. Ich wäre somit etwas optimistischer als Hübner, was die nach vorne, in die Barocklyrik weisende Dynamik des ‘mittleren Systems’ betrifft. Zu Recht mahnt Hübner im Fazit seiner Ausführungen (S. 186) ein, daß das ‘mittlere System’ für sich literaturwissenschaftliches Interesse verdiene. Auch wird man von der alten Frage nach den “Leistungen des Liedtexts für das Gedicht” wegkommen müssen. Blickt man in die Barocklyrik, so nimmt sich deren ‘neues System’ allerdings keineswegs so hermetisch aus, wie es die Konzentration auf Opitz suggeriert. Ein Satz wie jener, daß “die neue Lese-Liebeslyrik seit den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts […], unbeschadet ihrer historischen Leistung, auch Züge des Verlusts und der Verengung” trage (ebd.), kann beispielhaft für die erfrischende Umkehr der Perspektiven stehen, die Hübners Aufsatz leistet. So leicht ist der Spieß freilich nicht umzudrehen, wenn man nach Ausläufern des mittleren Systems im neuen sucht. Reflexe in der Topik können wir etwa noch bei Hofmannswaldau ausnehmen.50 Sammlungsund Liedertypen des 16. Jahrhunderts sind im 17. keineswegs aufgegeben. So sind etwa im sogenannten Venusgärtlein traditionelle und neue barocke Register wie beispielsweise das Schäferlied in einer Weise vereint, die der Redevielfalt unserer Liederbücher in nichts nachsteht.51 Ein noch interessanterer Fall scheint mir allerdings Kaspar Stieler (1632-1707). Stieler steht eindeutig in der Tradition barocker Dichtungsund Sprachtheorie, Stil- und Schriftenlehre. Er verfaßte unter anderem die Teutsche Sekretariat-Kunst (1673/74) und einen Teutschen Sprachschatz (1691) sowie die sogenannte Poetik des Spaten, die allerdings
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Zum Beispiel im vanitas- und puella-bella-Topos von Hoffmannswaldaus bekanntem Sonett. Vergänglichkeit der schönheit; hierzu Kern (wie Anm. 31). Die Sammlung war mir bloß in folgender unzureichender Ausgabe zugänglich: Venus=Gärtlein. Oder viel schöne außerlesene weltliche Lieder [Hamburg 1656]. München 1921. Ein Beispiel für Hybridität im Bereich der Metaphorik und für Reflexe des ‘mittleren Systems’ im ‘neuen’ gibt etwa das Lied Wer sich auf das Wasser begibt (S. 9; vgl. den Textabdruck im Anhang). Dieses Werbelied geht von der Schiffahrtsmetaphorik aus (Str. 1), wechselt dann ins Sujet der Schäferlyrik, in der sich die nautischen Bildtopoi denkbar unpassend ausnehmen (bes. Str. 4: “Ich werff mein Ancker wol über die Bort, ach schönste Schäfferinn”). Reminiszenzen des alten Jagdallegorems finden sich in Str. 5. Die alten Klaffer verbergen sich in den “falschen Zungen”, die in der sechsten, geleithaften Strophe eher unvermittelt auftreten.
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nicht gedruckt wurde.52 Seine unter dem Pseudonym Filidor der Dorfferer veranstaltete Liedsammlung Die Geharnschte Venus. Oder Liebes= Lieder im Krieg gedichtet wurde 1660 in Hamburg gedruckt.53 Der Titel zielt, wie die Vorrede erklärt, auf zweierlei: Zum einen darauf zu zeigen, “wie die Heer-Trompete nicht so gar alle Musen verjagen könne”. In den Harnisch steckt Stieler seine Venus zum anderen, weil sie einen durchaus niederen, derben Ton anschlägt. Und hier finden sich nun deutliche Spuren des ‘mittleren Systems’. Dies ist u. a. am fünften Lied des “fünften Zehens” (d. h. Abschnitts) zu zeigen. Es trägt den Titel Besser ruhig lieben / als mühsam Kriegen54 und formuliert auf exemplarische Weise die Idee der Sammlung: Stieler setzt hier im Genre der Idylle den Lebensentwurf des gloriosen Feldherrn gegen den des einfachen, friedfertigen und liebesseligen Schäfers. Die Gegenüberstellung hat eine lange Tradition, die u. a. auf Tibull zurückreicht, dessen Topik das Lied auch verarbeitet.55 Es leistet mit einfachen Mitteln eine nicht bloß aufgesetzte, sondern durchaus essentielle Kritik am gloriosen Bild des Imperators, wenn es den Krieg in “Plutos Pfühle” verdammt und in der letzten Strophe deutlich macht, daß es nicht das Gold ist, das von der Rüstung des Feldherrn glänzt, sondern das frische glitzernde Blut. “Fahret hin ihr Bluth=besprengten Sieger!” – das zeigt uns, was das scheinbar harmlose Genre des Idylls leisten kann. Uns soll aber vor allem die fünfte Strophe interessieren, die gegen die imperiale Glorie den Entwurf des Schäferlebens setzt. Da heißt es: Gerne will ich bey dir pflue gen / gern’ auff harten Gersten-stroh / 52
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Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs / oder Teutscher Sprachschatz [etc.] gesamlet von dem Spaten. Nürnberg: Joh. Hofmann. Gedruckt zu Altdorf / von Heinrich Meyern, 1691; Teutsche Sekretariat-Kunst [etc.]. Entworffen / in vier Theile gesondert / und zur Mitbeförderung gemeinen Nutzens / heraus gegeben von dem Spathen. Nürnberg / In Verlegung Johann Hofmann [...]. Gedruckt zu Weimar / durch Joachim Heinrich Schmidt. M.DC.LXXXIII. Hierzu Kirsten Erwentraut: Briefkultur und Briefsteller – Briefsteller und Briefkultur. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München, Wien 1999 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 266-285, hier S. 273-275. Kaspar Stieler: Die Dichtkunst des Spaten (1685). Hrsg. von Herbert Zeman. Wien 1975 (= Wiener Neudrucke 5). Zu Druck und Ausgaben vgl. Anm. 9. Textabdruck im Anhang. Vgl. Tibull I.2 (bes. V. 69-76), Hinweis in der Ausgabe Zemans (wie Anm. 9), S. 69.
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liebstes Kind / Karille / liegen / gerne dreschen / hoe lzen: wo ich bey dir nur moe ge leben und zur Zeit ein Kue ßgen geben.
Daß mit ‘pflügen’, ‘dreschen’ und ‘hölzen’ nicht einfach die entsprechenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten gemeint sind, läßt sich leicht erahnen. Im Sinne lyrischer Redevielfalt wollen wir festhalten, daß Stieler mit dieser agrarischen Metaphorik auf Bildbereiche zurückgreift, wie sie die Liederbuchlyrik schon im 15. Jahrhundert kultiviert.56 Zu betonen ist nochmals, daß gerade Stieler als versierter Kenner und Teilhaber nicht nur an barocker Liedkunst, sondern an barocker Poesie und Dichtungslehre zu verstehen ist. Sein Beitrag zu einem ‘neuen System’ weist dieses jedoch als in ähnlicher Weise inklusiv aus wie das sogenannte mittlere. Nicht zufällig ist Stielers Sammlung natürlich ein Liederbuch. Als solches hält es aber eindeutigen Kontakt zu den ‘Errungenschaften’ barocker Leselyrik. So können wir abschließend sagen, daß es auch im Barock nicht bloß das ominöse Volk ist, das die Lieder singt, in denen das mittlere System weiterlebt, sondern die mehr oder weniger ‘hohe’ Literatur selbst. Horst Brunners jüngster Aufsatz zur Liedlyrik des 16. Jahrhunderts beginnt mit dem Hinweis auf die in Fischarts Geschichtsklitterung einfließenden Lieder. Wenn wir auch den Simplicissimus noch “Buhlenlieder” singen hören,57 so erweist er sich hierin eher als Adept des mittleren als des neuen Systems. Die Epochenschwellen sind durchlässig, die Fugen tragen, man muß sie nur sehen. Achten wir auf die Redevielfalt in der Lyrik des Barock, so vernehmen wir auch hier die Stimme des mittleren Systems, und es erweist sich die Literatur als bei weitem nicht so vergeßlich, wie dies die Germanistik – man denke an Heinz Schlaffers zu kurz gegriffene kurze Geschichte der deutschen Literatur58 – glauben will. So wäre denn auch der Begriff des ‘mittleren Systems’ weniger von dem Aspekt her zu denken, was die Lyrik des ausgehenden 16. Jahrhunderts 56 57
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Herchert (wie Anm. 21), bes. S. 101 ff., 123 f. und 143 f. So im 18. und im 21. Kapitel des dritten Buches: Grimmelshausens Werke in vier Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Siegfried Streller. Erster Band. Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Erstes bis drittes Buch. 5. Aufl. Berlin, Weimar 1984 (= Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar), S. 289 und S. 299. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002.
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noch nicht ist, sondern woran die Lyrik des 17. Jahrhunderts noch immer festhält und worin Poesie generell das ‘Systemische’, das die Philologie so gerne vorfindet, immer schon transzendiert. Die Pluralität der Texte wie der literarhistorischen und literarästhetischen Prozesse weist uns deutlich auf die Grenzen der Theorie, zugleich erkennen wir an der Fruchtbarkeit etwa des Bachtinschen Konzepts der Hybridität, wie theoretische Perspektiven die vertrauten philologischen Konstruktionen auf durchaus präzisem deskriptivem Niveau neu denken lassen. Insofern erschiene gerade die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Lyrik als geeignetes Terrain neuer, mithin auch unkonventioneller theoretischer Zugänge, würden sich die hybriden Texte gut mit einer ‘wilden’ Theorie vertragen.
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AnhangAbbildung nach Schramm (wie Anm. 19) Ein hübsch lied zuo singen jm schwartzen Ton von den schön frowen. (Text nach Deutsche Lyrik, Bd. 3, wie Anm. 19)
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[Str. 1] Jch was eim hübschen fröwelyn vß der massen holt / sie was mir lieber dan das silber vnd das rote golt / mir geschach nie leyder dan do jch von jr scheiden solt / jch meinet es müst mein ende sein / wol zuo den selben stunden. Jch sprach schönes lieb das soltu lassen geniessen mich / das jch dir manigen heimlichen plick so nach sych / vnd laß die falschen zungen nit verwisen dich / jch sprach schöns lieb jch hab dich vor jn eytel tugent funden. Mein liep das sprach jch wil mich von dir scheyden / da jch das hort do gschah mynem hertzen nie so we / alle myne sinn zerschmoltzen mir recht wie der schne / mein hertz wolt mir er-
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truncken sein in leides se / was iederman der fröden genoß / des müst jch sein in leide. [Str. 2] Jch sprach schönes liep des soltu mich geniessen lan / das jch dir manchen trüwen dienst dick han gethon / sie sprah es hilfft dich nit / es muo ß ein ende han / die liebe die ist gantz nu ab / nim an dich ein münches orden. Jch sprach schönes lieb du hast frefenlichen mir verseit / nu wust ich gern wie jchs vmb dich verdienet het / sol jch verlieren lieb vnd trüw vnd stetikeit / nymer pfenning nymer geselle / nu bistus jnnen worden. Sie sprach jch hab dir suber vßgetroschen / dar vmb so bistu worden mir sogar vmer / wo du hin griffest so ist der seckel alweg ler / jch sprach schöns lieb büß mir mein kommer vnd mein swere / sie sprach dein herrschafft die ist kranck / dein kolen seint verloschen. [Str. 3] Welcher guo ter gesell wil hübscher frowen pflegen / die künden eim den stob wol vß dem seckel fegen / von jn würt er begossenn mit des spottes regenn / also ist beschehen mir / von meinem buo len zarte. Künig alexander künig dauid hab ich gehört / könig Artus Sampson wurden beid von frowen betörte / Salomonis wißheit hat ein frow gar balt zerstört / das brieff jch an aristoteles / den ritt ein wyb jn garten. Adam was der wisest man jm hertzen / dem ist das aller grost von seinem wyb beschehen / das muo ß noch mir die liebe hie helffen jehenn / es wert fünfftusent jar / wart jm nit vber sehen / des muo st er jn die helle farn / biß ckristus leyd sein schmertzen. [Str. 4] Es ist nit wunder das mich ein wyb hat betrogen / her filigus het sich tieff jn meres grund geschmogen / er meint sein wyb / sy solt jn han herusser zogen / er gab jr ketten jn die hant / sie warf sie ab zuo grunde. Her filius was gar ein lystig man / er nam zuo jm ein hund ein katzen vnd ein han / er wust auch wol das mer das nit gedulden kan / er dot die katz das mer was hie / vnd warff jn vß zu stunde. Do jm got halff nu wider vff das lande / er sprach nu sych wie wolt mir han mein wyb getone / zuo der jch mich mynes libs het eins teils verlon / wie wolt sie mich so lesterlich verderbet han / dar vmb so truwe jch jr nymmer jn keiner dinge hande. /
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[Str. 5] Recht lieb vnd trü die ist an mancher frowen clein / das jst an meyster filius wol worden schein / vnd auch an mir / jch clag mich von dem buo len mein / an der hab jch mein stetikeit so lesterlich verloren. Dar vmb so wil jch ein andern vsserkiesen / an der jch lieb vnd stetikeit nit mag verliesen / sie heißt mary vnd ist ein himelische dirn / zuo der so hab jch mich verpflicht / zum buo len vsserkorn /. Het jch das thon jn mynen jungen tagen / vnd wer alle zyt jn jrm dienst belyben / vnd het stetigklichen von der welt geschriben / so wer mir etwan glück vnd heil dest me bliben / so dörfft min hertz nit also swer / vmb meine sünde clagen. [Str. 6] Jch han der welt gedienet vnnd förcht jch lang zuo vil / vnd hab doch nit gedaht wol an das harte spil / vnd das jch weiß meins tages kein ende / vnd ouch kein zil / vnd dar zuo kein sicherheit / miner zyt kein halbe vre. Jch leg mich nachtes nyder frisch vnd bin gesund / vleicht so stirb jch vnd würt mir der dot bekunt / was hilft mich dan meinß lieben buo len roter munt / der jch so lang gedienet hab / das lyt mein hertz jn truren. Es sol vnd muo ß mich myn glück ymer rüwen / das jch myn jungen tag so übel han an geleyt / jch han mein bicht jn keiner warheit nie geseit / jch han mich zuo dem sacrament nye recht bereit / jch han mein buo ß gehalten nie / in keiner hand getrüwen. [Str. 7] Jch han mich in der welt liebe dik gefrumpt / jch hab durch liebe kirchen vnd strassen dick geroumpt / jch han durch liebe manche liebe meß versumpt / jch han durch liebe leyder dick des waren gotz vergessen. Jch hab durch liebe geflohen dick die predig ser / jch hab durch liebe gefolget nit der priester ler / jch han durch liebe gegangen manchen wilden ker / jch han durch liebe manchen krumen weg so lesterlich gemessen. Jch hab mich jn der welt liebe so gar verwunden / dar vmb jch sing vnd bitt ouch crist von himel riche / das er sich genediglich erbarme vber mich / über alle crist geloubige selen des bitt jch dich / send vnß din genade / laß ab dynen zorn / hilf vnß zuo allen stunden.
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Venusgärtlein, S. 9 (wie Anm. 52) 1. Wer sich auff das Wasser begibt, und nicht versteht den Wind, wer sich in der Lieb befind, und sich nicht recht be= sinnt, der frage nur nach Venus=Gewalt, sie wirds ewr Liebe sagen bald, ey ja sie weis es wol. 2. Grüß dich Gott Allerliebste mein, durch Amarillis Ge= walt, heimliche Pfeil die muß ich leyden, eh denn ich sterbe bald, aber mir könt leichter geholffen seyn, wenn du nur giebst den Willen darein, Hertzallerliebste mein. 3. Tag und Nacht muß ich mich quäln, wohl umb den Wil= len dein, wenn es aber könt geschehn, daß ich möchte bey dir seyn, ey fürwar und noch fürwar, ich hab dich lieb und das ist war, das Glück, das kömpt mir wol. 4. Ich werff mein Ancker wol über die Bort, ach schönste Schäfferinn, wil es nicht haltn so muß ich fort, meins Bleibens ist nicht hier, mein Siegel die muß ich lassen streichen, ach wenn ich dich nu könt erreichen, Hertzaller= liebste mein. 5. Wer kan siegeln ohne Wind, und hat kein Siegel nicht, wer kan jagen ohne Hünd, unnd hat kein Winde nicht, so müssen die Augen die Winde seyn, das Hertz das muß der Jäger seyn, so sag ich wenn ich wil. 6. Tausendmahl und noch viel mehr, unnd so viel guter Stunden, sey dir schöns Liebchen diß Liedlein verehrt, trotz allen falschen zungen, ey hab ich doch all mein Tag gehört, in der Lieb wird manch junges Hertz bethört, Ade, Ade, O weh.
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Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus (wie Anm. 9) Fue nfftes Zehen V. Besser ruhig lieben / als mue hsam Kriegen. 1. Eh ich wolte deiner missen / Karilis / mein schoe nstes Licht / eh mir / deinen Mund zu kue ssen / ferner solte werden nicht: wolt’ ich eh / daß alles Kriegen mue st’ in Pluto Pfue len liegen. 2. Solt’ ich gleich mit Sieges-Zweigen fahren zum Kapitolin / auff den goe ldnen Wagen steigen / durch Kapenens Pforte ziehn / mit der Roe mer Schaar umgeben die mich / Sieger / hiesse leben. 3. Solt’ ich tausend Stae te haben / fue rchte mich der Szyten Land / e stund’ ein Koe nigreich Araben und der Nil’ in meiner Hand / Solt’ ich Indien beherschen / ehrte mich das Reich der Persen: 4. Wolt’ ich doch ohn dich Karille / alles schlagen in den Wind: Besser bey dir in der Stille: als wo Kron und Zepter sind / die man mit Unruhigkeiten muß erhalten und bestreiten. 5. Gerne wil ich bey dir pflue gen / gern’ auff harten Gersten-stroh / liebstes Kind / Karille / liegen / gerne dreschen / hoe lzen: wo
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ich bey dir nur moe ge leben und zur Zeit ein Kue ßgen geben. 6. Fahret hin / ihr eiteln Krieger / Hochmuth / Beuten / fahret hin / hin / ihr Bluht-besprengten Sieger! Lieb’ und Ruh ist mein Gewinn. Forthin wil ich bey den Schaffen / forthin bey Karillchen schlaffen.
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Johannes Kandler WIE KLINGT DIE LIEBE? Anmerkungen zur Wechselwirkung von Musik und Text im Lochamer-Liederbuch Abstract Die Untersuchung der Wechselwirkung von Musik und Text beschränkt sich für die Zeit des Mittelalters auf rhythmische Aspekte bzw. die Möglichkeit, durch markante melodische Elemente (Melisma, Intervall, clausulae u. a. m.) Textpositionen wie Versund Strophenende zu markieren. Gestaltungsverfahren im semantischen Bereich, wie sie etwa in der musikalischen Figurenlehre, der Motette des Spätmittelalters oder der musikalischen Dichtung des 19. Jahrhunderts begegnen, sind bislang nur vereinzelt untersucht worden. Der Beitrag stellt ein Analyseverfahren vor, das sich an den Kategorien Raum, Zeit und Bewegung orientiert und es ermöglicht, Wechselwirkungen von Musik und Text unter semantischen Gesichtspunkten systematisch zu erfassen. Als Beispiele dienen zwei einstimmige und zwei zweistimmige Lieder des LochamerLiederbuchs. Die Analyse konzentriert sich auf die Kategorie der Bewegung und zeigt, daß das Text-Musik-Gefüge vereinzelt ‘expressiv’ gestaltet werden kann, in jedem Fall aber Text und Musik zugunsten der Erzeugung signifikanter Schwerpunkte gezielt aufeinander abgestimmt werden können.
Das Lochamer-Liederbuch ist in der Mitte des 15. Jahrhunderts in Nürnberg entstanden; als Zeitraum kristallisieren sich die Jahre 14511453 heraus. Es weist als Grundbestand 44 deutsche Lieder und ein mittelniederländisches Chanson auf. Die meisten Lieder besitzen eine einstimmige Melodie mit Mensuralnotation, aber auch zwei- und dreistimmige Gesänge sind in der Sammlung enthalten. An Dichterpersönlichkeiten ist Oswald von Wolkenstein ebenso vertreten wie der Mönch von Salzburg; zahlreiche Lieder haben den Hauptschreiber der Handschrift zum Autor. Auch wenn sich Kontrafakturen nachweisen lassen,1 so handelt es sich doch bei etwa der Hälfte aller Lieder um Unica. Mit Liedern wie Des klaffers neiden, einer Minneklage über die Gerüchte der ‘merkaere’, oder
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Vgl. Christoph Petzsch: Lochamer-Liederbuch. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 5 (1985), Sp. 889-890.
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Der walt hat sich entlaubet enthält das Lochamer-Liederbuch insgesamt fünf Beispiele für mehrstimmige Lieder deutscher Sprache nördlich des Alpenraums.2
I. Bewar dich got, ich far dohin von dir mit (ge)ringem herzen. acht nit mein, (wann) ich acht auch nimmer dein! ich waiß (mir) ein anders (hübsches) frewelein, das wendet mir all mein smerzen. (h)ab urlaub du alter flederwisch.3
Das Thema dieser Verse ist, wie sich unschwer erkennen läßt, die Liebe, in ihrer hoffnungslosen und enttäuschten, aber auch in ihrer sehnsuchtsvollen Form. Die Sprechersituation ist dabei geprägt von der Klage eines Mannes über die von ihm verehrte Dame, von dem Verlust der Zuneigung und der Aufkündigung der Freundschaft. Soweit der Text. Wie aber k l i n g t die Liebe? Und was hat es eigentlich mit der Wechselwirkung von Musik und Text auf sich? Wie ist die Art ihrer Untersuchung und Beschreibung? Da die Anzahl der Beiträge zum Thema der Wechselwirkung von Musik und Text zu hoch ist,4 um ausführlich besprochen zu werden, 2
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Vgl. Petzsch (wie Anm. 1), Sp. 890; Christoph Petzsch: Das Lochamer-Liederbuch. Studien. München 1967 (= Münchener Texte und Untersuchungen 19). Es liegt eine Faksimileausgabe vor: Lochamer-Liederbuch und das Fundamentum organisandi von Conrad Paumann. Hrsg. von Konrad Ameln. Kassel u. a. 1972. Es sei auch auf die kritische Ausgabe verwiesen: Das Lochamer-Liederbuch. Hrsg. von Walter Salmen (Melodie) und Christoph Petzsch (Text). Wiesbaden 1972 (= Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Neue Folge 2). Die Text- und Melodieangaben folgen der kritischen Ausgabe von Salmen und Petzsch (wie Anm. 2), hier Nr. 13, Str. IV. Vgl. etwa Burkhart Kippenberg: Der Rhythmus im Minnesang. Eine Kritik der literarund musikhistorischen Forschung mit einer Übersicht über die musikalischen Quellen. München 1962 (= Münchener Texte und Untersuchungen 3); Ritva Jonsson, Leo Treitler: Medieval Music and Language: A Reconsideration of the Relationship. In: Studies in the History of Music I: Music and Language. New York 1983, S. 1-24; Don Harrán: On the Question of Word-Tone-Relations in Early Music. In: Musik und Text in der Mehrstimmigkeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Vorträge des Gastsymposions
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beschränkt sich der nachfolgende Forschungsüberblick auf das Notwendigste. Die Analyse der Wechselwirkung von Musik und Text teilt sich grundsätzlich in zwei, zunächst aus heuristischen Gründen voneinander getrennte Bereiche. Auf der einen Seite steht die Analyse unter formalen Gesichtspunkten wie Rhythmus, Vers- bzw. Strophenbau und ähnlichem mehr. Hier ist in jüngster Zeit ein Umschwung zu erkennen: So erörtert beispielsweise Mahrenholz die musikalische Zeit aufgrund fehlender Rhythmusangaben in den einzelnen Handschriften nicht anhand distinkter Größen absolut, sondern relativ im Verhältnis zur Gesamtmelodie.5 Wie eine auf diesen Prämissen aufbauende Untersuchung verläuft, zeigt Joppich in seinem Beitrag zum Verhältnis von Text und Musik im Gregorianischen Choral.6 Seine Erörterung der metrisch-rhythmischen Problematik orientiert sich an den Kategorien ‘Zäsur’ und ‘Stau’ in ihrer Funktion, zeitliche Vorgänge innerhalb einer Melodie zu regulieren. Andererseits läßt sich bisweilen der Versuch erkennen, beide Medien unter inhaltlich-semantischen Aspekten aufeinander zu beziehen, wie dies etwa in den Beiträgen von Wulf Arlt und Miriam Schadendorf geschehen ist. Arlt untersucht anhand von drei lateinischen Liedern die möglichen Konvergenzen zwischen Text und Melodie. Dabei klärt er zunächst Aufbau und Struktur von Text und Melodie getrennt voneinander, um anschließend beide Medien aufeinander zu beziehen und die sich ergebenden Konvergenzen für eine ästhetische Bestimmung der Gattung ‘Lied’ fruchtbar zu machen.7 Schadendorf konzentriert sich mit vier Lieder Oswalds von Wolkenstein (KL 33 bis 36)8 auf den volkssprachlichen Bereich.9 Das Besondere
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in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, 8. bis 12. September 1980. Hrsg. von Ursula Günther u. a. Kassel u. a. 1984 (= Göttinger musikwissenschaftliche Arbeiten 10), S. 269-290; John Stevens: Words and Music in the Middle Ages: Song, Narrative, Dance and Drama 1050-1350. Cambridge 1986. Vgl. Simone Mahrenholz u. a.: Zeit. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Sachteil. Bd. 9 (1998), Sp. 2231-2251. Vgl. Godehard Joppich: Ein Beitrag zum Verhältnis von Text und Ton im Gregorianischen Choral. In: Zwischen Wissenschaft und Kunst. Festgabe für Richard Jakoby. Hrsg. von Peter Becker u.a. Mainz 1995, S. 155-185. Wurlf Arlt: Das eine Lied und die vielen Lieder. In: Festschrift für Rudolf Bockholdt zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Dubowy u. a. Pfaffenhofen 1990, S. 113-129. Es sind dies: In suria, Ain tunckle farb, Es leucht durch graw und Zwai alte sünd. Mirjam Schadendorf: Zum Verhältnis von Text und Melodie in den Liedern KL 33-36. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 9 (1996/97), S. 239-257.
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von KL 33 bis 36 besteht darin, daß es sich hierbei um vier verschiedene Texte handelt, für die nur eine Melodie überliefert ist; es liegt demnach eine Melodiekontrafaktur vor.10 Schadendorf untersucht nun, ob sich unter Berücksichtigung der Melodie signifikante Übereinstimmungen oder Abweichungen zwischen Musik und Text erkennen lassen und inwieweit sich die Beobachtungen für eine Bestätigung der Auffassung, Oswald sei der Schöpfer des Individualliedes (Stäblein), verwerten lassen. Schadendorf resümiert: “Die Durchsicht hat gezeigt, daß Oswald mit jeder neuerlichen Textierung auch ein neues Liedganzes schafft, indem er jeweils andere Akzente setzt.”11 Der Grund für die erst verhältnismäßig spät einsetzende Analyse von Gesängen unter inhaltlich-semantischen Gesichtspunkten liegt wesentlich an der sich hartnäckig haltenden, insgesamt jedoch überholten Forschungsmeinung, vergleichbare Phänomene ließen sich erst mit Beginn der Renaissance nachweisen. Als Gewährsmann für diese Ansicht kann Finscher angesehen werden, der in der Einleitung zum 3. Band des Handbuchs der Musikwissenschaft von 1989 schreibt: “Noch in derselben Generation, vor allem bei Josquin, entwickelt sich darüber hinaus ein musikalisches Vokabular emphatisch-deklamatorischer, abbildender und affektiver Wendungen zur Darstellung des Textdetails; in den folgenden Generationen wird dieses Vokabular kontinuierlich erweitert und verfeinert”.12 Wenn im folgenden die Wechselwirkung von Musik und Text unter inhaltlich-semantischen Gesichtspunkten anhand der grundlegenden Kategorie der ‘Bewegung’ erörtert werden soll,13 wird unter musikalischen Gesichtspunkten auf die spezifische Melodiebewegung abgezielt. Mit der Bewegungskategorie sind zwei weitere Kategorien verbunden,
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Zur Kontrafaktur bei Oswald von Wolkenstein vgl. Ivana Pelnar: Die mehrstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein. Textband. Tutzing 1982 (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 32); dies.: Neuentdeckte Ars-Nova-Sätze bei Oswald von Wolkenstein. In: Die Musikforschung 32 (1979), S. 26-33; Lorenz Welker: New light on Oswald von Wolkenstein: Central European Traditions and Burgundian Polyphony. In: Early Music History 7 (1987), S. 187-226. Schadendorf (wie Anm. 9), S. 256. Ludwig Finscher: Einleitung. In: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts I. Hrsg von Ludwig Finscher. Laaber 1989 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 3,1), S. 15. Zu der Kategorie der ‘Bewegung’ innerhalb der Musik vgl. die einschlägigen Beiträge in: Musique et mouvement – Music and mouvement. In: Analyse Musicale 8 (1987).
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nämlich ‘Raum’ und ‘Zeit’,14 da Bewegung als eine Raumveränderung in der Zeit beschrieben werden kann. Für die Musik bedeutet das: Die melodische Bewegung kann als eine Veränderung der Tonhöhe innerhalb eines bestimmten Zeitraums bestimmt werden. Es ist von Vorteil, Text und Melodie zunächst getrennt voneinander zu betrachten und beide Medien anschließend aufeinander zu beziehen. Als Leitfragen der im folgenden untersuchten Lieder – es handelt sich dabei um zwei einstimmige und zwei zweistimmige Lieder – gelten: Wie ist der Text des Liedes aufgebaut? Welcher Struktur folgt er? Hinsichtlich der Melodie: Sind markante Bewegungsabläufe zu erkennen? Und schließlich: Was läßt sich beobachten, wenn beide Medien aufeinander bezogen werden?
II. In dem Lied Von meiden pin ich dick beraubt15 (Lochamer-Liederbuch, Nr. 12) klagt das lyrische Ich darüber, daß es die verehrte Dame nicht zu Gesicht bekommt: “die mir zu sehen ist erlaubt, / die sich ich laider selden” (I,3 f.). Sogleich folgt in dem 1. Verspaar des Abgesangs sein der räumlichen Trennung entgegengesetztes Begehren: “Das waiß got wol, das mein begir / in rechter lieb sich senckt zu ir” (I,5 f.); die Folge des Begehrens wiederum ist die Klage (I,5 ff.): Das waiß got wol, das mein begir in rechter lieb sich senckt zu ir und macht mir (ein) senlich leiden.
Die Ursache der Klage – soviel wird bereits an diesem Punkt deutlich – besteht in einem Konflikt zwischen dem Begehren einerseits und der ‘tatsächlichen’ Situation des lyrischen Ichs andererseits. Der Umstand, daß das lyrische Ich die verehrte Dame nicht zu Gesicht bekommt, legt eine räumliche Trennung nahe. Welcher Art diese Trennung ist, wird
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Zu den Kategorien ‘Raum’ und ‘Zeit’ vgl. die einschlägigen Beiträge in: L’espacetemps musical (1re partie) – Space and time in music (part 1). In: Analyse Musicale 6 (1987). Vgl. hierzu Petzsch, Studien (wie Anm. 2), S. 199-206.
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nicht weiter ausgeführt; sie kann daher als für den Konflikt zweitrangig angesehen werden. Die 2. Strophe baut die Klage ganz im Sinne der Exposition zur Sehnsuchtsklage aus, die schließlich der Zuversicht weichen muß, die verehrte Dame eines Tages doch zu Gesicht zu bekommen. Damit sind wir bereits in der 3. Strophe angelangt. “O wun(n)igliche zuversicht”, heißt es im 1. Vers; der folgende 2. Vers enthält mit der Wendung “nu laß mir meiden nit schaden!” (III,2) eine Aufforderung an die Geliebte. Eine Versicherung über die treue Verehrung der Dame durch das lyrische Ich beschließt den Aufgesang der 3. Strophe (III,3 f.). Der Abgesang der 3. Strophe baut den Aspekt der Zuversicht weiter aus: Auf die Verehrung folgt die Erhörung, die ihrerseits der Gnade der Dame entspringt (III,5 ff.). Mit diesen Kategorien ordnet sich das vorliegende Lied dem Frauenpreis des Hohen Minnesangs zu. Die abschließende 4. Strophe bringt den Konflikt des lyrischen Ichs in der Formel von ‘Liebe und Leid’ pointiert zum Ausdruck; sein Festhalten an der Dame, das Erdulden des Leids und der Liebesnot ist für das lyrische Ich schließlich der Beweis seiner Treue. Folgerichtig schließt die 4. Strophe: “darumb laß ich nit abe, / wann ich vor oft vernummen han, / daß lieb an laid nit mag ergan – / in trewen will ichs tragen” (IV,4-7). Im Zentrum des Textes steht der vom lyrischen Ich beschworene, ja herbeigesehnte Anblick der verehrten Dame, der die defizitäre Gegenwart aufwiegt; gegen Ende hin mündet das Lied in den klagenden Gestus. Innerhalb des Textes läßt sich also ein ‘Spannungsbogen’ erkennen und anhand der Kategorien ‘Leid – Zuversicht – Treue’ beschreiben. Wie gestaltet sich nun die dazugehörige Melodie? Ein Blick auf das Notenbeispiel (Abb. 1 im Anhang) macht zunächst die Wiederholung der beiden anfänglichen Zeilenmelodien deutlich; es handelt sich demnach um eine Kanzone. Mehr noch: Blickt man auf das Ende der Melodie, so zeigt sich, daß die 1. Zeilenmelodie – also die Melodie, die dem 1. Vers zugeordnet ist – über dem 7. und letzten Vers aufgegriffen wird. Bereits Petzsch hat in seiner Untersuchung zum Lochamer-Liederbuch auf die melodische Bedeutung dieser Zeile hingewiesen;16 der Strophentyp erweist sich demzufolge als Rundkanzone. Diese spezifische Gestaltung der Melodie nun zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie am Ende dort einmündet, von wo aus sie ihren
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Petzsch, Studien (wie Anm. 2), S. 200.
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Anfang genommen hat; ihr eignet demnach etwas Zyklisches. Als wohl markantestes zyklisches, also wiederkehrendes Melodieelement begegnet neben der Strophenform die melismatische Formel a-f-d(-e[-d]) (über “dick be-” in I,1 und I,3) samt ihren Variationen. Von signifikanter Qualität ist dabei ihre Verschiebung auf die Subfinalis c gegen Ende der Melodie. Neben der Rundkanzone, dem Einmünden der Melodie in ihren tonalen Anfang, und dem Melisma lassen sich noch weitere zyklische Melodieelemente nachweisen, wie beispielsweise der regelmäßig wiederkehrende kadenzierende Quintschritt a-f-d (V. 1, 3, 5, 7) bzw. g-e-c (V. 6).17 Ganz anders der Text. In ihm legt das lyrische Ich ja gerade das Gewicht auf die ‘ganz andere’ Zukunft, eine Zukunft, die eben nicht das wiederbringen soll, was in der Gegenwart durchlebt wird. Insofern läßt sich zunächst festhalten, daß der Text, indem er die Momente der Zuversicht und des Zukünftigen gewichtet, das Zyklische der Melodie zugunsten des Linearen ‘durchbricht’; auf diese Weise entsteht eine Spannung zwischen dem Text und der Melodie des Liedes. Haben wir damit aber die volle Bedeutung erkannt? Gehen wir zu weit, wenn wir in der Spannung zwischen dem Zyklischen der Melodie, verdeutlicht durch die wiederkehrenden Melodieelemente, einerseits und dem Linearen des Textes andererseits eine ‘ironische Brechung’ des vom lyrischen Ich Besprochenen erblicken? Betrachten wir mit dem Tonhöhenverhältnis von Initium und Finalis der einzelnen Zeilenmelodien – aus dem sich ebenfalls spezifische Melodiebewegungen ableiten lassen – noch ein zweites melodisches Gestaltungselement. Innerhalb der Melodie liegt folgende Verteilung vor: Zeile 1 beginnt mit dem Intervallschritt c-d; an die Sekunde schließt sich der Aufstieg zu a an. Es folgen in Zeile 2 der plötzliche Quintanstieg d-a – der ja bereits in Zeile 1 begegnet – und die Erweiterung über c' bis d'. Da es sich um eine Kanzonenstrophe handelt, werden diese beiden Zeilenmelodien in der Folge wiederholt. Schließlich der Abgesang: Zeile 5 greift die hohe Tonlage aus Zeile 2 und 4 auf, wandelt jedoch die
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Nur einmal wird diese Tonfolge variiert aufgegriffen: Über den Versen 2 und 4 wird auf der Pänultima der Quintfall auf die Quarte d'-a verkürzt. Ohne weitere Vertiefung möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit hinweisen, hierin eine melodische Markierung metrischer Grenzen zu sehen, denn bei den Versen 2 bzw. 4 handelt es sich einmal um die Grenze des 1. Stollens und im zweiten Fall um die Grenze des 2. Stollens und damit des Aufgesangs.
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Kadenz zum Abstieg auf f ab. Am Beginn von Zeile 6 begegnet f anstelle von g; im weiteren Verlauf steigt die Melodie nurmehr bis a an; ihre Kadenz fällt schließlich auf die Subfinalis c, die nicht nur kurz anklingt, sondern wiederholt wird. Zusätzlich handelt es sich dabei um eine Stelle innerhalb der Melodie, die von der melismatischen Formel g-e-c(-d) ‘eingeleitet’ wird. Auf diese Weise ergeben sich vielfältige Beziehungen zwischen Melodie und Text. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die 1. Strophe, in der die Formulierung “senckt zu ir” (I,6) gewissermaßen mit dem melodischen Abstieg bis zur Subfinalis c – im übrigen der tiefste Ton der gesamten Melodie – beinahe ‘expressiv’ umgesetzt wird.18 Doch zurück zu den Tonhöhenverhältnissen der einzelnen Zeilen. Die abschließende 7. Zeile senkt sich im ersten Teil nochmals ab – der höchste Ton ist jetzt nurmehr f –, setzt jedoch an das Ende die Quinte d-a, wodurch die Wiederaufnahme der 1. bzw. 3. Zeilenmelodie erreicht wird. Die dadurch entstandene Bogenbildung greift nun in auffällig analoger Weise den Spannungsbogen des Textes auf: Das lyrische Ich beginnt mit einer Klage in Strophe I, läßt ihr in den Strophen II und III die Zuversicht folgen und endet schließlich wiederum in der Klage; allerdings weist nun der Klagegestus einen ethisch höheren Stellenwert auf, denn die Wendung “in trewen will ichs tragen” (IV,7) führt ja den Begriff der Treue ein. Das lyrische Ich bezieht damit eine der zentralen Kategorien des Hohen Minnesangs auf sich und integriert sie in die eigene Haltung. Was aber bedeutet das für die Melodie? Sie enthält anscheinend den gesamten ‘dramatischen’ Verlauf, der vom Text sukzessiv entfaltet wird, in nuce. Daß in diesem Modell den beiden mittleren Strophen die hohen Zeilenmelodien 2 bzw. 3 und 5 entsprechen, läßt es (vor dem Hintergrund umfangreicherer Untersuchungen) plausibel erscheinen, bei Melodieteilen hoher Tonlage von einer ‘Gestaltungskonvention’ für die Freude auszugehen. Wechselwirkung von Melodie und Text kann demzufolge auch bedeuten, daß das im tonalen Rahmen der Melodie angelegte Bedeutungspotential konkretisiert und damit der Rezeptionsgemeinschaft gleichsam ‘kommunizierbar’ gemacht wird. 18
Des weiteren werden durch die melodische Gestaltung markiert: “erfrewt” (II,6), “doch” (III,6) und “ergan” (IV,6), unter denen allein “erfrewt” in II,6 noch eine wesentliche Relevanz für den Inhalt des Textes hat. Ein durchgängiges Gestaltungsprinzip ist somit nicht zu erkennen.
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Was in dem Lied Von meiden pin ich dick beraubt die Hoffnung auf ein sich baldmöglichst ergebendes Stelldichein mit der Dame ist, verkehrt sich in dem einstimmigen Lied Dein allain was ich ein zeit19 (LochamerLiederbuch, Nr. 13), dessen Schlußstrophe eingangs zitiert wurde, in die Annäherung an ein anderes Mädchen. In beiden Fällen aber wird die als defizitär empfundene Gegenwart durch den Verweis auf eine glückliche Zukunft aufgewogen; pointierter ausgedrückt: die Zukunft verkehrt die Gegenwart. Anders als das Lied Von meiden pin ich dick beraubt jedoch endet das Lied Dein allein was ich ein zeit mit einer durchaus positiven Wendung: “ich waiß (mir) ein anders (hübsches) frewelein, / das wendet mir all mein smerzen” (IV,4 f.). Hier ergeben sich nun hinsichtlich des melodischen Bogens (Abb. 2), im Unterscheid zu unseren bisherigen Beobachtungen, kaum, ja überhaupt keine signifikanten Bezüge zwischen Text und Melodie. Ist diese Divergenz für die Frage nach dem Stellenwert der Kontrafaktur fruchtbar zu machen? Vor dem Hintergrund einer Analogie zwischen Text und Melodie zumindest läßt sich folgende Hypothese formulieren: Die Konvergenz von Text und Melodie in dem Lied Von meiden pin ich dick beraubt legt es nahe, hierin die ursprüngliche Fassung zu sehen. Vice versa: Übernommene Melodien wie in dem Lied Dein allein was ich ein zeit zeichnen sich durch eine Verminderung der Konvergenz beider Medien aus. Von hier aus ließe sich die Frage nach dem artifiziellen Charakter mittelalterlicher Gesänge neu stellen, wie dies Schadendorf in ihrer Untersuchung der Lieder KL 33-36 Oswalds von Wolkenstein bereits getan hat.20
III. Betrachten wir nun die zweistimmigen Gesänge. In dem Lied Ich het mir auserkoren (Lochamer-Liederbuch, Nr. 9) beklagt ein lyrisches Ich in einer breit angelegten Pflanzenallegorie sein Unglück in der Liebe. Die Konsequenz zieht das lyrische Ich in der letzten von insgesamt fünf Strophen: “von disem plümlein ich schaide, / ein andre mich (er)frewen tut” (V,7 f.). Aber betrachten wir den Fortgang des Liedes im einzelnen.
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Vgl. hierzu Petzsch, Studien (wie Anm. 2), S. 204-206. Vgl. Schadendorf (wie Anm. 9).
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Es beginnt mit der expliziten Nennung einer auserwählten Rose (I,1), die als Metapher für die verehrte Dame oder die geliebte Frau aufzufassen ist. Diese Rose aber ist von Dornen umgeben, weshalb sich die anfängliche Zuversicht in ihr Gegenteil verkehrt: “das macht des dornes tück: / sein stich sind ungelachsen, / und macht mir trawrig plick” (I,6 ff.). Auch zeichnet sich die Blume durch eine Art ‘Wachstumsstörung’ aus, die mit den Dornen unmittelbar zusammenhängt: “do hindert mich ain doren / und ir(re)t meins plümleins glanz. / das es nit mag gewachsen” (I,3 ff.). Behalten wir die an der Pflanze orientierte Bewegungsmodalität des Wachsens im Auge. In der darauffolgenden 2. Strophe wird das Unglück mit der Rose gedeutet: Die Dornen mindern die Schönheit der Blume – es ist nicht mehr von der Rose die Rede, einzig die Dornen können als verbindendes Motiv angesehen werden. Schließlich folgt in den vier Versen des Abgesangs der Wechsel zum Motivbereich des Duftes oder auch des Geschmacks. Analog zur Situation des lyrischen Ichs verkehrt sich hierbei das Süße zum Bitteren: “Wann süßer g(e)smack pald sawret” (II,5). Die Begründung dafür folgt unmittelbar: “Wann süßer g(e)smack pald sawret / von dornes pittrikait” (II,5 f.). Die Dornen, das bestimmende Motiv der 1. und teilweise der 2. Strophe, verursachen also die Verkehrung. Fassen wir knapp zusammen: Die Rose zeichnet sich durch äußere Schönheit aus, ist aber von Dornen umgeben; dem entspricht auf der Seite des Geschmacks die Dichotomie ‘süß – bitter’. Als beide Motivbereiche verbindendes Element fungieren die Dornen. Wie diese nun zu deuten sind – ob als Hartherzigkeit der ‘huote’ oder ‘merkaere’ oder ganz allgemein als widrige Umstände zwischen lyrischem Ich und Dame – wird innerhalb des Liedes nicht entschieden, und wir tun gut daran, diese Offenheit aufrechtzuerhalten. Gehen wir noch ein paar Schritte weiter. Mit der 3. Strophe wird zunächst eine allgemein anerkannte Weisheit zum Ausdruck gebracht – zumindest wird sie als solche inszeniert: “Ich habs vor oft vernummen”, heißt es da, “(das) in nesseln und in dor(e)n / findt man nicht edler blumen” (III,1 ff.). Die Rose in dem Dornenstrauch ist also keine edle Pflanze, denn, so die Argumentation, edle Pflanzen findet man nicht an solchen Orten, will heißen: edle Pflanzen wachsen dort nicht – eine weitere Ursache für die ‘Wachstumsstörung’ der Rose. Mit Beginn des Abgesangs wird ein ähnlicher, im Detail jedoch verschiedener Bildbereich aufgebaut: Gleich bleibt die Blume, die jetzt
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von Unkraut bedrängt ist (III,5 ff.), weshalb sie an Wuchs mißgestaltet ist: “unkrawt hat mirs betrogen, / es hat verwachsen gar” (III,7 f.). In der 5. Strophe schließlich mündet das Unglück in die Absicht des lyrischen Ichs, sich eine andere Blume zu erwählen. Mit dem Kontrast von “schaiden” und “zugesellen” (V,3 und V,7) folgt ein zur Dichotomie ‘wachsen – nicht wachsen’ analoger Bewegungsgegensatz: “von disem plümlein ich schaide / ein andre mich (er)frewen tut” (V,7 f.). Hinsichtlich der Bewegungsdimension auf der Bild- wie auch auf der Bedeutungsebene läßt sich ein Kontrast erkennen, der überhaupt für das gesamte Lied strukturbildend ist: Die Schönheit verkehrt sich in ihr Gegenteil, das Süße in das Bittere; auch der Gegensatz ‘Rose/Blume – Unkraut/Dornen’ wäre in diesem Zusammenhang anzuführen. Dieser Widersetzlichkeit nun begegnet das lyrische Ich mit der Trennung und der Suche nach einer anderen Blume, womit schließlich der letzte Kontrast – “schaiden” und “zugesellen” – angesprochen ist. Nun zur Melodie (vgl. Abb. 3). Aus den zahlreichen Aspekten, die in diesem Zusammenhang einer Besprechung würdig wären, greife ich die spezifische Bewegungsrichtung der Melodie – ablesbar am Verhältnis von Initium und Schlußton der einzelnen Zeilenmelodien – heraus. Betrachtet man die Melodie unter diesem Gesichtspunkt, dann ergibt sich folgender Verlauf (ich beginne mit der Oberstimme und gliedere gemäß dem Reim): steigend in Zeile 1 (h'-g'), steigend in Zeile 2 (f'[e']-c''); die Wiederholung in den Zeilen 3 und 4 (beide steigend); sodann fallend in Zeile 5 (c''-g'[h']) und Zeile 6 (g'-e') sowie in den beiden Schlußzeilen steigend (d'-g' in Zeile 7) und fallend (e'-c' in Z. 8). Die Unterstimme dreht nun diese Bewegungsrichtungen um; sie setzt mit Ausnahme der letzten Zeile – hier gilt für beide Zeilen eine fallende Bewegungsrichtung der Melodie (Unterstimme: h-c) – gegensätzliche Bewegungen: Dem Steigenden der Oberstimme entspricht das Fallende der Unterstimme und umgekehrt. Besonders auffällig treten auf diese Weise die Zeilen 2, 4 und 5 hervor: Beide Stimmen laufen markant auseinander. In den verbleibenden Zeilen – also in Zeile 1, 3, 6, 7 und 8 – ist der Kontrast weniger ausgeprägt: Hier konzentriert sich die Gegensätzlichkeit in beiden Stimmen überwiegend auf die Kadenz. Wenn beispielsweise die Unterstimme abfällt, ‘biegt’ die Oberstimme gewissermaßen den Melodieverlauf durch ein zwischengeschaltetes aufsteigendes Intervall ‘nach oben’ um und verbleibt anschließend trotz eines eventuellen Abstiegs in höherer Tonlage wie etwa in Zeile 7.
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Was bedeutet das für die Wechselwirkung von Melodie und Text? Nicht nur, daß durch die Gegensätzlichkeit in der Melodiebewegung ein hinreichendes musikalisches Zeichen gefunden wurde, um die zahlreichen, von uns so bezeichneten ‘Verkehrungen’ auf der Ebene des Textes melodisch umzusetzen – als markanteste Verkehrungen nenne ich die Verwandlung der Süße in die Bitterkeit in Strophe II oder den Gegensatz von “schaiden” und “zugesellen” in Strophe V –; nicht nur, daß in den halb-analogen und nur hinsichtlich der Kadenz widerstrebenden Zeilen 1, 3, 6, 7 und 8 die Bedrängnis der Blume durch Dornen und Unkraut, ihr Anschmiegen an das Blumengewächs und, durch das plötzliche Auseinanderstreben der Stimmen, das verhinderte Wachstum ‘hörbar’ werden. Es ist gerade das Verhältnis von melodischer Struktur und Textganzem, wie wir es bereits beim einstimmigen Lied Von meiden pin ich dick beraubt beobachten konnten, das unsere Aufmerksamkeit verdient, denn auch im vorliegenden Beispiel läßt sich die melodische Spannung – hier in Form der gegensätzlichen Stimmführung bzw. subtiler in Form der Analogie mit erst später einsetzender Gegenbewegung – zum Spannungsbogen des Textes in Beziehung setzen. Für das vorliegende Lied gilt freilich ein fundamentaler Unterschied: In jeder Strophe wird die innerhalb der Melodie durch gegensätzliche Stimmführung entstehende Spannung durch den Text entfaltet. Einige Beispiele sollen dies belegen: In Strophe I ist es das auserkorene Röslein, das, von Dornen bedrängt, beim lyrischen Ich für Trauer sorgt; in Strophe II ist es die Verwandlung von Süße in Bitterkeit; in Strophe III ist es die Aufzucht der Blume, die von Unkraut bedrängt wird; in Strophe IV das “plümlein fein”, das vom Unkraut verdorben wurde; und in Strophe V schließlich der Gegensatz von “schaiden” und “zugesellen”. Es bleibt die Frage, wie innerhalb eines solchen Modells die Schlußzeile und ihre in beiden Stimmen übereinstimmende Melodiebewegung zu deuten wäre. Handelt es sich dabei um die melodische Realisierung der das lyrische Ich leitenden Vorstellung, daß eine anderes Mädchen für die Freude sorgt (“ein andre mich (er)frewen tut”, V,8)? Ist demzufolge auch im vorliegenden Beispiel Vergleichbares zu erkennen wie in dem Lied Von meiden pin ich dick beraubt, daß nämlich die Melodie ein Gestaltungselement aufweist, das erst durch den Text entfaltet werden muß? Kommen wir nun zu unserem letzten Beispiel, dem zweistimmigen Lied Kan ich nit über werden (Lochamer-Liederbuch, Nr. 21), einem acht Strophen zählendem Frauenpreis. In der 1. Strophe begegnet eine Art
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‘Aitiologie der Minneklage’: “Kan ich nit über werden / senlicher not auf erden, / die schaiden mir kan bringen, / so muß ich senlich singen” (I,14). Bereits zu Beginn des Liedes also klingen das Thema (die Sehnsuchtsklage), die spezifische Situation (Gesang und aktueller Vortrag) sowie die für die Sehnsucht unabdingbare Voraussetzung (die räumliche Trennung der beiden Liebenden) an. In der darauf folgenden Strophe dann die entscheidende Wendung: “Ker(e) ich mich, wo ich welle” (II,1) – wo auch immer sich das lyrische Ich hinbegibt, stets erinnert es sich an seine Geliebte; der Verfasser des Liedes findet hierfür ungleich zärtlichere Worte: “Ker(e) ich mich, wo ich welle, / meins herzen trawt geselle, / so spilt dein lieplich scherzen / allzeit in meinem herzen” (II,14). Soweit die Exposition. Die folgenden sechs Strophen – also Strophe III bis VIII – entfalten anhand unterschiedlicher Motive einen differenzierten Frauenpreis. Das durchgängige Gestaltungsprinzip hierfür ist das Lob des Namens, oder besser: ein liebevolles Spiel mit dem Namen der Verehrten, das diskret genug ausfällt, da nur der Anfangsbuchstabe K erwähnt wird: “K steht in hoher güte, / K frewt mir mein gemüte”, heißt es im ersten Verspaar der 3. Strophe (II,1 f.). In der Folge wird die Geliebte der Sonne (IV) und dem Karfunkel (V) verglichen; sie wird als die Gekrönte vorgestellt (“K pilleich ist gekrönet”, VI,1). Über einen Körperpreis in der vorletzten Strophe (“Köstlich ist dein figure”, VII,1) gelangt das lyrische Ich zu den Augen der Geliebten, die gleichsam initiatorische Eigenschaft besitzen: “Kraft gibt dein augenplicken” (VIII,1); und zwei Verse später heißt es in VIII,3 f.: “davon mein lieb ergrünet / mein herz in frewd erkünet.” Wirft man einen Blick auf die Melodie (Abb. 4), so heben sich die untextierten Tonfolgen markant vom melodischen Kontext ab;21 die beiden Verspaare werden auf diese Weise voneinander getrennt – insofern dient die Melodie der Markierung metrischer Untergruppen einer Strophe. Nun wird diese Tonfolge ihren Strukturtönen nach auf der Pänultima des
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Ob diese Passage instrumental oder gesanglich vorgetragen wurde, soll in diesem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden, da dies für die Tektonik der Melodie nicht ausschlaggebend ist.
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4. Verses wiederholt.22 Auf diese Weise werden entscheidende Begriffe des Textes markiert,23 aus denen “singe” und “herzen” wohl besonders hervorzuheben sind, da sie sowohl zum möglichen konkreten Vortrag des Liedes (‘singe’) als auch zum Anlaß der Klage in signifikanter Beziehung stehen. Das Herz ist demzufolge als Ort der Erinnerung und zugleich der Klage ein umfassender Integrationsraum. Von hier aus läßt sich die Frage nach der Bedeutung der Eingangsstrophen angehen: In ihnen begegnen tendenziell die für den Inhalt zentralen Begrifflichkeiten eines Liedes, die dann in der Folge weiter ausgestaltet werden. Unter Einbeziehung der Wechselwirkung von Musik und Text entsteht somit der Eindruck, als würde gerade innerhalb dieser Strophe ein besonderes Augenmerk auf die Wechselwirkung von Melodie und Text gelegt werden. Abschließend möchte ich auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen, der uns wieder der Bewegung als Untersuchungskategorie näher bringt. Betrachten wir nämlich den Verlauf der Melodie, so wird deutlich, daß sich die beiden Stimmen unter dem Aspekt der Bewegung als ein Wechsel zwischen gleichen und voneinander abweichenden Tonfolgen (meist im Abstand von einer Terz) beschreiben lassen (Organum). So beginnen etwa beide Stimmen auf d; während nun aber die Oberstimme über g zu a und schließlich zu c' aufsteigt, schreitet die Unterstimme eher gemessen in Sekunden fort und erreicht beispielsweise e, f und a, wenn die Oberstimme g, a und c' setzt. Jedoch nähern sich beide Stimmen auch wieder an und teilen sich gleiche Töne, wie etwa über der 1. Silbe von “senlicher” (g); auch münden sie stets über der letzten Silbe eines jeden Verses in einen identischen Ton.24 Zu signifikanten Beziehungen zwischen Melodie und Text führt dies beispielsweise, wenn im 3. Vers vom Scheiden die Rede ist. Ist es übereilt, wenn wir in der Stimmtrennung ein musikalisches Zeichen für die Distanz zwischen den beiden Liebenden sehen, eine Distanz, die ja als Voraussetzung der Sehnsuchtsklage gelten kann und damit gewissermaßen melodisch den Anlaß des Liedes einholt? Und lassen sich nicht umgekehrt die gleichen Töne in
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Daß sich in diesem Zusammenhang auch rhythmische Überlagerungen erkennen lassen – es wird stets die letzte betonte Silbe des 4. Verses durch eine im Vergleich mit dem Kontext melodisch aufwendigere Gestaltung hervorgehoben – soll an dieser Stelle nur erwähnt werden. “Singe” (I,4), “herzen” (II,4), “überswencke” (III,4), “[als ich] maine” (IV,4), “ausweiset” (V,4), “[das] mein” (VI,4), “[niemant] gleichet” (VII,4) sowie “erkünet” (VIII,4). V. 1: g, V. 2: e, V. 3: a und V. 4: e
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beiden Stimmen als melodische Realisierung für die im lyrischen Ich stets gegenwärtige Geliebte auffassen? Bedenken wir schließlich den konkreten Vortrag: Aus der wechselseitigen Verbindung von Melodie und Text entwickelt sich auf diese Weise ein ästhetisches Gesamtgefüge, das sowohl zentrale inhaltliche Aspekte eines Liedes markieren kann als auch einer umfassenden Integration dient, einer Integration, die sich nicht nur dadurch auszeichnet, daß sie die Verbindung von Besprochenem und Sprecher bewirkt, sondern die darüber hinaus auch die drei Seiten eines Liedes – Produktion, Inszenierung und Rezeption – als für die Kunstform wesentliche Aspekte thematisiert.
IV. Ich beschließe an dieser Stelle die exemplarischen Anmerkungen zur Wechselwirkung von Melodie und Text im Lochamer-Liederbuch und wende mich nochmals unserer Eingangsfrage zu: Wie klingt die Liebe? Eine einheitliche Antwort darauf wird sich nicht finden lassen, denn dafür sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Wechselwirkung von Melodie und Text zu zahlreich. Einige Aspekte jedoch lassen sich anführen: So hat die Untersuchung die Möglichkeit der melodischen Markierung wesentlicher Textpassagen bzw. für das Verständnis des Textes zentraler Wörter erhärten können. Darüber hinaus konnte die Bedeutung der 1. Strophe für die Wechselwirkung von Melodie und Text plausibel gemacht werden. Es erscheint gerade so, als besitze die 1. Strophe eine gewisse Signalfunktion für den Vortrag, indem beispielsweise in dem Lied Von meiden pin ich dick beraubt eine ‘expressive’ musikalische Gestaltung umgesetzt wird (“senckt zu ir”, I,6). Eng damit verbunden ist die Vorstellung, daß signifikante Melodieelemente mit Hilfe des Textes erst nach und nach entfaltet werden. In der Melodie ist demnach die gesamte Struktur des Textes in nuce enthalten. Melodie und Text bilden demzufolge nicht nur im konkreten Vortrag ein ästhetisches Gesamtgefüge aus; vielmehr reagieren markante Bedeutungsfelder aufeinander, die ihrerseits auf die grundlegenden Strukturen von ‘Bewegung’, ‘Raum’ und ‘Zeit’ zurückzuführen sind. Melodie und Text etablieren somit im konkreten Einzelfall eine wechselseitige Bedeutungsstruktur, die ihrerseits sowohl für die Beantwortung der Frage nach dem Umgang mit Melodien und Texten als auch nach den Gestaltungsmöglichkeiten im Vortrag selbst von Relevanz ist.
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Abb.1: Von meiden pin ich dick beraubt. Aus: Das Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 2), Nr. 12.
Abb. 2: Dein allain was ich ein zeit. Aus: Das Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 2), Nr. 13.
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Abb. 3: Ich het mir auerkoren. Aus: Das Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 2), Nr. 9.
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Abb. 4: Kan ich nit über werden. Aus: Das Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 2), Nr. 21.
Susanne Homeyer/Inta Knor/ Hans-Joachim Solms ÜBERLEGUNGEN ZUR NEUEDITION DES SOGENANNTEN LIEDERBUCHES DER CLARA HÄTZLERIN NACH DEN HANDSCHRIFTEN PRAG, X A 12, DER BECHSTEINSCHEN HANDSCHRIFT (HALLE, 14 A 39) UND BERLIN, MGF 488 Abstract Das sogenannte Liederbuch der Clara Hätzlerin, einer Augsburger Berufsschreiberin des ausgehenden 15. Jahrhunderts, ist eine der bedeutendsten Sammlungen mittelalterlicher volkssprachlicher Dichtung. Erste wissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangte diese Sammlung im Jahre 1840, als Karl Haltaus das Manuskript von 1470/71 edierte. Aber diese erste und sicher verdienstvolle Edition des Liederbuches vernachlässigte bzw. zerstörte deren chronologisch konzipierte Anlage. Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, erste methodische Überlegungen zu einer Edition vorzustellen, in der der tatsächlichen Konzeption dieses berühmten Manuskripts größerer Respekt gezollt werden soll.
Lig still meins hertzen trautt gespil Wann es ist noch nit morgen, Der wachter vns betrügn wil, Der Mon hat sich verporgen [...].1
Mit diesen Versen beginnt ein Tagelied, das zu den einleitenden Texten des eigentlichen Liederbuchteils der berühmten Sammelhandschrift der Augsburger Berufsschreiberin Clara Hätzlerin2 aus der zweiten Hälfte 1
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Handschrift Prag, X A 12, Bl. 249v-250r. Vgl. dazu auch Nr. I, 2 (S. 2) in der Edition von Carl Haltaus: Liederbuch der Clara Hätzlerin. Quedlinburg, Leipzig 1840 (= Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8). Neudruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966. Zum biographischen Hintergrund der Clara Hätzlerin vgl. Sheila Edmunds: A Scribe and Her Patrons. In: The Early Book Society Newsletter [New York], Spring 1996, 2nd series, vol. 1, nr. 2, S. 5-8; dies.: Clara’s Patron: The Identity of Jörg Roggenburg. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 261267; dies: The Life and Work of Clara Hätzlerin. In: Journal of the Early Book Society for the Study of Manuscripts and Printing History 2 (1999), S. 1-25.
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des 15. Jahrhunders gehört. Diesem Text folgen 16 weitere Tagelieder, so daß sich eine Überlieferungssymbiose von 17 Tageliedern und Tageliedvariationen erschließt – ein Sammlungsbestand, der in Dichte und Konzeption nahezu einmalig in der deutschen Liedüberlieferung des Mittelalters ist. Wohl gab es einzelne Autoren, die eine gewisse Vorliebe für das Tagelied hatten oder bei denen das Tagelied sogar zur fast ausschließlich bevorzugten Gattung wurde; ein besonderes Sammlungsobjekt war diese Gattung aber sonst nicht. Die Überlieferungsdichte von Tageliedern in einschlägigen Sammlungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist eher gering.3 Warum die Sammlerpersönlichkeit, die die Vorlage für die Abschrift der Clara Hätzlerin lieferte, gerade diese Gattung des Tagelieds bevorzugte, ist kaum mehr zu rekonstruieren. Aber besonders der thematische Aspekt der Minne, wie er im Tagelied vorliegt, fügt sich gut in die Konzeption eines alten Minnebuches, bestehend aus Gedichten in der Tradition der höfischen Liebe. Dieses Kompendium diente als Vorlage eines Handschriftenkorpus, auf das vornehmlich unter dem Titel Liederbuch der Clara Hätzlerin in der einschlägigen Forschung rekurriert wird. Innerhalb der Forschung zur Liedpflege und zu den Reimsprüchen im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit gilt das sogenannte Liederbuch der Clara Hätzlerin neben dem Lochamer-Liederbuch als einer der populärsten und bedeutendsten Überlieferungsträger des 15. Jahrhunderts.4 Diese Sammelhandschrift vereint die prominentesten Autorengrößen des 14. und 15. Jahrhunderts (u. a. Oswald von Wolkenstein, Mönch von Salzburg, Hermann von Sachsenheim; einzelnes reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, etwa Konrads von Würzburg Herzmäre und Freidank-Sprüche). Daß dieser bereits 1840 von Haltaus5 edierten 3
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Zeitgenössische Liederbücher wie Fichards Liederbuch oder das Liederbuch des Martin Kebitz weisen keinen Bestand an Tageliedern auf. Vgl. Burghart Wachinger: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 386-406, hier S. 395, Anm. 16. Vgl. Ulrich Müller: Das Mittelalter. In: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1983, S. 40. Der Lyriker und Geschichtslehrer an der Leipziger Thomasschule Karl Haltaus (18111848) wurde erstmals im Jahre 1836 während eines Besuches bei seinem Prager Freund Dr. Legis-Glückselig auf diese Hätzlerin-Handschrift aufmerksam. Diese Handschrift – damals noch völlig unbekannt – befand sich im dortigen Böhmischen Museum, dem heutigen Nationalmuseum in Prag. Haltaus begann sofort mit der Abschrift für die geplante Edition. Diese Edition führte dann im Jahre 1840 diese
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Handschrift eine beachtliche wissenschaftliche Relevanz beigemessen worden ist, davon zeugen zahlreiche Einzeluntersuchungen, in denen auf die Sammelhandschrift der Hätzlerin dezidiert Bezug genommen wird, vornehmlich unter autoren-, gattungs-, medien- und epochenspezifischen Fragestellungen.6 Auch in sprachhistorischen Studien zur Augsburger Schreibsprache im ausgehenden 15. Jahrhundert gilt die Berufsschreiberin Clara Hätzlerin als zentrale Referenz.7 Die bisher einzigen monographischen Untersuchungen, die sich mit dem Liederbuch beschäftigt haben, sind die Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin von Geuther
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spätmittelalterliche Sammelanlage unter dem Titel Liederbuch der Clara Hätzlerin in die germanistische Forschung ein. In Auswahl wird auf folgende Arbeiten verwiesen: Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (= Münchener Texte und Untersuchungen 25); Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Diss. FU Berlin 1987; Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnerede. München 1971 (= Münchener Texte und Untersuchungen 34); Norbert Haas: Trinklieder des deutschen Spätmittelalters. Göppingen 1991; Hans-Dieter Mück: Untersuchungen zur Überlieferung und Rezeption spätmittelalterlicher Lieder und Spruchgedichte im 15. und 16. Jahrhundert. Die ‘Streuüberlieferung’ von Liedern und Reimpaarreden Oswalds von Wolkenstein. Bd. 1. Untersuchungen. Göppingen 1980 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 263); Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. Bd. 1. Untersuchungen. Tübingen 1988 (= Münchener Texte und Untersuchungen 82); Jürgen Schulz-Grobert: Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften. Untersuchungen zur Überlieferung einer anonymen Kleinform der Reimpaardichtung. Tübingen 1993 (= Hermaea 72); Wachinger (wie Anm. 3). Vgl. Elvira Glaser: Schreibsysteme zweier Augsburger Handschriften des 15. Jahrhunderts. In: Studien zum Frühneuhochdeutschen. Emil Skála zum 60. Geburtstag am 20. November 1988. Hrsg. von Peter Wiesinger. Göppingen 1988 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 476), S. 113-129; dies.: Zum Graphiesystem der Clara Hätzlerin: Portrait einer Lohnschreiberin in frühneuhochdeutscher Zeit. In: Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rudolf Benziger und Norbert Richard Wolf. Würzburg 1993 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 11), S. 53-73; dies.: Das Beizbüchlein in der Abschrift der Clara Hätzlerin. Ein Zeugnis Augsburger Schreibsprache im 15. Jahrhundert (Tonvokalismus). In: Sprachgeschichtliche Untersuchungen zum älteren und neueren Deutsch. Festschrift für Hanns Wellmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Werner König und Lorelies Ortner. Heidelberg 1996, S. 29-46; dies.: Das Graphemsystem der Clara Hätzlerin im Kontext der Handschrift Heidelberg, Cpg. 677. In: Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Ernst und Franz Patocka. Wien 1998, S. 479-494.
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(1899) und die Untersuchungen zum sog. lyrischen Teil des Liederbuches der Klara Hätzlerin von Schlosser (1965).8 Einsetzend mit Geuthers überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen ist in der Forschung auch seit langem bekannt, daß die Hätzlerin-Handschrift über weite Strecken enge Parallelen zu zwei jüngeren Sammlungen aufweist: zur Berliner Handschrift Mfg 488, geschrieben von Martin Ebenreutter 1530 in Würzburg, und zu einer älteren, der sogenannten Bechsteinschen Handschrift (1512), nach dem späteren Besitzer Ludwig Bechstein benannt.9 Die Tatsache aber, daß die Handschrift B seit Bechsteins Tod 1860 als verschollen galt, hat bis dato alle Forschungsbemühungen zur abschließenden Klärung des Verhältnisses von H, B und E maßgeblich erschwert.10 Ausschließlich gestützt auf die Lesarten der Edition von Karl Haltaus (1840), faßte Geuther 1899 seine textkritischen Überlegungen in einem Stemma zusammen, das trotz der Modifizierungen von Mück (1980) bis heute weitgehend ungeprüft übernommen wurde. Die Filiationen dokumentiert nochmals das Stemma von Geuther (1899): O (Original) | X _______________|_________________ | H
| b ______|______ | B
| E
Entscheidender Aspekt bei der Darstellung Geuthers ist die Unabhängigkeit der beiden Überlieferungszweige, nach denen B und E über eine 8
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Vgl. Karl Geuther: Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin. Halle a. d. S. 1899; Horst Dieter Schlosser: Untersuchungen zum sog. lyrischen Teil des Liederbuches der Klara Hätzlerin. Hamburg 1965. Diese drei Hanschriften werden nachfolgend mit den Siglen H (Hätzlerin), B (Bechstein) und E (Ebenreutter) bezeichnet. Besonders das auffällige und einzigartige Verwandtschaftsverhältnis des Gesamtkorpus H, B und E war ein viel erörterter Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Vgl. Mück (wie Anm. 6), S. 108, und Wachinger (wie Anm. 3), S. 389-391. Dennoch stellt über die textlichen Übereinstimmungen hinaus jede der drei genannten Sammelhandschriften aufgrund individueller Erweiterungen auch einen eigenständigen Gesamttext mit spezifischer Aussage- und Rezeptionsintention dar.
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gemeinsame Vorstufe b von einer Sammlung X abstammen, auf die auch H zurückzuführen ist. Trotzdem bleibt nach wie vor unklar, wie eng das Verhältnis von B und E als gleichrangige Überlieferungsstufe zu X zu bewerten ist. Eine wissenschaftlich fundierte Klärung der Frage, ob die etwas später datierte Handschrift E sogar als eine direkte Abschrift von B zu bewerten ist oder aber hier noch eine redaktionelle Zwischenstufe angesetzt werden muß, konnte daher bislang nicht geleistet werden. Zwar bot Mück in seiner Studie zu den Streuüberlieferungen Oswalds von Wolkenstein11 eine vergleichende Übersicht der Textabfolge in den Handschriften H, B und E, doch diese blieb aufgrund der zu diesem Zeitpunkt verschollenen Handschrift B über weite Strecken lückenhaft und spekulativ, da ausschließlich auf eine virtuelle Rekonstruktion der Handschrift B zurückgegriffen werden konnte. Trotzdem läßt ein Vergleich der gemeinsam tradierten Dichtungen in Hinblick auf Textbestand, Textabfolge sowie in den eng beieinander liegenden Formulierungen das Programm eines zugrunde liegenden Minnebuches als gemeinsame Quelle aufscheinen. Die Sammelhandschrift der Hätzlerin hat im Gegensatz zu den beiden Parallelhandschriften B und E durch eine Reihe von Zusätzen die klaren Konturen der ursprünglichen Sammlung X (Liebesthematik höfischer Tradition) verwischt.12 Dieser aus den Konkordanzen zwischen H, B und E zu erschließende gemeinsame Kernbestand von 126 Texten repräsentiert den Mindestbestand der wohl zwischen 1447 und 1470/71 entstandenen Sammlung X.13 Diese Sammlung X konstituiert sich aus einem Minnebuch mit klarer Dreiteilung, bestehend aus Minnereden, Tageliedern und Liebesliedern. Die Abschrift der Clara Hätzlerin (H) ist die prominenteste dieser drei Fassungen des Minnebuches. Als einzige Handschrift dieses
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Vgl. Mück (wie Anm. 6), S. 88-99. Vgl. Wachinger (wie Anm. 3), S. 390-391. In seinem Beitrag Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken hat Wachinger (wie Anm. 3) aufgrund des Inhalts und der Anordnung der gemeinsam überlieferten Dichtungen innerhalb des Korpus H, B und E die Programmatik einer zugrunde liegenden Kernsammlung zum Thema ‘Minne’, die er als “Minnebuch” (S. 391) bezeichnete, nachweisen können. Ebenso hat Glier (wie Anm. 6) bereits 1971 für den Minneredenkomplex in H, B und E typologische Ansätze formuliert. Dennoch ist erstaunlich, daß vor Wachinger niemand die übergeordnete thematische Geschlossenheit unter dem Aspekt ‘Minne’ als Konnex für den Zusammenhalt des gesamten Vorlagenkorpus X trotz formaler Zweiteilung der Sammlung so explizit herausgestellt hat.
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Gesamtkorpus (H, B und E) liegt H in einer Edition (Haltaus 1840) vor.14 Die Haltaussche Textausgabe zeigt eine deutliche und auch seit langem bekannte Diskrepanz zur authentischen Überlieferung. Die Eingriffe von Haltaus in die Textvorlage (Umstellungen und zugleich Nichtbeachtung von Kohärenzmerkmalen der Handschrift) zerstören das in der Sammlung intendierte und spezifische Verständnis als Gesamttext. Seine Edition negiert durch Umstellung von tragenden Aufbauelementen den eigentümlichen Charakter des Kompendiums und verstellt den Blick auf das evidente und der authentischen Handschrift eigene Sammlungsprinzip. Besonders die ursprüngliche Konzeption des alten Minnebuches (Kernsammlung X) in seiner typologischen Dreiteilung läßt sich für den Benutzer dieser Edition nicht mehr erschließen. So vertauscht Haltaus innerhalb der klaren Großgliederung dieser Sammelanlage den ersten Abschnitt der 77 Reimpaargedichte (bei Haltaus: didaktische Abteilung) mit dem in der Handschrift an zweiter Stelle plazierten Liedteil (lyrische Abteilung) und gibt sie in seiner Edition in umgekehrter Reihenfolge wieder. Die von Haltaus vorgenommene Differenzierung der Hauptteile nach gattungsästhetischen Kriterien wie ‘lyrischen’ oder ‘didaktischen’ Merkmalen bietet sich hinsichtlich der evidenten Grobeinteilung der Handschrift H zwar zunächst an, erweist sich in der Tiefenstruktur dieser Sammelanlage jedoch als unpräzise, da dieses Linearitätsprinzip sich nicht durchgängig in H nachweisen läßt. Texte, die dieses Linearitätsprinzip in der authentischen Überlieferung zu unterbrechen scheinen, werden in der Edition von Haltaus nicht berücksichtigt bzw. lediglich im Kommentar erwähnt.15 Durch diese unvollständige Form der Textpräsentation wird die Möglichkeit eines historisch präziseren Lesevorgangs, der die realen Bedingungen spätmittelalterlicher Texttradierung mit einbezieht, nicht geboten. Hinzu kommt eine fehlerhafte Textwiedergabe durch häufig nicht verstandene Strophenformen der Lieder, unsystematische Normalisierungen, Lese- und Druckfehler und unsachgemäße 14
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Vgl. dazu auch die Rezension von Günther Schweikle: Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von Carl Haltaus. (Photomechan. Nachdr. der Ausg. Quedlinburg, Leipzig 1840.) Mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966. In: Germanistik 8 (1967), S. 774 f., Nr. 3287. Prag, X A 12, Bl. 287v-288v; dort wird eine Kostenaufstellung für einen Dreipersonenhaushalt mit dem Titel Nota du Hußwirt geboten. Bei Haltaus erfolgt kein Abdruck dieses Textstücks, das mit dem nachfolgendem Text Das hus geschirr (Prag, X A 12, Bl. 288-289; bei Haltaus Nr. I,35, S. 42-43) eine Überlieferungssymbiose bildet und sich auch in der Handschrift Heidelberg, Cpg. 314, Bl. 99r-98v nachweisen läßt.
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Abbreviaturauflösungen. Auch die Revision Fischers (1966) vermochte nicht, den historischen Sprachzustand dieser Handschrift in seiner Gesamtheit zu erfassen.16 Zudem hat Haltaus’ Gattungsbestimmung als ‘Liederbuch’ den Text zugleich auf eine unangemessene Rezeptionstradition festgelegt. In der jüngeren Forschung ist daher wiederholt eine neue Textausgabe gefordert worden, die diesem Aspekt Rechnung trägt. Die mangelnden Zugriffsmöglichkeiten auf die Bechsteinsche Handschrift erschwerten ebenso eine abschließende Dokumentation und intensive Auswertung dieses einzigartigen Verwandtschaftsverhältnisses von H, B und E auch in Bezug zur gemeinsamen Vorlage X. Diesem Umstand ist es anzulasten, das zahlreiche Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet bislang lediglich hypothetische Ergebnisse vor allem auch in Hinblick auf die Gesamtüberlieferungslage formulieren konnten. Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, daß die Bechsteinsche Handschrift im Jahre 2002 unter den Altbeständen der ULB Halle neu gesichtet werden konnte.17 Damit liegt nun erstmalig das Handschriftenkorpus H, B und E in seiner Gesamtheit vor und eröffnet für die Forschung neue Möglichkeiten, an der Primärquelle zu arbeiten, den Bedarf an Überprüfbarkeit und Korrektur18 zu decken, und ebenfalls die Möglichkeit der komparatistischen Sichtung von H, B und E, der editorischen Sicherung von B sowie der Einordnung des Gesamtkorpus in den kulturellen Kontext der Zeit. Bevor Haltaus seine Edition der Prager Handschrift Sig. X A 12 unter dem Titel Liederbuch der Clara Hätzlerin vorlegte, wurden bereits zwei 16
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Damit ist die Realisierungsform des Textes in der Edition der Prager Handschrift vor allem für sprachhistorische Studien unbrauchbar und für literarhistorische Forschungen nur beschränkt brauchbar. Eine kodikologische Aufbereitung der Bechsteinschen Handschrift (ULB Halle, 14 A 39) erfolgt im Rahmen des zur Zeit laufenden, DFG-geförderten Projektes “Erschließung der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsund Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (S)”. Im Juli 2004 erwarb die UB Leipzig die Bechsteinsche Handschrift. Aufgrund eines bestehenden Nießbrauchrechts verbleibt die Handschrift jedoch in den nächsten Jahren in der ULB Halle. Nach neuestem Erkenntnisstand entspricht nicht einmal die Blattzählung von Haltaus der authentischen Foliierung in B. So sind die fehlerhaften Angaben von Haltaus zu Bechsteins Handschrift von der Forschung aus Mangel an Überprüfbarkeit weitgehend übernommen worden. Das bedeutet, daß die gesamte Forschungsliteratur allein schon in diesem Bereich revisionsbedürftig ist.
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Abschriften der Prager Handschrift durch Gustav Büsching (Berlin Mgf 451) und den Freiherrn von Laßberg (Don. 129) gefertigt.19 Die Fertigung von Abschriften zeugt von einem frühen Interesse der Germanistik an dieser Sammlung. Auch Ludwig Bechstein erwarb 1835 eine hinsichtlich des Textbestandes bzw. der Chronologie auffallend ähnlich konzipierte und bis dahin namenlose Sammelhandschrift aus dem Jahre 1512, eben diejenige, die heute unter dem Namen Bechsteinsche Handschrift (ULB Halle, 14 A 39) bekannt ist. Diese stellte er später Haltaus für die geplante Edition von H als Vergleichsmaterial zur Verfügung.20 Nach Bechsteins Tod im Jahre 1860 wechselte die Handschrift B in den Besitz des Freiherrn von Maltzahn (vgl. Abb. 1 im Anhang), der neben Friedrich Heinrich von der Hagen erstmals eine Sichtung des Codex vornahm und im Jahre 1861 eine ausführliche Beschreibung der Handschrift durch Joseph Maria Wagner in Wien vornehmen ließ, die dieser im Vorderteil beigefügt ist (vgl. Abb. 2).21 Bis zum Jahre 1881 war die Handschrift noch im Besitz Maltzahns. In den Folgejahren tauchte die Handschrift wiederholt bis 1885 im Verkaufskatalog des Antiquarischen Bücherlagers von Albert Cohn in Berlin auf.22 Seit diesem Zeitpunkt ließ sich der Verbleib dieser Handschrift bis 19
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Die Abschrift des Freiherrn von Laßberg (Don. 129) wird derzeit in der Badischen Landesbibliothek in Rahmen eines DFG-geförderten Projektes neu beschrieben und editorisch erfaßt. In der Einleitung zu seiner Edition der Prager Handschrift X A 12 stellt Haltaus (wie Anm. 1) in einem Verzeichnis die Hauptabweichungen der Bechsteinschen Handschrift gegenüber der Abschrift der Hätzlerin zusammen (S. XXXIX-XLIX). Da die Handschrift aus dem Besitz Bechsteins Haltaus erst nach dem Textabdruck der Lieder zur Verfügung stand, merkt er bedauernd an: “Hätte ich die Bechsteinsche Handschrift früher benutzen können, würde es mir in mannichfacher Hinsicht genutzt haben trotz dem daß sie später ist” (S. XXXVIII). Die Bechsteinsche Handschrift wurde 1875 zusammen mit einer kurzen Beschreibung in Maltzahns Deutschem Bücherschatz unter der Rubrik “Liederbücher, Sammlung von Volks- und Gesellschaftsliedern” als Nr. 548 katalogisiert. Vgl. Freiherr Wendelin von Maltzahn: Deutscher Bücherschatz des 16., 17. und 18. bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit einem Register von Georg Völcker. Jena, Frankfurt a. M. 18751882. Zur Geschichte der Handschrift vgl. ferner Mück (wie Anm. 6), S. 78-80. Die Bibliothek des Buchhändlers, Gelehrten und Shakespeare-Forschers Albert Cohn (1827-1905) enthält einen Bestand an Auktions- und Antiquariatskatalogen. Dieser Bestand ist Teil der Historischen Sammlung der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Vgl. 136. Katalog des Antiquarischen Bücherlagers von Albert Cohn in Berlin (1881), S. 24: “Bechstein’s Liederbuch, das mit dem der Cl. Hätzlerin stimmt.” Das Verkaufsangebot zur Bechsteinschen Handschrift wurde im 164. Katalog vom Jahre 1885 durch
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zu ihrer Wiederentdeckung in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle a. d. S., nicht genauer bestimmen. Das alte Stemma von Geuther beschreibt die Handschriften B und E als eine Überlieferungsstufe, die über eine Vorstufe b auf die gemeinsame Vorlage, die sogenannte Kernsammlung X, zurückgehen. Aufgrund des Umstands, daß die Handschrift B über einen Zeitraum von 117 Jahren als verschollen galt, konnte eine Untersuchung der Filiation von E zu B nicht durchgeführt werden. Daß die jüngere und ebenso wie B aus Würzburg stammende Handschrift E vermutlich eine Abschrift der Bechsteinschen Handschrift sein könnte und nicht in einem direkten Verwandtschaftsverhältnis zu H steht, ist in der Forschung zu diesem Handschriftenkorpus bereits diskutiert worden.23 Erste Ergebnisse einer vergleichenden Autopsie stützen die Annahme, daß es sich bei E um eine Abschrift der Bechsteinschen Handschrift handelt. Die Erweiterungen, die über den gemeinsamen Textbestand von B und E hinausgehen, sind als externer Anhang zu verstehen, eine Beobachtung, die typisch für die Schreib- und Kopierpraxis bei der Anlage von Sammelcodices im Literaturbetrieb des Spätmittelalters ist. Der Schreiber von E, Martin Ebenreutter, oder sein Auftraggeber haben somit bei der Auswahl der Vorlage für die Abschrift aus dem Jahre 1530 vermutlich die Geschlossenheit der Minnebuchsammlung in B erkannt; Ebenreutter kopierte diese dann in seine Sammelhandschrift. Die Nähe der beiden Handschriften H und B läßt sich auch durch die Abschrift von Lesefehlern aus B dokumentieren: Transkription: Handschrift H (Prag, X A 12), Bl. 72v: Handschrift B (Halle, 14 A 39), Bl. 129r: Handschrift E (Berlin, Mfg 488), Bl. 2r:
23
Ge!treyffet i!t ain affenklaidt Ge!treiffet i!t ein appfel kleidt Ge!treiffet i!t ein aipffel kleydt
Cohn wiederholt. Dies ist die letzte bekannte Aufzeichnung zu dieser Sammelhandschrift. Wachinger (wie Anm. 3), S. 390, führt dazu aus: “Über das Verwandtschaftsverhältnis der drei Handschriften hat es verschiedene Meinungen gegeben. Die Argumentation wird dadurch erschwert, daß die Handschrift B seit 1885 verschollen ist und die von Haltaus mitgeteilten Lesarten unzuverlässig sind. Für E aber glaube ich immerhin ausschließen zu können, daß es direkt oder indirekt von H abstammt: es enthält bessere Lesarten, die nicht als sekundäre Verbesserungen zu verstehen sind. Daher kann E zur Rekonstruktion der Vorlage von H herangezogen werden. Vgl. ebenso Mück (wie Anm. 6), S. 88 ff. sowie das Entwicklungsschema S. 108.
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Neben dem offensichtlichen Lesefehler in B (“appfel kleidt” gegenüber der Fassung H “affenklaidt”), der dann auch in die spätere Abschrift E übernommen wird, folgt E in den von H abweichenden Lesarten der Vorlage B.24 Ein weiterer Befund, der die auffällige Nähe im Verwandtschaftsverhältnis der Bechsteinschen Handschrift zur Abschrift des Martin Ebenreutter stützt, ist die Übernahme prägnanter Monogramme von B in E (vgl. Abb. 3 im Anhang). Diese auffallende Authentizität und überwiegende Parallelität im Überlieferungsbefund, die sich ebenso auf das gesamte Handschriftenkorpus H, B und E übertragen lassen, sind in diesem Ausmaß einzigartig in der Überlieferungsgeschichte spätmittelalterlicher Lyrikhandschriften, eine Beobachtung, die in der bisherigen editorischen Erschließung (Haltaus 1840) keine Berücksichtigung fand. Eine im Rahmen dieses Projektes vorgenommene Revision der bisherigen editorischen Aufarbeitung des Textkorpus Liederbuch der Clara Hätzlerin von Haltaus im Sinne einer erneuten prüfenden Durchsicht ergab folgende Problemfelder, die für die Entwicklung methodischer Neuansätze relevant sind: 1. Umstellungen im Bereich der Textchronologie verstellen den Blick auf den spezifischen Sammlungscharakter und den historisch korrekten Lesevorgang des Textbestandes. Bei der Textherstellung der geplanten Neuausgabe wird gemäß dem historischen Handschriftenbefund das Authentizitätsprinzip in Hinblick auf die tradierte Textchronologie gewahrt. 2. Auffällig ist ein hoher Anteil von Lesefehlern; in diesem Punkt erfolgt Korrektur und Modernisierung. 3. Unregelmäßige Normalisierungen; sinnentstellende Schreibereigenheiten wurden nicht korrigiert. Demgegenüber wurden hinsichtlich metrischer, z. T. auch grammatischer Norm nicht nachvollziehbare Eingriffe vorgenommen. 4. Metrik: In der Edition Haltaus’ (1840) wurde keine annähernd einheitliche Regelung getroffen. Die metrische Gestalt der Lieder erscheint in der Handschrift offenkundig verunklärt. 5. Zählung der Minnereden, Tagelieder und Liebeslieder bzw. motivverwandten Texte folgt nicht durchgängig der Reihenfolge im Hand24
Zum Nachweis gemeinsamer Lesarten in B und E gegenüber der abweichenden Abschrift der Hätzlerin (H) vgl. Wachinger (wie Anm. 3), S. 390, Anm. 9.
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schriftenkorpus; hier erfolgt Stückzählung gemäß dem handschriftlichen Befund. 6. Formansätze und Kohärenzmerkmale der einzelnen Textstücke wurden in der früheren Ausgabe dieses Sammlungskorpus nicht berücksichtigt. 7. Die Strophenformen wurden von Haltaus häufig nicht verstanden, so daß distinkte Strophenteile (z. B. Refrain) für den Benutzer nicht transparent sind. 8. Die bisherige Textausgabe weist nur sporadisch Ansätze eines Apparates auf, der zwar auf Fragestellungen des Layouts in H eingeht, aber weder Lesarten der relevanten Parallelüberlieferung noch das Spektrum des vorhandenen Streuüberlieferung widerspiegelt. Somit kann hier nicht einmal ansatzweise der Anspruch eines textkritischen Apparates konstatiert werden. 9. Bei der Textherstellung wurde der bis 1840 ermittelte Kenntnisstand von Parallelüberlieferungen zur Bewertung der Überlieferungsqualität einzelner Textstücke in H nicht mitberücksichtigt.25 Von dem gesamten Material der drei Haupthandschriften H, B und E ausgehend, ergibt sich eine Begrenzungsmöglichkeit auf den Textbestand der ursprünglichen Sammlung X (gemeinsamer Bestand von H, B und E). Diese Korpusbegrenzung wird bereits durch die spezifische Überlieferungssituation bzw. Überlieferungsbeschaffenheit der drei Handschriften vorgegeben.26 Der Abdruck aller Überlieferungsträger ermöglicht zwar hinsichtlich größtmöglicher historischer Authentizität einen ‚objektiven’ Einblick, bleibt jedoch auf der Stufe reiner Dokumentation stehen. Eine weitere Lösung – komplizierter in der editorischen Organisation – könnte darin bestehen, einer Handschrift zu folgen.27 Ein Überlieferungsträger wird
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Vgl. Haltaus (wie Anm. 1), S. XXXIX. Diese Vorgehensweise soll nicht als Versuch mißverstanden werden, eine Rekonstruktion eines dem Original sich annähernden Archetypus vorzunehmen. Dennoch zu erwartende überlieferungsgeschichtliche Ergebnisse könnten dann Bestandteil des Erläuterungskommentars werden. Zur methodischen Diskussion vgl.: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni 1991. Hrsg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner. Tübingen 1993 (= Editio-Beihefte 4); Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung ‘Methoden
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als Leithandschrift der Textfassung zugrunde gelegt. Die beiden weiteren Überlieferungsträger B und E, die über Zwischenstufen genetisch mit H verwandt sind, bieten in der Regel überraschend konforme Texte. In den meisten Fällen berühren die Abweichungen nicht die Textsubstanz und lassen sich als iterierende Varianten deuten. Bei dieser Lage könnte prinzipiell jede der drei Haupthandschriften die Funktion der Leithandschrift übernehmen, sofern keine späteren Bearbeitungen oder willkürlichen Veränderungen in ihr erkennbar werden. Für die Fassung der Bechsteinschen Handschrift (B) sprechen bereits mehrere Faktoren. Hinsichtlich der editorischen Aufbereitung der Kernsammlung X bietet sich dieser Überlieferungsträger an, profiliert er diese doch bereits offensichtlicher in der Gestaltung des Layouts durch florale Ornamente (vgl. Abb. 4 im Anhang).28 Somit erscheint diese codexorientierte Wahl der Leithandschrift legitim, zumal hierbei überlieferungsgeschichtliche Zusammenhänge, die das Lied und die Minnerede als Textform übergreifen, sichtbar werden. Der synoptische Aspekt bei der Textherstellung muß bei der Wahl des Leithandschriftenprinzips nicht zwingend in den Hintergrund treten; er verhindert bei einem Korpus wie der gesamten Textgruppe um das sogenannte Liederbuch der Clara Hätzlerin im Falle von zusätzlichen Verszeilen eine unnötige Überfrachtung des Apparats und ermöglicht durch parallelen Textabdruck im Falle von Abweichungen eine praktikable Lösung. Den Textbestand einer Sammelhandschrift und ihrer direkten Abschriften zur Grundlage einer Edition zu machen, hat seine Berechtigung in der Überlieferungsart spätmittelalterlicher Lyrik.29 Das Korpus H, B und E als Textgruppe um das sogenannte Liederbuch der Clara Hätzlerin eignet sich in besonderem Maße für eine Untersuchung, die vorwiegend der Textentwicklung und dem Aspekt großangelegter Überlieferungssynopsen breiten Raum gewährt. Dieses Textkorpus weist nach eingehender Analyse des Gesamtbestandes einen Endpunkt
28
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und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte’ 26.-29. Juli 1991. Hrsg. von Anton Schwob. Göppingen 1994 (= Litterae 117). Für die Fassung B spricht auch die sprachliche Eleganz dieser Handschrift. Eine geringere Schreibkompetenz im Vergleich zur Hätzlerin läßt sich nicht erkennen. Zudem weichen die Erweiterungen in H die klaren Konturen des alten Minnebuches auf. Vgl. die Edition: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersuchungen 29).
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in der Überlieferung traditioneller Minnekonzeption im ausgehenden Mittelalter auf, von dem aus rückblickend die Entwicklung einzelner Lied- bzw. Reimpaartypen verfolgt werden kann. Von der Beobachtung eines repräsentativen Textbestandes der hier angesprochenen Texttypen ausgehend, läßt sich auch die Existenz der weiteren und zeitlich jüngeren Abschriften B und E erklären. Denn dieser Sammlungsbestand weist im Vergleich mit anderen spätmittelalterlichen Sammelhandschriften eine hohe Konzentration von sogenannten Überlieferungsschlagern, d. h. Textstücken mit Mehrfachüberlieferung, auf und gewährt somit ein gewisses Maß an Repräsentativität. In der Forschung ist die Neuedition der Hätzlerischen Sammelanlage unter Berücksichtigung der gesamten Parallelüberlieferung ein seit langem bekanntes Forschungsdesiderat. Im Rahmen dieses Editionsvorhabens ist neben der Textausgabe der in diesem Handschriftenkomplex tradierten Minnereden, Minnelieder und motivverwandten Texte sowie ihrer inhaltlichen Aufschlüsselung durch einen Erläuterungskommentar auch eine ausführliche Darstellung der Überlieferungs- und Textgeschichte der einzelnen Textstücke intendiert. Diese beabsichtigt wiederum, Ansatzpunkte für eine genauere Charakterisierung der Überlieferung des Liederbuchliedes und der Reimpaarreden des 15. Jahrhunderts zu liefern, bei denen bisher lediglich sehr pauschal eine große Varianz diagnostiziert wurde.
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Abb. 1: Besitzvermerk und Inhaltsverzeichnis des Freiherrn Wendelin von Maltzahn auf den vorderen Blättern der sog. Bechsteinschen Handschrift (1512), die er nach dem Tode Ludwig Bechsteins im Jahre 1860 aus dessen Nachlaß erwarb.
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Abb. 2: Letzte Seite der inhaltlichen Beschreibung von Joseph Maria Wagner zur Bechsteinschen Handschrift. Diese “ganz genaue bibliographische Beschreibung” (Maltzahn, wie Anm. 17, S. 82) ließ sich Maltzahn von dem weiter nicht bekannten Wiener Joseph Maria Wagner anfertigen, die am 3. November 1861 beendet wurde. Sie galt zusammen mit der Handschrift als verschollen (vgl. Mück, wie Anm. 6, S. 80).
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Abb. 3: Bechsteinsche Handschrift, Bl. 137r, auffällig gestaltetes Monogramm: Findet sich auch in der Sammelhandschrift des Martin Ebenreutter aus dem Jahre 1530 (Bl. 389r), vgl. Abbildung unten (Kopie: Mikrofilm). Darüber hinaus stützt ebenso die Übernahme prägnanter Monogramme die Annahme, daß es sich bei E um eine direkte Abschrift von B handelt.
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Abb. 4: Bechsteinsche Handschrift, Bl. 138r mit auffälliger Blumenranke am linken Rand; hier Beginn der Kernsammlung X (ursprüngliches Minnebuch), dem gemeinsamen Überlieferungsbestand von H (Hätzlerin), B (Bechstein) und E (Ebenreutter). In der Kopfzeile von jüngerer Hand der Nachtrag des Titels: Das niemand frauen übel reden soll (vielleicht von Bechstein eigenhändig vorgenommen). Kopie: Mikrofilm. Auch in der Hs. E fehlt in der ursprünglichen Fassung der Titel. Zur Kennzeichnung des Beginns der Kernsammlung X wird auch in E optisch eine Zäsur (Lehrseite) eingefügt. So lassen sich bereits in der Layoutgestaltung neben vielen weiteren charakteristischen Beispielen prägnante Übereinstimmungen zwischen B und E feststellen.
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Gert Hübner DIE RHETORIK DER LIEBESKLAGE IM 15. JAHRHUNDERT Überlegungen zu Liebeskonzeption und poetischer Technik im ‘mittleren System’ Abstract Die anonymen Liederbuch-Liebeslieder des 15. Jahrhunderts, für die als Beispielkorpus die Sammlung im Liederbuch der Klara Hätzlerin dient, konstruieren trotz der Übernahme verschiedener Standardmotive und -begriffe des höfischen Minnesangs ein Liebeskonzept, das sich in zentralen Aspekten grundsätzlich von dem des Vorgängersystems unterscheidet. Die Legitimierung der unerlaubten Liebe durch ihre normative und affektive Ambitioniertheit wird aufgegeben zugunsten eines Konzepts der Liebe als Heimstatt unangestrengter Beruhigtheit. Die Veränderungen argumentativer und elokutionärer Verfahrensweisen im Liedtyp Liebesklage indizieren den Unterschied zwischen der Liebe als affektivem Spannungszustand und normativer Anstrengung einerseits, der Liebe als Einfachheit andererseits.
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind die Differenzen zwischen der Liebeskonzeption im Minnesang des 12. und 13. Jahrhunderts einerseits, andererseits in demjenigen Typus von Liebeslyrik, der in den Liederbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts dominiert. Ich beziehe meine Argumentation auf ein eingeschränktes, meines Erachtens aber repräsentatives und nicht zuletzt seines Umfangs wegen ergiebiges Korpus aus dem 15. Jahrhundert: die Liebeslieder-Sammlung im Liederbuch der Klara Hätzlerin.1 Die These lautet, daß sich der konzeptionelle Unter1
Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus der Handschrift des böhmischen Museums zu Prag hrsg. von Carl Haltaus. Quedlinburg, Leipzig 1840. Repr. mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966. Vgl. dazu Karl Geuther: Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin. Halle a.d.S. 1899; Horst Dieter Schlosser: Untersuchungen zum sog. lyrischen Teil des Liederbuchs der Klara Hätzlerin. Diss. Hamburg 1965; Ingeborg Glier: Hätzlerin, Klara. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 3 (1981), Sp. 547-549; Burghart Wachinger: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 386-406; Johannes Rettelbach: Lied und Liederbuch im spätmittelalterlichen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-
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schied anhand der Unterschiede der poetischen Techniken erkennen läßt, in denen er sich manifestiert. Von ‘Rhetorik’ ist die Rede, weil es sich bei den Verfahrensweisen der Liedtext-Produktion, die ich zum Gegenstand machen will, um argumentative und elokutionäre handelt.
I.
‘Mittleres System’ und Minnesang: Innovationen und Konstanten
Horst Brunner hat 1978 angeregt, die Entwicklung vom Minnesang zur Liebeslyrik der Liederbücher als Systemwechsel zu verstehen.2 Das neue System wird greifbar mit dem Liebesliedkorpus, das unter dem Namen des Mönchs von Salzburg überliefert ist,3 und hat Bestand bis weit ins 16. Jahrhundert, in seinen Kernaspekten bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts.4 Weil es seine Wirkung in der Zeit zwischen Minnesang und barocker Lese-Liebeslyrik entfaltet, nenne ich es provisorisch und der Einfachkeit halber das ‘mittlere System’. Der Begriff soll neben der diachronen Perspektive auch andeuten, daß das System unter synchronem Aspekt relativ offen und integrationsfähig nach verschiedenen Seiten ist. Vorab mögen einige Bemerkung zur Funktion des Systembegriffs hilfreich sein. Er impliziert in erster Linie, daß Einzeltexte ihren Sinn (nicht unbedingt ausschließlich) durch Systemreferenz konstituieren. Diese manifestiert sich nicht allein darin, daß eine Gruppe von Texten auf ein gemeinsames Reservoir an Topoi zurückgreift – im Fall von Minnesang und mittlerem System auf Begriffe und Begriffsverknüpfungen, metaphorische Modelle, Rollenmuster, unterstellte Situationen, Liedtypen. Systemreferenz besteht darüber hinaus darin, daß die topi-
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Krapp. Tübingen 1995, S. 281-307; Karin Schneider: Berufs- und Amateurschreiber. Zum Laien-Schreibbetrieb im spätmittelalterlichen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995, S. 8-26; Sheila Edmunds: Clara’s Patron: The Identity of Jörg Roggenburg. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 261-267. Zur geplanten Neuausgabe vgl. den Beitrag von Susanne Hohmeyer, Inta Knor und Hans-Joachim Solms in diesem Band. Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978, S. 105-146. Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hrsg. von Christoph März. Tübingen 1999 (= Münchener Texte und Untersuchungen 114). Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186.
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schen Elemente den Sinn, den sie im einzelnen Text tragen, aus ihrem Stellenwert im System (und aus der jeweiligen Positionierung im Text) beziehen. ‘System’ meint deshalb kein bloßes Reservoir von Bauelementen, sondern eine im Gattungswissen von Produzenten und Rezipienten verankerte Sinn-Ordnung, die auf ein Kernkonzept ausgerichtet ist – auf die ‘Systemdominante’.5 Ein dergestalt verstandenes liebeslyrisches System muß zum einen nicht in allen thematisch einschlägigen zeitgenössischen Liedtexten aktualisiert sein; zum anderen muß ein einzelner Text seinen Sinn nicht ausschließlich durch die Referenz auf ein einziges System oder überhaupt ausschließlich durch Systemreferenz konstituieren. Im 15. und 16. Jahrhundert gibt es Liebeslyrik, die nicht oder nicht allein auf das mittlere System referiert. Dazu gehört – soweit thematisch einschlägig – etwa vieles von dem, was man früher als ‘Volkslied’ vom ‘Gesellschaftslied’ unterschied,6 und vieles von dem, was man ‘meisterliche Liedkunst’ nennt.7 Der überwiegende Teil der aus dem 15. und 16. Jahrhundert überlieferten Liebeslieder ist indes ausschließlich oder vorrangig auf das mittlere System bezogen. Dieser Texttyp findet sich hauptsächlich in zunächst handschriftlichen, später auch gedruckten Liederbüchern, die gewöhnlich kein Interesse an der Textautorschaft zeigen. Die Rede vom mittleren System dient demnach nicht dazu, die gesamte Liebeslyrik des 15. und 16. Jahrhunderts in einen Topf zu werfen, und sie steht auch nicht notwendigerweise im Widerspruch zu einem Stand5
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Vgl., am petrarkistischen Fall, Klaus W. Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hrsg. von Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle. München 1987, S. 253-269. Vgl. etwa August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Die deutschen Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts. Leipzig 1844. 2. Aufl. Leipzig 1860; Volks- und Gesellschaftslieder des XV. und XVI. Jahrhunderts. I. Die Lieder der Heidelberger Handschrift Pal. 343. Hrsg. von Arthur Kopp. Berlin 1905; Margarete Lang: Zwischen Minnesang und Volkslied. Die Lieder der Berliner Hs. Germ. Fol. 922. Berlin 1941; Christoph Petzsch: Hofweisen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liederjahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), S. 414-445; Christoph Petzsch: Einschränkendes zum Geltungsbereich von “Gesellschaftslied”. In: Euphorion 61 (1967), S. 342-348; Horst Brunner: Gesellschaftslied. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1 (1997), S. 717 f. Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983-1984 (= Münchener Texte und Untersuchungen 82-83).
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punkt wie demjenigen Manfred Kerns, der die Vielfalt der Liebeslyrik und die ‘Hybridität’ einzelner Texte zu erfassen versucht.8 Es gibt (in meiner Diktion) verschiedene Typen, und einzelne Texte können verschiedene Typen (‘Register’, ‘Stile’) aktualisieren. Mein Interesse gilt einem bestimmten Typus, dem wahrscheinlich am klarsten profilierbaren und historisch einflußreichsten. Der Hinweis darauf, daß er das Feld nicht allein beherrschte, ist freilich von einiger Bedeutung, auch wenn es um die Differenzen zum Minnesang geht: Aus dem 12. und 13. Jahrhundert sind nämlich nur sehr wenige deutsche Liebesliedtexte überliefert, die die Einschätzung auch nur diskutabel erscheinen lassen, daß sie möglicherweise nicht auf das System Minnesang bezogen sein könnten; im 15. und 16. Jahrhundert ist der Markt der Möglichkeiten größer. Ich stelle zunächst einige Merkmale zusammen, die für die Relation des mittleren Systems zum Minnesang wichtig sind. Das auffälligste Symptom des Systemwechsels ist eine Reihe neuer, dem Minnesang unbekannter Liedtypen,9 in denen die männliche Stimme das Liebesverhältnis gewöhnlich als gegenseitiges Einvernehmen darstellt. Diese neuen Liedtypen finden sich vom späteren 14. Jahrhundert an auch in der französischen Liebeslyrik, meiner Kenntnis nach seit der Zeit von Eustache Deschamps.10 Jeder Versuch, die Geschichte des Systemwechsels rekonstruieren oder gar erklären zu wollen, wird deshalb den Blick auf die französischen Entwicklungen und die entsprechenden Literaturrespektive Musikbeziehungen richten müssen. Ich blende diesen Aspekt jedoch (für diesmal noch) aus, weil es mir zunächst nur um die textpoetische Phänomenologie der deutschen Liebeslieder geht.
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Manfred Kern: Der verhuhnte Falke. Anmerkungen zu einer möglichen Ästhetik der spätmitelalterlichen Liebeslyrik. In: Neophilologus 86 (2002), S. 567-586; außerdem Kerns Beitrag in diesem Band. Doris Sittig: “vyl wonders machet minne”. Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Göppingen 1987; vgl. auch den Beitrag von Horst Brunner in diesem Band. Œuvres complètes de Eustache Deschamps. Publiées d’après le manuscrit de la Bibliothèque Nationale par le Marquis de Queux de Saint-Hilaire. Bd. 3 und 4. Paris 1882-1884. Repr. New York, London 1966.
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Die neuen Liedtypen – Abschiedsklagen,11 Trennungsklagen,12 Klagen über das von einer mißgünstigen Umwelt erzwungene ‘meiden’13 – kontrastieren typischerweise die innere Verbundenheit der Liebenden mit mißlichen äußeren Umständen, die eine erzwungene Distanz begründen. In diesen Liedtypen avanciert der Reim von ‘leiden’ auf ‘scheiden’ und ‘meiden’ zum Konzeptreim; die männliche Stimme hat weiterhin allerhand zu beklagen, aber nicht mehr, wie vorzugsweise im Minnesang, die mangelnde Geneigtheit der Geliebten. Daneben gibt es Lieder, die das Einverständnis ganz oder weitgehend leidfrei darstellen. Das kann ebenfalls mit bestimmten Situationen korreliert sein, die der Minnesang nicht kannte, insbesondere mit dem Neujahrsgruß,14 dem Gutenachtgruß15 oder der Begrüßung beim Wiedersehen nach einer Trennung.16 Wenn Einverständnislieder keine Anbindung an eine bestimmte Situation konstruieren, feiern sie einfach den affektiven und ethischen Wert der wechselseitigen Verbundenheit.17 Diesen zuletzt genannten Liedtyp gab es bereits im Minnesang, nicht mit hoher Frequenz zwar, aber auch nicht so selten, daß man sich seiner mit der Rede von ‘Ausnahmefällen’ oder ‘randständigen’ Liedern einfach entledigen könnte.18 Damit bin ich beim Fortbestand älterer Liedtypen angelangt, der für die Interpretation des Systemwechsels eine nicht minder wichtige Rolle spielt als die Einführung neuer Liedtypen. Ebenso wie das situationsunspezi-
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Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 49, 77, 79 (Oswald von Wolkenstein), 115. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 38, 62, 112. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 5, 39, 86, 118. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 51, 56, 64, 68, 69, 76, 102. – Arne Holtorf: Neujahrswünsche im Liebesliede des ausgehenden Mittelalters. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des mittelalterlichen Neujahrsbrauchtums in Deutschland. Göppingen 1973. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 71. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 49. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 72, 92 (Einverständnis und Freude); Nr. 57, 60, 65 (Einverständnis und Treue); Nr. 36, 47 (Einverständnis vs. ‘klaffer’). Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16) , S. 1-29, hier S. 24. Vgl. dagegen Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (= Saecula spiritalia 35-36), Reg. “Freudenkanzone”. Vor allem bei Ulrich von Liechtenstein findet sich eine ganze Gruppe solcher Lieder.
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fische Freudelied hat etwa das Tagelied überlebt,19 offensichtlich weil es dem mittleren System leicht anzupassen war. Die alte Bedrohung durch die gesellschaftlichen Normen verband sich mit der Mißgunst der ‘klaffer’, der morgendliche Abschied und die anschließende Trennung mit den Klagen über ‘scheiden’ und ‘meiden’ oder mit wechselseitigen Versicherungen der fortdauernden inneren Verbundenheit.20 Überlebt hat den Systemwechsel auch die Liebeswerbung in Gestalt der explizit an die Geliebte adressierten Forderung nach Gegenliebe. Lieder dieser Art unterscheiden sich kaum von der entsprechenden Variante der Minnekanzone; insbesondere benutzen sie den traditionellen persuasiven Apparat der Werbungsargumentation.21 Die aufrichtige und exklusive Liebe des Mannes, der erfahrene Liebesschmerz und die Hoffnung auf Freude begründen, wie eh und je, einen Anspruch, der sich an die ‘güte’ der Frau richtet; der ‘dienst’ impliziert, wie eh und je, den Appell an die ‘gnade’. So etwa im folgenden Beispiel:22 In meinem hertzen liebst du mir Ye mer vnd bas von tag ze tag. Hertz, muo t und synn sent sich zu dir; Kain ruo ich nicht gehaben mag, Es sey dann, das du werdest gewar, Das ich sölich fräd trag über Jar Zu dir, mein usserweltes ain. Wurd dir das kunt, so waiß ich wol, Das du mich, lieb, on trost nit lest, Wann dein hertz ist genaden vol. Ich hoff, du tüest an mir das pest, Und tröst mich senenden knecht, Wann all mein dienst hab ich mit recht, Zart lieb, uff dich geerbt allain.
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Vgl. den Überblick von Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Diss. Berlin 1987; außerdem den Beitrag von Sabine Obermaier in diesem Band. Vgl. z. B. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 3, 6, 11, 14a, 14b, 17, 23. Vgl. z. B. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 46, 48, 61, 66, 67, 70, 74, 75, 80, 94, 100, 101. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 70. Hier wie bei den folgenden Texten sind von Fischer (wie Anm. 1, S. 410 ff.) korrigierte Fehler Haltaus’ stillschweigend verbessert, andere Eingriffe vermerkt. 2,2 lest] Haltaus mit Hs. ließt.
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Tuo an mir selbs recht wie du wilt, In dein genad will ich mich geben. O mynnecliches schönes pilt, Laß mich by dir in liebe leben. Ich traw dir wol, du lassest mich nicht, Wann ich mich gentzlich hab gericht, Das ich will, lieb, dein aigen sein.
Die Werbungsargumentation ist ein Ausdruck der womöglich wichtigsten konzeptionellen Konstante, die das mittlere System mit dem Minnesang verbindet. Hier wie dort stellt sich dem männlichen Begehren (auf das die Thematisierung des weiblichen funktional bezogen ist) nicht die bange Frage, ob sich denn auf der weiblichen Seite ebenfalls etwas regt. Hier wie dort ist der Grundgestus nicht ‘Ich liebe sie – liebt sie mich auch?’, sondern ‘Ich liebe sie, also erwarte ich Gegenliebe’. Unterstellt wird stets ein Anrecht auf die Erwiderung ‘richtiger’ Liebe, das die typische Werbungsargumentation überhaupt erst ermöglicht. Zwar ist es, nicht anders als seit dem späteren 18. Jahrhundert, ein Glück, geliebt zu werden; aber ein Vers wie “Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht!” würde zum mittleren System ebenso wenig passen wie zum Minnesang. Hier wie dort erhofft man ganz im Gegenteil, was man verdient. Die ‘richtige’ Liebe begründet einen Anspruch auf die gleichwohl aus freien Stücken – als Gabe der Gnade – gewährte Gegenliebe. Der Aspekt des normativen, vertragsähnlichen Verhältnisses bleibt der dominante; die anderen Aspekte der Liebe – Emotionalität und Körperlichkeit – sind weiterhin darauf bezogen.
II.
Verfahrensweisen und Konzeptionen
Mit einem Teil der eben aufgezählten Befunde operiert die Interpretation der Unterschiede zwischen der Minnekanzone und dem neuem Typus des Liebeslieds, die Burghart Wachinger 1999 vorgestellt hat. Ihr Kern besteht darin, die Differenzen “nicht primär als historischen Wandel von Liebeskonzepten zu verstehen, sondern als Verschiebung der jeweils angenommenen Situation monologischen Sprechens.”23 Während die 23
Wachinger (wie Anm. 18), S. 21.
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Minnekanzone prinzipiell in der Anfangsphase einer noch einseitigen Liebesbeziehung zu denken sei, spreche “das monologische Liebeslied des jüngeren Typus immer schon aus einer Beziehung heraus.”24 Das ist eine Übergeneralisierung, trifft aber in der Tat auf die Mehrzahl der Lieder des mittleren Systems zu. Die ‘Verschiebung’ der Situationen behandelt Wachinger als eine ‘Wende’, die konzeptionelle Kernbestände unberührt läßt: “Die allgemeinsten Normen” des höfischen Liebesdiskurses – “Freiwilligkeit, Beständigkeit, Ausschließlichkeit der Liebe” – würden “von der Wende nicht in Frage gestellt.”25 Ich teile Wachingers Zweifel an der Möglichkeit, Liebeskonzeptionen von Darstellungstechniken abzulösen. Ich glaube aber, daß poetische Verfahrensweisen auch bei älteren Texten manchmal der Ausdruck von Konzeptionen sind oder, anders herum, daß sich die Frage lohnen kann, ob die Konzeption eine Art innere Form der jeweiligen Verfahrensweisen ist.26 Das begründet meinen Verdacht, daß die Situationen in den neuen Liedtypen – als neue Verfahrensweisen für die Thematisierung der Liebe – auf eine beträchtliche konzeptionelle Differenz zwischen mittlerem System und Minnesang verweisen. Erhärten möchte ich diesen Verdacht durch eine Interpretation der veränderten Rhetorik eines weiteren Liedtyps, der den Systemwechsel überlebt hat: der Liebesklage. Es geht dabei folglich um den Zusammenhang zwischen poetischer Technik – zunächst der Argumentationsstruktur, danach außerdem des elokutionären Profils – und konzeptionellem Kern. Erkenntnisträchtig scheint mir angesichts der Konstanz des Liedtyps die Veränderung der Techniken zu sein. 24 25 26
Ebd., S. 20. Ebd., S. 16. Damit wird ein Konzept in Anspruch genommen, das in der poetologischen Reflexion vor dem 18. Jahrhundert (meines Wissens) nicht greifbar ist; die moderne Konzeptgeschichte rekonstruiert Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart, Weimar 2001. Der Umgang mit der ‘inneren Form’ sollte deshalb von Vorsicht geprägt sein; freilich gibt es in der poetischen Praxis der älteren Zeit ziemlich offensichtliche Beispiele wie das Doppelwegmodell des Artusromans. Vermeiden sollte man bei der analytischen Verwendung des Konzepts, normative Tendenzen zu entwickeln; die ‘Einheit von Gehalt und Gestalt’ kann, solange sie keine reflektierte Norm darstellt, nicht als Qualitätsmerkmal gelten. Sie taugt auch nicht als Poetizitätsmerkmal: Die Quaestio beispielsweise wurde mit einigem Recht als Argumentations- und Textmuster verstanden, das den scholastischen ‘Geist’ auf geradezu ideale Weise in Form bringt; auch das ist eine ‘Einheit von Gehalt und Gestalt’, aber keine poetische.
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III.
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Argumentation und Systemdominante
Mit ‘Liebesklage’ bezeichne ich ausschließlich denjenigen Liedtypus des mittleren Systems, der die unmittelbare Nachfolge der wichtigsten Spielart der Minnekanzone antritt: die Klage über den mangelnden Erfolg bei der Geliebten. Alle anderen Klageanlässe im mittleren System lasse ich unberücksichtigt – die schon erwähnten des Abschieds, der Trennung und des erzwungenen ‘meidens’, ebenso den der Untreue der Geliebten und des Erfolgs eines Konkurrenten27 –, denn alle diese Klageanlässe konstituieren neue, dem Minnesang unbekannte Liedtypen (wiewohl nicht unbedingt unbekannte Motive). Liebesklagen über den mangelnden Erfolg bei der Geliebten kommen im mittleren System nur selten, aber eben doch noch vor.28 Der Liedtyp, der im Minnesang im Zentrum stand, rückt nicht nur an die Peripherie; er verändert auch seine charakteristische argumentative Struktur. Dazu das folgende Beispiel:29 Der höchste schatz in diser zeitt, Den ich vff erde sicher han, An dem zwar all mein hoffen leitt, Vnd liebern trost doch nye gewan, Der zweifelt an mir sicherlich Vnd tuo t zwar ser betrüben mich. Läßt er dauon nit weisen sich, Was fräd möcht ich dann senender han? Zwar anders ich noch nye gedacht, Seid ich mich ir verpunden han, Dann was ir wird vnd ere pracht. Mit willen ich das hab getan Vnd tätt deßgleichen fürbas gern, Wann sy sölichs zweifels wolt emperen.
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Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 43, 53, 82, 83, 96, 98, 103, 110, 114. Dasselbe auch mit weiblicher Stimme als Klage über den untreuen Geliebten, Nr. 88, 104, 109. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 54, 58, 73, 78, 81, 84 (Oswald von Wolkenstein), 87, 90, 99; auch Nr. 7, das unter die Tagelieder eingeordnet ist, ist eine Liebesklage. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 54. 3,2 neu] Haltaus mit Hs. nun; 3,5 geleit] Haltaus mit Hs. gelegt; 2,6 versait] Haltaus mit Hs. versägt.
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Damit möcht sich wol triue meren Vnd sy als zweifels beleiben on. Wolhin, ich kan nit vil gesagen: Solt ich des ye engelten neu, Das mir doch notdurft wär ze clagen, So wär verlorn gar mein triu, Die ich an sy hab gantz geleit. Wurd mir durch zweifel nun versait, So wunsch ich wol vff meinen aidt, Das ir deßgleichen werd getan. Zwar zweifel tett noch nye chain guo t, Das sprich ich vff die triue mein, Vnd hindert auch dick guo ten muo t, Der sunst wol wurd an manigem schein. Glaub, mein aller liebstes ain, Das ich für all dis welt dich main! Wilt du, so bin ich dein allain Vnd will in triuen dir bestan.
Der thematische Aufbau des Lieds könnte auf den ersten Blick auch als der einer Minnekanzone durchgehen. Zu den alten topischen Standards gehört, daß der Liebende mit der ‘triuwe’ die Aufrichtigkeit seines Begehrens beteuert, und daß er behauptet, stets auf die Ehre der Geliebten Rücksicht zu nehmen. Ihr Zweifel an der Aufrichtigkeit des Liebenden zählt zwar nicht zum gängigen Begriffsrepertoire der Minnekanzone; implizit ist er aber die argumentative Zielscheibe der ‘triuwe’-Versicherung. Indes enthält das Lied ein paar Formulierungen, die in einer Minnekanzone zumindest auffällig wären. So macht der Liebende seine weitere Rücksichtnahme davon abhängig, daß die Geliebte ihren Zweifel aufgibt (2,5-6). Für den Fall, daß seine Treue wegen fortbestehenden Zweifels nicht den gewünschten Erfolg zeitigt, wünscht er, die Geliebte möge ebenso schlechte Erfahrungen machen (3). Ein solcher Mißerfolg der Geliebten in einer anderen Verbindung würde natürlich das Ende der Beziehung voraussetzen.30 30
Zur Dienstaufkündigung im Minnesang vgl. Horst Brunner: Die Absage an die Geliebte im Minnesang. In: ‘Durch aubenteuer muess man wagen vil.’ FS Anton
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Zusammen mit der Generalisierung in der Schlußstrophe – Zweifel ist immer schädlich – begründet dieses Arrangement den Eindruck, daß nicht nur die männliche Aufrichtigkeit, sondern auch das weibliche Vertrauen in die Aufrichtigkeit als Voraussetzung der Liebesbeziehung konzipiert ist. Die Konstruktion bringt den Zweifel geradezu in Opposition zur ‘treue’, so daß der Begriff ‘treue’ Aufrichtigkeit und Vertrauen gleichermaßen zu umfassen scheint. Eine Konsequenz dieser Anlage stellt die Behauptung des Liebenden dar, er könne angesichts seines mangelnden Erfolgs ‘nit vil gesagen’ (3,1). Das möchte man zunächst nicht ernst nehmen, weil seine Rede sich immerhin über vier Strophen erstreckt: Er versichert seine Treue, beklagt das mangelnde Vertrauen der Geliebten und das dadurch evozierte Leid, fordert sie schließlich im expliziten Appell auf, ihm zu glauben und damit die Voraussetzung für eine geglückte Beziehung zu erfüllen. Unterstellt man freilich, daß das Lied einem Publikum einen Standpunkt vorführt, erkennt man den zentralen Stellenwert der Behauptung, daß es nicht viel zu sagen gibt, wenn Aufrichtigkeit nicht mit Vertrauen erwidert wird. Wo diese prinzipielle Voraussetzung nicht erfüllt ist, bleibt nur der Appell an die Umworbene, den Zweifel aufzugeben, oder die Einsicht in die leidige Vergeblichkeit des eigenen Begehrens. Dem Vertrauensmangel, wird signalisiert, ist nicht durch rhetorische Anstrengung beizukommen. Weil es gegen ihn allzu viel nicht zu sagen gibt, rückt dann auch der Gedanke an das Ende der Beziehung recht schnell in Reichweite. Ein solcher Standpunkt wäre für die Minnekanzone des 12. und 13. Jahrhunderts tödlich. In der Minnekanzone hat der leidende Liebende immer viel zu sagen – in der Substanz womöglich stets etwas Ähnliches, dies aber in alle irdische und notfalls auch noch jenseitige Zukunft. Denn er beteuert seine ‘triuwe’, ohne das Vertrauen der Dame als Voraussetzung einzufordern. Seine ‘triuwe’ kann keine Bedingungen und keine Grenzen haben, weil sie, zusammen mit allen anderen argumentativen Topoi seiner Rede, der Legitimierung seines Begehrens und der Diskreditierung des abweisenden Verhaltens der Dame dient. Der Standpunkt, den Minnekanzonen ihrem Schwob. Hrsg. von Wernfried Hofmeister und Bernd Steinbauer. Innsbruck 1997, S. 47-59.
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Publikum ein ums andere Mal präsentieren, hat seinen Kern in der Unterstellung, daß der affektive Erlebniswert (‘fröide’, ‘wunne’, ‘hoher muot’) und die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen (‘triuwe’, ‘staete’, Rücksichtnahme auf die ‘ere’ der Dame durch Verheimlichung) eine Liebeserfüllung rechtfertigen, deren unaufhebbare Illegitimität im Gattungswissen von Produzenten und Rezipienten stets vorausgesetzt ist (und in anderen Liedtypen des Systems wie Frauenliedern oder Tageliedern thematisiert wird). Die Liebesklage hat die persuasive Funktion, angesichts der leidigen Konsequenzen des Mißerfolgs den Konsens des Publikums über diesen Standpunkt wo nicht herzustellen, so doch jedenfalls zu bekräftigen.31 Die Beteuerung der ‘triuwe’ in der Minnekanzone bezieht ihren Sinn aus diesem argumentativen Zusammenhang. Die ‘triuwe’ hat deshalb einen funktionalen Status; sie dient der Systemdominante des Minnesangs: die Norm- und Wertkonzepte der höfischen Liebe zur Legitimierung eines außerhalb der Legitimität situierten sexuellen Begehrens zu benutzen. Die Liebesklage des mittleren Systems stellt die ‘treue’ nicht mehr in einen solchen funktionalen Zusammenhang, weil die Diskreditierung der Abweisung nicht mehr der Legitimierung des Begehrens dient. Die Liebesklage verliert deshalb die spezifische persuasive Funktion, die sie im Minnesang hat. Das bedeutet nicht, daß ihr jede argumentative Struktur abgeht; das behandelte Lied beispielsweise vertritt durchaus einen Standpunkt, nämlich daß mangelndem Vertrauen nicht mit rhetorischer Ambition beizukommen ist. Im Gefüge dieser Argumentation ist die ‘treue’ jedoch nicht mehr funktional, sondern fundamental: Aufrichtigkeit und Vertrauen konstituieren die Liebesbeziehung. Jenseits des Liedtyps Liebesklage machen das Texte, die als Liebeserklärung thematisch auf die Treueversicherung des Liebenden zentriert sind, in besonders drastischer Weise deutlich, wenn sie die weibliche Gegentreue als obligatorische Bedingung der männlichen Liebe behandeln. Im Fall unzureichender Treue kann offenbar selbst der emotionale Aspekt die Liebe, von der das mittlere System handelt, nicht
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Vgl. Gert Hübner: Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu Reinmar MF 162,7. In: Text und Handeln. Hrsg. von Albrecht Hausmann u. a. Heidelberg 2004 (= Beihefte zum Euphorion 46), S. 139-164.
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begründen: Zwar verheißt die Liebe im Erfolgsfall höchstes Glück und bringt im Fall des Mißerfolgs tiefstes Leid, aber Untreue ist ein Grund zur rabiaten Beendigung jeden, auch jeden affektiven, Engagements. So kann eine durchaus mit affektiver Verve konstruierte Treueversicherung des Liebenden folgendermaßen schließen:32 Sunderliches liebstes ain, Mich auch in triuen also main, Seidt du vor aller welt allain Mein hertz ye hast besessen. Also dein triu gen mir erzaig, Gnädiclich dich gen mir naig, Vnd hütt dich vor der welte faig, Das mein nit werd vergessen. Wilt du nun mit mir lang bestan, So laß dich nit an yederman, Sunst wurd es an ain schaiden gan: Trosts hab ich mich vermessen.
Die Liebesklage ihrerseits ändert ihre Rhetorik, insofern sie ihre argumentative Topik ändert. Diese Veränderung macht die Konzeptdifferenz erkennbar. Im Minnesang codiert die Rhetorik der Liebesklage das dominante Konzept des Systems – die Legitimierung des Begehrens – besonders gut, weil die Diskreditierung der Abweisung und die Legitimierung des Begehrens argumentationstopisch zusammenfallen. Das ist der Grund dafür, daß die Liebesklage im Zentrum der Liedtypen steht. Im mittleren System ist die Rhetorik der Liebesklage zwar ebenfalls auf die Systemdominante – die ‘treue’ – bezogen, aber sie codiert sie weit weniger gut. Wo das Vertrauen als Apriori der Beziehung gilt, fallen Rechtfertigung des Begehrens und Diskreditierung der Abweisung nicht mehr in derselben Argumentationstopik zusammen; der Abweisung läßt sich überhaupt nur noch schwer mit Argumentation begegnen. Deshalb ist die Liebesklage nicht mehr der zentrale Liedtyp. Die ‘treue’ als Systemdominante ist am besten zu codieren, indem sie als innere Einigkeit 32
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 57, Strophe 3. – Das Konzept wird beispielsweise auch im Frauenlied Hätzlerin Nr. 109 in drastischer Weise deutlich: Die Sprecherin beschließt hier nach einer längeren Reflexion ausdrücklich, angesichts der Untreue des Geliebten die affektiven Aspekte ihrer Liebe zu ihm abzustellen und sich einem neuen Objekt zuzuwenden.
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gegen eine äußere Bedrohung gestellt wird; deshalb spielen die Liedtypen um Abschied, Trennung und erzwungenes ‘meiden’ im mittleren System eine derart prominente Rolle. Anders als in den Liebesklagen des mittleren Systems bleibt die argumentative Topik der Minnekanzone, wie oben schon angedeutet, in den Werbungsliedern erhalten. Der Grund dafür liegt darin, daß diese Lieder typischerweise nicht als klagende Reaktion auf den mangelnden Erfolg konstruiert sind, sondern als zuversichtliche Aktion des Werbenden in Gestalt der expliziten Apostrophe der Umworbenen. Im rhetorischen Akt der direkten, weniger auf die Leiderfahrung reagierenden als vielmehr hoffend agierenden Werbung begründet die normativ ‘richtige’ Liebe weiterhin den Anspruch auf Gegenliebe. Was in der Klage keinen Sinn mehr hat, bleibt in der Werbung möglich; deshalb sind Werbung und Klage, die sich in der Minnekanzone in derselben argumentativen Topik treffen, im mittleren System stärker gegeneinander ausdifferenziert. Dies manifestiert sich in der Regel auch in der konstruierten Textpragmatik: Die Werbung ist nahezu immer apostrophiert, die Klage meistens nicht. Im Vergleich zum Minnesang sind sowohl die thematischen Liedtypen Liebesklage und Liebeswerbung als auch die Textpartien Liebesklage und Werbungsapostrophe innerhalb eines Lieds deutlicher unterscheidbar. In meine Diktion übersetzt, lautete Wachingers These, daß die Systemdominante über die ‘Wende’ von der Minnekanzone zum neuen Typus des Liebeslieds in Gestalt der ‘allgemeinsten Normen’ der höfischen Liebe konstant bleibt. Erst auf dieser Basis ergibt sich die Differenz: “Hatte der ältere Typus [die Minnekanzone] in der Inszenierung eines einseitig betroffenen Ich Gelegenheit geboten, in wechselnden Gefühls- und Gedankenbewegungen die Unverfügbarkeit des Du zu durchleiden und die Frage ‘waz ist minne?’ zu stellen, so konzentriert sich der jüngere Typus auf das Thema der Beständigkeit der Liebe. Es geht nunmehr vor allem um die Bewahrung eines Innenraums vertrauter Nähe und gegenseitiger Verläßlichkeit auch in der Trennung und auch unter widrigen Umständen.”33
33
Wachinger (wie Anm. 18), S. 29.
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Die zweite Hälfte des Zitats – der “Innenraum vertrauter Nähe und gegenseitiger Verläßlichkeit” – trifft die Dominante des mittleren Systems, für die die Texte selbst das Wort ‘treue’ benutzen, exakt. Die “Unverfügbarkeit des Du” halte ich nur für eine Konsequenz der Systemdominante des Minnesangs: Das Begehren müßte (oder besser: könnte) nicht legitimiert werden, wäre das Du eine nach zeitgenössischer Rechtslage prinzipiell verfügbare Ehefrau. Der Erfüllung steht ein Hindernis im Weg, das der Liebende argumentativ beseitigen muß – unter anderem durch die Beteuerung seiner ‘triuwe’. Weil es dabei gar nicht in erster Linie um Werbung, sondern um Legitimation geht, ist das ‘Du’ zumeist eine ‘Sie’, deren Verhalten der Sänger vor seinem Publikum verhandelt. Die ‘triuwe’ des Minnesangs hat zwar konzeptionelle Gemeinsamkeiten mit der ‘treue’ des mittleren Systems. Doch was im einen Fall ein funktionaler Bestandteil des Systems ist, ist im anderen die Dominante. Der Unterschied manifestiert sich sowohl in neuen Redesituationen als auch in einer veränderten Rhetorik alter Redesituationen; er beruht aber nicht lediglich auf der Einführung neuer Situationen. Was steht im Kern der konzeptionellen Differenz? Es ist nicht der Wandel von einem prinzipiell illegitimen zu einem prinzipiell legitimen Begehren. Die Liebe ist auch im mittleren System gewöhnlich jenseits des Erlaubten situiert; sie muß verheimlicht werden. In der behandelten Liebesklage ist die erklärte Rücksicht auf ‘wird vnd ere’ der Geliebten der konventionelle Reflex dieser Unterstellung. Die Liebe bleibt illegitim, aber ihre Legitimierung ist nicht mehr das Agon der Lieder.34 Die veränderte Rhetorik der Liebesklage und ihre Marginalisierung sind dafür nicht das einzige Symptom; ich nenne zwei weitere, die über den Liedtyp hinaus das ganze System betreffen. Erstens: Die Gefahr, die von den ‘klaffern’ ausgeht, besteht nicht nur in der Bedrohung der Heimlichkeit, sondern außerdem auch darin, daß sie die ‘treue’ der Liebenden durch Verleumdungen gefährden.35 Die ‘klaffer’ bringen dergestalt auch das Mißtrauen als Gegenkonzept zur aufrichtigen Liebe ins Spiel, statt sie, wie die alte ‘huote’, bloß von außen
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Vgl. dazu Wachinger (wie Anm. 1), S. 399: “überwiegend scheint die Liebesbeziehung als gesellschaftlich nicht problematisch genommen zu werden.” Vgl. auch ebd., S. 396, zu den Tageliedern. Vgl. z.B. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 47, 90, 110.
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zu behindern. Wo die ‘klaffer’ für die Bedrohung des Vertrauens stehen, codieren sie in erster Linie die Gefährdung der Innennorm, nicht ihren Gegensatz zur Außennorm wie im Minnesang. Auch wenn die Bedrohung der Liebe im mittleren System von außen kommt, handelt es sich doch um eine Bedrohung ihrer inneren Qualität als ‘treue’. Zweitens: Vor dem Horizont des Minnesangs ist es überaus bemerkenswert, daß die männliche Rede über gegenseitiges, freudiges Einvernehmen im mittleren System völlig unproblematisch zu sein scheint. Im Minnesang kann die männliche Stimme nur in sehr dezenter, eher abstrakter Weise Erfolgsmeldungen abgeben, weil dem das Verbot des ‘rüemens’ im Weg steht: Was in der Modellwelt der Minne obsolet ist, geht wegen des Zusammenhangs von Lieben und Singen auch im Minnelied nicht; was dem vorbildlichen Liebenden verwehrt ist, der sein Begehren durch das Versprechen der Geheimhaltung legitimieren muß, ist auch dem Minnesänger nicht erlaubt. Der Minnesang berücksichtigt das Legitimierungsproblem, dessen Thematisierung ihn als liebeslyrisches System dominiert, stets in seinen eigenen Rederegeln. Dieser Konnex von dargestellter ars amatoria des Liebenden und Redekunst des Sängers, der die Legitimierungsstrategien zugleich vormacht und erfüllt,36 fehlt im mittleren System völlig. Das verhindert nicht zwangsläufig die Konstruktion einer Sängerrolle im Liedtext;37 es unterbindet aber die Geltung des Prinzips, daß die Regeln der Liebe zugleich die Regeln des Singens über die Liebe sind. Dies erst ermöglicht die neuen Liedtypen des Einvernehmens. Der problematische Gesellschaftsbezug der Liebe wird in der Redeweise der Liebeslieder nicht mehr abgebildet: Der Liebende des mittleren Systems muß seinen Liebeserfolg zwar ebenfalls verheimlichen, aber als männliche Stimme des Liebeslieds muß er es nicht mehr. Am drastischsten zeigt sich das, wenn im Tagelied der Liebende zum Ich-Erzähler wird, der von seinen eigenen Liebeserlebnissen berichtet38 – eine im Minnesang völlig undenkbare Konstruktion. Daß das eigentliche Agon des Minnesangs im mittleren System nicht mehr den Status der Dominante hat, ja kaum noch auf der Agenda steht,
36 37
38
Vgl. Hübner (wie Anm. 31). Ansätze dazu finden sich etwa in Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 43, 95, 100, 102, 103, 118. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 2, 17, 18.
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99
ist nicht bloß ein Effekt der Verschiebung inszenierter Liedsituationen. Die neuen Redeanlässe sind vielmehr, ebenso wie die veränderte Rhetorik alter Liedtypen, Ausdrucksformen einer neuen Konzeption der Liebe. Was das mittlere System anbelangt, habe ich freilich bisher vor allem Verluste beschrieben. Was rückt mit dem Konzept von Aufrichtigkeit und Vertrauen an die Stelle der Legitimierung des unerlaubten Begehrens?
IV.
Elokutionäres Profil und Systemdominante
Ich unternehme einen zweiten Anlauf und setze noch einmal bei der Rhetorik der Liebesklage an, nun beim Zusammenhang zwischen elokutionären Verfahrensweisen und konzeptionellem Kern. Als Ausgangspunkt dient eine zweite Liebesklage, die wegen ihrer elokutionären Technik einen für die Verhältnisse des mittleren Systems außergewöhnlich ambitionierten Eindruck macht:39 Der winter will mich berauben Meinr fräd vnd auch meinr synn. Die strassen sind verlaubet, Ich waiß nit, wa ich bin. Den weg hab ich verloren, Der mir vor kündig was. Das hett ich wol verschworen, Da ich da hayment saß, Das mir so wild Wär diß gefild In kurtzen zeitten worden. Des stand ich in sorgen Spatt vnd morgen Vnd muo ß in bruders orden. Die tuo nd ir hüßlin pawen Ferr von den lüten hin. Ach, ellend will mich schawen In iammer vnd vngewyn. Das muo ß ich armer clagen, Seid mich verweiset hat 39
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 99.
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Gert Hübner
In meinen kurtzen tagen, Die mich in triuen latt. Ich stand allain Hie alters ain Vnd bin so gar veryrret. Ich waiß nit wol, Wa ich hin sol Oder wer mich hatt verwyrret. Die strassen sind verfallen Von eys vnd auch von schnee. Ain pillgrin, der da muo ß wallen, Der veryrret dester Ee. Ob er den weg muo ß meiden, Da ligt nit wunders an, Ob er des chommt in leiden, Vindt er chain rechte pan, Die In nun tregt Zu fräd uß laid, Wolhin von dem gefilde. Ach, ellend, Nun tuo das wend Vnd auch ain weiplich pilde! Schick mir ze fräden palde Ain wegweis plümelein, Ob ich in fräden alte, Hilff mir vß swärer pein! Laß dich mein ellend rewen, Seid mich verweiset hatt Mein hertz in gantzen triuen! Nun gib mir deinen ratt, Dann mir die wind Sind gar geschwind, Das hör ich an dem sausen; Wann vngefell Ist mein gesell Vnd tuo t nach zu mir hausen.
Der sich da im Winter in der Fremde verlaufen hat, ist auf dem Weg, fern der Welt Mönch zu werden. Weshalb ist er in die Irre gegangen? Weil er wegen der winterlichen Witterungsbedingungen den Weg nicht sieht,
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den er eigentlich doch kennt (1 und 3). Weshalb ist er unterwegs? Einerseits, weil ihn die Geliebte ‘verweiset’, fort- und ins Elend geschickt hat (2); andererseits, weil ihn sein treues Herz ‘verweiset’, ins Elend geführt hat (4). Was hätte er gern in seiner mißlichen Lage? Eine Wegweise, ein Exemplar der Blütenpflanze Cichorium, die in der Blumensprache des mittleren Systems ein Zeichen für die Geneigtheit der Geliebten ist und ihm den Weg zur Freude zeigen würde.40 Wo also will er hin? Nicht ins Kloster, sondern heim zur Geliebten. Es handelt sich demnach um eine Allegorie auf den beklagenswerten Seelenzustand, der durch mangelnden Erfolg bei der Geliebten bedingt ist. Sie hat ihn in die Winterwüste seines Mißvergnügens geschickt; der Winter und die Fremde sind metaphorische Modelle seiner Affektlage. Worin besteht die Funktion dieser beiden metaphorischen Modelle? Ich beginne mit dem Winter, der von der Minnekanzone her bekannt ist. Im Wintereingang der Minnekanzone ist typischerweise davon die Rede, daß alle unter den Witterungsbedingungen leiden, daß das jeweilige Ich jedoch Außerordentliches leidet. Der Mißerfolg bei der Dame beschert ihm gewissermaßen einen besonders schlimmen Winter. Die Analogie zwischen abweisender Dame und Winter ist darauf angelegt, das außerordentliche Leid des Ich vom normalen Leid aller abzuheben. Einen solchen Kontrast konstruiert die Winterallegorie im zitierten Lied nicht. Das Leid ist zwar ein großes Leid; das metaphorische Modell dient, über die Konkretisierung hinaus, auch einer Steigerung. Aber das große Leid ist kein außerordentliches Leid; ganz im Gegenteil. Indem die Allegorie das metaphorische Modell dazu einsetzt, die Affektlage des Liebenden in einer hyperbolischen Konkretisierung zum Ausdruck zu bringen, generalisiert sie in der dritten Strophe ausdrücklich: Aus dem Ich wird ein generisches Er; und was der generische Pilger in seinem allegorischen Winter erlebt, ist explizit nichts Außerordentliches, sondern ganz gewöhnlich: “Da ligt nit wunders an” (3,6). Noch dort, wo eine ambitionierte Ausdrucksform ihren Gegenstand amplifiziert, hat sie nicht die Funktion, dem einzelnen Liebeserleben einen außerordentlichen Status zuzuschreiben. Noch die hyperbolische
40
Grimms Deutsches Wörterbuch Bd. 13 (1922), Sp. 3152 f.; Wilhelm Wackernagel: Die Farben- und Blumensprache des Mittelalters. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 1. Leipzig 1872, S. 143-240.
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Gert Hübner
Allegorie wird vielmehr dazu genutzt, das gesteigerte Ergehen als normale Erfahrung auszugeben.41 Im Minnesang gibt es eine Rhetorik des Außerordentlichen, weil das außerordentliche affektive Ergehen, im Leid wie in der Freude, ein vor dem Horizont der von den Texten selbst unterstellten sozialen Regeln außerordentliches Verhalten zu rechtfertigen hat. Es ist nicht der individuell einmalige, wohl aber der wegen seiner maximalen Qualität exzeptionelle Fall, zu dessen Gunsten der Minnesang die gesellschaftliche Norm im Schutz der Heimlichkeit ignoriert haben will. Das begründet die massive Tendenz, die Liebe in jedem Fall als das schlechthin Außerordentliche darzustellen. Was im mittleren System an die Stelle dieser Konzeption rückt, zeigt das zweite metaphorische Modell des Textes. Mit dem ‘ellend’, der Fremde, rekurriert das Lied auf das Kernmotiv der Abschieds- und Trennungsklagen des mittleren Systems: Auch dort bedeutet die Fremde Leid, freilich nicht allegorisch. Auch dort steht der Fremde die ‘treue’ entgegen, insofern sie als innere Verbundenheit die äußere Distanz besiegt. In der allegorischen Liebesklage ist die ‘treue’ angesichts der Abweisung durch die Geliebte mitverantwortlich für das innere Elend, zugleich aber der Grund für den Wunsch und die Hoffnung, aus dem Elend herauszukommen. Im Kontrast mit der Fremde erscheint die ‘treue’-Liebe als Heimstatt. Die Liebe des mittleren Systems ist der Lebensbereich harmonischer Beruhigtheit. Alles, was der Liebe entgegensteht und Anlaß zur Klage gibt, erscheint nicht als Herausforderung wie im Minnesang, sondern als Störung ruhevoller Entspanntheit. Die Fremde, in die man gelegentlich muß; die ‘klaffer’ mit ihren Verleumdungen; der Morgen, der einen aus
41
Einen funktional vergleichbaren Fall, wenn auch nicht in der Ausdrucksform der Allegorie, bietet die oben behandelte Liebesklage Hätzlerin Nr. 54. Dort behauptet die männliche Stimme zu Beginn der Schlußstrophe, daß Zweifel in jedem Fall schädlich sei. Das dient als normative Regel, die den Appell an die Geliebte begründet, mehr Vertrauen aufzubringen. Die Geliebte soll tun, was dem gängigen Regelwissen zufolge besser ist; das Verhalten in der Liebe soll kein exzeptionelles Verhalten sein. Der Sänger einer Minnekanzone hätte im Kontext derselben argumentativen Konstellation behauptet, daß seine eigene ‘triuwe’ so außerordentlich ist, daß sie die ‘genade’ der Dame rechtfertigt. Dahinter steht zwar auch eine Regel, aber eine Regel für Maximalwert-Fälle.
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dem Liebeslager treibt; sogar das Mißtrauen und die abweisende Haltung der Geliebten – sie sind, vor allem anderen, Ruhestörer.42 Die Nicht-Liebe, das ist die kalte Fremde; die ‘treue’-Liebe der Aufrichtigkeit und des Vertrauens, das ist die warme Heimeligkeit. Im Extremfall gerät dieses Konzept so niedlich, daß man sich sehr zügeln muß, um das Etikett ‘bürgerlich’ in der Schublade zu lassen:43 Hett ich nur ein stüblin warm Vnd darynn ain schönes weib, Das wolt ich legen an meinen arm, Friuntlichen trucken an meinen leib. Des hab ich leider nit, ich lig allaine. Sy ist mir laider vil ze ferr, Die ich da maine.
Auch wenn das unter Adeligen oder reicheren Stadtbürgern kommuniziert wurde,44 ist es doch weit vom Konzept der Liebe als Anstrengung entfernt, das der Minnesang Adeligen oder reicheren Stadtbürgern vorstellte. Kaum weniger niedlich erscheint in der zitierten allegorischen Liebesklage das ‘wegweis plümelein’, das dem seelischen Winterelend ein Ende setzen soll. Dieser merkwürdige Kontrast zwischen der amplifikatorischen Allegorie für das Schlechte und dem niedlichen Zeichen für das Gute wirft geradezu ein Schlaglicht auf das Liebeskonzept des mittleren Systems: Dort das große und weitläufige Winterelend des Lebens jenseits der Liebe, hier das kleine Blümchen, das uns zum heimatlichen Refugium unseres Glücks weist.
42
43 44
Wie immer sind es parodistische Texte, die des Pudels Kern besonders gut ans Licht bringen. Ein Beispiel ist die “tagweis von lewsen” (Hätzlerin [wie Anm. 1], Nr. 21): Der Sprecher richtet sich an den Wächter mit dem Wunsch, es möge tagen, auf daß er den Läusen entkäme. Der Witz der nächtlichen Ruhestörung als Tagelied-Parodie erschließt sich vor dem Hintergrund, daß das Liebesglück in den Tageliedern des 15. Jahrhunderts gern als nächtliche Zeit beruhigten Liebesglücks und der Tagesanbruch im Kontrast dazu als Ruhestörer erscheinen; in der Umkehrung stören die Läuse die einsame Nachtruhe und der Morgen wird zur Zuflucht. Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 96, Strophe 1. Vgl. dazu Wachinger (wie Anm. 1) und Rettelbach (wie Anm. 1).
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V.
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Umrisse eines neuen Liebeskonzepts
Freilich ließe sich anhand einer längeren Reihe von Beispielen zeigen, daß der soeben evozierte Eindruck einer Bausparkassenästhetik die historische Leistung dieses Liebeskonzepts nicht wirklich erfaßt. Unter der trügerischen Oberfläche, die durch die Konstanz vieler Ausdrucksmuster des Minnesangs – insbesondere die der alten höfischen Wertbegriffe und des Dienst-Lohn-Modells – erzeugt wird, findet im mittleren System keine verniedlichende Simplifikation, sondern eine vollständige Umcodierung des Liebeskonzepts des Minnesangs statt. Alle alten Motive dienen einem ganz neuen Verständnis der Liebe. Sie wird zum Ort, an dem man mit dem Wegfall aller Angespanntheit die Erfahrung von Selbstidentität, Zeitlosigkeit, Einfachheit machen will und kann. Gegenüber der alten aristokratischen Liebe ambitionierter Anstrengung war dies eine durchaus zukunftsträchtige Neukonzeption. Sie zieht sich durch alle Liedtypen; ich deute nur anhand dreier Textbeispiele jenseits der Liebesklage an, daß sie durchaus mit einem eigenen Anspruch auftritt. Das erste ist eine Trennungsklage:45 Ich hab bißher nit recht gewest, Das ellend ist ain sölich geprest, Als ich nun täglich wird gewar. Ich hab es oft gehabt für schimpff, Nu kan ich sicher chain gelimpff, Dann senen vnd gedencken dar, Da ich mein hertz mit willen ließ, Vnd da es allzeit ist mit hus. So tuo t mir meiden widerdrieß, Das ich waiß weder ein noch uß. Ach schaiden, das du seyest verfluo cht, Vnd wer dein mit willen geruo cht, Der dunckt mich ye chain cluo ger man, Wann schaiden hatt mich darzuo pracht, Das ellend täglich mich vmbfacht, Vnd ich Im nit entrynnen kan. Wurd aber mir das hail beschertt, Das ich käm wider zu dir haim, 45
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 112.
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So wurd mein gemüt gantz gar ernert, Sunst ist mein hertz in ellend ain. Doch solt du wissen, lieber hordt, Das mir dein weiplich weis vnd wort In triuem gedanck pringet muo t. Vnd wann ich gentzlich für mich setz, Wie ich mich laids mit dir ergetz, Ob das dein lieb auch fräen tuo t, So wig ich als mein laid gering, Vnd hoff, dein gütt, dein angesicht Bedenck, das sy mich wider pring, Ee ich in ellend werd entwicht.
Der Text assoziiert die erlebte Fremde mit Selbstverlust (‘ich werd entwicht’; 3,10) und läßt die Liebe, indem er sie als Kontrast dazu vorstellt, nicht bloß ausdrücklich als Heimstatt (1,7-8), sondern auch als Raum der Selbstidentität erscheinen. Nicht nur würde zu Hause bei der Geliebten das ‘gmüt ganz gar ernert’ (2,9); schon das getreue ‘gedencken’ an sie bringt den Liebenden in der Fremde mit der Hoffnung auf die Heimkehr wieder halbwegs zu sich selbst und wirkt so dem drohenden Identitätsverlust entgegen (3). So wird die Semantik der Liebe konstituiert, indem das subjektive Erleben des Raums dargestellt wird: Die lieblose Fremde ist ein Mangelzustand (‘geprest’; 1,2), die heimatliche Liebe verheißt Entschädigung für den erfahrenen Mangel (3,5). In einer Minnekanzone wäre die leidvolle Liebeserfahrung selbst der Grund für den Identitätsverlust; im mittleren System heilt die Liebe, was einem das Leben sonst antut. Das zweite Beispiel, eine Begrüßung beim Wiedersehen, thematisiert das Zeitempfinden:46 Bis willkommen, liebs Junckfräwlin zartt, Ich han so lang empören dein. Noch nye chain zeitt mir lenger wardt. Des solt du zwar on zweifel sein, Das dein mein hertz noch nye vergaß.
46
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 49.
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Got grüß dich hundert tusent stunt, Mit gantzen triuen ich das sprich. Seid mich verlangen hat entzünt Nach dir, mein trost, gar ynneclich, Sölichs wunschs kan ich nit werden las. Wie ferr ich von dir gewesen bin, Mein höchster hordt, das wiß fürwar, Doch pleibt by dir hertz, muo t vnd syn, Vnd solt ich leben tusent Jar, So liebst du mir ye lenger, ye bas.
Die zurückliegende Zeit der Trennung hat der Liebende als lang erlebt (1); die bevorstehende Zeit des Zusammenseins imaginiert er im Gegensatz dazu jedoch nicht etwa als kurz. Durchaus konventionelle Hyperbeln erzielen einen anderen Effekt: Die Zeit der Liebe kann nicht lang genug sein, sie soll auch in der Wiederholung stets neu erscheinen. Deshalb vermag dem Liebenden der hunderttausendmal wiederholte Segensgruß beim Wiedersehen als Ausdruck seines Verlangens nicht zuviel zu werden (2), und deshalb könnte sich das Wohlgefallen an der Geliebten auch in tausend Jahren Lebenszeit immer nur vergrößern. Die Liebe hebt die Empfindung von Wiederholung und Dauer, mit ihr die objektive Zeit auf; so konstituiert das subjektive Zeitempfinden die Semantik der Liebe. Das dritte Beispiel, ein Tagelied, zeigt die Liebe als – wenngleich von außen bedrohten – Ort der Ruhe und Entspanntheit:47 Lig still, meins hertzen trautt gespil, Wann es ist noch nit morgen. Der wachter vns betrügen wil, Der Mon hat sich verporgen. Man sicht noch vil der sterne glast Her durch die wolcken dringen. Lig still by mir ain weil vnd rast Vnd laß den wachter singen. Hie ist erfrät ain traurigs hertz, Vmmuo t muo ß vns entweichen.
47
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 2.
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Der sich nit kert an senlich schmertz, Der muo ß an fräden reichen. Sy sprach: mein hordt der lieben mer, Muo ß ich bey dir beleiben, So ist zergangen all mein swär. Wir wöllen kurtzweil treiben, Das dich vnd mich erfräen mag, Darein will ich mich setzen. Sy sprach: es ist noch nyendert tag, Wir wöllen vns laids ergetzen. Sy truckt ain prüstlin an das mein, Mein hertz wolt mir zerspringen. Sy sprach: laß dir beuolhen sein Mein Er vor allen dingen, Vnd schliüß vff deine ärmlen planck, Darynn so will ich rasten. Ze hannd der wachter aber sangk: Ich sich des tages glasten.
Wer liebt, ruht still und rastet. Gerade vor dem alten Horizont der unauflösbaren Spannung zwischen Freude und Leid, die nicht nur Wolframs Tagelieder in pointierter Weise konstruieren, gewinnt die Textstruktur, die das Liebeskonzept des mittleren Systems in geradezu idealtypischer Weise umsetzt, ein markantes Profil: Die Geliebte soll noch eine Weile Ruhe geben und sich vom Wächter nicht stören lassen (1); sie nimmt die Ermahnung an, ignoriert das drohende Leid und konzentriert sich auf die Freude (2); während dem Liebenden das Herz vor Glück zerspringen will, möchte sie in seinen Armen ruhen (3). Der Refrain bringt den von der gesamten Konstruktion getragenen Sinn zielsicher an die diskursive Oberfläche: Wer das Leid ignoriert, dem wird das beruhigte Glück zuteil. Die Angespanntheit der klassischen Tageliedsituation steht in Gestalt des Wächters nur noch im Hintergrund. Das Lied scheint es, für den modernen Betrachter und seinen vergleichenden Blick, geradezu programmatisch auf die Entspannung dieser Situation anzulegen. Wo im Minnesang sogar das erfüllte Liebesglück das Leid als unausweichliches Korrelat behält und die Größe des Glücks der Schwere des Leids entspricht, kann man sich im mittleren System – in derselben Situation – das Leid geradezu kinderleicht wegdenken. Wenn Freude herrscht, herrscht
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Gert Hübner
sie allein, und dasselbe gilt für das Leid: Beides zusammen ist nicht erwünscht. Die Liebe soll keine komplizierte Erfahrung sein, sondern ganz im Gegenteil die Erfahrung von Einfachheit. Die neue Konzeption der Liebe geht, nicht nur meinem Eindruck nach,48 mit einer anderen Situierung in der generell unterstellten Lebenslage der Liebenden einher. Das mittlere System imaginiert offenbar eine illegitime Liebe zwischen zwei jungen Leuten, die als möglicher Vorlauf zu einer Ehe, damit als offen für die Legitimation in einer Ehe gedacht ist. Wenn die Geliebte beispielsweise innerhalb einer männlichen Treueversicherung mit den Worten “Sich mag gelück noch fügen, / Das es wirt alles guo t” (Hätzlerin Nr. 36, V. 59 f.) zitiert wird, so eröffnet das eine Aussicht, die es im Minnesang nicht geben kann: Noch im Fall der Liebeserfüllung kann dort nie alles gut werden. Im mittleren System trifft man dagegen immer wieder auf Lieder, die die Liebe als ein bereits eheähnliches, aber noch nicht endgültig abgesichertes Vertragsverhältnis erscheinen lassen. Die Differenz zwischen einer prinzipiell außerhalb der sozialen Ordnung stehenden und einer potentiell in die soziale Ordnung überführbaren Liebe erklärt den Systemwechsel freilich nicht; sie ist nur einer seiner Aspekte. Es schiene mir deshalb einerseits nötig, sozialgeschichtliche Umstände wie das Muster der ‘späten Heirat’, die Möglichkeiten potentieller Brautleute, auf die Heirat Einfluß zu nehmen, oder die institutionalisierten Begegnungsmöglichkeiten junger Unverheirateter unterschiedlichen Geschlechts (Fastnacht, Maitanz etc.), auf die die Lieder immer wieder anspielen, ins Kalkül zu ziehen. Die Hoffnung auf einfache Erklärungen sollte man andererseits von vornherein nicht hegen. Die Liebe ist nicht anders, bloß weil die imaginierte lebensweltliche Situierung (samt ihren sozialgeschichtlichen Hintergründen) eine andere ist; die anderen Erwartungen, die man an die Liebe hat, und die veränderte Situierung können einander nur wechselseitig bedingen.
48
Vgl. Wachinger (wie Anm. 1), S. 396.
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VI.
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Einfachheit
Ich kehre zum Zusammenhang zwischen poetischer Technik und Konzeption zurück. Wie der Rhetorik des Außerordentlichen im Minnesang eine Liebeskonzeption entspricht, die die Liebe zur Herausforderung und Anstrengung macht, so gehört zum Konzept der Liebe als Heimstatt im mittleren System eine Rhetorik der Entspanntheit und Einfachheit. Der besondere Erkenntniswert der zitierten allegorischen Liebesklage beruht meines Erachtens gerade auf ihrer eher systemuntypischen elokutionären Ambition. Abgesehen von der Allegorie begegnet man in den Liebesliedern des mittleren Systems kaum Ausdrucksformen, die den Eindruck von Komplexität oder Kompliziertheit evozieren. Aber noch die seltene elokutionäre Anstrengung dient nicht als Ausdrucksform für ein Konzept der Liebe als Ambition; ganz im Gegenteil codiert sie explizit, was die typischerweise einfache elokutionäre Technik im mittleren System sonst implizit codiert: Daß die Liebe entspannt und einfach ist, im Gegensatz zur Nicht-Liebe. Damit kommt die vielbeschworene Einfachheit der Liederbuch-Liebeslieder ins Spiel. Ich bezweifle zwar, daß sie noch stereotyper sind als der Minnesang;49 das tut dem Minnesang einerseits zu viel Ehre an, andererseits trägt es eine nicht recht angemessene Kategorie an systemabhängige Texte heran. Einfacher jedoch sind sie in der Regel zweifellos. Weniger komplex ist sowohl ihre konzeptionelle Konstruktion als auch ihr typisches elokutionäres Profil; und das Konzeptionelle läßt sich dabei sehr wohl als innere Form der poetischen Verfahrensweisen begreifen. Die Liebe soll hier nicht als das Außerordentliche und Anstrengende erscheinen, sondern als das Einfache und Beruhigte. Im poetisch gelungenen Fall – das oben zitierte Tagelied beispielsweise ist ein solcher, geradezu idealtypischer Fall – strahlt die Diktion im Liebeslied des mittleren Systems jene entspannte Einfachheit aus, die von der Liebe selbst erwartet wird. Das Begehren ist deshalb kaum mehr Anlaß zu elokutionärer Anstrengung – wie es auch nur noch im hoffnungsfrohen Fall der direkten Werbung Anlaß zu argumentativer Anstrengung ist. Viele Liedtexte scheinen – als sprachliche Artefakte – ein Pendant zu jener Heimstatt zu 49
Kern (wie Anm. 8), S. 567.
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sein, in die sich der verirrte Liebhaber unserer elokutionär, nicht aber konzeptionell außergewöhnlichen allegorischen Liebesklage zurückwünscht; oder wie ein Pendant zu dem Blümchen, das er gern als Wegweiser hätte. Hinter der systemüblichen Diktion steht freilich nicht, wie die Romantiker glaubten, das ‘Natürliche’, Ungekünstelte. Allegorische Lieder zeigen, daß Artifizialität signalisieren konnte, wer das wollte. Jenseits davon und im Normalfall herrscht eine andere Art der Kunst – eine Kunst der konstruierten Einfachheit. Ihre Machart wäre erst noch zu beschreiben. Als eine ganz unproblematische Aufgabe erweist sich das nicht, wenn man nicht der ebenso naheliegenden wie merkwürdigen Versuchung erliegen will, Einfachheit als Abwesenheit von Komplexität zu erklären. So vertraut sich eine bestimmte Art der Diktion in der Liebeslyrik des mittleren Systems nach einiger Rezeptionserfahrung ausnimmt, so schwer fällt es, sie nicht vorzugsweise ex negativo zu charakterisieren. Ich dokumentiere das zum Schluß meiner Überlegungen am Beispiel zweier weiterer Liebesklagen aus dem Liederbuch der Hätzlerin, die dasselbe Thema traktieren: das Traumglück einer imaginierten Verfügbarkeit der in Wirklichkeit nicht verfügbaren Geliebten. Die erste, bei der Hätzlerin wie üblich anonym überlieferte, stammt von Oswald von Wolkenstein und ist ganz offensichtlich auf die Demonstration sprachlicher Artifizialität angelegt:50 Friuntlicher plick Wundet ser meins hertzen schrein Mit ainer scharpffen zein. Zway äuglein rain, Lauter, clar vnd vein, Ain sein gewaltig mein. Vß schlauffes schrick Vil gedenck, melancoley Dick mir wonen bey. Hilff io, ich schrey,
50
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 84; Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Karl Kurt Klein u. a. 3. Aufl. von Hans Moser u. a. Tübingen 1987, Nr. 91. Text nach Hätzlerin ed. Haltaus mit Berichtigung offensichtlicher Fehler nach Klein: 1,24 des] Haltaus das; 2,3 dort mir] Haltaus dört mit; 2,7 ellenden leib] Haltaus ellende liep; 2,21 ach] Haltaus auch; 3,19 dein] Haltaus sein.
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Nach der edeln krey: Ey, das sy by mir sey! Ain guo nstlich gruo ß Von irem mündlin süß Mit unmuo ß Mir pringet senlich puo ß Baide tag vnd nacht, So ich acht Vnd betracht, Das mich lieplich umbfacht Ärmlen macht. Mit herttem truck Kurtzlich zu ir schmuck Vnd mich duck, Das sy nicht enzuck, Bis ir rotter mundt Vff schliußt den punt Verwundt, Des sy maisterlichen ain grunt Schaffen kunt. Trautt sälig weib, Selten sehen überal Dort mir der synne zal, Seid mich ze mal Deins leibes sal, Gral werffen wil ze tal. Ellenden leib Für ich vff der yrren pan Vnd hoff vff zweifels won Recht als ein man Den man will verlan. Von fräden muo ß ich stan Vnd schwebt mein clage Vff dem wilden wage Täglich tage, Das ich nymmer mage, Seid mein höchstes hail Machet fail Die gail Vnd in kainerlay mail Prach das sail. Darumb ist, ach,
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Fewr in dem tach, Kain gemach In meines hertzen vach, Wann ich recht bedenck Die zarten renck Gelenck Mit so maniger henndlin schrenck Sunder wenck. Ach, raine frucht, Laß erparmen dich mein not! Was hulff dich nun mein tott? Dein mündlin rott Mag hailen wol den schrott Grot, den mir vnfal pot. Kain ander flucht, Nur, fraw, allain zu dir Sent sich meins hertzen gir. Dein costlich zier Wöll helffen mir Schier des ich hartt empir. Bedenck io, Lieb, du waist wol wa, Hab also, Laß mich nyendert vnfro! Wenndt meins hertzen laid, Das mich all raid Beclaid Durch dein seüberliche schön gemaid, Zierlich brait. Erst wurd ich reich, Nyemant mein geleich, Von dem speich Süsser wunne teich. Vrlaub geb ich we Vnt grünt mein clee Als ee. Scheiden, pitterlicher kalter schnee, Scharpffen kre, Chomm nit me!
Gert Hübner
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Die Differenzen zwischen den Formulierungstechniken, die dieses Lied auszeichnen, und der gängigen Diktion der anonymen Liederbuchlieder lassen sich vergleichsweise problemlos identifizieren. So wirkungsvoll die Faktur ist, so leicht ist sie zu beschreiben. Das demonstrativ Künstliche ist einfach zu erfassen, weil man es als Überstrukturierung oder als Deviation begreifen kann; dafür stellen Metrik und Rhetorik griffige Kategorien zur Verfügung. An erster Stelle steht die Versifikation. Artifizialität signalisieren am offensichtlichsten die langen, im Aufgesang jeweils noch durch zwei Pausenreime erweiterten Reimbänder. Die kurzen Verse bilden Gestalteinheiten, die die syntaktische Struktur überlagern, die Sätze fragmentieren und für eine Dauerspannung zwischen Vers- und Satzgliederung sorgen; zusammen mit reimnotbedingten Abweichungen von der gängigen Wortstellung und verslängenbedingten Ellipsen erschwert dies das Textverständnis und stellt die Künstlichkeit offen zur Schau. Verstärkt werden diese Effekte zweitens durch den Metaphernreichtum. Insbesondere der schnelle Wechsel unterschiedlicher metaphorischer Modelle für die Affektlage in der gesamten zweiten und gegen Ende der dritten Strophe, außerdem komplizierte Paraphrasen für weniger komplizierte Sachverhalte wie zu Beginn der zweiten Strophe nötigen zu gezielter Entschlüsselungsarbeit und lenken den Blick damit auf die Technik selbst. Die Tradition dieser ‘meisterlichen’ Dichtkunst, in Oswalds Œuvre in geistlichen Liedern und Liebesliedern gleichermaßen vertreten, braucht hier nicht erläutert zu werden. Sie übertrifft auch das im Minnesang des 13. Jahrhunderts Gängige.51 Deutlich an Minnesangverhältnisse erinnert jedenfalls die Funktionalisierung des imaginierten Geschlechtsverkehrs: Während die Schönheit der Geliebten in der ersten Strophe eingangs für das Leid des Sprechers verantwortlich gemacht wird, sorgt sie in der Imagination zunächst für eine Glückserfahrung. In der zweiten Strophe zeitigt die Imagination jedoch gegenteilige Konsequenzen: Angesichts der tatsächlichen Unzugänglichkeit der Geliebten stürzt sie den Sprecher in noch tieferes Leid, das die Metaphorik als Orientierungsverlust und Existenzbedrohung ausweist. Gerade die Imagination der Erfüllung führt 51
Gert Hübner: Lobblumen. Studien zu Genese und Funktion der ‘Geblümten Rede’. Tübingen, Basel 2000 (= Bibliotheca Germanica 41), Kap. 8.
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den Liebenden dergestalt erst recht ins seelische ‘ellend’. Nur die wirkliche Zuwendung, um die die dritte Strophe die Geliebte bittet, könnte das Leid beenden und dem Anblick der Schönheit eine ausschließlich erfreuliche Erlebnisqualität vermitteln. In dieser Konstruktion bleibt ein typischer Zug des Minnesangs erhalten: Die Glücksverheißung der Liebe und das erfahrene Leid werden gleichermaßen und in direkter Konfrontation miteinander an die Wahrnehmung der weiblichen Schönheit geknüpft, so daß die Wirkung der Schönheit bei mangelnder Geneigtheit der Geliebten als ambivalente affektive Spannung erscheint. Auf dieses Lied folgt in der Hätzlerin-Sammlung wenig später ein weiteres, das das Motiv des Traumglücks entfaltet:52 Ich gedenck an sy on abe lan, Tag vnd nacht zu aller zeitt. Mein hertz das wirt ir nymmer on, So es Im aller herttest leitt. Sy chommt mir in dem schlauffe für, Wie ich an sich iren lieplichen schein, Dabey ich sicherlich wol spür, Das ich on sy nit mag gesein. Vor grossen fräden ich erschrick, So ich erwach vß lieben plick. Dann so ist mit fräde tewr, Doch koment mir gedenck zu stewr. Ymm schlauff mir fräden nicht geprist Vnd hab, was ich allda begere. Wann ich erwach vnd nichtz nit ist, Vnd ich ir aber muo ß emperen, So ligt es mir an fräden hertt Vnd gedenck in dem synne mein: Ach hett der traum lenger gewert, Seid es nit pesser mag gesein! Von ir ain traumb mir senfter tuo t, Dann von aller welt ain sehen. 52
Hätzlerin (wie Anm. 1), Nr. 87. Zu 3,7 (fehlt bei der Hätzlerin, durch Parallelüberlieferung gesichert) vgl. Haltaus S. XLI.
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Mein triu ist ir mit stättem muo t Vnd möcht mir liebers nit beschehen, Dann das sy hett den willen mein Für augen gar in stätter gir. Mein hertz freut sich in lieben schein Vnd lebt mit gantzen triuen dir.
Es liegt auf der Hand, daß das keine ‘meisterliche’, keine demonstrativ artistische Sprache ist; daß alles fehlt, was unter die Rubrik ornatus fallen könnte und seit dem späteren 12. Jahrhundert auch in der Volkssprache als Ausweis von Dichtkunst etabliert war. Doch beschreibt man diese Formulierungstechnik in hinreichend erkenntnisträchtiger Weise, wenn man sagt, daß keine Metaphern und Paraphrasen verwendet werden, die das Verständnis erschweren? Leicht zu erfassen ist immerhin die Versifikationstechnik; und sie war es dann ja auch, die unter dem Etikett ‘Volksliedstrophe’ ins literarhistorische Standardwissen einging. Die Problematisierung des Etiketts erspare ich mir, weil mir weder mit dem Etikett noch mit seiner Problematisierung viel gewonnen scheint. Jedenfalls konstituiert die Versifikation in der Tat ein wichtiges Merkmal dieser Formulierungskunst, die nur als Verssprache vorstellbar ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Synchronisation der zumeist gleichlangen Verse mit der syntaktischen Struktur, weil die metrischen Gestalteinheiten auf diese Weise in der Regel mit den syntaktischen Struktureinheiten zusammenfallen und die syntaktische Gliederung unterstützen, statt in Spannung zu ihr zu treten. Das Textverstehen wird durch diesen Gleichlauf erleichtert. Auch die Leistung des bevorzugten Kreuzreims scheint in der Verbindung von Gleichlauf und optimalem Raumangebot begründet zu sein: Der Kreuzreimblock bietet mehr Platz für eine thematische Einheit als das Reimpaar, hält seine vier Verse aber als metrische Gestalt zusammen und bietet so die Möglichkeit, in unauffälliger Versgliederung eine spannungslose metrisch-syntaktischthematische Gesamtgestalt zu konstituieren. Wie sehr die typische Versifikation die Formulierungstechnik in den Liedern des mittleren Systems prägt, macht nicht zuletzt die Villanellenmode nach italienischen Vorbildern augenfällig, die in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts aufkam. Wer die Texte der Liebeslieder Regnarts und seiner Nachfolger mit ihren dreiversigen Strophen aus Zehn- oder
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Gert Hübner
Elfsilblern liest, hat gelegentlich den Eindruck, daß die alten Formulierungsgewohnheiten mit den neuen metrischen Formen erst in Übereinklang gebracht werden mußten. Die ‘Volksliedstrophen’ geben der Sprache eine auf Spannungslosigkeit, auf ein möglichst geringes Maß an Komplexität, auf Gleichlauf und Unauffälligkeit angelegte Gestalt, wenn sie mit einer entsprechenden syntaktischen Struktur harmonieren. Freilich ließe sich damit immer noch eine kompliziertere Diktion vereinbaren; insofern handelt es sich nur um einen Aspekt der Einfachheit, die durch die charakteristische Formulierungstechnik in den Liedern des mittleren Systems signalisiert wird. Der Blick auf die thematische Konstruktion der zweiten Liebesklage zeigt, daß nicht nur die Diktion weniger ambitioniert ist als bei Oswald. Die Affektlage ist eingangs ähnlich leidvoll, doch der Verzicht auf amplifikatorische Affektmetaphorik läßt sie, wie im gesamten weiteren Verlauf, weit weniger dramatisch erscheinen. Daß anläßlich der erotischen Imagination keine Körperlichkeit zur Sprache kommt, fügt sich einer generellen Tendenz des mittleren Systems, im Fall der Fälle die Rede auf Affektdarstellung zu beschränken (so etwa auch im oben zitierten Tagelied). Abgesehen davon bietet der Traum hier aber ebenfalls ein Glückserlebnis. Anders als die Imagination in Oswalds Lied führt er jedoch zu keiner verschärften Leiderfahrung. Es bleibt einfach bei der Differenz zwischen dem Traumglück und dem tatsächlichen Defizit: Wenn man sich nach dem Aufwachen der wirklichen Misere bewußt wird, ist es am besten, sich der beglückenden Erinnerung an den Traum zu überlassen; der Refrain bringt das auf den Punkt. Die Imagination der weiblichen Schönheit spannt Freude und Leid nicht zusammen, sondern evoziert nur noch Freude. Das Traumglück vergrößert das Problem nicht wie bei Oswald, sondern bietet bis zu seiner tatsächlichen Lösung eine Möglichkeit, es zu suspendieren. Das folgt demselben Prinzip wie das oben zitierte Tagelied, dessen Figuren das drohende Leid durch die Konzentration auf die greifbare Freude aussetzen. Die Liebe soll im mittleren System in einer einfachen Freude bestehen, nicht in einem affektiven Spannungszustand. Man wird nicht behaupten wollen, daß die Komplexität der Diktion bei Oswald einen gleichwertigen Widerhalt in der Komplexität der thematischen Konstruktion findet, aber etwas komplizierter als in dem anonymen Lied nimmt sich die Liebe doch aus. Während bei Oswald ein Überschuß
Die Rhetorik der Liebesklage im 15. Jahrhundert
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an demonstrativer Sprachartistik bleibt, der nicht in semantische Funktion umzusetzen ist, sondern die Dichtkunst als Dichtkunst und den Dichter als Dichter ausweist, bringt im anonymen Lied des mittleren Systems die Einfachheit der Diktion die Einfachheit zum Ausdruck, die man sich von der Liebe wünscht. Das führt zur Hypothese, daß demonstrative Artifizialität als Ausweis von Dichtkunst nur dort nahelag, wo ein Interesse an der Textautorschaft sie zugleich zum Kompetenznachweis des einzelnen Dichters machte. Zur Schau gestellte Artistik zielt darauf, die Kunst dem Schausteller anzurechnen. Im Ausnahmefall Oswalds scheint ein solches Interesse durch den Textproduzenten selbst begründet; ohne die Auswirkungen seines Selbstbewußtseins auf die Textüberlieferung wäre jedenfalls auch er als Autor nicht zu fassen. Im Fall der Liederbuchlieder fehlt ein solches Interesse völlig. Liedertexte zu dichten war normalerweise eben eine Dienstleistung, kein Mittel der Selbstdarstellung. Der Ausnahmefall des Autorkorpus ermöglicht immerhin einmal auch die Beobachtung, daß Einfachheit nicht auf alternativlosem Unvermögen beruhen muß. Neben etlichen hochartistischen Liebesliedtexten ‘meisterlichen’ Charakters dichtete Oswald ebenso einige schlichte, die nach thematischer Konstruktion und poetischer Verfahrensweise völlig im Rahmen des mittleren Systems bleiben (und manche, die zwischen den beiden Polen stehen).53 Ich möchte nicht behaupten, daß dies eine hochgradig anspruchsvolle Übung war; gekonnt sein wollte es aber doch, und zu dumm war es Oswald offenbar nicht.
53
Vgl. etwa Klein / Moser (wie Anm. 50), Nr. 57, 61, 65, 80, 88 (= Hätzlerin Nr. 79), 89, 101.
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Sabine Obermaier WER WACHT? WER SCHLÄFT? ‘Gendertrouble’ im Tagelied des 15. und 16. Jahrhunderts Abstract Thema des Beitrags ist die im Tagelied anzutreffende geschlechtsspezifische Verteilung von ‘Schlafen’ und ‘Wachen/Wecken’: Weckt im höfischen Tagelied in der Regel die wache Frau den schlafenden Mann, so finden sich ab 1400 immer mehr Lieder, in denen der bereits erwachte Mann seine noch schlafende Geliebte weckt. Dabei verfügen ‘Schlafen’ und ‘Wachen/Wecken’ über eine konstante liebesmetaphorische Semantik. Die Umkehrung in der Rollenzuweisung im Tagelied um 1400 ist jedoch nicht in einer veränderten Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen/Wecken’, sondern lediglich in der veränderten Konstellation der Paarbeziehung begründet. Mit dem Serena-Tagelied bildet das 15. und 16. Jahrhundert schließlich noch eine weitere (ebenfalls liebesmetaphorische) Semantik aus, die in Konkurrenz (und Konflikt) zu den überkommenen Systemen steht.
‘Wache Frauen – Schlafende Männer’ – Eine persönliche Vorbemerkung1 Als ich mich im Sommersemester 2002 im Rahmen einer Lehrveranstaltung intensiver mit dem mittelalterlichen Tagelied (bis einschließlich Oswald von Wolkenstein) beschäftigte, fiel mir etwas auf, was dem weiblichen Herz meiner frauenbewegten Generation zu schmeicheln schien, etwas, das ich – mit Blick auf einen Aufsatz, den ich vielleicht irgendwann einmal schreiben würde – provisorisch unter den provokanten Titel ‘Wache Frauen – Schlafende Männer’ zu stellen gedachte. Sicher war mir von Anfang an bewußt, daß diese nur heute in einem kabarettistischen Kontext ‘politisch korrekt’ wirkende Formel für das Mittelalter und seine Tagelieder in ihren konnotativen Implikationen gar nicht, ja nicht einmal in ihrem denotativen Gehalt wirklich zutreffend ist; denn mindestens in einer Hinsicht hätte sie schon für die Tageliedproduktion v o r Oswald von Wolkenstein der Modifikation bedurft, ist 1
Den Vortragsstil habe ich für die schriftliche Fassung weitgehend beibehalten; eingearbeitet habe ich allerdings die Auseinandersetzung mit der entsprechenden Forschungsliteratur.
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doch der Wächter, der sozusagen qua Amt immer schon wach ist, in der Regel – ein Mann, ja und eben ein ‘wacher’ Mann. Und schon bei und um Oswald von Wolkenstein hätten sich Lieder finden lassen, die der provokant formulierten Formel widersprochen hätten. Die Tagelieder, die mir bisher aus den Liederbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts bekannt geworden sind, lassen schließlich endgültig an der Validität der in gleichsam jugendlichem Überschwang kokett hingeworfenen These zweifeln. Doch zu meiner Ehrenrettung muß ich sagen: Von Anfang an war ich mir nicht einmal sicher, und ich bin es auch heute noch nicht, ob ‘gender’ überhaupt die Kategorie ist, in die der nun zu modifizierende Befund gehört. Insofern bitte ich, auch den für diesen Beitrag gewählten Titel nicht zu ernst zu nehmen.
Der Befund Wer also wacht und wer schläft im Tagelied?2 Diese Frage stelle ich hier bezogen auf das liebende Paar. Nicht alle Tagelieder markieren deutlich, wer von den beiden Liebenden zuerst erwacht und wer daraufhin wen weckt; in vielen Tageliedern (sie machen gut die Hälfte des Gesamtbestandes aus) bleibt dies unspezifiziert. Für einige Tagelieder ist die Situation des gemeinsamen Erwachens auch einfach irrelevant, wie z. B. für die Tagelieder vom Typus ‘Tagelied des Einsamen’. Von den Tageliedern, die dagegen eindeutig kennzeichnen, wer noch schläft und wer schon (oder noch immer?) wach ist, entfallen im 12. und 13. Jahrhundert fast alle auf die Gruppe, die den schon (oder noch) wachen Partner mit der Frau und den noch schlafenden Partner mit dem Mann identifizieren. Überdies lassen sich unter den Liedern, die sich nicht eindeutig festlegen, eine Reihe von Tageliedern finden, in denen die Frau als erste – oder auch als einzige (neben dem Wächter) – das Wort ergreift. Dies suggeriert, daß die Frau auch als erste wach ist, auch wenn dies nicht explizit gesagt wird. Im 14., 15. und 16. Jahrhundert dagegen sind es nur noch gut die Hälfte bis knapp zwei Drittel der Lieder, die die Rollen auf
2
Wenn ich hier von Tagelied spreche, meine ich das weltliche Tagelied; ausgeklammert aus den folgenden Überlegungen bleibt (bedingt durch meine Fragestellung) das geistliche Tagelied, das nun gut zugänglich ist durch André Schnyder: Das geistliche Tagelied des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Textsammlung, Kommentar und Umrisse einer Gattungsgeschichte. Tübingen, Basel 2004.
Wer wacht? Wer schläft?
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diese Weise verteilen, die übrigen drehen das Verhältnis um: Hier ist es der Mann, der zuerst wach ist und der seine Geliebte weckt. Eine Anmerkung zum Corpus: Ausgewertet habe ich die einschlägigen Tagelied-Anthologien von Hugo Stopp und Sabine Freund (1983), Renate Hausner (1983) und Martina Backes (1992) sowie das TageliedCorpus bei Franz M. Böhme (21913).3 Einbezogen habe ich außerdem weitere Tagelieder Oswalds von Wolkenstein (ed. Klein)4 sowie die Tagelied-Corpora der folgenden Liederbuch-Editionen (zitiert unter folgenden Kürzeln): Ste
Manfred Zimmermann: Die Sterzinger Miscellaneen-Handschrift. Kommentierte Edition der deutschen Dichtungen. Innsbruck 1980 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 8). Lo Das Lochamer Liederbuch. Hrsg. von Walter Salmen und Christoph Petzsch. Wiesbaden 1972 (= Denkmäler der Tonkunst in Bayern NF Sb. 2). Au Johannes Bolte: Ein Augsburger Liederbuch vom Jahre 1454. In: Alemannia 18 (1890), S. 97-127, 203-235. Schw Hanns Fischer: Eine vergessene schwäbische Liedersammlung des 15. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 91 (1961/62), S. 236-254. Hä Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von Carl Halthaus. Quedlinburg, Leipzig 1840 (= Bibliothek der gesammten deutschen National-Litteratur 8).5 Kö Das Königssteiner Liederbuch Ms. germ. qu. 719 Berlin. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersuchungen 29).
3
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Die genauen bibliographischen Angaben lauten: Deutsche Tagelieder. Von den Anfängen der Überlieferung bis zum 15. Jahrhundert. Nach dem Plan Hugo Stopps † hrsg. von Sabine Freund. Heidelberg 1983; ‘Owe do tagte ez.’ Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Renate Hausner. Göppingen 1983 (= Göppinger Arbeiten zur Gemanistik 204); Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart 1992; Altdeutsches Liederbuch. Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Franz M. Böhme. Leipzig 21913. – Ich werde der Einfachheit halber auch nach diesen Ausgaben zitieren, wo möglich nach Backes, sonst nach Hausner und Böhme. Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Karl Kurt Klein u. a. 3. Aufl. von Hans Moser u. a. Tübingen 1987 (= Altdeutsche Textbibliothek 55). Eine neue Edition ist in Vorbereitung; siehe dazu den Beitrag von Inta Knor, Susanne Homeyer und Hans-Joachim Solms in diesem Band.
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Ro
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Das Rostocker Liederbuch. Hrsg. von Frierich Ranke und J. M. MüllerBlattau. Halle a. d. S. 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 5). Volks- und Gesellschaftslieder des XV. und XVI. Jahrhunderts. I. Die Lieder der Heidelberger Handschrift Pal. 343. Hrsg. von Arthur Kopp. Berlin 1905 (= Deutsche Texte des Mittelalters 5). Bergreihen. Eine Liedersammlung des 16. Jahrhunderts mit drei Folgen. Hrsg. von Gerhard Heilfurth, Erich Seemann u. a. Tübingen 1959 (= Mitteldeutsche Forschungen 16). Georg Forsters Frische Teutsche Liedlein in fünf Teilen. Abdruck nach den ersten Ausgaben 1539, 1540, 1549, 1556 mit den Abweichungen der späteren Drucke. Hrsg. von M. Elizabeth Marriage. Halle a. d. S. 1903. Die Darfelder Liederhandschrift 1546-1565. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich. Münster 1976 (= Schriften der Volkskundlichen Kommission für Westfalen 23). Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Hrsg. von Joseph Bergmann. Stuttgart 1845. Nachdruck Hildesheim 1962.
Es muß jedoch nachdrücklich betont werden: Noch immer ist der Befund (auch der nun modifizierte Befund) ein vorläufiger; denn alle Liederbuch-Editionen waren mir leider nicht erreichbar; und wieviele Tagelieder noch jenseits der Editionen schlummern – wer weiß es? Und wer weiß, wer darin zuerst erwacht und wer wen weckt... Generell ist der Befund nicht neu. Schon die ältere Forschung – namentlich Walter de Gruyter (1887), Friedrich Nicklas (1929), aber auch noch Ralf Breslau (1987) und Doris Sittig (1987) – ist sich der dem Tagelied eigenen geschlechtsspezifischen Verteilung von ‘Wachen’ und ‘Schlafen’ und ihres Wandels durchaus bewußt.6 In der Regel aber begnügt man sich damit, diese Verteilung als Faktum zu konstatieren.7 6
7
Walter de Gruyter: Das deutsche Tagelied. Diss. Leipzig 1887, z. B. S. 26, 53, 96; Friedrich Nicklas: Untersuchung über Stil und Geschichte des Deutschen Tageliedes. Berlin 1929 (= Germanische Studien 72), S. 114; Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik. Diss. FU Berlin 1987, bes. S. 248; Doris Sittig: ‘vil wonders machet minne.’ Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Göppingen 1987 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 465), S. 299 f. und 307. Deutlich bei Nicklas (wie Anm. 6), S. 114: “Dort [= im Tagelied des höfischen Minnesangs] ist die Frau fast in allen Liedern zuerst erwacht, hier tut sie es in folgenden: [Es folgt eine Aufzählung der entsprechenden Liednummern].” Vgl. auch ebd., S. 49 f. (Aufzählung von Liedern, in denen die Frau zuerst das Wort ergreift). Siehe auch Sittig (wie Anm. 6), S. 299 f.: “Die Frau hat im Tagelied eindeutig das Übergewicht: Sie ist
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Warum schlafender und wachender Part geschlechtsbezogen so verteilt werden, wie sie verteilt werden, wird m. W. nicht erklärt. Lediglich Ralf Breslau vermutet den Grund für den Wandel der Verteilung in der veränderten Stellung der Frau, gibt aber selbst zu bedenken: “Reflexe einer gewandelten Stellung der Frau im Spätmittelalter sind schwer zu ermessen.”8 In jüngeren Studien zum Tagelied scheint die geschlechtsspezifische Verteilung von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ völlig aus dem Blick geraten zu sein. Nicht einmal Albrecht Classens kursorischem Überblick über Das deutsche Tagelied in seinen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Varianten9 ist Instruktives zu diesem Thema zu entnehmen.
Die Deutung Ich möchte hier davon absehen, das Phänomen pauschal aus einem soziokulturellen Wandel im Rollenverständnis der Geschlechter zu erklären. Zu einfach erschiene mir auch ein Deutungsmodell, das die Differenz zwischen ‘höfisch-ritterlich’ und ‘bürgerlich’ zum Angelpunkt machen würde, etwa dergestalt (ich übertreibe jetzt ein wenig), daß der Ritter im Unterschied zum Bürger schlafen kann, weil ihn keine Pflicht ruft, oder daß der mutige Ritter schläft, obgleich er in höchster Gefahr ist, während der feige Bürger kein Auge zutut. Genauso wenig würde sich empfehlen, die Verschiebung zugunsten des ‘wachen Mannes’ einsträngig auf einen Wandel in Autorschaft und Publikum zurückzuführen, noch dazu mit solch vereinfachenden Pauschalurteilen wie ‘höfisches Tagelied für die adligen Damen’ und ‘volkstümliches Tagelied für die derbe Männergesellschaft’. Nicht nur sind die Bedingungen für den Wandel, auch das Phänomen selbst ist viel komplexer. Daher möchte ich, bevor ich die Situation des 15. und 16. Jahrhunderts genauer in den Blick nehmen kann, in einem ersten Schritt zu klären versuchen,
8
9
es zumeist, die den Weckruf hört, sie ist die Klagende und die Mahnende.” Vgl. auch ebd., S. 307: “Er [= Der Mann] ist es auch, der die Frau weckt, was in den alten höfischen Liedern nicht der Fall ist.” Breslau (wie Anm. 6), S. 248 (“Veränderung der Stellung der beiden Personen innerhalb des Tageliedes”) und v. a. S. 268 (mit Einschränkung): “Reflexe einer gewandelten Stellung der Frau im Spätmittelalter sind schwer zu ermessen.” Albrecht Classen: Das deutsche Tagelied in seinen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Varianten. In: Etudes germaniques 54 (1999), S. 173-196.
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was diese tageliedspezifische Rollenzuweisung überhaupt soll, konkret: was ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ im Tagelied des 12. und 13. Jahrhunderts bedeuten und warum es zunächst die Frau ist, die wacht, und der Mann, der schläft. Dann soll in einem zweiten Schritt geklärt werden, wann es genau zur Veränderung dieser Rollenzuweisungen kommt und wie sie im einzelnen erfolgt, um in einem letzten Schritt für die Vielfalt der Rollenzuweisungen, wie sie die Tagelied-‘Landschaft’ des 15. und 16. Jahrhunderts bereithält, eine Deutung zu suchen.
1.
Zur Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ im höfischen Tagelied
Der abwehrende Protest mediävistischer Kollegen und das befriedigte Schmunzeln mediävistischer Kolleginnen angesichts der Formulierung ‘Wache Frauen – Schlafende Männer’ beruht auf ganz bestimmten Assoziationen; wir assoziieren nämlich mit ‘wach’: munter, dynamisch, klug, aufgeweckt, scharfsinnig, modern usw., dagegen mit ‘schlafend’: verschlafen, einfältig, langweilig, altmodisch usw. Welche Haltung aber hat das Mittelalter gegenüber ‘Wachen’ und ‘Schlafen’? Im Unterschied zu Studien über den Traum im Mittelalter sind Studien über den ‘mittelalterlichen Schlaf’ eher selten. Interessantes zum Thema Schlaf und Schlaflosigkeit findet sich zuletzt in Bernd-Ulrich Hergemöllers Schlaflose Nächte (2002) sowie in Maria Elisabeth WittmerButschs Dissertation Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter (1990) und am Rande auch in Tzotcho Boiadjievs Die Nacht im Mittelalter (2003). Ich fasse grob zusammen: Einerseits schätzt das Mittelalter den Schlaf als Zeit der Ruhe und Medium der Erholung (so etwa schon bei Augustinus)10 und als Ort des Traums,11 und man kennt die in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments vermittelte Vorstellung vom ‘Schlaf des Gerechten’, wobei der Gerechte mit gutem Schlaf, der
10
11
Bernd-Ulrich Hergemöller: Schlaflose Nächte. Der Schlaf als metaphorische, moralische und metaphysische Größe im Mittelalter. Hamburg 2002 (= Hergemöllers Historiographische Libelli 2), S. 39; so auch Tzotcho Boiadjiev: Die Nacht im Mittelalter. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Barbara Müller. Würzburg 2003, S. 372, über die Nacht als die “Zeit, in der der Mensch sich ausruht von seinem Tagwerk”. Maria Elisabeth Wittmer-Butsch: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990 (= Medium Aevum Quotidianum, Sonderbd. 1); Boiadjiev (wie Anm. 10), S. 397 ff.
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Frevler aber mit Furcht vor Strafe ‘belohnt’ wird.12 Andererseits gibt es im Mittelalter aber auch – insbesondere seitens der Geistlichkeit – vehemente Vorbehalte gegenüber dem ‘Bruder des Todes’: Als Zeit der Gottesvergessenheit wird der Schlaf der Seele negativ bewertet (so etwa bei Augustinus und in den Psalmen, den Epheserbriefen und bei Isaja).13 Der Schlaf ist auch – als “Domäne der Dämonen”14 – ein Einfallstor für Versuchung und Teufel: In diesem Sinne tadelt Jesus am Ölberg das Schlafen der Jünger als Zeichen für die Schwäche des Fleisches und die Versuchung.15 Ganz allgemein gehört die Vorstellung vom Schlaf als einer Zeit des Gefährdet-Seins16 zur Alltagserfahrung des mittelalterlichen Menschen: “Der Schlaf ist der ohnmächtigste und problematischste existenzielle Zustand des Menschen”17 – und dies ist mein Ansatzpunkt. “Ich was vil sanfte entslâfen” (MF 39,22) – diese (hier stellvertretend für viele vergleichbare Äußerungen zitierte) Formulierung aus dem Munde des Geliebten im Tagelied Dietmars von Aist (MF 39,18 ff.), dem ersten überlieferten deutschsprachigen Tagelied, macht deutlich, daß die Aspekte Sünde und Gottvergessenheit, aber auch Vorstellungen wie die vom ‘Schlaf des Gerechten’ vom Schlaf des Tageliedes eher fernzuhalten sind. Kennzeichnend für den männlichen Schlaf im Tagelied ist es, daß er das Geweckt-Werden provoziert: In vielen Tageliedern erfahren wir vom Schlaf des Mannes nämlich nur indirekt durch die Aufforderung des Wächters an die Frau, den Mann zu wecken. Wozu aber muß er geweckt werden? Sicher nicht deshalb, weil Schlaf in mittelalterlicher Vorstellung “nur gut [ist], wenn er maßvoll genossen wird.”18 Viel einfacher: Schläft der Ritter zu lang, werden die Liebenden entdeckt, und das bedeutet Gefahr für Ehre, Leib und Leben des Ritters.19 12
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16 17 18
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Am deutlichsten in Prov 4,16-19; weitere Stellen siehe bei Hergemöller (wie Anm. 10), S. 36. Hergemöller (wie Anm. 10), S. 39-41 So in der Formulierung von Hergemöller (wie Anm. 10), S. 38 (Kapitel-Titel). Zur Vorstellung des Sündenschlafes siehe Wittmer-Butsch (wie Anm. 11), S. 49 f.; dazu auch Hergemöller (wie Anm. 10), S. 38. Wittmer-Butsch (wie Anm. 11), S. 51. Boiadjiev (wie Anm. 10), S. 373. Hergemöller (wie Anm. 10), S. 69; zum richtigen Maß des Schlafes siehe auch Boiadjiev (wie Anm. 10),S. 388 f. Gefahr ist ein wesentliches Element des höfischen Tageliedes; dies findet Berücksichtigung in der Typbeschreibung bei Ulrich Müller: Tagelied. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4 (1984), Sp. 345a-350b, hier Sp. 345a, und Hans-Jochen Schiewer: Tagelied. In: Lexikon des Mittelalters 8 (1999), Sp. 427 f., hier Sp. 427, sowie bei Ulrich Knoop: Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhi-
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Als ‘schlafender Mann’ ist der Ritter des Tageliedes also schutz- und wehrlos und gefährdet. Das Prekäre und Riskante am männlichen Tageliedschlaf bestätigt indirekt auch Steinmar in seinem Swer tougenlîche minne hât (Backes Nr. XXVII); Zweifel an der moralischen Integrität des Wächters führen das lyrische Ich hier zu folgender Überlegung (2,1-7): Wær ich so minneklîch gelegen bî liebe tougen ûf den lîp, So wolt ich wênig slâfes pflegen, dur mich und durh daz reine wîb. Mir selbem sô wolt ich getrûwen baz, dann ieman, der mich weken solte. so wê im, des man dâ vergaz!
Wer schläft, hat keine Kontrolle über die Situation. Obgleich hier die Kritik auf die Figur des Wächters zielt, dem qua Amt der Wach- und Weckdienst obliegt, scheint es in vielen Tageliedern dennoch gerade die Aufgabe der Frau zu sein, den Mann zu wecken, den Weckruf des Wächters an den (uns heute geradezu taub anmutenden) Mann zu vermitteln.20 Was aber soll diese ganz und gar unrealistische Konstellation bedeuten? Dazu müssen wir uns die Rolle der Frau noch einmal genauer anschauen: Vom Erwachen und vom Geweckt-Werden der Frau erzählen die Tagelieder meist nicht, so daß der Eindruck entsteht, die ‘wache Frau’ sei immer schon wach. Hier geht es jedoch nicht um die Schlaflosigkeit einer, die sich – vom Pfeil Amors getroffen – vor Liebessehnsucht im Bett hin und her wälzt;21 es geht auch nicht um die Schlaflosigkeit einer Frevlerin, die ihr schlechtes Gewissen quält;22 es geht allenfalls
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storische Untersuchungen. Marburg 1976 (= Marburger Beiträge zur Germanistik 52), S. 42, und Jürgen Kühnel: Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 1 (1980/81), S. 99-138, hier S. 104. Daß der Frau der ‘Wachdienst’ zukommt, machen einige Lieder ex negativo deutlich, so z. B. in Singet, vogel, singet Ottos von Botenlauben (Backes Nr. X) der Vorwurf des Mannes an die Frau, ihn nicht geweckt zu haben: “wie hâstu, sælic wîp, mich daz verdaget, / daz dû niht spræche ‘ritter, wache, ich wæne ez taget!’” Dies wäre z. B. bei den Protagonistinnen und dem Protagonisten des Eneasromans Heinrichs von Veldeke zu beobachten (En. 50,36-38 [Schlaflosigkeit Didos], 278,14-17 [Schlaflosigkeit Lavinias], 292,9-13 [Schlaflosigkeit des Eneas]). Vgl. dazu Anm. 12.
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– wenn auch nicht im strengen Wortsinne der ‘cura pervigil’ – um die Schlaflosigkeit einer, die sich sorgt.23 Es ist aber wohl doch eher die Schlaflosigkeit einer, die Wache hält und zum gegebenen Zeitpunkt den sich ihr anvertrauenden Partner weckt. Die ‘wache’ Frau ist in diesem Sinne also eigentlich die ‘wachende’ Frau, in deren Obhut sich der – trotz der großen Gefahr – ‘schlafende’ Mann begeben hat; und als ‘wachende’ Frau ist sie nicht nur Herrin der Situation, sondern gleichsam auch Herrin und Hüterin ihrer beider Liebe. ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ haben im höfischen Tagelied demnach eine liebesmetaphorische Semantik. Die Rollenverteilung erinnert dabei an die von Minnedame und Minnediener in der höfischen Minnekanzone – nur mit dem Unterschied, daß diese dort unter dem Vorzeichen der Liebeswerbung und hier unter dem Vorzeichen der Liebeserfüllung steht: So wie das liebende lyrische Ich der höfischen Minnekanzone sich bedingungslos und in steter Ergebenheit in den Dienst seiner Minneherrin stellt, so begibt sich der ‘schlafende’ Liebende des Tageliedes ganz und gar in die Obhut seiner ‘wachenden’ Geliebten. Die Zuweisung der Rolle des Schlafenden an die Rolle des Mannes und die Zuweisung der Rolle der Wachenden an die Rolle der Frau erscheint damit primär literarisch motiviert durch die von der Minnekanzone vorgegebene Geschlechterkonstellation; es werden darin also nicht Konstellationen reflektiert, die historisch durch ‘gender’, also durch das soziale Geschlecht bestimmt sind: Die Frau ist nicht die ‘Wachende’ als Frau, sondern als Minnedame, und der Mann ist nicht der ‘Schlafende’ als Mann, sondern als Minnediener. Damit bestätigt sich aber auch einmal mehr, was Christoph Cormeau für das Verhältnis von Tagelied und Minnekanzone so treffend gesagt hat: “Das Tagelied ist keine Antithese zur hohen Minne, sondern eine ergänzende Abwandlung der Minnediskussion [...].”24
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So faßt es für das Tagelied Walter de Gruyter (wie Anm. 6), 25 f. auf: “Über die rolle der frau wird wenig zu sagen sein. selbstverständlich ist sie überall die hingebende. aber auch fast durchgängig die besorgte. der morgendliche frühruf schlägt zuerst an ihr ohr.” Zur cura pervigil siehe Hergemöller (wie Anm. 10), S. 105-121. Christoph Cormeau: Zur Stellung des Tageliedes im Minnesang. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota. Bd. 2. Tübingen 1992, S. 695-708, hier S. 706. Siehe auch Ioana Beloiu-Wehn: ‚Der tageliet maneger gern sanc’. Das deutsche Tagelied des 13. Jahrhunderts. Versuch einer gattungsorientierten intertextuellen Analyse. Frankfurt a. M. 1989 (= Europäische Hochschulschriften I, 1168), S. 97.
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Die als Verhältnis von ‘Vertrauen gegen Schutz’ konzipierte Liebesbeziehung des Tageliedes entspricht in ihrer Verteilung der Geschlechterrollen den realen Gegebenheiten mittelalterlicher Geschlechterbeziehungen ebensowenig wie schon das Verhältnis zwischen Minnediener und Minnedame. Wir haben es auch hier mit einem idealisierten Entwurf einer Liebesbeziehung zu tun – und vor allem mit einem idealisierten Bild der Frau. Im 13. Jahrhundert entstehen Tagelieder, die – aus einer ‚realistischeren‘ Perspektive – genau dies reflektieren; so z. B. das Lied Singet, vogel, singet Ottos von Botenlauben (Backes Nr. X). Nachdem der Wächter (am Ende der zweiten Strophe) die Dame aufgefordert hat, den Ritter zu wecken – “nu wecke in, frouwe, ich singe im rehte scheidens zît” (2,6) – und sich aber gleichzeitig mit folgender Mahnung an den Ritter gewandt hat: “nu hüet dîn selbes, ritter: / grôz angest bî der liebe lît” (2,7), geschieht folgendes: Der Ritter, selbst schon erwacht, beschwert sich bei der Dame (3,1-7): Ich bin unsanfte erwecket, frouwe, ob ich entslâfen was, von manger vogel sange, die sich dâ fröiwent gen dem tage. ich hôrte lûte singen den wahter ûf dem palas, als er uns hât bescheiden: mit sange hôrte ich sîne klage. wie hâstu, sælic wîp, mich daz verdaget, daz dû niht spræche: ‚ritter, wache, ich wæne ez taget!‘ nu muoz ich von dir scheiden: grôz angest mich von liebe jaget.
Einen Schritt weiter geht Markgraf von Hohenburg in seinem Ich wache umb eins ritters lîp (Backes Nr. XIII): Dem dreimaligen “wecke in, frouwe!” des Wächters (1,3; 1,6; 1,11) setzt die Dame ihr dreimaliges “slâf geselle!” entgegen (2,3; 2,6; 2,11), so daß der Wächter nochmals insistiert: “nu wecke in, wande in wecket doch mîn horn, / wecke in, frouwe!” (3,10 f.).25 In Marners Guot wahter wîs (Backes Nr. XVI) finden wir eine weitere Variante: Die Dame bittet den Wächter, die Liebenden zu warnen für den Fall, daß sie selbst einschläft – was dann auch eintrifft und den Dichter zu Reflexionen über das Verhältnis von Frau Minne und Frau Melde veranlaßt. Die ‘nicht weckende’, weil (aus 25
Zum intertextuellen Zusammenhang zwischen dem Lied Ottos von Botenlauben und dem des Markgrafen von Hohenburg siehe Alois Wolf: Variation und Integration. Beobachtungen zum hochmittelalterlichen Tagelied. Darmstadt 1979 (= Impulse der Forschung 29), S. 81 f.
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Liebe) unzuverlässige, ja lügende oder auch einfach nur selbst ‘einschlafende’ oder ‘verschlafende Frau’ wird zum Risikofaktor für die Liebenden. Ex negativo bestätigen diese Tagelieder jedoch, gerade weil sie die idealisierte Darstellung der Beziehung zwischen ‘schlafendem’ Mann und ‘wachender’ Frau kritisch hinterfragen, meine These.
2.
Wann und wie der Mann ‘wach’ wird – Tagelieder um 1400
Nun gilt es zu fragen, wann es genau zur Veränderung unserer Rollenverteilung kommt und wie sie im einzelnen erfolgt. Es sind – abgesehen von einer Ausnahme aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts – die Tagelied-Œuvres der um 140026 wirkenden, sogenannten ‘autobiographischen’ Lyriker Hugo von Montfort (1357 – 5. 4. 1423), Mönch von Salzburg (Wirkungszeit: 1365 – 1396) und Oswald von Wolkenstein (1376/78 – 2. 8. 1445), in denen in besonders hohem Maße Lieder zu finden sind, in denen nunmehr der Mann ‘wacht’ und die Frau ‘schläft’. Was unterscheidet diese Tagelieder von den höfischen Tageliedern? Als erstes fällt auf, daß zwar nicht alle, aber doch recht viele dieser Lieder als Monologlieder eines männlichen lyrischen Ichs konzipiert sind;27 dies gilt für Hugos von Montfort Weka, wekch die zarten lieben! (Backes Nr. XXXIII), das Taghorn des Mönchs von Salzburg (Backes Nr. XXXIV) sowie Oswalds Erwach an schrick (Kl. 40) und Frölich, zärtlich (Kl. 53); es gilt nicht für Oswalds Wach auff mein hort (Kl. 101), das als Dialoglied, und für Sag an herzlieb (Kl. 49), das als triplum
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Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 206), S. 105-146, hat die Zeit um 1400 nachdrücklich als zentrale Wende in der Geschichte der deutschen Liebeslyrik in das Bewußtsein der Forschung gebracht. Brunner schenkt dabei dem Tagelied, das als “eindeutig festgelegter Typ” von Liebeslyrik “seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zu immer neuen Auseinandersetzungen gereicht hat” (ebd., S. 112), keine größere Aufmerksamkeit. Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29, hier S. 16, sieht die neue Liebessituation im Tagelied vorgebildet. Für mich ist dagegen entscheidend, daß sich auch in der Konstellation zwischen Tagelied-Mann und TageliedFrau um 1400 grundsätzlich etwas verändert. So bereits Nicklas (wie Anm. 6), S. 150, generell über die Tagelieder der “Übergangszeit”.
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konzipiert ist. Auch wenn das lyrische Ich dabei teilweise sogar autobiographische Konturen erhält, wäre es verfehlt zu glauben, daß sich der in seinem lyrischen Ich spiegelnde Liedautor mit der Konzeption eines ‘wachen’ Tagelied-Mannes einfach nur selbstgefällig als ‘Herr der Lage’ darstellen will. Ebenfalls zu einfach wäre die Devise: ‘Wer spricht, muß wach sein!’ Denn dann stellt sich wiederum die Frage: Warum spricht gerade der Mann? Allerdings: Diese Wahl ließe sich vielleicht tatsächlich mit der autobiobraphischen Perspektivierung der Lieder erklären. Es fällt aber noch ein Zweites auf: Die Beziehung zwischen TageliedMann und Tagelied-Frau ist eine andere als die im höfischen Tagelied.28 Dezidiert als Ehemann und Ehefrau erscheint das Tageliedpaar in Hugos von Montfort Weka, wekch die zarten lieben! (Backes Nr. XXXIII). Auch bei Oswald von Wolkenstein wird einmal die Tagelied-Geliebte explizit mit Oswalds Ehefrau Margarethe von Schwangau identifiziert, allerdings nur in Ain tunckle farb (Kl. 33), das zum Typus ‘Tagelied des Einsamen’ gehört.29 Daraus läßt sich sicher nicht schließen, daß das Eheverhältnis zwischen „Ösli“ und „Gretli“ implizit das Vorbild für alle anderen Tageliedpaare ist. Wo aber das Tageliedpaar nicht als Ehepaar auftritt (und das ist viel häufiger der Fall), ist zumindest von einer dauerhafteren, innigeren, vor 28
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Für das Liebeslied hat Brunner (wie Anm. 26), S. 136, Vergleichbares konstatiert: “Als Konzept erscheint bei den am meisten avancierten Lieddichtern eine neue Art von Liebe, die zum einen dem Mann die Dominanz gewährt, zum andern im Verhältnis der Partner untereinander weitgehend konfliktfrei ist. An die Stelle der internen tritt weitgehend die externe Problematik, ausgedrückt durch die räumliche Trennung und die ‘Klaffer’.” Genauer faßt es Burghart Wachinger (wie Anm. 26), S. 21, wenn er die “Wende im monologischen Minnelied” (auch hier um 1400 angesetzt) “nicht primär als historischen Wandel von Liebeskonzepten” begreifen will, sondern “als Verschiebung der jeweils angenommenen Situation monologischen Sprechens”, was bedeutet, daß ab Ende des 14. Jahrhunderts “eine Sprechweise bevorzugt” wird, “die von einer bestehenden Liebe ausgeht” (ebd., S. 23). Der Liedtypus ‘Tagelied des Einsamen’ wird bei Ulrich Müller: Ovid ‘Amores’ – alba – tageliet. Typ und Gegentyp des ‘Tageliedes’ in der Liebesdichtung der Antike und des Mittelalters. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 451-480, als “Gegentypus” zum Tagelied gefaßt. – Zum weiten Spektrum der Tagelied-Produktion Oswalds von Wolkenstein siehe die hilfreiche Übersicht bei Ulrich Müller: Die Tagelieder des Oswald von Wolkenstein oder Variationen über ein vorgegebenes Thema. In: Gesammelte Vorträge der 600-Jahr-Feier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 206), S. 205225, hier S. 219 f. Siehe auch Hans Peter Treichler: Studien zu den Tageliedern Oswalds von Wolkenstein. Diss. Zürich 1968.
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allem aber von einer legitimeren Liebesbeziehung auszugehen.30 Dauerhafter insofern, als sich der Liebende an ähnliche vergangene Situationen erinnert und ein baldiges Wiedersehen meist außer Frage steht, so z. B. in Erwach an schrick (Kl. 40, V. 53 f.: Hoffnung auf ein Wiedersehen in der Natur) oder in Frölich, zärtlich (Kl. 53, V. 18: Sie hat ihn schon tausendmal geweckt – das setzt eine Langzeitbeziehung voraus). Inniger insofern, als der Liebende seine Geliebte nicht mehr nur mit dem distanzierten “vrouwe”, sondern mit “mein hort” (Kl. 101, V. 1), “schatz” (Kl. 40, V. 53), “vil schönes weib” (Kl. 40, V. 1), “du minnikliches, schönes weib” (Kl. 53, V. 3), “du minniklich” (Kl. 40, V. 34), “zart minnikliche dieren” (Kl. 49, V. 22), “mein mynnikliche dirn” (Backes XXXIV, 1,9), “lieb” (Kl. 40, V. 6), “libste fra” (Backes XXXIV, 1,4), “mein libstez freülein zart” (Backes XXXIV, 2,24), “durchleuchtigs freulin klar” (Kl. 40, V. 38) usw. anspricht.31 Und schließlich legitimer insofern, als der Aspekt der Gefahr für die Liebenden, der Aspekt der Angst vor dem Entdeckt-Werden als Grund für die Notwendigkeit der Trennung in fast allen dieser Lieder ausgeblendet erscheint, so in Oswalds Wach auff mein hort (Kl. 101), Sag an herzlieb (Kl. 49) und Frölich, zärtlich (Kl. 53), aber auch bereits im Taghorn des Mönchs von Salzburg (Backes Nr. XXXIV).32 Nur in Oswalds Erwach an schrick (Kl. 40) wird der Aspekt der Gefahr für die Liebenden und die Funktion des Wächters als eines Warners noch einmal explizit genannt.33 Dennoch: In 30
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Dies korrespondiert mit Tendenzen, wie sie Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186, jüngst für das ‘mittlere System’ ermittelt hat: “An die Stelle des Minnesängers und seiner nicht als prinzipiell unerfüllbar, aber als prinzipiell unlegitimiert [!] erscheinenden Liebe zur Dame tritt mit ‘geselle’ oder ‘knabe’ [...] und ‘juncfraw’, ‘juncfrewlein’ oder einfach ‘fraw’ ein als jung vorgestelltes Paar. Zwischen den Liebenden herrscht oft [...] Einverständnis [...]” (S. 146). Damit erscheine die Liebe “als unproblematisch, folglich emotional ausschließlich positiv mit ‘freude’ besetzt” (S. 147); die im Lied thematisierte Liebesbeziehung scheine “auf eine spätere Legitimierung hin offen” (ebd.; vgl. auch den Beitrag Gert Hübners in diesem Band). Und auch sie nennt ihn z. B. “herzlieb” (Kl. 49, V. 1) und “höchster schatz” (Kl. 49, V. 28). Vgl. Nicklas (wie Anm. 6), S. 134 f. Dies konstatiert für das Taghorn des Mönchs von Salzburg bereits Backes (wie Anm. 3), Kommentar, S. 284. Max Schiendorfer: ‘Ain schidlichs streuen’. Heilsgeschichte und Jenseitsspekulation in Oswalds verkanntem Tagelied Kl 40. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 9 (1996/97), S. 179-196, hat für dieses recht widerspenstige Tagelied eine geistliche Lesart durchgespielt, bei der der “warner” mit Christus, die Geliebte mit Maria identifiziert wird, wobei jedoch die Möglichkeit eines litteralen Verständnisses
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dieser veränderten Darstellung der Beziehung zwischen den Liebenden scheint mir der Schlüssel für den Wandel in der Zuweisung von ‘Wachen’ und ‘Schlafen’ zu liegen. Diese Vermutung läßt sich durch den Blick auf ein (leider nur fragmentarisch überliefertes) Lied Wizlaws von Rügen (Hausner Nr. 46) bestätigen: [V. 1-4 nicht erhalten] List du in der minne dro. ich se den lechten morghen vro. de vo(ghe)lin sin(ghen) den tac her ist ho. Der ritter hort den wechter. her wekte sine brut. Lep morghen kom ich echter. io bist du leb min trut. Se want yn ir arme blanc. den ritter mit sorghen se ranc. her trute se des saght se ym da danc. Sich hoph dar eyn leyt sceyden. da wart weynen so grouz. He swor bi tuuren eyden. ich tuo dich sorghen bouz. Dennoch weynete daz wip. se sprach tzuo tzym selle nu blip. her iach ich wil tzuo dir ane kip.
Dieses Lied aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist das einzige erhaltene Tagelied vor Oswald, Hugo und Mönch, das den ‘wachen’ Part an den Mann und den ‘schlafenden’ Part an die Frau vergibt (dieses Lied ist also die zuvor schon erwähnte Ausnahme).34 Im Unterschied zu den eben besprochenen Liedern ist Wizlaws Tagelied nicht als Monologlied eines männlichen lyrischen Ichs konzipiert; vielmehr folgen der (al-
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des Liedes nicht ausgeschlossen wird. Auf dieser Linie argumentiert jüngst auch Schnyder (wie Anm. 2), S. 218 f. Dieses Tagelied bezeichnet schon de Gruyter (wie Anm. 6), S. 18, als “ein ebenso alleinstehendes wie erfreuliches beispiel unserer gattung”; siehe auch ebd., S. 53: “Das tagelied Wizlaws vRügen bildete in der vorangegangen periode [= die höfische] darin die einzige ausnahme, daß der ritter die freundin weckt. das ist jetzt [= in der Übergangsperiode] etwas ganz gewöhnliches [...].”
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lerdings nur zur Hälfte erhaltenen) Wächterstrophe zwei weitere Strophen, die das morgendliche Geschehen – wie es dem ‘genre objectif’ gebührt – episch, jedoch versetzt mit wörtlicher Rede beider Partner, wiedergibt. Abgesehen von dieser Differenz in der Sprechhaltung finden wir ansonsten hier alles wieder, was uns bei den – den ‘wachen Mann’ favorisierenden – Tageliedern um 1400 bemerkenswert erschienen ist: 1. Das Paar steht in einer festen legitimen Beziehung, es handelt sich nämlich um ein Brautpaar: “Der ritter hort den wechter. / her weckte sine brut” (II,1 f.). 2. Das Wiederkommen des Mannes steht nicht in Frage; der Mann sagt: “Lep morghen kom ich echter. / io bist du leb min trut” (II,3 f.); und das klingt nach der Gewohnheit einer schon länger andauernden Beziehung. Ebenso zeugen die Anredeformen “lep” sowie “min trut” von einem sehr innigen Verhältnis des Mannes zur Frau; und auch sie nennt ihn “selle” (= ‘geselle’, III,6). 3. Von einer akuten oder latenten Gefahr scheint im ganzen Lied keine Rede zu sein; im Vordergrund steht das letzte Liebesspiel und die Trauer über den Abschied. Mit diesem Motiv steht Wizlav in der Tradition von Wolframs Den morgenblic (Backes Nr. III). Ohne hier das Ausnahme-Phänomen Wizlaw wirklich erklären zu können, möchte ich festhalten: Diese Übereinstimmungen mit den hier besprochenen Tageliedern um 1400 sind zu auffällig, um bedeutungslos zu sein. Was aber hat das alles damit zu tun, daß es in den Tageliedern um 1400 verstärkt der Mann ist, der zuerst aufwacht und ‘seine’ noch schlafende Frau weckt? Ich möchte hier dazu folgende Hypothese lancieren: Das Tagelied um 1400 gestaltet Beziehungsformen (nämlich Formen relativ verbindlicher und gesellschaftlich offenbar weniger gefährdeter Liebesbeziehungen, die bisweilen sogar als Verlöbnis oder Ehe gefaßt werden), die den in der mittelalterlichen Lebenswelt tatsächlich anzutreffenden Geschlechterbeziehungen näher stehen als das (irreale, für das höfische Tagelied jedoch noch kennzeichnende) Verhältnis zwischen Minnedame und Minnediener. Diese Verschiebung vom Minneverhältnis zu ‘realistischeren’ Beziehungen kann mehrere Ursachen haben (die sich gegenseitig nicht ausschließen müssen): Sie kann ein Reflex sein auf literarische Traditionen etwa in der Nachfolge von Wolframs ehelichem
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Tagelied Der helden minne (Backes Nr. VII).35 Sie kann auch ein Reflex auf Lieder sein, die für das Tagelied ein ‘Mehr an Realistik’ einklagen (ich habe solche Lieder oben bereits zitiert). Sie kann schließlich auch ein Reflex sein auf die autobiographische Perspektivierung, die wir bei den Liedautoren um 1400 beobachten können und die sich m. E. auch in der Gestaltung der Lieder als Monologlieder des männlichen Ichs niederschlägt. Sie ist damit nicht unbedingt Reflex auf tatsächliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern; es wird m. E. lediglich eine ‘realistischere’ Darstellung der Geschlechterrollen gegeben. Was aber erhalten bleibt, ist jene liebesmetaphorische Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’, die wir bereits am höfischen Tagelied entdekken konnten. Nur die geschlechterbezogene Verteilung bedarf nun der Anpassung an die veränderten, realitätsnäheren Beziehungsformen. Und so ist es jetzt eben der Mann, der – nunmehr legitimer(er) Partner der Frau – als ‘wacher’, ja ‘wachender’ Mann für die Obhut der ihm anvertrauten ‘schlafenden’ Frau zu sorgen hat.
3.
‘Schlafen’ und ‘Wachen’ im Tagelied des 15. und 16. Jahrhunderts
Der Liedtypus Tagelied ist – damit sage ich nichts Neues – im 15. und 16. Jahrhundert noch immer sehr lebendig.36 Das Spektrum, das die Liederbücher an Tagelied-Variationen zu bieten haben, ist außerordentlich breit37 – auch in Hinblick auf den Aspekt des ‘Schlafens’ und ‘Wachens’, der uns hier ja besonders interessiert. 35
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37
Zum Einfluß Wolframs auf das Tagelied nach Wolfram siehe Hans-Joachim Behr: Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram. In: Lied im deutschen Mittelalter: Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991. Hrsg. von Cyril Edwards u. a. Tübingen 1996, S. 195-202. Hübner (wie Anm. 30), S. 146, hält die Tatsache, daß das Tagelied im ‘mittleren System’ erhalten bleibt, vor dem Hintergrund der Veränderungen in der Partnerkonstellation für “nicht zufällig”. Für Horst Brunner: Das deutsche Lied im 16. Jahrhundert. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky u.a. Stuttgart 2001, S. 118134, hier S. 133, gehören Tagelieder fraglos in ein Liebeslied-Corpus des 16. Jahrhunderts. Das Nebeneinander von Traditionellem und Innovativem ist schon der älteren Forschung aufgefallen, z. B. bei Sittig (wie Anm. 6), S. 318, hier gestützt auf Horst Dieter Schlosser: Untersuchungen zum sog. lyrischen Teil des Liederbuchs der Klara Hätzlerin. Diss. Hamburg 1965, S. 75.
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So gibt es noch immer Lieder, die das Verhältnis zwischen TageliedMann und Tagelied-Frau ganz traditionell (also der Konstellation im höfischen Tagelied entsprechend) gestalten, z. B. Ich Tummer wachter tritt daher (Hä I,3), ‘Wach uf, wach uf!’ mit heller stimm (Hei 198), Ich treüer wachter trit daher (Hei 156) und Der morgen stern (Da 84). Daneben gibt es Lieder, in denen die Frau als Wachende und zuverlässige Weckerin in Frage steht; diese Lieder gehören in die Tradition solcher Lieder, die (etwa ab dem 13. Jahrhundert) von einem ‘realistischeren’ Standpunkt aus die traditionellen Rollenbilder des höfischen Tageliedes kritisch hinterfragen. Dazu gehören z. B. Es warb ain ritter frädenreich (Hä I,9), Die nacht die wil verbergen sich (Kö 108) und Ich hört ein freuwlein klagen (Hei 146; Be I,53; Am 31). Und schließlich gibt es Lieder (und diesen gilt unser besonderes Augenmerk), in denen der Mann die Frau weckt oder in denen zumindest der Mann nach dem Weckruf des Wächters zuerst das Wort ergreift. Wer nun denkt, daß sich die Lieder vom Typus ‘Wacher Mann – Schlafende Frau’ einfach nur an den Liedtypus anschließen, den wir im Umkreis von Oswald von Wolkenstein, also bei den Tageliedern um 1400 ermitteln konnten, wird enttäuscht. Die Tagelied-‘Landschaft’ ist gerade bei diesem Liedtypus außerordentlich vielfältig und – verwirrend: Zum einen werden das Taghorn des Mönchs sowie Oswalds Wach auf mein hort (Kl 101) weiter tradiert; das als Dialoglied konzipierte Lied Oswalds wird im Lochamer- und im Rostocker Liederbuch (Lo 2, Ro 19) sogar zum Monologlied umgestaltet und damit noch näher an den Liedtypus herangerückt, den wir als charakteristisch für diese Art von Tagelied ermittelt haben. Zum anderen gibt es jedoch Lieder, die konstitutive Elemente aus diesem neuen Liedtypus (Monologlied, Dauer und Legitimität der Beziehung, Ausblendung der Gefahr) mit konstitutiven Elementen aus dem traditionellen Liedtypus (Erzähllied, Minnedienstbeziehung, Gefahr) vermischen – und dies in unterschiedlichen Graden. Das Lied Wach auf, meins herzen ein schone (Böhme 118) entspricht, insofern es als Monologlied des männlichen lyrischen Ichs konzipiert ist und von einer dauerhaften Beziehung zwischen Mann und Frau ausgeht, fast völlig dem von den Lyrikern um 1400 entwickelten Liedtypus; lediglich der Aspekt der Gefahr für die Liebenden findet sich hier wieder eingeblendet, wodurch die Legitimität der Beziehung in Frage steht. Ähnliches begegnet im Lied Ains nachtes mir grosz hail beschach (Hä I,18), worin sich
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das männliche lyrische Ich sein nicht ganz ungefährliches nächtliches Stelldichein bei der Geliebten nochmals vergegenwärtigt. Andere Lieder modifizieren die Sprechhaltung (und nicht nur diese): Das als Erzähllied mit zwei eröffnenden Mannesstrophen konzipierte Lied Der wechter verkündiget uns den tag (Am 60) untermauert im Gegensatz zu den eben skizzierten Liedern gerade wieder die Legitimität der Liebesbeziehung, indem erzählt wird, daß der Mann der Frau einen goldenen Ring schenkt. Hier wird allerdings nicht ganz deutlich, ob der Mann mit seinem “Merck auff feins lieb was ich sag” (V. 7) die Frau weckt oder ob er lediglich zuerst das Wort ergreift, hier um seine Liebste damit zu beschwichtigen, daß der Wächter zu früh geweckt habe (ein Motiv, das wir aus den Liedern kennen, die die Frau als zuverlässige Weckerin in Frage stellen). Ebenfalls ein Erzähllied (jedoch mit einem hohen Anteil an wörtlicher Rede aller Beteiligten) ist das Lied Ich hort ain wachter clagen (Hä I,25). Auch hier wird – obgleich ein künftiges Wiedersehen außer Zweifel steht – der Aspekt der Gefahr und damit das Problem der Legitimität der Beziehung wieder eingeblendet. Das Lied Wiplich figuer, in dinem beschuer (Kö 118), das den morgendlichen Dialog zwischen Mann und Frau wiedergibt, motiviert dagegen die Trennung gerade nicht mit Gefahr, dafür aber bleibt das Wiedersehen der Liebenden ungewiß (der Liebende vergleicht sich mit Parzival, als dieser mit Sehnsucht und Verlangen der Gral verlassen mußte). Auch in dem Erzähllied Ein wae chter gut in seiner huo t (Fo I,32; Am 47) scheint die Liebesbeziehung keine dauerhafte zu sein; frühere oder künftige Treffen werden nicht erwähnt. Dagegen wird die Gefahr für die Ehre der Frau angesprochen. Dieses Lied fällt jedoch vor allem deshalb aus dem Rahmen, weil es die Rollen des Verlassenden und der Verlassenen umkehrt: Hier ist es die Frau, die den Mann zurücklassen muß. Weckt im höfischen Tagelied die Bleibende den Scheidenden, so hier der Bleibende die Scheidende. Und noch etwas erscheint mir bedeutsam: Für (fast) alle diese Lieder gilt: Der ‘wache’ Mann ist nicht mehr automatisch der ‘wachende’ Mann; denn in vielen Liedern wird das Erwachen des Mannes vom Wächtersang explizit Thema. Richtig kurios wird es dort, wo die Beziehung zwischen ‘wachem und weckendem Mann’ und ‘schlafender Frau’ als Minnedienst-Verhältnis formuliert wird. Ein solches Lied ist Stand vff, stand vff, die nacht ist lang (Hä I,4). Ort des Geschehens ist die Burg (V. 3: “Der wachter an
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der zynnen sang”).38 Nachdem der Mann in Strophe I den Wächtersang vernommen und beklagt hat, weckt er in Strophe II seine Geliebte (wobei die Formulierung einem Lied Oswalds oder des Mönchs entsprungen sein könnte): “Nun wach, nun wach, meins hertzen gir, / Mein liebste fraw besunder” (V. 15 f.). Obgleich der ‘wache’ (vielleicht sogar ‘wachende’) und der ‘weckende’ Part, wendet sich der Mann im folgenden nach Art eines Minnesängers an seine Geliebte, der damit die Rolle der Minneherrin39 zugewiesen wird (Hä I,4, V. 17-24): Vmbfach mein hertz, nymm es zu dir Vnd hilff, das es beschehe schier, Tuo es in fräden munder. Verleich Im nach den gnaden dein Ain wort durch weiplich ere, Das vns der tag mit ern erschein. Was du gepëwtst, das sol sein, Ich volg der deinen lere.
Noch im Halbschlaf erfüllt sie die ihr angetragene Rolle und gibt – eingedenk der Gefahr der üblen Nachrede – ihrem Geliebten den ‘Befehl’ zum Aufbruch (Hä I,4, V. 25-27):40 Sy redt vß senftem schlauffe: Bist du ain hordt von hocher art, Ee das vns yemant straffe, So heb dich wider vff die fart.
Ein – ebenfalls auf den Wortschatz des Minnesangs zurückgreifendes – Frauenlob beschließt in Strophe III das Lied. Auch in Ich wachter muo sz erwecken (Hä I,14b) schlüpft der Tagelied-Mann in die MinnedienerRolle, wobei hier nicht ganz deutlich wird, ob er derjenige ist, der zuerst erwacht, oder ob er nur derjenige ist, der nach dem Wächterruf das Wort zuerst ergreift. Mit der Konzeption eines ‘wachen und weckenden Minnedieners’ und einer ‘schlafenden Minneherrin’ scheint unsere bis um 1400 übliche 38 39
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Dies entspricht nach Breslau (wie Anm. 6), S. 101, der höfischen Dichtung. So schon Breslau (wie Anm. 6), S. 101. Auch Nicklas (wie Anm. 6), S. 144, reiht Hä I,4 unter der Rubrik “Der Liebhaber im Dienst der Geliebten” ein. Für Breslau (wie Anm. 6), S. 101, ist die Antwort der Frau “ruhig, sehr pragmatisch und recht emotionslos”. Ihr stiller Schmerz wird erst am Schluß thematisiert.
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liebesmetaphorische Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ völlig auf den Kopf gestellt, wenn nicht sogar zerstört. Wir könnten es uns einfach machen und sagen: Man hat diese Semantik eben nicht mehr durchschaut; ‘Wachen’, ‘Wecken’ und ‘Schlafen’ sind wie vieles andere auch zu bloßen Versatzstücken geworden, die völlig willkürlich zusammengesetzt werden, um neue Lieder geradezu serienmäßig zu generieren. Nur, eine solche Antwort befriedigt nicht. Daher hier nun ein neuer Erklärungsversuch. Ich muß dazu einen kleinen Umweg machen über einen Tagelied-Typus, der Elemente der Serena (also des Abendliedes) in sich integriert.41 Bei diesem Tagelied-Typus wird also auch die Einlaß-Szene am Abend sowie – mehr oder weniger ausführlich – die Liebesnacht selbst geschildert. Dieser Typus erfreut sich im 15. und 16. Jahrhundert großer Beliebtheit und entwickelt dabei ein Schema für die Einlaß-Szene, das in unserem Zusammenhang von Interesse ist: Die (schon) schlafende Geliebte muß vom Liebhaber (oder auch im Auftrag des Liebhabers vom Wächter) erst geweckt werden, bevor es überhaupt zum nächtlichen Stelldichein kommen kann. Der Weckruf greift dabei Formulierungen auf, die sonst das morgendliche Wecken der Frau durch den Mann kennzeichnen; mehr als deutlich zu erkennen ist dies etwa bei der Eröffnungszeile des Liedes Wach auff mein hort / vernim mein wort (Be I,29a und 29b, Fo III,6, Am 23; vgl. Böhme 105), die eine Formulierung Oswalds von Wolkenstein zitiert. Allerdings erhält das ‘Wecken’ hier eine ganz andere Semantik als in den Tageliedern. Das Wecken ist hier – so suggeriert die erste Strophe dieses beliebten Liedes – ein wesentlicher Bestandteil innerhalb der Werbung um die Gunst der Frau (ich zitiere hier nach Forster III,6, 1,1-7): Wach auf, mein hort, vernim mein wort, merck auff wz ich dir sage, Mein herz dz wue t nach deiner gue t, laß mich fraw nit verzagen! 41
In der deutschsprachigen Lyrik setzt dieser Typus ein mit Ulrichs von Liechtenstein Got willekomen, herre (Backes Nr. XIX). Dieser Mischtypus aus Tagelied und Serena verknüpft das Tagelied mit einem Liedtypus, der eigentlich als “Gegenstück” zum Tagelied begreifbar ist; so Norbert Richard Wolf: Tageliedvariationen im späten provenzalischen und deutschen Minnesang. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), Sonderheft, S. 185-194, hier S. 185.
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Ich setz zu dir all mein begir, das glaub du mir laß mich deinr trew geniesen.
In der Eingangsstrophe zu dem Lied Auß herten weh klagt sich ein held (Fo III,13) wird der Zusammenhang zwischen Wecken und Werben noch deutlicher (1,3-8): Ich wue nsch jr heyl die mir gefelt komm schir loe ß mich auß sorgen. o weiblich bild wie schleffst so lang wilst sollich klag nit hoe ren? laß dich erwecken mein gesang schick dich zu liebes anefang dein lieb wil mich betoren.
Deutlich wird an diesen Zeilen auch, daß nicht nur das ‘Wecken’, sondern auch das ‘Schlafen’ der Geliebten eine neue Semantik erhält: Solange die Frau schläft, ist sie für die werbende Liebesklage des Mannes nicht zugänglich; das ‘Schlafen’ repräsentiert in diesem Zusammenhang also eine Phase, in der die Frau noch nicht bereit für die Liebe des Mannes ist. Für uns heute burleske Züge nimmt es an, wenn die Frau den Weckgesang einfach nicht hört, wie in Guo t wachter, ich bin chomen (Hä I,15, 33-42): Da hett die fraw verslauffÝ, Das er von dannen schied; Er ließ den wachter singen Ain frölich tage lied. Das acht die fraw gar claine, Er huo b selbs an vnd sang, Das es der liebsten frawen sein Wol durch ir hertz ein drang. Da erwacht die frawe, Der stymm was sy gar fro.
Mit dem ‘Erwachen’ der Frau hat der Mann dann einen ersten Teilerfolg in seiner Werbung erzielt, wobei jedoch in einigen Liedern auch die ‘wache’ Frau erst noch zum Stelldichein überredet werden muß. Das ‘Wach-Sein’ der Frau ist daher – im Unterschied zu der des Mannes – vielleicht nicht automatisch ineinszusetzen mit Liebesbereitschaft; aber
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es bildet eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der männlichen Liebeswerbung. Wir sehen also: In den Serena-Tageliedern des 15. und 16. Jahrhunderts haben ‘Schlafen’, ‘Wecken’ und ‘Wachen’ ebenfalls eine liebesmetaphorische Semantik; diese unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der des höfischen Tageliedes (aber auch von der der Tagelieder um Oswald). Stark vereinfacht gesagt: Wer im höfischen Tagelied (oder auch im Tagelied um Oswald) schläft, begibt sich in die Obhut des anderen; und wer wacht und weckt, hütet und schützt den Partner. Wer im Serena-Tagelied schläft, ist (noch) nicht bereit für die Liebe, dagegen ist, wer wach ist, (mehr oder minder) liebesbereit, und wer weckt, wirbt. Insofern ist es auch sinnvoll, wenn nun im Rahmen der Einlaß-Szene des Serena-Tageliedes der werbende Minnediener derjenige ist, der wach ist und die von ihm begehrte Frau weckt, und die umworbene Minneherrin diejenige, die schläft und die es – im übertragenen Sinne – aufzuwecken gilt. War es der Wandel in der Darstellung der Liebesbeziehung vom irrealen Minnedienst-Verhältnis zu ‘realistischeren’ Beziehungsformen, die im Tagelied um Oswald die Umkehrung in der Zuweisung des wachen und schlafenden Parts an die beiden Geschlechter bedingt hat, so ist es im Serena-Tagelied die für die abendliche Einlaß-Szene spezifische Werbe-Situation. Dies bestätigt auch folgende Beobachtung: Für die morgendliche Abschieds-Szene nämlich lehnen sich die SerenaTagelieder meist wieder an das traditionelle Muster des höfischen Tageliedes an: Die Frau erwacht und weckt den noch schlafenden Mann (Fo III,6 7,1-7): Und da er bey der liebsten lag biß auff die dritte stunde Da sprach das selbe frewelein auß jhrem rotten munde ‘Wach auff wach auff du junger knab! wann es ist tag ich hoe r die voe glein singen [...].’
Damit entstehen an der Oberfläche scheinbar widersprüchliche Rollen: ‘wacher/weckender’ Mann am Abend und ‘schlafender’ Mann am Morgen sowie ‘schlafende’ Frau am Abend und ‘wache/weckende’ Frau am Morgen. Blickt man tiefer, so hat das Ganze seine Logik: Der Wechsel in der Situation (abendliche Einlaß-Szene vs. morgendliche
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Abschieds-Szene) bedingt einen Wechsel in der liebesmetaphorischen Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’: Als Werbender ist der Mann natürlich ‘wach’ und muß die Umworbene ‘wecken’ (d. h. für sich gewinnen), und als Umworbende muß die Frau zunächst ‘schlafen’ (d. h. abweisend sein). Als Liebender aber gibt sich der Mann ‘schlafend’ ganz in die Obhut seiner Dame, und als Liebende ‘wacht’ die Frau über ihn und ihre Liebe und ‘weckt’ ihn, damit er der Gefahr rechtzeitig entkommen kann. Letztendlich bleiben dabei die Rollen von Mann und Frau sogar konstant; denn die Konzepte ‘wacher/weckender Mann am Abend’ und ‘schlafender Mann am Morgen’ haben beide im Prinzip die gleiche tiefensemantische Funktion: Sie markieren den Minnediener. Ebenso verhält es sich mit der ‘schlafenden Frau am Abend’ und der ‘wachenden/weckenden Frau am Morgen’: Mit diesen Konzepten wird die Minnedame markiert.
Schlußfolgerungen Versuchen wir, die Beobachtungen zu systematisieren und für einen Erklärungsansatz unseres merkwürdigen Mischtypus fruchtbar zu machen. In der Tagelied-‘Landschaft’, wie sie die Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts präsentieren, begegnen wir – bezogen auf die geschlechtsspezifische Verteilung von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ – drei konkurrierenden semantischen Systemen, die jeweils einem in sich logischen Schema folgen (siehe Schaubild Nr. 1). System 1 folgt dem traditionellen Schema des höfischen Tageliedes: Der ‘schlafende’ Mann wird von der ‘wachen’ Frau am Morgen geweckt; ‘Schlafen’ und ‘Wachen/Wecken’ symbolisieren dabei das SichErgeben des Mannes in die Obhut der ihn schützenden Frau; der Mann wird damit als Minnediener, die Frau als Minnedame gekennzeichnet. System 2 folgt dem Schema des Tagelieds um Oswald: Die ‘schlafende’ Frau wird von ihrem ‘wachen’ Mann am Morgen geweckt; die liebesmetaphorische Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen/Wecken’ entspricht der des höfischen Tageliedes; die Rollen finden sich vertauscht, weil eine realitätsnähere Darstellung von Liebesbeziehungen intendiert ist.
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Schaubild Nr. 1 Schema 1 wache/weckende Frau – schlafender Mann am Morgen Schlafen und Wachen/Wecken als Vertrauen gegen Schutz Minnedienst: Minnedame und Minnediener Schema 2 wacher/weckender Mann – schlafende Frau am Morgen Schlafen und Wachen/Wecken als Vertrauen gegen Schutz „realistischere“ Beziehung: Ehemann und Ehefrau etc.
Schema 3 wacher/weckender Mann – schlafende Frau am Abend Wachen/Wecken und Schlafen als Werbung und Abweisung Minnedienst: Minnedame und Minnediener
Schaubild Nr. 2 Mischtypus wacher/weckender Mann – schlafende Frau am Morgen
Werbung und Abweisung?
? Vertrauen gegen Schutz? Minnedienst: Minnedame und Minnediener
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System 3 bildet das Schema des Serena-Tageliedes: Die ‘schlafende’ Frau wird vom ‘wachen’ Mann am Abend (!) geweckt; ‘Wachen / Wekken’ und ‘Schlafen’ stehen hier für die Werbung des Mannes und Abweisung der Minnedame; der Mann wird damit als Minnediener, die Frau als Minnedame gekennzeichnet. Auffällig ist dabei, daß in jedem Schema Elemente integriert sind, die auch in einem andern Schema vorkommen (im Schaubild durch verschiedene Schattierungen markiert). Es kommt also zu zahlreichen Überlappungen zwischen den verschiedenen, nebeneinander existierenden Systemen. Dies suggeriert – an der Oberfläche zumindest – eine beliebige Kombinierbarkeit der einzelnen Elemente. Gleichzeitig unterscheiden sich die drei Systeme durch einander diametral entgegengesetzte, miteinander nicht kompatible Schema-Elemente (im Schaubild durch Gegensatz-Pfeile markiert). Und so ist vielleicht unser merkwürdiger Mischtypus ein Resultat aus dem Konflikt konkurrierender Systeme mit teilweise überlappenden, teilweise nicht kompatiblen Elementen. Denn unser Mischtypus läßt sich keinem logischen Schema zuordnen (siehe Schaubild Nr. 2). Die Elemente sind hier in einer Art und Weise kombiniert, die – vor dem Hintergrund der bisher ermittelten Systeme – einen SemantikKonflikt provozieren. Damit scheint die Semantik von ‘Schlafen’, ‘Wachen’ und ‘Wecken’ – zumindest auf der liebesmetaphorischen Ebene – leer zu bleiben. ‘Schlafen’, ‘Wachen’ und ‘Wecken’ scheinen nun nicht mehr zu bedeuten als ‘Schlafen’, ‘Wachen’ und ‘Wecken’; damit erscheinen sie auf bloße Indikatoren des Liedtyps ‚Tagelied‘ reduziert. Doch: Beliebigkeit und Austauschbarkeit bei der Kombination der Elemente als Resultat konkurrierender und konfligierender Systeme42 – ist das eine befriedigende Antwort? Verfügt der eigentümliche Misch-
42
Eine solche Tendenz würde auch durch die Existenz von Liedern bestätigt, bei denen ohne Kenntnis der konkreten Aufführungssituation nicht genau zu ermitteln ist, welcher der beiden Liebespartner eigentlich die Weckstrophe spricht; dies ist m. E. beispielsweise der Fall in Wol auf meins herczen traut geselle (Ste 11a/b; vgl. auch: Au 62; Schw 8, Hä I,2 [hier ohne Weckstrophe]). Die Deutung der Weckstrophe als Männerrede findet sich z. B. bei de Gruyter (wie Anm. 6), S. 42 und – fasse ich die Interpunktion richtig auf – bei Zingerle, abgedruckt bei Fischer (= Schw), S. 251 f., als Frauenrede dagegen interpretieren die Weckstrophe offenbar Bolte (Au 62), S. 212, Zimmermann (Ste 11a) und Sittig (wie Anm. 6), S. 303 (mit Anm. 299). Auch für die Beschwichtigungsstrophe Lig stil, lig stil, min trut gespil gibt es unterschiedliche Sprecherzuweisungen, deutlich zu sehen in der Edition von Zimmermann (Ste 11a/11b).
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typus des 15. und 16. Jahrhunderts nicht vielleicht doch über eine neue Semantik von ‘Schlafen’, ‘Wachen’ und ‘Wecken’, die ich nur noch nicht sehe? Entsteht diese neue Semantik vielleicht gerade aus dem semantischen Konflikt, so daß nun nicht ‘Schlafen’, ‘Wachen’ und ‘Wecken’ eine neue Bedeutung erhalten, sondern der Konflikt selbst bedeutungsvoll wird? Auffällig ist nämlich auch, daß viele der Lieder, die ich zum Mischtypus gezählt habe, gerade im Liederbuch der Clara Hätzlerin zu finden sind, einem Liederbuch, dem in der Forschung ein großes Interesse gerade auch an Tagelied-Experimenten nachgesagt wird.43 Ich versuche es noch einmal an Stand vff, stand vff, die nacht ist lang (Hä I,4). Angesichts der ‘wilden’ Kombination der Elemente stellt sich zunächst die Frage, ob man hier das neue ‘realistischere’ Schema aus den Tageliedern um Oswald – mit Seitenblick auf das Schema des SerenaTageliedes – in das alte Schema aus den höfischen Tageliedern integriert hat oder ob man nicht gerade umgekehrt das alte Schema – unter Einfluß des Serena-Tagelied-Schemas – wieder in das neue hereinholt. Ich tendiere zur zweiten Lösung, weil dann das ‘realistischere’ Schema die Folie für das höfische Schema bilden würde. Und das könnten wir dann so lesen: Das Verhältnis ‘wacher/weckender’ Mann und ‘schlafende’ Frau am Morgen erzeugt Rollenerwartungen, die jedoch im weiteren Fortgang des Liedes – eben durch die Modellierung des Paares als einer Verbindung von Minnediener und Minneherrin – nicht erfüllt werden. Unterstellt man den Autoren solcher Lieder ein sehr hohes Reflexionsniveau (wobei ich mir nicht sicher bin, ob man ihnen das zutrauen darf), könnte man versucht sein, den Kontrast innerhalb der Geschlechterrollen als ein literarisches Mittel zu fassen, mit dem der Spielcharakter des Minnedienstes sichtbar gemacht werde. Überspitzt gesagt: Der für die Obhut seiner Frau verantwortliche ‘Dauerpartner’ (markiert durch den ‘wachen’ Mann am Morgen) schlüpft (vielleicht nur vorübergehend) in die Rolle des Minnedieners und überträgt der Partnerin die Aufgaben und die Autorität einer Minnedame. Vielleicht ist aber doch tiefer anzusetzen: Im Kontrast zur Rolle des für die Obhut der schlafenden Frau verantwortlichen Mannes leuchtet die (freiwillige) Ergebenheit des 43
So zuletzt Classen (wie Anm. 9), S. 182 f., mit der Einschränkung, daß Clara Hätzlerin nicht nur “an poetischen Ausnahmen Interesse gehabt hätte”, sondern auch Tagelieder aufnimmt, bei denen es sich “um durchaus traditionelle Typen mit den altbekannten Requisiten” handelt.
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‘wachen’ Minnedieners noch heller; im Kontrast zur Rolle der in der Obhut ihres Mannes ‘schlafenden’ Frau erscheint auch die Autorität der Minnedame, die noch im Schlaf wichtige (und der Situation angemessene) Entscheidungen trifft, umso strahlender. Was aber doch deutlich geworden ist: ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ bzw. ‘Wecken’ haben bis um 1400 eine feste liebesmetaphorische Semantik, die ich mit der Formel ‘Vertrauen gegen Schutz’ zu umschreiben versucht habe. Im Serena-Tagelied tritt uns noch eine zweite liebesmetaphorische Semantik von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ bzw. ‘Wecken’ entgegen, die ich mit ‘Werbung’ und ‘Abweisung der Werbung’ tituliert habe. Die Zuordnungen von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ bzw. ‘Wecken’ an Mann oder Frau scheinen dabei primär literarisch motiviert: Sie orientieren sich an festen, literarisch konzipierten Geschlechterrollen (inwieweit diese mit den historisch faßbaren sozialen Geschlechterrollen korrespondieren, müßte eigens untersucht werden). Im Tagelied des 15. und 16. Jahrhunderts lassen sich damit drei konkurrierende, jeweils in sich logische Systeme für die Verteilung von ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ greifen: Das eine folgt dem traditionellen Schema des höfischen Tageliedes; das andere folgt dem Schema des Tagelieds um Oswald; und schließlich bildet sich noch das neue Schema des Serena-Tageliedes aus. Daneben gibt es Lieder, in denen Elemente aus den drei Systemen so miteinander verquickt werden, daß sich ‘Schlafen’ und ‘Wachen’ semantisch nicht mehr bestimmen lassen; ob gewollt oder ungewollt – das bleibt die Frage.
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N i c o l a Z o t z DIE SCHLUSSSTROPHE IM MITTELALTERLICHEN DEUTSCHEN LIEBESLIED Abstract Dem Liedende kommt ebenso wie seinem Anfang poetologisch eine wichtige Rolle zu, denn hier ist der Ort für Bündelungen und Reflexionen des Themas, und hier kann ein Übergang hergestellt werden zwischen dem fiktiven Inhalt des Liedes und der realen Welt des Publikums. Um das Publikum aus der Liedsituation zu entlassen, kann das Liedende markiert werden, wofür es verschiedene Verfahrensweisen gibt: formale Kennzeichnung der Schlußstrophe, Konkretisierung oder Intensivierung des Gesagten oder den Wechsel der Perspektive. Diese Marker ändern sich vom Minnesang hin zum mittleren System, und mit ihnen verschiebt sich die Funktion der Schlußstrophe: Entsprechend der jeweiligen Dichtungskonzeption ist das Liedende im Minnesang der Ort der offenen Fragen und der Zuspitzung von Dilemmata, wohingegen im mittleren System hier Probleme und Spannungen aufgelöst werden.
Der unbekannte Dichter des Liedes ‘Die Gedanken sind frei’ schließt mit der folgenden Strophe:1 Nun will ich auf immer der Liebe entsagen und will mich nun nimmer mit Grillen so plagen. Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen und denken dabei: Die Gedanken sind frei.
Mit ‘nun’ wird eine Bündelung und Konsequenz des Gesagten eingeleitet, mit ‘will ich’ gibt das Ich seinem Vorsatz Ausdruck (unterstrichen durch ‘immer’ und ‘nimmer’), sich fürderhin nach den im Lied formu-
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Allgemeines deutsches Lieder-Lexikon oder Vollständige Sammlung aller bekannten deutschen Lieder und Volksgesänge in alphabetischer Folge. Hrsg. von Wilhelm Bernardi. Hildesheim 1968, Bd. 1, Nr. 387, Strophe IV. Andere Ausgaben drucken mitunter eine weitere, V. Strophe ab. Ihre Ursprünglichkeit scheint fraglich, wäre aber zu prüfen.
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lierten Erkenntnissen zu verhalten, und im zweiten Teil der Strophe folgt abschließend eine allgemeine Aussage, die das Gesagte in einen größeren Zusammenhang stellt. Damit ist die Strophe in mehrfacher Hinsicht als Schlußstrophe markiert und für jemanden, der das Lied zum erstenmal hört, als solche erkennbar. Denn diese und ähnliche Kennzeichnungen sind über Jahrhunderte hin typisch für Schlußstrophen des deutschen Liedes. Wie sie sich im Minnesang gestalten, welche Entwicklungen sie hin zum Liebeslied des Spätmittelalters nehmen und welche Funktionen der Schlußstrophe in der jeweiligen Dichtungstradition zukommen, soll im folgenden herausgearbeitet werden. Man könnte vermuten, daß die Tradition, den Schluß zu markieren, der Mündlichkeit entspringt, wo man das Liedende hörbar machen wollte. Dafür sprechen beispielsweise metrisch-musikalische Markierungen, wie sie in der Romania begegnen, wo die Tornada durch das isolierende Aufgreifen des Abgesangs gekennzeichnet ist, so daß der Hörer die Strophe sogleich als Liedabschluß erkennt.2 Aber auch inhaltliche Kennzeichnungen, wie Namensnennungen, mögen solchen Signalcharakter gehabt haben. Andererseits werden diese Verfahrensweisen offenbar sehr schnell zu einer Tradition unabhängig vom Medium der Rezeption, was die Frage aufwirft, wie sehr sie aus der Mündlichkeit zu erklären sind. Entscheidend ist jedenfalls, daß bereits sehr früh der Schluß die Markierung bedingen kann. Ähnlich wie in der Nibelungenstrophe der letzte, verlängerte Vers der Ort für Vorhersagen ist, kann in der Lyrik die Schlußposition einer Strophe bestimmte Marker auslösen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die romanische Tradition. In der Trobador-Lyrik gibt es einen besonders gekennzeichneten Typus von Schlußstrophe, die Tornada (bzw., in der Trouvère-Dichtung, den Envoi). Bekanntlich hat nun der deutsche Minnesang, der ansonsten deutlich unter dem Einfluß der romanischen Lyrik steht, die Tradition der Tornada nicht aufgegriffen. Wohl aber kennt er, wie zu zeigen sein wird, verwandte Markierungsmöglichkeiten, die im Anschluß an die Skizzierung der Tornada-Ausprägung dargestellt werden sollen. Nicht mehr von der okzitanischen und französischen Lyrik beeinflußt ist die Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert,3 die ich in einem zweiten 2
3
Mehrfache Tornadas, die nicht selten sind, wären dann als Ausweitung dieser Tradition, vielleicht auch als Spiel mit den Hörererwartungen zu verstehen. Eine Ausnahme stellt wohl Eberhard von Cersne dar, für den Hages-Weißflog in ihrer Ausgabe romanische Einflüsse geltend machen kann, der aber seinerseits nicht
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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Schritt dem Minnesang gegenüberstelle. Weil sie eine in sich geschlossene Dichtungstradition zwischen dem Minnesang und der barocken Leselyrik darstellt, hat Gert Hübner in einem Aufsatz über Christoph von Schallenberg den Begriff des ‘mittleren Systems’ geprägt.4 Ich greife ihn gern auf, weil die von Hübner beobachteten Charakteristika dieser Lyrik helfen können, auch die Schlußstrophe in ihrer eigenen Ausprägung genauer zu fassen und auf die Poetik zurückzubeziehen. Dies soll in einem letzten Schritt geschehen.
I.
Die romanische Tradition
Der Begriff ‘Tornada’5 bezeichnet zunächst ein metrisch-musikalisches Verfahren, nämlich die ‘Wiederkehr’ eines Strophenteils, und zwar des Abgesangs. Damit wird das Phänomen begrifflich nicht als selbständige (etwa verkürzte) Strophe aufgefaßt, sondern außerhalb des Liedes angesiedelt: Nachdem das Lied zuende ist, wird der letzte erklungene musikalische Teil wiederaufgegriffen und einmal oder mehrfach wiederholt. Auch stilistisch-inhaltlich steht die Tornada außerhalb des Liedes, und auch hier ist sie durch Wiederholungen gekennzeichnet, beispielsweise von Einzelwörtern, Reimwörtern oder auch ganzen Textteilen. Charakteristisch sind kleine Veränderungen bei ansonsten wörtlichem Aufgreifen. Lied 5 Wilhelms von Aquitanien endet folgendermaßen:6 Strophe XIV (Ende): [...] E no us puesc dir lo malaveg, Tan gran m’en pres.
4
5
6
traditionsbildend gewirkt hat: Elisabeth Hages-Weißflog: Die Lieder Eberhards von Cersne. Edition und Kommentar. Tübingen 1998 (= Hermaea N. F. 84). Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186, bes. S. 146 f. Vgl. den Beitrag im vorliegenden Band, der das poetologische Profil des Systems genauer faßt. Grundlegend: Frank M. Chambers: An Introduction to Old Provençal Versification. Philadelphia 1985, S. 32-36 und Register. ‘Und ich vermag Euch das Übel nicht zu sagen, so sehr bin ich darin gefangen. Gar nicht kann ich Euch das Übel sagen, so sehr bin ich darin gefangen.’ – Les chansons de Guillaume IX, duc d’Aquitaine (1071-1127). Editées par Alfred Jeanroy. Deuxième édition revue. Paris 1927 (= Les classiques français du moyen âge 9). Diese und die folgenden Übersetzungen stammen von mir.
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Tornada: Ges no us sai dir lo malaveg, Tan gran m’en pres.
Die Tornada ist in der Regel auf einer anderen fiktionalen Ebene angesiedelt als das restliche Lied. Hier ist der Ort für Anspielungen auf eine (möglicherweise freilich wiederum fiktionale) Produktions- und Rezeptions-Wirklichkeit. Beispielweise kann ein Name genannt werden, zum Beispiel eines Widmungsträgers oder Gönners mit der Bitte um gnädige Aufnahme des Liedes. Oder der Dichter wendet sich an einen Kollegen und bittet ihn, die Qualität des Liedes zu bestätigen. Gerne werden in diesem Zusammenhang auch Orte genannt, an die das Lied geschickt wird, was ebenfalls zu einer Verankerung in der Wirklichkeit beiträgt. Daneben kann auch die Dame angesprochen werden; das geschieht – wie auch häufig bei den Dichterkollegen – durch einen verhüllenden Decknamen, das ‘senhal’. Dieses kann auf reale Hintergründe anspielen, die heute zum Teil nicht mehr zu rekonstruieren sind; andere Anspielungen lassen sich entschlüsseln, wenn sie beispielsweise auf Selbststilisierungen der Dichter zurückgehen. Prominentes Beispiel ist das senhal ‘Tristan’, das Bernart de Ventadorn für Raimbaut d’Aurenga verwendet: In seinem Lerchenlied bezieht er sich metrisch auf ein Lied Raimbauts, in dem dieser sich mit Tristan gleichsetzt.7 Schließlich kommen auch Dichtersignaturen vor: “Cercamons ditz: grèu èr cortés / Om qui d’amor se desesper.”8 Auch wenn keine Namen genannt werden, spricht der Dichter in der Tornada in neuem Ansetzen, häufig auf einer Metaebene. Die Sprechhaltung und die Stimmung des Liedes bleiben dabei erhalten, aber es wird ein Blick auf das Lied geworfen, der häufig seine Entstehung und vor allem seine Performanz reflektiert. So in einer Tornada von Peire d’Alvernhe: “Lo vèrs fo faitz als enflabotz / A Puòg-Vert, tot jogan rizen.”9 Bisweilen drückt der Dichter seinen Wunsch aus, das Lied möge nicht entstellt werden, wenn man es wieder singe. Im folgenden Beispiel 7 8
9
Vgl. Ulrich Mölk: Trobadorlyrik. Eine Einführung. München, Zürich 1982, S. 67 f. ‘Cercamon sagt: Schwerlich wird der höfisch sein, der an der Liebe verzweifelt.’ – Anthologie des Troubadours. Textes choisis, présentés et traduits par Pierre Bec. Paris 1979, Nr. 18. ‘Der ‘vers’ [Gattungsbezeichnung] wurde zum Dudelsack gemacht [gedichtet oder gesungen?], in Puivert, beim Spielen und Lachen.’ – Anthologie des Troubadours (wie Anm. 8), Nr. 22.
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von Jaufre Rudel schließlich wird das Lied auf den Weg geschickt, wobei die mündliche Übermittlung hervorgehoben wird. Hier handelt es sich formal nicht um eine Tornada, aber beim Fehlen einer Tornada können auch regulär-lange Schlußstrophen wie diese die besprochene inhaltliche Kennzeichnung aufweisen:10 Senes brèu de pargamina Tramet lo vers que chantam En plana lenga romana, A’n Ugon Brun per Filhòl. Bo m sap quar gens peitavina De Berrí et de Guiana S’esjau per lui e Bretanha.
II.
Typen von Markierungen in der deutschen Tradition
Auch wenn die deutschen Dichter die Tornadas nicht aufgegriffen haben, lassen sich auch hier verschiedene und recht breit gefächerte Verfahrensweisen erkennen, die Schlußstrophen zu kennzeichnen, die in Einzelzügen von der romanischen Tradition angeregt sein mögen oder aber ihr jedenfalls vergleichbar sind. Sie sind zwar nicht obligatorisch, aber doch recht gängig. Der Tornada sehr nah kommt die Markierung durch F o r m a l e s . Entweder kann hierbei der Ton geändert werden, wobei er anders als in der Romania nicht verkürzt, sondern verlängert wird.11 Dadurch setzt der Dichter formal ein Signal, daß man sich, da der Ton verlassen wird, nun außerhalb des eigentlichen Liedes befindet und sich auf den Schluß zubewegt. Eine andere formale Markierung ist die Wiederholung einzelner Wörter oder ganzer Ausdrücke in der letzten Strophe. Damit wird der Fluß der Strophe gebremst, das Tempo verlangsamt, was gleichfalls auf den Schluß vorbereitet. 10
11
‘Ohne Pergamentbrief schicke ich diesen ‘vers’, den wir in reiner romanischer Sprache singen, durch Filhol an Herrn Uc le Brun. Es gefällt mir gut, daß das Volk im Poitou, in Berry und in Guyenne durch ihn Freude hat – und auch in der Bretagne.’ – Anthologie des Troubadours (wie Anm. 8), Nr. 14. Diese Tonveränderung ist freilich so selten, daß man die Fälle keinesfalls zu einer Tradition zusammenfassen kann, vgl. unten die wenigen Beispiele. In der Regel kann nicht entschieden werden, ob der Ton (auch der musikalische) tatsächlich als verlängert zu gelten hat oder ob es sich um einen Zusatz zum ganzen Lied handelt, der dann unabhängig von der letzten Strophe zu sehen wäre.
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Ebenso der Tornada vergleichbar sind K o n k r e t i s i e r u n g e n in der letzten Strophe. Darunter fasse ich verschiedene Fälle zusammen, so beispielsweise ein Überwechseln in die Gegenwart.12 Der Dichter wendet das Gesagte auf ein hic et nunc an, verankert es in einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch selbstverständlich nicht mit seiner tatsächlichen Realität gleichzusetzen ist, doch auf einer anderen Fiktivitätsstufe angesiedelt ist als das restliche Lied. Damit schlägt die Schlußstrophe eine Brücke zwischen Lied- und Hörerwirklichkeit, leitet das Publikum gewissermaßen aus dem Lied hinaus. Diese Aktualisierung kann geschehen durch ein einfaches ‘Nu’ als Stropheneinleitung oder aber, indem – wie in der romanischen Tradition – Namen genannt oder Widmungen ausgesprochen werden. Hier begegnet entweder der Dichtername (als Signatur), der Gönnername oder derjenige der Geliebten; eine Widmung kann auch ohne Namensnennung auftreten. Den dritten Typ von Markierung möchte ich I n t e n s i v i e r u n g nennen. Damit bezeichne ich den Fall, daß das gebündelt nochmals aufgegriffen und dabei verstärkt wird, was im Lied gesagt wurde. Hierbei geht es also nicht so sehr darum, einen Übergang zur liedexternen Wirklichkeit zu schaffen; der Schluß wird vielmehr durch die Zusammenfassung des vorher Gesagten angekündigt. Häufig trifft man hier auf Beteuerungen und Wünsche, vielfach begleitet von Imperativen und Apostrophen (was wiederum an die Tornada gemahnt), gern unterstrichen durch Interjektionen. Es ist die Häufung dieser Elemente, die einzeln natürlich auch im Liedinnern vorkommen, welche charakteristisch für die Schlußstrophe ist. Dies alles führt zum letzten und wichtigsten Punkt: dem P e r s p e k t i v e n w e c h s e l . Auch damit bezeichne ich die Tatsache, daß etwas bereits Gesagtes nochmals aufgegriffen wird, wichtig scheint mir aber hierbei insbesondere, daß es sich um keine schlichte Wiederholung handelt, sondern daß ein anderer Blickwinkel auf das Gesagte eingenommen wird. So kann dieses beispielsweise verallgemeinert werden: Generische oder gnomische Formulierungen sind häufig anzutreffen in Schlußstrophen. Oder man kann beobachten, daß der Dichter an dem Problem nochmals neu ansetzt, daß er gewissermaßen einen Schritt zurücktritt und die Sachlage neu beleuchtet; hierzu gehört auch die gelegentlich anzutreffende Revocatio. Diese neue Ebene kann zeitlich bestimmt sein, 12
Darunter fallen letztlich auch Anspielungen auf die Vortrags-Gegenwart, die ich allerdings lieber zum letzten Punkt ‘Perspektivenwechsel’ stellen möchte.
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indem der Sänger den Blick an dieser Stelle in die Zukunft richtet. Oder sie ist transzendent durch eine Wendung zu Gott. So kann der Sänger zum Beispiel für einen Abschied, den er das Lied über beklagt hat, in der letzten Strophe bei Gott Trost suchen, indem er sich und die Geliebte Gott anbefiehlt. Der Perspektivenwechsel kann ferner durch einen Sprecherwechsel bestimmt sein. Oder er äußert sich in der Einnahme einer Metaebene: Die Schlußstrophe ist in Deutschland wie auch in der Romania der Ort, wo traditionellerweise übers Dichten und Singen reflektiert wird. Ich möchte diese Markierungsmöglichkeiten im folgenden am klassischen Minnesang aufzeigen (Minnesangs Frühling, Walther von der Vogelweide, Neidhart), um anschließend das Liebeslied des 14. bis 16. Jahrhunderts vergleichend danebenzustellen.
III.
Der klassische Minnesang
Eine Wiederholung als formale Auffälligkeit findet sich bei Albrecht von Johansdorf, MF 91,22, in Strophe IV.13 Dort lautet der Abgesang: “Ir genâden der bedarf ich wol. / und wil si, ich bin vrô; / und wil sî, sô ist mîn herze leides vol.” Der wiederholte Bedingungssatz “und wil si” ist dabei geschickt eingesetzt, den Rhythmus der Strophe abzubremsen, wobei sich freilich der Satzton ändert,14 so daß der Effekt von Monotonie gleichzeitig vermieden wird; auch die Tornadas pflegen ja bei Wiederholungen Kleinigkeiten abzuwandeln. Ein ähnlicher Fall liegt vor in Walthers Lied L. 73,23.15 Strophe V lautet hier: Hêrren und vriunt, nû helfent an der zît: daz ist ein ende, ez ist alsô. ich enbiute iu mînen minneclîchen strît. jô enwirt ich niemer rehte vrô:
13
14 15
Alle Lieder aus Minnesangs Frühling zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Stuttgart 1988. Beim ersten Mal: ‘und wíl si’, dann ‘únd wil sí’. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996.
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Mînes herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen stên, si enküsse mich mit friundes munde. mînes herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen stên, si enheiles ûf und ûz von grunde. mînes herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen stên, sine werde heil von Hiltegunde.
Hier werden anderthalb Verse zweimal wörtlich wiederholt, nur die Bedingung (daß nämlich die Dame den Sänger heilen müsse) wird unterschiedlich formuliert. Hinzu kommt eine Verlängerung des Tons, der eigentlich nur aus sechs Versen besteht, dem hier aber zwei zusätzliche Abgesänge beigegeben sind. Formal könnte man diese als zwei Tornadas fassen oder eben als Verlängerung der letzten Strophe, die ja auch durch die Wiederholung und durch den Hiltegunde-Witz hervorgehoben ist. Das leitet über zu den wesentlich gängigeren inhaltlichen Kennzeichnungen des Liedendes. Selten freilich werden die deutschen Dichter in ihren Schlußstrophen so konkret wie die Trobadors in den Tornadas. Schon dort sind die Namensnennungen ja ein Spiel des verhüllenden Enthüllens, werden doch die Dame oder der Dichterkollege kaum je bei ihrem eigentlichen Namen genannt. Um ein ähnliches Spiel handelt es sich bei der vorliegenden Walther-Strophe, denn die Nennung Hiltegundes gibt nur scheinbar die Identität der Geliebten preis, vielmehr spielt sie bekanntlich auf die Sage von Walther und Hildegunde an und verschiebt die Neugier des Publikums somit, anstatt etwas über Walthers tatsächliche Geliebte zu verraten, gewissermaßen nur von einer fiktionalen Ebene auf die nächste. Anders steht es um die Selbstnennungen von Dichtern. Sie begegnen in den meisten Fällen in der Schlußstrophe,16 wo man sie als Signaturen verstehen kann. Allerdings handelt es sich auch hier um Ausnahmeerscheinungen, eine etablierte Tradition gab es nicht. Die prominentesten Fälle sind sicher Neidharts Riuwental-Strophen, die manche der bayerischen Lieder abschließen.17 Hier geht es mir nicht so sehr darum, ob ein
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Am Anfang: Hartmann von Aue, MF 216,29; vgl. wohl auch “Kürenberges wîse”, MF 8,1. Die Lieder Neidharts. Hrsg. von Edmund Wießner. Fortgeführt von Hanns Fischer. Fünfte, verbesserte Auflage hrsg. von Paul Sappler. Mit einem Melodieanhang von Helmut Lomnitzer. Tübingen 1999 (= Altdeutsche Textbibliothek 44).
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Gut dieses Namens tatsächlich existiert hat;18 in jedem Fall bricht die Verwendung eines solchen Namens die Sänger- und die Dichterrolle ironisch, denn die Mädchen, die sich in den von Riuwental verguckt haben, sind Figuren innerhalb der Lieder und können mithin auch nur einen liedimmanenten von Riuwental meinen. Immer wieder verwendet, kann dieser Name dann freilich wiederum eine Tradition etablieren, die zu einer Erkennungsmarke für den Dichter wird. Ein schwieriger Fall ist Walthers Lied L. 118,24, dessen fünfte Strophe die einzige Nennung des eigenen Namens in seinem Minnelied-Œuvre enthält: Hoerâ Walther, wie ez mir stât, mîn trûtgeselle von der Vogelweide. helfe suoche ich unde rât: diu wolgetâne tuot mir vil ze leide. Kunden wir gesingen beide, daz ich mit ir müeste brechen bluomen an der liehten heide!
Geht man von der Autorschaft Walthers für dieses Lied aus, so ist nach der Rolle zu fragen, die der Sänger einnimmt, indem er den Dichter mit Namen anspricht. Erwogen worden sind eine Selbstironie oder -parodie,19 wobei sich hier der Sänger vom Autor abspalte, indem er ihn anrede.20 Jeffrey Ashcroft hat den interessanten Versuch unternommen, hier Walther im Gewand Heinrichs von Morungen sprechen zu sehen, als Abschluß eines Liedes, das durch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Morungen geprägt, ja als Morungen-Parodie zu verstehen sei.21 Sieht
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Zu dieser Diskussion vgl. Siegfried Beyschlag: Riuwental und Nîthart. In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Huschenbett, Klaus Matzel. Georg Steer und Norbert Wagner. Tübingen 1979, S. 15-36. Wieder (mit einem Nachtrag) in: Neidhart. Hrsg. von Horst Brunner. Darmstadt 1986 (= Wege der Forschung 556), S. 295-319; vgl. außerdem die Bibliographie in der Ausgabe (wie Anm. 17), S. XXXI f. Anton Wallner: Zu Walther von der Vogelweide. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33 (1908), S. 56 f. Carl von Kraus spricht von einer “verhüllenden Zweiteilung der eigenen Person”. Walther von der Vogelweide. Untersuchungen von Carl von Kraus. 2. Auflage. Berlin 1966, S. 433. Jeffrey Ashcroft: Min trutgeselle von der Vogelweide. Parodie und Maskenspiel bei Walther. In: Euphorion 69 (1975), S. 197-218.
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man Minnesang strikt als Rollenlyrik, ist hier vor allem die Aufspaltung des Ich interessant (in Sänger und Dichter oder aber ein Ich im Text und eines außerhalb von ihm).22 Das führt zu ähnlichen Interpretationsschwierigkeiten, wie sie die Forschung mit Neidharts Trutzstrophen hat. Auch hier wird der Sänger von außen angeredet, ohne daß man weiß, ob die Strophen von Neidhart, von Zeitgenossen oder von Nachfolgern gedichtet wurden. Burghart Wachinger plädiert dafür, alle drei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und bei jedem Einzelfall die Wahrscheinlichkeiten neu abzuwägen.23 Nach Ausweis der Handschriften wurden sie jedenfalls als zu den Liedern dazugehörig empfunden und durchgehend an letzter Strophenposition überliefert. Auf Einzelfälle soll es mir hier weniger ankommen. Denn in jedem Fall wird auch hier in der letzten Strophe die Fiktivitätsebene gewechselt, indem zum einen ein neuer Sprecher eingeführt, zum anderen der Blick von außen auf die Liedsituation geworfen und diese dadurch gebündelt wird. Lied-Ich und DichterIch treten auseinander, so daß dem Publikum eine neue Perspektive auf das Gesungene geboten wird. Dazu sind Neidharts Heischestrophen zu stellen, hier als Anhang an Winterlied 23.24 Strophe XII beginnt: Milter fürste Friderîch, an triuwen gar ein flins, dû hâst mich behûset wol: got dir billîch lônen sol. ich enpfienc nie rîcher gâbe mêr von fürsten hant. daz waer allez guot, niwan der ungefüege zins. [...]
Die Strophe ist nur in zwei der fünf Handschriften überliefert (nämlich in den späten Textzeugen c und d), aber dort jeweils am Schluß. Wenn sie, woran – soweit ich sehe – niemand zweifelt, echt ist, ist sie ein 22
23
24
Joachim Knape: Rolle und lyrisches Ich bei Walther. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989, S. 171-190. Burghart Wachinger: Die sogenannten Trutzstrophen zu den Liedern Neidharts. In: Formen mittelalterlicher Literatur. Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag von Kollegen, Freunden und Schülern. Hrsg. von Otmar Werner und Bernd Naumann. Göppingen 1970 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 25), S. 99-108. Wieder in: Neidhart. Hrsg. von Horst Brunner. Darmstadt 1986 (= Wege der Forschung 556), S. 413-156. Vgl. auch die Heischestrophen jeweils am Ende von Sommerlied 26 und den Winterliedern 28 und 35.
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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weiteres Beispiel dafür, daß das Liedende den Ort für eine neue Perspektive bietet, hier die des Sängers, der von der Gunst und der Steuerpolitik seines Landesherrn abhängig ist. Auch hier ist mit einemmal vom Hier und Jetzt die Rede, auch hier wird die Konkretisierung greifbar in der Nennung eines Namens.25 Für Konkretisierungen in der letzten Strophe gibt es viele Beispiele. Anschaulich und prominent ist Walthers Lied L. 74,20, dessen fünfte Strophe lautet: Mir ist von ir geschehen daz ich disen sumer allen meiden muoz vaste under diu ougen sehen. lîhte wirt mir eine, sô ist mir sorgen buoz. Waz obe si gêt an disem tanze? frowe, dur iuwer güete rucket ûf die hüete. owê, gesaehe ichs under cranze.
Walther hat vorher vier Strophen lang von der Begegnung mit einer ‘maget’ berichtet, die beim Tanz sowohl einen Kranz von ihm angenommen als auch ihm Zeichen ihrer Zuneigung gegeben hat; am Ende der vierten Strophe entpuppt sich die Situation jedoch als Traum. Der berühmte Witz der vorliegenden letzten Strophe besteht darin, daß Walther sein Traumbild nun doch in der Realität wiederzufinden sucht. Das geschieht in zwei Stufen: Zunächst erfährt man, daß er überhaupt in der Wirklichkeit nach dem Mädchen sucht (“disen sumer”), dann wird er sogar noch konkreter: Er sucht “an disem tanze” und schließt mit einem Imperativ an die anwesenden Damen, sich ihm zu zeigen. Damit geht Walther meisterhaft vom eindeutig als fiktional gekennzeichneten Traum über das Erwachen, das freilich immer noch nur eine erzählte Wirklichkeit darstellt, über den Sommer, dessen Wirklichkeit er (vermutlich) bereits mit dem anwesenden Publikum teilt, bis hin zur Apostrophe desselben, durch die er endgültig aus der Lied- in die Aufführungswirklichkeit hinüberwechselt. In dieser Schachtelung ist das Lied etwas Besonderes, aber das Prinzip der Konkretisierung ist auch sonst in Schlußstrophen anzutreffen. 25
Auch im Falle der Unechtheit ließe sich immerhin argumentieren, daß die Handschriften diese Strophe selbstverständlich ans Ende plazierten, daß den Schreibern also der Ort bewußt war, an dem eine solche Strophe zu erwarten war.
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Für das Prinzip der Intensivierung ließen sich zahlreiche Beispiele anführen: Synthesen, Bündelungen, Steigerungen der Liedaussage in der letzten Strophe, gern unterstrichen durch Exklamationen und Interjektionen. So wendet sich Friedrich von Hausen in der letzten Strophe von MF 52,37 an die Minne, die er beschimpft und der er den Tod an den Hals wünscht. Für den Moment aber kann er nur schließen: “sus muoz ich von dir leben betwungenlîche.” Damit ist das ‘betwingen’, das im ganzen Lied Thema war, hier am Ende nochmals aufgegriffen. Ebenso kommen Unterwerfungen unter die Macht der Dame, Klagen oder Gnadenbitten gehäuft am Ende vor, selten hingegen Beispiele, Erzählungen oder Reflexionen, die ein neues Thema anschneiden. Am ergiebigsten, um die Schlußstrophe zu charakterisieren, ist sicherlich der Punkt ‘Perspektivenwechsel’. So ist hier beispielsweise der Ort, eine religiöse Perspektive einzunehmen, auch und gerade, wenn von Gott vorher nicht die Rede war. Ein Fall ist Hausens schon genanntes Lied MF 52,37, Strophe IV: “Minne, got müeze mich an dir rechen!” Vergleichbar ist die letzte Strophe von Morungens Venuslied (MF 138,17): Wê, waz rede ich tumber? jâ ist mîn geloube boese und ist wider got. wan bite ich in des, daz er mich hinnen loese? ez was ê mîn spot. Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, swâ man mînen kumber sagt ze maere, daz man mir erbunne mîner swaere?
Ich verstehe diese Anrufe nicht so sehr als Korrektur des vorher Gesagten, vielmehr wird zum Abschluß ein anderes Licht auf die Situation geworfen, indem der Sänger einen Schritt zurücktritt. Das tut er auch, wenn er, wie hier im Abgesang, das Dichten und Singen thematisiert, ein Verfahren, das von den Tornadas bekannt ist und das im Minnesang sehr häufig begegnet. Drei weitere Beispiele mögen genügen: Johansdorf, MF 91,22, Strophe IV: “Der ich diene und iemer dienen wil, / diu sol mîne rede vil wol verstân”; Morungen, MF 136,1, Strophe III: “Ich hân sô vil gesprochen und gesungen, / daz ich bin müede und heis von der klage”; Hartmann von Aue, MF 218,5, Strophe III: “Ir minnesinger, iu muoz ofte misselingen / daz iu den schaden tuot, daz ist der wân. / ich wil mich rüemen, ich mac wol von minnen singen [...]”. Zu dieser Metaebene gehört auch die Revocatio, durch die der Sänger ebenfalls das Gesagte
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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und das Sagen an sich reflektiert.26 Wieder kann Morungens zitiertes Venuslied als Beispiel dienen (V,4) oder Reinmars Botenlied MF 178,1, Strophe VI: “dun solt im niemer niht verjehen / alles, des ich dir gesage.” Die neue Perspektive kann auch ein Blick in die Zukunft sein, wie zum Beispiel Reinmar, MF 159,1, Strophe V: “Diu jâr diu ich noch ze lebenne hân, / swie vil der waere, ir wurde ir niemer tac genomen. / sô gar bin ich ir undertân [...]”.27 Bisweilen wird der Blick sogar über das eigene Wirken hinaus gerichtet, wenn Morungen in der letzten Strophe von MF 124,32 sagt: “Mîme kinde wil ich erben dise nôt [...]” oder Walther im Sumerlatten-Lied (L. 72,31) am Schluß boshaft an das Erbe denkt, das ein künftiger, jüngerer Liebhaber bei seiner gealterten Dame antreten wird. Ein anderer Perspektivenwechsel, der die letzte Strophe markieren kann, ist ein Sprecherwechsel, wie zum Beispiel in Johansdorfs Lied MF 91,22, das nach drei Frauenstrophen den Mann zu Wort kommen läßt. Hier wären ebenfalls die Trutzstrophen zu vergleichen. Als Perspektivenwechsel sind auch jene Fälle im Minnesang besser zu verstehen, in denen der Dichter in der Schlußstrophe neu ansetzt, was zunächst wie ein Bruch im Gedankengang wirkt. Das ist zum Beispiel der Fall in Morungens Narzißlied (MF 145,1). Nachdem der Sänger in den Strophen I-III die Geschichte vom Kind und dem Spiegel, vom Traum und schließlich vom Narziß erzählt hat, spricht er in der letzten Strophe allgemeiner, losgelöst von der starken Bildlichkeit der vorangegangenen Strophen. Der Frauenpreis und die Klage, sie zu lieben und sie doch niemals gewinnen zu können, haben nur noch wenig mit den vorangegangenen Strophen zu tun; sie widersprechen ihnen zwar nicht, sind aber wie aus einer anderen Stimmung gesprochen, spielen einen anderen Zugriff auf die Problematik durch. Auch Hausens Kreuzlied MF 47,9 enthält eine solche abgesetzte Schlußstrophe. Nach drei Strophen, die die Kreuzzugsproblematik hin- und herwenden, folgt die letzte Strophe mit einer heftigen Absage an die Dame (“Niemen darf mir wenden daz zunstaete, / ob ich die hazze, die ich dâ minnet ê”). Der Sänger verteidigt seinen Unwillen gegenüber der Gesellschaft (“niemen darf”) und schließt mit einem entschlossenen “ez engeschiht mir niemer mê”. Kein Wort mehr vom Kreuzzug, von der Trennung von Herz und 26
27
Grundlegend: Heinrich Siekhaus: Revocatio. Studie zu einer Gestaltungsform des Minnesangs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 237-251. Als Schlußstrophe freilich nur in b und C, nicht in A und E.
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Leib, an der der Sänger doch vorher so gelitten hat und für die er keine Lösung bereithält. Man greift wohl zu kurz, will man die Absagestrophe in der Weise an das Lied anbinden, daß die Lösung von der Dame den Sänger freimache für den Gottesdienst. Davon jedenfalls sagt er selbst kein Wort, und es scheint auch, daß in der letzten Strophe Bezug genommen wird auf ein Fehlverhalten der Dame, das in den vorangegangenen Strophen nicht angeklungen war. Vielleicht ist die Strophe zeitlich getrennt zu sehen vom übrigen Lied; jedenfalls rollt der Sänger in ihr das Feld noch einmal neu auf, tritt einen Schritt zurück und hat so die Möglichkeit, eine geänderte Perspektive einzunehmen.
IV.
Das Lied im 15. und 16. Jahrhundert
Die grundsätzlichen Markierungsmöglichkeiten für Schlußstrophen sind im Minnesang und im mittleren System gleich. Wenn es darum geht, das Publikum aus dem Lied zu entlassen, schöpft man aus demselben Fundus (Bündelungen, Perspektivenwechsel etc.) und bemüht sich offensichtlich, in der letzten Strophe einen anderen Tonfall anzuschlagen. Ebensowenig wie im Minnesang ist das freilich im mittleren System regelhaft, ja die zunehmende Dreistrophigkeit scheint der Schlußstrophe mitunter eine den anderen Strophen gleichberechtigte Stellung einzuräumen. Vielleicht ist das auch eine Frage der Proportionen: Wenn ein Drittel des Liedes den Schluß ausmachen sollte, wäre das recht üppig (es kommt aber vor). Auch wenn die Kategorien der möglichen Markierungen konstant bleiben, verändern sich doch die einzelnen Ausprägungen von einer Dichtungstradition zur anderen. Formale Kennzeichnung der Schlußstrophe ist im mittleren System ebensowenig vorgesehen wie im Minnesang. Die folgenden beiden Fälle sind Ausnahmen, belegen aber immerhin, daß man das Verfahren anwenden konnte und Strophen als zugehörig verstanden wurden, auch wenn sie nicht im selben Ton standen. Es handelt sich zum einen um die Version, die das Lochamer-Liederbuch von Oswalds Lied Kl. 101 gibt.28 28
Das Lochamer-Liederbuch. Einführung und Bearbeitung der Melodien von Walter Salmen, Einleitung und Bearbeitung der Texte von Christoph Petzsch. Wiesbaden 1972 (= Denkmäler der Tonkunst in Bayern NF, Sonderband 2), Nr. 2. – Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Unter Mitwirkung von Walter Weiß und Notburga Wolf hrsg. von Karl Kurt Klein. Musikanhang von Walter Salmen. 3., neubearbeitete und
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
161
Drei Strophen sind in folgendem Ton gehalten: 2k 2l, 4m, 2a 2b, 2a 2b, 4b, 3n-, wobei die Reime k, l, m und n Kornreime sind.29 Die vierte Strophe steht dann in einem deutlich vereinfachten Ton: 4a, 4a, 4b, 4b, 4b, 3x-. Zwar hat auch er sechs Verse, den charakteristischen Dreireim der Verse 3-5 und nur in Vers 6 eine weibliche Kadenz, aber die Binnenreime und das komplizierte Kornreimgeflecht sind aufgegeben: Ich sings der (aller)liebsten, so ichs han, mit willen (so) gar on argen wan noch hewer zu disem newen jar. was ich dir wünsch, das werd dir war! ich wünsch dir tawsent gute jar, die laß ich dir, fraw, zu letze.
Im anderen Fall, Lied 92 aus dem Liederbuch der Klara Hätzlerin, handelt es sich nicht um eine Vereinfachung, sondern um eine Verkürzung des Tons in der letzten Strophe. Der Ton der ersten fünf Strophen lautet hier: 4a, 3b-, 4a, 3b-, 4c, 3d-, 4c, 3d-. Derjenige der sechsten Strophe entspricht den ersten vier (oder zweiten vier) Versen: 4a, 3b-, 4a, 3b-.30 Tut sy das, so ist für war Mein vnmut gantz verschwunden Vnd wurd zu disem newen Jar Von laid gentzlich enpunden.
Deutlich vielseitiger sind auch im mittleren System die Möglichkeiten einer inhaltlichen Markierung der Schlußstrophe, zum Beispiel – auch hier – durch Intensivierung des vorher Gesagten. Treueversicherungen, Segenswünsche (Neujahrs- oder Guten-Morgen-Grüße) haben ihren Platz vorherrschend in der Schlußstrophe, auch wenn man ganze Lieder als
29
30
erweiterte Auflage von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf. Tübingen 1987 (= Altdeutsche Textbibliothek 55). Jedenfalls in den anderen Oswald-Handschriften; im Lochamer-Liederbuch ist einiges durcheinandergeraten. Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus der Handschrift des böhmischen Museums zu Prag hrsg. von Carl Haltaus. Quedlinburg, Leipzig 1840. Repr. mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966. – Diakritische Zeichen gebe ich hier und im folgenden nicht wieder.
162
Nicola Zotz
Grüße fassen kann.31 Kennzeichnend sind ferner Imperative, Apostrophen und Exklamationen. An Konkretisierungen begegnen vereinzelte Signaturstrophen, so zum Beispiel im Königsteiner Liederbuch:32 Der uns das lietlin hat gediecht, der hait mit namen ein schelß gesecht, ein schriber stultz sich nennet. Wer sich recht besinnen wil, gar wol er in erkennet.
Nach Sappler hat man hierin den Namen Schiller oder Schilcher zu sehen.33 Ansonsten sind mir keine Namensnennungen aufgefallen. In den Liederbüchern gibt es Liebesgrüße oder Widmungen an die namentlich (gern verschlüsselt) genannte Geliebte, die aber aus dem Lied herausgenommen und in Beischriften verlagert sind. Zur Konkretisierung möchte ich aber ein anderes Phänomen stellen: das einleitende ‘nu’. Damit wird eine zeitliche Aktualisierung erreicht; in welchen Tempora und Modi man auch vorher gesprochen hat, das ‘nu’ indiziert die Perspektive auf das Präsens und leitet damit häufig abschließende Gedanken ein. So beginnt schon in Johansdorfs Kreuzlied, MF 87,5, die letzte Strophe: “Nu mîn herzevrowe, nu entrûre niht sô sêre” (mit gedoppeltem ‘nu’). Dieses Verfahren wird nun im mittleren System überaus gängig, man vergleiche etwa Fälle wie “Nu mag ich, frow, on dich nit gesein”,34 oder “Nu mag es ie nit anders gesein”.35 Dabei wird das ‘nu’ nach und nach grammatikalisiert und erhält diskursgliedernde Funktion; man vergleiche etwa neuhochdeutsch ‘Nun hatte der König aber eine schöne Tochter’. Es ist im einzelnen nicht immer zu entscheiden, wie stark die temporale Bedeutung noch mitschwingt; interessant ist an dem Phänomen, daß das ‘nu’ hier neben der Funktion der Aktualisierung eine weitere Funktion 31
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33
34 35
Hierzu grundlegend: Arne Holtorf: Neujahrswünsche im Liebesliede des ausgehenden Mittelalters. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des mittelalterlichen Neujahrsbrauchtums in Deutschland. Göppingen 1973 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 20). Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersuchungen 29), Nr. 121, Str. V. Sappler in der Ausgabe (wie Anm. 32), S. 365. Die Identifikation mit Jörg Schilcher kommt wegen der abweichenden Reimtechnik wohl nicht in Frage. Hätzlerin (wie Anm. 30), Nr. 81 (vgl. auch Nr. 21, 36, 96 und 97). Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 28), Nr. 12.
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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bekommt, die als Eigenschaft der Schlußstrophe aus dem Minnesang vertraut ist, nämlich das neue Ansetzen zu markieren, eine neue Perspektive anzukündigen (die nicht nur zeitlich definiert sein muß), einen Schnitt zu setzen, der das baldige Liedende ankündigt. Dieser Aspekt scheint mir auch im mittleren System die wichtigste Form der Schlußmarkierung zu sein. Die Hinwendung zu Gott ist hier häufiger als im Minnesang, ja sie wird im Liederbuchlied geradezu topisch. So begegnen Segenswünsche und Abschiedsgrüße wie “Nun bewar’ dich got, ich schaid von dir”36 oder “Geseg(e)n dich got, mein schönes pild, / got geb dir glückes vil!”,37 die sich bis in die Lyrik des 16. Jahrhunderts hinein halten: “Aude ich sol mich scheiden [...] gesegn dich Got mein schönes lib / Aude ich far dahin.”38 Reflexionen über das eigene Dichten und Singen werden im mittleren System seltener als im Minnesang; wenn sie vorkommen, dann vor allem formelhaft wie beispielsweise “Ir lob kan ich volsagen nicht”.39 Am elaboriertesten ist in dieser Hinsicht Lied 16 Eberhards von Cersne. Dort lautet die dritte Strophe:40 Besließin mynen sang, myn guldin engel fyn, sol vürbaz: ‘dir tzu dang!’ mit truwen sunder wang ich y und y vur lang sang durch eyn tochterlyn, Daz ny mit truwen rang recht nach der liebe myn. [...] Sprich, lieb, durch tzeene blang, daz tu syst lieblich myn alß ich bin eygen dyn!
In dieser Strophe sind verschiedene Markierungstechniken vereint. Zum einen spricht Eberhard von seinem Lied (“sang”, V. 1), das er hiermit “besließe”, ja von seiner Sangestätigkeit allgemein (“ich y und y vur lang 36 37 38
39 40
Hätzlerin (wie Anm. 30), Nr. 97, Str. III. Lochamer-Liederbuch (wie Anm. 28), Nr. 16, Str. VII. Gedichte 1500-1600. Nach den Erstdrucken und Handschriften in zeitlicher Folge hrsg. von Klaus Düwel. München 1978 (= Epochen der deutschen Lyrik 3), S. 111: Jungfrau du thust mich drucken (gedruckt 1531). Hätzlerin (wie Anm. 30), Nr. 68, Beginn von Str. III. Eberhard von Cersne (wie Anm. 3). Auch hier sind die Diakritika weggelassen.
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Nicola Zotz
sang”, V. 5 f.) und auch von seiner Geliebten, an welche die Lieder gerichtet waren (“durch eyn tochterlyn”, V. 6). Aber die Reflexion geht noch weiter: Mit der Interpunktion in Vers 3 kann Hages-Weißflog plausibel machen, daß das “dir tzu dang” als wörtlicher Gruß mit Widmungsfunktion an die Geliebte zu verstehen ist und so vielleicht eine Anspielung auf die romanische Tornada-Technik darstellt.41 Die letzten drei Verse drücken dann auf gängige Weise den Wunsch nach Erhörung aus und versichern die Liebe. Solche Wünsche, Imperative und Versprechen kann man ebenfalls als Zeichen für Perspektivenwechsel sehen, denn sie richten den Blick in die Zukunft. Als weiteres Beispiel kann ein Lied aus dem 16. Jahrhundert dienen: “Het ich dein gunst / was wolt ich sunst / nit reicher wolt ich leben”.42 Vergleichbar ist hier auch Oswalds berühmtes autobiographisches Lied Kl. 18, wo die Schlußstrophe nicht nur die Vergangenheit resümiert (“Ich han gelebt wol vierzig jar leicht minner zwai”), sondern auch den Blick in die Zukunft richtet: “es wer wol zeit, das ich [...]”, worauf unter anderem auch folgt, “das ich [...] wol bekenn, ich wais nicht, wenn ich sterben sol”. Hier findet sich bekanntlich auch eine der wenigen Signaturen im spätmittelalterlichen Lied (“ich, Wolkenstein”). Was Reflexion und dichterisches Selbstbewußtsein betrifft, sind Eberhard und vor allem Oswald freilich auch auf einer anderen Ebene zu sehen als die anonymen Liederbuchlieder. Eine letzte Besonderheit der Schlußstrophe im mittleren System sei noch genannt. Das bereits in der älteren Tradition beliebte Ausweiten ins Allgemeine wird nun noch stärker ausgebaut, und man trifft häufig auf gnomische Formulierungen. So bei Oswald “Es ist ain alt gesprochen wort, / recht tun, das sei ain grosser hort”,43 aber auch in den Liederbüchern: “Das glück ist synwel, als man spricht”.44 Auch wenn die Kategorien, denen sich die Markierungen im Minnesang und im mittleren System zuweisen lassen, sehr ähnlich sind, verschieben sich dennoch die Schwerpunkte von einer Dichtungstradition zur anderen. Die Pointen, die im Minnesang die letzte Strophe auszeichnen, werden im mittleren System deutlich zurückgenommen; es finden sich kaum noch Revocationes, Ironie oder andere Überraschungen, die 41 42
43 44
Hages-Weißflog in ihrer Ausgabe (wie Anm. 3), S. 224. Gedichte 1500-1600 (wie Anm. 38), S. 37 f.: Die brinnet lieb bringt mich dahin (gedruckt 1513). Oswald von Wolkenstein (wie Anm. 28), Kl. 116, Str. III. Hätzlerin (wie Anm. 30), Nr. 53, Str. IV.
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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die Erwartung des Publikums brechen; auch scheint die Schlußstrophe kein Ort mehr zu sein, die verschiedenen Rollen bewußt zu machen und mit ihnen zu spielen. Dichter und Publikum, im Minnesang (wie in der Trobador-Lyrik) am Liedende präsent, werden (außer in den seltenen Signaturen) nicht mehr genannt. Entsprechend dem veränderten Gattungssystem mit Trennungs- und Abschiedsliedern und Grüßen werden im mittleren System andere Themen und damit andere Schlüsselwörter bestimmend. Deswegen wird Gott wichtiger (in formelhaften Grüßen und Wünschen), und die neuen Gattungen sind auch der Grund dafür, daß gnomische und generische Formulierungen zunehmen: Man reiht sich ein in die Gruppe der Liebenden allgemein und versucht, Sprichwörter und Allgemeingültigkeiten zur Überzeugung der Geliebten heranzuziehen.45 Damit hängt auch zusammen, daß Imperative in der Schlußstrophe zunehmen, die zusätzlich gern an Bedingungen vom Typus ‘Da ich dich so treu liebe, liebe du mich nun auch zurück’ gekoppelt sind.46 So stellt sich die Frage, inwiefern die Form der Schlußstrophe an ihre Funktion im jeweiligen Dichtungssystem rückgekoppelt ist und wie sie vor dem Hintergrund der jeweiligen poetologischen Konzeption zu verstehen ist.
V.
Die Funktion der Schlußstrophe
Es fällt auf, daß eine Gruppe von Schlußmarkierungen im mittleren System nicht mehr begegnet, die aber für den Minnesang sehr kennzeichnend war. Die Rede ist von zugespitzten Formulierungen, Antagonismen und Paradoxa, die im klassischen Minnesang gern für Schlußpointen herangezogen werden. Denn in den Liedern wird eine Spannung aufgebaut, die in der letzten Strophe kulminiert und häufig genug nicht aufgelöst, sondern ausgehalten wird. Letztlich hat der Minnesänger natürlich ein klar formuliertes Ziel – er will die Liebe seiner Dame erringen; aber es gehört zum Spiel und damit zur Poetik, daß der Weg steinig ist, ja
45
46
Das entspricht der Beobachtung, die Hübner (in diesem Band), S. 101, zu Hätzlerin Nr. 99 macht und auf das mittlere System bezieht: “das große Leid ist kein außerordentliches Leid; ganz im Gegenteil. [...] Aus dem Ich wird ein generisches Er”. Vgl. Hübner (in diesem Band), S. 89: “Unterstellt wird stets ein Anrecht auf die Erwiderung ‘richtiger’ Liebe, das die typische Werbungsargumentation überhaupt erst ermöglicht.”
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man zieht eine Freude daraus, daß Leiden und Lieben so eng verzahnt sind.47 So ist die Schlußstrophe im Minnesang häufig ein Aufbrechen und Öffnen in eine neue Richtung. Nach meinem Verständnis liegt dem Minnesang inhaltlich wie konzeptionell eine Poetik der Offenheit zugrunde.48 Wertungen werden vermieden, Probleme differenziert und dabei nicht aufgelöst, ja der Reiz dieser Lyrik liegt in einer immer wieder aufs Neue aufgebauten Spannung. Der Vielschichtigkeit der Bezüge und Aussagen korrespondiert auch die lockere Strophenbindung; die Überlieferung zeigt, daß viele dieser Lieder in immer wieder neuer Zusammenstellung verstanden werden können. Offensichtlich ist in diesem System auch die Schlußstrophe nicht immer festgelegt. Ob dabei mit Autorvarianten zu rechnen ist, ist für meine Frage weniger von Belang. Entscheidend scheint mir, daß es sich um ein Dichtungssystem handelt, das Varianz zuläßt, ja geradezu auf ihr aufbaut. Das bedeutet dann auch, daß der Schluß keine Lösung bereithält, das Ende keine Endgültigkeit bedeutet. Die Rolle der Schlußstrophe im Minnesang ist es folglich, das Publikum auf sich selbst zurückzuwerfen und es zu einer Auseinandersetzung mit dem Lied und einer eigenen Lösung herauszufordern. Wenn hier das Liedende angekündigt wird, dann um das Publikum auf eben jene erforderte Eigenleistung vorzubereiten. Damit einhergehen kann beispielsweise eine Verschiebung auf eine andere (Fiktionalitäts-) Ebene oder ein Spiel mit Sprecher-Rollen (Hiltegunde). Aber auch das gibt in der Regel neue Rätsel auf und befreit das Publikum nicht von seiner deutenden Eigenleistung. Der Offenheit und den ausgehaltenen Spannungen stehen im mittleren System der Wunsch nach Abgeschlossenheit und Entspannung gegenüber. Das läßt sich schon formal beobachten an der zunehmenden Drei47
48
Damit meine ich nicht das Liebesparadox, das mir in der deutschen Tradition kaum je formuliert zu sein scheint. Es geht mir hier nicht darum, daß der Liebende (wie in romanischen Texten gelegentlich zugespitzt) sich w ü n s c h t , nicht erhört zu werden, um den Rang seiner Dame nicht herabzusetzen. Aber dargestellt wird die Liebe ohne Gegenliebe in der deutschen Tradition sehr wohl in Paradoxa, für die es oft genug keine Lösung gibt. Das habe ich vor allem im Vergleich mit der Trobador- und Trouvère-Tradition herausarbeiten können. Vgl. demnächst Nicola Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang. Heidelberg (= Beihefte zur Germanisch-romanischen Monatsschrift) (im Druck).
Die Schlußstrophe im mittelalterlichen deutschen Liebeslied
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strophigkeit der Lieder und der geringeren Mouvance. Inhaltlich entspricht dem genau die von Hübner herausgearbeitete Poetik der Entspanntheit.49 Die Liebe selbst ist in aller Regel unproblematisch geworden, Störungen treten meistens von außen ein. Damit erklärt sich auch der größere Stellenwert, den man Gott beimißt, denn wenn man in einer unglücklichen Liebe selbst nicht weiterkommt, kann womöglich die Hinwendung zu einer höheren Instanz die erhoffte Lösung bringen. So hat denn auch die Schlußstrophe hier eine ganz andere Funktion als im Minnesang, denn anstatt die Situation zu öffnen und das Publikum dazu zu bringen, sich selbst an den Spannungen zu reiben, stellt sie im mittleren System einen Abschluß dar, führt die Lösung, die es geben kann, selbst vor, und das mit einer gewissen Vorhersagbarkeit, indem sie die Erwartungen erfüllt, die das Lied aufgebaut hat, was dem Wunsch nach Ruhe und Auflösung der Probleme entgegenkommt. Mit dieser Lösungsorientiertheit korrespondiert die Einfachheit der Darstellung, die einer Komplexität im Minnesang gegenübersteht. (An diesem Punkt meine ich natürlich nur das Liederbuchlied und klammere die artistische Tradition, also Oswald und Hugo von Montfort, aus.) Die Schlüsse der Lieder beziehen sich auf das zurück, was schon vorher ausgedrückt wurde, sind also nicht schwierig zu verstehen. Gert Hübner hat an diesen Liedern die “auf ein möglichst geringes Maß an Komplexität, auf Gleichlauf und Unauffälligkeit angelegte Gestalt” hervorgehoben,50 und diese Einfachheit läßt sich auch an den Schlußstrophen beobachten. Bei solchem Anspruch wundert es auch nicht, daß kaum über das Dichten und Singen reflektiert wird. Die Markierung der Schlußstrophe ist weder im hohen noch im späten Mittelalter obligatorisch. Ob bei der Vorliebe für Pointen und Zuspitzungen überhaupt von Markern gesprochen werden kann, ist ohnehin zweifelhaft. Eher schon sind formelhafte Grüßen dazu zu rechnen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit im mittleren System auftreten. Entscheidend ist eher, daß auch gleiche Vorgehensweisen auf verschiedene poetologische Strategien verweisen können. So kommen im Minne49
50
Das neue Liebeskonzept ist nach Hübner (in diesem Band), S. 107, grundsätzlich geprägt durch den “Wegfall aller Angespanntheit”. So beobachtet er für Hätzlerin Nr. 2: “Das Lied scheint es [...] geradezu programmatisch auf die Entspannung dieser [i. e. der Tagelied-] Situation anzulegen.” Hübner (in diesem Band), S. 116.
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Nicola Zotz
sang wie auch im mittleren System Bündelungen in der Schlußstrophe vor. Im Minnesang jedoch sind sie in der Regel verbunden mit dem Wechsel auf eine neue Ebene, und sie halten das Publikum zum Deuten an. Im mittleren System hingegen wird eher die Geschlossenheit eines Liedes in der Bündelung gespiegelt. Insgesamt nehmen Anspielungen auf die Dichter- und Rezipientenwirklichkeit im Spätmittelalter ab. Es ist keine höfische Gemeinschaft mehr, zu der gesprochen und die gleichzeitig durch den Sang und das gemeinsame Zuhören etabliert wird. Ein Wort Hugo Kuhns aufgreifend, stellt Burghart Wachinger fest, daß es hier nicht mehr um “Rede zur höfischen Gesellschaft über die höfische Rolle der Liebe” geht, wohingegen die Kommunikation mit der Dame viel mehr Raum einnimmt.51 An die Stelle der Bedeutung, die die Hofgesellschaft einst hatte, tritt nun die Liebe des Einzelnen zu seiner jeweiligen Geliebten. Um mit ihr eine Gemeinschaft zu etablieren, kann sich der Dichter an Gott wenden. Eine Diskussion über Liebe und ihre Rolle in der Gesellschaft findet hingegen nicht mehr statt.52 Nachdem die Schlußstrophe das Publikum im Minnesang mit einem Fragezeichen oder einem Doppelpunkt aus dem Lied entlassen hat, stellt sie im mittleren System einen veritablen Schlußpunkt dar.
51
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Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29, hier S. 19. Das Zitat stammt aus: Hugo Kuhn: Zur inneren Form des Minesangs. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hrsg. von Hans Fromm. Darmstadt 1961 (Wege der Forschung 15), S. 167-179, hier S. 173 f. Statt um die Frage ‘waz ist minne?’ geht es nun um die Konzentration “auf das Thema der Beständigkeit der Liebe”; Wachinger (wie Anm. 51), S. 29.
Harald Haferland FRÜHE ANZEICHEN EINES LYRISCHEN ICHS Zu einem Liedtyp der gedruckten Liedersammlungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Erhart Öglin, Peter Schöffer, Arnt von Aich, Christian Egenolff, Heinrich Finck, Georg Forster, Johann Ott) Abstract Der Aufsatz skizziert die Entwicklung des mittelalterlichen Liebesliedes von der höfischen Minnekanzone, für deren Inhalt der Dichter einsteht, da er sie zunächst auch selbst vorträgt, zum Liebeslied des 16. Jahrhunderts, das grundsätzlich anonym zirkuliert. Am Beispiel eines repräsentativen Liedtyps dieses späteren Liebeslieds werden die pragmatischen Umstände einer konkreten Einbindung der Liedtexte sowie ihrer Lösung von einer solchen Einbindung untersucht: Eine neue Praxis des Singens und gemeinsamen Musizierens erweist sich als folgenreich für die Aufnahme der Texte wie dann auch für ihre Produktion. Dabei aber ergibt sich die Möglichkeit, die Texte für anonyme Zirkulation einzurichten und deshalb einem gegenüber dem Dichter selbst neutralisierten Ich zuzuweisen.
In einem Gesprächslied läßt der Schenk Ulrich von Winterstetten “ein altez wîp” darüber klagen, daß ihr seine Lieder (was “der schenke singet”) durch Mark und Bein gingen (Lied IV, Str. I,9-12),1 wan si [die Leute] gelfent sînen sanc tac unde naht in dirre gazzen, unde ist er doch hübschem sange niht geslaht: man sol in hazzen.
Schon bei Heinrich von Morungen scheint einmal anzuklingen, daß andere seine Minnelieder nachsingen,2 und für eine Reihe von Liedern Ulrichs von Liechtenstein wird dies zur Gewißheit, wenn es etwa von 1
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Ich zitiere: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus. Band I. Text. 2. Auflage durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978. Vgl. Des Minnesangs Frühling. I. Texte. 38. Auflage. Hrsg. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 1988, S. 245, Lied VIa, Str. 2 (MF [im folgenden für Minnesangs Frühling] 127,14-17).
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den Strophen seines Liedes XXII heißt: “Diu liet gesungen wurden vil” (Str. 1370,1). Oder ein andermal (Str. 1772,1-3):3 Diu liet diu wâren meisterlîch unde ir rîm gar sinnerîch; dâ von sî gern maniger sanc.
In dem Lied, von dem hier die Rede ist, hatte Ulrich zum Nachsingen unmittelbar aufgefordert: “Wol her alle, helfet singen / wîbes lop, daz ich ie gerne sanc!” (Lied LII, Str. 1,1-2) Offenbar aber werden Minnelieder auch ohne einen solchen Appell und ohne jede Rücksicht auf ihre ursprüngliche situative Einbettung und Bindung allein an den Dichter nachgesungen. Wenn dies zunächst noch eher ungewöhnlich erscheint, wird es spätestens im 14. Jahrhundert so geläufig, wie es dies in der lateinischen Liebesdichtung schon lange ist.4 Man sieht es daran, daß zu den Spuren anderwärts nicht überlieferter Lieder, die z.B. in der Limburger Chronik in Bruchstücken mitgeteilt werden, nicht einmal mehr die Namen der Dichter mit tradiert wurden und deshalb vom Chronisten nicht genannt werden (können).5 So etwa bei einem Lied aus den Jahren um 1350:6 Item darna nit lange sang man aber ein gut lit von wise unde von worten dorch ganz Duschelant, das ging also:
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Ich zitiere: Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein. Zwei Teile. Leipzig 1888. Deren anonyme Überlieferung – schon bei den Cambridger Liedern und dann bei den Carmina Burana – zeigt, daß hier andere Bedingungen gelten. Abaelard läßt in der Historia calamitatum die schnelle Folklorisierung seiner Liebeslieder erkennen: Nachdem ihn die Liebe zu Heloisa erfaßt hat, vermag er nicht mehr zu philosophieren, “et si qua invenire liceret, carmina essent amatoria [...]; quorum etiam carminum pleraque adhuc in multis, sicut et ipse nosti, frequentantur et decantantur regionibus, ab his maxime quos vita similis oblectat”. Abélard: Historia calamitatum. Texte critique avec une introduction. Hrsg. von J. Monfrin. Paris 1959, S. 73. Auf die Stelle weist mich Sonja Glauch hin. Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen. Hrsg. von Arthur Wyss. In: Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Vierter Band. Erste Abteilung. Hannover 1883. Nachdruck Dublin, Zürich 1973. Der Name Reinharts von Westerburg, der in Abschnitt 10 genannt wird, stellt eine Ausnahme dar. Ebd., Abschnitt 25.
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‘Ach reinez wip von guder art, gedenke ane alle stedicheit, daz man auch ni von dir gesait, daz reinen wiben obel steit. Daran saltu gedenken und salt nit von mir wenken, di wile daz ich daz leben han. Noch ist mir einer klage not von der livesten frauwen min, daz ir zartez mondelin rot wel mir ungenedic sin. Si wel mich zu grunt vurderben, untrost wel si an mich erben, darzu enweiß ich keinen rat’ etc.
Dieses Lied (mit virtueller Anrede an die Dame in der ersten Strophe und einem implizit an das Publikum gerichteten Bericht in der zweiten) erscheint aus seinem ursprünglichen Vortragskontext herausgelöst und von einem Vortrag durch den Dichter selbst, wie er für klassische Minnekanzonen bestand, befreit. Dabei ist es in regelrechter Weise folklorisiert worden, ohne daß der Dichter noch ein Anrecht auf seinen Text behalten hätte. Sein Name ist vergessen. Stattdessen erscheint das Lied offenbar als Eigentum aller, es wird ‘durch ganz Deutschland’ gesungen.7 So werden Minnekanzonen wenn nicht zu Volksliedern, so doch zu volksläufigen Liedern, ohne daß ihre Dichter noch wie Ulrich von Liechtenstein gelobt oder wie Ulrich von Winterstetten gescholten werden könnten: Man kennt sie nicht mehr. Will man die Lieder noch einmal anschaulich vorsingen (und nicht den Text mit der Melodie einfach nur nach- oder absingen, was bei Volksliedern die Regel ist), so gelingt dies nur über eine Verkörperung des Texts, wie sie heute über die Vermarktung von Liedern in der Unterhaltungsindustrie alltäglich geworden ist: Man tut dann so, als bezöge man den Wortlaut auf sich selbst. Während dies bloß eine Rolle für den Verlauf des Vortrags ist 7
Der Ausdruck ist formelhaft, noch Heinrich Glarean spricht in seinem Dodekachordon (Basel 1547, S. 261) mit Bezug auf ein Lied Adams von Fulda (in der Sammlung Aichs [wie Anm. 13] die Nr. 21) von einer “cantio [...] per totam Germaniam cantatissima”; zitiert auch bei Christoph Petzsch: Hofweisen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liederjahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959), S. 414-445, hier S. 435.
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(man tut nur so), trugen die Dichter des höfischen Minnesangs ihre Minnekanzonen zwar wohl in einer inszenierten Pose vor, aber sie beanspruchten den Wortlaut tatsächlich für sich selbst, und zwar über den Rahmen des Vortrags hinaus.8 Insofern wurde der Liedinhalt auf besondere Weise anschaulich. Dies war beim Nachsingen folklorisierter Kanzonen nicht mehr zu realisieren, denn selbst der Vollzug einer Verkörperung endete notgedrungen mit dem Liedvortrag, d. h. er blieb auf den Zeitrahmen des Vortrags beschränkt. Vermutlich hat man folklorisierte Kanzonen aber gar nicht verkörpert, sondern einfach nachgesungen, ohne den Wortlaut im Zuge des Singens spielerisch auf sich zu beziehen.9 Das ‘Autorprinzip’ des höfischen Minnesangs, das, wie ich meine, die Liedtexte nicht nur im Zuge der Überlieferung des Minnesangs an die Dichter band,10 sondern auch schon den Inhalt ihrer Kanzonen, der durchweg referentialisierbar erscheinen sollte, für sie sicherte und im Vortrag konkret auf sie beziehbar werden ließ, lebt wohl in Spruchdichtung und Meistersang noch weiter, für das spätere Liebeslied verliert es sich. Im 15. Jahrhundert werden u. a. auch viele Liebeslieder in den Sammlungen etwa des Lochamer-, Augsburger, Rostocker, Königsteiner Liederbuchs oder des Liederbuchs der Clara Hätzlerin zusammengetragen, aber nirgendwo bekommt hier der Name des Dichters noch einen Platz zugewiesen. Damit wird sein Anspruch auf den Wortlaut zumindest durch die Art der Tradierung und Überlieferung aufgehoben. Als Urheber und Eigner ihrer Lieder, als die Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Ulrich von Winterstetten sich noch darstellen konnten, werden die Dichter nun im Zuge einer sehr lebendigen Tradierung entrechtet. Man kann das z. B. an dem über mehr als hundert Jahre äußerst populären Lied Der walt hat sich entlaubet sehen, das – wohl Anfang des 15. Jahrhunderts (als kunstvolles Dialoglied) entstanden – offenbar bereits 8
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Vgl. Harald Haferland: Minnesang als Posenrhetorik. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann. Heidelberg 2004 (= Beihefte zum Euphorion 46), S. 65-105. Verkörperung von Liedtexten wird, wenn es sich nicht eindeutig um den Vortrag von Rollenliedern und -strophen handelt, in größerem Umfang wohl erst in der Neuzeit üblich. Vgl. hierzu Harald Haferland: Minnesang bis Walther von der Vogelweide. Eine Forschungsdiskussion. In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer. Bern u. a. 2003 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe C, Band 6), S. 54-160, hier Kap. 2, S. 59-74.
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aus bloß mündlicher Tradierung in das Lochamer-Liederbuch eingeht,11 Ende des 15. Jahrhunderts in zersungener Gestalt auf Flugblattdrucken erscheint12 und als endgültig volkstümliches (was den Text anbetrifft) Anredelied in verschiedenen Tonsätzen in den gedruckten Notenliederbüchern13 unter dem Incipit Entlaubet ist der walde auftaucht: zuerst in einem Tonsatz von Hans Heugel in Egenolffs Gassenhawerlin, wenig später in Sätzen von Thomas Stoltzer, Ludwig Senfl und Caspar Othmayer auch bei Schöffer, Forster und Ott. Da der Sprecher in der ursprünglichen Dialogform des Liedes seine Freundin meiden muß, malt 11
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Vgl. den Hinweis von Petzsch in: Das Lochamer-Liederbuch. Einführung und Bearbeitung der Melodien von Walter Salmen. Einleitung und Bearbeitung der Texte von Christoph Petzsch. Wiesbaden 1972, S. 50. Vgl. das Lied ebd. als Nr. 16, S. 4952. Abgedruckt ebd., S. 52-55. Ich beziehe mich im folgenden auf diese Ausgaben: Erhart Oeglin’s Liederbuch zu vier Stimmen. Augsburg 1512. Text und Musik nach den Quellen hergestellt von Robert Eitner und Julius Joseph Maier. Berlin 1880 (= Publikation aelterer praktischer und theoretischer Musik-Werke 9). Peter Schöffers Liederbuch. Tenor / Discantus / Bassus / Altus. Mainz 1513. Hrsg. von der Gesellschaft Münchener Bibliophilen. München 1909. Das Liederbuch des Arnt von Aich (Köln um 1510). Hrsg. von Eduard Bernoulli und Hans Joachim Moser. Kassel 1930. (Die Datierung des ohne Jahresangabe erschienenen Drucks von Bernoulli und Moser ist überholt; richtig ist ca. 1519.) Gassenhawerlin und Reutterliedlin für vier Stimmen verlegt bei Christian Egenolf. Frankfurt am Main 1535. Faksimileneuausgabe hrsg. und eingeleitet von Hans Joachim Moser. Augsburg, Köln, Wien 1927. Heinrich und Hermann Finck. Eine Sammlung ausgewählter Kompositionen zu vier und fünf Stimmen [...]. Partiturausgabe von Robert Eitner. Berlin 1879 (= Publikationen der Gesellschaft für Musikforschung 7). (Teilausgabe von: Schöne auserlesene Lieder des hochberühmten Heinrici Finckens [...]. Nürnberg 1536.) Georg Forster: Frische Teutsche Liedlein in fünf Teilen. Abdruck nach den ersten Ausgaben von 1539, 1540, 1549, 1556 mit den Abweichungen der späteren Drucke. Hrsg. von M. Elizabeth Marriage. Halle a. d. S. 1903. Einhundert Fünfzehn weltliche u. einige geistliche Lieder [...], gesammelt und im Jahr 1544 zu Nürnberg in vier Stimmbüchern hrsg. von Johann Ott. Partiturausgabe von Robert Eitner, Ludwig Erk und Otto Kade. Berlin 1874-1876 (= Publikationen der Gesellschaft für Musikforschung 1-3). (Neuausgabe von Johann Ott: Hundertundfünfzehn guter neuer Liedlein. Nürnberg 1544.) Zu einer Reihe grundsätzlicher Informationen zu den frühen gedruckten Liederbüchern vgl. Erwin Kraus: Die weltlichen gedruckten Notenliederbücher von Erhard Öglin (1512) bis zu Georg Forsters fünftem Liederbuch (1556). Eine textvergleichende Studie und eine Wortschatzuntersuchung des Forsterschen Liederbuchs. Frankfurt a. M. 1980.
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seine Stimmung sich ihm in Schwarz und Grau (“O swarz und graue farbe, / darzu stet mir mein sin, / dopei sie mein gedencken sol, / wenn ich nicht bei ir bin”, Str. II,5-8). In dem dreistrophigen Anredelied des 16. Jahrhunderts wird die Freundin als “feins [oder mein] brauns schwartz meydelein” angesprochen (bei Egenolff [Gassenhawerlin] Nr. 1, Str. 2, und z. B. bei Forster I 52, Str. 2) – dieses Mädchen ist, wie es scheint, aus der unvollkommenen Erinnerung des für diese Fassung verantwortlichen Dichters an den ursprünglich ganz anders bezogenen Wortlaut und Sinnzusammenhang (braun-)schwarz geworden.14 Es ist eine seltsame Laune der mündlichen Tradierung und ihrer Beständigkeit im Formelhaften, daß seitdem nahezu alle Mädchen des Volksliedes bis ins 20. Jahrhundert zumindest braun, gelegentlich aber eben auch schwarz sind (vgl. “Schwarzbraun ist die Haselnuß, / schwarzbraun bin au i, / schwarzbraun muß mei Madel sei, / gerade so wie i”).15 Im Fall von Der walt hat sich entlaubet hat mündliche Tradierung dem Text auch sonst mitgespielt und ihn durchweg auf eine Form gestutzt, der jede Besonderheit abgeschliffen wurde. Das aus dem Dialoglied hervorgegangene kürzere Anredelied wird aus vage erinnerten Resten 14
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An den verschiedenen Formulierungen der Stelle in den erhaltenen Fassungen läßt sich der Übergang wahrscheinlich machen. Auf einem Flugblatt von 1496 heißt es in der zweiten Strophe “O grue nne prawne sch[w]arcze farb / darnach steet mir mein sinn”, auf einem weiteren Flugblatt “Braun Weys ynn Gelb vnd Schwarczer farb / darnach stet mir mein sinn”, und im gedruckten Liederbuch von Peter Schöffer und Mathias Apiarius (ca. 1536) dann im Rahmen der in den Liederbüchern des 16. Jahrhunderts verbreiteten Fassung “Lestu mir nichts zu letze / schwartz, brauns, weiß meydelein [...]”. Diese umgesungene Reduktionsform beginnt mit einem Vers, der ursprünglich der sechsten Strophe (vgl. Str. VI,2 der Fassung des Lochamer-Liederbuchs: “was lest du mir ze letz?”) angehörte, und wird dann aus Resten auch der siebten Strophe neu aufgebaut. Ohne den hier deshalb zu unterstellenden Umsingeprozeß hätte ein “schwartz, brauns, weiß meydelein” wohl ein zu ungewöhnliches Aussehen, als daß dies als intendierte Erfindung eines Nachsängers gelten könnte. Daß die Farbe Schwarz in der Regel zunächst eher die Stimmung eines Partners beschreibt, belegt z. B. die Formulierung “in schwarz klag ich” aus Öglin Nr. 7a, Str. 3. Die Stelle in Entlaubet ist der walde scheint der früheste Beleg für die Formel. Vgl. Doris Massny: Die Formel ‘Das braune Mägdlein’ im alten deutschen Volkslied. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 15 (1937), S. 26-66, die Belege hier S. 29 ff. (meist: “feins brauns meidelein”, gelegentlich aber: “[feins] schwartzbrauns meidelein”). Zum Lied Entlaubet ist der walde vgl. ebd., S. 47 f. Vgl. auch Lutz Röhrich: Gebärde – Metapher – Parodie. Studien zur Sprache und Volksdichtung. Düsseldorf 1967, S. 72 ff.
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neu aufgebaut. Dabei wird nicht mehr richtig Zugeordnetes z. T. auch anders bezogen. Dies sind typische Folgen einer eingreifenden Folklorisierung. Nach Lutz Röhrich macht jedes Volkslied einen solchen Folklorisierungsprozeß durch, wenn es mündlich tradiert wird: Zum Volkslied gehört die mündliche Tradition, die durch das Erscheinen eines Liedes in einer Handschrift oder im Druck nicht unterbrochen zu sein braucht. Ein Volkslied wird gesungen. Es existiert nicht nur als bloßer Text – wie ein Gedicht – sondern als Gesang. [...] Die musikalische Seite ist dabei in der Regel dominierend; ihr hat sich oft genug der Text anzupassen. Selbst abgeschmackte, sentimentale, d. h. geistesgeschichtlich überständige Texte etc. werden akzeptiert, wenn die dazugehörige Melodie noch immer zündet und gefällt.16
Die mündliche Tradierung kümmert sich nicht um Verfasserschaft und Herkunft des Liedes und setzt zu einem Umsingeprozeß an, in dem “das Atypische dem Typischen, das Individuelle dem Kollektiven” weicht.17 Dies ist im wesentlichen die Position schon John Meiers, der etwa betont hatte, daß “das Volk nichts von individuellen Anrechten weiß oder empfindet”18. Wenn eine Reihe individueller Liebeslieder (Kunstlieder) des 15. Jahrhunderts in diesem Sinne eingreifend folklorisiert wird und wenn es daneben natürlich auch Volkslieder im eigentlichen Sinne gibt – wobei die Melodien und Texte von vornherein ohne kunstmäßigen Anspruch erscheinen (oft Erzähllieder, vgl. Ein meydlein zu dem brunnen gieng, Forster II 5219) und nicht aus dem Bereich des individuellen Kunstliedes rezipiert werden20 –, so ist der von mir hervorgehobene Verlust individueller Anrechte aber nicht auf diese beiden Fälle beschränkt. Es gilt hierbei, sich recht komplizierte Verhältnisse vor Augen zu führen. Differenzieren muß man zwischen Volkslied (bei aller Vagheit dieses Begriffs) und dem, was Hoffmann von Fallersleben nicht weniger 16
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Lutz Röhrich: Die Textgattungen des populären Liedes. In: Handbuch des Volksliedes. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan. 2 Bde. München 1973-1975, Bd. 1, S. 19-35, hier S. 32. Ebd., S. 33. John Meier: Kunstlied und Volkslied in Deutschland. Halle a. d. S. 1906, S. 14. Bei Forster finden sich Volkslieder besonders im zweiten Teil seiner Sammlung. Vgl. hierzu auch Horst Brunner: Das deutsche Lied im 16. Jahrhundert. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 118-134, hier S. 125 f.
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vage als Gesellschaftslied bezeichnet hat.21 Denn eine neue Praxis der Aufführung bzw. des Musizierens – es wird nicht mehr einfach gesungen, sondern ein erst zwei- und dann mehrstimmiger Tonsatz (mit zunächst nur einer Singstimme im Tenor, erst Forster richtet die Liedersätze dann für vier Singstimmen, a capella, ein22) wird eingeübt und dann umgesetzt – rückt auch Volkslieder bzw. Volksliedtexte wieder aus ihrem vorherigen Lebensbereich heraus: Das mehrstimmige Volkslied ist nicht mehr Lied des Volkes; es ist ebenso wie das Hofweisen-Tenorlied das Lied einer wenn auch mehrschichtigen Gesellschaft und damit Gesellschaftslied in einem ganz spezifischen Sinne.23
Folklorisierte Kunstlieder und ‘einfache’ Volkslieder, deren Melodie dem Satz zugrundeliegen kann, laufen also im Gesellschaftslied (musikalisch: im Tenorlied) zusammen und werden im Sinne der neuen Praxis des Musizierens zunehmend zwei- oder mehrstimmig gesetzt. Andererseits entstehen weiterhin individuelle Kunstlieder, wenn auch stilgeschichtlich die oft exzentrische Tendenz der Minnekanzone grundsätzlich einem Kollektivstil des späteren Liebesliedes gewichen ist.24 Die von Kurt Gudewill nach dem Usus der Musikwissenschaft als Hofweisen-Tenorlieder abgegrenzten Kunstlieder haben den größten 21
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Die deutschen Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts. Aus gleichzeitigen Quellen gesammelt von Hoffmann von Fallersleben. Zwei Teile. Leipzig 21860, S. VII: “Anfangs waren es hin und wieder Volkslieder oder denselben durch Form und Inhalt nah verwandte; später wurden sie immer mehr das was man Kunstlieder oder gelehrte Lieder zu nennen pflegt. Sie entstanden zu einer Zeit, als die kunstmäßige Übung des Gesanges in den geselligen und häuslichen Kreisen des Bürgerstandes Liebhaberei und Mode ward [...].” Vgl. hierzu Hans Joachim Moser im Vorwort zur Ausgabe des Liederbuchs von Arnt von Aich (wie Anm. 13), S. VIII. Kurt Gudewill: Deutsche Volkslieder in mehrstimmigen Kompositionen aus der Zeit von ca. 1450 bis ca. 1630. In: Handbuch des Volksliedes (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 439-490, hier S. 446. Christoph März beobachtet dies schon an den Liebesliedern des Mönchs von Salzburg, die “den Stempel des Kollektiven” trügen: “Wo sich [...] ein Kollektiv wörtlich [März will für einige Lieder des Mönchs in der Tat auch kollektive Verfasserschaft annehmen] oder dem Gehalt nach den Liedern einschreibt, mag sich auch die literaturhistorische Situation der Erzeugung von Liebesliedern neu und gewandelt darstellen.” Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hrsg. von Christoph März. Tübingen 1999 (= Münchener Texte und Untersuchungen 114), S. 8.
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Anteil an den Liederdrucken des 16. Jahrhunderts. Sie unterliegen nun als Gesellschaftslieder einer Folklorisierung eigener Art, der im folgenden meine besondere Aufmerksamkeit gilt und die vielleicht besser nur als Anonymisierung beschrieben werden sollte.25 Hans Joachim Moser hat, anders als Hoffmann von Fallersleben, diese Kunstlieder in Rücksicht auf ihre kunstmäßigen Texte wie auch auf ihre Vertonungen und ihren primären Aufführungsort als Hofweisen oder auch Hoflieder bezeichnet.26 Hieran schließt Gudewill sich an. Damit sind drei Begriffe im Spiel, die ihr Recht nebeneinander behalten könnten.27 Wie, das soll aus meiner schematischen Zusammenfassung der drei 25
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Diese Anonymisierung geht zurück auf eine Sammlungs- und Gebrauchssituation, wie sie sich schon im 15. Jahrhundert weithin abzeichnet. Den Überlieferungsbefund charakterisiert Doris Sittig: ‘Vyl wonders machet minne.’ Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Göppingen 1987, S. 1 f., für die Liederhandschriften des 15. Jahrhunderts folgendermaßen: “Die Überlieferung der Liedtexte aus dem betreffenden Zeitraum beschränkt sich – neben einigen Autorsammlungen der erwähnten Dichter [Oswald von Wolkenstein, der Mönch von Salzburg, Eberhard von Cersne, Hugo von Montfort, Suchensinn, der Harder, Muskatblut, Michel Beheim u. a., H. H.] – auf Sammelhandschriften und Liederbücher, die neben den eigentlichen Liedtexten oft in bunter Mischung noch eine Reihe ganz andersartiger Themen und Inhalte aufweisen. Die Autoren der Lieder selbst bleiben zum größten Teil anonym; nur ganz wenige Texte führen den Autornamen mit sich, bei einigen anderen läßt der Dichter sich mit Hilfe von Parallelhandschriften ausmachen.” Zur Anonymität der Hofweisen-Tenorlieder vgl. Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 441. Zum Nebeneinander von mit Autornamen und anonym überlieferter Lieddichtung im 15. Jahrhundert vgl. Susanne Köbele: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarischen Standortbestimmung. Tübingen, Basel 2003 (= Bibliotheca Germanica 43), S. 23 f. Hans Joachim Moser: Das deutsche monodische Kunstlied um 1500. In: Festschrift Peter Wagner zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Karl Weinmann. Leipzig 1926, S. 146169. Vgl. auch ders.: Paul Hofhaimer. Ein Lied- und Orgelmeister des deutschen Humanismus. Stuttgart, Berlin 1929, S. 71 ff. Moser schließt sich wohl an die Kritik an, die schon von Liliencron an dem Begriff des Gesellschaftsliedes geübt hat: Deutsches Leben im Volkslied um 1530. Hrsg. von Rochus Freiherr von Liliencron. Berlin, Stuttgart o. J. (1885), S. XXIV f. Die durch Horst Brunner: Artikel ‘Gesellschaftslied’. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u.a. 3 Bde. Berlin, New York 19972003, Bd. 1, S. 717 f., von Christoph Petzsch aufgenommenen Gründe für Zweifel an der Verwendbarkeit des Begriffs erscheinen mir nicht zwingend (vgl. auch unten Anm. 59). Viele Gattungsbegriffe der Literaturwissenschaft sind in hohem Maße vage – im gegebenen Zusammenhang etwa auch der des Volksliedes –, ohne gleich ihren Nutzen zu verlieren. Brunner schlägt indes eine Trennung der Begriffsbildung nach Inhalten oder Themen der Lieder sowie nach musikalischen Formen vor (ebd.,
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zugehörigen Entwicklungsprozesse vom Volks- oder Kunstlied hin zum Gesellschaftslied deutlich werden: 1. Volkslied › (mehrstimmig gesetzt:) Gesellschaftslied 2. Kunstlied › (folklorisiert:) Volkslied › (mehrstimmig gesetzt:) Gesellschaftslied 3. Kunstlied (einige Texte nicht von den Komponisten?) › (anonymisiert und mehrstimmig gesetzt:) Hofweisen-Tenorlied bzw. Gesellschaftslied Das Hofweisen-Tenor- und/oder Gesellschaftslied (dieses ist der umfassendere Begriff) ist, was den Text anbetrifft, ebenso anonym wie das Volkslied – aber es war nicht und wird nicht Volkslied, weil es keinen Umweg über eine mündliche Folklorisierung nimmt und die Gebrauchssituation und die darauf eingerichtete musikalische Form einen volksliedgemäßen Gebrauch ebenso wie schon bei den aus Volksliedern entwickelten Gesellschaftsliedern unmöglich macht.28 Die Anonymisierung das Hofweisen-Tenorliedes beruht also auf keinem mündlichen Umsinge- und Folklorisierungsprozeß, sondern hat andere Ursachen. Seine Tradierung wird – das ist neu und untypisch – über die Schrift abgewickelt. Die Sammler der frühen Liederdrucke (Erhart Öglin, Peter Schöffer, Arnt von Aich, Christian Egenolff, Heinrich Finck, Georg Forster, Johann Ott) entnehmen ihre Lieder grundsätzlich schriftlichen Vorlagen (anders wäre die Überlieferung eines mehrstimmigen Satzes gar nicht zu bewerkstelligen): einzelnen Blättern oder handschriftlichen Sammlungen, z. T. auch den vorhergehenden Liederdrucken, und die Lieder werden vom Blatt aus erlernt, gegebenenfalls auch vom Blatt abgesungen und -gespielt.29 Bei mehrstimmig gesetzten Liedern verbietet
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S. 718). Als übergreifende Bezeichnung bietet sich danach für die hier diskutierten Fälle die des Tenorliedes an. Für die Liederbücher des 15. Jahrhunderts reichen die aufgestellten Differenzierungskriterien nicht aus, um das Gesellschaftslied klar abzugrenzen, da sich hier mehrstimmige Sätze noch nicht durchgesetzt haben und die musikalische Form der Lieder oft nicht mitüberliefert ist. Dies läßt sich durch den Umstand belegen, daß etwa bei Egenolff wie auch in anderen Liederdrucken die Tenorstimme, die den Text singt, nur mit einer Textmarke zur Identifikation des Textes versehen und nicht durchgehend textiert wird, so daß der Sänger das Lied vor einer Aufführung erst einüben m u ß t e. Dann zeigt natürlich der Separatdruck der einzelnen Stimmen in den Liederdrucken sowie sein Format, daß man die Stimmen bei einer Aufführung auch einzeln heranzog, d. h. vom Blatt spielte oder spielen konnte.
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sich mündliche Tradierung. Der weitere Gebrauch der Lieder ist so konsequent auf Schrift gestellt, daß es nicht verwundert, wenn die bei Folklorisierungsprozessen übliche Varianz nicht zustandekommt. Verwunderlich ist dann aber doch, daß auch die Hofweisen-Tenorlieder als größte Gruppe der Gesellschaftslieder jenes zentrale Charakteristikum von Folklorisierungsprozessen – den Verlust des Verfassernamens30 – aufweisen, das damit in die Schriftlichkeit übernommen wird. Es wäre hier ja anders als bei mündlicher Tradierung ein Leichtes, ein neugestiftetes ‘Autorprinzip’ einzuführen und auf den Blättern die Verfassernamen zu bewahren. Und doch geschieht dies nie. Dies ist aber ein sehr auffälliger Befund, an den ich unten meine Überlegungen zur Entstehung des lyrischen Ichs anschließe. Übergesetzte Namen in den Liederbüchern (mehr oder weniger oft etwa bei Schöffer, Egenolff, Forster und Ott) bezeichnen den Komponisten des mehrstimmigen Satzes, was auch den Zeitgenossen ganz deutlich sein mußte, wenn sie etwa das genannte, weithin bekannte Lied Der walt hat sich entlaubet (in der Reduktionsform mit dem Titel Entlaubet ist der walde) bei Schöffer und Forster unter dem Namen Thomas Stoltzers, bei Egenolff unter dem Monogramm H. H. für Hans Heugel und bei Ott unter dem Namen Ludwig Senfls fanden. Die Kompositionen besaßen unzweifelhaft den Vorrang, wie es denn Forster auch bestätigt: Er läßt die Lieder “nicht der Text, sonder der Composition halben” drucken und geht dazu über, die Texte, wo sie nicht mehr zu bekommen sind, selbst neu zu dichten.31 Wie beim Volkslied zählt auch beim Gesellschafts- und/oder Tenorlied letztlich die Gebrauchssituation, und in dieser historisch neu sich formierenden Situation dominiert nun die Komposition. Der Text selbst des individuellen Kunstliedes wird, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie als bewahrenswertes Kunststück aufgefaßt und behandelt. Nun handelt es sich bei diesen Texten aber durchaus um Formkunst mit hohen Ansprüchen an die Reimbildung und den Strophenbau, z. T. um hochartifizielle Texte, deren Dichter gleichwohl anonym bleiben und es bis heute geblieben sind. Es gibt ein Dokument, das den Schluß nahe30
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Vgl. zur Anonymisierung die Hinweise von Wilhelm Schepping: Lied- und Musikforschung. In: Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Hrsg. von Rolf W. Brednich. Berlin 32001, S. 587-616, hier S. 595 f. Im Vorwort zum ersten Teil der ersten Auflage, S. 4.
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legt, die Komponisten hätten, wo sie nicht nachweisbar andere Lieder aufgriffen, die Texte zu ihren Liedern selbst verfaßt. Es handelt sich um einen Brief Paul Hofhaimers an den Humanisten Joachim Vadianus in Sankt Gallen, in dem Hofhaimer schreibt: Ich schik Euch hyemit ayn klaynes theutsches lyedlein meines pawes, nit fur ayn khunstlichs werckh, sonder seiner art nach und der wort halben, so ich mir selbs also diser zeyt neulich gemacht hab und villeicht, als ich acht, Euch dergleichen dyenen möcht. Und wann ich füran ettwas mer newer haben, wird ich Euchs auch schiken.32
Robert Eitner hat aus diesem Dokument geschlußfolgert: “[...] daher wird man nicht irre gehen, wenn man [für] die meisten Gedichte obiger Gattung [Eitner spricht mit Hoffmann von Fallersleben von Gesellschaftsliedern] den Komponisten auch als Verfasser des Gedichts ansieht”.33 Wußten oder schlossen dies auch die zeitgenössischen Sänger und Hörer bzw. die Musizierenden? Mir scheint das zweifelhaft und im übrigen auch Eitners Schluß in seiner Allgemeinheit durchaus unsicher.34 Alles spricht dafür, daß die Musizierenden sich wenig Gedanken über die möglichen Verfasser machten und an der Anonymität der Liedtexte nichts zu beanstanden fanden. Um das zu verstehen, ist auch die Situation des Singens und Spielens der Lieder noch näher zu beleuchten. Ich möchte vorher indes einen Liedtyp vorstellen, der als repräsentativ für
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Zitiert nach dem Abdruck des Briefs bei Moser, Paul Hofhaimer (wie Anm. 26), S. 55. Das Lied, das Hofhaimer mitschickt, liegt dem Brief heute nicht mehr bei, so daß es nicht zu identifizieren ist. Robert Eitner: Das deutsche Lied im mehrstimmigen Tonsatze aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Druck und Manuskript. In: Monatshefte für Musikgeschichte 37 (1905), S. 1-7, 17-19, 34-42, 49-60, 73-88, 107-134, hier S. 2. Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 440-443, findet ein weiteres Indiz für die Autorschaft der Komponisten in dem Traktat ‘Musica getutscht’ des Sebastian Virdung, wo Virdung implizit seine Kenntnisse im Strophenbau und in der Kunst des Reimens betont. Allerdings gibt es auch Indizien, die in die Richtung der städtischen Singschulen weisen. Diese hätten demnach Textvorlagen für die Hofkomponisten geliefert (vgl. ebd., S. 443445). Gegen die verbreitete Annahme, Akrosticha in den Liedern bezögen sich auf die Dichter (und nicht auf Gönner oder Adressaten) und der daraus abgeleiteten Autorschaft des Adam von Fulda für drei Texte aus Aichs Druck, bringt Petzsch (ebd., S. 441) gewichtige Einwände. Vgl. auch Brunner, Lied (wie Anm. 20), S. 123. Zu einem der wenigen unzweifelhaften Gegenbeispiele vgl. Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 441, Anm. 118.
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die Liebeslieder unter den Gesellschafts- und/oder Tenorliedern gelten kann. Im Liebeslied indiziert die häufige Verwendung von Monogrammen und Akrosticha zur textuellen Verschlüsselung weiblicher Vornamen35 eine eigentümliche Praxis: Die Verwendung erweckt den Eindruck, die Lieder seien zunächst konkret an eine Freundin oder Geliebte adressiert, wie immer sie diese erreichten und ein Akrostichon dann aufgelöst oder ein Monogramm ergänzt wurde. Eine konkrete Adressierung wird auch in Fällen ohne solche Verschlüsselung gelegentlich manifest: Liebeslieder erscheinen dann etwa regelrecht als Brieflieder, die der Adressatin offenbar übersandt wurden. Deutlich erkennbar wird dies z. B. in Strophe 1 eines bei Heinrich Finck gedruckten Liedes (Nr. 3): “Habs je getan auf guten wan, / ob mir tet glück entspringen – / aus diesem brief, der mir gar tief / mein junges herz tet zwingen.” Die Strophe endet mit den Worten: “glaub warlich das, / was ich dir hie tu klagen.”36 Die konkrete pragmatische Situation, in die sich Liebeslieder also zunächst einpaßten, dürfte in nicht wenigen Fällen in einer Übersendung im oder als Brief bestanden haben. In Liedern mit Monogramm oder Akrostichon macht die Verschlüsselung, wo sie denn wirklich als solche diente, aber nur Sinn, wenn der Verfasser gleichzeitig damit rechnete, daß ein weiterer Kreis von Hörern oder Lesern die Texte kennenlernen würde. Eine Beziehungskonstellation wäre demnach ins Lied eingeschlossen und einer Öffentlichkeit überantwortet worden, die – wenn sie sich nicht ganz nah am Entstehungskontext befand – gerade bei anonymer Übermittlung die Subjekte der Beziehung nicht mehr identifizieren konnte. Sofern die Lieder dann mehrstimmig gesetzt und musikalisch umgesetzt wurden, gerieten sie aber aus dem Entstehungskontext heraus, und die verschlüsselten Bezugnahmen blieben Sängern wie Hörern verschlossen.
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Vgl. dazu Hans Joachim Moser: Renaissancelyrik deutscher Musiker um 1500. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5 (1927), S. 381-413, hier S. 382 ff.; Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 438 f., und Brunner, Lied (wie Anm. 20), S. 126. Viele Akrosticha versucht Elizabeth Marriage (wie Anm. 13) in den Anmerkungen zu ihrer Ausgabe der Liedtexte Forsters aufzuschlüsseln. In Aich Nr. 35, Str. 3, wird ein Akrostichon auch im Liedtext aufgelöst. Einen Briefwechsel implizieren z. B. auch Aich Nr. 5, Nr. 34, Nr. 48, Forster I 108, 109 u. a. m.
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In der Verschlüsselung einer gleichwohl öffentlich präsentierten Beziehungskonstellation scheint ein besonderer Reiz zu liegen, und nicht wenige Lieder weisen sich als ‘Schlüssellieder’ deutlich aus, wenn sie das Monogramm, bei dem der mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzte Name der Frau deren Identität anonymisiert, gleich im ersten Vers bringen. Auch in Fällen, in denen hiermit keine bestimmte Frau mehr angeredet wird, wird dies doch immer suggeriert.37 Ich führe die Lieder, die sich einer entsprechenden monogrammatischen Anrede im ersten Vers bedienen, in der Form der oben (in Anm. 13) genannten Ausgaben und Faksimiles an (das Schaft-s bleibt unberücksichtigt): A., du mein trost und zuversicht (Öglin Nr. 7a) E scheidens gwalt / wie manigfalt (Schöffer Bl. 9; Egenolff [Gassenhawerlin] Nr. 23) Hertzliebstes A / sich an vnn schaw (Schöffer Bl. 27) Ach holtselgs. A / vernim vnnd schaw (Schöffer Bl. 30) Mit wee ich sag / dir G. mein clag (Schöffer Bl. 52) Ach hertzigs M. mein trew vernem (Schöffer Bl. 59; Forster I 126) Mein hertzigs A. und höchster hort (Aich Nr. 6; Egenolff [Gassenhawerlin] Nr. 32) Mein einigs A. ich dein beleib (Satz von Paul Hofhaimer) (Aich Nr. 12; Egenolff [Reutterliedlin] Nr. 28; Forster I 29) Mein M. ich hab dich auserwelt (Aich Nr. 41) F. Du mein schatz dein sue sses geschwatz (Egenolff [Reutterliedlin] Nr. 32) Mein herzigs G., ich ganz verste (Satz von Heinrich Finck) (Finck Nr. 938) Herz einigs M., mein treu erkenn (Satz von Heinrich Finck) (Finck Nr. 26) Mein herzigs K., erkenn mein schmerz (Satz von Heinrich Finck) (Finck Nr. 36) Ach edles N. mein eynger trost (Satz von Erasmus Lapicida) (Forster I 37) Ach B. nit brich durch klaffers stich (Forster I 54) Ein A. freundtlich schön und lieblich (Satz von Georg Forster) (Forster I 94) Ich beut dir da frundtliches A (Satz von Martin Wolff) (Forster I 118) O hertzigs S wie hoch mich des (Forster I 127) Mein freundlichs B weil zu der ehe (Satz von Georg Forster) (Forster III 7) Ach hertzigs E. ich ge noch ste (Satz von Stephan Zyrler) (Forster III 44) 37 38
Vgl. Moser, Renaissancelyrik (wie Anm. 34), S. 384 f. Vgl. dieses Lied auch in: Heinrich Finck. Ausgewählte Werke. Zweiter Teil. Messen, Motetten und deutsche Lieder. Hrsg. von Lothar Hoffmann-Erbrecht und Helmut Lomnitzer. Frankfurt a. M. 1981, hier Nr. 21 (Text auch auf S. 202). Ich beziehe mich im folgenden auf die Zählung der in Anm. 13 genannten Teilausgabe der Sammlung Fincks.
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E. schön und zart, von edler art (Satz von Ludwig Senfl) (Ott Nr. 38) Freundliches K.! verfährst mit ja (Ott Nr. 60)
Wenig mehr Beispiele sind handschriftlich nachweisbar,39 und in einer ganzen Reihe weiterer Lieder erscheint das Monogramm nicht im ersten Vers der ersten Strophe, sondern erst an späterer Stelle.40 Es gibt einige Vorläufer des Liedtyps im 15. Jahrhundert.41 Von einem Liedtyp zu sprechen, ist insofern nicht ganz korrekt, als es sich nicht in allen Fällen der Nutzung derartiger Monogramme gleichzeitig auch um Anredelieder handelt.42 Ich greife das meistüberlieferte Lied als Beispiel heraus und zitiere es nach Egenolff (auf eine adäquate visuelle Präsentation der Strophenform, um die auch die Drucker sich nie bemühen, verzichte ich43): Mein eynigs A. ich dein beleib / vÝ mich verschreib allweg dienstlich an deim gebott :|: A wie das gibt iezuo die zeit / des klaffers neidt / den schadenn fue gt eim zu dem spott. Mein zuuersicht / nit kue m er dich / mein lieb hab ich / in
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Vgl. bei Robert Eitner (wie Anm. 33) die Versanfänge: “A. freuntlichs weib, ich sag und schreib”; “Ach herzigs R.”; “K. dein bin ich, du frewest mich”; “M. dein bin ich”. So in Öglin Nr. 10 (= Egenolff [Gassenhawerlin] Nr. 35), Nr. 28, Nr. 29 (= Aich Nr. 58), Nr. 37 (= Forster I 63), Aich Nr. 13, Nr. 26, Nr. 46, Schöffer Bl. 8, Bl. 33 (das Monogramm hier jeweils am Strophenschluß), Bl. 38, Bl. 45, Bl. 51, Egenolff (Gassenhawerlin) Nr. 22, Egenolff (Reutterliedlin) Nr. 36, Finck Nr. 18, Nr. 24, Forster I 12, 46 (jeweils am Strophenschluß), 63, 67, 70, 72 (jeweils am Strophenschluß), 77, 98, Ott Nr. 43, Nr. 72. So in der Berliner Handschrift Germ. Fol. 922 (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts). Vgl.: Zwischen Minnesang und Volkslied. Die Lieder der Berliner Handschrift Germ. Fol. 922. Hrsg. von Margarete Lang. Die Weisen bearbeitet von MüllerBlattau. Berlin 1941, Nr. 38, wo die erste Strophe lautet: “Mijn hertz smeltzit mir zam der sne droch eynen tsersen lijf. / Ich meyne eyn B en oec een E, / mijn dienst zal stedeliken by haer bliven.” Dann auch im Königsteiner Liederbuch (ca. 1470). Vgl.: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersuchungen 29), Nr. 84, wo es in Strophe III heißt: “du werdeß E / ie lenger ie me / liebestu mir an alles schuwen”, und wo dem Lied als Nachschrift folgt: “E / Nach dem hoffe ich / J V S”, und Nr. 139, wo die Strophe V beginnt mit: “Ein früntlich B / zwar itz als eh, / [...] / brech mir das wee.” Forster I 37 und 126 (hier wechselt auch das Monogramm) sind Wechsel, Forster I 94 ist durchweg ohne Anrede in der Berichtsform der klassischen Kanzone gehalten und Forster I 118 ein Dialoglied. Vgl. die Überlegungen von Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 418-425.
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rechter trew zu dir gekert / vÝ bleib gantz frei / glue ck won vns bei / zu freuden stets gantz vnuersert. Ob ich mit wesen von dir bin / doch bleibt mein sinn / in lieb on falsch allweg bei dir :|: Vnd halt mich dein geh wie es woe l / nit von mir stell / mein hort bedenck der lieb an mir. Was frue cht die selb vns bringen mag / auch wirt all tag / durch mich dein lob mit fleiß gemert / vnnd bleib gantz frei / glue ck won vns bei / zu freuden stets gantz vnuersert. Ob ich schon nit bin dein geleich / ich ie nit weich / in keynen weg von deiner zir :|: Was mir dein zucht vertrawenn mag / das selb ich trag / allweg inn still heymlich bei mir / Meinr lieb ich dir / vor anndern gan / biß zweifels an / du bist die recht die mich ernert / vnnd bleib gantz frei / glue ck won vns bei / zu freuden stets gantz vnuersert.
Vielleicht muß es in Strophe 2 “Was frue cht die seld vns bringen mag” heißen.44 Mit “Mein zuuersicht” in Strophe 1 wird wohl die Freundin angesprochen und aufgefordert, sich um die Nachrede der Klaffer nicht zu kümmern – infolge der hervorstechenden Neigung zur Bildung zweihebiger Kurzverse macht die Syntax der Lieder gelegentlich Schwierigkeiten.45 Paul Hofhaimer hat den Satz des Liedes besorgt, er wird in diesem Fall mit einiger Sicherheit auch der Dichter gewesen sein.46 Wie kunstvoll der Text gemacht ist, wird an dem den Refrain einleitenden Reim deutlich, der über die Strophen hinweg reimt: Auf “vnuersert” reimen also “gekert” in der ersten, “gemert” in der zweiten und “ernert” in der dritten Strophe.
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Da eher das Glück als die Liebe eines Mannes Früchte zu bringen vermag. Folgen eines unbekümmerten Gebrauchs der Texte beobachtet Wilhelm Heiske bei Forster: “Eindeutig verstellte oder verdorbene Reime bleiben stehen, und offenbarer Unsinn wird bis zur fünften Ausgabe mitgeschleppt [...].“ Georg Forster: Frische Teutsche Liedlein (1539-1556). Erster Teil.: Ein Außzug guter alter und neuer teutscher Liedlein (1539). Hrsg. von Kurt Gudewill. Textrevision von Wilhelm Heiske. Wolfenbüttel, Zürich 1942 (= Das Erbe deutscher Musik 20), S. XII. Vgl. zur Bildung von Kurzversen Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 419 f. u. ö. Es gibt Indizien dafür: Das Lied teilt mit einem anderen von Hofhaimer vertonten Lied (Öglin Nr. 18) die auffällige Gestaltung des Refrains, der hier ebenfalls in den verschiedenen Strophen, denen er angehängt ist, wechselnde Reimwörter findet. Vgl. Moser, Paul Hofhaimer (wie Anm. 26), S. 75. Dies dürfte zumindest für denselben Textdichter sprechen. Vgl. zum Lied sonst ebd., S. 152.
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Der Inhalt erscheint allerdings einfach und aus auch sonst immer wiederkehrenden Stereotypen aufgebaut: Treuezusage (hier mit Dienstangebot als Reminiszenz an die Minnekanzone); Gefahr durch “klaffer” (die in vielen Liedern immer wieder genannten Gegner der Liebesbeziehung); Ausrichtung der Gedanken auf die Freundin auch bei Trennung von ihr; Aufforderung an die Freundin, es ebenso zu halten; Bereitschaft, sie allezeit zu loben (als weitere Reminiszenz an die Minnekanzone); Zusicherung der Verschwiegenheit; Zerstreuung von Zweifeln usw. Was in der Minnekanzone nach außen gekehrt und in der Form eines Berichts den Zuhörern vorgeführt wird, erscheint hier über die Anrede der Freundin und die bloße Ausrichtung auf sie allein textuell in sich abgeschlossen, gleichsam abgekehrt vom Publikum, wie es einem Vortrag lauschen könnte. Anredelieder überwiegen beim Liebeslied des 16. Jahrhunderts die in der Minnekanzone vorherrschende Berichtsform bei weitem. Bezugnahmen auf die anvisierte Vortragssituation wie z. B. noch in einem Lied des Lochamer-Liederbuchs (Lied Nr. 1, Str. 1,1-2: “Mein mut ist mir betrübet gar, / das hört man an meinem singen”, hier plante der Dichter offenkundig einen dem Wortlaut gemäßen Vortrag), wie sie für Minnekanzonen als vorweggenommene Einrichtung der Texte auf konkrete Vortragssituationen selbstverständlich sind (vgl. etwa Morungen in MF 141,8), sterben gänzlich aus.47 Der Inhalt der Lieder wird vor möglichen Vortragssituationen oder Situationen des Singens konsequent abgeschirmt. Dies ist aussagekräftig sowohl für die Liedinhalte als auch für eine zunächst private Funktion und hierfür ausdrücklich etablierte Form der Lieder. Die für das Lied Hofhaimers genannten inhaltlichen Textbausteine begegnen über sämtliche Liebeslieder der Liederdrucke hin, die in der Mehrzahl ihrerseits Anredelieder darstellen. Diese formen immer wieder eine sich selbst genügende Situation von Intimität auf Distanz zwischen den Partnern der Liebesbeziehung. Einige Lieder des von mir untersuchten Typs setzen eine konkrete, zwischen den Partnern eingetretene Situation voraus: So diejenigen, die sich auf einen bevorstehenden (Schöffer Bl. 30) oder eingetretenen Abschied (Schöffer Bl. 9) beziehen oder aus der Ferne verfaßt sind (Schöffer Bl. 52). Einmal ist ein konkreter Abschied vorhergegangen, an
47
Mir ist kein einziges Beispiel bekannt.
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den der Verfasser die Freundin erinnert (“du weist wie ich / von dir abschid”, Schöffer Bl. 9, Str. 3). Ein andermal erinnert der Verfasser die Freundin an ein gegebenes Versprechen und schließt an: “ich bit auch denk / der guten schwenk / die gschahen bei uns beiden” (Aich Nr. 41, Str. 3). Einmal scheint es zu einer Auseinandersetzung gekommen: Der Verfasser fordert die Freundin auf, an der Beziehung festzuhalten (“Lieb hat kein Masz! / bedenk fürbasz / die Sach”, Ott Nr. 38, Str. 3) und will auch selbst nicht ablassen (“so wär’s doch schad, / dasz ich dich liesz”, ebd.). Schließlich blüht das Gemüt eines Verfassers in Freuden “als ietz der mey” (Egenolff [Reutterliedlin] Nr. 32, Str. 1). In allen Liebesliedern scheint entsprechend, wie konkret auch immer darauf angespielt wird, eine Beziehung der Partner vorausgesetzt. Zu überlegen wäre, ob im Ausnahmefall auch einmal ein Auftragslied vorliegen könnte. Nach Elizabeth Marriage könnte Forster III 7 ein Hochzeitslied für einen Bekannten Forsters darstellen: Der Ehemann verpaßt der Angetrauten eine Ehelehre, die sie auf ein biederes Hausfrauenleben einstimmt. In allen anderen Fällen befinden sich die Partner dagegen, wie überhaupt im Liebeslied dieser Zeit, in einer noch nicht endgültig fixierten Beziehung und in einer durchaus prekären Distanz, die überbrückt werden muß – u. a. durch die Lieder selbst mit ihren Treuezusagen. Besondere Gefahr droht insbesondere deshalb von den Klaffern, weil sie die Partner beieinander anschwärzen. Sie lösen also weniger die höfischen Merker ab, die eine illegitime Beziehung durch Mitteilung an den Ehemann verhindern sollen, sondern bringen die Partner je voreinander in Mißkredit, indem sie Gründe zum Zweifel an ihrer Treue kolportieren. So heißt es z.B. “Darumb mein schatz / des klaffers schwatz / der mich gen dir in ander mas :|: Versagen wolt / nit glauben solt / [...]” (Schöffer Bl. 30, Str. 3) oder “Ach b. nit brich / durch klaffers stich / dein trew an mir” (Forster I 54, Str. 1) – “des klaffers schwatz” oder “stich” ist denn auch grundsätzlich zu fürchten.48 Ein Verfasser fordert die Freundin auf: “Schlag klaffers tück / als ich zurück” (Egenolff [Reutterliedlin] Nr. 32, Str. 3), und ein weiterer bittet, Klaffern kein Gehör zu schenken (Finck Nr. 28, Str. 2). Im Fall des einzigen Liedes in Berichtsform (Forster I 94) haben Klaffer erreicht, daß der Mann die Freundin meiden muß.
48
Vgl. z. B. auch Aich Nr. 16, Str. 3 und Nr. 66, Str. 2, Schöffer Bl. 59, Str. 3, Forster I 13, Str. 3 u. ö.
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Die Angst vor der Untreue – auch beim Mann, der in Forster I 54, Str. 1, offenbar zum zweiten Mal zu ihrem Opfer würde – läßt die prekäre Ungewißheit, in der sich beide Partner befinden, deutlich werden. Das kann auch einmal zu der Bitte um eine konkrete Reaktion der Freundin führen (“send doch bescheid dem diener dein”, Aich Nr. 6, Str. 3).49 Aus der Ungewißheit erklärt sich das Einfordern von Gegenseitigkeit: “Halt nur an mir / als ich an dir / so dorffen wir keins zweifels nit” (Schöffer Bl. 52, Str. 3). In Aich Nr. 41, Str. 2, hat der Verfasser beteuert, sich für die Zeit seines Lebens der Freundin zu eigen ergeben zu haben. Dann heißt es: “Mein M. ich bit tu auch dergleich / als du dan mir versprochen hast. / Wan ich in kein weg von dir weich / [...].” (Str. 3) Dies läßt sich auch als Bedingung formulieren: “Liebst anderst mich, / als ich dan dich; / so wirstu das geniessen” (Finck Nr. 28, Str. 2). In einer Situation gegenseitiger Ungewißheit kommt der Glaubhaftigkeit der Treuebekundung ein besonderes Gewicht zu. Deshalb die Treuehyperbolik: Zu keiner Zeit, an keinem Ort gerät die Freundin dem Verfasser aus dem Sinn, der ohne Unterlaß an sie denkt, ewig ist er ihr eigen, will immer bei ihr sein, ihr dienen usw. Sie ist die Einzige, deshalb muß die Ausschließlichkeit der Bindung herausgestellt werden: Vor allen anderen ist sie ausgewählt worden (vgl. “Ach B betracht / das ich dich acht / für alle welt / mir kein gefelt / dann du mein rein”, Forster I 54, Str. 3), und gegen nichts kann sie aufgewogen werden (vgl. “das solst mein schatz glauben / das ich mir dich / vor alles reich / der gantzen welt wil haben”, Forster I 127, Str. 2). Kaum je schließt an ihre ‘Einzigkeit’ eine darauf abgestellte Beschreibung, sehr selten schließt sich ein Hinweis darauf an. So zeigen etwa die Leute mit dem Finger auf die Unvergleichliche (Schöffer Bl. 59, Str. 1). Eher wird genannt, was sie bewirken kann: Bei ihr allein ist die Arznei, die den Partner heilen kann (Forster I 37, Str. 2), und ihr rotes Mündchen wendet seine Not (Schöffer Bl. 27, Str. 2). So soll sie ihn “ergetzen” für seine Pein (Schöffer Bl. 9, Str. 2). Im Ausnahmefall wird ihr Aussehen und ihr Körper beschrieben, dann verschafft sich auch einmal das Begehren unverhohlen Ausdruck (Forster III 44). Nicht selten wird die monogrammatische Anrede durch alle (meist drei) Strophen eines Liedes hindurchgeführt. In wenigen Fällen wechselt das Monogramm, ausnahmsweise kann dies ein Fehler sein (so vielleicht
49
Zu einem jeweils implizierten Briefwechsel vgl. die Hinweise in Anm. 36.
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in Schöffer Bl. 9, Str. 3). In Schöffer Bl. 52 wechselt das Monogramm in jeder Strophe – da die Monogramme im Reim stehen, ist dies beabsichtigt. Im Dialoglied Forster I 118, Str. 3, sowie 126, Str. 3, erhält der Mann von der Freundin seinerseits ein Monogramm zugewiesen. Einmal wird das Monogramm auch Anlaß eines Spiels mit dem Buchstaben: “Dan deines nams / im anfang ist / der buchstab A ob allen; / auch libt er mir / aus herzen gir, / wil tun nach seinem gfallen”, Öglin Nr. 7a, Str. 1). Man kann die Eigenart des Hofweisen-Tenorliedes, das durch den von mir herausgegriffenen Liedtyp repräsentativ vertreten wird, im Kontrast zur höfischen Minnekanzone beschreiben: Vollzieht diese eine Werbung vor Zuhörern, so ist jenes einer bereits angebahnten Beziehung – von Zuhörern und fremden Ohren ganz abgewandt – gewidmet. Die sogenannte Hohe Minne hat sich als kulturelle Praxis verloren und lebt nur mehr in wenigen textuellen Stereotypen nach. Auch wenn diese einer Beziehungsdefinition in durchaus herkömmlicher Manier dienen sollen, geht im Gefolge der grundlegend veränderten Gebrauchssituation mit der Anonymisierung beider Partner auch die Anonymität des Verfassers einher, der nicht mehr privilegierter Sänger seiner Lieder ist: Dies aber ist für die Minnekanzone ursprünglich ganz undenkbar, da deren Dichter die Art ihrer Beziehungsdefinition unmittelbar selbst bezeugen. Die Adaptation Hoher Minne durch das Bürgertum erfolgt im übrigen im Rahmen einer umfassenden Diffusion höfischer Kulturmuster im Spätmittelalter. Die Muster büßen jeglichen höfischen Avantgardismus ein und werden zu allgemeinen Standesmerkmalen. Gegenüber einer solchen Beschreibung hat Burghart Wachinger sich zurückhaltender auf die reinen Liedinhalte beschränkt und im Sinne einer Unterstellung allgemeiner Gattungseigenschaften von Lyrik zugleich umfassender auf die je unterschiedlichen Sprechsituationen ‘im Lied’ hingewiesen: Das Lied der Hohen Minne präsentiere eine “Situation des Liebesanfangs”, in der das sprechende Ich einseitig von Liebe betroffen sei, das monologische Liebeslied des jüngeren Typus (im 15. Jahrhundert der Vorläufer des späteren Hofweisen-Tenorliedes) setze dagegen Liebe als gegenseitig bestehend voraus.50
50
Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29, hier S. 20 f.
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Ich sehe hier die Gefahr der Begünstigung einer charakteristischen Flachsicht, wenn man sich auf abstrakte Sprechsituationen ‘im Lied’ zurückzieht und beschränkt.51 So ist in das Lied der Hohen Minne ein Publikumsbezug auf vielfältigste Weise hineingenommen (in Anreden, Beteuerungen, Rückbezügen auf Reaktionen des Publikums, in der Berichtsform mit ihrem Bezug auf die Dame in der 3. Person usw.), der aus dem Liebeslied des 15. und 16. Jahrhundert vollständig herausgefallen ist: Es gibt keinerlei Publikumsbezug. Stattdessen zeigt sich der Liebende vollständig der Freundin zugewandt. Das neuartige Liebeslied hat denn auch keine Dichter, die sich darauf einrichten, ihre Lieder ausschließlich selbst öffentlich vorzutragen,52 sondern die Verfasser scheinen – wenn sie es denn im 15. Jahrhundert schon ins Kalkül ziehen, im 16. Jahrhundert rechnen sie indes damit – hinzunehmen, daß ihre Lieder von anderen gesungen werden. Sie anonymisieren Entstehungskontexte ja z. T. explizit über die Monogramme und die beim Singen nicht evidenten Akrosticha und spielen damit, Beziehungskonstellationen, wenn es sich nicht um fiktive handelt, zu anonymisieren. Im Fall fiktiver Beziehungen müßten solche dann nur vorgeblichen Anonymisierungen als Versuch gelten, eine tatsächliche Existenz der Beziehungen zu suggerieren. Die Dedikationsfunktion der Lieder im Rahmen einer tatsächlichen Liebesbeziehung ist allerdings in keinem Fall mehr konkret nachweisbar, sondern bleibt den Liedern nurmehr über ihre Form (besonders bei Anredeliedern mit Rückbezug auf eine gemeinsam erlebte konkrete Situation) eingeschrieben. Schon die zeitgenössischen Musikliebhaber, die sich die Lieder aus den Liederbüchern aneigneten, waren angesichts einer Aufschlüsselung oder Bewertung der Lieder als ursprünglich persönlicher Botschaften oder gegebenenfalls als fiktiver Imitate der entsprechenden Liedform in keiner besseren Lage als heutige Interpreten. Kanzonen des Minnesangs und Liebeslieder des 15. und 16. Jahrhunderts signalisieren schon über die Gestalt ihrer Texte ganz unter51
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Einher geht die Veranschlagung eines umfassenden Lyrikbegriffs, der eine Verzahnung des Wortlauts von Liedern (die in Anbetracht ihrer medialen Verfaßtheit leichter auf die unmittelbare Rezeptionssituation ausgreifen können als Leselyrik) mit konkreten Gebrauchssituationen für irrelevant erklärt. Eine Einbettung der Liedinhalte in Handlungssituationen wird von vornherein ohnehin relativiert. Die zu Beginn meines Beitrags angeführten Fälle eines Nachsingens von Minneliedern scheinen zunächst eher Ausnahmen darzustellen, und die schmale Überlieferung von Liedern bekannter Dichter im Korpus von Nachsängern ist wenig signifikant.
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schiedliche Formen der gesellschaftlichen Einbettung. Auch wenn man die Werbung in und mit der Minnekanzone und die Ausrichtung auf eine bestehende Beziehung im späteren Liebeslied gleichermaßen für reine Liedfiktionen zu halten geneigt ist, wird man Unterschiede nicht nivellieren können, wie sie an den Liedtexten unübersehbar sind und auf einen grundsätzlich unterschiedlichen Gebrauch der Lieder schließen lassen. Vortrag durch den Dichter selbst und das (nachträgliche) Singen anonymisierter und gegebenenfalls unabhängig vertonter Lieder durch Musikliebhaber sind zu unterschiedliche Formen des Gebrauchs, um ganz übergangen werden zu können. Ich möchte für die Liebeslieder des 15. und 16. Jahrhunderts und ihre Texte zwei deutlich trennbare Funktionszusammenhänge unterscheiden und im folgenden näher beleuchten: einen Entstehungskontext mit einer möglichen privaten Funktion bei zumindest einigen Liedern und einen hiervon getrennten öffentlichen Gebrauch im Zuge bloßen Singens. Orientiert man sich für den Entstehungskontext von Liebesliedern an der Kernepisode aus Georg Wickrams Goldtfaden, so erscheinen beide Funktionen zunächst noch nicht getrennt. Die Lieder verschlüsseln tatsächliche Beziehungskonstellationen vor der Hoföffentlichkeit und sind doppelt adressiert: an die Mitglieder des Hofs und gleichzeitig an die Umworbene, die sich unter den Zuhörern befindet und ihnen bekannt ist. Angliana wird über Lewfrids Klagelied an die Armut auf ihn aufmerksam und will herausbekommen, ob er sein Lied “von ir oder einer anderen gesungen hett”.53 Sie verehrt ihm spöttisch einen wertlosen Goldfaden, den er indes als Zeichen der Beziehung in seine Brust einnäht und ein weiteres Lied dazu dichtet (vgl. Str. 2,7-9: “In starckem schrein / und hertzen mein / Ist diser faden behalten”). Lewfrid lernt sein Lied auswendig und singt es bei Gelegenheit am Hofe vor. Nur er und Angliana können beim Vortrag wissen, was eigentlich im Lied verhandelt wird. Angliana bestellt ihn darauf heimlich zu sich ein, um endgültige Gewißheit über den Verbleib des Fadens zu erhalten. Lewfrid gibt vor, den Schlüssel zu dem Behältnis – jenem “schrein” – in seinem Gemach aufzubewahren, er holt dann sein scharfes Schreibmesser und schneidet
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Georg Wickram: Der Goldtfaden. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1968, S. 27.
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sich den Faden aus seiner Brust wieder heraus: ein Liebesmartyrium,54 das Angliana so sehr berührt, daß sie sich ihrerseits in ihn verliebt. Der Faden war also in gewissem Sinne doppelt verwahrt: als konkretes Beziehungszeichen dem Körper Lewfrids einverleibt und daneben in seiner Bedeutung dem Liedtext anheimgegeben, den Zuhörer am Hof nicht vollständig entschlüsseln konnten. Das Schreibmesser symbolisiert in seinem Gebrauch durch Lewfrid diese doppelte Verwahrung im Körper und in der Schrift.55 Soweit aber nur der Entstehungskontext mit der primären Funktion der Liebeslieder Lewfrids, ohne daß sich hier die sekundäre Funktion eines öffentlichen Gebrauchs der Lieder emanzipiert hätte. Das Verschlüsselungsspiel gründet im Entstehungskontext. Wie Lewfrids Lieder gegebenenfalls weitervermittelt worden wären, erzählt Wickram nicht. Man hätte sie auf Blättern aufgezeichnet weitergegeben, und irgendwo, wenn er nicht gleich schon bei der Aufzeichnung unterdrückt wurde, wäre der Verfassername abhanden gekommen. Die Schlüssellieder, die ich meinen Überlegungen zugrundelege, suggerieren nun eine parallele Entstehungssituation. Die Verschlüsselung erklärte sich – wenn diese Suggestion der Wirklichkeit entspräche – daraus, daß die Dichter mit dem Vortrag oder einer Verbreitung der Lieder im Rahmen einer weiteren Öffentlichkeit rechneten, der sie den Namen der Freundin nicht preisgaben.56 Vielleicht scheint die Annahme eines entsprechenden Entstehungskontexts naiv, aber es ist daran zu erinnern, daß eine Reihe von Formen des Liebesliedes gerade im 15. Jahrhundert aus der Funktion der persönlichen Botschaft bzw. einer Art Brieffunktion zu erklären ist. Diese Brieffunktion mag ihrerseits auf die Minnekanzone zurückgehen, wenn man etwa an einige Lieder Friedrichs von Hausen (z. B die Verse MF 48,19 54
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Es erinnert an eine asketische Selbstverstümmelung des eigenen, Christus zu widmenden Körpers, wie Heinrich Seuse sie in seiner Vita beschreibt: Er ritzt sich das abgekürzte nomen sacrum ‘IHS’ in die Brust. Ich folge Armin Schulz: Texte und Textilien. Die Entstehung der Liebe in Georg Wickrams ‘Goldfaden’. In: Daphnis 30 (2001), S. 53-70, hier S. 62-66. Sappler (wie Anm. 41), S. 8, möchte für die Entstehung der Lieder des Königsteiner Liederbuchs annehmen, “Mitglieder eines Freundeskreises hätten einander und ihren Angebeteten Aufzeichnungen der Lieder geschenkt”, und vermutet, daß “einige Liednachschriften die persönlichen Beziehungen eines Kreises von Verliebten zu spiegeln scheinen”. Dafür könnten in der Tat die Monogramme der Liednachschriften sprechen.
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und 51,27-28) sowie an die Lieder und gereimten Büchlein Ulrichs von Liechtenstein denkt. Nun werden aber im 15. Jahrhundert die Formen des jahreszeitlichen Liebesgrußes und des kurzen, gereimten Liebesbriefs besonders populär,57 und eine Reihe weiterer Liedformen scheint je als persönliche Botschaft aufgefaßt zu werden.58 Diese Funktion von Liebesliedern erhält sich mindestens bis ins 17. Jahrhundert59 (wenn nicht viel länger). Gesteht man eine solche primäre Funktion auch für die Liebeslieder der frühen gedruckten Liederbücher zu, die Form und Funktion neu etablieren, so ist aber doch der Gebrauchskontext dagegenzustellen, den die Liederbücher widerspiegeln, und in diesem Kontext mußte sich der Charakter einer persönlichen Botschaft sehr schnell und vollständig verlieren. Gesellschafts- oder Tenorlieder sind Lieder, die von einer Gruppe musizierender Laien für den eigenen geselligen Umgang vereinnahmt werden, gleichviel wie sie entstanden sind. Es gebe keine schönere Kurzweil, läßt Forster verlauten,60 “denn die lieblichen Musick”. Gebe es doch bei allen anderen Unterhaltungsarten immer Gewinner, die sich hervortäten, und Verlierer: Die Musik allein aber glänze durch die “einigkeit der stimmen”. Es ist leider nicht mehr auszumachen, wo genau die Naht zwischen diesem neuartigen Gebrauchskontext von Liedern zu einem Entstehungskontext, wie ich ihn umrissen habe, verlief und wie Lieder aus diesem
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Zum Neujahrsgruß vgl. Arne Holtorf: Neujahrswünsche im Liebesliede des ausgehenden Mittelalters. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des mittelalterlichen Neujahrsbrauchtums in Deutschland. Göppingen 1973, der zu rekonstruieren versucht, wie Neujahrslieder “im privaten Raum Funktion [übernehmen], indem sie zwischen zwei Menschen eine bestimmte Form von Liebesbindung herstellen sollen” (S. 305). Zum gereimten Liebesbrief vgl. Jürgen Schulz-Grobert: Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften. Untersuchungen zur Überlieferung einer anonymen Kleinform der Reimpaardichtung. Tübingen 1993 (= Hermaea 72), der sich in der Frage nach den realen Existenzbedingungen der Texte betont zurückhaltend verhält, in ihnen schließlich aber doch den “Vorläufer einer mit unterschiedlicher Intensität bis in die Neuzeit wirksam gebliebenen Tradition konfektionalisierter Glückwunsch- und Grußpoesie” sieht (S. 167). Etwa das Abschiedslied. Vgl. Sittig (wie Anm. 25), S. 283-298. Ein Beispiel aus dem Raaber Liederbuch diskutiert Christoph Petzsch: Einschränkendes zum Geltungsbereich von ‘Gesellschaftslied’. In: Euphorion 61 (1967), S. 342348, dessen Überlegungen ich mich anschließe, ohne seine Kritik am Begriff des Gesellschaftsliedes zu übernehmen. Im Vorwort zur vierten und fünften Ausgabe, S. 6.
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Kontext in jenen überwechselten. Wie neu der Gebrauchskontext indes ist, hat Heinrich Besseler umrissen: Wohlvertraut ist vom 14. bis zum 16. Jahrhundert und darüber hinaus die musikalische Darbietung autonomer Musik (Profanmusik) durch Berufsmusiker besonders im Rahmen von Festen. Daneben gibt es spätestens seit 1430 [zunächst am burgundischen Hof, in Deutschland zuerst faßbar mit dem Lochamer-Liederbuch 1452, H. H.] Umgangsmusik: ein Selbstmusizieren von Liebhabern, das immer größeren Umfang annimmt und für das Zeitalter insgesamt wohl charakteristischer ist als die Musikdarbietung.61
Besseler wertet eine größere Zahl von zeitgenössischen Bildzeugnissen aus und kommt u. a. zu dem Schluß, “daß der höfische Musikliebhaber damals [...] auch ohne jede Hilfe Mensuralmusik singen gelernt hat”,62 wobei allerdings das gemeinsame Musizieren mit Berufsmusikern der neuen Praxis zunächst auf die Sprünge half.63 Die Liederdrucke ermöglichen auch dem Bürgertum diese gehobene Unterhaltung, die der bürgerliche ‘Dilettant’ Forster vom “gar grossen vnfletigen sewischen sauffen, vnd zenckischen hedrischen spilen” abzugrenzen sich bemüht.64 Man kann die kleinformatigen Stimmbücher mit sich nehmen – auch ins Freie –, um sich der “einigkeit der stimmen”, ihrem harmonischen Zusammenklang, zu überlassen. In diesem Gebrauchskontext spielt eine persönliche Widmung der Lieder, spielt überhaupt der Text eine nachgeordnete Rolle. Es ist vielmehr anzunehmen, daß der Boom des Gesellschafts- oder Tenorliedes Rückwirkungen zeitigt und eine neue Art der Entstehung von Liedern begünstigt – und hier bin ich endlich bei meinem Thema: der Entstehung eines lyrischen Ichs.65 Denn sind bestimmte Liedformen einmal etabliert, so kann eine private Funktion entfallen, indem die Texte allein für den
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Heinrich Besseler: Umgangsmusik und Darbietungsmusik im 16. Jahrhundert. In: Archiv für Musikwissenschaft 16 (1959), S. 21-43, hier S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., S. 28 f. Zur neuen Praxis vgl. auch Heinrich Besseler und Peter Gülke: Schriftbild der mehrstimmigen Musik. Leipzig 1973 (= Musikgeschichte in Bildern 3, Lieferung 5), bes. S. 108 f. In der Widmung zum dritten Teil, S. 112. Ich vermeide die Rede von ‘dem’ lyrischen Ich, da es sich um eine vage Größe handelt, die auf verschiedene Weise zustandekommen kann.
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sekundären Gebrauch imitiert werden. Dann entsteht ein solches Lied ganz anders denn als Beziehungszeichen und ist nur dem Anschein nach adressiert. Dies könnte nun aber bei allen Liedern, deren Texte die Komponisten zum Zweck der Vertonung selbst verfaßten, der Fall sein. Sie mußten ja wissen, welchen Gebrauch man von ihren Liedern machen würde, und sie richteten sie für diesen Gebrauch selbst ein. Dazu brauchten sie Texte, die sie sich im Hinblick auf die Vertonung selbst schneiderten – ein privater Anlaß war nebensächlich.66 Dann nahmen sie aber gegenüber ihren Texten eine charakteristische Haltung ein: Sie schufen sie unmittelbar für den öffentlichen Gebrauch und imitierten dazu eine vorhandene Liedform. Die Suggestion einer privaten Funktion behielten sie bei. So muß man es sich wohl für die Lieder Hofhaimers vorstellen. Hier waren also keine Dilettanten am Werk, sondern professionelle Musiker, die indes als Liebesdichter dilettierten. Vielleicht erklärt das die Stereotypie der Texte, die ein HerzSchmerz-Vokabular noch nicht scheuen, die indes oft auch eine beachtliche Eindringlichkeit erreichen. Es scheint, daß sich mit dem Wegfall der privaten Funktion ein Imaginationsraum eröffnete, der Texte ohne jegliche konkrete situative Bindung – sei es an Vortragssituationen oder im Sinne einer Adressierung – zu entwerfen erlaubte. Ein solcher Imaginationsraum kann auch das Ich affizieren, wenn es selbst Gegenstand der Imagination wird. An dieser Stelle bringe ich das lyrische Ich ins Spiel: Die Rede davon ist meist nicht mehr als eine methodologische Floskel, die dafür sorgen soll, den Interpreten vor dem Verdacht zu bewahren, er beziehe den Inhalt eines Gedichts auf die für die Interpretation irrelevante Biographie des Dichters und identifiziere dazu diesen Dichter mit demjenigen, der im Gedicht ‘ich’ von sich sagt. In der Regel bleibt die Begriffsverwendung dabei ein literaturwissenschaftliches Feigenblatt und eine disziplinär verabredete Sprachregelung, die ein Problem eher verdeckt, als es bewußt zu machen oder gar zu lösen. Wenn es richtig ist, daß an der sprachlich-ästhetischen Form eines Gedichts oder Liedes nichts durch die Biographie des Dichters erklärt wird, so besagt dies noch nichts darüber, wie dieser ‘ich’ im Gedicht oder Lied tatsächlich verwendet und 66
Petzsch, Hofweisen (wie Anm. 7), S. 433-438, betont für eine Reihe von Fällen die Vorgängigkeit der Texte und setzt einen nachträglichen melodista an. Eine dagegen von vornherein in Angriff genommene Abstimmung von Text und Melodie bedürfte hier noch der differenzierenden musikwissenschaftlichen Analyse.
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den Inhalt daraufhin bezogen wissen will. Rhythmus, Reim sowie jede Form der Distanz zur Alltagssprache oder der sprachlichen Stilisierung und Artifizialität bringen darüber keine Entscheidung. Eine einsinnige Lösung ist hier überhaupt nicht zu haben, weder historisch noch systematisch. Eine erste Annäherung an das Problem kann davon ausgehen, daß das lyrische Ich entweder eine psychische oder eine textuelle Instanz ist. Gelegentlich erkennt man entsprechende intuitive Konzeptualisierungen daran, daß entweder vom lyrischen Ich des Dichters oder vom lyrischen Ich des Gedichts die Rede ist. Vom Ich überhaupt wird man zuerst im Sinne einer psychischen Größe sprechen, wie es etwa die Psychoanalyse getan hat.67 Dichter wie Gottfried Benn haben das schöpferische Zentrum des Dichters in einer Art Rausch der Selbsterfahrung gesehen, und hier ist es offensichtlich, daß das lyrische Ich vom Dichter als Zustand seiner selbst in Erfahrung zu bringen ist.68 Es wäre danach eine Instanz, die der Dichter in seiner eigenen Psyche ausfindig macht und bereitstellt, um zu dichten. Im weiteren läßt sich eine Konzeption des lyrischen Ichs hiermit verbinden, nach der Dichter ihr jeweiliges Verhältnis zur Welt ausloten und paradigmatisch artikulieren.69 Die Literaturwissenschaft tendiert indes eher dazu, das lyrische Ich als eine rein textuelle Instanz zu begreifen. Diese kann nur vom Dichter (ein-)gesetzt, dem Text instantiiert werden. Im Fall von Rollengedichten – einem besonderen Fall, der gerade kein lyrisches Ich aufweist – wird eine solche Einsetzung immer explizit signalisiert (oft schon im Titel), so daß kein Zweifel darüber besteht, ‘wer spricht’, sei dies eine Person bzw. Figur oder ein Gegenstand. Bei Epigrammen besorgt dies allein der Umstand der Aufschrift auf dem Gegenstand. Hierdurch kann der Gegenstand zum ‘Sprecher’ deklariert werden. Im Gegensatz zur Bestimmtheit des Sprechers im Rollengedicht oder -lied ist und bleibt ein lyrisches Ich aber unbestimmt. Seine Instantiierung erfolgt implizit. Dies macht 67
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Vgl. Jean Laplanche und J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1973, unter ‘Ich’ und unter ‘Topik, Topisch’. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Gesammelte Werke. Erster Band. Essays. Reden. Vorträge. Wiesbaden, München 31977, S. 494-532 (zuerst 1951), vgl. etwa S. 510: “Im Grunde also meine ich, es gibt keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst.” Vgl. etwa Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970, der allerdings zu stark der Ebene der Motivik verhaftet bleibt.
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es oft schwierig und problematisch, sein Vorhandensein einfach zu postulieren. Von einer Textinstanz zu sprechen, weil ihr ‘Aufhänger’ in einem Text vorkommt – sei es, daß hier ‘ich’ steht oder ein Ich zu unterstellen ist –, wäre eine fatale Begriffsstrategie: Man erhielte eine ontologische Zäsur zwischen Texten und der Welt (tatsächlich besteht sie nur zwischen Sprachzeichen als Zeichen und der Welt). Alles, wovon in Texten die Rede ist, bekäme eine eigene Textrealität zugewiesen. Offenkundig verhalten wir uns aber gegenüber Texten keineswegs so – den Absender eines Briefs, den wir empfangen, betrachten wir nicht als Instanz und sehen auch im Brieftext keine Instanz im Spiel, wenn der Absender “ich” schreibt. Auch eine moderatere Position, die einen entsprechenden Anspruch nur für literarische Texte behaupten wollte und das Problem dann auf die Klärung von Literarizität oder Ästhetizität als instanzenbildender Macht verschöbe, läßt sich nicht halten. Literarizität oder Ästhetizität garantieren nicht – schon gar nicht in überzeitlicher Weise –, daß ein Dichter n i c h t von sich spricht oder sprechen könnte. Gleichwohl scheint für ein lyrisches Ich der Text selbst besonderer Anlaß seiner Entstehung. Die Einstellung auf den bloßen Text im Zuge des Dichtvorgangs kann eine Neutralisierung des empirischen Autors bedeuten, sei es, daß dieser sich für die Textherstellung ‘neu erfindet’ oder daß er ein Ich als textuelle Instanz konstruiert. Dabei wird aber das lyrische Ich zu einem textuellen Fluidum: zwar einerseits zu distanzieren vom Autor und andererseits von einem explizit – als Figur oder über eine Sprecherrolle – eingeführten, bestimmten Sprecher, aber doch je nur implizit und dabei schwächer oder stärker ausgeprägt.70 Zudem ist dieses Fluidum historisch entstanden: über Erfahrungen mit dem Herstellen lyrischer Texte, und nicht einfach immer schon vorhanden, wo die Literaturwissenschaft nur den Gattungsbegriff der Lyrik applizieren zu können meint. Deshalb muß man für den Nachweis eines lyrischen Ichs konkrete Anhaltspunkte aufzeigen, was schwer fällt, wenn sie im Text nicht explizit auszumachen sind. Ich will einen Weg andeuten, auf dem dies dennoch geschehen könnte. Statt sich auf eine psychische oder textuelle 70
Dieser Umstand führt zu den vielen differierenden Konzeptualisierungen des lyrischen Ichs, die Matías Martínez: Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart, Weimar 2002, S. 376-389, hier S. 377 f., hilfreich zusammenstellt.
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Instanz (oder beides) festzulegen, ohne daß dies am Wortlaut entschieden werden könnte, kann man auch die Umgebung des Textes in Anschlag bringen: die Art des Gebrauchs, für die er vorgesehen ist, und die mediale Form, die er dazu erhält. So ist es z. B. offensichtlich, daß ein Dichter von Gebeten oder Andachtsliedern dem Nutzer eine sprachliche Form zuspielt, die ihm auch das ‘ich’ überläßt.71 In einer je besonderen Gebrauchssituation wird der Nutzer das ‘ich’ auf sich beziehen, und der Dichter hat es schon darauf zugeschnitten. Er hat den Text auf die Übernahme des dafür präparierten Ichs durch den Nutzer hin eingerichtet: Dies kann bedeuten, daß er sich beim Dichten in einen besonderen Zustand versetzte und/oder daß er dem Text eine besondere Form zumaß – man muß die Frage, ob es sich um eine psychische oder um eine textuelle Instanz handele, hier nicht stellen. Hat er seinen Text in eine entsprechende Gebrauchssituation eingepaßt, so entscheidet allein diese über die (dann zweifellos entsprechend intendierte) Verwendung des ‘ich’. So entsteht ein lyrisches Ich in einer besonderen Ausprägung. Solche weitgehenden Rechte wird man Gebrauchssituationen nicht zubilligen, die der Dichter nicht absehen konnte. Für Andachtslieder ist es einfach, zwischen einem vom Dichter vorgesehenen und einem unvorhergesehenen Gebrauch – etwa ihrer bloßen Lektüre in Gedichtanthologien – zu unterscheiden. Lektüre kann in diesem Sinne eine erst nachträglich oktroyierte, aber natürlich auch eine genuine Gebrauchssituation darstellen. Das Lesen von in Gedichtbänden herausgebrachten Gedichten eines Dichters ist in der Regel von diesem intendiert und damit eine genuine Gebrauchssituation. Leselyrik aber hat bestimmte allgemeine Eigenschaften, die über ihre mediale Form gebunden werden. Hier wird dem Leser das Ich des Textes auf ganz andere Weise zugespielt als bei einem Andachtslied des 17. Jahrhunderts. Denn das Lesen ist keine vergleichbar spezifische – raumzeitlich festgelegte – Situation eines zugleich höchst persönlichen Gebrauchs wie die Andacht. Der Bezug des ‘ich’ kann beim Lesen ebenso wie Ort und Zeit des ‘Sprechens’ in der Schwebe bleiben, wenn nichts anderes angezeigt ist. Niemand verbindet die Aussage des Gedichts dann etwa auch mit dem Zeitpunkt der ersten Niederschrift des Gedichts, wie er es bei einem
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Ich verwende den Begriff des Ichs für die sprachliche Ausgestaltung von Subjektivität im Lied oder Gedicht, ‘ich’ dagegen für das Vorkommen des Pronomens.
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Brief zu tun gewohnt ist. Das Ich wird zudem nicht wie beim Andachtslied übermittelt und auf den Leser zugeschnitten.72 Es bleibt virtuell.73 Auch wenn das Medium gedruckter Lyrik keine solche schwebende, virtuelle Verwendung des ‘ich’ erzwingt, so kommen im Verlauf der modernen Lyrikgeschichte Dichter doch darauf, diese Verwendung aus dem Medium herauszuholen, und Leser lernen es, Gedichte demgemäß zu lesen. Die Form dieser Gedichte steht dann in Interaktion mit dem Medium und also den zugehörigen Gebrauchssituationen. Das lyrische Ich wäre nichts anderes als eine mediale Form, für die eine charakteristische Offenheit und Unbestimmtheit, wie die mediale Präsentation sie (eben auch für das Ich) ermöglicht, ausgenutzt wird. Käte Hamburger hat hiergegen standhaft darum gekämpft, das reale Aussagesubjekt, den Dichter also, nicht aus dem Text zu verabschieden und so “jede Verbindung zwischen dem Ich des Gedichts und dem des Dichters abzuriegeln”: Wir haben weder die Möglichkeit und damit das Recht zu behaupten, daß der Dichter die Aussage des Gedichtes – gleichgültig, ob diese in der Ichform erfolgt oder nicht – als die seines Erlebens gemeint habe, noch zu behaupten, daß er nicht ‘sich selbst’ meine.74
Hamburger will sich also weder positiv noch negativ festlegen lassen. Die Unbestimmbarkeit des Ichs in der modernen Lyrik ist damit zwar noch nicht als mediale Form erkannt und historisch zurückverfolgt, doch seine phänomenologische Qualität ist angedeutet. Es erscheint als unbestimmtes textuelles Fluidum. Ich möchte eine Ursprungssituation dieser Qualität aufsuchen, wie ich sie in dem oben beschriebenen Gebrauch von Liebesliedern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sehe. Niemand kann wissen, in welchen Zustand sich Paul Hofhaimer versetzte, als er das oben wiedergegebene
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Vgl. zu dieser These etwa Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 3857. Zur Einführung dieses Begriffs vgl. Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2001 (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 10), Kap. 3. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 31977, S. 241. In der anschließenden Fußnote betont Hamburger die Unbestimmbarkeit des lyrischen Ichs.
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Lied schrieb. Poetologische Reflexionen über die eigene Praxis des Dichtens sind vor dem 20. Jahrhundert selten und von Hofhaimer nicht zu erwarten. Von einer Textinstanz ist andererseits nichts zu sehen: Wer könnte sich anmaßen zu behaupten, daß Hofhaimer sein Lied einer Instanz zugewiesen wissen wollte. Da eine Frau über das Monogramm adressiert wurde, mußten sowohl Adressat wie auch Adressant notgedrungen einen Namen haben. Dies spricht nicht dafür, daß es sich beim sei es auch fiktiven Adressanten um eine abstrakte, bloß textuell lancierte Instanz handelt, um ein doch eigentlich namenloses, allein dem Lied instantiiertes virtuelles Ich. Hofhaimer ein solches weit fortgeschrittenes Konstrukt der modernen Lyrik zu unterstellen, greift zweifellos über seine Möglichkeiten hinaus. Hinzu kommt das methodologische Problem: Zur Rechtfertigung der Annahme einer Textinstanz benötigte man – wenn sie nur implizit ist – Informationen über den Text hinaus, die man etwa als Information über Hofhaimers mit dem Text verbundene poetische Intention zunächst ebensowenig besitzt wie Informationen über seinen Zustand beim Dichten. Und doch kann man Anzeichen eines lyrischen Ichs aus dem Kontext erschließen: Hofhaimer mußte wissen, daß die Gebrauchssituation ausschloß, an ihn als den Dichter zu denken. Er wußte, daß sein Name als Textdichter nicht zählte, da ihm vertraut war, wie man Gesellschaftslieder sang: Niemand bekümmerte sich um die Dichter; selbst bei den Hofweisen-Tenorliedern und unter diesen bei den monogrammatisch adressierten Liedern interessierten die Dichter nicht. Vielleicht dachte man daran, daß die Lieder einmal einen bestimmten Adressaten erreicht hatten, aber beim Singen fiel selbst dies nicht mehr ins Gewicht. Derselbe Text erklang aus verschiedenen Mündern, so daß eine privilegierte Aneignung durch einen einzelnen Sänger nicht möglich war. Die Situation vertrug sich nicht mit einer Übernahme des ‘ich’ durch die Singenden, obwohl das Lied doch für den öffentlichen Gebrauch zur Verfügung stand. Wenn in der Lyrikgeschichte das Anredelied der Liederdrucke zum ersten Mal dabei ist, einen reinen, virtuellen Imaginationsraum – zwischen einem Ich und einem Du, wie es in der abstraktiv-pathetisierten Sprache der modernen Lyrikinterpretation heißt – aufzumachen, in den jeder Singende und Hörende mit seinen Vorstellungen einscheren konnte, so stört doch bei den vielen monogrammatisch adressierten Liedern eben noch die Adresse, die alle bis auf eine ganz bestimmte Person ausschloß.
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Allerdings geht Imagination über referentielle Reste unbekümmert hinweg: Niemand fragt etwa nach dem historischen Ännchen von Tharau, der Angetrauten eines Studienfreundes von Simon Dach. Niemand stört sich daran, wenn die Worte eines Liedes einmal einer ganz bestimmten Person galten.75 Hofhaimer stellte aber einen Text zur Verfügung, von dem er wußte, daß die Adresse niemandes Imagination aufhalten würde. Und da er die Liedform aufgriff und den Text vermutlich nur für eine von vornherein geplante Komposition verfaßte, richtete er sich auf eine mediale Form ein, für die ein Ich nur in dem durch den Liedtext eröffneten Vorstellungsraum zählte. Es ist die mediale Form, die hier – und anderswo – für die Herausbildung eines lyrischen Ichs sorgte.
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Beispiele für solche referentiellen Reste in volksläufig gewordenen Liedern bringt Heinrich Seemann: Volkslied und Urheberrecht. Diss. Freiburg 1965, S. 24.
Johannes Rettelbach DIE FRÜHEN LIEBESLIEDER VON HANS SACHS Abstract Die späten Liebeslieder von Hans Sachs sind ausnahmslos Auftragsdichtungen. In einigen Fällen können die Auftraggeber ermittelt werden. Sie lassen sich in das spätmittelalterliche Typenspektrum des Liebesliedes einordnen, wie es seit dem Mönch von Salzburg gilt. Die frühen Liebeslieder, vielleicht sämtlich aus dem Jahr 1513, sind bis auf zwei verloren. Sie verraten Vertrautheit mit der Tradition. Das erstmals vollständig edierte Lied RSM ²S/24 changiert zwischen weltlichem und geistlichem Frauenpreis in Sachs’ selbstkomponiertem Goldenen Ton, einer höchst elaborierten Strophenform. ²S/2 im Hofton Reinmars von Brennenberg wurzelt in der reichen anonymen Liebesliedtradition in diesem Ton. Statt der traditionellen biographischen Deutung wird das Lied im Umkreis der aufblühenden Drucküberlieferung solcher Texte verortet, wo es entgegen bisheriger Kenntnis erscheint.
Die Liebeslieder gehen im überreichen Gesamtwerk von Hans Sachs beinahe unter. Traditionell fanden allenfalls die frühen Lieder Beachtung, die vielleicht alle 1513, noch vor dem ersten Meisterlied gedichtet sind; doch sie sind weitgehend verloren, und die Beschäftigung blieb meist auf den autobiographischen Aspekt reduziert. Auf die späteren hat freilich kürzlich die Dissertation von Julia-Maria Heinzmann1 den Blick gelenkt. Ich fasse mich daher in Bezug auf sie kurz. Es handelt sich um insgesamt 18 Lieder, die anfangs in großen Abständen gedichtet wurden: je eines in den Jahren 1540, 1541, 1546, 1548, 1565, 1566, dann aber geballt in den Jahren 1568/69 12 Lieder. Es handelt sich ausschließlich um Auftragslieder, wie überhaupt Auftragstexte in den späten Jahren nach dem Abschluß der Meisterliedproduktion auch in anderen Texttypen dominieren. Einen Überblick über die auftretenden Liedtypen gibt die folgende Aufstellung nach KG-Nummern:2 1
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Julia-Maria Heinzmann: Die Buhllieder des Hans Sachs. Form – Gehalt – Funktion und sozialhistorischer Ort. Wiesbaden 2001 (= Gratia 38). Die Nummern folgen dem Registerband 25 der Edition: Hans Sachs. Werke. 26 Bde. Hrsg. von Adelbert von Keller und Edmund Goetze. Stuttgart 1870-1908. Nachdruck 1964 (im folgenden KG). Im Registerband sind auch die weiteren Grunddaten und der Ort in der Ausgabe zu finden. Wiederabdruck und ausführliche Interpretation auch jeweils bei Heinzmann.
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973 1101 2137 2895 5976 5984 6092 6093 6101 6105 6106 6115 6116 6122 6123 6124 6130 6143
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Liebesklage Frauenschelte Liebesklage (nach verworfener anfänglicher Hoffnung) Neujahrslied (mit Heiratsantrag) Hoffnungslied; Akrostichon: Juliana Sehnsuchtslied; Akrostichon (rückwärts): Juliana Hans Liebesversicherung (mit Natureingang); Akrostichon: Maria Preislied (mit Hoffnungsstrophe); Akrostichon: Maria Liebesversicherung (nach negativen Gerüchten); Akrostichon: Magdalena Absagelied; Akrostichon: Geilerin Dialoglied (Herz und “der liebhaber” [gleiche Person]) Preislied (im Gewand des Parisurteils); Akrostichon: Magdalena Preislied; Akrostichon: Magdalena Werbungslied; angesprochen: m (ebenfalls für Magdalena?) Dialoglied (“gesel – junckfraw”); Akrostichon: Magdalena, Unterschrift: N.I.R.E.H.C.S.T.E.L Preislied mit Neujahrswünschen; Akrostichon: Magdalena Frauenlied (Abschied); Akrostichon: Gothart Dialoglied (“gesel – junckfraw”); Akrostichon: Regina
Für den Auftragscharakter gibt es auch von Sachs selbst eine ausdrückliche Bestätigung durch eine Zwischenrubrik in seinem 16. Meistergesangbuch,3 97v: “etliche puelieder so ich vor der zeit etlichen gesellen zw dinst gemacht hab”. Als Auftragsdichtungen erweisen sich die Lieder auch durch die zahlreichen Akrosticha: Zweimal erscheint Juliana, davon einmal zusammen mit dem Namen Hans, zweimal Maria, fünfmal Magdalena, ferner Geilerin und Gothart. Das Paar Juliana-Hans konnte Frau Heinzmann (S. 198 f.) ebenso ermitteln wie Magdalena (S. 199 f.), denn hier gibt es zusätzlich die Unterschrift “N.I.R.E.H.C.S.T.E.L” (rückwärts zu lesen), die die Adressatin enttarnt. Man kann daher in den Nürnberger Archiven feststellen, daß die Hilfe durch Sachs jeweils ein voller Erfolg war; die Umworbene wurde die Ehefrau. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es bei den angesungenen Damen Maria und Regina nicht anders beabsichtigt war, und wer wird Skepsis hegen, daß Sachsens Sprach- und Musikgewalt nicht auch hier zum Erfolg führte (es sei denn, ein Beck3
MG 16. Signatur: Nürnberg StB, Amb. 784. Vgl. die Handschriftenbeschreibung im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. 16 Bde. Tübingen 1986-2005 (im folgenden RSM), Bd. 2, S. 224 f.
Die frühen Liebeslieder von Hans Sachs
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messer hätte die Lieder in die Hand bekommen)? Anders verhält es sich bei dem Lied mit dem Akrostichon Gothart. Hier verabschiedet sich nämlich ein junges Mädchen von ihrem Geliebten, der eine andere heiratet – sie tut es mit Schmerz, doch ohne Groll. Mag auch zweifelhaft sein, auf welche Weise der Liebsgruß den Mann erreichte; man darf bei dem ungewöhnlichen Genre mehr Realität der Aussagen vermuten als bei den Werbe- und Preisliedern. Die topische Bezeichnung “junckfraw” in den Liedern Nr. 5116 und 6123 an die Letscherin nämlich gehört einer Witwe, die auf die fünfzig zugeht.4 Wie sich Text und Realität in dem früheren Absagelied an die ob ihrer Unbeständigkeit gescholtenen Frau mit dem auffälligen Namen “Geilerin” zueinander verhalten, möchte ich offen lassen. Möglicherweise ist der Name der Dame eine Spottbezeichnung. Die Lieder gebrauchen zum großen Teil allgemein bekannte und beliebte Melodien, von Meistertönen deutlich geschieden. Auch die meisten nicht bezeichneten gehen nach einfachen bekannten Tonschemata, zu denen es teils mehrere Weisen gab. Diese Texte aus der Zeit nach der Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich auch noch ohne Schwierigkeiten in das System von Liedtypen einordnen, das Doris Sittig,5 aufbauend auf die grundlegende Arbeit von Horst Brunner,6 für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts entworfen hat. Sie gehören den Typen Frauenschelte, Absage, Liebesklage, Sehnsuchtslied, Hoffnungslied, Liebesversicherung, Frauenpreis, Werbungslied, Neujahrslied (eines mit Heiratsantrag) an; eines ist ein Dialoglied zwischen Herz und Person eines männlichen Rollen-Ichs, ferner gibt es ein Frauenlied, den erwähnten Abschied an einen Mann und schließlich zwei Dialoge zwischen Mann und Frau (vgl. oben). 4
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In den beiden anderen einschlägigen Liedern steht “junckfraw” nur in der Überschrift. Letscher ist der Name des ersten Ehemanns, Magdalena war eine geborene Rieter und gehört damit vornehmstem Nürnberger Patriziat an; vgl. Heinzmann (wie Anm. 1), S. 200. Doris Sittig: ‘Vil wonders machet minne’. Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Göppingen 1987 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 465). Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1978 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 206), S. 105-176; Horst Brunner: Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch der Erklärung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages Hamburg 1979. Hrsg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 392-411.
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I. Die frühen Liebeslieder von Sachs sind schwerer zu beurteilen als die späten – schon deshalb, weil sie fast alle verloren sind. Den erhaltenen Grunddaten und vor allem den zwei erhaltenen Liedern soll mein Hauptaugenmerk gehören. Sachs ging bekanntlich nach seinem Schulbesuch und der Lehrzeit als Schuhmacher in Nürnberg auf die vorgeschriebene Gesellenwanderung, die ihn zunächst nach Österreich führte. Den Meistergesang hatte er zu dieser Zeit längst bei Lienhart Nunnenbeck erlernt, passiv allerdings nur, also ohne selbst zu dichten, wie uns die Übereinstimmung von Überlieferung und Selbstaussagen beweist. Erst am 1. Mai 1514 verfaßte er sein erstes Meisterlied in München. Nach anderen autobiographischen Äußerungen wurde er aber bereits in Wels zum Dichter berufen (oder genauer auf einem Marsch von Wels nach Salzburg), wo er sich 1513 aufhielt und wo er auch seine Silberweise schuf.7 Die frühen Liebeslieder hatte er im ersten Meistergesangbuch (MG 1) gesammelt, und zwar am Ende des Bandes. Obwohl MG 1 verloren ist, wissen wir das aus dem Verzeichnis der Liebeslieder in seinem eigenhändigen Generalregister.8 Die Überschrift lautet: “Hernach folget das register etlicher puelieder so ich in meiner iugent gedichtet hab in kürczen hoff dönlein so man findet in meinem ersten puech”. Danach folgt die Aufzählung, die in der folgenden Übersicht in Bezug auf Tonnamen und Initien diplomatisch wiedergegeben ist (nach KG-Nummern, wie Anm. 2): 1 2 3 4 5 6 7 7
8
Brennberger, Hofton Brennberger, Hofton Sachs, Hoffweis Sachs, Senweis Sachs, Trawrweis Sachs, Frewdweis Sachs, Trostweis
Ich ste alhie Ach ungelueck Venüs der lieb ein kunigin Mein hercz hat icz vmbfangen E dw mein edler hort Allein mein hercz im hat erwelt In mein hercz ist geschrieben
Das geht aus dem autobiographischen Spruchgedicht KG 740 (wie Anm. 2) hervor; diese Bestimmung deckt sich mit anderen Beobachtungen. Mit der Chronologie der frühen Sachs-Werke beschäftigte sich zuletzt Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983-1984 (= Münchener Texte und Untersuchungen 82-83), Bd. 1, S. 351-368, hier S. 356 f. Im Original im Stadtarchiv Zwickau. Faksimile: Das Generalregister des Hans Sachs. Reprintausgabe nach dem handschriftlichen Generalregister von 1560. Hrsg. von Reinhard Hahn. Köln, Wien 1986 (= Literatur und Leben N.F. 27), Bl. 73rv.
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Die frühen Liebeslieder von Hans Sachs
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 54 * 24
Sachs, Frewdweis Sachs, Klagweis Sachs, Senweis in ainer frembden dagweis Sachs, Sumerweis Sachs, Rossenweis Sachs, Laidweis Sachs, Dagweis Sachs, Schaidweis Sachs, Herczweis Sachs, Herczweis Sachs, Verwegen weis Sachs, Meidweis Sachs, Dinstweis Sachs, Eweis Sachs, Frembder ton Mügling, Hofton
Ein falsche zung hat mich verwund Erst hat all mein hoffnung ain ent A. meines herczen ein krone Es nahet gen dem mayen All mein gemuet ist trawrig gancz Venus die hat gepflanczet mir Ach herzen lieb ich klage dir Der winter ist vergangen Ach schaidens hab ich oft gelacht Sag an mein hercz Ach wie möchte ich Vor zeiten do ich iunger was Ach wie duet das meiden so we Ach herzigs .m. Wach auf mein trosterine Wolauf gelueck mit frewden Wach auf hercz aller liebste mein
Sachs, Goldener Ton
O musica dw werde kunst9
Das einzige erhaltene Lied aus der genannten Aufzählung des Generalregisters (Nr. 2) ist auf 1513 datiert. Eine Datierung auf dieses Jahr oder bis Anfang 1514 für alle Lieder ergibt sich daraus nicht notwendig, aber sie ist nicht unwahrscheinlich. Die Töne haben Namen, die offensichtlich auf die Inhalte hinweisen (“klagweis, senweis, frewdweis”). Ein Ton ist von einem nicht angegebenen Lied übernommen (Nr. 11) und drei Lieder sind in gängigen alten Tönen gedichtet (Nr. 1, 2 und 54). Lied Nr. 24 ist ebenfalls in Abschrift erhalten und glaubwürdig wie Nr. 2 auf 1513 datiert; ein autographer Hinweis des Autors selbst nämlich bezeugt die Komposition des Goldenen Tons für dieses Jahr. Die Melodie zum Goldenen Ton ist wie die der meisten anderen Sachs-Töne am Ende von MG 2 von fremder Hand notiert, die auch die zugehörigen Texte eintrug, einzig die Kompositionsdaten sind von Sachs selbst nachgetragen.10 Dem Inhalt nach ist Nr. 24 ebenfalls (mit Einschränkung, vgl. unten) ein Liebeslied, und das paßt zu der Selbstaussage, daß es keine Meisterlieder 9
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Dieses Lied ist an anderer Stelle eingeordnet, nämlich unter den Meisterliedern im Goldenen Ton, vgl. dazu unten. MG 2 liegt wie die meisten anderen Meistergesangs- und Spruchgedichtbände (SG) im Stadtarchiv Zwickau (MG und SG sind dort auch die Signaturen der Bände). Vgl. zu allen MG die Beschreibungen im RSM (wie Anm. 3), Bd. 1.
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vor 1514 gibt. Nun kennen wir den Goldenen Ton Sachs’ später als einen Ton für Meisterlieder. Es muß also so sein, daß er diesen besonders gelungenen Liebeslied-Ton nachträglich umgewidmet hat.11 Ein Frawen lob12 1 O musica du werde kunst, prunst, gunst sent mir dein ler, das ich mit ger peweis lob, ehr mit gsang meins hertzen drawt. ich frew mich, frolock, iubilir dir zir- licher wurtzgart der rosen zart von edler art. in dir so stet gepawt ein hoher zetterpaum mit fleis, cle, feihel, lilgen, rosen gleis, grun, praun, gelb, pla, rot vnde weis. reis leis, ‹speis› gar honig sus, der tugent gus ein vmeflus, meins hertzen plume trawt. 2 gelobet sey dein werder nam, stam, flam, der liebe zelt. drew ich dir melt fur all die welt, du meines hertzen drost.
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²S/24b Berlin, SBB-PK, Mgq 410/2, 3r-4v
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Vergleichbares geschah mit der Silberweise, die ebenfalls 1513 komponiert wurde. Ein Text ist freilich aus diesem Jahr nicht erhalten. Entweder verfügte Sachs bei der Abfassung von MG 1 nicht mehr darüber oder er fand ihn nicht des Aufzeichnens wert. Die Lieder KG Nr. 1, 2, 24 und 54 sind auch im RSM (wie Anm. 3) verzeichnet. Sie werden im folgenden mit ihren RSM-Nummern zitiert. – Die Textergänzung “speis” in Str. 1 wird durch Tonschema und Inhalt gefordert. Sie wurde bereits durch Victor Michels vorgeschlagen, der die erste Strophe in seiner Rezension zu Karl Drescher: Studien zu Hans Sachs. Bd. 2. Marburg 1891. In: Anzeiger für deutsches Altertum 18 (1892), S. 353-359, hier S. 354 f., mitteilte. Eine vollständige Edition existierte bislang nicht.
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kain liebers lieb ich nie gewun, prun, sun, der feiel dal. du eren sal, hilff, dz ich pal von senen wird erlost. du pist ein adeliche kron, schwebet ob meines hertzen thron, pist meiner ohren suesser thon schon fron, von, poner vnd schilt. hold seligs pilt, mein hertz dz quilt auf gantz feurigem rost. 3 dein auser welte milte guet bluet, gluet gen mir alzeit, penimpt mir leit, wie wol ich weit ietzund von dir mues sein. o meins hertzen edler palast, gast, rast, mein freuden plick. mein hertz aufstrick vnd mich erquick aus sendicklicher pein. so wurt erfullet mein pegir vnd aus senen geholfen mir. aus hertzen grunt ich ietz hoffir dir zir. schir las mein gesang sein ein anfang der lieb an zwang. du pist, der ich es mein.
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anno salutis 1513
Das Lied ist ein überschwenglicher Frauenpreis. Nachdem zu Beginn die Musik als Helferin angerufen wurde, schwelgt der Text in Vergleichen der Auserwählten, die ihre Schönheit und die Bedeutung für das Ich zu fassen suchen. Die Evokationen lassen mehrmals nur mit Mühe einen syntaktischen Rahmen erkennen, wozu auch die elaborierte Strophenform mit ihren zahlreichen Schlagreimen beiträgt. Aussagen über das lyrische
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Ich sind spärlich. Es verspricht Treue, versichert, nie eine Liebere gekannt zu haben, und die Geliebte schwebt über seinem Herzen. Sie nimmt ihm Leid, doch er ist “ietzund” weit von ihr entfernt. Er hofft auf Stillung der Sehnsucht und macht ihr aus tiefstem Herzen den Hof. Es handelt sich offensichtlich um ein Liebeslied. Warum aber hat es Sachs in MG 1 nicht dort eingereiht, sondern unter die Meisterlieder? Weil der Ton später ein Meisterton wurde? Wohl nicht, denn bei einem Parallelfall, dem Liebeslied in Müglings Hofton (²S/54 = KG Nr. 54) verfuhr er so, dass er trotz Verwendung eines meisterlichen Tons das Lied in die Gruppe der Liebeslieder stellte. Aufschluß gibt uns abermals das Generalregister: Dort erscheint nämlich das Lied nicht unter dem Titel, den Valentin Wildenauer doch vermutlich unverändert aus MG 1 abgeschrieben hatte, sondern es heißt dort “ain lop Marie”. Wenn man sich das Lied unter dieser Prämisse erneut ansieht, dann mögen einige Formulierungen für einen Marienpreis vielleicht etwas ungewöhnlich sein, aber ausgeschlossen ist diese Lesung nicht, einige Bezeichnungen sind sogar typische Marienattributionen. Oder hätten wir das Gedicht von Anfang an selbstverständlich als Marienlob lesen sollen? Wohl auch nicht. Das offenbart die Formulierung der letzen Zeile; sie setzt eine Schlußpointe, indem sie den Schwebezustand zum Prinzip erhebt. “du pist der ich es mein” verrät dezidiert nicht den Adressaten, sondern fordert den Hörer selbst zur Einordnung auf. Die Austauschbarkeit von Minne- und Marientopik war dem Mittelalter nicht nur geläufig, sondern auch bewußt; Marienpreis wird gelegentlich geradezu frivol, insbesondere wenn es um die trinitarische Vaterschaft an Jesus geht. Was Sachs hier tut, scheint allerdings nicht verbreitet. Das einzige Vorbild, das ich kenne, ist Harders Goldener Reihen. Harder lebte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in München; sein Goldener Reihen läßt sich ebenfalls in diese beiden Richtungen auslegen.13 Die
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RSM (wie Anm. 3) ¹Hardr/2/1a-i. Edition nach Überlieferung d in: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge. Hrsg. von Eva und Hansjürgen Kiepe. München 1972. (= Epochen der deutschen Lyrik 2), S. 146-149. Weitere Abdrucke vgl. RSM. Zum Harder vgl. Schanze (wie Anm. 8), S. 261-274, speziell zu diesem Text S. 266 f. Schanze rechnet offenbar mit einem weiter verbreiteten Liedtyp (“Wir müssen bei Liedern dieser Art grundsätzlich mit beiden Gebrauchsmöglichkeiten [sc. geistlich und weltlich] rechnen”, S. 267). Doch scheint es außer den besprochenen Liedern kein weiteres zu geben, bezieht man nicht Lieder ein, die in der Tat geistlich oder weltlich gelesen werden könnten, wären sie nicht durch den Kontext deutlich festgelegt. Beispiel für ein solches Lied wäre etwa der einstrophige Frauenpreis Rein-
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neunfache Überlieferung zeugt von der Beliebtheit dieses Liedes, das Sachs gekannt haben dürfte. Der mehr als eine Strophe umfassende Natureingang glänzt mit einer Fülle musikalischer Termini, wenn er das Musizieren der Vögel beschreibt. Dem entspricht die kurze Anrufung der Musik bei Sachs. Auch beim Harder könnte man auf eine intendierte marianische Auslegung nicht mit Sicherheit schließen, doch die Fassung der Kolmarer Liederhandschrift (RSM ¹Hardr/2/1h) tut es, indem sie der 3. Strophe durch die Nennung des Namens Maria Eindeutigkeit verleiht. Möglicherweise gab Harder auch die Anregung zum goldenen Tonnamen für Sachs. Die komplizierte Form freilich spielt eher auf den Goldenen Ton Frauenlobs an, der im Nürnberger Meistergesang des 15. Jahrhunderts in dieser Hinsicht traditionsstiftend geworden war. Eine weitere Handschrift bietet noch eine andere Interpretation: Im Cgm 5198 (¹Hardr/2/1i) endet die Superscriptio ausdrücklich “haist Musica”. Die bisherigen Interpreten haben diese Bestimmung nie ernst genommen, sondern wohl für eine falsche Verabsolutierung aus der langen musiktheoretischen Einleitung gehalten. Aber die kann ja gerade so ausführlich geworden sein, um den Beweis für den perfekten Dienst an der Herrin des Dichters, Frau Musica, zu liefern. Ich nehme sogar an, diese Überschrift gebe die eigentliche, durch die geläufigen Anspielungen nur verrätselte Intention Harders wieder; jedenfalls ist eine solche Lesung widerspruchsfrei möglich. Auch das Sachs-Lied erfuhr beinahe zeitgenössisch eine solche Interpretation. Der Meistersinger Wolf Bauttner überschrieb seine Aufzeichnung des Textes (RSM ²S/24c) aus der Zeit um 1600 “ein schul kunst”. Schulkünste nannten die Meistersinger Lieder, die den Gesang preisen oder sein Herkommen und seine Regeln darlegen; Bauttner sah also ein Lob der Musik in diesem Lied. Über weite Strecken ist eine entsprechende Lesung denkbar; an manchen Stellen freilich lassen sich Zweifel an einer triadischen Bedeutung nicht ausräumen. So gut der Schluß zu einer solchen Deutung passen würde, wenn gerade der Dienst durch Gesang hervorgehoben wird (unbeschadet der Tatsache, daß dieses Motiv aus dem ‘frouwe’-liebenden Minnesänger-Ich überkommen ist), so muß man doch bezweifeln, daß die Floskel “wie wol ich weit ietzund von dir mues sein” in eine solche Lektüre paßt. Auch die einleitende Apostrophe der Musik ist deutlich als Hilfeleistung für das Lob einer anderen Dame mars von Brennenberg ¹ReiBr/2. Zu einer dritten Auslegungsmöglichkeit des HarderTextes vgl. unten.
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gekennzeichnet. Für Sachs’ Lied ist von einer dualen Interpretation auszugehen.
II. Die verlorenen Lieder weisen durch Tonnamen und Initien auf ihren Inhalt. Es sieht alles so aus, wie man es von den zeitgenössischen Hofweisen, aber eben auch schon aus dem 15. Jahrhundert kennt. Ich wende mich dem zweiten erhaltenen Lied, dem im Hofton Reinmars von Brennenbergs, kurz Brennberger, zu. Lieder in diesem Ton waren im 16. Jahrhundert auf der Singschule zu singen ausdrücklich verboten. Wenn das Lied KG Nr. 2 (= RSM ²S/2) dennoch autograph in einer Meisterliederhandschrift erhalten ist, so haben wir das einem besonderen Umstand zu verdanken: Hans Leutzdörfer, der die Handschrift bei Hans Sachs bestellt hatte, hatte sich eine Mustersammlung von Tönen zusammenstellen lassen, und in diesem Sinn war der sonst geächtete Ton mit aufgenommen worden.14 Reinmar von Brennenberg15 war ein Minnesänger von der Burg Brennberg bei Regensburg in der Mitte des 13. Jahrhunderts, dessen Minnelieder im Hofton (und nur diese) die Besonderheit aufweisen, daß sie im Gegensatz zur Tradition in einem langen spruchartigen Ton abgefaßt sind und daß in der Regel die Strophen untereinander nicht oder nur sehr locker zusammenhängen; einige Sangspruchstrophen gehören mit zum Kernbestand des Tons und sind in der Echtheit nicht anzuzweifeln. Die Strophenform wurde – wie sonst ebenfalls nur Sangspruchtöne – extensiv weiterverwendet. Das RSM zählt 68 Einzelstrophen und Lieder, freilich in der jüngeren meisterlichen Tonrezeption nur zum Teil mit Liebesthematik.
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Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. Ms. Philol. 194. Die Handschrift enthält 202 Meisterlieder in 202 Tönen, nach Tonautoren geordnet. Vgl. RSM (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 160 f. Vgl. die Artikel von Frieder Schanze in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 7 (1989), Sp. 1191-1195 und Paul Sappler in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7 (1999), Sp. 670; zum Ton zuletzt Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger. Tübingen 1993 (= Frühe Neuzeit 14), S. 128 f.
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Wie dem Tannhäuser und dem Möringer hat man auch dem Bremberger eine Dichtersage zugewiesen.16 Der Bremberger wird verdächtigt, seine verheiratete Minnedame nicht nur gepriesen zu haben. Er wird deshalb vom Ehemann gefangen und hingerichtet. In einer Version der Sage setzt der Ehemann der Dame das Herz des Toten zum Mahl vor. Als sie das erfährt, stirbt sie. Die Balladen, die das erzählen, sind bis auf eine Fassung nicht im Brennbergerton verfaßt und erst im späten 16. Jahrhundert überliefert. Doch gibt es gesicherte Zeugnisse für eine Existenz der Sage vor 1430, und Bumke17 meint, schon die Dichterminiatur in C zeuge davon. Zwei Abschiedslieder im Königsteiner Liederbuch18 um 1470 sind den beiden jeweils in den Mund gelegt. In dieser Rezeptionssituation ist Sachs’ Lied angesiedelt: ²S/24 Göttingen, Philol. 194, 91v-92v
Jn dem hofton prennbergers Ein pulscheidlied19
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[1] Ach vngelueck, wie hastw mich so hart verwundt! des fuer ich icz ain schwere clag den abent vnd den morgen. das macht dein dueck. wen ich denck der elenden stundt,
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Vgl. Paul Sappler: ‘Bremberger’. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 1 (1978), Sp. 1014-1016. Ich verwende die Namen Reinmar von Brennenberg für den Dichter des 13. Jahrhunderts, Brennberger für die jüngere Tontradition und Bremberger für die Sagengestalt. Mittelalterlich-frühneuzeitliche Tradition und neuzeitliche Rezeption sind in der Terminologie durchaus uneinheitlich. Joachim Bumke: Ministerialität und Ritterdichtung. München 1976, S. 28 f. Edition: Das Königsteiner Liederbuch, Berlin Ms.germ.qu. 719. Hrsg. von Paul Sappler. München 1970 (= Münchener Texte und Untersuchungen 29) (künftig KL). Ich verbessere das handschriftliche bul schiedlied, das offensichtlich nur verschrieben ist, im Einklang mit der Editionstradition. Ferner ist “mit” in 1,17 ergänzt und handschriftliches “im” in 3,5 in “in” verbessert. Das erstmals in: Dichtungen von Hans Sachs. Bd. 1. Geistliche und weltliche Lieder. Hrsg. von Karl Goedeke und Julius Tittmann. Leipzig 1870, Nr. 1, veröffentlichte Lied hat zahlreiche Abdrucke erlebt, die bis auf eine Ausnahme mit allen Normalisierungen und Ungenauigkeiten davon abhängig sind. Im RSM (wie Anm. 3) sind alle älteren Abdrucke aufgeführt; außerdem jetzt in: Hans Sachs: Werke in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Hrsg. von Wolfgang F. Michael und Roger A. Crockett. 3 Bde. Bern u. a. 1996. Bd. 1, S. 11 f. und bei Heinzmann (wie Anm. 1), S. 20-22 (beide ebenfalls nach Goedeke).
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auf ert mich nimant frewen mag, mein laid trag ich verporgen. -wan ich mus icz in das ellent das ist mir gar peschwerlich heut. das las dich, lieb, erparmen. der liebe lon ist trawrig ent, herczlaid nachfolget groser freut: also geschicht mir armen. ich pin ellent, wie möcht ich mir ellender sein, seit ich mus schaiden von der aller liebsten mein! der ich ‹mit› ganzer trew so lang gedienet hon, der muß ich icz verwegen mich, vurpas sie nicht mer schauen on. -2 Vor aller not gesegn dich got dag, nacht vnd stund. gesegnet seint dein ewglein clar vnd auch dein kelen weise. -gesegn dir got auch deinen rosenfarben münd vnd auch dein gelb geflochten har, dein prüstlein ziert mit fleise. -gesegnet seint dein schneweis hent. gesegnet sey dein freuntlichs hercz, muet vnd darzw dein sine. ich schaid von dir in das ellent, das pringet mir unseglich schmercz, idoch mus ich von hine. ich far da hin. mein hercz, das plicket widerumb, ob nit sein herczen liebes liebe nach hin kumb. so ist es laider also ferr vnd weit von im, das es sein nicht ersehen mag: so schreit es mit cleglicher stim. -3 Ach herczigs hercz, wie pleibstw so weit hinter mir. dw meines herczen freud vnd wund, ich het dich auser koren -in freud und schercz. o wie mus ich so pald von dir!
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des trawre ich von herczen grund, seit ich dich hab verloren. -mit dem leib mus ich von dir hin, mit wesen an ein ander ort. das thuet mich schons lieb krencken. idoch las ich hercz muet vnd sin pey dir, mein herczen hochster hort. dar pey thu mein gedencken. o we, o we, o herczen liebes lieb, o we! ich fuercht, hercz liebes lieb, dw sehest mich nit me. in kainer not mein hercz mir nie so trawrig was. gesegn dich got, mein herczen lieb! ich far ins ellent hin mein stras. -anno salutis 1513 am 1 tag septembris
Das Lied ist treffend überschrieben – “ein bul scheidlied”. Es setzt ein mit einer Klage über das Unglück, das unmittelbar vom Ich angesprochen wird – denn aufs “ungelück” bezieht sich die Anrede “dein dueck”. Das Ich muß nach langem Dienst von der Liebsten Abschied nehmen. Es kommt auch zu einer resignierenden Aussage über die Liebe (Str. 1, V. 12): der liebe lon ist trawrig ent, herczlaid nachfolget groser freut.
Das sind in der Liebesliedtradition eher seltene generelle Sätze. Wer Sachs kennt, weiß, hier wird eine Einsicht formuliert, die ihn durch sein Dichterdasein begleiten wird. Die 2. Strophe ist der Geliebten gewidmet. Ein kurzer Schönheitspreis ist in einen Abschiedssegen gekleidet. Doch der Versuch, sich solchermaßen vom Leid zu befreien, mißlingt. Schon in der 1. Strophe war vom verborgenen Leid die Rede; nun erfahren wir, daß dieser Schmerz im Herzen sitzt. Während die Person schon unterwegs ist, blickt es, das Herz, sich um, in der Hoffnung, die Geliebte möge folgen, doch vergeblich, sie ist auch für das Herz nicht mehr sichtbar; ihm, immer noch dem Herzen also, bleibt nur der stumme Schrei mit “cleglicher stim”. Der Topos “ach herzigs hercz”, der wohl hundertmal in der Liebeslyrik der Zeit die Geliebte apostrophiert, leitet die 3. Strophe ein, er knüpft verbal an das Herz des Ich in Strophe 2 an, ist nun jedoch als Kosename für die Geliebte gebraucht, bezeichnet sie in ihrer Ganzheit. Nochmals betont das Ich die Notwendigkeit des Abschieds von
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seines “herczen freud und wund” (man beachte dieses Oxymoron vor der generellen Petrarca-Rezeption in der Lyrik). Als Spur einer Begründung für den Abschied erfahren wir nun endlich, er müsse mit “wesen” (Hauswesen) den Ort wechseln, also umziehen. Durch Zurücklassen von “hercz muet vnd sin” versucht sich das Ich den Abschied zu erleichtern. Doch das gelingt nicht, ein dreimal schluchzend wiederholter Weheruf zeigt die Endgültigkeit der Trennung: “ich far ins ellent hin mein stras”. Ein so eindrucksvoll beschriebener Abschiedsschmerz ruft natürlich nach biographischer Deutung. Da weder eigene Schuld, Hinwendung der Geliebten zu einem andern noch der “klaffer neit” für die Trennung verantwortlich sind, so kann es doch wohl nur die Vorschrift der Gesellenwanderung sein, die dieses Fatum bewirkt. Daß sich ein neunzehnjähriger künftiger Poet bis über beide Ohren verliebt, scheint uns ohnehin beinahe selbstverständlich, auch wenn es nicht Heidelberg, sondern vermutlich Wels ist, wo das Lied entstand. Erzählt Sachs nicht selbst in einem späten autobiographischen Text, er habe sich anno 1514 in München so intensiv in ein Mädchen verguckt, daß ihn sein Vater eiligst nach Hause beordern mußte? In der Tat haben Biographen sogar versucht, diese beiden Texte zu verknüpfen. Andere sehen einen davon zu trennenden biographischen Hintergrund, den am deutlichsten Florian Hintner, aber auch Spätere noch formuliert haben.20 Ich möchte so etwas nicht schelten, wenn man den Bezug zum Ereignis nicht zu direkt sieht. Man darf grundsätzlich festhalten: Die Erfahrung des Verliebtseins gehört für Dichter und Hörer zu den Grundlagen von Schöpfung und Wirkung der Liebeslyrik, und Abschied gehört darüber hinaus zu den häufigen Erfahrungen der wandernden Handwerker; er wird wenigstens zuweilen mit Schmerzen verbunden gewesen sein. Nur muß man umgekehrt ergänzen: In Liedern wie diesem werden auch Erfahrungen sprachlich geprägt und geben für ihre Zeit vor, wie man Affekte in Gefühle und Äußerungen zu fassen hat. Trotz der Skepsis gegenüber dem u n m i t t e l b a r e n Erleben behaupte ich, die Frau zu kennen, von der im Lied die Rede ist. Wir wissen, sie hat einen “rosenfarben mund” und “gelb geflochten har”. Die ich meine, spricht selbst von ihrem “rosenfarben muntt” und sagt weiter: “min gelles har sal umber ungeslechtit sin”, woraus folgt, das es zuvor geflochten war wie das des von Sachs besungenen Mädchens. Hätte auch
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Florian Hintner: Hans Sachs in Wels. Programm Wels 1902-1903, S. 3-39, hier S. 14.
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der Rosenmund zur Identifizierung nicht ausgereicht, gelb geflochten ist ein außergewöhnliches Attribut. Grund für die Vernachlässigung des Haars ist der Abschiedsschmerz dieser Frau. Das Lied, zu dem die zitierten Passagen gehören, ist die bereits kurz erwähnte Abschiedsklage der Geliebten um den toten Bremberger im Königsteiner Liederbuch. Auch der vorhergehende Abschied des Mannes21 scheint mir nicht ohne Einfluß auf Sachs geblieben zu sein. Die Berührung zwischen dem Hans-SachsText und diesem ist zunächst formaler Art. Sachs unterteilt die erste, ursprünglich sechshebige Stollenzeile ebenso nach der zweiten Hebung durch einen Reim wie der Bremberger-Abschied in der 1. Strophe; das tun freilich auch andere Texte. Ferner: Der Ton des Scheidens hat dort notwendigerweise etwas Endgültiges, das sich im Sachs-Text eindrucksvoll spiegelt. Der Abschied aus dem Leben ist hier durch die unaufhebbare Verpflichtung, “ins ellend” zu gehen, ersetzt. Formulierungsähnlichkeiten sind auch sonst vorhanden, lassen sich jedoch meist durch gängiges Formelgut erklären. Wenn ich dennoch sicher bin, Sachs habe auch diesen Text gekannt, so wegen des anderen, des verlorenen Liedes von Sachs im Brennberger-Ton. Das Abschiedslied des Brembergers evoziert in der 3. Strophe die Gerichtsszene mit den Worten (KL 68, III, 1 f.): Ich sten alhe ir graffen ir hern ir dinsteman durch got vernempt die meinen unschuld und durch uwer selbst ere.
Mit der Zeile “Ich ste alhie!” beginnt auch das Sachs-Lied Nr. 1 (²S/1), und die ist nun keinesfalls gängiges Formelgut. Vor wem das Ich dieses Sachs-Liedes steht, wird uns freilich wahrscheinlich auch in Zukunft verborgen bleiben.22 Sachs hatte die beiden Texte an den Beginn seiner “bullied”-Aufzeichnungen in MG 1 gestellt, vielleicht weil es überhaupt seine ersten poetischen Texte waren. Der Bezug zur Tradition gerade am Anfang des Schaffens verrät das Bemühen, sich einen neuen Bereich von Dichtung systematisch zu erschließen. Dies war ja dem Mittelalter keineswegs suspekt. Bekanntlich vergleicht Thomasin das Einfügen fremder Texte 21
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Abschied der Frau: KL (wie Anm. 18), Nr. 69 (= ¹ReiBr/522). Die genannten Attribute in Str. III. Abschied des Mannes: KL Nr. 68 (= ¹ReiBr/521). Dieses nur im Königsteiner Liederbuch vollständig aufgezeichnete Lied war auch oberdeutsch bekannt; das zeigt eine verstümmelte Überlieferung in Liebhard Eghenvelders Liederbuch (¹ReiBr/524a); abgedruckt im Anhang zu KL (wie Anm. 18), S. 309311.
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mit einer Zimmermannsarbeit, bei der ein nicht selbst verfertigtes Stück Holz in eine eigene Arbeit eingepaßt wird: ein solcher Autor habe “alsô vil getân [...] als der derz vor êrste vant” (V. 119/121).23 In den folgenden Texten, die auch melodisch autonom sind, hat Sachs gleichwohl diese Tradition vermutlich noch eigenständiger fortgeführt. Umgekehrt hat der Text seinerseits innerhalb der reichen Lieddruckproduktion des 16. Jahrhunderts Spuren hinterlassen. Das RSM verzeichnet insgesamt 26 Lieder im Brennbergerton, die gedruckt wurden. Zum Teil gibt es von den Drucken mehrere Auflagen, zum Teil überschneidet sich der Strophenbestand erheblich. In Ausnahmefällen sind sogar Strophen aus dem Kernbestand der Großen Heidelberger Liederhandschrift noch in diese Spätüberlieferung mit eingearbeitet. Weiteres älteres Gut läßt sich aus Parallelen in der Kolmarer Liederhandschrift in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren. Nicht selten erscheinen auch Strophenteile in unterschiedlichen Liedern in neuer Zusammensetzung, bis hin zu dem bereits erwähnten formlosen Quodlibet (¹ReiBr/524). In der Regel ist die Überlieferung anonym, abgesehen von einem Lied von Hans Folz, das allerdings kein Liebeslied ist.24 Ein Paradebeispiel für Liedvermischungen ist das achtstrophige Lied Kopp Nr. XIV (¹ReiBr/538; RSM Druck Nr. 36a und b; vgl. zum folgenden die Graphik auf der nächsten Seite). Strophe 1 fordert die Geliebte auf, nicht einzuschlafen, sondern die Klage des Ich “mundterhaft” anzuhören, leitet also ein nächtliches Ständchen ein. Das Ich bittet, sich nicht von ihm zu trennen, eine “falsche zung” sei an dem “meyden des herz lieb” schuld. Die Strophe begegnet auch als Einleitung zu einem dreimal aufgelegten dreistrophigen Lied (¹ReiBr/531; Druck Nr. 35a-c, Kopp Nr. XII), das die Klage über das Verlassen und die Klaffer durchhält; dies ist wohl der ursprüngliche Ort. Die 2. Strophe gibt eine Reflexion über den Kummer des Meidens durch die Geliebte – sie selbst wird nicht angesprochen.
23
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Thomasin von Circlaria: Der wälsche Gast. Hrsg. von Heinrich Rückert. Quedlinburg, Leipzig 1852. Nachdruck Berlin 1965. Vgl. dazu neben dem Verzeichnis der Texte im RSM (wie Anm. 3) auch Bd. 1, der die Drucküberlieferung auflistet (im folgenden Druck Nr. nn), und die Edition der Texte in: Bremberger-Gedichte. Ein Beitrag zur Brembergersage. Hrsg. von Arthur Kopp. Wien 1908 (= Quellen und Forschungen zur deutschen Volkskunde) (im folgenden: Kopp).
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¹ReiBr/531 Druck Nr. 35 Kopp XII
¹ReiBr/538 Druck Nr. 36 Kopp XIV
²S/1
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? ¹ReiBr/535 Druck Nr. 27/I Kopp II
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? 3 ²S/2
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5 ¹ReiBr/536 Druck Nr. 27/II Kopp III 6
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Die Herkunft der Strophen zu ¹ReiBr/538
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Diese Strophe ist ebenso wie die folgende singulär. Hier, in der 3. also, wird mit der mehrfach wiederholten Anrede “o feines lieb” die Beständigkeit des Ich versichert, “der falsche klaffer” wird in dieser ebenfalls nicht bekannten Strophe nochmals erwähnt. Die 4. Strophe setzt den Abschied als unabwendbar und preist die “herz allerliebste” mit Edelsteinmetaphern. Der Text entspricht weitgehend Strophe 2 eines anderen dreistrophigen gedruckten Liedes (¹ReiBr/535; Druck Nr. 27/Ia-d, Kopp Nr. II). Aus der 1. Strophe dieses Liedes sind die drei letzten Verse am Schluß der 5. Strophe entlehnt, die das Lied “zur letz” der Frau überlassen. Sonst sind die Strophen 5 und 6, auf die ich gleich noch zu sprechen komme, in keinem anderen Druck zu finden. Das Ende bilden dann zwei Strophen aus einem weiteren Lied, das im selben Liederheftchen gedruckt ist wie die Vorlage zu Strophe 4 (¹ReiBr/536; Druck Nr. 27/IIa-d; Kopp Nr. III). Das Verfahren ist diesmal so, daß die 1. Strophe bis weit in den Abgesang hinein fast wörtlich übernommen ist. Dann folgen einige Übergangsverse, an die die letzten Zeilen der 2. Strophe angesetzt wurden. Die 3. Strophe von Kopp Nr. III bildet den Abschluß, also Strophe 8. Diese letzten übernommenen Strophen lassen den klagenden Jüngling in seiner vergeblichen Liebe zur verehrten Frau nur noch den Tod herbeisehnen. Die Strophen 5 und 6 des Potpourris sind die Strophen 2 und 3 von ²S/2. Daß sie in alten Drucken vorliegen, war bisher nicht bekannt. Sie passen in den gesetzten Rahmen der Abschiedsklage, wurden aber dennoch geändert. Vor allem zu den dann noch folgenden Strophen besteht ein enger Zusammenhang, denn auch dort spielen die eingangs genannten Klaffer keine Rolle mehr, und der Ton ist ähnlich schmerzlich. Trotz dieser Bemühungen wird aus dem ganzen keine feste Einheit. Was sagt uns so ein Patchworklied – und das besprochene ist nur ein Extremfall neben anderen Mischtexten im gleichen Ton – über den Distributionsmodus solcher Liebeslyrik? Die einschlägigen Drucke sind so gut wie niemals datiert. Doch reicht der Bestand vom Beginn des Jahrhunderts bis in die sechziger, vielleicht siebziger Jahre mit einem ganz deutlichen Schwerpunkt zwischen 1515 und 1530. Vermutlich, weil die Melodie des Brennbergertons gut bekannt war, lief das Geschäft gut, und man versuchte auf vielfältige Weise, Nachschub zu schaffen. Die beschriebenen acht Strophen sind ein spätes Produkt in dieser Reihe (wohl nach 1560). Für die einzig hier in Drucken überlieferten Strophen 2, 3, 5 und 6 bedeutet es mit großer Sicherheit, daß sie ebenfalls aus älteren Drucken übernommen waren, und das heißt, ²S/2 war schon
Die frühen Liebeslieder von Hans Sachs
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einmal gedruckt. Änderungen dienen vor allem der Vereinfachung, doch zusammen mit Mischung und Stückelung auch der Verzahnung des neuen Gebildes. Ein Hauptproblem waren dabei die unterschiedlichen Tonvarianten. Die 1. Strophe, die ursprünglich in der binnenreimlosen Form des Tonerfinders abgefaßt war, wurde noch durch Zeilenumstellungen und Wortänderungen in die binnengereimte Variante der Mehrzahl der Strophen überführt, in den späteren Strophen war der Herausgeber nachlässiger. Auch sonst bleiben Brüche und Überschneidungen bestehen. In Thomasins Zimmermanns-Vergleich gesprochen: Bei allzu vielen fremd bearbeiteten Hölzern ohne eigene Verbindungselemente wird immer eine rauhe Zugluft durch die Ritzen wehen! Woher Strophe 2 und 3 stammen, läßt sich nicht feststellen. Man könnte z. B. an die Möglichkeit denken, und ich spreche ausdrücklich im Konjunktiv, daß sie ebenfalls von Sachs stammen. Vom Lied ²S/1 ist ja außer dem Initium “Ich ste alhie” nichts bekannt. Es könnte sich um die Strophen 2 und 3 dieses Liedes handeln. Die sprichwortartige Sentenz “der liebe frewd bringt trawrigs end” bildet den Schluß von Strophe 2, das könnte Sachs auch in diesem Lied schon einmal gesagt haben, aber es würde auch zum Verfahren des Zimmermanns passen, wenn es aus ²S/2 schon an dieser Stelle erstmals eingefügt worden wäre. Und weiter als Möglichkeit: Auch die Sachs-Lieder können ja in einem Druck vereinigt gewesen sein wie Kopp II und III. Dies ist nur eine Erwägung, wie gesagt; doch daß ²S/2 gedruckt war, darf man sicher annehmen. Wo hätte so ein Druck von Sachs entstehen können? Der Lobspruch der Stadt Salzburg25 vom 9. April 1549 gibt vielleicht eine Antwort: Sachs, der den Spruch am Ende mit dem üblichen “wachs”-Reim signierte, macht gleichwohl das Rollen-Ich zum weltläufigen Druckergesellen (England, Paris, Lyon, Rom), um Salzburgs Lob vor einen fingierten Vergleichshorizont stellen zu können. Nach der Einleitung spielt dies Motiv keine Rolle mehr. Kennt man Sachs’ Neigung, Realbiographie in einem Geflecht aus Dichtung und Wahrheit zu verstecken, so mag die Druckerfiktion auf eine erste Begegnung mit der Welt der Drucker in Salzburg zurückgehen. Denn dort hielt er sich mit ausreichender Sicherheit nach seinem Verweilen in Wels, Ried und Braunau auf. Auch ohne die Erwägungen zur Rezeption von ²S/1 steht die frühe Liedproduktion nun in einem neuen Licht. Es geht nicht mehr um die
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KG (wie Anm. 2), Nr. 3062; Sachs, Werke (wie Anm. 2), Bd. 22, S. 479-486.
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Johannes Rettelbach
Frage, was das für eine blonde Österreicherin gewesen sein mag, die Hans Sachs veranlaßte, traurige Liebeslieder zu dichten, statt – wie es ihm Lienhard Nunnenbeck beigebracht hatte – in meisterlicher Weise Gott zu loben, sondern wir sehen einen jungen Autor, der drauf und dran ist, sein Schul- und Meistersingerwissen zum Einstieg ins nebenberufliche Musikgeschäft zu nutzen. Die beiden erhaltenen Lieder, das mehrdeutige Frauenlob wie das Lied im Brennbergerton, offenbaren eine intensive Auseinandersetzung mit der Tradition des Liebesliedes, und die Titel und Initien der verlorenen Lieder zeigen zumindest, daß Sachs das Spektrum der Möglichkeiten bestens kannte. Erst in München, wo er nach eigener Aussage auf eine attraktive Singergesellschaft stieß, ließ er sich endgültig für den Meistergesang gewinnen.
Horst Brunner DIE LIEBESLIEDER IN GEORG FORSTERS FRISCHEN TEUTSCHEN LIEDLEIN (1539 ) 1556) Abstract Der Beitrag beschreibt im Überblick unterschiedliche Arten deutscher Liebeslieder aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anhand der umfangreichen Sammlung von Georg Forster, Frische teutsche Liedlein (erschienen 1539 bis 1556). Unter den ca. 180 Liebesliedern in dieser Sammlung finden sich über zwanzig verschiedene Arten. Am häufigsten begegnen Werbungslieder, Liebesklagen, Liebesversicherungen, Abschiedsklagen, Preislieder. Andere Liedtypen wie Liebesdialoge, Frauenlieder, Klafferschelten, Absagelieder finden sich seltener, weitere Liedarten nur vereinzelt. Neben Ich-Liedern enthält die Sammlung auch Rollenlieder und Texte, die zum Genre objectif zählen. Neben den Kunstliedern stehen schließlich populäre Lieder (Volkslieder), deren Themen vor allem Abschieds- und Trennungsklagen darstellen, außerdem gibt es hier auch frivoles und obszönes Liedgut.
In seinem für die Kenntnis der deutschen Liebeslieddichtung des 16. Jahrhunderts grundlegenden und entscheidend weiterführenden Aufsatz über Christoph von Schallenberg1 hat Gert Hübner herausgestellt, daß die Veränderungen in den musikalischen Strukturen des mehrstimmigen deutschen Liedes seit etwa 1570 keineswegs zum völligen Bruch mit dem Liebeskonzept und den Arten der Texte geführt haben. Nicht nur wurden ) wie man bereits seit längerem wußte ) vorhandene Texte weiterhin Neukompositionen zugrunde gelegt, sondern auch neue Texte, etwa die Schallenbergs, schlossen durchaus an die tradierten Textarten und ihre inhaltlichen und formalen Konzeptionen an. Die vielfach weiterhin unbekannten Autoren integrierten nunmehr lediglich petrarkistische Ausdrucksformen in das vorhandene System. Hübner nennt dieses Liedsystem ‘mittleres System’, weil es zwischen dem Minnesang und seinen Konventionen einerseits und der barocken Leselyrik andererseits angesiedelt ist. Seinen Ursprung hat dieses System in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ) erster profilierter Autor in diesem Bereich war der Mönch von Salzburg. Wie es im Detail zu beurteilen ist, darüber hat sich jüngst 1
Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186.
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Burghart Wachinger in seinem 1999 erschienenen Aufsatz Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert Gedanken gemacht;2 doch geht es mir hier nicht um die von Wachinger aufgeworfene Frage. Mein Ansatz ist bescheiden. Ich möchte die unterschiedlichen Arten von Liebesliedern, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts begegnen, etwas detaillierter beschreiben als dies bisher geschehen ist. 2001 habe ich einen kleinen Entwurf zum deutschen Lied im 16. Jahrhundert vorgelegt.3 Ihn habe ich ) wie ich nachträglich bemerkte ) in Hinsicht auf das Liebeslied viel zu knapp gehalten. Nunmehr möchte ich mein Versäumnis wieder gut machen. Ich denke, daß wir in der auf diesem Gebiet so schmählich vernachlässigten germanistischen Liedforschung nur weiterkommen können, wenn wir die Textbefunde zunächst einmal so vollständig und klar wie möglich beschreiben. Wie bereits in der Skizze von 2001 muß ich mich freilich auch diesmal auf eine Auswahl von Texten beschränken. Indes treffe nicht ich selbst die Auswahl, sondern ich stütze mich auf diejenige, die der Komponist und Nürnberger Stadtarzt Georg Forster (um 1510-1568) in den zuerst zwischen 1539 und 1556 erschienenen fünf Teilen seiner Frischen teutschen Liedlein getroffen hat. Die Sammlung enthält 380 Tonsätze von 45 namentlich bekannten Komponisten, dazu viele anonym überlieferte Tenorlieder. Die Zahl der unterschiedlichen Texte ist etwas geringer, da manche mehrfach vertont wurden. Die Liebeslieder machen mit etwa 180 Texten den größten Anteil aus. Die weitaus meisten, knapp über 100, stehen in Teil I, dem eigentlichen Liebesliederbuch der Sammlung. In Teil II finden sich zahlreiche populäre, bisweilen obszöne Lieder, in den Teilen III bis V sind Liebeslieder seltener, es gibt aber auch dort interessante einschlägige Texte.4 Um die poetische Gestaltung kümmere ich
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Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea 16), S. 1-29. Horst Brunner: Das deutsche Lied im 16. Jahrhundert. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe und Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 118-134. Ausgaben: Georg Forsters Frische teutsche Liedlein in fünf Teilen. Hrsg. von M. Elizabeth Marriage. Halle a. d. S. 1903 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 203-206); Georg Forster: Frische Teutsche Liedlein. Hrsg. von Kurt Gudewill. Texteditoren: Wilhelm Heiske (Bd. 1), Hinrich Siuts (Bd. 2), Horst Brunner (Bd. 3-5). 5 Bände. Wolfenbüttel 1942, 1969, 1976, 1987, 1997 (= Das Erbe deutscher Musik 20, 60-63). ) Vgl. zu Forster zuletzt den Artikel von
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mich in diesem Zusammenhang nicht systematisch ) dazu habe ich mich in dem früheren Beitrag geäußert. Eigens eingehen möchte ich hier auch nicht auf die Frage ‘Kunstlied-Hofweise-Gesellschaftslied’ versus ‘Volkslied’; auch dazu habe ich einiges bereits in dem früheren Aufsatz ausgeführt. Im Zentrum stehen im folgenden die ‘Kunstlieder’, doch werde ich auch kurz auf die Liebeslieder ‘im Volkston’ eingehen. Die Artenvielfalt der Liebeslieder bei Forster ist ziemlich groß. Man kann über zwanzig Liedarten unterscheiden, im einzelnen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Werbungslieder Liebesklagen Liebesversicherungen Abschiedslieder, -klagen Preislieder Liebesdialoge Frauenlieder Klafferschelten Absagelieder Varia a. Freudenlied b. Danklieder für glückliche Liebe c. Ermahnung an die Geliebte zur Treue d. Hoffnung auf gutes Ende / auf Erhörung e. Klage über das Ende der Liebe f. Klage über erfolgreichen Nebenbuhler 11. Rollenlieder a. Klage eines Alten über sein ungehöriges Liebesverlangen b. Ehelieder: Mann ) Frau, Frau ) Mann; junge Frau ) alter Mann, junger Mann ) alte Frau 12. Genre objectif a. Tagelieder b. Mailied c. Obszönes 13. Volkslieder a. Abschieds- und Trennungsklagen b. Pastourellen, Graserinlieder, Obszönes
Rebecca Wagner Oettinger in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Personenteil. Bd. 6 (2001), Sp. 1501-1505.
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Im folgenden möchte ich auf die einzelnen Liedarten eingehen. Als Beispiele gebe ich besonders typische oder besonders interessante Texte; auf vieles kann ich nur in aller Kürze hinweisen. (1.) An die Spitze stelle ich die Werbungslieder ) mit über dreißig Beispielen in Forsters Sammlungen die häufigste Liedart. Fast durchweg verbindet der Sänger die Bitte um Erhörung hier mit einer Treueversicherung (I, 52, 1-2): Mocht ich gunst han bey dir, das kan ich nit verstan, [d. h. ob ich deine Gunst erlangen kann, weiß ich nicht] derhalb bit ich, du wellest mich dasselb gentzlich berichten gar, dann ich dich zwar lieb hab fürwar in treuen. Darumb so ker dich zu mir her, ich ger nicht mer dans hertze dein, o liebste mein. dein wil ich sein für alles gut. hertz sin und mut sich gen dir thut verneuen.
Wie hier, so spricht auch sonst in diesen Liedern fast immer der Liebende, lediglich zweimal (I, 128, IV, 19) findet ein Dialog statt. Fast durchweg wird die Geliebte angeredet, vielfach mit ihrem Monogramm, bisweilen findet sich der volle Name als Strophenakrostichon (z.B. I, 57 SI-WI-LA, I, 60 und 113 MAG-DA-LEN, IV, 35 E-L-S); die direkte Anrede fehlt nur in wenigen Liedern (I, 11, 21, 57, 73, 89). Manchmal wird auf die Klaffer als Hindernis für die Liebeszusage verwiesen (z. B. I, 54). Ausgedehntere Vergleiche der Situation des Liebenden mit anderen Bildbereichen sind ganz selten: In I, 89 wird das Unglück in der Liebe mit den Farben des Kartenspiels verglichen, dennoch hält der Sänger an seiner ‘Spielsucht’ fest; in IV, 31 wird das Bemühen um Liebesgewährung mit der mühseligen Tätigkeit des Fischers parallelisiert. In IV, 2 begegnet Farbsymbolik: Mit den Farben Gelb (Zurückhaltung), Braun (Wohlerzogenheit) und Blau (Treue) versichert der Werbende das Liebesobjekt seiner guten Absichten. Auf ein tatsächliches Ereignis, das dem Lied vorausgegangen sein könnte, verweist I, 73: bei einem Fastnachts-
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tanz hat die Geliebte ihre Zuneigung verheißen, nun will sie davon nichts mehr wissen ) der Sänger hofft trotzdem weiter. (2.) Mit etwa zwanzig Liedern stellen die Liebesklagen ein ebenfalls umfangreiches Korpus dar. Durchweg beklagt hier der Liebhaber-Sänger sein Liebesleid. Mit wenigen Ausnahmen wird auch hier die Geliebte direkt angeredet, allerdings ohne Nennung des Monogramms (keine direkte Anrede in I, 50, 56, 99, 123). Das Motiv der Werbung bleibt am Rand, gelegentlich droht der Sänger seinem Liebesobjekt (I, 34a), zweimal findet sich am Schluß in einer Frauenstrophe eine Zusage (I, 30 und 37), gelegentlich erscheint auch hier das Klaffermotiv. In I, 99 wird das Bemühen um Liebe mit der schwierigen Erlernung des Rechnungswesens parallelisiert. Ein paarmal findet sich antikes Bildungsgut: In I, 123 werden Phöbus und Daphne zitiert, im Planetenlied I, 50 wird Jupiter gebeten, dem in der Gewalt der Venus gefangenen Liebhaber ) im Strophenakrostichon erscheint der Name MAR-GA-RETT ) gegen die Widrigkeiten von Mars, Saturn, Merkur, Mond und Sonne beizustehen, in der großen, sechsstrophigen Liebesklage III, 75 erscheinen Adam, Venus, Cupido und König David (Str. 4): Es ist auch nit verwunderlich, das ich ein solche liebe han gegen dem aller schönsten kindt. Nicht anderst hat König David gthan alß er ein weib vor jme sah, wie sie die füß thet waschen. Von stund wart er in lieb entzündt ) das kan ich wol ermessen.
(3.) Ähnlich häufig wie Liebesklagen finden sich Liebesversicherungen. Auch hier spricht in der Regel der Sänger, der die Geliebte seiner dauernden Zuneigung versichert und sie meist direkt anredet (ausgenommen I, 107, 130, IV, 3, 41), oft mit ihrem Monogramm (I, 29, 63, 98, 127), bisweilen im Strophenakrostichon (I, 23 A-MA-LEI, I, 92 E-L-S, IV, 3 MA-RI-A, IV, 25 AN-NA, IV, 27 HE-LE-NA). Dialoglieder sind auch hier selten (I, 92, IV, 27). Bei I, 13 ist die Form des Briefes zumindest angedeutet, das traurige Lied I, 81 setzt die äußere Trennung voraus, I, 98 ist aus der Ferne gesungen, in IV, 10 sind neben dem ) natürlich symbolisch gemeinten ) Kraut Königslab die Farben Gelb, Braun, Weiß, Rot genannt: Enthaltsamkeit, Wohlerzogenheit, Schönheit, Liebe. Bisweilen
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begegnen auch hier die Klaffer (I, 78, 92). Im Dialoglied IV, 27 hat das Strophenakrostichon HE-LE-NA offenbar den Bezug auf Nestor zu Beginn hervorgerufen (Str. 1): Het ich gewald und würd so alt alß Nestor was, so glaub ich, daß ich nicht abließ, mein treu verhieß dir nach für all, weil ich groß gfall deinr tugend trag. Darumb ich sag dir lob und ehr: biß gwiß, das ich dich nit verker.
(4.) Rund ein Dutzend Kunstlieder, dazu nicht wenige Volkslieder, zu deren wichtigsten Motiven es gehört, werden vom Motiv des Abschiednehmens und der Abschiedsklage bestimmt. Mit wenigen Ausnahmen (I, 65, 68, III, 14) findet sich in den Abschiedsliedern überall die Anrede an die Geliebte, ein paarmal mit dem Monogramm sowie in Strophenakrosticha (I, 8 SO-WI-LA, I, 80 E-L-S). In I, 65 ist ein Preislied mit dem Abschiedsmotiv verbunden; in I, 118 ) dem einzigen Dialoglied ) veranlaßt Nichterhörung den Abschied, doch wird eine positive Wendung in Aussicht gestellt. Das berühmteste aller Abschiedslieder ist natürlich Heinrich Isaacs Isbruck ich muß dich lassen (I, 36) mit seiner herzergreifenden Klage wegen des Abschieds vom “liebsten buolen mein” und der abschließenden Treueversicherung (Str. 3): Mein trost ob allen weiben, dein thu ich ewig pleiben stet treu, der eren frumm. Nun muß dich Gott bewaren, in aller tugent sparen biß daß ich wider kumm!
In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiteres berühmtes Lied: das angebliche Abschiedslied Herzog Ulrichs von Württemberg an die Markgräfin Elisabeth von Brandenburg anläßlich der ihm aufgezwungenen Vermählung mit Sabina von Baiern 1511, Ich schell (schwing) mein horn in jammers thon, das sich in Forsters Sammlung zweimal, in Tonsätzen Ludwig Senfls (III, 9) und Caspar Othmayrs (IV, 12), findet. Es handelt sich um eine Jagdallegorie (Str. 2):
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Farhin gewild in waldes lust, ich will dich nimmer schrecken, jagen dein schneeweisse brust: ein ander muß dich wecken mit jägers geschrei und hundes biß, daß du kaum möchst entrinnen. Halt dich in hut, schöns meidlein gut, mit leid scheid ich von hinnen.
(5.) Etwa gleich häufig finden sich Preislieder, Texte, in denen der Liebhaber-Sänger die Geliebte rühmt. Anreden der Geliebten sind relativ selten (I, 82, III, 44, 59, V, 40), ebenso Strophenakrosticha (I, 111 MA-RI-A, I, 119 b ER-EN-TRAUT). Mehrfach finden sich Schönheitsbeschreibungen: In I, 58 berichtet der Sänger von einer “iunckfrau zart und seuberlich”, die er bei einem Tanz erblickt hat: braune Äuglein, schwarze Augenbrauen, ein zartes Mündlein, rot wie Karfunkelstein, ein weißes Hälslein, reine, adlige Händlein, schönes Gebaren, ein schöner Leib ) ihr hat er sich ergeben, sie verdient den Apfel vor Frau Venus (vgl. auch III, 44 und 53). In I, 112 rühmt der Sänger eine Schönheit, die er beim Fastnachtstanz gesehen hat ) die Fastnacht ist freilich vorbei, jetzt hofft er auf die Zeit, in der man ins Bad geht: “jr zucht und eer/ sol al zeit mer/ von mir gepreiset werden”. In I, 27 wird die Geliebte mit einem “beumlein zart” ineins gesetzt und detailliert gepriesen, in I, 125 werden Minnesklaven aufgezählt: Salomon, Samson, Aristoteles, Absalom, Orest (!), David, Holofernes, Virgil. II, 26 bietet ein niederländisches Frauenlob. Die Einzelstrophe V, 42 faßt die Thematik auf kleinstem Raum zusammen: Auß gutem grund von mund ich sing und sag, das kein mensch mag ir höflich zucht beschreiben! Man muß sie lassen bleiben ein zierd ob schönen weiben.
(6.) Eine kleine Gruppe von fünf Liedern bilden die Liebesdialoge, in denen Mann und Frau abwechselnd singen. Im wesentlichen geht es um die Versicherung der gegenseitigen Liebe, um Treueschwüre, den Hinweis auf Verschwiegenheit, um die Beteuerung der Liebe beim Abschiednehmen und trotz der Bedrohung durch Klaffer (I, 74, 77 an A, 101, III, 34, 79 mit Strophenakrostichon E-L-S). Am Horizont erscheint
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auch der Gedanke künftiger Eheschließung wie in der Frauenstrophe I, 101 (Str. 2): Wann ich bei dir nit imerdar, so wird mein hertz doch nimmer fro. Und dunckt mich auch langweilig sein mein höchste pein, das du nit solt bald sein der mein.
(7.) Ich schließe die Gruppe von sechs Frauenliedern in Teil I an. Hier klagt die Sängerin über die Abwesenheit des Geliebten (I, 17 mit Strophenakrostichon A-G-N-[E-S] ) offenbar fehlen zwei Strophen) beziehungsweise über seine Krankheit (I, 33); sie rühmt ihn und vergleicht seine Schönheit mit der Absaloms und seine Weisheit mit der Salomons (I, 49); sie erklärt ihm ihre Liebe (I, 125), sie freut sich über die Liebe von H. (I, 67) ) einmal wird freilich wegen Treulosigkeit die Liebe aufgekündigt: “wee mir, wee mir! dir sei gantz widersaget!” (I, 20). (8.) Mit dem leidigen Thema Klaffer befassen sich fünf Scheltlieder in Teil I (dazu in Teil III die Volkslieder 5 und 11 = 64). Dem Klaffer wird Rache angedroht (I, 38), er wird verflucht (I, 44), er bereitet Ärger, doch das “herzeinig N./ der lieb und treu ich alzeit kenn” verhindert seinen Erfolg (I, 70). In I, 98 stört der Klaffer das Liebesglück mit A. ) der vollständige Name “Annlein” wird in Str. 3 genannt ), der Sänger hofft gleichwohl darauf. In I, 78 wird die Geliebte selbst angeredet, ihr wird versichert, der Liebhaber meide sie trotz des Klaffers nicht (Str. 1): Mein hertz hat sich mit lieb verpflicht zu dir, mich irt auch nicht des klaffers dicht. ob im sein halß zerpricht durch falschen has auß bösem neid sein giftig schneid [d. h. Zunge]. Glaub, daz ich dich darumb nit meidt! kein unmut leid! ) und wer er noch so gscheid.
(9.) Das Ende der Liebe markieren einige Absagelieder. In I, 18 kündigt der Sänger die Liebe wegen der ‘Vielseitigkeit’ der Geliebten auf (Str. 1):
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In Venus spil ist sie zu vil mit fremder lieb beladen. Das macht böß blut, und ist nit gut, in allen pfützen baden )
eine neue Liebe am Horizont erleichtert die Trennung. Die ironisch festgestellte ‘Beständigkeit’ der mit höhnischen Worten angeredeten Geliebten führt in I, 64 und ähnlich in I, 129 zur Trennung. In III, 24 erfolgt die Trennung aufgrund gegenseitiger Lieblosigkeit ) hier hat die Geliebte das letzte Wort: “ein ander her, dann du bist hin!” (10.) Weitere, bei Forster selten vorkommende Liedarten habe ich in der Gruppe Varia zusammengefaßt. Dazu gehören zwei Freudenlieder über glückliche Liebe in der Form eines Briefs an die Geliebte (I, 109) und ein Mailied, in dem der Sänger nach einem Natureingang Freude über seine heimliche Liebe äußert (I, 66), Danklieder an Gott (IV, 24) bzw. Christus (V, 27) für glückliche Liebe, ein Lied, in dem das Mädchen, das Liebe zugesagt hat, angeredet und zur Treue ermahnt wird (I, 25), einige Lieder, die die Hoffnung auf Erhörung durch die Geliebte zum Ausdruck bringen (III, 43, V, 24, 50; ob in I, 9 Liebe gemeint ist, erscheint unsicher), eine Klage über das Ende der Liebe ) die Geliebte ist entfremdet (I, 97), schließlich die Klage über einen erfolgreichen Nebenbuhler: Verleumdung hat zur Ablehnung durch das Mädchen geführt, der Liebhaber hat kein Geld mehr ) ein anderer hat den Nutzen, der Ausgebotete sollte sich davonmachen (I, 40). (11.) Zu dieser großen Zahl von Ichliedern tritt eine kleine Gruppe von Rollenliedern. Dazu gehört I, 34, die Klage eines alten Mannes über sein ungehöriges Liebesverlangen: “ich armer man / weiß nicht von wann / mir kummet solch wüten / ... / Ich muß ein weib / für meinen leib / haben zu der stunde.” Das ) wahrscheinlich als ungehörig empfundene ) Lied findet sich nur in der 1. Auflage von Teil I (Str. 1 auch in der 3. Auflage), Forster hat es später ersetzt durch die Liebesklage I, 34a, die lediglich das gleiche Incipit aufweist. Von Forster selbst komponiert wurden die beiden aufeinander Bezug nehmenden Ehelieder in Teil III. In III, 7 belehrt der jungvermählte Mann das “herzliebste B” über die Ehe: Mann und Frau seien untrennbar verbunden, die Ehe sei von Gott gestiftet, sie solle ihm gehorsam sein und tugendhaft leben; im Gegenstück III, 8 verspricht die Frau Gehorsam,
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Liebe und Treue, er solle jedoch böse Gesellschaft meiden, auf Ehre und Sittsamkeit achten, nicht allein ausgehen und böses Geschwätz unterlassen. Ein in den Ehelehren des 16. Jahrhunderts viel behandeltes Thema liegt den Liedern III, 36 und 41 zugrunde: Im ersten klagt eine junge Frau über ihren alten Mann, der ihr alle Freude und Geselligkeit verwehren will und eifersüchtig ist. In der abschließenden Anrede wird er aufgefordert, doch Verständnis für ihre Bedürfnisse zu zeigen. Im zweiten Lied klagt ein junger Mann über seine Mißheirat mit einer reichen und zänkischen alten Frau, die ihn im Bett nicht erfreut und die eifersüchtig ist, wenn er zum Wein geht. (12.) Großenteils schon auf oder über der Grenze zu den Volksliedern stehen schließlich die Lieder mit Erzählelementen, die Lieder des genre objectif. An erster Stelle nenne ich die in ihrer Art sehr poetisch wirkenden Tagelieder, insgesamt fünf Texte, vier davon in Teil III. In I, 32 singen in drei Strophen Wächter, Mann und Frau ) das schöne Lied bleibt ganz im traditionellen Rahmen den Tagelieds, das letzte Wort bleibt der klagenden Frau. Weit mehr epischen Charakter haben die vielstrophigen Tagelieder des Teils III. Im neunstrophigen Lied III, 6 weckt zunächst der Liebende das schlafende Mädchen und bittet um Erhörung; sie lehnt ab, läßt sich jedoch nach längerem Zwiegespräch doch überzeugen (Str. 6): in rechter gier sprang er zu ihr auß aller wot [d. h. ‘wat’: ‘Kleidung’], tet sie freundlich umbfahen.
Am Morgen wird der Liebhaber von der Frau geweckt, er klagt, hofft auf Rückkehr, verläßt sie und singt ein Tagelied ) der Text verwandelt sich plötzlich in ein Ichlied (Str. 9): Von dann ich sprang, hub an und sang, wie es mir wer ergangen von einem weib, ir stoltzer leib hat mich mit lieb umbfangen.
Noch umfangreicher, nämlich zwölfstrophig, ist Lied III, 13. Es beginnt mit der Klage des Liebenden: “Auß herten weh klagt sich ein held / in strenger hut verborgen.” Ein Wächter verspricht ihm Hilfe, er bezahlt ihn
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und schickt ihn zum Spähen; der Wächter weckt die Geliebte, sie fordert den Wächter zur Sorgsamkeit auf ) dann Empfang, Liebesvollzug, der Mann weckt die Frau beim Morgenruf, Erwachen, Klage beider beim Abschied. III, 42, komponiert von Stephan Zirler, hat sieben Strophen: Ankündigung der Nacht durch den Wächter, mit einer falschen Nachricht ) es liege einer erschlagen “in grüner aue” ) wird die “junckfrau” herausgelockt: sie erblickt den “knaben”, Liebesvollzug, Abschied. Schließlich das vierstrophige Lied IV, 61, komponiert von Othmayer, das mit dem Liebesvollzug beginnt; es folgen der Wächterruf und die Widerrede der Frau, dann die Abschiedsklage des volksliedartigen Textes (Str. 4): ach scheiden, immer scheiden, wer hat dich doch erdacht? Muß ich mich von dir scheiden, gschicht meim hertzen groß leide! Alde zu guter nacht.
Anschließen läßt sich ein Mailied an der Grenze zum Volkslied: In I, 47 wird nach einem Natureingang ein armes Mädchen in zerrissenen Kleidern geschildert, das sich vor dem Hintergrund des künftigen Winters des Sommers erfreut ) dann folgt eine Liste der Namen von sechs Mädchen, die sich im Mai bekränzen. Andere Mailieder, alle in Teil II, gehören eindeutig in die Rubrik ‘Volkslied’. Die Texte, die man unter Pastourelle-Graserinlied-Obszönes buchen kann, müssen ebenfalls in der Rubrik ‘Volkslied’ behandelt werden. Eine Ausnahme ist allenfalls III, 10, das Weißgerberlied, das zu einer Liedart gehört, die erstmals in Gestalt des Büttnerliedes unter dem Autornamen Gottfried von Neifen in der Manessischen Handschrift auftaucht (Str. 1): Ich bin ein weißgerber genant, mein arbeit geht mir wol von handt wann ich gerb auß einem gantzen fel, so geht mein arbeit gring und schnel obs schon ein kleinß löchlein hat, ich gerb und schab, get fein von stat.
(13.) Damit abschließend noch ein kurzer, unzureichender Blick auf jene in Forsters Sammlungen recht zahlreichen Texte, die man in neuerer Zeit, seit Herder, ‘Volkslieder’ genannt hat. Die Liebe ist natürlich auch hier ein Hauptthema. Wenn ich recht sehe, dominieren bei Forster zwei
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thematische Richtungen: zum einen die Klage über die Trennung zweier Liebender, zum anderen das Thema der handfesten Liebeserfüllung, wobei Obszönes nicht ausgeblendet wird. Abschieds- und Trennungsklagen finden sich besonders in Teil III. Hier steht etwa das bekannte Ich armes keutzlein kleine, wo soll ich fliegen aus ) im 19. Jahrhundert nochmals von Robert Schumann vertont (op. 79, 11) ), das in der einen Fassung (III, 4 = 11) als Abschiedsklage, in der anderen (III, 64) eher als Klafferschelte zu lesen ist. Eine Verbindung von Abschiedsklage und Klafferschelte findet sich auch in I, 61 = III, 5 Entlaubt ist uns der walde; in III, 17 Ach got wie wehe tut scheiden ist die Abschiedsklage mit einem metaphorisch verschlüsselten Erzählteil verbunden (“Het mir ein gertlein bauet/ von feil und grünen kle”). Die Motive Trennung vom Geliebten, Verlust der Jungfräulichkeit, Festhalten an der Geliebten durch den Liebhaber sind in assoziativer Weise gemischt im Lied III, 27 Het mir ein espes zweiglein. Im Mailied III, 33 Es naht sich gegen dem sommer nimmt der Sänger Abschied von der treulosen Geliebten. Das Thema der Liebeserfüllung findet sich vorwiegend in Texten, die der Pastourellen- bzw. Graserinmotivik verpflichtet sind. Dazu gehört etwa die folgende Strophe (IV, 17 = V, 14): Es wolt gut jäger jagen, jagen vor jenem holtz. Begegnet im auf der heidn ein meidlein, das war stoltz, in schönem weissen kleiden ein schöne graserin.
Vor allem in Teil II finden sich zahlreiche einschlägige Lieder; manche bietet Forster nur ganz rudimentär, etwa (II,8): Es giengen nein junckfrauen, schnap auf, sie wolten wunder schauen dort niden auf der aue, schnap auf, frisch auf! )
offenbar der Beginn eines erotischen Liedes, vielleicht ein Gesellschaftsspiel. In II, 10 trifft der Jäger ) in diesem Zusammenhang begegnet Jagdmetaphorik ) auf “eine hinte, die war stoltz, mit der do kont er kosen.” Materielle Güter verhelfen bisweilen dazu, die Mädchen willig
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zu machen, etwa im Lied vom Ausritt des Edelmanns II, 11; er trifft auf das “braune meidlein”, in Str. 2 heißt es dann: Ei höre, meidlein, tu’s, tu’s, Ei höre, meidlein, tu’s, tu’s, so kauf ich dir ein beutel, darzu zwen neue schuch...
Prostitution findet sich auch sonst, etwa in den Liedern II, 53 und wohl auch 66, in denen ein alter Mann sich um die Liebe eines jungen Mädchens bemüht. Obszönes ) in den Kunstliedern fast durchweg strikt gemieden ) begegnet in einschlägigen Volksliedern ganz ungeniert, etwa in II, 44: Es wolt ein meidlein grasen gan ‘fick mich, lieber Peter!’ und do die roten rößlein ston ‘fick mich mer, du hast’s ein ehr! kanstus nit, ich wil dich lern! fick mich, lieber Peter!’
Ich komme zum Schluß. In Forsters Sammlungen erscheint eine überraschende thematische Vielfalt. Daß zwischen den Kunst- und den Volksliedern deutliche Unterschiede bestehen, ist nichts Neues. Daß aber im Bereich der Liebeslieder der kunstvolleren Art eine Vielfalt an Themen und Motiven herrscht, die der im ‘älteren System’, d. h. im Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts, durchaus in nichts nachsteht, sie sogar übertrifft, das war kaum zu erwarten. Wenn man die Fülle weiterer Liedarten des 16. Jahrhunderts betrachtet ) geistliches Lied und Kirchenlied, Meisterlied, politisches Ereignislied, langes Erzähllied, Trinklied, Lügenlied, moralisierende Zeitklage usw. ), dann kann man nur staunen über die schöpferische Kraft, mit der im 15. und 16. Jahrhundert Liedgut unterschiedlichster Art geschaffen und gebraucht wurde ) ein ganzer Kosmos unterschiedlicher Liedarten! Es hat möglicherweise in der deutschen Literaturgeschichte keine Epoche gegeben, die in dieser Hinsicht mithalten kann. Im Unterschied zu anderen Epochen spielen ) das hat Gert Hübner ebenfalls hervorgehoben ) Autoren und Autorœuvres vielfach keine entscheidende, in manchen Bereichen ) etwa in dem Gebiet, mit dem sich mein Beitrag beschäftigt ) gar keine Rolle; beim Gebrauch der Texte war man im übrigen auch nicht an philologischer
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Horst Brunner
Texttreue interessiert. Insgesamt kann ich Hübner auch in der Ansicht zustimmen, daß es sich hier um “einen literarhistorischen Epochengipfel” handelt, “den es erst noch zu entdecken gilt” (S. 177).
ADRESSEN DER AUTORINNEN UND AUTOREN
Prof. Dr. Horst Brunner, Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie, Am Hubland, D-97074 Würzburg. PD Dr. Harald Haferland, Richnowstr. 1, D-12103 Berlin. Dr. Susanne Homeyer, Dr. Inta Knor, Prof. Dr. Hans-Joachim Solms, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Abteilung Altgermanistik, Herweghstr. 96, D- 06114 Halle an der Saale. HD Dr. Gert Hübner, Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Beethovenstr. 15, D-04107 Leipzig. Johannes Kandler, Werner-Heisenberg-Weg 26, D-85375 Neufahrn bei Freising. Dr. Manfred Kern, Universität Salzburg, Fachbereich Germanistik, Akademiestr. 20, A-5020 Salzburg. PD Dr. Sabine Obermaier, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, FB 13 – Deutsches Institut, D-55099 Mainz. Dr. Johannes Rettelbach, Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie, Am Hubland, D-97074 Würzburg. Dr. Nicola Zotz, Freie Universität Berlin, Institut für deutsche und niederländische Philologie, Ältere deutsche Sprache und Literatur, Altensteinstr. 48, D-14195 Berlin.